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German Pages 1235 Year 1998
PETER HÄBERLE
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 436
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Von Peter Häberle
Zweite, stark erweiterte Auflage
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Häberle, Peter: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft / von Peter Häberle. 2., stark erw. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 436) ISBN 3-428-09202-3
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09202-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Meinen Patenkindern Rolf y Iris y Jasper; Götz, Julia und Thomas Bayreuth, am 31. Oktober 1982
Vorwort zur e s c h e n (zweiten) Auflage Diese zweite deutsche Auflage hat ihre eigene kleine Vorgeschichte. Im Verlauf der 1995 begonnenen Vorarbeiten zur Veröffentlichung der Erstauflage von 1982 in der italienischen und dann auch in der spanischen Sprache ergab sich die Notwendigkeit einer Aktualisierung von Text und Fußnoten speziell für die beiden ausländischen Wissenschaftlergemeinschaften. Im Sommer 1996 zeigte sich dann, daß eine zweite Auflage auch für das deutsche Publikum möglich bzw. notwendig wurde. Der Verfasser hat sich dabei zu einer stark erweiterten, vielleicht vertieften Auflage entschlossen: Das programmatische Grundlagenkonzept von 1982 wurde beibehalten, indes wurden neue Problemfelder i.S. der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft abgesteckt: etwa im Blick auf die deutsche und europäische Einigung (einschließlich von Föderalismus und Regionalismus) sowie im Blick auf Themen wie Gottesklauseln, Feiertagsgarantien, Sprachenprobleme, Kulturgüterschutz, Kunstfreiheit, Utopien sowie die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode bzw. das Textstufenparadigma. Die in Raum und Zeit miteinander verglichenen Verfassungstexte und Verfassungsentwürfe werden "als Literatur" erarbeitet und zu "Literatur" verarbeitet und oft so ernst genommen wie Klassikertexte. Manche wissenschaftliche Literatur erscheint so unversehens als "Sekundärliteratur", was nicht abwertend gemeint ist, aber das "in" den Verfassungstexten steckende wissenschaftliche Potential und die in ihnen gegenwärtige oder dank ihnen mögliche Praxis aufwertet. Überdies "altern" die Verfassungstexte weniger rasch als die zugehörige normale wissenschaftliche Literatur. Die - exemplarische - Integrierung von Themen, die der Verfasser seit 15 Jahren Stück für Stück kulturwissenschaftlich systematisch zu erarbeiten suchte, um das "Programm" von 1982 zu konkretisieren, bleibt naturgemäß auch 1997 fragmentarisch; indes dient sie dem Versuch, die Verfassungslehre letztlich doch konsequent Schritt für Schritt auf- und auszubauen und ihre Methode als "Kulturwissenschaft" im Zusammenhang zu erproben: letztlich in "weltbürgerlicher Absicht" und mit "wissenschaftlichem Optimismus". Die beiden Vorworte zur italienischen bzw. spanischen Übersetzung (sowie das Nachwort) wurden absichtsvoll mit abgedruckt, weil sie - über das bloß Informative hinausgehend - Brücken schlagen: im Zeichen europäischer Rechtskultur, die auch eine wissenschaftliche und literarisch-sprachliche Dimension hat.
Vili
Vorwort
Der Verfasser dankt dem Inhaber des Verlages Duncker und Humblot, Herrn Prof. Simon und den Mitarbeitern in dessen Berliner Haus für die gute Zusammenarbeit. Er dankt Herrn B. Weck für Hilfe bei der Sichtung des Materials zum Thema "Schöne Literatur", seiner wissenschaftlichen Assistentin Frau Dr. D. Steuer-Flieser (Bayreuth) für die große Hilfe beim Korrekturlesen sowie beim Erstellen des Sachverzeichnisses, Herrn Dr. A.C. Kulow und zuletzt besonders Herrn M. Kotzur, LL.M., für die Bewältigung des Computer-Verfahrens sowie Frau A. Popp und Frau H. Walther für das sorgfältige Schreiben der Druckvorlage. Peter Häberle Bayreuth/St. Gallen im Frühjahr 1997
Vorwort zur italienischen (zweiten) Auflage 1998 Es ist eine große Ehre und Freude für den Verfasser, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Italiens eine 2. Auflage des 1982 in Deutschland erschienenen Bandes vorlegen zu dürfen. Die Anregung hierzu ging von Herrn Prof. Dr. G. Zagrebelsky (Turin), jetzt Verfassungsrichter in Rom, aus, dem auch an dieser Stelle gedankt sei. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. J. Luther (Pisa) für die sensible Betreuung der Übersetzung, ebenso dem Verlag NIS für das Wagnis dieser Publikation, sowie Herrn Prof. Dr. P. Ridola (Rom) für mannigfache Hilfe. Der Verfasser hat seit 1979 seinen sog. "kulturwissenschaftlichen Ansatz" Schritt für Schritt auszubauen versucht, vor allem an Einzelthemen des Typus Verfassungsstaat, was seit dem "annus mirabilis" 1989 zusätzlich an Aktualität gewonnen hat, nicht zuletzt im Blick auf die "Transformationsforschung". So sehr es bislang an einem vergleichend gewonnenen Gesamtentwurf des Typus Verfassungsstaat "in weltbürgerlicher Absicht" fehlt, so wichtig wird die wenigstens punktuelle Arbeit einzelner Gelehrter; zumal im heutigen Europa. Der Verfasser verdankt hier sehr viel den Anregungen, die er auf seinen Gastprofessuren bzw. Gastvortragsreisen in Rom, Turin, Perugia, Mailand und Neapel sowie Palermo von seinen dortigen Freunden seit 1990 erfahren durfte. Manches davon hat sich hier wie in dem Band "Europäische Rechtskultur" (1994, Suhrkamp Taschenbuch 1997) niedergeschlagen. Möge diese 2. Auflage dazu beitragen, daß der deutsch-italienische Wissenschaflleraustausch auf dem Felde des Verfassungsrechts auf lange Sicht gelingen kann und eine früheren Perioden vergleichbare Intensität gewinnt. Peter Häberle Bayreuth/St. Gallen im Frühjahr 1997
Vorwort zur
anischen (zweiten) Auflage 1998
Auf Initiative der beiden Professoren Emilio Mikunda-Franco und AntonioEnrique Perez Luno (Sevilla) darf der Verfasser der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Spaniens eine zweite Auflage seines 1982 auf Deutsch publizierten Buches "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" vorlegen, eine Übersetzung ins Italienische erscheint in Kürze. Mit Teilen der Wissenschaftlergemeinschaft Spaniens verbindet den Verfasser seit fast einem Jahrzehnt mancher dankbar empfundene persönliche Austausch und manche Publikation. So war er 1988 auf Einladung von Prof. A. López Pina zu Tagungen und Gastvorträgen in Madrid, 1991 zu einem Ferienkurs-Seminar an der Universität Sevilla (Gastgeber: Prof. Pedro Cruz Villalon). 1992 folgte der Verfasser einer Einladung an die Universität Carlos I I I (Madrid) unter seinem Rektor Gregorio Peces Barba Martinez, und 1995 wurde ihm auf Initiative von Prof. F. Ballaguer-Callejon die Ehre zuteil, als Gastprofessor an der Universität Granada zu wirken. Umgekehrt kamen in den letzten Jahren mehrere junge Gastwissenschaftler aus Santiago di Compostela, Santander und Granada nach Bayreuth. Persönliche und fachliche Beziehungen entstehen derzeit überdies zur Katholischen Privatuniversität in Lima (Peru). Diesen persönlichen Brückenschlägen gingen Publikationen des Verfassers in Spanien parallel. Den Anfang machten die Beiträge, die dank A. López Pina in dessen Band "La Garantia Constitucional de los derechos fundamentales" (1991) erschienen sind. Es folgten Aufsätze zu Menschenrechtsfragen in dem von José Ma. Sauca herausgegebenen Band: "Problemas de los Derechos Fundamentales" (1994). Zuvor war die von Prof. E. Mikunda-Franco besorgte vortreffliche Übersetzung des programmatischen Aufsatzes "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" (1991) in "Revista de Estudios Politicos" (1993), S. 7 ff. erschienen. In Perus "Pensamiento Constitucional" wurde soeben der Beitrag "Avances constitucionales en Europa del Este" publiziert (1995) (in Lima erschien kürzlich auch eine spanische, von C. Landa betreute Übersetzung der 3. Auflage der "Wesensgehaltgarantie" von 1983: "La Liberdad Fundamental en el Estado Constitucional"). Eine besondere Ehre und Freude ist es, daß die Universität des Baskenlandes jüngst einen Sammelband des Verfassers unter dem Titel "Retos actuales del Estado Constitucional" (1996) veranstaltet hat. In ihm finden sich ältere und neuere Arbeiten zu den Themen "Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten", "Regionalismus", "nationales Europaverfas-
Vorwort
XI
sungsrecht" sowie "Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates". Gerade der zuletzt genannte Beitrag wäre ohne den vom Verfasser seit 1979 verfolgten kulturwissenschaftlichen Ansatz nicht möglich gewesen, der das Programm "Verfassung als öffentlicher Prozeß" von 1978 (2. Aufl. 1996) inhaltlich grundiert. Die eigentliche "Programmschrift" zu diesem auf lange Sicht, d. h. ein halbes Gelehrtenleben, angelegten Forschungsvorhaben aber war und ist das Buch "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft". Weitere Etappen dieses Weges spiegeln sich in den beiden neuen Bänden "Europäische Rechtskultur" (1994) und "Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik" (1996) wider. Der Verfasser dankt den beiden Professoren E. Mikunda-Franco und A.-E. Perez Luno herzlich für alle Mühe, die sie sich mit der Übersetzung und Veröffentlichung des vorliegenden Bandes gaben. Er hofft, mit diesem Buch einen kleinen Beitrag zur weiteren Intensivierung der deutschspanischen Wissenschaftlergemeinschaft "in Sachen Verfassungsstaat" leisten zu können, einer Gemeinschaft, die auch in dem seit 1983 von ihm herausgegebenen Jahrbuch des öffentlichen Rechts ein Forum hat (vgl. z.B. das "Richterbild" von A. López Pina über Manuel Garcia Pelayo: JöR 44 (1996), S. 295 ff. und den Beitrag von Jiménez Blanco über Eduardo Garcia de Enterria als "Europäischen Staatsrechtslehrer": JöR 45 (1997), S. 145 ff.). Peter Häberle Bayreuth/St. Gallen im Frühjahr 1997
Inhaltsübersicht
Erster Teil: Einleitung: Der Problemzusammenhang
1
Zweiter Teil: Der Begriff der Kultur
2
Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
7
I.
Sachliche Teilgebiete
7
II.
Rechtstechnische Erscheinungsformen
8
III.
Inkurs A: Der Grundrechtsstatus der Kulturschaffenden und die Rolle des Selbstverständnisses
19
IV.
Inkurs B: Eine ausdrückliche Kulturstaatsnorm für das GG?
23
V.
Das offene Kulturkonzept als Grundlage
26
VI.
Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
27
Vierter
Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
28
I.
Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung...
28
II.
Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts
83
III.
Verfassungskultur
90
IV.
Zeit und Verfassungskultur
93
V.
Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept
117
Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive
152
VI.
VII. Der "kooperative" Verfassungsstaat
175
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsentwicklung
221
I.
Sachlich-systematisches Tableau
221
II.
Ansätze zu einer funktionell-rechtlichen Theorie relativer Gewichtung der Teilbeiträge
223
XIV
Inhaltsübersicht
III.
Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
225
IV.
Kulturelle Verfassungsvergleichung - Verfassungsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
312
Der Zusammenhang von sachlich-gegenständlicher und personaler Vielfalt im Prozeß der Verfassungsentwicklung
318
Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat: ein Pluralismus von Geschriebenem und Ungeschriebenem vieler Stufen und Räume, von Staatlichem und Transstaatlichem
320
V. VI.
VII. Die verfassungstextliche Vielfalt und das "gemischte Verfassungsverständnis"
342
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
481
IX.
Schöne Literatur und Künste im Verfassungsstaat, insbesondere Utopien
500
X.
Staatsrechtslehre(r) als Wissenschaft und Literatur im kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption - Verfassungslehre als Literatur und die Vielfalt ihrer Literaturgattungen
521
Verfassungspolitik, der verfassungsstaatliche Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
546
XI.
Sechster Teil: Programmatische Folgerungen: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft 578 I.
"Kulturwissenschaft" - Ansätze, Traditionen, Fragmente
578
II.
Hintergründe für die Vernachlässigung kulturwissenschaftlicher Ansätze....
581
III.
Die Zweckmäßigkeit des Begriffs "Kulturwissenschaften"
584
IV.
Der kulturwissenschaftliche Ansatz (Natur und Kultur)
588
V.
Die Verfassung als kultureller Generationenvertrag zum Schutz von Kulturgütern der Nachwelt - ein Verfassungsrecht für künftige Generationen....
594
Eine Revision der "Staatselemente", Kultur als "4." Staatselement, das Beispiel Staatsgebiet und Staatssymbole
620
VI.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
656
VIII. Einige zentrale Themen ("Kapitel") verfassungsstaatlicher Verfassungen Das Regelungsoptimum
694
IX.
Die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre
1060
X.
Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes
1063
Inhaltsübersicht XI.
"Kultur und Europa"
XV 1066
XII. National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz ein Textstufenvergleich
1106
XIII. Das "Weltbild" des Verfassungsstaates - eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und "letztem" Geltungsgrund des Völkerrechts
1132
Siebenter Teil: Resümee in Thesen Sachregister
1163 1170
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Einleitung: Der Problemzusammenhang
1
Zweiter Teil Der Begriff der Kultur
2
Dritter Teil Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
7
I.
Sachliche Teilgebiete
7
II.
Rechtstechnische Erscheinungsformen
8
1. 2.
Rechtstechnische Vielfalt der Kulturverfassungsnormen in den "alten" Verfassungsstaaten Die Entwicklungsländer auf dem Felde des Kulturverfassungsrechts.... a) Kulturelles-Erbe- und Identitätsklauseln allgemeiner und spezieller Textfassung b) Sprachen-Artikel c) Erziehungsziele d) Kulturelle Grundrechte e) Kulturelle Pluralismus-Klauseln
III.
8 9 10 12 13 16 18
Inkurs Α.: Der Grundrechtsstatus der Kulturschaffenden und die Rolle des Selbstverständnisses
19
1.
Der Grundrechtsstatus des Kulturschaffenden
20
2.
Die besondere Rolle des Selbstverständnisses der in Kulturverfassung Lebenden
22
IV.
Inkurs B.: Eine ausdrückliche Kulturstaatsnorm für das GG?
23
V.
Das offene Kulturkonzept als Grundlage
26
VI.
Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
27
2 Häberle
XVIII
Inhaltsverzeichnis Vierter
Teil
Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß I.
28
Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung...
28
Inkurs Α.: Die Entwicklungsländer im Kraftfeld der Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates
30
Inkurs B.: Kleinstaaten als Variante des Verfassungsstaates
36
1.
Begriff "Kleinstaat" (Mikrostaat)
36
2.
Bestandsaufnahme der verfassungsrechtlichen Beispieltexte
40
a) Typisch verfassungsstaatliche Strukturen und Elemente im Textbild von Kleinstaaten - Innovationen (Beispiele) ( 1 ) Die ehemals englischen Kolonien (2) Die islamisch geprägten Kleinstaaten (3) Sonstige Kleinstaaten b) Typisch kleinstaatliche Besonderheiten im Spiegel von Verfassungstexten - Adaptionen ( 1 ) Differenzierte Präambelkultur (2) Detaillierte Klauseln zu Staatsgebiet, Raum und Grenzen.... (3) Staatsbürgerschafts-Kapitel bzw. das Volk - die Detailregelung in Verfassungstexten der Kleinstaaten (4) Allgemeine Ressourcen-Artikel als Kleinstaatsspezifika
40 42 49 50 53 54 54 58 62
3.
Ältere und neuere Klassikertexte und wissenschaftliche Theorien zum Kleinstaat
63
4.
Elemente und Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Verfassungstheorie des Kleinstaates, seine strukturelle und funktionelle Offenheit, Bedingtheiten und Möglichkeiten
66
a) b) c)
d) e) f) g)
Die persönliche Seite (das intensivierte Näheverhältnis Bürger/Staat) Kulturelle Rezeptionen, insonderheit des Rechts (Chancen und Leistungen) Kleinräumigkeit und geringe Bevölkerungszahl als kulturanthropologische Determinanten des Kleinstaates (Ressourcenknappheit) Vorüberlegungen: die Verfassungslehre im Gespräch mit Geowissenschaften Theoretische Perspektiven des Raumes Folgerungen für den Kleinstaat Inkurs: Ein Trend zu Kleinstaaten im Rahmen der Zerfallserscheinungen des Ostblocks in Osteuropa?
66 68
72 73 74 80 80
Inhaltsverzeichnis 5. II.
Die Zukunft des Kleinstaates
82
Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts
83
III.
Verfassungskultur
90
IV.
Zeit und Verfassungskultur
93
1.
Einleitung: Makrodimension - Mikrodimension - Alltagsbeispiele
93
2.
Bestandsaufnahme: Das Zeitproblem in Verfassungspraxis und -theorie
95
a) Ausgangspunkte der Diskussion b) Verfassungsstaatliche Instrumente und Verfahren zur Anbindung der Verfassung an die Zeit (1) Anbindung der Verfassung an Tradition und Herkommen (a) Rezeptions- und "kulturelles Erbe"-Klauseln (b) Klassikertexte und Erziehungsziele (2) Verarbeitung des Zeitfaktors in Gegenwart und Zukunft (a) Zukunfts-und Fortschrittsklauseln (b) Verfassungswandel kraft Verfassungsinterpretation (c) Sondervoten (d) Gesetzgebung(saufträge) (e) Vorwirkung von Gesetzen (f) Experimentier-und Erfahrungsklauseln (g) Verfassungsänderungen
97 98 98 100 101 102 103 104 106 108 109 110
Thematisierung der Zeit durch den kulturwissenschaftlichen Ansatz Der Brückenschlag zu einem komplexen kulturellen Zeitbegriff - Zeit als kulturelle Kategorie
111
a) Verfassungen als Garanten von Kontinuität und Wandel b) Zeit als kulturelle und interdisziplinäre Kategorie
111 113
Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept
117
1.
Die verfassungsjuristische Ebene
117
a) Fragestellung und Ausgangsthese b) Die Durchführung im einzelnen (1) "Verfassung" und ihre Interpreten (2) "Öffentlichkeit" (3) Beispiele (a) Verfahrensmäßig (b) Materiellrechtlich (4) Gefahren und Grenzen
117 118 118 126 128 128 129 131
Der wissenschafits- und gesellschaftstheoretische Hintergrund: das Pluralismuskonzept
134
3.
V.
2.
95
XX
Inhaltsverzeichnis a) Der erfahrungswissenschaftliche Ansatz b) Die Verfassung des Pluralismus - Der Pluralismus in der Verfassung ( 1 ) Der verfaßte Pluralismus (2) (Toleranz-)Grenzen (3) Die Entwicklungsfähigkeit und -bedürftigkeit der pluralistischen Verfassung und ihrer Theorien
VI.
135 137 139 148 148
Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive
152
1.
152
2.
3.
4.
Problem Strukturelemente des Verfassungsstaates
159
a) Inhalte b) Methodische Wege der Erkenntnis: Verfassungslehre als vergleichende Kulturwissenschaft c) Inkurs: EntwicklungsVorgänge im Völkerrecht
159
Die zwei Dimensionen der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive: die Zeit und der Raum
164
a) Rechtsvergleichung in der Zeit: Verfassungsgeschichte b) Rechtsvergleichung im Raum: Zeitgenössische Komparatistik, weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat
165
Heutige Aufgaben verfassungsstaatlicher Reformpolitik
167
VII. Der kooperative Verfassungsstaat 1.
161 162
Problem, Begriff, Ausgangsthesen a) Möglichkeiten, Wirklichkeit und Notwendigkeiten kooperativer Strukturen in den "Staatswissenschaften" b) Verfassungsstaat und "kooperativer Verfassungsstaat" (1) Begriffliches (2) Der Wandel von Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen der Kooperation (3) Erscheinungsformen und verfassungstextliche Anknüpfung
164
175 175 175 178 178 180 182
2.
Ursachen und Hintergründe
188
3.
Grenzen und Gefährdungen
189
4.
Elemente einer Bestandsaufnahme
190
a) Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht: Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft ( 1 ) Die Organisation der Staatengemeinschaft (2) Regionale Formen intensivierter Kooperation
191 191 194
Inhaltsverzeichnis (3) Ansatzpunkte eines "humanitären" und "sozialen" Völkerrechts und weltweit für das seit 1994 in der WTO institutionalisierte Welthandelssystem b) Staatsübergreifende Kooperation von privater Hand: Die internationale Gesellschaft 5.
6.
7.
198 204
Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat
206
a) Völkerrechtsoffenheit in Verfassungstexten b) Das Internationale Privatrecht als Ausdruck offener Rechtsstrukturen
206 209
Verfassungstheoretische Konsequenzen
210
a) Neuorientierung der Rechtsquellen- und Interpretationslehre b) "Gemeines Kooperationsrecht": Integration von Staats- und Völkerrecht c) Kooperative Grundrechtsverwirklichung
210 211 212
Zusammenfassung - Ausblick, die jüngste Textstufe im südlichen Afrika und in Osteuropa
215
Fünfter Teil Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsentwicklung
221
I.
Sachlich-systematisches Tableau
221
II.
Ansätze zu einer funktionell-rechtlichen Theorie relativer Gewichtung der Teilbeiträge
223
Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
225
III.
1.
Verfassungsinterpretation, insbesondere: die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten
225
Inkurs Α.: "Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten"
228
I.
228
II.
III.
Grundthese, Problemstand (1) Die bisherige Fragestellung der Theorie der Verfassungsinterpretation (2) Neue Fragestellung und These (3) Erläuterung der These, Interpretationsbegriff (4) Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten
228 229 229 232
Die an Verfassungsinterpretation Beteiligten
233
(1) Methodische Vorbemerkung (2) Systematisches Tableau (3) Erläuterung des systematischen Tableaus
233 234 235
Bewertung der Bestandsaufnahme
238
XXII
Inhaltsverzeichnis ( 1 ) Mögliche Einwände, Kritik (2) Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Norm- und Interpretationstheorie
IV.
23 8 239
(3) Legitimation aus verfassungstheoretischen Überlegungen (4) Insbesondere: Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation
241 243
Konsequenzen für die "juristische" Verfassungsinterpretation
246
(1) Relativierung der juristischen Interpretation - neues Verständnis ihrer Aufgaben 246 (2) Insbesondere: Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle - Differenzierung im Hinblick auf das Maß an Beteiligung.... 248 (3) Konsequenzen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozeßrechts 250 V.
Neue Fragestellungen für die Verfassungstheorie
252
(1) Unterschiedliche Ziele und Methoden der Auslegung bei verschiedenen Beteiligten? (2) Aufgaben der Verfassungstheorie
252 253
Inkurs B.: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat I.
II.
Das deutsche BVerfG als Verfassungsgericht - als "gesellschaftliches Gericht" eigener Art, seine Rolle bei der Garantie und Fortschreibung des Gesellschaftsvertrages (u.a. als Generationenvertrag) (1) Das BVerfG als "Verfassungsgericht" - als "gesellschaftliches Gericht" eigener Art (2) Verfassungsgerichtsbarkeit "im" Gesellschaftsvertrag: Das BVerfG als Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschafts vertrag (3) Möglichkeiten und Grenzen der Leistungsfähigkeit des BVerfG - das BVerfG im Rahmen der politischen Kultur der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des GG Verfassungspolitik in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit (1) Problem (2) Drei Problemkreise: Richterwahl, Kompetenzen, Sondervoten im Licht der Textstufenvergleichung (eine Auswahl) (a) Die Richterwahl (b) Die Kompetenzen (c) Sondervoten der Verfassungsrichter
256
256 256
258
259 261 261 263 263 265 266
Inhaltsverzeichnis 2.
3.
4.
Verfassungsänderungen und ihre Grenzen: Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien
267
a) Die Ausgangsfragen b) Ein verfassungspolitischer Problemkatalog in Sachen Verfassungsänderung c) Die Grenzen der Verfassungsänderung: Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien
275
Verfassunggebung
283
a) Ein Problemkatalog, Fragenkreise und Antworten (1) Die Fragestellung (2) Der Problemkatalog: fünf Fragenkreise als Kontinuum im Wandel der Verfassungstexte (3) Antworten (4) Die zwei Ebenen: Verfassunggebung im Typus Verfassungsstaat - Verfassunggebung eines konkreten Volkes im Kontext seiner kulturellen Individualität und Identität (5) Die Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes b) Verfassungspolitische Erwägungen c) Verfassunggebung als pluralistischer Vorgang d) Normierung des "politisch Wichtigen"
283 283
Bedeutungsgehalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat a) Problem, Methodenfragen b) Inhalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat (1) Das Parlamentsgesetz im Kraftfeld der sog. "Rechts-Quellen", die Relativierung des "Stufenbaus" der Rechtsordnung (2) Die Komplexität des Interpretationsprozesses, die offene Gesellschaft der Gesetzesinterpreten, der bereichsspezifische Ansatz (3) Insbesondere: "Gesetz und Recht", "ius et lex" (4) Insbesondere: Das Parlamentsgesetz "im Laufe der Zeit", zeitoffene Interpretation ("law in action") (5) Gesetz und grundrechtliche Freiheit (6) Das Parlamentsgesetz als "Zwischenschritt" der Rechtsfortbildung in der pluralistischen Demokratie: zukunftsoffene Gesetzgebung
267 270
286 287
292 293 294 296 298 300 300 302 302
305 307 308 309
310
XXI
Inhaltsverzeichnis
IV.
Kulturelle Verfassungsvergleichung - Verfassungsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
312
Der Zusammenhang von sachlich-gegenständlicher und personaler Vielfalt im Prozeß der Verfassungsentwicklung
318
Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat: ein Pluralismus von Geschriebenem und Ungeschriebenem vieler Stufen und Räume, von Staatlichem und Transstaatlichem
320
1.
Einleitung, Problem
320
2.
Neuere Textstufen verfassungsstaatlicher Verfassungen zum Thema "Rechtsquellen" (Elemente einer Bestandsaufnahme)
322
V. VI.
3.
4.
a) Ältere und neuere Verfassungen in (West)Europa b) Entwicklungsländer und Kleinstaaten c) Verfassungen und Verfassungsentwürfe postkommunistischer Staaten vor allem in Osteuropa d) Verfassungen im südlichen Afrika e) Insbesondere: "Allgemeine Rechtsgrundsätze" als ausdrückliche Rechtsquelle f) Exkurs: Rechtsquellenaussagen in nicht-verfassungsrechtlichen Texten bzw. Kodifikationen
334
Verfassungstheoretische Überlegungen
336
2.
329 332 334
a) Die Fragwürdigkeit des Sprachbildes "Quelle"
336
b) Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat c) Insbesondere: "neue" Rechtsquellen d) Wechselseitige Einflüsse statt einseitiger Über- und Unterordnung der Rechtsquellen e) Abschied vom nationalstaatlichen Etatismus der Rechtsquellenlehre, die "Europäisierung" der Rechtsquellen
337 338
Verfassungspolitischer Ausblick
341
VII. Die verfassungstextliche Vielfalt und das "gemischte Verfassungsverständnis" 1.
323 325
339 340
342
Das Textstufenparadigma
342
a) Problem und Ausgangsthese b) Die Ausarbeitung an Beispielen c) Vorbehalte: Die Relativierung des Fortschrittsdenkens
342 346 355
Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten
362
a) Problem b) Bestandsaufnahme in Auswahl, die Beispielsvielfalt ( 1 ) Die sprachliche Vielfalt
362 363 364
Inhaltsverzeichnis (2) Die rechtstechnisch-dogmatische Vielfalt (a) Das Ermächtigungs- und Grenzziehungsmodell (b) Das Grundwerte-Modell (aa) Bekenntnis-Normen, Symbol- und Grundwerte-Klauseln, "Im Geiste"- und "kulturelles Erbe"-Artikel, Identitäts-, Grundsätze-, Vorrang-Klauseln (bb) Die Aufgaben-Normen (cc) Mehrschichtig gewordene Grundrechtsnormen (dd) Insbesondere: Grundrechtsverwirklichungs- und Entwicklungsklauseln (3) Differenzierungs- und Wandlungsprozesse c) Folgerungen ( 1 ) Auf der Ebene der Verfassungsinterpretation (2) Auf der Ebene der Verfassungstheorie (3) Auf der Ebene der Verfassungspolitik d) Ausblick 3.
Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses
368 369 370
372 380 387 392 394 396 396 397 398 398 399
a) Problem b) Die einzelnen Funktionen der Texte im Rahmen eines anthropozentrischen Verfassungsverständnisses ( 1 ) Das anthropozentrische Verfassungsverständnis (2) Ratio und Emotio (3) Die "Verarbeitung" der Zeit (4) Grundkonsens und Pluralität (5) Die schrankenziehende Funktion.. (6) Wirklichkeitsbezug, Wirklichkeitsgestaltung
400 400 401 403 405 407 407
Die Offenheit der verfassungsstaatlichen Themenliste - eine Momentaufnahme
408
5.
Inkurs Α.: Die hohe Relevanz von Verfassungsentwürfen
412
6.
Inkurs B.: Die kulturelle Entwicklungsgeschichte des Prinzips Subsidiarität
417
4.
( 1 ) Einleitung, Problem (2) Elemente einer Bestandsaufnahme: Erscheinungsformen der Literatur- und Textgeschichte in Sachen Subsidiarität (a) Vorbemerkung (b) Ausdrückliche juristisch positivierte Bezugnahmen auf das Prinzip der Subsidiarität (c) Immanente - "ungeschriebene" - Bezugnahmen auf das Subsidiaritätsprinzip ( 1. ) Grundrechtsgarantien
399
417 422 422 423 429 429
XXVI
Inhaltsverzeichnis (2.) Der Föderalismus (3.) Regionalismus (4.) Kommunale Selbstverwaltung (5.) Demokratie als bürgernahe Staatsform (d) Sozialethische, philosophische, geistesgeschichtliche Aussagen und Entwicklungslinien in Sachen Subsidiarität ( 1.) Die katholische Soziallehre (2.) Andere ideengeschichtliche Texte und Zeugnisse (e) Eine vorläufige "Bilanz" (3) Perspektiven einer auf den Verfassungsstaat und Europa hin gearbeiteten Theorie des Prinzips Subsidiarität (a) Der grundrechts- und gesellschaftsvertragstheoretische Ansatz (b) Der Gerechtigkeitsgehalt des Subsidiaritätsdenkens (c) Der Prinzipiencharakter der "Subsidiarität" (d) Subsidiarität - eine Korrelatmaxime, ihr "Relationscharakter", die kulturell bedingte Sinnvariabilität (e) Das Stufen- und Aufgabendenken, die Relevanz des Verfahrens (f) Die Mehrschichtigkeit des Prinzips Subsidiarität: programmatisch-politisch oder normativ-justitiabel, materiell oder prozessual, der variable Adressatenkreis (g) Die zwei Hauptanwendungsfelder der Subsidiarität: das innerverfassungsstaatliche und europarechtliche (h) Insbesondere "Maastricht"
7.
8.
432 433 434 436 436 436 438 441 441 442 443 443 444 445
446 447 447
Inkurs C.: Das eigene Verfassungsverständnis der Entwicklungsländer
453
Insbesondere: Entwicklungsstrukturen und -funktionen im Textbild neuer verfassungsstaatlicher Entwicklungsländer
456
Rezeptionen als Vehikel der Entwicklung des Verfassungsstaates
459
a) Rechtsrezeptionen als Ausschnitt aus allgemeinen kulturellen Rezeptionsvorgängen b) Verfassungslehre als Erfahrungswissenschaft c) Ursachen, Hintergründe und Bedingungen für Rezeptionen d) Rezeptionen als schöpferische Re-Produktionen e) Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung f) Theorieraster eines juristischen Rezeptionsmodells (1) Rezeptionswege und -verfahren, die Unterscheidung von "Überkreuzrezeptionen" und Mehrfachrezeptionen (2) Rezeptionsgegenstände: Elemente des Typus Verfassungsstaat und einzelne nationale Varianten (a) Präambeln
459 460 461 461 463 464 465 467 468
Inhaltsverzeichnis (b) Grundrechte (c) Staatsziele (d) Erziehungsziele (e) Rechtsquellenprobleme (f) Verfassungsgerichtsbarkeit (g) Föderalismus und Regionalismus (3) Elemente einer Rezeptionstypologie (4) Grenzen der Rezeptionen und der Rezeptionswissenschaft VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben 1.
481
2.
Erste Begriffsklärung
483
3.
Die Begründung eines materiellen Klassikerbegriffs: "Verfassung" vor dem Hintergrund von Klassikertexten
485
Inkurs: Klassikertexte zu Familie und Staat: kulturelle Entsprechungsverhältnisse im Wandel
490
a) Eine Auswahl neuerer Verfassungstexte b) Klassikertexte c) Ein vorläufiger Ertrag
490 492 496
Schöne Literatur und Künste im Verfassungsstaat, insbesondere Utopien.... a) b) c) d) e)
X.
481
Sieben Ausgangsthesen in kulturwissenschaftlicher Sicht
4.
IX.
469 470 471 472 474 474 475 480
"Schöne Literatur" Musik Bildende Kunst Film Insbesondere Utopien
500 504 512 514 517 518
Staatsrechtslehre(r) als Wissenschaft und Literatur im kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption - Verfassungslehre als Literatur und die Vielfalt ihrer Literaturgattungen
521
1.
Verfassungslehre als Literatur
521
a) Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur b) Die Verfassungsrechtswissenschaft als "informelles" Medium c) Staatsrechtslehre im Spannungsfeld von kultureller Rezeption und Produktion d) Weitere Aspekte e) Die internationale Dimension
522 524 525 530 533
Verfassungslehre im Kraftfeld der Vielfalt von rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen
534
a) Problem
534
2.
XXVIII
Inhaltsverzeichnis b) Unentbehrlichkeit, Offenheit und Differenziertheit, aber auch Integration der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen als "Bauteile" der Verfassungslehre c) Ausblick
XI.
536 544
Verfassungspolitik, der verfassungsstaatliche Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
546
1.
Verfassungspolitik und der verfassungsstaatliche Reformbedarf
546
2.
Insbesondere: Verfassungspolitik in Sachen Verfassungssprache
552
3.
Möglichkeitsdenken
558
a) Einleitung, Problem, Ausgangsthese b) Möglichkeitsdenken (Pluralistisches Alternativendenken) ( 1 ) Erläuterung des Begriffs (2) Bestandsaufnahme (3) Verfassungstheoretische Anforderungen an das Möglichkeitsdenken - Grenzen des Möglichkeitsdenkens c) Die Integration der Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Vorgang (des Denkens und Handelns) der öffentlichen Verfassungsinterpretation und -politik (1) Das Verhältnis der drei Denkrichtungen untereinander (Konkurrenz und Kooperation, Konfrontation und Integration) (2) Die Bewertung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen im Horizont des Normativen (3) Das Beispiel des Verfassungsauftrags (4) Grenzen
558 560 560 563 570
573 573 575 575 576
Sechster Teil Programmatische Folgerungen: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
578
I.
"Kulturwissenschaft" - Ansätze, Traditionen, Fragmente
578
II.
Hintergründe für die Vernachlässigung kulturwissenschaftlicher Ansätze....
581
III.
Die Zweckmäßigkeit des Begriffs "Kulturwissenschaften"
584
IV.
Der kulturwissenschaftliche Ansatz (Natur und Kultur)
588
V.
Die Verfassung als kultureller Generationenvertrag zum Schutz von Kulturgütern der Nachwelt - ein Verfassungsrecht für künftige Generationen....
594
1.
Problem
594
2.
Insbesondere: Umweltschutzfragen im Atomzeitalter
596
3.
Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen - Die "andere" Form des Gesellschaftsvertrags: der Generationenvertrag
601
Inhaltsverzeichnis a) Elemente einer Bestandsaufnahme (1) Ausdrücklicher Generationenschutz in neueren Verfassungen und Verfassungsentwürfen (2) "Immanente" Generationenschutzklauseln (3) Bindungen oder Freistellungen künftiger Generationen b) Der Theorie-Rahmen (1) Ein "natur"- bzw. "kulturwissenschaftlicher" Ansatz zum konstitutionellen Generationenschutz (2) Zeit und Verfassungskultur - eine Dimension der Generationenfolge von Bürgern im Verfassungsstaat (3) Die - kulturwissenschaftlich greifbare - Konstituierung des Volkes durch den " Generationen vertrag" (4) Verfassungspolitischer Ausblick VI.
601 602 604 606 607 607 613 614 619
Eine Revision der "Staatselemente", Kultur als "4." Staatselement, das Beispiel Staatsgebiet und Staatssymbole
620
1.
Das Verhältnis von Staat und Verfassung
620
2.
Verfassung als "Vertrag" (das 1989 wegleitende Paradigma des "Runden Tisches")
621
3.
Die drei sog. Staatselemente - und das "vierte": die Kultur
622
4.
Die Menschenwürde als "kulturanthropologische Prämisse" des Verfassungsstaates, die Demokratie als "organisatorische Konsequenz"
623
Die Verfassung des Pluralismus: Formen einer kulturellen Differenzierung und äußeren Öffnung des Verfassungsstaates
624
5.
a) Nation und Verfassungsstaat: Normalisierung, Relativierung, Normativierung - der Minderheitenschutz b) Föderalismus und (werdender) Regionalismus als inneres Strukturprinzip des Verfassungsstaates c) Die Öffnung des Verfassungsstaates zur Völkergemeinschaft hin (der "kooperative Verfassungsstaat") 6.
624 626 627
Die Europäisierung des Verfassungsstaates
627
a) Die "Europäisierung" durch Europarecht im engeren und weiteren Sinne b) Das "gemeineuropäische Verfassungsrecht" c) Nationales "Europaverfassungsrecht"
628 628 628
7.
Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat: Freiheit aus Kultur
630
8.
Inkurs: Das Beispiel "Staatsgebiet"
631
( 1 ) Einleitung, Problem (2) Das Staatsgebiet im Spiegel der Verfassungstexte, Konstanten und Varianten in Raum und Zeit (Elemente einer Bestandsaufnahme)...
631 632
XX
Inhaltsverzeichnis (a) Die systematische Plazierung von Staatsgebiets-Klauseln (l.)Der Kontext der typischen ,fStaatlichkeits"-Artikel ("Staatssymbole") bzw. Grundlagen-Artikel (2.) Andere Kontexte (b) Form und Struktur von Staatsgebiets-Klauseln ( 1.) Bestandsgarantien, Definitionen, Zuschreibungsformeln (2.) Sonstige Formen (c) Staatsgebietsänderungen: Verbot und Zulässigkeit (prozessuale und materielle Voraussetzungen) ( 1. ) Verbotsnormen - Verfassungsverbote (2.) Verfassungsvorbehalte: Das Verfahren der Verfassungsänderung (3.) Parlaments- bzw. Gesetzesvorbehalte für Staatsgebietsänderungen (d) Sonstige Staatsgebietsklauseln, insbesondere Beitritts-Artikel... (1.) Beitrittsklauseln (2.) Sonstige Staatsgebietsklauseln (e) Staatsgebietsrelevante Strukturierungen und Ziele, insbesondere: Föderalismus, Regionalismus und kommunale Selbstverwaltung (f) Insbesondere: Verfassungsnormen mit Auslandsbezügen (Inkurs) ( 1.) Das Grundrecht der Auswanderungsfreiheit (2.) Das Grundrecht auf Asyl (3.) Grundrechtschutz für Ausländer innerhalb der "Grenzen" eines Verfassungsstaates (4.) Das gebietsbezogene Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit in regionalen Menschenrechtspakten (3) Die Konstitutionalisierung des Staatsgebiets im Verfassungsstaat der verfassungstheoretisch-kulturwissenschaftliche Ansatz (a) Das neue Grundlagen-Verständnis des Staatsgebietes: der Bezug zu verfassungsstaatlichen Grundwerten (Grund- und Menschenrechten bzw. Staatsaufgaben) ( 1. ) Der Ausgangspunkt (2. ) Die Grundrechtsbezüge des Staatsgebietes (3.)Das Staatsgebiet als plurale Staatsaufgabe (b) Die Dialektik von Europäisierung und Globalisierung der Staatsgebiete einerseits, die Verknappung und daher Intensivierung der Gestaltung durch den Verfassungsstaat andererseits (c) Verfassungspolitik in Sachen Staatsgebiet
633 633 635 636 636 637 637 637 638 639 640 640 641
641 642 643 643 644 645 646
646 646 647 648
649 650
Inhaltsverzeichnis 9.
Insbesondere: Die sog. Staatssymbole im Kontext der neueren Textstufenentwicklung (Inkurs)
652
a) Problem b) Die neuere Textstufenentwicklung
652 653
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
656
1.
Problem
656
2.
Das Private, Privatheitsschutz
657
3.
Das Öffentliche
661
4.
Das Staatliche im Verfassungsstaat
667
5.
Insbesondere: Die Verbände in der republikanischen Bereichstrias (der status corporati vus) a) Problem b) Insbesondere: Der grundrechtstheoretische Ansatz: Teilhabe an Gruppen (1) Die Ausgangsthese: Die korporative Seite grundrechtlicher Freiheit (2) Die korporative Dimension in Verfassungsnorm(text)en (3) Der "status corporati vus" im Lichte von Grundrechts- und Verfassungstheorie c) Ausblick in acht Thesen: Verbände als Verfassungsproblem d) Neuere Textstufen und Verfassungspolitik
VIII. Einige zentrale Themen ("Kapitel") verfassungsstaatlicher Verfassungen Das Regelungsoptimum 1.
669 669 669 669 675 679 687 689 694
"Kulturelle Freiheit", Menschenwürde und Demokratie, Menschenrechte/Grundrechte im Verfassungsstaat
694
a) Kulturelle Freiheit b) Menschenwürde (1) Problem (2) Identitätskonzepte (3) Einige Folgerungen (4) Menschenwürde im Du-Bezug und im Generationenverbund.... (5) Menschenwürde im kulturellen Wandel c) Der Zusammenhang von Menschenwürde und Demokratie (1) Das "klassische" Trennungsdenken und seine Kritik (2) Wandlungen der Verfassungstexte (3) Die menschen- und bürgerorientierte Volkssouveränität (4) Menschenwürde als (Maßgabe-)Grundrecht auf Demokratie (5) Demokratie-Artikel d) Menschenrechte/Grundrechte im Verfassungsstaat
694 699 699 700 702 704 704 705 705 706 707 708 710 715
XXII
Inhaltsverzeichnis (1) Verfassungsstaatliche bzw. verfassungstextliche Bezugnahmen auf die Menschenrechte - eine vergleichende Typologie: die schrittweise "Konstitutionalisierung" der Menschenrechte als Positivierung 715 (a) Die Menschenrechte als Bestandteile allgemeiner Bekenntnisklauseln 717 (b) Vorrangs- und Rangklauseln bzw. Gleichstellungs- und Einschränkungs-Artikel 718 (c) Klauseln zur "menschenrechtskonformen" Auslegung 719 (d) Menschenrechte als Erziehungsziele 720 (e) Internationale Menschenrechtspolitik im Spiegel von Verfassungstexten 721 (f) Spezifischer Menschenrechtsschutz 722 (g) Sonstige Menschenrechtstexte in Kontexten anderer ver723 fassungsstaatlicher Themen, weitere "Fundstellen" (2) "Grund-Rechte", die Unterscheidung zwischen "Menschen-" und "Bürgerrechten", insbesondere: der "status mundialis hominis" 724 (3) Das offene, "gemischte" Theoriekonzept 731 (4) Textstufen als Entwicklungswege der Grundrechtsgarantien 733 (5) "Grundrechtsentwicklungsklauseln" 734 (6) Grundpflichten - das Korrelat zu den Grundrechten? 736 (7) Gnmdrechte und Minderheitenschutz - der "status corporativa" 737 (8) Neue Themen des Grundrechtsschutzes: Innovationsschübe und Rezeptionswellen 741 (9) Neue Rechtsschutzformen: "Ombudsmänner", "Bürgerbeauftragte", "Menschenrechtsbeauftragte" 743 Inkurs Α.: Sprachen und Sprachenfreiheit 744 Inkurs B.: Die Kommunale Selbstverwaltung als spezifische Demokratie-Form - eine Textstufenanalyse 751
2.
Erziehungsziele und Orientierungswerte, Menschenrechte als Erziehungsziele, "Verfassungspädagogik" a) Erziehungsziele (1) Erziehungsziele als konsensbildende Elemente im Verfassungsstaat (2) Erziehungsziele als Basisbedingungen der Verfassung des Pluralismus (3) Erziehungsziele als Medien einer "Verfassungspädagogik" (4) Erziehung der Jugend: ein Auftrag der "Verfassung als Vertrag" (5) Erziehungsziele durch Verfassungsvergleichung (6) "Pädagogische Verfassungsinterpretation"
758 758 758 760 761 764 765 768
Inhaltsverzeichnis b) Orientierungswerte
771
3.
Der kulturelle Trägerpluralismus
773
4.
Der "kulturelle Bundesstaat" - das kulturwissenschaftliche Bundesstaatsverständnis - die "gemischte" Bundesstaatslehre
776
5.
6.
7.
a) Grundlegung Insbesondere: "Gemeines" Verfassungsrecht im Bundesstaat b) Die deutsche Wiedervereinigung als Gewinn für den Föderalismus c) Die kulturpolitische Mitverantwortung des Bundes kraft des Einigungsvertrages .· d) Art. 29 GG in kulturwissenschaftlicher Sicht
791 797
Der Regionalismus in kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichender Sicht
803
a) Der verfassungsstaatliche Begriff "Region": ein offenes Ensemble von unterschiedlichen gemischten Größen - textliche Richtgrößen, das Bild der "Skala" b) Die sieben Legitimationsgründe c) Begrenzte Analogiemöglichkeiten im Verhältnis Regionalismus/ Föderalismus in Sachen regionale Verselbständigung, Aufgabenteilung und gesamtstaatliche Einordnung d) Der konstitutionelle Selbststand der "Region", Identitätselemente... e) Die europäische Ebene ("Makrostruktur")
810 811 812
Gemeinwohl und Staatsaufgaben
815
a) Theoriegeschichte und -diskussion in "Sachen Gemeinwohl" b) Der eigene Ansatz im Umriß: Gemeinwohlinhalte und -wege (-verfahren) in einer offenen Gesellschaft, verfassungsstaatliches Gemeinwohlverständnis und juristische Gemeinwohltheorie (1) Die Grundthesen (2) Einzelwissenschaftliche Kooperation, das Kulturgespräch über das Gemeinwohl (3) Mögliche Einwände, Gefahren und Gemeinwohldefizite (4) "Gemeinwohl" und Religionsgesellschaften, insbesondere Kirchen (5) Zusammenfassung c) Staatsaufgaben
815
Arbeit und Wirtschaft, Verfassungstheorie des Marktes, soziale und ökologische Marktwirtschaft a) Die Aktualität des Themas "Arbeit" b) Auf dem Weg zu einer Verfassungslehre der Arbeit (1) Entwicklungs- und Wachstumsprozesse des Verfassungsrechts der Arbeit
3 Häberle
776 784 790
803 809
819 819 823 826 827 828 831 848 848 849 849
XXI
Inhaltsverzeichnis
8.
(a) "Textstufen" in historischer und kontemporärer Verfassungsvergleichung (b) Eine typologische Einzelanalyse (2) Theorieelemente einer "Verfassungslehre der Arbeit" c) Das Thema "Wirtschaft" d) Verfassungstheorie des Marktes (1) Der Markt in kulturwissenschaftlicher Sicht - die "Zweihände-Lehre" Markt/Recht - das integrierende Verfassungsverständnis (2) Der Markt im Koordinatensystem staats- und rechtsphilosophischer Klassiker-Texte: Menschenbild - Gesellschaftsvertrag - Erziehungsziele und Gewaltenteilung im wirtschaftlichen Bereich (3) Der Markt im Spiegel verfassungsstaatlicher Verfassungstexte: Die Aussagekraft der Textstufenentwicklung (4) Marktwirtschaft und Demokratie - ein Analogon? (5) Drei Grenzen des Prinzips "Markt und Marktwirtschaft" (6) Die soziale Marktwirtschaft als "dritter" Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus: die Kulturleistung des Verfassungsstaates (7) Verfassungspolitische Folgerungen: die soziale Marktwirtschaft" als Verfassungsziel oder die Konstitutionalisierung ihrer Einzelprinzipien? (8) Ausblick e) Inkurs: Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff (1) Einleitung (2) Möglichkeiten und Grenzen der "Property Rights"-Lehre als einer "juristisch-ökonomischen" Theorie des Eigentums (3) Verfassungsrechtswissenschaft und Theorie der Verfügungsrechte: Fragen, Antworten und Fragen (4) Kulturwissenschaftliche Rekonstruktion des Eigentumsbegriffs (a) Explikation des Ansatzes (b) Konstanten und Varianten verfassungsstaatlicher Eigentumsgarantien : Textstufen der Eigentumsentwicklung (5) Das "optimale Modell" verfassungsrechtlicher Eigentumsgarantien, ihre dreifache Verankerung (6) Schlußthesen und Schlußfragen: Ausblick
917 919
Präambeln von Verfassungen
920
a) Problem, Bestandsaufnahme b) Verfassungstheoretische Einordnung (1) Die Präambel als Grundlegung und Bekenntnis
920 927 927
849 852 866 873 879
880
884 887 890 892
894
895 898 899 899 902 906 911 911 912
Inhaltsverzeichnis (2) Die Brückenfunktion in der Zeit c) Inhaltliche Konkordanzen mit anderen Verfassungsnormen (insbesondere Erziehungszielen, Feiertagsgarantien, Eidesklauseln und Bekenntnisartikeln) d) Interpretationsfragen (1) Der innere Zusammenhang der verschiedenen Normierungstechniken (2) Die normative Bindungswirkung von Präambeln e) Präambeländerung ohne Verfassunggebung? f) Verfassungspolitische Konsequenzen g) Neueste Präambelentwicklungen 9.
929
931 933 933 936 938 940 944
Gottes-Bezüge
951
a) b) c) d)
951 953 958 959
Problem Verfassungspolitische Fragen Das Gottesverständnis im Verfassungsstaat Zusammenfassung
10. Konstitutionelles Religionsrecht im Verfassungsstaat ("Religionsverfassungsrecht") a) Die systematische Plazierung des konstitutionellen Religionsrechtes b) Verfassungsstaatliche Nähe- und Ferne-Verhältnisse c) Eine religionsverfassungsrechtliche Themenliste (Momentaufnahme) 11. Feiertage/Sonntage a) Feiertage (1) Problem (2) Die Zeit-Dimension: Vergangenheits- bzw. Zukunftsorientierung (3) Feiertagsgarantien als Ausdruck der - geschichtlich geglückten - Integrierung von Bevölkerungsteilen in den Verfassungsstaat (4) Die Persönlichkeits- bzw. Sachorientierung (5) Feiertage mit spezifischem Bezug zum Typus Verfassungsstaat bzw. allgemein kulturgeschichtlich begründete Feiertage (6) Einteilungen nach der systematischen Plazierung von Feiertagsgarantien in den Verfassungstexten (7) Unterschiedlich formell bzw. "hoch" gewichtete Feiertage (8) Das "Altern" staatlicher Feiertage, das Werden alternativer Oppositionstage (9) Die anthropologische Dimension, Feiertage als (Verfassungs-) Kultur
961 962 963 964 966 966 966 967
970 972 973 975 978 979 981
XXVI
Inhaltsverzeichnis ( 10) Das Beispiel "Osteuropa" 985 b) Sonntage und Sonntagskultur im Verfassungsstaat, Sonntagsverhalten in der Freizeitgesellschaft, Sonntagswirklichkeit 987
12. "Republik"/"Verfassungsstaatliche Monarchie" a) Die Wiederbelebung der Republikklausel: ein Beispiel für verfassungskulturelle Wachstumsprozesse b) "Verfassungsstaatliche Monarchie" (1) Elemente einer Bestandsaufnahme (a) Grundlagen-Artikel in Sachen Monarchie (b) Kompetenz-Artikel in Sachen Monarchie und sonstige Regelungen (2) Theoretische Aspekte: monarchische Strukturen und Funktionen als "Restbestände" älterer Epochen oder eigenständige Variante des Typus Verfassungsstaat?, "parlamentarische Monarchie", die "verfassungsstaatliche Monarchie" (a) Fragen (b) Antworten (3) Zukunftschancen im europäischen Verfassungsstaat 13. Das Alter(n) des Menschen als Verfassungsproblem a) Problem b) Das Altern des Menschen im Spiegel von Verfassungs- und Rechtstexten - Bestandsaufnahme ( 1 ) Verfassungstexte zum Thema "Altern" (2) Gesetzestexte Inkurs: Parteiprogramme in Deutschland c) Der kulturwissenschaftliche Ansatz: "Platz" und Schutz alter Menschen im Verfassungsstaat und seiner offenen Gesellschaft ( 1 ) Die kulturanthropologische Dimension (2) Die verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche Dimension d) Differenzierte Verfassungspolitik für das Alter: Textvarianten und -alternativen 14. Gerechtigkeitsmaximen im Verfassungsstaat a) Problem b) Elemente einer Bestandsaufnahme c) Auswertung, erste verfassungstheoretische Folgerungen
999 999 1001 1004 1004 1009
1012 1012 1014 1018 1019 1019 1022 1023 1027 1028 1033 1033 1037 1041 1044 1044 1045 1046
15. Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlußbestimmungen als typisches verfassungsstaatliches Regelungsthema und -instrument (auch in gliedstaatlichen Verfassungen) 1048 a) Bestandsaufnahme b) Verfassungspolitik
1048 1059
Inhaltsverzeichnis IX.
Die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre
1060
X.
Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes
1063
XI.
"Kultur und Europa"
1066
1.
Kulturverfassungsrecht im Vertrag von Maastricht (1992)
1069
2.
Die europäische Rechtskultur
1073
a) b) c) d)
1073 1074 1076
3.
4. 5.
Die Geschichtlichkeit Die Wissenschaftlichkeit - juristische Dogmatik Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung Die weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates Religionsfreiheit, Toleranz e) Europäische Rechtskultur als Vielfalt und Einheit f) Partikularität und Universalität der europäischen Rechtskultur g) Ausblick
1077 1078 1081 1082
"Gemeineuropäisches Verfassungsrecht"
1083
a) "Gemeinrecht" als rechtswissenschaftliche Kategorie, die Prinzipienstruktur b) Inhalte (allgemein, schichtenspezifisch) (1) Europas Klassikertexte als "Vorform" von und Reservoir für die Ausbildung von GV (2) EU- bzw. EG-Texte, Europarat- bzw. OSZE-Texte (und ihre Umsetzung in die Praxis) als "Vorform" von GV (3) "Allgemeine Rechtsgrundsätze" (4) Nationales "Europaverfassungsrecht" (5) Parallele Reformvorhaben der nationalen Verfassungsstaaten... c) Akteure, die personale Seite d) Theorieelemente des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts als " Verfassungsrecht" e) Das Verhältnis von Staat und Verfassung in Europa f) Strukturen vertikaler Gewaltenteilung: Föderalismus und (werdender) Regionalismus sowie die Kommunen g) Verfahren für nationale Verfassungsreformen und dauernde "Europaoffenheit" bzw. "-föhigkeit" aller Verfassungsstaaten Der europäische Jurist - als Verfassunggeber, Richter und Staatsrechtslehrer
1102
Auf dem Weg zu einem "Gemeineuropäischen Verfassungsbuch"
1104
XII. National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz - ein Textstufen vergleich 1.
Problem
1083 1085 1085 1086 1086 1087 1089 1091 1094 1096 1098 1100
1106 1106
XXXVIII 2.
3.
4.
Inhaltsverzeichnis Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer (nationaler) Verfassungstexte (Elemente einer Bestandsaufnahme)
1108
a) b) c) d) e)
1109 1110 1111 1115 1118
Deutschsprachige Verfassungstexte Andere europäische Verfassungen Iberische und lateinamerikanische Verfassungen Neue osteuropäische Verfassungen Eine Zwischenbilanz
Verfassungstheoretische Überlegungen
1120
a) Eine kleine Verfassungslehre des Kulturgüterschutzes b) Verfassung als Kultur c) Die Kontextualität von Kultur und Natur - eine anthropologische Konstante in vielen Varianten
1120 1122 1123
Die Konstituierung der Menschheit aus nationalem und internationalem Kulturgüterschutz: Sieben Thesen
1124
a) b) c) d) e) f)
Die Weltgemeinschaft der Kulturstaaten Der "Weltgesellschaftsvertrag" in Sachen Kultur und Natur Welt- (und staatsbürgerliche Freiheit dank Kultur Das universal geschützte kulturelle Erbe als Multi-Kultur Menschheitsbezüge "im" Verfassungsstaat Die Konstituierung der Menschheit aus dem internationalen Kulturgüterschutz g) Das Bedingtheitsverhältnis von internationalem und nationalem Kulturgüterschutz XIII. Das "Weltbild" des Verfassungsstaates - eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und "letztem" Geltungsgrund des Völkerrechts
1124 1125 1126 1128 1129 1130 1131
1132
1.
Einleitung, Problem
1132
2.
Elemente einer Bestandsaufnahme
1135
a) Erläuterung des Textstufenparadigmas b) Die sechs Normbilder mit Weltbezügen als Grundwerte des Verfassungsstaates (1) Die universal versprochene Menschenwürde und die Menschenrechte (2) Weltfriedensklauseln (3) Erziehungsziele in völkerversöhnender, weltbürgerlicher, multikultureller Absicht und Toleranz (4) Kooperationsklauseln und -bekenntnisse, Freundschafts-Artikel (5) Regionale Identitätsklauseln (6) Verbesserung der Grundrechtsposition von Ausländern (7) Zwischenergebnis
1135 1137 1137 1140 1141 1143 1148 1148 1149
Inhaltsverzeichnis 3.
4.
Inkurs: Die "Menschheit" - kulturwissenschaftlich zu erschließendes Sinnpotential eines Begriffs (Weimarer Klassik und Deutscher Idealismus)
1151
Aspekte des Theorierahmens
1157
a) "Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten" b) Regionale und universale Verantwortungsgemeinschaften c) Der "Schulterschluß" mit dem Völkerrecht als verfassungsstaatlichem "Innenrecht" : "Menschheitsrecht"
1157 1158 1159
Siebenter Teil Resümee in Thesen
1163
Nachwort zur italienischen (zweiten) Auflage (1998)
1165
Hinweis
1168
Sachregister
1170
Abkürzungsverzeichnis aaO. AbgG ABl. Abs. AcP AdV a.F. AfP AfrMRK AJDA AJP AJIL AK GG ALR AMRK AO AöR ARSP Art. Aufl. AVR B x 90 BAföG BAG BayVBl. Bay. Verf. BB BFH BGBl. BR BT Drs BV BVerfG
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XLI
XLII
Abkürzungsverzeichnis
EWR FAZ
Europäischer Wirtschaftsraum Frankfurter Allgemeine Zeitung
F.D.P. FG Fn. FR FS FTG GBl. Ged.-Schrift GewArch GG ggf. GV GVB1. GVG GVK
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GWB HCHE HdbStKirchR HdbStR HdbVerfR HdSW HdUR Hrsg. hrsgg. HUG i.E. IGH IPbürgR IPR IPRax IPwirtR IWF JA JöR
Abkürzungsverzeichnis JR
Juristische Rundschau
Jura
Juristische Ausbildung
JuS JZ KartVO KJ KMK KritV
Juristische Schulung Juristenzeitung Kartellverordnung Kritische Justiz Kultusministerkonferenz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechts Wissenschaft Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kulturgüterschutzgesetz Kantonsverfassung Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Landesgesetzblatt littera Literatur Landes- und Kommunalverwaltung Linke Liste... Leitsatz Mitglied des Deutschen Bundestages Niedersächsische Verwaltungsblätter neue Fassung Neues Forum Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zürcher Zeitung Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Oberverwaltungsgericht Parteiengesetz Paperback Partei des Demokratischen Sozialismus Internationale Schriftstellervereinigung
KSZE KultSchG KV KZfS LGB1. lit. Lit. LKV LL-PDS LS MdB Nds.VBl. n.F. NF NJ NJW NPD NRW NVwZ NZZ ORDO OSZE OVG PartG Pb PDS PEN-Club
XLIII
XLIV PVS RabelsZ RdA RdJB Rdnr. REDP/ERPL RFH ROW RuP Rz SächsVBl. SBZ sc. SED SJZ Soc.Sc.Qu. SPD Stasi StGH SV SZ TB ThürVBl. UdSSR UN UNESCO VB1BW VE/VerfE Verf. VerwArch VRE VRÜ vs VSSR VVDStRL VwGO
Abkürzungsverzeichnis Politische Vierteljahresschrift Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recht der Jugend und des Bildungswesens Randnummer Revue Européenne de Droit Public/ European Review of Public Law Reichsfinanzhof Recht in Ost und West Recht und Politik Randziffer Sächsische Verwaltungsblätter Sowjetische Besatzungszone scilicet Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Schweizerische Juristen-Zeitung Social Science Quaterly Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatssicherheitsdienst der DDR Staatsgerichtshof Sondervotum Süddeutsche Zeitung Taschenbuch Verwaltungsblätter für Thüringen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verfassungsentwurf Verfassung; Verfasser Verwaltungsarchiv Versammlung der Regionen Europas Verfassung und Recht in Übersee versus Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung
Abkürzungsverzeichnis
XL
VwVfG WGO
Verwaltungsverfahrensgesetz Die wichtigsten Gesetzgebungsakte in den Ländern Ost-, Südeuropas und in den ostasiatischen Volksdemokratien (1.1959 - 8.1966, darin Monatshefte für Osteuropäisches Recht)
WHO w.N. WRV WTO ZaöRV
World Health Organization weitere Nachweise Weimarer Reichsverfassung World Trade Organization Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift des Bernischen Juristenvereines Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrechtrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Verwaltung Zeitschrift für Gesetzgebung Schweizerisches Zivilgesetzbuch Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer zitiert Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
ZBJV ZB1. ZevKR ZEuP ZfA ZfBR ZfP ZfRV ZfV ZG ZGB ZHR Ziff. zit. ZÖR ZParl ZRG ZRP ZSR ZVglRWiss.
ter Teil
Einleitung: Der Problemzusammenhang "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" will programmatisch ältere, z.T. verschüttete Erkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammenfügen: Im interdisziplinären Gespräch mit einer älteren Tradition von "Kulturwissenschaften" (W. Dilthey, Α. Weber, M. Weber) und in Anknüpfung an bewährte Erkenntnisse der Zivilrechtslehre, insbesondere ihrer großen Tradition der Rechtsvergleichung, gilt es, an eine kulturwissenschaftliche "Spur" der Weimarer Tradition zu erinnern, die mit den Namen R. Smend und G. Holstein, H. Heller, auch A. Hensel verbunden ist, aber im Gefolge des Wiederaufbaus nach 1945, der bundesdeutschen Fixierung auf Wirtschaft und Wohlstand und des Streits um die "werthierarchische Methode" 1 und auch nach der "Wende" 1989 vergessen wurde. Das in mehr als vier Jahrzehnten bewährte GG hat eine Tradition der Verfassungs-Kultur, Wissenschaft und Praxis haben ein Ensemble von Verständnissen und Vorverständnissen geschaffen, das nun umfassender gewürdigt werden muß - aus der Sicht einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Die GG-Texte bleiben juristische - "positive" - Texte, aber sie verweisen auf mehr als dies: auf eine Wirklichkeit, die der Text nur ausschnittsweise und "oberflächlich" indiziert - und auch geschaffen hat. So sehr sich gerade heute das Interesse Sachbereichen zuwendet, die im engeren Sinne "Kulturverfassungsrecht" sind: Es ist nur Symptom dafür, daß die "Sache Kultur" noch viel umfassender und tiefer Gegenstand einer Verfassungslehre wurde: einer kulturwissenschaftlich orientierten Verfassungslehre. Darüberhinaus muß das GG nur als ein (gutes) Beispiel für den Verfassungsstaat als Typus betrachtet werden: Damit geraten viele andere verfassungsstaatliche Verfassungen ins Blickfeld: textlich und als Kultur.
1 E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS für C. Schmitt, 1959, S. 35 ff.- Schon fast klassische Kritik bei A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff. (wieder abgedruckt in: R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 80 ff.).
Zweiter Teil
Der Begriff der Kultur Das Programm einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft darf den zentralen Begriff der Kultur nicht einfach voraussetzen, kann seine Vielschichtigkeit andererseits aber definitorisch oder sachlich kaum erfassen 1. Die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht geht regelmäßig von einem Begriff der "Kultur" in einem engen Sinne aus, der sich in Anknüpfung an die Ausgestaltungen im positiven Recht sowie wissenschaftliche Grundlegungen zum Kulturverwaltungsrecht ziemlich konkret als jene Sphäre bestimmen läßt, in welcher der Staat mit der Welt des Geistes eine besonders enge Verbindung eingeht: nämlich in den drei Hauptbereichen Bildung, Wissenschaft und Kunst 2 . Dieser engere Kulturbegriff hat zudem den beachtlichen Vorteil, daß er an ein verbreitetes Alltags Verständnis von "Kultur" anknüpfen kann. Denkt man freilich nicht nur von Recht und Staat zur Kultur, sondern umgekehrt (auch) von der Kultur her zum Recht hin und ergänzt man das Alltagsverständnis von Kultur um anthropologische und soziologische Definitionen, dann zeigen sich schnell die (Erkenntnis-)Grenzen einer solchen begrifflichen Verengung (so sehr sie auch den Begriff der Kultur als juristischen praktisch handhabbar machen mag). Nach einer klassischen Definition von E.B. Tylor ist nämlich Kultur oder Zivilisation jenes komplexe Ganze, das Kenntnis, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitten und andere Fähigkeiten und Gewohnheiten, 1
Zum folgenden Abschnitt ausführlich P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 13 ff.; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (27 ff.). 2 So grundlegend T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 8 f., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 1), S. 249 (253 f.); aus der späteren Literatur: U. Steiner/D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 (8 ff.) bzw. 46 (58 ff.) mit dem Vorschlag von D. Grimm (ebd. S. 60), die Funktion der Kultur liege in der "ideellen Reproduktion der Gesellschaft". S. auch W. Maihofer, Kulturelle Aufgaben des modernen Staates, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 1. Aufl., 1983, S. 953 ff. (2. Aufl. 1994, S. 1201 ff.); U. Steiner, Kulturpflege, in: HdbStR Bd. III (1988), S. 1235 ff. Eine gut informierende Darstellung bei A. Dittmann, Art. Kulturverfassungs- und Kulturverwaltungsrecht, in: Staatslexikon Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 773 ff. Bemerkenswert auch KM. Maier, Naturrecht und Kulturwissenschaft, ARSP (Beiheft) 35 (1989), S. 49 ff.
Zweiter Teil: Der Begriff der Kultur
3
die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat, einschließt. Andere Definitionen sprechen von "sozialer Erbschaft" (R. Linton) oder vom "Ganzen der sozialen Tradition" (Lowie). Nach Erarbeitung dieser frühen, klassischen Definition hat die weitere (kultur-)anthropologische Diskussion Begriffe wie Hochkultur, Volkskultur, Subkultur, Kastenkultur, parasitische Kultur u.ä. mehr geprägt 3; diese Begriffe weisen darauf hin, daß die Kultur eines Gemeinwesens von horizontalen und vertikalen Unterteilungen geprägt ist. Jene Theoretiker, die besonderes Gewicht auf bestimmte wiederkehrende Muster ("patterns") legten, schrieben, daß Kultur aus expliziten und impliziten Mustern für und von Verhalten bestehe, die durch Symbole erworben und tradiert werden und die die spezifische Errungenschaft menschlicher Gruppen darstellen, unter Einschluß der jeweiligen Verdinglichung; der essentielle Kern von Kultur bestehe aus traditionalen (d.h. historisch abgeleiteten und ausgewählten) Ideen und besonders den ihnen zugeordneten Werten; Kultursysteme könnten einerseits als Produkte von Handlungen und andererseits als konditionierende Elemente weiterer Handlungen aufgefaßt werden 4. Kroeber und 3 Zur Definition von Tylor, s. Ε. B. Tylor, Die Kulturwissenschaft, in: R. König/A. Schmalfuß, Kulturanthropologie, 1972, S. 51 (52); die Definition von Linton findet sich in seinem Werk R. Linton , The Study of Man, New York 1936; eine ausführliche Beschreibung von Kultur in den verschiedensten Koordinatensystemen bei A. Kroeber, Anthropology, 1948, S. 252 ff., bes. 265 ff., 274 ff., 276 ff. (Kasten- und Parasitenkulturen), 280 ff. (Land und Stadt), 304 ff. (Funktion); zum Begriff der Subkultur R. König, Über einige Grundfragen der empirischen Kulturanthropologie, in: König/Schmalfuß, aaO., S. 7 ff. (34 ff); J.M. Yinger, Contraculture and Subculture, in: A.S.R 25 (I960), S. 625 ff.; F. Sack, Die Idee Subkultur: eine Berührung zwischen Anthropologie und Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 23 (1971), S. 261 ff.; MO. Rassem, Aspekte der Kultursoziologie, 1982; H.J. Helle (Hrsg.), Kultur und Institution, 1982; H. Glaser, Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland, 1987; M. O. Rassem, Zivilisierte Adamskinder, Dreißig kulturgeschichtliche Essais, 1997.- Als Lexikon-Artikel zum Begriff "Kultur" z.B. W. Schneemelcher, Art. Kultur, in: Ev. Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, Sp. 1911 ff.; R. Hauser, Art. Kultur, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, 1986, Sp. 669 ff.; M.O. Rassem/H. Fries, Art. Kultur, in: Staatslexikon Bd. 3, 7. Auflage 1987, Sp. 746 ff.; ebd. Art. Kulturpolitik (P.-L. Weinacht); F. Rodi , Art. Kultur I, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XX 1990, S. 177 ff.- Zuletzt: K.P. Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft, 1995; KulturThemen behandeln von der "Kulturpolitik" bis zu den Goethe-Instituten und dem "Kultursponsoring": O. Schwenke, A.J. Wiesand, H. Hoffmann u.a., in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 41/96 vom 4. Okt. 1996. 4 A. L. Kroeber/C. Kluckhohn, Culture (1952), Reprinted New York: Vintage books o. J., S. 357; vgl. auch M. Singer, Art. "The Concept of Culture", International Encyclopedia of the Social Sciences, London 1968, Vol. 3, S. 527. Sehr anschaulich, wie umfassend die anthropologischen Kulturansätze sind, - gegenüber einem mehr auf den Bildungsbereich konzipierten Alltagsverständnis von Kultur - ist z.B. die beispielhafte Umschreibung von T. S. Eliot, Notes towards the Definition of Culture, London 1948, S. 31 : Der Gebrauch des Wortes Kultur umschreibe alle charakteristischen Aktivitäten und Interessen eines Volkes, so z.B. für die Engländer den Tag des Derby, der Henley4 Häberle
4
Zweiter Teil: Der Begriff der Kultur
Kluckhohn haben aus über 150 derartigen Definitionen und begrifflichen Annäherungen an Kultur verschiedene Klassifikationsmerkmale und -ebenen erarbeitet: Neben der deskriptiven Beschreibung der Objektbereiche von Kultur 5 halten sie für zentral folgende Begriffsschwerpunkte: Kultur wird betrachtet historisch (als soziales Erbe oder Tradition), normativ (als Regeln oder Lebensweise bzw. im Hinblick auf Ideale oder Werte und Verhalten), psychologisch (im Sinne von problemlösender Anpassung oder als Lernvorgang oder als Erfassung von Gewohnheiten), strukturalistisch (im Sinne der Erfassung der Muster ("patterns") bzw. der Organisation der Kultur) oder genetisch (im Sinne von Kultur als Produkt, als Ideen oder als Symbole)6. Solche anthropologischen bzw. soziologischen Ansätze zur Erfassung dessen, was Kultur ist, lassen sich kaum problemlos und sicher nicht ganz für "den Kulturstaat" und sein Verfassungsrecht operationalisieren. Drei Einsichten seien festgehalten: Kultur ist die Vermittlung dessen, was war - das ist der traditionale Aspekt 7 . Kultur ist die Weiterentwicklung dessen, was war - dies ist der innovative, (auch) auf sozialen Wandel ausgerichtete Aspekt; und die Kultur ist nicht immer identisch mit der Kultur: d.h., ein poli-
Regatta, den Tag von Cowes, den 12. August, das Cup-Finale, die Hunderennen, das Darts-Spiel, gekochten Kohl, länglich geschnitten, rote Beete in Essig, gotische Kirchen aus dem 19. Jahrhundert und die Musik von Elgar.- In einer neueren kulturanthropologischen Bestandsaufnahme wird solchen eher "fatalistischen" Betrachtungsweisen idealtypisch eine "mentalistische" gegenübergestellt, die Kultur als gedankliches System von gemeinsamen Wissens- und Glaubensinhalten enger faßt (vgl. F. R. Vivelo, Handbuch der Kulturanthropologie, 1981, S. 50 ff.). 5 Diesem Verständnis entspricht die obige Aufzählung von Kulturbereichen in der Verfassung (Kultur i.e.S.), wie sie im öffentlichen Recht verbreitet ist. 6 A. L Kroeber/C. Kluckhohn, Culture (Fn. 4), S. 77 ff.; ausf. (in primär kulturanthropologischer Sicht): l.-M. Greverus, Kultur und Alltagswelt, 1978, S. 52 ff.; s. ferner auch R. Maurer, Art. Kultur, in: H. Krings u.a. (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 1973, S. 823 ff - Zur Begriffsgeschichte des Wortes Kultur s. die vorzügliche Münchener Dissertation (phil.) von I. Baur, Die Geschichte des Wortes "Kultur" und seiner Zusammensetzungen, 1951; zuvor schon klassisch: J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, 1941. S. auch O. Jung, Zum Kulturstaatsbegriff, Johann Gottlieb Fichte - Verfassung des Freistaates Bayern - Godesberger Grundsatzprogramm der SPD, 1976. 7 Vgl. R. Liebermann, Zur Tradierung der kulturellen Werte, St. Gallen, 1982. S. freilich auch A. Göschel, Wandel des Kulturbegriffs: Ein Modell der Konkurrenz von Generationen?, AfK 1993, S. 71 ff.; ders., Die Ungleichzeitigkeit in der Kultur. Wandel des Kulturbegriffs in vier Generationen, 1991; H. Brackert/F. Wefelmeyer (Hrsg.), Kultur, Bestimmungen im 20. Jahrhundert, 1990; H. Hoffmann, Kommt eine neue Kultur? Die neuen Medien als Herausforderung für die Kultur, in: K. Reichert u.a. (Hrsg.), Recht, Geist und Kunst, 1996, S. 68 ff.; R. Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, S. 181 ff.: "Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel".
Zweiter Teil: Der Begriff der Kultur
5
tisches Gemeinwesen kann verschiedene Kulturen haben - dies ist der pluralistische Aspekt. An diesem System der drei Orientierungspunkte Tradition, Wandel und Pluralismus bzw. Offenheit hat sich eine Dogmatik des Kulturverfassungsrechts ebenso wie die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft zu orientieren. Die eingehende Beschäftigung mit all diesen Teilaspekten der Kultur eines politischen Gemeinwesens8 würde das Thema dieser Verfassungslehre sprengen; wichtig ist nur die Erkenntnis, daß die Kultur eines Gemeinwesens mehr oder weniger stark wohl immer all diese Aspekte aufweisen wird. Nur eine derartig disziplinierte, den Begriff der Kultur zwischen seinen variablen Polen und vielfältigen Ebenen nach dem jeweiligen rechtlichen Kontext differenzierende Betrachtungsweise wird der Aufgabe des Juristen und seiner Wissenschaft gerecht: sich mit ihrem Normensystem (das hier im übrigen selbst Bestandteil der Kultur ist) 9 auf die Schaffung eines Rahmens zu beschränken, in dem die Kultur des politischen Gemeinwesens sich entwickeln kann. Die so im weiten Sinne verstandene "Kultur" bildet den Kontext aller Rechtstexte und aller rechtlich bedeutsamen Handlungen im Verfassungsstaat -
8 Spätestens die zweite Weltkulturkonferenz der Unesco in Mexiko im August 1982 hat wegen ihres starken Pro und Contra eine breitere Öffentlichkeit für Fragen der Kultur und Kulturpolitik sensibilisiert; die "Erklärung von Mexiko" (zit. nach FR vom 9. August 1982, S. 1) enthält einige Prinzipien, die sich zu Elementen eines "werdenden Kulturverfassungsrechts" als "soft law" verdichten sollten; z.B.: "Die Unesco spricht sich für eine Kulturpolitik aus, die die nationale Identität eines jeden Volkes wahrt und bereichern hilft".- "Es müssen neue Wege in der politischen Demokratie gefunden werden, die Chancengleichheit in der Erziehung und Kultur garantieren".- "Rückgabe illegal angeeigneter Kunstwerke an die Ursprungsländer ist ein Grundprinzip der Beziehungen zwischen den Völkern".- "Die Expansion und Wechselbeziehungen in Kultur, Wissenschaft und Erziehung sollen zur Festigung des Friedens, zum Respekt der Menschenrechte, zur Ausmerzung des Kolonialismus ... beitragen". So lange es dauern wird, bis sich diese Prinzipien in Kulturpolitik und -Recht umsetzen, festzuhalten sind Begriffe wie "schöpferische Freiheit und kulturelle Identität der Nationen", der pädagogische Aspekt, die indirekte Anerkennung kultureller Vielfalt und kultureller Grundrechte. Auf lange Sicht könnte auch der "kooperative Verfassungsstaat" (dazu mein gleichnamiger Beitrag in FS Schelsky, 1978, S. 141 ff.) neue Arbeitsfelder im kulturellen Bereich finden. Dazu Vierter Teil VII. 9 Vgl. zum Recht als Element der Kultur: J. M. Broekman, Recht und Anthropologie, 1979, S. 87 ff - L. Pospisil, Anthropologie des Rechts, Recht und Gesellschaft in archaischen und modernen Kulturen, 1982, arbeitet betont kulturgeschichtlich und -vergleichend (z.B. S. 421, 431, 433). Er feiert auch Montesquieu, der das Recht als "ein relatives, das heißt ein kulturabhängiges Gebilde" aufgefaßt habe (ebd., S. 175).- Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz im Rahmen vergleichender Religionswissenschaft bei M. Eliade , Die Sehnsucht nach dem Ursprung, 1973, bes. S. 82 f., 85 ff., 90, 208. Für eine "dynamische Kultursoziologie": W.L. Bühl, Kulturwandel, 1987.- Aus der französischen Lit.: P.-H. Chombart de Lauwe, La culture et le pouvoir, 1975.
6
Zweiter Teil: Der Begriff der Kultur
vor allem auch ihrer (rechtlichen und rechtswissenschaftlichen) Bedeutung gelten die nachfolgenden Ausführungen; wo diese nur jene Kultur im engeren Sinne meinen, wird das ausdrücklich hervorgehoben. Ein derartig weiter Kulturbegriff läuft nur auf den ersten Blick Gefahr, daß "Kultur" zum Alles und Nichts erklärenden Allerwelts- oder Blankettbegriff degeneriert; jede Einengung schon auf abstrakter (und nicht erst auf sachbereichsspezifisch konkreter) Ebene würde indessen mit einem Verlust an Problembewußtsein, Forschungsmöglichkeiten und Erkenntnischancen erkauft werden, die im Gefolge der hier intendierten Skizze nur substanziell, d.h. in der Sache sich bewähren bzw. widerlegt werden sollten (und nicht durch Frageverbote); die Zweckmäßigkeit dieses Ansatzes gilt es zu zeigen.
iter Teil
Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht Einen ersten Zugang zum Verhältnis von Verfassung und Kultur gibt das Kulturverfassungsrecht als die Summe jener Verfassungsnormen, die die kulturellen Angelegenheiten im engeren Sinne (bundes- oder landes-)verfassungsrechtlich umfangen 1.
L Sachliche Teilgebiete Wie auch für das Kulturverwaltungsrecht sind danach zunächst jene drei bereits genannten sachlichen Hauptbereiche Bildung (Art. 12 i.V.m. Art. 3, 20 Abs. 1 GG, einschließlich Erwachsenenbildung, Art. 139 Verf. Bayern, und Privatschulfreiheit, Art. 30 Verf. Rheinland-Pfalz), Kunst und Wissenschaft gemeint (Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 18 Verf. Nordrhein-Westfalen). Konstituierende Gemeinsamkeiten dieser Kulturbereiche, die für die Zweckmäßigkeit des Begriffs "Kulturverfassung" sprechen, sind das besondere Maß an Autonomie, Freiheit, Distanz zur Zwangsgewalt des Staates2 mit der Folge, daß das Selbstverständnis der am kulturellen Prozeß Beteiligten für die Interpretation der Kulturverfassung eine besondere Bedeutung erlangt 3; deshalb läßt sich auch
1 Zum folgenden Abschnitt ausf.: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, S. 17 ff.; ders., Vom Kulturstaat..., 1980, in: Kulturstaatlichkeit, S. 8 ff., aaO., 33 ff. Hierauf nimmt vielfältig Bezug: J. Prieto de Pedro, Cultura, Culturas y Constitucion, 1995. 2 T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 9 f., später in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 1), S. 255.- Zu Österreich: H.-U. Ever s, Kulturverfassungsrecht in Österreich, JöR 33 (1984), S. 189 ff- Zur Schweiz: U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 3. Aufl. 1993, S. 89 f. 3 Zur Relevanz des Selbstverständnisses vgl. BVerfGE 24, 236 (247 f.) sowie P. Häberle, Grenzen aktiver Glaubensfreiheit, DÖV 1969, S. 385 ff. (388); ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 121 (124 f.); s. noch BVerfGE 54, 148 (155 f.), Fall Eppler. Allgemein jetzt M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993.
8
Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
das Staatskirchenrecht (Art. 140 GG, Art. 132-150 Verf. Bayern, Art. 41-48 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 3 9 - 4 1 Verf. Thüringen) - besser: "Religionsverfassungsrecht" - als "spezielles" Kulturverfassungsrecht begreifen 4. Die Gemeinsamkeiten rühren daher, daß Kulturverfassungsrecht sich auf jenes skizzierte Alltagsverständnis von Kultur im engeren Sinne bezieht.
II. Rechtstechnische Erscheinungsformen 1. Rechtstechnische Vielfalt der Kulturverfassungsnormen in den "alten" Verfassungsstaaten Rechtstechnisch begegnen Kulturverfassungsnormen in den „alten" Verfassungsstaaten in verschiedener Gestalt: (1) in allgemeinen oder speziellen Kulturstaatsklauseln (z.B. Art. 3 Verf. Bayern: Bayern ist ein "Kulturstaat"; Art. 139 ebd.: Auftrag zur Erwachsenenbildung; Art. 1 S. 2 Verf. Sachsen von 1992: "der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat"; Art. 34 Abs. 2 S. 1 Verf. Brandenburg von 1992: "Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert"; s. auch Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG: "kulturelle Zusammenhänge"); (2) in Erziehungs- bzw. Bildungszielen (z.B. Art. 56 Abs. 3,4 Verf. Hessen: Toleranz) oder Art. 27 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992: "Verantwortung ... gegenüber künftigen Generationen zu tragen"); (3) in Kompetenzkatalogen (Aufgabennormen) des Bundes (Art. 74 Ziff. 57 13, 75 Ziff. 1 a GG) oder des Landes (Art. 141 Verf. Bayern; Art. 30 Verf. Thüringen von 1993); (4) in Grundrechtsverbürgungen (Stichwort: kulturelle (Abwehr-)Freiheiten und ihre leistungsstaatliche Förderung - kulturverfassungsrechtliches Grundrechtsverständnis, z.B. Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 7 Verf. Mecklenburg-Vorpommern); (5) in Präambeln 5 sowie in Eidesklauseln und Feiertagsgarantien 6;
4 Vgl. K.Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 157 ff., später in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit, aaO., S. 281 ff. Vgl. noch Sechster Teil VIII Ziff. 10. 5 Zu ihnen ausf. meine Bayreuther Antrittsvorlesung, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ff., auch in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 176 ff., sowie Sechster Teil VIII Ziff. 8.
II. Rechtstechnische Erscheinungsformen
9
(6) im sog. "kommunalen Kulturverfassungsrecht" 7 als Teil des kulturellen Trägerpluralismus (vgl. Art. 10 Abs. 4, 83 Abs. 1, 140 Verf. Bayern, Art. 36 Verf. Sachsen-Anhalt). Im übrigen läßt sich das Kulturverfassungsrecht strukturieren durch die Unterscheidung zwischen individualrechtlichem Kulturverfassungsrecht (z.B. subjektive Freiheit des Künstlers und Wissenschaftlers: Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 10 Verf. Hessen; Recht auf Bildung: Art. 27 Verf. Bremen, Art. 29 Abs. 1 Verf. Brandenburg), objektiv-institutionellem Kulturverfassungsrecht (z.B. Einrichtungen der Volks- und Erwachsenenbildung: Art. 32 Verf. Saarland, Art. 17 Verf. Nordrhein-Westfalen; Feiertagsschutz: Art. 22 Verf. Berlin; Anstaltsseelsorge: Art. 54 Verf. Hessen; Kunstförderung: Art. 7 Verf. Schleswig-Holstein) und korporativem Kulturverfassungsrecht, etwa der Garantie des Wirkens von sozio-kulturellen Verbänden (z.B. Art. 37 Verf. Nordrhein-Westfalen), vor allem der Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 51 Verf. Hessen, Art. 137 WRV i.V.m. Art. 140 GG) sowie teilhaberechtlichem Kulturverfassungsrecht (z.B. Art. 11 Abs. 1 Verf. Sachsen: "Die Teilnahme an der Kultur in ihrer Vielfalt und am Sport ist dem gesamten Volk zu ermöglichen"). Naturgemäß gibt es hier viele Zwischen- und Mischformen bzw. Komplementärverhältnisse.
2. Die Entwicklungsländer auf dem Felde des Kulturverfassungsrechts Dieses Feld zeichnet sich durch besondere Dichte, hohe Differenziertheit, viel Phantasie und manche Neuschöpfung aus, ohne doch die Zugehörigkeit zum Typus "Verfassungsstaat" zu verleugnen. Das kann nicht überraschen. Ist
6
Dazu ders., ebd. in: FS Broermann, S. 235 ff. Zu "Feiertagsgarantien als kulturellen Identitätselementen des Verfassungsstaates" meine gleichnamige Schrift von 1987. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 11. 7 Ausfuhrlich P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 21 ff; E. Pappermann, Grundzüge eines kommunalen Kulturverfassungsrechts, DVB1. 1980, S. 701 ff; zum kommunalen Kulturauftrag: U. Steiner, Kulturpflege, HdbStR Bd. III (1988), S. 1235 (1252 ff.); E. Papper mann/P. M. Mombaur, Kulturarbeit in der kommunalen Praxis, 2. Aufl. 1991; O. Scheytt, Rechtsgrundlagen der kommunalen Kulturarbeit, 1994. Die Zitate der Landesverfassungen nach C. Pestalozza (Hrsg., Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995). Die europäische Perspektive bei F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Europa der Regionen - Europa der Kommunen, 1994.- Aus der sozial wissenschaftlichen Literatur: W. Gast, Stadtkultur, 1991; s. auch den Bericht über das 25. Cappenberger Gespräch von B. Stuer, Multikulturelle Vielfalt in den Städten, DVB1. 1990, S. 352 ff- Landeskulturelle Aktivitäten werden anschaulich in: G. Olzog/M. Purzer (Hrsg.), Handbuch der Kulturförderung in Bayern, 1996; E. Eberl/D. Martin/M. Petzet, Bayerisches Denkmalschutzgesetz, 5. Aufl. 1997.
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
doch die Kultur der Bereich, in dem die Staaten in Übersee ihre nationale Identität finden und behaupten, bewahren und weiterentwicklen müssen. Ohne das Wirtschaftsverfassungsrecht als ökonomische, "matérielle" Grundlage für den Prozeß der nationalen Entwicklung dieser Länder unterschätzen zu wollen: angesichts des Ziels der ökonomischen "Angleichung" der Staaten unter dem Stichwort "Wohlfahrtentwicklung" kann das einzelne Land heute seine Individualität, sein Profil, seine Identität nur im Kulturellen und vom Kulturellen her finden - bei aller "interkontinentalen Ausgleichskultur" unserer Tage (H.-G. Gadamer). Das Zugleich der Bewahrung und Entwicklung des Eigenen bei aller Öffnung zur Weltkultur (vorbildlich die Erziehungsziele in Art. 73 Verf. Guatemala) ist die "Seinsfrage" der Entwicklungsländer. Darum muß gerade das Kulturverfassungsrecht spezifische Textdifferenzierungsleistungen vollbringen. Die "Entwicklung" kann ja von der einzelnen Nation und von ihren Bürgern nur "ausgehalten" werden, wenn einerseits das kulturelle Erbe retrospektiv bewahrt wird, durch entsprechende Schutz- und Identitätsklauseln (z.B. nationaler Kulturgüterschutz), auch Sprachen-Artikel, andererseits prospektiv an der (Weiter-)Entwicklung des Kulturellen gearbeitet wird: via Erziehungsziele, kulturelle Teilhabe- und Zugangsrechte, beginnend mit der Beseitigung des Analphabetentums und endend in einem pluralistischen Kulturkonzept. Der Versuch einer als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" antretenden Verfassungslehre kann und muß sich eben hier bewähren! (S. noch Vierter Teil Inkurs A.) a) Kulturelles-Erbe- und Identitätsklauseln allgemeiner und spezieller Textfassung Kulturelles-Erbe- bzw. Identitätsklauseln sind ein Charakteristikum der Entwicklungsländer. Sie müssen ausdrücklich schützen, was die Nationen der alten Verfassungsstaaten selbstverständlich, oft ungeschrieben als ihre Identität zugrundegelegt haben und was in Europa als "Verfassungskultur" gelten kann bzw. im Rahmen der "Einheit der Rechtsordnung" in vielen Spezialgebieten des einfachen Rechts ausgeformt ist. Der Reichtum der Textvarianten ist groß und verdient unseren Respekt. Gewiß wirkte Art. 46 der Satzung der OAS von 19678 in seiner Bekenntnisnorm als Stimulans: "Sie (sc. die Mitgliedstaaten) fühlen sich jeder für sich und gemeinsam verpflichtet, das kulturelle Erbe der amerikanischen Völker zu wahren und zu pflegen". (Alte) Verf. Peru formuliert (1979) schon in ihrer Präambel:
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Zit. nach: Beck-Texte Menschenrechte, Ihr internationaler Schutz, 2. Aufl. 1985.
II. Rechtstechnische Erscheinungsformen
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"Getragen von dem Vorsatz, die historische Persönlichkeit des Vaterlandes, die sich aus den vornehmsten Werten vielerlei Ursprungs zusammensetzt und aus ihnen hervorgegangen ist, aufrechtzuerhalten und zu festigen, ihr kulturelles Erbe zu verteidigen und die Beherrschung und Bewahrung ihrer natürlichen Ressourcen zu sichern". Speziellere Schutzklauseln dienen den "Eingeborenenkulturen", der nationalen Folklore, Volkskunst und dem Kunsthandwerk (Art. 34), dem "Kulturbesitz der Nation" (Art. 36). Hinzuzunehmen ist der Integrations-Artikel 100: "Peru fördert die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Integration der Völker Lateinamerikas" und die Inpflichtnahme der gesellschaftlichen und privaten Kommunikationsmittel für "Bildung und Kultur" (Art. 37). Verf. Guatemala (1985) geht diesen Weg weiter, sie erfindet überdies manche Variante, etwa in der Präambel: "Wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an" und in Art. 58 zur "kulturellen Identität": "Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und Gebräuche an" sowie in weiteren Normen zum Schutz der "nationalen Kultur" (Art. 59), des "nationalen kulturellen Erbes" (Art. 60, s. auch Art. 61), der Volkskunst und Folklore (Art. 62) und der "ethnischen Gruppen" (Art. 66) 9 . Verf. Brasilien formuliert (1988) eine Schutzklausel in bezug auf "die indianischen und afrobrasilianischen Volkskulturen sowie die Kulturen der übrigen Gruppen, die am zivilisatorischen Prozeß der Nation teilhaben" (Art. 215 § 1). Sehr detailliert wird der "brasilianische Kulturbesitz" geschützt (§ 216): von den "Ausdrucksformen" über die "Schöpfungs-, Werk- und Darstellungsmethoden" bis zu "sonstigen künstlerisch-kulturellen Ausdrucksbereichen". Letzteres kann unschwer als Beitrag zur Kontroverse um den Kunst- und Kulturbegriff angesehen werden 10 .
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S. auch Art. 89 Verf. Costa Rica (1949/78), zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff.: "Die Ziele der Republik im Kulturbereich sind unter anderem folgende: Schutz der Naturschönheiten, Bewahrung und Entwicklung des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation...". 10 Aus der deutschen Rechtsprechung: BVerfGE 30, 173; 67, 213; s. auch P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 ff.; ders., Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S. 37 ff.; I. Pernice , in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1 (1996), Art. 5 III (Kunst) Rn. 1 ff.; J. WürJener, Das BVerfG und die Freiheit der Kunst, 1994.
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht b) Sprachen-Artikel
Die klassischen Nationalstaaten tun sich auch als Verfassungsstaaten mit der Sprachenfreiheit, etwa i.S. der vorbildlichen Schweizer Tradition und Gegenwart, schwer 11 . Umso größere Beachtung verdienen manche Entwicklungsländer. So sehr sie eine oder mehrere Staatssprachen festlegen 12, so sehr bleiben sie um andere Sprachen ihrer Bürger besorgt: wohl im Bewußtsein dessen, daß "Eingeborenensprachen" ein wesentliches Element ihres "kulturellen" bzw. "multikulturellen" Erbes sind. Je stärker sie sich zu ihrem kulturellen Erbe bekennen, desto mehr müssen sie auf Bewahrung und Förderung der Sprachenvielfalt achten. Das läßt sich etwa am Beispiel Perus belegen. Art. 38 der Verf. Perus von 1979 lautet: "Der Staat fördert das Erlernen und die Kenntnis der Eingeborenensprachen. Er garantiert das Recht der Quechua-, Aymara- und übrigen Eingeborenensprachen, eine Grundbildung auch in ihrer eigenen Sprache oder Mundart zu erhalten". Eine ähnlich innere Entsprechung zwischen kulturelles-Erbe-Klauseln und Sensibilität fur Sprachenvielfalt gelingt der Verf. von Guatemala (1985). Ihre vorbildlich profilierte kulturelle Identitätsklausel in Art. 58 (Recht der "Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche") findet ihre Fortsetzung in den Worten des Art. 66: "Der Staat anerkennt, respektiert und fördert ihre (sc. der verschiedenen ethnischen Gruppen) Lebensformen... sowie den Gebrauch von Idiomen und Dialekten" sowie in Art. 76 Abs. 2: "In Schulen, die in Gebieten, in denen vorwiegend Eingeborene leben, liegen, wird eine zweisprachige Ausbildung stattfinden" 13 .
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Einzelheiten in meinem Beitrag: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme im Verfassungsstaat, FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff. sowie Fünfter Teil X, Sechster Teil VIII. 12 Vgl. etwa Art. 76 Verf. Costa Rica (1949/78), zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff.: "Die Amtssprache der Nation ist Spanisch".- Speziell zu "Staatliche Identitätsfindung und Sprache - Das Beispiel Somalias" vgl. den gleichnamigen Aufsatz von T. Labahn, VRÜ 16(1983), S. 267 ff. 13 Das Sprachen-Element ist gewiß auch in der Kulturschutzklausel von Art. 215 Verf. Brasilien (1988) mitgedacht (§ 1 ebd.: "Der Staat schützt die indianischen und afrobrasilianischen Volkskulturen sowie die übrigen Gruppen, die am zivilisatorischen Prozeß der Nation teilhaben"). Aus der Lit.: Β. Moura Rocha, The Brazilian Constitution of 1988, ZaöRV 49 (1989), S. 61 ff.- CG. Caubet, La Constitution brésélienne, JöR 38 (1989), S. 447 ff.- Die Verfassung der Republik Senegal (1963/84), zit. nach Blaustein/Flanz, aaO., formuliert schon in Art. 1 Abs. 2: " La langue officielle de la République du Sénégal est le Français. Les langues nationales sont le Diopa, le Malinké, le Poular, le Sérère, le Soninké et le Wolof'.
II. Rechtstechnische Erscheinungsformen
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Frankreich, das Land der Menschenrechte, könnte von den Entwicklungsländern z.B. für seine Sprachenpolitik im Elsaß viel lernen. Noch 1981 hatte F. Mitterrand als Präsidentschaftsbewerber in der Südbretagne gesagt14: "Die Zeit ist gekommen für ein Statut der Sprachen und Kulturen in Frankreich, das diesen wirkliche Lebensfähigkeit gewährt. Es ist die Zeit gekommen, ihnen weit die Türen zu öffnen zu Schule, Radio und Fernsehen, auf daß sie den Raum finden im öffentlichen Leben, den sie brauchen und der ihnen zusteht". Frankreich müsse "endlich damit aufhören, das letzte Land Europas zu sein, das seinen Völkern die elementaren kulturellen Rechte verweigert". Bis heute blieb Frankreich jedoch bei seiner jakobinischen Tradition! Der Respekt vor der kulturellen Identität der Bürger stände jedem Verfassungsstaat von heute gut an. Auch wenn er textlich noch auf der älteren Stufe des "egozentrischen" Nationalstaates stehen geblieben ist, könnte er subkonstitutionell (etwa einfachgesetzlich und administrativ) nachholen, was bislang versäumt wurde. Die Entwicklungsländer sind in ihrer Textstufenentwicklung hier deutlich "vorne", und ihre vorbildlichen Verfassungen können den alteuropäischen Verfassungsstaaten manche "Entwicklungshilfe" leisten. In Sachen kulturelle Freiheit und Identität der Bürger auf dem Felde der Sprachen sind diese "unterentwickelt". Sie, die klassischen Verfassungsstaaten, müßten zu Rezipienten werden, die Entwicklungsländer haben höchst produktive "Vorgaben" geschaffen. Inwieweit dem ihre Verfassungswirklichkeit gerecht wird, kann hier offen bleiben. c) Erziehungsziele "Leit-Artikel" der späteren verfassungstextlichen Kodifizierungen von Erziehungszielen (wohl auch in den Entwicklungsländern) ist Art. 148 WRV: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung". Die westdeutschen Länderverfassungen haben die Textstufenentwicklung der innerverfassungsstaatlichen Erziehungsziele nach 1945 kräftig vorange-
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Zit. nach FAZ vom 12. Febr. 1990.
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
trieben 15 , etwa in Sätzen wie: "Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde der Menschen" (Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern), Vorbereitung zum "selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe" (Art. 56 Abs. 4 Verf. Hessen) und vor allem durch Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen: "Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker". Wie stark die Erziehungsziele in die Dynamik der Weiterentwicklung des Typus des Verfassungsstaates integriert sind, zeigt sich zuletzt darin, daß jüngst die (westdeutschen) Länderverfassungen die Änderungen in Sachen rechtlicher Umweltschutz aufnahmen (Art. 3 Abs. 2, 141 Verf. Bayern; Art. 11 a Verf. Bremen 16 ), im "soft law" der Erziehungsziele pädagogisch "gleichzogen" (vgl. Art. 131 Abs. 2 n.F. Verf. Bayern: "Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt" bzw. Art. 26 Ziff. 5 Verf. Bremen: "Die Erziehung zum Verantwortungsbewußsein für Natur und Umwelt"). Alle ostdeutschen Verfassungen haben 1992/93 "wahlverwandt" getextet. Diese innere doppelt, d.h. rechtlich und pädagogisch abgestützte Entwicklungslinie des Verfassungsstaates besitzt ein Gegenstück: in Textelementen der internationalen Menschenrechtswerke, soweit sie die Erziehung zu den Menschenrechten thematisieren. Pionierhafter "Leit-Artikel" ist insoweit Art. 26 Ziff. 2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948: "Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und rassischen oder religiösen Gruppenfördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen". Die UNESCO hat in Art. 1 Abs. 1 ihrer Satzung von 1945 ebenfalls eine Textbasis für Menschenrechtserziehung geschaffen 17 und sie verfolgt dieses Ziel u.a. durch die Proklamation eines "Tages der Menschenrechte" 18. Es ist die spezifische Leistung der Entwicklungsländer, jüngst eine Textstufendifferenzierung geschaffen zu haben, die die konstitutionellen Erziehungs15 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1982, S. 47 ff. S. noch unten Sechster Teil VIII Ziff. 2. mit weiterer Lit. 16 Zit. nach Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995. 17 Art. I Abs. 1 : "Ziel der Organisation ist es, durch Förderung und Zusammenarbeit zwischen den Völkern auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit beizutragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken...". 18 Dazu W. Ρ er schei, Grundrechtsschutz durch Grundrechtserziehung, FS Ridder, 1989, S. 85 (89 f.).
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ziele der beschriebenen Art mit den internationalen Menschenrechtstexten verschmilzt: im Sinne einer Erziehung zur Verfassung bzw. zu den Grund- und Menschenrechten. Die Hintergründe liegen auf der Hand: Entwicklungsländer müssen sich als Verfassungsstaaten nicht zuletzt über die kulturelle Sozialisation bzw. Erziehung fundieren, und der juristische Menschenrechtsschutz bedarf dringend der "Flankierung" durch den pädagogischen. Generationenlange Lernprozesse, etwa in Frankreich seit 1789, müssen möglichst rasch erzieherisch nachgeholt werden. Verf. Peru (1979) gelingt all dies in den Textstellen: "Sie (sc. die Bildung) ist an den Grundsätzen der sozialen Demokratie ausgerichtet" (Art. 21 Abs. 2 S. 2). "Sie fordert die nationale und lateinamerikanische Integration sowie die internationale Solidarität" (Art. 22 Abs. 1 S. 2) und: "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch" (Abs. 3 ebd.) 19 . Ebenso prägnant ist Art. 72 Verf. Guatemala (1985): "Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur. Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte"20. Verfassungsstaatliche Verfassungen sowie die Grund- und Menschenrechte als Erziehungsziele zu denken, in der deutschen Lehre bislang unter dem Stichwort "Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele" gewagt 21 , besitzt nunmehr dank der Entwicklungsländer eine verfassungstextliche Argumentationsbasis - hinzu kommt die Verpflichtung zur Förderung des Menschenrechtsgedankens nach Art. 25 der afrikanischen Banjul Charta von 1982 ("verpflichtet, durch Unterricht, Ausbildung und Publikationen die Achtung gegenüber den in dieser Charta enthaltenen Rechten und Freiheiten zu fördern ... und ferner dafür zu sorgen, daß die Freiheiten und Rechte sowie die ihnen korrespondierenden Pflichten verstanden werden"). Künftige Verfassungsänderungen bzw. Verfassungsgebungen der "entwickelten" Staaten sollten davon lernen. Man denke auch an neuere Verfassungen in Osteuropa, die ihren wiederzugewinnenden Menschenrechtsstandard textlich doppelt absichern müssen: rechtlich durch juristischen Grundrechtsschutz und pädagogisch durch
19 S. auch Art. 28: "Der Unterricht muß in allen seinen Stufen getreu den Verfassungsgrundsätzen und den Zwecken der entsprechenden Bildungseinrichtungen erteilt werden". 20 S. auch Art. 74 Abs. 4 Verf. Guatemala: "Die wissenschaftliche Erziehung, Technologie und Humanität sind Erziehungsziele, um die sich der Staat ständig kümmert". 21 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in: FS Huber, 1981, S. 211 ff.
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
Verfassungstexte (mindestens aber einfache Gesetze) zu Grund- und Menschenrechten "als" Erziehungszielen! Vielleicht darf man sogar das große Wort "Erziehung des Menschengeschlechts zum Verfassungsstaat" wagen. d) Kulturelle
Grundrechte
Die Fundierung der Entwicklungsländer von ihrer Kultur her schließt auf der heutigen Lebensstufe des Verfassungsstaates kulturelle Grundrechte nicht aus sondern ein. Während etwa in Deutschland das Kulturverfassungsrecht in der Wissenschaft erst seit Ende der 70er Jahre systematisch "aufgeschlossen" wurde 22 , lassen sich aus den neueren Verfassungen der Entwicklungsländer Textelemente nachweisen, die eine große Bereicherung im Rahmen einer Verfassungstheorie des Kulturverfassungsrechts sind. Zu unterscheiden sind thematisch neue bzw. fortentwickelte kulturelle Grundrechte und Verfeinerungen der Dimensionen kultureller Freiheiten (neben der abwehrrechtlichen die objektivund leistungsrechtliche). Hier einige Beispiele: Zunächst zu den Themen: Eine allgemeine Kulturstaatsklausel im Gewand eines subjektiven Grundrechts findet sich in Art. 21 Abs. 1 Verf. Peru (1979): "Das Recht auf Bildung und Kultur ist der menschlichen Person inhärent". Eine vorbildliche Präzisierung der Grundrechte auf Bildung leistet Abs. 2 ebd. in den Worten: "Die Bildung hat die vollständige Entwicklung der Persönlichkeit zum Ziel. Sie ist an den Grundsätzen der sozialen Demokratie ausgerichtet. Der Staat anerkennt und garantiert die Freiheit des Unterrichts". Die Bildungsinhalte in Art. 22 ("Kenntnis und praktische Anwendung der Geisteswissenschaften, der Kunst, der Naturwissenschaften und der Technik") könnten in einer europäischen Verfassung nicht treffender formuliert werden. Das "kongeniale" Grundrecht auf kulturelle Identität nach Art. 58 Verf. Guatemala ("Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und 22
Vgl. vom Verf. für die kommunale Seite: "Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag", 1979, ftir die föderalistische: "Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat", 1980, fiir die europäische: "Europa in Kulturverfassungsrechtlicher Perspektive", JöR 32 (1983), S. 9 ff. Insgesamt: U. Steiner/D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff.; R. Rothkegel, Kulturstaat Deutschland, ein Wintermärchen? FS Mahrenholz, 1994, S. 155 ff.- Weitgehend unbeachtet blieb BVerfGE 80, 315 (342) in dem Passus: "Staat europäischer oder nordamerikanischer Prägung, der sein gesamtes Gebiet unter eine Kultur- und Rechtsordnung stellt..." bzw. in der Formel vom "mehrschichtigen" Staat. S. auch BVerfGE 92, 203 (238): Der Rundfunk ist auch ein "kulturelles Phänomen". E. 93, 121 (141): "kulturelle Standards".
II. Rechtstechnische Erscheinungsformen
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ihrer Gebräuche an") wurde bereits gewürdigt. Thematisch präzisierend ist auch Art. 2 Abs. 4 a.E. Verf. Peru: "Die Rechte auf Information und freie Meinung umfassen das Recht auf Gründung von Kommunikationsmitteln". Ein Wort zu den verschiedenen Dimensionen kultureller Grundrechte. Die objektivrechtliche begegnete schon im Kontext der Analyse der (kulturellen) Staatsaufgaben, erwähnt sei Art. 63 Verf. Guatemala ("Der Staat schützt den freien kreativen Ausdruck, er fördert die wissenschaftliche und intellektuelle sowie künstlerische Entwicklung und ihre berufsmäßige und wirtschaftliche Grundlage") oder Art. 34 Verf. Peru ("Der Staat schützt und gibt Anreize für die Hervorbringung der Eingeborenenkulturen..."; Art. 38: "Der Staat fördert die Leibeserziehung und den Sport..."), auch Art. 26 Verf. Peru ("Beseitigung des Analphabetentums als vordringliche Aufgabe des Staates"). Die leistungsstaatliche Teihabe-Seite verdichtet sich in Art. 57 Verf. Guatemala zu einem Verfassungstext, der voll auf der Höhe der europäischen Dogmatik steht und sogar noch eine entwicklungsländer-typische Komponente enthält: "Jede Person hat das Recht, frei am kulturellen und künstlerischen Leben der Gemeinschaft teilzuhaben und in gleicher Weise am wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt der Nation beteiligt zu sein". Art. 215 Verf. Brasilien (1988) normiert: "Der Staat garantiert allen die volle Ausübung der kulturellen Rechte sowie den Zugang zu den Quellen der nationalen Kultur; er unterstützt und fördert den Wert der Kultur und die Verbreitung der Kultur in allen ihren Äußerungen". Es ist gewiß keine Minderung der Leistung der Entwicklungsländer, wenn an Vorbildtexte inernationaler Menschenrechtswerke erinnert wird; etwa an Art. 27 Ziff. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 ("Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben" 23 ). Denn schon die juristische Positivierung und konsequente Integrierung in die Systematik und Formtypik der eigenen individuellen Verfassung ist eine Respekt erheischende Leistung, ganz abgesehen von den inhaltlichen Verfeinerungen und Adaptierungen an die historische Biographie der eigenen Nation. Schließlich ist daran zu erinnern, daß internationale und nationale Grundrechtsprinzipien gemeinsam und glei-
23 S. auch Art. 15 Abs. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, auch Präambel der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969: "Schaffung von Bedingungen, unter denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ... genießen kann".
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
chermaßen intensiv an den Entwicklungsstufen des Typus "Verfassungsstaat" arbeiten. Der Verfassungsstaat wird - jedenfalls in einzelnen Textelementen so zu einem wahrlich universalen Projekt der Völkergemeinschaft und die Menschenrechte werden zur "universalen Zivilreligion" unserer Zeit. e) Kulturelle Pluralismus-Klauseln Schon die Normierung kultureller Freiheiten trägt das unverzichtbare Moment der Offenheit in das Kulturverfassungsrecht der Entwicklungsländer. Und die Feststellung der Verpflichtung auf das "kulturelle Erbe" wäre eine unfruchtbare historisierende Status-quo-Garantie, würde nicht der Aspekt der Vielfalt des Kulturellen in Vergangenheit und Zukunft berücksichtigt. Die Entwicklungsländer gehen hier verfassungstextlich den richtigen Weg zwischen Verarbeitung der eigenen Kulturgeschichte und Öffnung für Neues. Das Stichwort vom "offenen Kulturkonzept" 24 , vom "pluralistischen Kulturverständnis" 25 26
läßt sich auch für die Entwicklungsländer belegen - obwohl sie so intensiv um ihre kulturelle Identität ringen müssen. Hier einige Textbelege: Kulturelle Vielfalt liegt schon in den Worten nach etwa Art. 34 Verf. Peru zugrunde (Schutz der "Eingeborenenkulturen"), wie überhaupt Kultur mehrfach im Plural auftritt 27 . Die Pluralität der Erziehungsziele ist in Art. 72 Abs. 1 Verf. Guatemala am besten auf den Punkt gebracht ("Die Erziehungsziele sind ... die Kenntnis über die Welt und die nationale und internationale Kultur"). Bemerkenswert ist der kulturelle Trägerpluralismus, der sich in einzelnen Textstellen Bahn bricht, etwa in Art. 85 Verf. Guatemala (Anerkennung der Privatuniversitäten mit dem Ziel, zur "wissenschaftlichen Entwicklung, zur Verbreitung der Kultur sowie zum Studium und zur Lösung der nationalen Probleme" beizutragen), oder in Gestalt des Verfassungsauftrags zur Förderung der "Privatinitiative im Erziehungswesen" (Art. 80 Verf. Costa Rica). Im übrigen verbürgen allgemein Pluralismus-Klauseln, etwa nach der Art Perus (Präambel: "offene Gesellschaft", ähnlich Präambel Brasiliens: "bürgerliche, plura-
24 P. Häberle, erstmals in: ders., Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 22, 34 f. 25 Ders., in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (30 ff., 46 ff.). 26 Vgl. Art. 89 Verf. Costa Rica: Bewahrung und (!) Entwicklung (!) des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation und Unterstützung der privaten Initiative für den wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritt. 27 Ebd. Unterscheidung von nationaler Folklore, Volkskunst und Kunsthandwerk; ähnlich geht Art. 62 Verf. Guatemala vor und ihr Schutz ethnischer Gruppen in Art. 66 ebd.; auch Verf. Brasilien: Art. 215 § 1: "Kulturen der übrigen Gruppen".
III. Inkurs A: Grundrechtsstatus der Kulturschaffenden
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listische und vorurteilsfreie Gesellschaft", s. auch Art. 1 Ziff. V ebd.: "politischer Pluralismus") Pluralismus auch im kulturellen Feld. Ein "inspirierender" Text darf in Art. 3 lit. k OAS-Satzung von 1967 erblickt werden: "Die geistige Einheit des Kontinents beruht auf der Achtung vor den kulturellen Werten der amerikanischen Länder und erfordert deren enge Zusammenarbeit für die hohen Ziele der Zivilisation". Und eine Kulturstaatsklausel eigener Art, die die Entwicklungsländer mit einschließt, aber auch die Individuen, sei zuletzt in Erinnerung gerufen. Art. 16 OAS-Satzung lautet: "Jeder Staat hat das Recht auf freie und natürliche Entfaltung seines kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens. Er soll dabei die Rechte des Individuums und die Grundlagen allgemeiner Moral achten".28
III. Inkurs Α.: Der Grundrechtsstatus der Kulturschaffenden und die Rolle des Selbstverständnisses "Freiheit der Kultur" erwächst im Verfassungsstaat immer neu aus der Erfüllung einer Vielzahl spezieller kultureller Grundrechte. Sie garantieren zugleich das mögliche Aufkommen von Alternativ- und Gegenkulturen - ganz im Sinne des "offenen Kulturkonzeptes". Kultur lebt von der Präponderanz der Freiheit des einzelnen (G. Dürig) und der Gruppen, aber auch und gerade im Verfassungsstaat bedarf es praktisch wahrgenommener kulturstaatlicher Aufgaben: in der Schweiz, Österreich und in Deutschland wahrgenommen von den Ländern (Kantonen), den Gemeinden und vom Bund. Kulturelle Freiheit ist eine humane Bedürfnisstruktur. Alle Freiheit ist in einem tieferen Sinne kulturelle Freiheit, Freiheit jenseits des sog. "Naturzustandes", so unverzichtbar dieser als Fiktion verfassungstheoretisch sein mag. Oder um mit A. Malraux zu denken: Der Mensch kennt sich selbst nicht 28
Von den francophonen Entwicklungsländern sei als Beispiel für Kulturverfassungsrecht zitiert: Verf. Congo (1979/84), zit. nach F. Reyntiens (Hrsg.), Constitutiones Africae, Vol. I 1988: Nr. 25 als Kulturförderungs-Artikel ("L'Etat favorise les sciences et les arts dans le but de développer la culture et le bienêtre du peuple"), Nr. 26 als Volkserziehungs-Artikel ("En vue d'élever le niveau de la culture générale du peuple, l'Etat assure à toutes les couches du peuple les possibilités de mener des études dans les écoles et autres institutions culturelles").- S. auch Verf. Burundi, die zwar den Einparteienstaat institutionalisiert (Nr. 22), zugleich aber ein Zugangsrecht zur Kultur vorsieht (Nr. 18: "Tout citoyen a droit à légal accès à l'instruction et à la culture"). S Häberle
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
und braucht deshalb die Kunst, um Kontakt zu finden mit seiner eigenen Bestimmung, seiner Humanität. Hierher gehört Goethes Dictum, Kultur sei nichts anderes als eine unausgesetzte Folge bewahrender Anstrengungen, die "man nicht wieder fahren lassen (und) um keinen Preis aufgeben" dürfe.
1. Der Grundrechtsstatus des Kulturschaffenden Am Beispiel des Grundrechtsstatus des "Kulturschaffenden" sei das Zusammenwirken einer allgemeinen kulturellen Grundrechts- (und Verfassungsstaats)- Theorie und spezieller Grundrechtstexte veranschaulicht. Wenn man das kreative, aktive, humane Moment des einzelnen Künstlers und sein Selbstverständnis als für die Kultur und - besonders im "offenen Kulturkonzept" 29 für ein pluralistisches Kulturverständnis des Verfassungsstaates wesentlich in den Mittelpunkt rückt und als Pendant zu den (eher) "kreativen" die (eher) rezeptiven, kulturaufnehmenden (aber damit auch produktiven) Bürger (auch Gruppen) hinzunimmt, so erfüllt sich "Freiheit der Kultur" juristisch aus einem Zugleich vieler spezieller kultureller Grundrechte sowie aus in ihnen, aber auch im Verfassungsstaat ganz allgemein angelegten und geleisteten kulturstaatlichen Aufgaben; sie erfüllt sich zugleich aus einem allen Grundrechten gemeinsamen kulturellen Verständnis 30. Der Status (activus) der Kulturschaffenden setzt sich zunächst im spezifisch kulturell verstandenen Verfassungsstaat aus Elementen mehrerer spezieller Grundrechtstexte zusammen, für Wissenschaft und Kunst aus Art. 5 Abs. 3 GG, für kulturelle Informationen zugleich aus Art. 5 Abs. I 3 1 , im Blick auf "Kultur als Beruf' auch aus Aspekten des Art. 12 GG, angesichts des erarbeiteten "Kulturprodukts" wird Art. 14 ("geistiges Eigentum") mit einschlägig32; sozialstaatliche Elemente kommen über die Künstlersozialversicherung ins Spiel. Aus internationalen Menschenrechtstexten werden z.B. einschlägig: das "Recht eines jeden auf Bildung" nach Art. 13 Abs. 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966/1973), wobei Bildung 29 Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 3 u.ö.; s. später auch den Länderbericht N. Wimmer, VVDStRL 42 (1984), S. 83 (84, 86). Zu "Kultur und Pluralität" auch W. Maihofer, Kulturelle Aufgaben des modernen Staates, HdbVerfR 2. Aufl. 1994, S. 1201 (1244 f.). 30 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 385 ff.; zustimmend D. Grimm, aaO, VVDStRL 42 (1984), S. 67. 31 Dazu wegweisend D. Grimm, ebd., S. 68 ff. 32 Allgemein zum verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff mein Basler Vortrag: Vielfalt der Property Rights..., in: AöR 109 (1984), S. 36 ff., sowie unten Sechster Teil VIII Ziff. 7.
III. Inkurs A: Grundrechtsstatus der Kulturschaffenden
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und Menschenwürde durchaus zusammen gedacht und kulturell verstanden sind 33 ; einschlägig ist weiter Art. 15 (u.a. Recht eines jeden "am kulturellen Leben teilzuhaben"). Die Freiheit des Kulturschaffenden ergibt sich direkt aus Art. 1 GG (Menschenwürde) als (kultur)anthropologischer Prämisse und "archimedischem Punkt" oder "Quintessenz" des Verfassungsstaates und seiner Kultur. Daneben sind der status negativus des Kulturschaffenden und die objektivrechtliche Dimension greifbar 34 , etwa in Gestalt von staatlichen Kulturförderungsaufgaben; materielle und prozessuale Teilhabeaspekte zeichnen sich (z.B. in Kulturförderungsgesetzen, Film Vergaberichtlinien) ebenso ab wie individuelle und korporative 35 . Deshalb ist der einzelne Bürger keineswegs "Träger" von Kultur und kulturellen Grundrechten so wie der Verfassungsstaat in seiner Kompetenzordnung KulturVerantwortung an innerstaatliche Instanzen als Träger ("sekundär") verteilt. Das wäre "Instrumentalisierung" des einzelnen durch den Kulturstaat. Im Ergebnis ergänzt der formelle und materielle Trägerpluralismus die kulturellen Grundrechte, im Ergebnis fuhren sie gemeinsam zu offener und pluralistischer Kultur, im Ergebnis bewirken sie gemeinsam "Freiheit der Kultur", aber auch "Kultur der Freiheit" und "kulturelle Demokratie" 36 .
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"... daß Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewußtseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muß"; s. auch die Bildungsziele "Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen den Völkern" ebd. 34 Vgl. BVerfGE 36, 321 (331); 81, 108(116). j5 An kulturrechtlichen Gegenstandsbereichen des einfachen Rechts kann man beispielhaft erkennen, wie intensiv und extensiv der Verfassungsstaat als Kulturstaat im Interesse des Kulturschaffenden schon bisher gearbeitet hat. Erinnert sei an das Kunstund Urheberrecht als "geheimes Arbeitsrecht" der Kulturschaffenden, vgl. N. Wimmer, VVDStRL 42 (1984), S. 89, und zu aktuellen rechtspolitischen Fragen S. Ott, ZRP 1985, S. 11 ff., an Gesetze wie das Künstlersozialversicherungsgesetz (dazu BVerfGE 75, 108) oder das Recht der Arbeitnehmererfindungen.- Zum "verfassungsrechtlichen Gehalt des geistigen Eigentums" gleichnamig: Ρ. Kirchhof, FS Zeidler, 1989, S. 1639 ff. S. auch BVerfGE 31, 229; 81, 208. ,6 Kulturelle Grundrechte werden demokratisch (demokratietheoretisch) insoweit vermittelt, als der demokratische Verfassungsstaat Art. 1 GG und "Demokratie" zugleich denkt bzw. die Volkssouveränität Art. 20 GG auf Art. 1 GG hinordnet. Zum Volk werden die vielen einzelnen durch Sozialisation in einem bestimmten geschichtlich gewordenen und sich weiter entwickelnden Kulturzusammenhang, auch in der Generationendimension. Treffend zum Zusammenhang von "Person, Staat und Kultur": D. Grimm, aaO., VVDStRL 42 (1984), S. 61 ff., mit Sätzen wie: "die Lebenswelt des Einzelnen" sei "kulturell konstituiert", Kultur schaffe eine "Art kollektiver Identität". Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 1.
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht 2. Die besondere Rolle des Selbstverständnisses der in Kulturverfassung Lebenden
Das Kulturverfassungsrecht ist der Teilbereich des Verfassungsrechts, in dem das "Selbstverständnis" der Normadressaten in den Prozessen der Verfassungsinterpretation die größte Rolle spielt. Gerade wegen der nur begrenzten Verrechtlichungsmöglichkeiten der kulturellen (Re-)Produktionsprozesse erweist sich das Selbstverständnis der (staatlichen und nichtstaatlichen) Kulturschaffenden als ein die (hier weit verstandenen) Vorgänge der Verfassungsinterpretation mitkonstituierendes Element. So ermittelt das BVerfG den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit Hilfe des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften 37, und die Religionsfreiheit in ihren verschiedenen Dimensionen ist eine kulturelle Freiheit par excellence, das Staatskirchenrecht (besser: "Religionsverfassungsrecht") ein Kern des Kulturverfassungsrechts! Das Selbstverständnis des Künstlers, seine Selbstinterpretation in Gestalt seines Werkes (ggf. auch die verbale), hat bei der Auslegung der "offenen" Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG eine ähnlich mitkonstituierende Rolle - seine Aussagen, vor allem aber sein Schaffen sind ein Stück Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne 38 . Als Beleg sei nur an den "erweiterten Kunstbegriff ' von J. Beuys erinnert - darum war es konsequent, gerade in den achten Bitburger Gesprächen über Kunst und Recht (1978) neben den Staatsrechtslehrern U. Scheuner und W. Knies ihn zu Wort kommen zu lassen; auch ein Blick auf die Entwicklungen in der Kunstgeschichte belehrt uns rasch darüber, daß es die produzierenden Künstler, aber auch die ihr Werk rezipierende Gesellschaft sind, die die Maßstäbe z.B. zwischen Kunst- und Straf- oder Deliktsrecht nachhaltig prägen und sich verändern (Mephistofall!) 39 . Die pluralistisch und verfahrensorientiert zu sehende Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG mit ihrem gemäß dem BVerfG "offenen Wissenschaftlerbegriff ' wird ebenfalls von den einzelnen Wissenschaften und einzelnen Wissenschaftlern selbst notwendigerweise mit interpretiert, gerade auch "wider den
37 BVerfGE 24, 236 (247 f.); dazu meine Rechtsprechungsrezension in: DÖV 1969, S. 385 (388); s. auch J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 12 ff, 24 ff., mit Kritik S. 29 ff Zuletzt tiefdringend M Morlok,, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993. 38 Dazu P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975), auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß (1978), 2. Aufl. 1996, S. 155 (157 f.). Vgl. noch Fünfter Teil III Ziff. 1. 39 Vgl. das Sondervotum E. Stein: BVerfGE 30, 200 ff. und seine "Nachgeschichte".
IV. Inkurs Β: Eine ausdrückliche Kulturstaatsnorm für das GG?
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Methodenzwang" eines herrschenden Wissenschaftsverständnisses 40. Der berufsmäßige Verfassungsinterpret hat hier nicht das alleinige Wort, die offene Gesellschaft der im Rahmen des Kulturverfassungsrechts und seiner Teilgebiete Tätigen liefert mehr als bloße "Vor-Worte", der Jurist oft nicht einmal ein Nachwort! Gewiß, die Vielzahl pluralistischer Selbstverständnisse der Kulturschaffenden und Kulturrezipierenden muß letztlich im Rahmen des Kulturverfassungsrechts in ein gemeinschaftliches Verständnis der res publica integriert werden, und hier obliegt dem Verfassungsjuristen entscheidende Mitverantwortung. Das je nach Teilbereich differenziert relevante Selbstverständnis der kulturell Tätigen ist aber ein kaum zu überschätzendes Vehikel oder Ferment, das eigentlich Schöpferische in den Wachstumsprozessen des Kulturverfassungsrechts.
IV. Inkurs B.: Eine ausdrückliche Kulturstaatsnorm für das GG? Für die aktuell bleibende Frage des verfassungspolitischen Ob und Wie der Einfügung einer Kulturstaatsnorm im deutschen GG liegen im "Schatzhaus" verfassungsstaatlicher Verfassungen die Kategorien allgemeiner und spezieller Kulturstaatsklauseln als bewährte Bauteile schon bereit. Die deutschen Länder haben sie nach 1945 erarbeitet, die neuen Bundesländer seit 1992 variiert, in den Schweizer Kantonen war und ist Ähnliches im Werden. Verfassungs-, genauer Kulturverfassungspolitik für das GG steht nach wie vor vor der Frage, ob, wo und wie eine allgemeine Staatszielbestimmung, Bayern ähnlich (Art. 3 BV Abs. 1 S. 1: "Bayern ist ein ... Kulturstaat"), oder ein allgemeiner Umweltschutzartikel in das GG eingefügt werden soll - er wäre angesichts der heutigen Parallelität von Umwelt- und Kulturschutz eine Art "besonderer Kulturstaatsklausel" (vgl. jetzt Art. 20 a GG).- Die parteipolitische Diskussion war in den 80er Jahren in vollem Gange41. Auch hier war Bayern kulturverfassungs40
Vgl. P.K. Feyerabend , Wider den Methodenzwang, 1976.- Zum offenen Wissenschaftsbegriff vgl. BVerfGE 35, 79 (113), SV Dr. Simon, Rupp-von Brünneck, ebd., S. 148 (157 f., 164); mein Beitrag Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, in: AöR 110 (1985), S. 329 ff. Allgemein auch H. Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, HdbVerfR 2. Aufl. 1995, S. 1339 ff.; C. Flämig/ O. Kimminich et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, 2. Aufl. 1996. 41 Dazu F.K Fromme, in: FAZ vom 29. Dez. 1984, S. 4.- Zum wissenschaftlichen Streitstand insbesondere die Arbeiten der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen (1983) und die zit. Veröffentlichungen von U. Steiner, VVDStRL 42 (1984), S. 38 ff.; D. Grimm, ebd., S. 67 f.; T. Oppermann, ebd. S. 103 f. (Diskussion); E. Wienholtz, Arbeit, Kultur und Umwelt..., AöR 109 (1984), S. 532 (543 ff.), und
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Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
rechtlicher Vorreiter (vgl. Art. 3 Abs. 2 n.F. BV: "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung"). A u f der wissenschaftlichen, hier zugleich verfassungs- und kulturpolitischen Ebene ist von den Grundstrukturen des geltenden Verfassungsrechts auszugehen, wie es sich in Bund und Ländern (also nicht nur im GG) darbietet. Konkret: Der Bund soll nicht auf dem Weg einer allgemeinen Kulturstaatsklausel unbegrenzt und unberechenbar neue Kulturkompetenzen hinzugewinnen (auch nicht verbal und "dekorativ"). Just dies geschähe aber praktisch, mindestens im Laufe der Zeit, wenn Kultur als generelles Verfassungsziel, als allgemeine Kulturstaatsklausel in Art. 20 GG aufgenommen würde; jedenfalls entstünde eine zentralistische Sogwirkung gegen die Kulturkompetenz der Länder. Es sollte bei dem jetzigen Zustand bleiben: begrenzte punktuelle, z.T. ungeschriebene Kulturaufgaben des Bundes, im übrigen Grundsätzkompetenz der Länder in Sachen Kultur, Ausgangsvermutung für sie (Art. 30, 70 f f , 83 ff. GG), auch Verpflichtung. Die Frage des Ob und Wie einer allgemeinen Kulturstaatsklausel im GG stellt sich jetzt m.E. modifiziert: im Sinne einer föderalistischen Lösung sei folgendes vorgeschlagen 42: Das GG wird nicht in Art. 20, sondern "nur" in Art. 28 4 3 - der Homogenitätsklausel - um eine länderbezogene Kulturstaatsklausel ergänzt. Sie könnte lauten: "Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne der Bundesverfassung und dem Kulturstaatsprinzip entsprechen" 44. Diese Lösung hätte folgende Vorteile: Die Länder blieben die
bereits P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 59.- Art. 3 Abs. 2 Bay. Verf. n.F. (1984) lautet: "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung". Konsequent ist die Neufassung auch des Art. 131 Abs. 2 BV. Denn das "neue" Erziehungsziel "Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt" steht in einem inneren Zusammenhang mit der 1984 präzisierten Kulturstaatsklausel, jedenfalls wenn man Verfassungsprinzipien "auch" als mögliche Erziehungsziele qualifiziert (dazu mein Beitrag "Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele", in: [zweite] FS H. Huber, 1981, S. 211 ff.).- Zur Kontroverse in Sachen Bildung und Kultur als Staatsziel im GG in der "Gemeinsamen Verfassungskommission" vgl. deren Bericht von 1993, S. 157 f. bzw. 161. 42 Vgl. schon mein "Kulturverfassungsrecht", aaO., S. 59; insoweit überholt: VVDStRL 42 (1984), S. 110 (112 a.E.). 43 In Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG ("kulturelle Zusammenhänge") ist insofern eine verwandte, freilich punktuelle verdeckte Kulturstaatsklausel schon vorhanden. Zu Kulturverfassungsrechtlichen Fragen der deutschen Wiedervereinigung: H Schulze-Fielitz, Art. 35 EinigungsV - Freibrief für eine Bundeskulturpolitik ?, NJW 1991, S. 2456 ff; W. Maihofer, aaO., S. 1250 ff.; P. Häberle, Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Einigung, JöR 40 (1991/92), S. 291 ff. Zum ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 4. 44 Anders die Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, 1983, Rdn. 169, 208, die mit Mehrheit eine neue Staats-
IV. Inkurs Β: Eine ausdrückliche Kulturstaatsnorm für das GG?
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"Herren und Meister" des deutschen Kulturverfassungsrechts, die kulturpolitischen Gestalter und "Animateure" wie bisher. Der Bund könnte nicht auf dem Umweg einer allgemeinen Kulturstaatsklausel neue Kulturkompetenzen an sich ziehen, "erfinden" oder sonst entwickeln. Doch bliebe der Weg für Kulturverfassungsrechtliche Innovationen, für kulturpolitische Pionierleistungen und Werkstattarbeit der Länder frei: Von ihnen gehen ja schon jetzt die Hauptimpulse aus: sie wirken als "Motor" des Kulturverfassungsrechts; wo sie "bremsen", stehen sie in Konkurrenz mit anderen Gliedstaaten. Man denke an das Medienrecht, an neue Formen von Universitäten (etwa kirchliche Hochschulen und Privatuniversitäten), in Zukunft vielleicht auch an eigene Altenuniversitäten. Den Ländern sind in der gestalterischen Phantasie in Sachen Inhalte und Rechtstechniken für neues Kulturverfassungsrecht (zunächst zum Teil in einfach gesetzlichem Kulturrecht) keine Grenzen gesetzt. Ein Vorteil dieser Lösung wäre, daß die Länder sich gerade dank ihres individuellen Kulturverfassungsrechts und ihrer oft eigenwilligen Kulturpolitik weiterhin unterscheiden, profilieren, legitimieren und auszeichnen können; sie stehen im Wettbewerb. Sie sind aber auch "nachhaltig" auf Kultur verpflichtet (trotz des "Kultur-Sponsoring"), woran man gerade heute im Zeichen manchen Kulturabbaus erinnert sei. Gewiß, auch diese "föderalistische" Lösung über Art. 28 GG legt mittelbar einen Kulturbegriff (gemeinrechtlich) in gewisser Weise fest, doch nicht vom Bund, sondern primär von den Ländern in ihrer Gesamtheit selbst her: Das Kulturverfassungsrecht bliebe entwicklungsfähig wie bis jetzt: im Sinne der postulierten Offenheit des Kulturkonzepts, des Trägerpluralismus, der Subsidiarität und der Dezentralisation. Durch eine allgemeine Kulturstaatsklausel der beschriebenen Art hätten dann alle Länder eine allgemeine Kulturstaatsklausel wie Bayern in Art. 3 Abs. 1 seiner Verfassung. Davon wäre keine kulturstaatliche Einebnung der vielgestaltigen Länderprofile zu befürchten, ihnen bliebe genügend Freiraum. Eine Kulturstaatsklausel in Art. 20 GG hingegen schränkte zu stark im Sinne einer der Freiheit der Kultur nicht förderlichen Verrechtlichung ein. Im übrigen ist die hier strukturierte Frage das erste Beispiel dafür, daß und wie die Verfassungslehre um eine verfassungspolitische Frage ringen muß. (Dazu Fünfter Teil XI.)
Zielbestimmung für Art. 20 GG (mit Konsequenzen auch in Art. 28) vorgeschlagen hat: "Die Bundesrepublik Deutschland ... schützt und pflegt die Kultur und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen".- Berechtigte Kritik bei E. Wienholtz, Arbeit, Kultur und Umwelt..., AöR 109 (1984), S. 532 (543 ff.).
Dritter Teil: Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
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V. Das offene Kulturkonzept als Grundlage Grundlage der erwähnten Gegenstandsbereiche des Kulturverfassungsrechts ist ungeachtet seines an sich engeren Begriffs von Kultur ein offenes Kulturkonzept, das - in Abkehr von einem (nur) "bildungsbürgerhaften" Kulturverständnis - "Kultur für alle" (H. Hoffmann) 45 und "Kultur von allen" als empirische Größe und als normative Leitlinie ernst nimmt. Der weite, vielfältige, offene Kulturbegriff umschließt die bürgerliche Traditions- und Bildungskultur ebenso wie "Populär"- und Breitenkultur, wie Alternativ-, Sub- und "Gegenkulturen" 46 . Kultur bzw. der hier vertretene Kulturbegriff wirken zudem in den beruflichen Alltag hinein wie aus dem beruflichen Alltag heraus, neben seiner herkömmlichen und beizubehaltenden Situierung im Freizeitbereich 47. Das Nebeneinander, der Austausch, auch die Konkurrenz von Hochkultur, Volkskultur und Subkultur, von Konsum- und Aktivkultur ist eine Garantie für kulturelle Vielfalt. Diese lebt aus dem gerade "im" Bundesstaat ausgebauten Kul-
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H Hoffmann, Kultur für alle, 1979, 2. Aufl. 1981. Hilmar Hoffmanns Buch "Kultur für alle" besitzt bis heute im Bereich der Kulturpolitik programmatischen Rang. Er erkannte als einer der ersten die Funktion von Kultur und (Weiter-)Bildung, kämpfte für einen neuen, die Freizeit einschließenden, nicht mehr affirmativen, autonomen Kulturbegriff und verallgemeinerte die Hochkultur zur Allgemeinkultur. Als Kulturdezernent von Frankfurt/M. setzte er seine "konkreten Utopien" auch zum Teil in die Praxis um: Er erfand das kommunale Kino, baute die Museumsdidaktik aus, forcierte Erwachsenenbildung und kulturelle Angebote für Minderheiten, Alte und Kinder. Es kennzeichnet die Phasenverzögerung zwischen politischer Programmatik und den Wissenschaften im allgemeinen bzw. zwischen kulturpolitischen Vorstößen und der sie aufgreifenden Rechtswissenschaft im besonderen, daß diese H. Hoffmann nur langsam zu rezipieren beginnt, obwohl das Kulturverfassungsrecht der deutschen Länder früh genug Ansätze zum Austausch geboten hätte (vgl. meine Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, bes. S. 60). Aus der Folgeliteratur: E. Pappermann, Grundzüge eines kommunalen Kulturverfassungsrechts, DVB1. 1980, S. 701 ff; F. Hufen, Der Kulturauftrag als Selbstverwaltungsgarantie, NVwZ 1983, S. 516 ff; O. Scheytt, Die Musikschule, 1989. 46 Vgl. im Zusammenhang "Massenkultur" die kulturkritischen Thesen zur "Industrialisierung der Kultur" bei M Birnbaum, Die Krise der industriellen Gesellschaft, 1972, S. 111 ff - Als empirische Analyse von Subkulturen in England: M. Brake, Soziologie der jugendlichen Subkulturen, 1981. Grdlg. L-M. Greverus, Kultur und Alltagswelt, 1978. Allgemein auch: K. Fohrbeck/A. Wiesand, Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft, 1989. 47 Von "Animation zum kulturorientierten Freizeitgebrauch" spricht der Kulturbericht des damaligen Hamburger Senators für Wissenschaft und Kunst, Prof. D. Biallas, 1978 (zit. nach FAZ vom 25. April 1978, S. 23).- O.v. Nell-Breuning erwartet, daß immer mehr Menschen von der Arbeitszeitverkürzung profitieren und einen "immer weiter wachsenden Teil ihrer Zeit für die Pflege kultureller Güter und Werte ... verwenden" (FR vom 6. Nov. 1982, S. 4). S. auch die berechtigte Frage von H. Hoffmann, Kultur für morgen, 1985, S. 19 ff.: "Haben Arbeitslose Freizeit ?".
VI. Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
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turverfassungsrecht mit seinen Elementen der kulturellen Freiheit, des kulturellen Pluralismus, der kulturellen Gewaltenteilung: Dieses offene Kulturverständnis ist Konsequenz der pluralistischen Struktur des politischen Gemeinwesens. Entscheidend bleibt der anthropologische Ansatz: Der Mensch hat verschiedene kulturelle Bedürfnisse, ihnen muß das Verfassungsrecht einen optimalen Rahmen geben. Das Recht, auch Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, ist insofern nur Instrument! Der Mensch lebt nicht von der Kultur allein, aber er lebt doch wesentlich auch auf Kultur hin und von der Kultur früherer und heutiger Generationen (i.S. eines kulturellen Generationenvertrages, der seinerseits eine kulturelle Leistung ist). Sie ist bzw. schafft die Möglichkeit und Wirklichkeit einer Sinngebung in einer als offen gedachten Geschichte. Mit A. Gehlen gesprochen: der Mensch ist "von Natur ein Kulturwesen".
VI. Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Was das Kulturverfassungsrecht "normiert", sind indessen nur Ausschnitte aus der Sache Kultur. Schon der Verfassungstext nimmt sich ihrer direkt "unvermittelt" an, soweit dies in diesem sensiblen Feld überhaupt möglich ist. Hier stehen die Ausschnitte von Kultur im engeren Sinne wie Wissenschaft und Kunst, Bildung und Ausbildung, auch Erziehungsziele, Feiertage, offene Kulturpolitik und Sport etc. in denkbar engem Verhältnis zum Recht. Es kommt zu einer "Symbiose" von Recht und Kultur, man spricht mit Grund von "Kulturrecht." 48 Das Verhältnis von Verfassung und Kultur im weiteren Sinne ist demgegenüber vermittelter, indessen nicht weniger wichtig. Auch das Wirtschaftsverfassungsrecht, auch das politische Leben, die Werthaltungen eines Volkes, Gegenstand der Forschungen zu seiner "politischen Kultur" sind "Kultur". Während das Kulturverfassungsrecht sich auch im engeren Sinne juristisch erfassen läßt, bedarf ein Verständnis der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft vieler Zwischenglieder und der Zuarbeit vieler Wissenschaftler. Das ist näher zu zeigen.
48 Im Lehrbuch des "Besonderen Verwaltungsrechts", hrsgg. von N. Achterberg und G. Püttner, Bd. I 1990, gibt es ein eigenes Kapitel "Kulturrecht" (S. 697 ff.) mit den Teilgebieten Wissenschaftsrecht, Schulrecht und Medienrecht.
Vierter
Teil
Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung Verfassungslehre bezieht sich auf den Typus der demokratischen Verfassungen, wie sie sich in der freien, heute nicht nur westlichen Welt durchgesetzt haben1, auf ihre wesentlichen Inhalte und Verfahren, nicht auf ihre einzelnen Beispiele in der Tiefe und im Laufe der Geschichte sowie im weltweiten Raum, zumal seit dem "annus mirabilis" 1989. Dieser Typus setzt sich aus idealen und realen - Staat und Gesellschaft betreffenden - Elementen zusammen, die bei kaum einem Verfassungsstaat alle gleichzeitig erreicht sind, die aber einen optimalen Sollzustand und einen möglichen Istzustand in den Blick nehmen. Solche Elemente sind: die Menschenwürde als Prämisse, erfüllt aus der Kultur eines Volkes und universalen Menschheitsrechten, gelebt aus der Individualität dieses Volkes, das seine Identität in geschichtlichen Traditionen und Erfahrungen und seine Hoffnungen in Wünschen und im Gestaltungswillen für die Zukunft findet; das Prinzip der Volkssouveränität, aber nicht verstanden als 1
Vgl. dazu auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 11 (5. Aufl. 1994). Verfassungslehre als Lehre von der "guten" Verfassung übersteigt die herkömmliche Verfassungsrechtslehre: Durch ihre von vorneherein erkannten verfassungspolitischen, -vergleichenden und -geschichtlichen Dimensionen meint sie nie nur das positive Verfassungsrecht, wie es ist, sondern auch das mögliche Recht, wie es innerhalb des Typus "westlicher Verfassungsstaat" je nach dem kulturspezifischen Rahmen sein kann und sein soll. "Materialien" in vergleichend-kulturwissenschaftlichem Ansatz in meinem Band: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992.- Ersten Rang aus der Lit. verdienen die USA: W. Cohen/J.D. Varat, Constitutional Law, 9. Aufl. 1993; L.H. Tribe , American Constitutional Law, 2. Aufl. 1988; M.M. Feeley/S. Krislov, Constitutional Law, 2. Aufl. 1990; D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988; H. Vorländer, Forum Americanum - Dauerhaftigkeit und Legitimität der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1787 - 1987, JöR 36 (1987), S. 451 ff.; H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974.- Aufschlußreich auch J.H. Garvey/A.T. Aleinikoff, Modern Constitutional Theory, A Reader, 2. Aufl. 1991.- Den Rang der deutschen Paulskirchenverfassung dokumentiert: J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985.
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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Kompetenz zur Beliebigkeit und als mystische Größe über den Bürgern, sondern als Formel zur Kennzeichnung des immer neu gewollten und öffentlich verantworteten Zusammenschlusses; die Verfassung als Vertrag, in deren Rahmen Erziehungsziele formuliert und Orientierungswerte möglich und notwendig sind; das Prinzip der Gewaltenteilung im engeren staatlichen und weiteren pluralistischen Sinne, das Rechtsstaats- und Sozialstaats-, aber auch das (offene) Kulturstaatsprinzip, Grundrechtsgarantien, Unabhängigkeit der Rechtsprechung etc. A l l dies fügt sich zu einer verfaßten Bürgerdemokratie mit dem Pluralismus als Prinzip. Diese Skizzierung soll verdeutlichen, daß dieser Typus mit seinen zentralen Elementen selber eine kulturelle Errungenschaft des westlichen abendländischen Kulturkreises ist. Er ist Ergebnis und Leistung kultureller Prozesse, wie sie als "kulturelles Erbe" etwa in Klassikertexten tradiert und immer neu angeeignet werden, und erhebt zugleich einen Zukunftsanspruch, das einmal erreichte kulturelle Niveau des Verfassungsstaates nicht mehr zu unterschreiten, sondern zu bewahren, allenfalls zu verbessern (soweit "Zwerge" auf den Schultern der klassischen Riesen besser sehen können)2. Jede Verfassungslehre muß etwas vom "Geist der Verfassungen" einzufangen suchen - sie hätte sich an Montesquieus' "Geist der Gesetze" zu orientieren, wäre dieser Anspruch nicht zu unbescheiden. Etwas vom "Geist der Verfassungen" wird jedoch in den Verfassungstexten greifbar, vor allem in ihrer kontemporär und geschichtlich begriffenen "Entwicklung" als TextstufenVorgang. Dieser "Geist" wirkt auch in den kulturwissenschaftlich zu erschließenden kulturellen Kon-Texten. Dabei ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: es gibt einen allgemeinen, typusorientiert zu erarbeitenden "Geist der Verfassungen" (des Verfassungsstaates) und es gibt einen sehr individuell geprägten "Geist der einzelnen Völker", die in, nach und "unter" Verfassungen leben. Diese beiden Ebenen stehen nicht unverbunden nebeneinander: es gibt mannigfache Berührungen und Wechselwirkungen zwischen der konkret verfaßten Nation und dem allgemeinen Typus "Verfassungsstaat". Sie lassen sich freilich nur an und in einzelnen Problemkreisen nachweisen, im ganzen höchst fragmentarisch. So universal der Typus "Verfassungsstaat" heute weltweit ist, so individuell bleibt seine je nationale Ausformung, die weder ein enzyklopädisches Gelehrtenteam noch ein Welt-Computer darzustellen vermag. Auch
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R. K. Merton , Auf den Schultern von Riesen, 1980 (amerik. 1965).- Ein Anwendungsfall dürfte das Verhältnis der grundgesetzlichen zur Weimarer Staatsrechtslehre sein, dazu mein Beitrag: Ein Zwischenruf zum Diskussionsstand in der deutschen Staatsrechtslehre, FS H. Maier, 1996, S. 327 (337 ff.).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
insofern ist diese "Verfassungslehre 11 sehr bruchstückhaft, bei aller praktischen Rechtsvergleichung nur eine Lehre vom Verfassungsstaat aus deutscher Sicht.
Inkurs Α.: Die Entwicklungsländer im Kraftfeld der Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates Im folgenden sei ganz allgemein und vertieft die Brücke zu den Entwicklungsländern geschlagen3. Dürfen sie in die Produktions- und Rezeptionszusammenhänge des Typus "Verfassungsstaat" einbezogen werden? Und zwar auch als aktiv Gebende, nicht nur als passiv Nehmende? Läßt sich die Dritte Welt schon heute in die "eine Welt" der "Familie" der Verfassungsstaaten integrieren - bei allen Eigenheiten ihres besonderen Kulturzustandes und stets vorhandener Ungleichzeitigkeiten - oder "hinkt" sie einfach den europäisch/ nordamerikanischen Verfassungsentwicklungen uneinholbar bzw. "hoffnungslos" hinterher? Schon die wissenschaftliche Bescheidenheit und der Abschied von einem selbstgefälligen "Eurozentrismus" mahnen zur Vorsicht, nur an "Einbahnstraßen" ohne "Gegenverkehr" zu denken. Herb. Krüger war wohl der erste in Deutschland, der Eigenwert und Eigenständigkeit von "Verfassung und Recht in Übersee" erkannt hat. Mag er seine "Allgemeine Staatslehre" (1964) eher retrospektiv, ja retroaktiv konzipiert haben4, eine von ihm ja geplante "Verfassungslehre" hätte ihn gewiß bei konkreter Verfassungstextanalyse zu neuen, die Entwicklungsländer positiv einbeziehenden Ufern geführt 5.
3 Zum folgenden mein Beitrag, Die Entwicklungsländer..., in: VRÜ 23 (1990), S. 225 ff. 4 Aus der Rezensionsliteratur vor allem Erw. Stein, Untertanenstaat oder freiheitliche Demokratie?, NJW 1965, S. 2385 ff., später in: P. Häberle (Hrsg.), Rezensierte Verfassungrechtswissenschaft, 1982, S. 280 ff. 5 Das zeigt sich etwa in seiner genauen francophonen Verfassungstextanalyse zur "Brüderlichkeit" in seinem Beitrag: Brüderlichkeit - das dritte, fast vergessene Ideal der Demokratie, in: FS Maunz, 1971, S. 249 (251 ff.).- Herb. Krüger hat sich ebenso früh wie programmatisch zum "Phänomen der Rezeption" geäußert, und zwar gerade in bezug auf seinen Blick nach "Übersee": Herb. Krüger, Verfassung und Recht in Übersee, VRÜ 1 (1968), S. 3, 8 f.). Aktuell bleiben Fragen und Stichworte wie: "Rezeptionen als lebendiges Ereignis", "Mentalität des aufnehmenden Volkes", "Sind mit einer Verfassung auch die Ergebnisse von deren Auslegung", z.B. die Verfassungsgerichtsentscheidungen, und "auch die spezifischen Methoden von deren Auslegung rezipiert?" S. auch S. 26 ebd.: "Gerade wenn man bedenkt, daß Rezeption niemals sklavische Nachahmung sein kann...".
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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(1) Beobachten lassen sich wechselseitige Lernvorgänge zwischen Entwicklungsländern bzw. "entwickelten" Verfassungsstaaten im Spiegel ihrer neueren Verfassungstexte. (2) Die Entwicklungsländer bzw. ihre wissenschaftlich beratenen6, vergleichende Verfassungs(text)geber verarbeiten nicht nur die europäischen Verfassungstexte, sie verdichten darüber hinaus die Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit der "alten" Beispielsländer zu neuen Textformen und differenzierten Textstufen, was schon in sich eine eigene kodifikatorische Leistung darstellt. Zu prägnanten Texten "gerinnt" das, was etwa in Europa erst in der Form von Verfassungsrechtsprechung und -dogmatik, auch Gesetzgebung, im ganzen von "Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit" vorhanden ist. Die Entwicklungsländer nehmen so formal-textlich vorweg, was sich in älteren Verfassungsstaaten nur material als Verfassungsentwicklung abzeichnet, weil diese Länder eben oft noch nicht den formalisierten Weg von Verfassunggebung oder Verfassungsänderung gewagt haben. Damit leisten die Länder in Übersee einen - höchst schöpferischen - pionierhaften Beitrag in der Textstufenentwicklung des Verfassungsstaates als Typus. Sie arbeiten an einem seiner "Wachstumsringe" 7 selbst dort mit, wo (noch) eine gesteigerte Diskrepanz zwischen ihren eigenen Verfassungstexten und ihrer Verfassungswirklichkeit besteht, eine Diskrepanz, die sie vielleicht erst spät beseitigen können. Jedenfalls glückt so eine universale Gemeinschaftsleistung in bezug auf den Typus "Verfassungsstaat", die umso höher zu veranschlagen ist, weil die Entwicklungsländer oft mehr gegen die "arme" Wirklichkeit wagen als die alten Länder, die im gesteigerten Wohlstand leben. Die hohen Risiken für jene liegen auf der Hand: Die Verfassungstexte können unglaubwürdig, als bloße Versprechen oder gar Utopien abgetan werden, was der Idee des Verfassungs-
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Mögen auch nicht selten europäisch/angloamerikanische Staatsrechtslehrer in den beratenden Verfassungskommissionen "Entwicklungshilfe" leisten und gelegentlich ihre (Minder-)Meinung in den vorgeschlagenen Textformen unterbringen: Der "Texttransfer" nimmt dem Rezeptionsvorgang nicht das schöpferische Moment, und in späteren Jahren mag nachweisbar sein, wie "aktiv" das Entwicklungsland auf der Folie des rezipierten Textes in seinen eigenen Wachtstumsprozessen war. 7 Dazu, daß in diesem Konzept kein naives Fortschrittsdenken zu sehen ist, mein Beitrag: Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 (573 ff). Beispiel für ein Mehr an Menschenwürde und Gleichheit zwischen Mann und Frau, insgesamt an Gerechtigkeit ist aber etwa die Textstufe, die in Art. 9 (alte) Verf. Peru (1979) in Sachen "faktische Union" bzw. außereheliche Lebensgemeinschaft geglückt ist oder der schon auf Verfassungsstufe differenzierte Eigentumsbegriff in dem Verfassungsentwurf des ostdeutschen "Runden Tisches" von 1990, insofern er in Art. 29 Abs. 2 "das persönlich genutzte Eigentum" und die aufgrund eigener Leistung erworbenen Rentenansprüche unter den "besonderen Schutz der Verfassung" stellt; zit. nach JöR 39 (1990), S. 350 ff.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
staates selbst schadete. Der Verfassungstext wird zum Feigenblatt für eine "schlechte" Wirklichkeit. (3) Die - möglichen - Rückwirkungen - der in neue Textformen gegossenen Entwicklungsvorgänge und -inhalte des Verfassungsstaates von "Übersee" auf den europäischen Kontinent und seine Verfassungsstaatsvarianten sind groß und nicht zu unterschätzen. Sie bestehen oft in neuen Themen (etwa bei Menschenwürdeklauseln, kulturelles-Erbe-Klauseln, überhaupt im Kulturverfassungsrecht (z.B. im verstärkten Ringen um kulturelle Identitätsklauseln), aber auch bei neuen Grundrechten oder verfeinerten Staatsaufgaben sowie Recht/Technik- und Umweltproblemen oder in Gestalt neuer Textensembles (z.B. in Präambeln)). Sie stellen oft eine hohe Differenzierungsleistung dar (etwa im Grundrechts- und Staatsaufgabenbereich) 8 und geben nun ihrerseits den "alten" Verfassungsstaaten in Europa Problemerkenntnis- und Textformulierungshilfen: sei es bei allfälligen Verfassungsänderungen oder Verfassunggebungen (in der Schweiz: "Totalrevisionen"), sei es in Fragen der Verfassungsinterpretation - soweit diese vergleichend arbeitet. Ferne Texte aus "Übersee" können so einen sachlichen Beitrag leisten und eine Fernwirkung auch im wissenschaftlichen Streit um Auslegungsfragen vor Ort etwa in Deutschland entfalten. Nur der - freilich weitverbreitete - GG-Provinzialismus mag solche "Entwicklungshilfe aus umgekehrter Richtung" ablehnen oder bespötteln. Sieht man den Verfassungsstaat als kulturelle Errungenschaft vieler Zeiten und Räume in seinen internationalen, zunehmend auch vom Völkerrecht her vermittelten Wirkzusammenhängen 9 (Menschenrechtspakte!) und begreift man ihn als universale Chance für die Zukunft, so ist es nur konsequent, auch die Entwicklungsländer bzw. ihre Verfassunggeber als (wissenschaftlichen) Partner ernst zu nehmen und nicht als bloße "Noch-Nicht-Verfassungsstaaten" einzuordnen 10.
8 Hinter, über oder unter dieser Theorie der Textstufendifferenzierung und ihrer positiven Bewertung stehen letztlich materielle Kriterien wie Menschenwürde, Menschenrechte, Demokratie bzw. Gerechtigkeit, "due process"-Elemente etc. 9 Dazu die Tagung in Hagen, 1989: Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, hrsgg. von U. Battis/E.G. Mahrenholz/D. Tsatsos, 1990. 10 Ein eigenes Wort verdient P.H. Brietzke, Die Schattenseite der Verfassungsvergleichung: Lehren aus der Dritten Welt, VRÜ 16 (1983), S. 5 ff. Zu recht kritisiert er die Neigung Vieler, Verfassungen unterentwickelter Länder "gönnerhaft oder geringschätzig zu behandeln". Plastisch spricht er von einer "machiavellistischen Phase" in den meisten Staaten der Dritten Welt von heute. Nach Brietzke bieten die Verfassungen der unterentwickelten Länder "ein Bild der Synthese und der Fortschreibung politischer Gewohnheiten und rechtlicher Techniken der eigenen Tradition, verbunden mit dem kolonialen Erbe, ein Bild, das sein Gegenstück im Europa der frühen Neuzeit findet" (S. 11). Daran mag vieles richtig sein, doch ist es einseitig, "Stabilität und den starken
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(4) Aus den weltweiten Beispielsfeldern der Entwicklungsländer können nur zwei ausgewählt werden: die lateinamerikanischen und die francophonen Staaten Schwarzafrikas. Jene, weil in Lateinamerika jüngst mehrere bedeutsame neue Verfassungen geschaffen wurden (Peru, Guatemala, Nicaragua, Brasilien) und weil die Verfassungen Italiens, auch Portugals und Spaniens wirkkräftig geworden sind. Die francophonen Staaten bieten sich für eine vergleichende Analyse deshalb besonders an, weil hier die nicht seltene Vorbildwirkung der klassischen Texte Frankreichs von 1789 ff. durchschlägt und diesen - oft sehr unterentwickelten Ländern - ein eigenes Gepräge verleiht. Die Verfassungstexte sind hier besonders greifbar eingebettet in den größeren Zusammenhang der französischen Kultur im ganzen. 1112 .
Staat" zu den Zielen der Verfassungsentwicklung zu machen (so aber S. 13). In der heutigen einen Welt können und dürfen die Entwicklungsländer nicht in ihrem Drang zum Machiavellismus noch unterstützt werden: Der "Durchlauf' zum Menschenrechten und Demokratie muß rasch erfolgen, ohne die bekannten alteuropäischen Zwischenphasen. Wenn Brietzke sagt (S. 18 f.), die vertretbarste Definition der Menschenrechte werde die fortschreitende Befreiung vermeidbaren Elends durch die Entwicklungspolitik eines leistungsfähigen Staates sein, so ist dies nur ein Element der Menschenrechte. Die klassische - das Verbot der "Verfolgung Andersdenkender" - ist von vorneherein als Baustein auch der Entwicklungsländer zu begreifen - ebenso wie das Leistungsstaatliche (die Vermeidung von Armut, Hunger und Krankheit). Nur in diesem Zugleich können sich Entwicklungsländer als Verfassungsstaaten entwickeln. Im übrigen verlangt Brietzke zu Recht ein Vergleichen von Funktionen (S. 18), was nun aber seinerseits keine Geringschätzung von Normen und Texten zur Folge haben sollte. 11 So wären in den Entwicklungsländern - "neben" den Texten - auch und vor allem die Staatsrechtslehre in ihrer die Staaten mitkonstituierenden Weise mit zu berücksichtigen, dazu speziell für Mexiko vorbildlich: H.-R. Horn, Staatsrechtsdenken und Verfassungsvergleichung in Mexiko, VRÜ 10 (1977), S. 461 ff. Historische Perspektiven sind ausgeleuchtet bei O. Carlos Stoetzer, Grundlagen des Spanisch-Amerikanischen Verfassungsdenkens, VRÜ 2 (1969), S. 317 ff- Einschlägig auch speziell für Afrika: M.-O. Hinz, Modelle und Wege, Sechs Versuche zum gesellschaftlichen Selbstverständnis im neuen Afrika, VRÜ 1 (1968), S. 446 ff. (mit einer Darstellung des Denkens und Handelns von Staatsmännern und Schriftstellern wie Nrkumah, Senghor, Nyerere u.a.).- Zum Glücksfall Namibia: E. Schmidt-Jortzig, Namibia - Staatsentstehung durch Verfassunggebung, VRÜ 27 (1994), S. 309 ff.; K. Doehring, Die Verfassung von Namibia, EuGRZ 1990, S. 318 ff.- Zur "Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und der Völker in ihrem historischen Zusammenhang" gleichnamig: E. Kodjo, EuGRZ 1990, S. 306 ff. 12 Das britische "Westminster"-Modell ist gerade in Commonwealth-Ländern vielfältig rezipiert und auf Verfassungstexte gebracht worden. Durchaus eigenes Profil bei gleichzeitiger Einordnung in den "Verbund" des Typus Verfassungsstaat läßt die neue Verfassung Nigerias von 1979 erkennen (zit. nach Blaustein/Flanz, Ed., Constitutions of the Countries of the World, Bd. XI (1986), S. 73 ff.). Beispiele: Präambel ("We the people ... Nation under God dedicated to the promotion of inter-African solidarity, world peace, international co-operation and understanding..."); Art. 10: ("The government of the Federation or of a State shall not adopt any religion as State Religion"); Art.
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(5) "Entwicklungsland": Eine vorläufige - kulturwissenschaftliche 13 - Umschreibung des Begriffs "Entwicklungsland" im vorliegenden Zusammenhang lautet gemäß der Umschreibung der unter Vorsitz des früheren Bundeskanzlers W. Brandt tagenden Nord-Süd-Kommission (1977) 14 : "Entwicklung ist mehr als der Übergang von Arm zu Reich, von einer traditionellen Agrarwirtschaft zu einer komplexen Stadtgemeinschaft. Sie trägt in sich nicht nur die Idee materiellen Wohlstands, sondern auch die von mehr menschlicher Würde, Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit15. Damit sind die Elemente des Typus "Verfassungsstaat" von vorneherein in die Horizonte des Begriffs "Entwicklung" und "Entwicklungsland" hereingenommen, so wichtig ökonomische Kriterien wie "das reale Volkseinkommen je Kopf der Bevölkerung" bleiben 16 .
15 Abs. 3 - Political objectives - ("promote or encourage the formation of associations that cut across ethnic, linguistic, religious or other sectional barriers"); Art. 20: ("The State shall protect and enhance Nigerian culture"). 13 Treffend: M. Mols, Zum Problem des westlichen Vorbilds in der neueren Diskussion zur politischen Entwicklung, VRÜ 8 (1975), S. 5 (6): "Mit dem Konzeptpaar Entwicklung - Unterentwicklung meint man das Niveaudifferential von Kulturen in geographisch und historisch fixierbaren Räumen. Kulturen hier verstanden als komplexe und tendenziell in sich stimmige Systeme aus gesellschaftsspezifischer Rationalität, Wirtschaftsnormen, politischen Strukturen, Verhaltensweisen, Zukunftserwartungen, Außenorientierungen". 14 Zit. nach U. Andersen, Begriff und Situation der Entwicklungsländer, in: Informationen zur politischen Bildung, Entwicklungsländer Nr. 221 (1988), S. 2. 15 Der Begriff "Dritte Welt" ist in seiner Aussagekraft umstritten. Während Art. Entwicklung, Entwicklungspolitik, Herders Staatslexikon, 7. Aufl., 2. Bd. 1986, Sp. 302 ihn fiir eine "vage und inkonsistente Sprach(-schöpfung)" hält, die Länder "von höchst unterschiedlicher ökonomischer, kultureller, politischer, rassischer und ethnischer Art zusammenwirft (Th. Sowell)", gibt es das beachtliche Buch von J.E. Goldthorpe, The Sociology of the Third World, 2. Aufl. 1984. 16 Vgl. Art. Entwicklungsländer, Herders Staatslexikon, 6. Aufl., 2. Bd. 1958, Sp. 1202. S. auch die Kriterien des sog. Tinbergen-Ausschusses im Blick auf die 25 ärmsten Länder (zit. nach G. Grohs, Entwicklungsländer. Ev. Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, Sp. 719 (720): 1. Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von $ 100 oder darunter. 2. Anteil der industriellen Produktion am gesamten Bruttoinlandsprodukt von 10 % und darunter. 3. Alphabetisierungsrate bei Personen über 15 Jahren von 20 % oder darunter. U. Andersen, aaO., S. 2 ff. nennt als Stichworte: Ökonomische Merkmale wie geringes durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen, extrem ungleiche Verteilung der Einkommen, niedrige Spar- und Investitionstätigkeit, unzureichende Infrastruktur, hohe Analphabetenquote, Ausbildungsmängel, hohe Arbeitslosigkeit, Ernährungs- und Gesundheitsprobleme, relativ niedrige Lebenserwartung. Weitere Merkposten sind: Ökologische Probleme und demographische Merkmale (z.B. Bevölkerungsexplosion) sowie "Soziokulturelle und politische Merkmale" (wie geringe soziale Mobilität, "autoritärer und zugleich schwacher Staat").
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Was die Entwicklungsländer als eigenen Staatstypus erscheinen läßt - eben die besondere Dynamik und Brisanz der "Entwicklung" bzw. der negativ bewertete Vergleich zwischen ihrem Istzustand und dem Istzustand der Industrieländer 17 -, ist freilich ein Kennzeichen unserer Zeit ganz allgemein: Herb. Krüger 18 hat dies schon 1973 präzise als "Wachstum" beschrieben: "Die Vorstellung, 'Wachstum', wie sie heute vor allem in den Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft herrscht, ... ist ein zeitloses Ideal: Jahr für Jahr bis in alle Ewigkeit müssen das Sozialprodukt, das Volks- und Individualeinkommen, der Wohlstand, die Freizeit mindestens um einen festen ... Satz steigen ... All dieses gilt auch für immaterielle Güter der verschiedensten Art, so etwa im Verfassungswesen die Vorstellung, daß die Freiheit immer noch freier werden könne, daß höhere Bildung beliebig verbreitbar sei." Krüger will damit eine Eigenschaft herausarbeiten, die die "Modernität des modernen Staates" ausmacht. Seine Frage 19, ob die "Entwicklungsländer den geschichtlichen Prozeß der europäischen Modernisierung noch einmal für sich nachvollziehen oder ob es im Grunde nicht vorzuziehen wäre, sogleich mit dem 20
21. Jahrhundert zu beginnen" , sollten wir im Auge behalten. Dabei geht es m.E. freilich weniger um Staatlichkeitsprobleme als um an Texten (ge- und) erhärtete Verfassungstheorie, die die Entwicklungsländer gerade in ihrer jeweiligen Textstufenphase variabel einschließt. So betrachtet sind sie mehr als bloße "Vorform" oder "Durchgangsstadium" bzw. "Nachhut" zum europäisch/atlantischen Typus Verfassungsstaat. Sie haben eine eigene Identität bei aller Zugehörigkeit zum Typus Verfassungsstaat - wegen ihrer spezifischen Kulturund Wirtschaftsbedingungen, auch Möglichkeiten. Die geschriebenen Verfassungen müssen eine gesteigerte kulturelle Identitätsleistung erbringen, sie sind "Identitätsdokumente" par excellence (Einheitsstiftung via Symbol-, kulturelles-Erbe-Artikel, Kulturgüterschutz etc.). Die Verfassungslehre hat aber auch spezifische Instrumente zur Abwehr unerträglicher Diskrepanzen zwischen Textgestalt und Realität zu entwicklen, so "geduldig" sie auf die Erfüllung z.B. von Verfassungsaufträgen warten können muß 21 . 17
Vgl. G. Grohs, Art. Entwicklungsländer, Ev. Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, Sp. 719. 18 Herb. Krüger, Die Modernität des modernen Staates, VRÜ 6 (1973), S. 5 (7 f.). 19 Herb. Krüger, aaO., S. 19. 20 Nachdenkliches auch bei M. Mols, Zum Problem des westlichen Vorbilds in der neueren Diskussion zur politischen Entwicklung, VRÜ 8 (1975), S. 5 ff. 21 Zur "Rolle des Rechts im Entwicklungsprozeß": B.-O. Bryde, in dem gleichnamigen Band, hrsgg. von B.-O. Bryde/F. Kübler, 1986, S. 9 ff., bes. zu "Rechtstransfer, Rechtspluralismus und Authentizität" (S. 16 ff.); ders., ebd. zum Problem der "Unterentwicklung" (S. 29 ff); s. schon ders., The Politics and Sociology of African Legal Development, 1976.- Bemerkenswert P. Molt, Es geht um menschenwürdiges 6 Häberle
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Bei all dem sollte die Verfassungslehre etwaige "Gegentexte" und Wirklichkeitsdefizite zum Typus "verfassungsstaatliches Entwicklungsland" ungeschminkt beim Namen nennen: etwa das Einparteiensystem, wie es heute in Simbabwe/Rhodesien von Mugabe her zu drohen scheint 22 oder wie es in Moçambique von dessen Präsidenten J. Chissano im neuen Verfassungsentwurf angestrebt wurde 23 oder (noch) in Zaire besteht24, Gewaltenkonzentrationen, die in so manchem Präsidialsystem die pluralistische Demokratie gefährden können, oder schlicht die unvorstellbare Armut, z.B. in Peru 25 (in der Weltöffentlichkeit bekannt geworden erst durch die terroristische Geiselnahme in Lima 1996/97). Auch die Frage nach realer Religionsfreiheit bzw. das Gewicht von "Staatsreligionen" oder totalitären Staatsideologien ist eine "Testfrage" vor dem Forum des Verfassungsstaates und seiner offenen Gesellschaft. Das Blickfeld dieser vergleichenden Verfassungslehre sei durch die Einbeziehung der Kleinstaaten schon an dieser Stelle erweitert.
Inkurs B.: Kleinstaaten als Variante des Verfassungsstaates 1. Begriff "Kleinstaat" (Mikrostaat) Wie bekannt, ist der Begriff "Kleinstaat" umstritten. Lapidar heißt es im Brockhaus 26: "Kleinstaat, ein polit. Begriff von schwankender Bedeutung, oft Leben in Armut. Die Entwicklungspolitik muß sich von illusionären Zielen und falschen Modellen verabschieden, FAZ vom 18. Okt. 1996, S. 11. 22 Vgl. FAZ vom 3. April 1990, S. 8: "Wahlsieg ist Mandat für Einparteienstaat. Zimbabwes Präsident Mugabe plant eine soziale Umgestaltung".- Aufschlußreich J.H. Wolff, Gemeinden und Gemeindeverbände in der Dominikanischen Republik: Verfassung und Verfassungswirklichkeit in einem zentralisierten politischen System, VRÜ 23 (1990), S. 127 ff. 23 Vgl. FAZ vom 12. Jan. 1990. 24 Dazu W. Rather, Die Verfassungsentwicklung und Verfassungswirklichkeit Zaires, JöR 38 (1989), S. 525 ff. 25 Dazu die Besprechung des Buches von C.R. Rabanal, "Narben der Armut", 1990, durch W Haubrich, in: FAZ vom 5. März 1990, S. 33. S. auch S. Engel, Peru, die Lunte am Pulverfaß Lateinamerikas, 1989; E.von Oertzen, Peru, 1988.- Peru bekam 1993 eine neue (m.E. weniger geglückte) Verfassung, dazu D.G. Belaunde, The new Peruan Constitution (1993), JöR 43 (1995), S. 651 ff.- Zu "75 Jahre mexikanische Bundesverfassung": H.-R. Horn, in: D. Briesemeister/K. Zimmermann (Hrsg.), Mexiko heute, 2. Aufl. 1996, S. 31 ff. 26 Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl., 1970, Band 10, S. 251.
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angewandt auf jeden Staat, der nicht zu den weltpolit. führenden Mächten zählt, oft aber auch nur auf solche dritten und vierten Ranges." Die Wissenschaft verweist auf das Fehlen einer autoritativen Definition 27 und hält Maximum bzw. Minimum der Bevölkerungszahl, Größe des Gebiets oder das Maß effektiver Staatsmacht für mehr oder weniger willkürlich. Man sollte zunächst pragmatisch vorgehen, etwa im Sinne von "sehr kleine politische Einheit" 28 und als "Primärelement" die Bevölkerungszahl wählen, so wichtig Gebiet bzw. Raum sind bzw. in der späteren verfassungstheoretischen Perspektive werden. Denn angesichts des weltweiten Siegeszugs der Menschen- und Bürgerrechtsidee bzw. des Verfassungsstaates liegt es nahe, den Menschen als ideellen Ausgangspunkt von Recht und Staat, Verfassungsrecht und Völkerrecht zu wählen. Die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse, I. Kants Idee vom Staat als "Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" und einer "allgemein das Recht" verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft machen zwar schon das Wort vom Volk als "Staatselement" fragwürdig, auch läßt sich der Mensch gewiß nicht quantifizieren und mathematisch zum "Volk" addieren. Dennoch ist der "Kleinstaat" zunächst einmal über die Höchstzahl von Bürgern praktikabel zu machen. Mit Stimmen in der Literatur 29 sei im folgenden die Richtzahl von 500 000 zugrundegelegt 30. Ohne dem Späteren vorgreifen zu wollen, sei bereits hier angemerkt, daß der Begriff "Kleinstaat" nicht auf das Prokrustesbett von fixierten Zahlen und Daten gezwungen werden darf. Zu denken ist mehr im Sinne einer nach oben und unten ("Zwergstaaten") offenen Skala, im Geiste ganzheitlicher Überlegungen, die das Materielle in den Vordergrund rücken. An die Stelle des Denkens in dem Schema von Macht und Größe, von fertigen Begriffen, von verräumlicht und quantifiziert fixierten "Elementen" vorgegebener Staatlichkeit jenseits materieller Kriterien von Verfassung und Recht sowie personaler Subjekte wie Bürger und Mensch. So ist der Kleinstaat nur ein gedachter Punkt, eine Spanne oder Einheit auf einer Skala mit Übergängen zum "kleineren" Staat usf. Der Begriff relativiert sich. Vor allem wird offenkundig, wie sehr sich Bewertungskriterien im Gang der Regional- und Weltgeschichte wandeln. In den Perioden 27 So J. Kokott, Micro-States, Encyclopedia of Public International Law Nr. 10, 1987, S. 297 ff. 28 So Kokott, ebd. 29 Vgl. H. von Wedel, Der sog. "Mikrostaat" im internationalen Verkehr, VRÜ 5 (1972), S. 303 (304 f.) m.w.N. 30 Weitere Literatur: T. Fleiner, Die Kleinstaaten in den Staatenverbindungen des 20. Jahrhunderts, 1979; D. Erhardt, Der Begriff des Microstaates im Völkerrecht und in der internationalen Ordnung, 1970; S. Harden (ed.), Small ist dangerous, 1985; M.-R. Seiler, Kleinstaaten im Europarat, Diss. St. Gallen, 1995; H. Neisser, Die Rolle der Kleinstaaten in der Europäischen Union, ZfRV 1995, S. 224 ff.
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des Ringens um nationale Einheit im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts sucht man die sog. "Kleinstaaterei" zu überwinden oder man belegt sie mit negativen Akzenten und erschwert ihre Anerkennung. Angesichts der heute weltweit positiv bewerteten Föderalismus- und Regionalismus-Bewegung sowie der Dekolonisation hat der Kleinstaat praktisch und theoretisch "Konjunktur". Letztlich können die Konturen des - geschichtlichen - Begriffs Kleinstaat und seine einzelnen flexiblen und variablen Bestimmungsmomente nur aus einem Zugleich von vergleichender Staatsrechtslehre und Völkerrechtswissenschaft erwachsen. Dabei ist empirisch dem Unabhängigwerden immer neuer politischer Gebilde in der Welt Rechnung zu tragen, auch der großzügig werdenden Aufnahme- und Kooperationspraxis internationaler Organisationen vom Europarat über das Commonwealth, die Ο AU, die OAS, die U N 3 1 , die Arabische Liga, die Karibische Gemeinschaft; das Normative kommt über das bürgerrechtliche und andere "konstitutionelle" Momente ins Spiel. Je mehr sich die Entwicklung zum "Verfassungsstaat" einerseits, zu "verfassenden" Elementen der Völkergemeinschaft andererseits verstärken, desto mehr rücken die personalen Aspekte des Bürgers und die "konstitutionellen" Elemente (nicht nur "Attribute") des Kleinstaates in den Vordergrund. Dieses Hand-in-HandArbeiten von Verfassungslehre und Völkerrechtswissenschaft in Sachen Kleinstaat wird heute dringlicher denn je. Öffnung und Offenheit des Völkerrechts für neue, werdende Kleinstaaten ist das Gegenstück zur wachsenden inneren Verfasstheit dieser Gemeinwesen bzw. dem Erlaß demokratischer Verfassungen. Bürgerrechts- und Menschenrechtskultur strahlen auf die wissenschaftliche Erarbeitung der "Kleinstaaten" und die zugehörigen Begriffsbildungen immer stärker aus. Anders formuliert: Je mehr die Kleinstaaten Grund geben, sie zum Gegenstand der Verfassungslehre zu machen, desto mehr kann das Denken in den Kategorien der "allgemeinen Staatslehre" und der Souveränitätsideologie des klassischen Völkerrechts zurücktreten 32. Idealität und Realität einer eigenen Konstitution des Typus verfassungsstaatliche Verfassung ist jedenfalls ein
jl
Das erfolgreiche Beitrittsgesuch Liechtensteins zur UNO wurde von der Regierung seinerzeit u.a. mit dem Argument begründet, ein kleiner Staat wie Liechtenstein könne es sich auf weitere Sicht nicht leisten, der UNO fernzubleiben, "wenn er sich nicht dem Risiko der Isolierung in der internationalen Staatengemeinschaft aussetzen" möchte (NZZ vom 4./5. Nov. 1990, S. 22). Die Universalität der UNO spreche für eine Aufnahme. Die sog. Mikrostaaten - Frage der 60er und 70er Jahre habe innerhalb der UNO an Aktualität verloren.- Zuletzt: W. Haubrich, Die Rolle der Zwergstaaten für die Sicherheit Europas, FAZ vom 4. Dez. 1996, S. 2. 32 Dazu mein Beitrag: Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität (1967), in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 225 ff. S. noch unten Vierter Teil VII.
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zunehmend wichtigeres Moment im Gesamtbild der Mosaiksteine, die einen Kleinstaat zu einem solchen "machen", mag auch das Völkerrecht - noch - von Gerechtigkeitselementen wie Menschenwürde und Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie, Verfassung und Recht absehen. Historisch-empirisch ist zu vermuten, daß den Kleinstaaten auf dem Weg zu solchen heute der Erlaß einer Verfassung hilfreich ist. So wird denn gerade beim Begriff des "Kleinstaates" erkennbar, wie notwendig die Revision des herkömmlichen Staatsbegriffs ist: Die drei klassischen Elemente bedürfen der Einbettung in das Ganze einer real existierenden Verfassung und sie leben aus der Unterfutterung durch Kultur. Der einzelne Bürger rückt - mit anderen das pluralistische Volk bildend - ins Zentrum; Demokratie und Gewaltenteilung sind die organisatorischen Konsequenzen; ein differenzierter Kanon von - wandelbaren - materiell und personell bestimmten Staatsaufgaben tritt an die Stelle der viel berufenen "Staatsgewalt", das Staatsgebiet wird zum begrenzten und zugleich offenen Kulturraum. Der Kleinstaat ist ein vielgliedriges Ganzes differenzierter Größe, das aus vielen "Elementen" konstituiert wird. Die Kleinstaaten sind besonders auf Kooperation mit ihresgleichen, so z.B. im Pazifik 33 , wie auch mit größeren Nachbarn und internationalen Organisationen angewiesen.
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Bemerkenswert ist das sog. "South Pacific Forum", das 1971 auf Anregung von sieben südpazifischen Klein- und Kleinststaaten, die zu jener Zeit ihre Unabhängigkeit erlangten, gegründet wurde. Das Forum umfaßt heute 15 Länder und spielt eine große Rolle bei der Formulierung der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Region (NZZ vom 9. August 1990, S. 3). Das Sekretariat befindet sich in der Hauptstadt Fidschis; 1990 war das Treffen in Vanuatu. Themen sind u.a. Fischfang, Tourismus-Probleme, Umweltschutz, Schutz der Natur- und Bodenschätze. Sog. Dialog-Partner sind die USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich, China und Japan. Das Forum möchte die EG, Deutschland und Taiwan als "Dialogpartner" gewinnen (NZZ ebd.). Australien und die USA wurden gewarnt, den Südpazifik nicht zu einer "Müllgrube" zu machen. Die Inselrepublik Kiribati hat sich jüngst zum Sprecher gegen den Treibhaus-Effekt gemacht (FAZ vom 4. Januar 1991, S. 2). Die Abhängigkeit von den industrialisierten Staaten, die Gefahren der westlichen Technik und der Wunsch, sich international Gehör zu verschaffen, steht hinter der Forums-Idee.- Der Sicherheitsrat der UN hat Ende 1990 entschieden, das bisherige, von den USA wahrgenommene Treuhandsgebiet im Pazifik ("Trust Territoriy of the Pazific Islands") zu beenden (FAZ vom 10. Januar 1991, S. 10). Es handelt sich u.a. um Staatsgebilde wie das Commonwealth of the Northern Marianas und die Republik Palau.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 2. Bestandsaufnahme der verfassungsrechtlichen Beispieltexte a) Typisch verfassungsstaatliche Strukturen und Elemente im Textbild von Kleinstaaten - Innovationen (Beispiele)
Ein erster Schritt zur Erforschung der besonderen Gestalt, der eigenen Struktur und spezifischen Funktionen des heutigen Kleinstaates ist die vergleichende Analyse seiner geschriebenen Verfassungstexte. Sie vermögen Hinweise auf Adaption und Innovation, auf Konstanten und Varianten im Kraftfeld des Typus Verfassungsstaat zu liefern. Idealtypisches kann schon im Textbild Ausdruck gefunden haben, und Realtypisches kommt mindestens mittelbar bereits über die Vielfalt der Beispiele ins Blickfeld, zumal die einzelnen Verfassungen aus unterschiedlichen historischen Wachstumsphasen stammen und diese Ungleichzeitigkeit zusätzlichen Erkenntnisgewinn verspricht. Im Hinterkopf sollten wir freilich stets die Textbilder der "normalen" größeren Verfassungsstaaten präsent haben, nur so werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten plastisch. Der hier gewählten Methode getreu sollten auch ältere und neuere Theorien zum Kleinstaat in extenso vorgeführt werden. Sie sind ja im Rahmen einer Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft "mitzulesen", nicht nur dann, wenn es sich um Klassiker handelt 34 , sondern auch da, wo sie als vorläufige Theorieentwürfe noch um die Anerkennung in der Wissenschaftlergemeinschaft ringen. Daß dies nur in wenigen Zitaten und Stichworten möglich ist, liegt auf der Hand. Daß andere kulturelle Kontexte, neben den Theorien etwa kulturelle Objektivationen wie die Künste, aber auch das Landsmannschaftliche, Ethnische, Sprache und Sitten ebenfalls hierher gehören, versteht sich. A l l dies muß zunächst "Merkposten" bleiben (vgl. unten 3.). Viele Kleinstaaten sind auf dem Weg zum "Verfassungsstaat", wenn sie nicht schon von vornherein als solcher konstituiert wurden. (Besonderes gilt freilich für die islamischen.) Das zeigt sich bereits an ihren Verfassungstexten. Sie orientieren sich im Grundmuster am Textbild des Verfassungsstaates, d.h. sie bestehen aus Präambeln mit ihrer dreifachen Eigenart 35 : feierlicher Sprachduktus, Zeitdimension von der Vergangenheitsbewältigung ("Geschichtsschreibung") bis zur Formulierung von Zukunftshoffhungen und Normierung
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Zu diesem Ansatz P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981 sowie Fünfter Teil VIII. 35 Dazu P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. sowie unten Sechster Teil VIII Ziff. 8.
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des Konzentrats der Verfassung, danach dem Grundrechtsteil, dem organisatorischen Teil sowie Übergangs- bzw. Schlußvorschriften. Für dieses klassische Muster hier einige Beispiele der Verfassungen von Kleinstaaten, wobei auch neuere Verfassungselemente der allgemeinen Textstufenentwicklungen wie Ombudsmann (so Verf. Vanuatou von 1980: Art. 59 bis 63 und Verf. Antigua und Barbuda (1981, Art. 66), Solomon Inseln (1978, Art. 96), Fiji (1990, Art. 134 ff.)), die Unparteilichkeit und Fairness bzw. Chancengleichheit im Rundfunk (so Art. 119 Verf. Malta von 1964/92), Verfassungsgerichtsbarkeit (z.B. Art. 96 Verf. St. Christopher and Nevis von 1983: "Original jurdisdiction of High Court in constitutional questions") bei Kleinstaaten nachweisbar sind. A l l dies zeigt, daß die Kleinstaaten keine "Klein"-, Rumpf- oder Teilverfassungen haben, sondern aus und in Vollverfassungen leben. Das belegen Zahl, Aufbau und Themen der Artikel bzw. Texte. Vermutlich legen die Kleinstaaten auf reiche, formell und inhaltlich voll ausgebaute Verfassungen auch deshalb Wert, um so die eigene Identität nach innen erlebbar zu machen und um sich nach außen zu behaupten. Sie nutzen jedenfalls bewußt die Integrationsleistung und die Identifikationschancen, die eine geschriebene Verfassung ermöglicht; die ausgefeilten organisatorischen Strukturen dienen demselben Zweck. Die Faszinationskraft, die heute weltweit von geschriebenen Verfassungen ausgeht und die vermutlich letztlich auf die Heiligkeit von Texten überhaupt zurückführt, (die drei monotheistischen Weltregionen sind ja "Buchreligionen"), diese Faszination wirkt auch auf und in den Kleinstaaten. Im übrigen seien die zwei Schlüsselfragen dieses Vergleichs vorweg bezeichnet: Welche Innovationen tragen kleinstaatliche Verfassungen zum Typus Verfassungsstaat bei 3 6 und wo und wie kommt ihre spezifische Kleinstaatsnatur zu Ausdruck? Zwischen drei Gruppen sei unterschieden 37:
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Der Originalitätswert der Verf. Liechtenstein von 1921/89 (zit. nach JöR 38 (1989), S. 409 ff.) braucht nicht eigens hervorgehoben zu werden. Nur erwähnt seien: Art. 15 ("daß aus dem Zusammenwirken von Familie, Schule und Kirche der heranwachsenden Jugend eine religiös-sittliche Bildung, vaterländische Gesinnung und künftige berufliche Tätigkeit zu eigen wird"), Art. 45 (Aufgabe des Landtages, "die Rechte und Interessen des Volkes im Verhältnis zur Regierung wahrzunehmen"), Art. 93 (Umschreibung des "Wirkungskreises der Regierung"), Art. 99 (Normierung einer Begründungspflicht für richterliche Urteile), Art. 105 (Möglichkeit fremder Richter am StGH), Art. 112 und 113 ("Geist dieses Grundgesetzes"). 37 Alle Texte zit. nach A. P. Blaustein/G. H. Flanz, Constitutions of the countries of the world, sowie A. J. Peaslee, Constitutions of nations, 3. Aufl. 1974, 4. Aufl. 1974 bzw. 1985.- Speziell zu Malta (mit Textanhang): W.-D. Barz, Die Verfassung Maltas, JöR 41 (1993), S. 431 ff.
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(1) die ehemaligen englischen Kolonien, die auffallend oft in Insellage, wohl wegen der englischen maritimen Stützpunktepolitik zu solchen wurden und heute in ihren Verfassungstexten stark von der englischen Tradition beeinflußt sind: Beispiele sind West Samoa (1960), Malta (1964/1979), Barbados (1966), Nauru (1968), Grenada (1973), die Bahamas (1973), Dominica (1978), die Solomon Islands (1978), Kiribati (1979), Antigua und Barbuda (1981), Belize (1981), St. Christopher und Nevis (1983), Tuvalu (1986), Fiji (1990). Bei diesen Ländern drängt sich die Vermutung auf, daß sie durch ausgefeilt geschriebene Verfassungen ihr englisches Mutterland "ausstechen" wollen; (2) die islamisch geprägten Kleinstaaten; Beispiele liefern die Malediven (1968/75), Bahrein (1971), Brunei Darusalam (1959/84), Comoren (1978/85); (3) Sonstige, etwa Monaco (1962/86) - es steht stark in französischem Rezeptionszusammenhang (vgl. Art. 1: "... le cadre des principes généraux du droit international et des conventions particulières avec la France"; Art. 8: Französisch als Staatssprache), ferner Vanuatu (1980), Tonga (1967/81), Djibouti (1977), Island (1944/1984), Equatorial Guinea (1982), Surinam (1987), Cap Verde (1986) - das freilich totalitäre Züge hat (politischer Führungsanspruch einer Partei nach Art. 4); ähnliches gilt für den Einparteienstaat Seychellen (1979, vgl. Art. 5 und 6). Hier einige Beispiele für typisch verfassungsstaatliche Strukturen und Elemente in den Verfassungen von Kleinstaaten. Zunächst zu den ehemals englischen Kolonien: (1) Die ehemals englischen Kolonien Die Verf. von West Samoa (von 1960, mit 124 Artikeln) sei wegen ihrer ergiebigen Präambel erwähnt: sie gründet den Staat "on Christian principles and Samoan custom and tradition", sichert allen "fundamental rights" und fordert "the impartial integrity of justice"; auch hat die Verf. einen detaillierten Grundrechtskatalog (Art. 3 bis 15), mit einer Unschuldsvermutung (Art. 9 Abs. 3), dem Verbot rückwirkender Bestrafung (Art. 10 Abs. 2) - wie überhaupt präzise habeas corpus-Grundrechte zusammen mit dem Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit in vielen ehemals englischen Kolonien typisch sind. Malta (1964/1992) ist durch einen detallierten Grundrechtskatalog (Art. 32 bis 47) geprägt und im Parlamentsrecht durch einen ebenso langen wie originellen Artikel (90) zum "leader of the Opposition". Herausragend unter den Kleinstaaten-Verfassungen der englischen Familie ist die Verf. von Barbados (1966). In ihren 117 Artikeln finden sich alle wesentlichen Elemente des bisher illustrierten Textbildes. Vor allem aber zeichnet
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sich die Präambel durch eine besonders eingehende, sich über mehrere Absätze hinziehende Darstellung der Geschichte von Barbados aus (von 1639 über 1651 bis heute). Für die Gegenwart sind dann die schon bekannten PräambelStichworte formuliert wie "unshakable faith in fundamental human rights and freedoms, the position of the familiy in a society of free men and free institutions", "respect of moral and spiritual values and the rule of law", "equitable distribution of the material resources of the community". Während die Verfassung des kleinen Nauru (1968) durch einen ausfuhrlichen Grundrechtskatalog (Art. 3 bis 15) auffällt und vielleicht der "Director of Audit" (Art. 66) erwähnenswert ist, stellt ein allgemeiner Artikel (81 Abs. 5 a) die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau dadurch her, daß er nomiert: Worte männlichen Geschlechts schließen Frauen ein -, hier ein Blick auf die Verfassung von Antigua und Barbuda (1981). Sie enthält alle bekannten Kapitel, Strukturen und Themen einer Vollverfassung in 127 Artikeln, in der Präambel: eine invocatio dei, Grundwerte wie Menschenwürde, demokratische Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit ("state is subject to the law"), Menschenrechte wie Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, sodann Grundsatzartikel "The State and its territory", "Constitution is supreme law", ferner eine ausgefeilte bill of rights sowie Kapitel zur StaatsOrganisation, z.B. einen Abschnitt über den Ombudsmann (Art. 66). Verf. Grenada (1973) zeichnet sich durch eine inhaltsreiche Präambel aus mit Berufungen auf Gott, aber auch mit der schönen Formulierung "man's duties toward his fellow man" und "while rights exalt individual freedom, duties express the dignity of that freedom"; die Rede ist von der "dignity of human values", von "respect for the rule of law", und der Schlußsatz der sehr idealistischen Präambel lautet: "... desire that their constitution should reflect the above mentioned principles", zu denen auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gehören. Grenada hat einen ausführlichen Katalog von "Fundamental Rights and Freedoms" (Art. 1 bis 18) und es kennt eine bemerkenswerte "original Jurisdiction of High Court in constitutional questions" (Art. 101 bis 105). Schließlich fällt die "Constituency Boundaries Commission" auf (Art. 54 bis 56), die jedem klassischen Verfassungsstaat als Modell dienen könnte. Die Verf. der Bahamas (1973) mit ihren 137 Artikeln baut sich aus den bekannten Elementen einer Verf. der britischen Völkerfamilie auf. Neben Eigenheiten wie einem Senat und dem für fast alle Kleinstaatsverfassungen normierten Satz "This Constitution is the supreme law" (Art. 2) sei aus der überaus wertehaltigen Präambel der Eingangssatz zitiert: "Weareas Four hundred and eighty-one years ago the rediscovery of this Family of Islands, Rocks and Cays heralded the rebirth of the New World, And Wheareas the People of this Family of Islands recognize that preservation of their Freedom will be guaranteed by an national commitment to Self-discipline In-
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß dustry, Loyalty, Unity and an abiding respect for Christian values and the Rule of Law..."
Dieser Passus zeigt besonders klar, welcher hohe Integrationswert in einer Präambel stecken kann, wie hier nationale Lebensgeschichte "erzählt" wird, Grundwerte angerufen sind, und all dies in feierlichem Ton. Stolz auf die Vergangenheit, aber auch die spezifische Insellage sowie die Grundwerte konstituieren diesen Kleinstaat in einer unnachahmlichen Weise. Eindrucksvoll ist auch der Passus: "Nation ... in which no Man, Woman or Child shall ever be Slave or Bondsman to anyone or their Labour exploited or their Lives frustrated by deprivation...". Die Präambel erweist sich als das Instrument der Identitätsgewinnung und behauptung der kleinstaatlichen Variante des Verfassungsstaates, bis hin zum Glaubenshaften (ähnlich wie in vielen Entwicklungsländern). Eigenen Zuschnitt besitzt die Verf. von Dominica (1978). Das zeigt sich schon in der Präambel, die es formal wie inhaltlich mit jeder verfassungsstaatlichen Präambel größerer Länder aufnehmen kann. Zitiert sei der Passus: "principles that acknowledge the supremacy of God, faith in fundamental rights and freedoms, the position of the familiy in a society of free men and free institutions, the dignity of the human person", der Satz: "there should be opportunity for advancement on the basis of recognition of merit, ability and integrity", oder "recognize that men and institutions remain free only when freedom is founded upon respect for moral and spiritual values and the rule of law". Auch der Grundrechtskatalog hat hohes Niveau (Art. 1 bis 17); ferner fällt die überaus präzise Regelung der "Constituency Boundaries and Electoral Commissions" auf (Art. 56, 57), ebenso die "Original Jurisdiction of High Court in constitutional questions" (Art. 103 bis 107) sowie der originelle "Parliamentary Commissioner" (Art. 108 bis 115). Die Solomon Inseln (Verf. von 1978) gleichen dem allgemeinen Textbild; ihre Präambel aber enthält einige beachtliche Varianten: eine Art kulturelles Erbes-Klausel in den Worten: "proud of the wisdom and the worthy customs of our ancestors, mindful of our common and diverse heritage and conscious of our common destiny", sie berührt das Problem der Ressourcenknappheit in dem Passus: "the natural resources of our country are vested in the people and the government of Solomon Islands", sie kennt eine Menschenwürdeklausel und den eigenwilligen Satz: "we shall cherish and promote the different cultural traditions within Solomon Islands"
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sowie das Ziel einer "decentralisation of Power". Die spezifisch englische Tradition bricht in der Einrichtung eines "Leader of the Official Opposition" (Art. 66) durch. Wenn etwa das kleine Kiribati (1979) in 139 Artikeln Präambel, Grundsatznormen, Grundrechtskatalog, das Staatsbürgerrecht, Exekutive, Legislative und Judikative sowie "Gemischtes" eingehend regelt, so bestätigt sich die These, Kleinstaaten hätten eine Voll-Verfassung. Wenn die Präambeln besonders werthaltig und die Grundrechtskataloge besonders reichhaltig sind (meist mit einem ausdrücklichen Verbot der Sklaverei, z.B. Art. 6 Kiribati), so läßt dies folgenden Schluß zu: Kleinstaaten suchen über die Grundwerte ihrer Präambeln bzw. die Grundrechtskataloge ein wesentliches Stück der eigenen Identität zu gewinnen. Kiribati etwa hat eine kulturelles Erbe-Klausel ("faith in the enduring value of our traditions and heritage", "continue to cherish and uphold the customs and traditions") und es bekennt sich zu "Gleichheit und Gerechtigkeit" ebenso wie zu dem Satz: "The natural resources of Kiribati are vested in the people and their Government" - ein Textbeleg für das Kleinstaatenproblem der Ressourcenknappheit! Die Verf. von Belize (1981) entspricht dem Textbild der englischen Kleinstaaten· Verfassungsfamilie (142 Artikel): Seine Präambel ist ebenso feierlich wie reichhaltig mit Stichworten wie "faith in human rights and fundamental freedoms, the position of the family in a society of free men and free institutions", "principles of social justice" (die aufs Ökonomische erstreckt werden), "that men and institutions remain free only when freedom ist founded upon respect for moral and spiritual values and upon the rule of law", "co-operation among nations"; seine bill of rights ist detailliert (Art. 3 bis 22) mit dem geläufigen Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, die Antwort auf die Kolonialzeit; im übrigen sind Staatsangehörigkeit, Governor-General, Exekutive, Legislative, Judikative, Öffentlicher Dienst und Finanzen, "Miscellaneus" und Übergangsbestimmungen eingehend geregelt. Die Verf. St. Christopher and Nevis von 1983 mit ihren 120 Artikeln und umfangreichen 6 Anhängen ("Schedules") sei hier aus mehreren Gründen behandelt: sie ist eine bundesstaatliche Verfassung, also ein Beispiel dafür, daß sich Kleinstaat und Föderalismus nicht ausschließen; sie verfügt über einen reichhaltigen Grundrechtskatalog (Art. 8 bis 24), sie richtet eine "original jurisdiction of High Court in constitutional questions" ein (Art. 96) und sie sieht einen Sezessionsartikel (115) vor für den Fall, daß die Insel Nevis aus dem Bundesstaat ausscheidet. Vor allem aber sei die prägnante Präambel zitiert, als Musterbeispiel für die identitätsstiftende Kraft, die sie gerade bei Kleinstaaten hat:
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Der Kleinstaat Tuvalu hat bereits zwei Verfassungen hervorgebracht. Die erste von 1978 ist u.a. wegen ihrer Präambel bemerkenswert, denn hier wird die Geschichte dieser Inseln im Pazifik seit der Queen Victoria nachgezeichnet, zugleich ist Bezug genommen auf die "rule of law" und "Tuvaluan custom and tradition". Die zweite Verfassung von 1986 zeichnet sich vielfältig aus: die neue Präambel verzichtet charakteristischerweise auf eine Wiederholung der Geschichtsschreibung des (nun etablierten) Inselstaats, sie reichert sich statt dessen mit weiteren Grundwerten an. Hier einige Stichworte: "rightful place amongst the community of nations in search of peace and general welfare", "Amongst the values that the people of Tuvalu seek to maintain are their traditional forms of communities, the strength and support of the familiy", "mutual respect and co-operation", "The life and the laws of Tuvalu should therefore be based on respect for human dignity, and on the acceptance of Tuvaluan values and culture". Besonders auffallig ist eine Bezugnahme auf den Wertewandel in der Verfassungspräambel selbst (!): "... the people of Tuvalu recognize that in a changing world, and with changing needs, these principles and values, and the manner and form of their expression (especially in legal and administrative matters), will gradually change...". Von hoher Originalität zeugt Art. 4 zur Interpretation der Verfassung. Er verweist auf Interpretationsregeln im Anhang und er verlangt für jede Verfassungsinterpretation die Übereinstimmung mit den Prinzipien der Präambel. Diese ausführlichen "Rules for the Interpretation of the Constitution" wiederholen in Ziff. 3 die fundamentale Bedeutung der Präambel für die Verfassung, ihre Ziff. 4 enthält aber eine fast sensationelle Aussage: "4. Meaning of language used (1)This Constitution is intended to be read as a whole. (2)A11 provisions of this Constitution, and all words, expressions and statements in this Constitution, shall be given their fair and liberal meaning, without unnecessary technicality." Was in Deutschland als "ganzheitliche Verfassungsinterpretation", als Auslegung der Verfassung als "Einheit" und unter dem Stichwort "praktische Kon-
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kordanz" 38 diskutiert und praktiziert wird, ist hier in einen Verfassungstext eingegangen - scheinbar am "Ende der Welt". Gerade dieses Beispiel zeigt die Innovationskraft von kleinstaatlichen Verfassungen und den weltweiten Rezeptions- und Produktionszusammenhang, in dem sie entstehen, sich entwikkeln und weiter wirken. Als ein außerordentliches Dokument modernen Verfassungsdenkens erweist sich die Verf. von Fiji (1990, 168 Artikel). Sie integriert viele Elemente der heutigen wissenschaftlichen Diskussion in Sachen Verfassungsstaat und bekräftigt so das Textstufenparadigma. Als europäischer Beobachter mag man kritisch fragen, ob, wann und wie die großen Texte in Verfassungswirklichkeit "übersetzt" werden, ja, ob dieser Kleinstaat damit seine Organe und seine Gesellschaft, seine Bürger und Gruppen nicht vielleicht sogar überfordert und vieles künstlich wirkt. Selbst wenn dies derzeit teilweise geschähe und es längere Zeit brauchte, bis Fiji auch in der Wirklichkeit ein "Verfassungsstaat" ist 39 : Die Verfassungslehre kann dieser Republik und ihrer Verfassung nur großen Respekt zollen; der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates heute aber hat einmal mehr seine ideelle Leistungskraft unter Beweis gestellt. Im einzelnen: Der umfangreiche Vorspruch - ganz im solemnen Sprachduktus der Präambel - beginnt mit einer Geschichtsschreibung in Kurzform und übt Kritik an der Vorgängerverfassung ("that the 1970 Constitution was inadequate to give protection to the interests of the indigenous Fijians, their values, traditions, customs, way of life and economic well - being") - die Suche nach kultureller Identität schlägt sich in diesem Passus eindrucksvoll nieder und sie wird in die Zukunft verlängert ("that the will of the people may be truly set forth and their hopes, aspirations and goales be achieved and thereby enshrined"). Auf diese zeitliche Dimension, die ganz im Sinne der klassischen verfassungsstaatlichen Präambelkultur geglückt ist, folgt die Bekräftigung von Grundwerten: "democratic, society ... develop and maintain due defence and respect for each other and the rule of law". Überdies ist "praktische Konkordanz" zwischen dem Respekt vor der historischen Rolle des Christentums bezeugt und zugleich das Recht anderer religiöser Gruppen bestätigt, ihre eigene Religion zu praktizieren. Eine Art Ressourcenklausel findet sich schon in diesem Vorspruch ("that the indigenous people of Fiji are endowed with their lands and other ressources and the right to govern themselves for their advance38
Dazu Κ. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 28. 39 Kap. XIII ("Special powers against subversion and emergency powers") enthält gefährliche Elemente.- Zu den erstaunlich modernen Texten, die sich in der Verf. Papua-Neuguineas (1975) finden: W. Wengler, Rechtsnormbildung und Rechtsfortbildung in der Verfassung von Papua Neuguinea, JöR 32 (1983), S. 648 ff.
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ment and welfare"). Sogar der Toleranzgedanke kommt zu Wort ("in respecting the rights of others to live in harmony are entitled to due deference to their customs and traditional way of life"), und fast eine moderne Version der "goldenen Regel" klingt in den Sätzen des Vorspruchs an: "that people and institutions remain free only when and for so long as freedom is founded upon respect for the spiritual and moral values of each other and a mutual observance of the rule of law". In anschließenden 15 großen Kapiteln wird der "Verfassungsstoff' näher verarbeitet. Genannt seien u.a.: "The State and the Constitution", ein Grundrechtskatalog (Art. 4 bis 20), ein Kapitel über die Staatsbürgerschaft, den Präsidenten, das Parlament (2 Häuser), die Exekutive und Judikative, den Ombudsmann und "Miscellaneous". Der "Vorrang der Verfassung" wird schon in Art. 2 postuliert ("Constitution is supreme law"). Der ausgefeilte Grundrechtskatalog entspricht dem heutigen Standard, z.B. in Gestalt von Art. 8 "Protection from inhuman treatment"), Unschuldsvermutung (Art. 11 Abs. 2 a), Religionswechsel (Art. 12 Abs. 1). Aus dem organisatorischen Teil sei die "Constituency Boundaries Commission" (Art. 47) erwähnt, aus dem sehr genau geregelten Parlamentsrecht der "Leader of the Opposition" (Art. 97), die GnadenKommission beim Präsidenten (Art. 99), aus dem Rechtsprechungs-Teil der Artikel (121) zum "Contempt of court". Die überaus genaue Regelung des Kapitels über den Ombudsmann (Art. 134 bis 140) darf Modellcharakter beanspruchen. Hohen Originalwert hat der Revisions-Artikel 161: "This Constitution shall be reviewed after a period of time but before the end of seven years after the promulgation of this Constitution. Thereafter, the Constitution shall be reviewed every ten years." Dies ist ein eigenwilliger Textbeitrag zu dem verfassungstheoretischen Stichwort "Zeit und Verfassung" 40, der Beachtung verdient 41 . 40
Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung (1974), in: ders.: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 ff. S. unten Vierter Teil IV. 41 Die Verf. von Trinidad und Tobago (1976) sei in Stichworten charakterisiert: Die Präambel ist ebenso reichhaltig wie modellhaft ("faith in fundamental human rights and freedoms", "the position of the family in a society of free men and free institutions", „the dignity of the human person", "respect the principles of social justice", "belief in a democratic society", "recognize that men and institutions remain free only when freedom ist founded upon respect for moral and spiritual values and the rule of law", "desire that their Constitution should enshrine the abovementioned principles and beliefs and make provision for ensuring the protection in Trinidad and Tobago..."). Aus dem folgenden Verfassungstext sei erwähnt: "This Constitution is the supreme law of Trinidad and Tobago" (Art. 2), zwei knappe Grundrechts-Artikel (4 und 5), das ausfuhrliche Staatsbürgerschaftskapitel 2, das umfangreiche Parlamentsrecht (Art. 39 bis 69), die
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(2) Die islamisch geprägten Kleinstaaten Man kann zweifeln, ob die islamisch geprägten Kleinstaaten Gegenstand einer Verfassungsstaatsanalyse sein dürfen. Mögen viele Elemente, vor allem der religiöse Fundamentalismus, die fehlende Trennung von Staat und Religion, monarchische Strukturen, Aspekte eher der geschlossenen denn der offenen Gesellschaft totalitäre Züge tragen, manche Elemente verbinden diese Kleinstaaten dann doch mit dem Typus Verfassungsstaat. Unter diesem Vorbehalt hier einige Beispiele: Maledivien schickt seiner Verfassung von 1968 (86 Artikel) eine umfangreiche Präambel voraus, die sich auf eine auf viele Jahrhunderte bezogene "Geschichtsschreibung" einläßt. Schon Art. 1 Abs. 2 legt das Staatsgebiet bzw. den Staatsraum fest: "The political territory of Maldives comprises of the islands, the sea, air and other places attached to them which are within a 12 mile distance from the outer reef of every Atoll of Maldives". Art. 3 verankert den Islam als Staatsreligion, der spätere Grundrechtskatalog (Art. 5 bis 19) steht mitunter ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Sharia (Art. 13). Die Präambel der Verf. von Bahrein (1973) formuliert neben der geschichtlichen Dimension inhaltliche Ziele wie "human values", "wellbeing for mankind" und "world peace". Art. 2 erhebt den Islam zur Staatsreligion. Im Teil "Fundamental Constituents of Society" findet sich ein Familien-Artikel (Familie als "corner-stone of society", Art. 5 Abs. 2 4 2 ), aber auch der für Kleinstaaten wohl typische Ressourcen-Artikel (Art. 11 : "All natural resources shall be the property of the State"). Während der Titel "Public Rights and Duties" (Art. 17 bis 31) im Kontext der Staatsreligion des Islam gelesen werden muß, springt eine erstaunliche Wesensgehaltgarantie für Grundrechte ins Auge (Art. 31): "Such regulation or definition (by a law) shall not affect the essence of the right or liberty". Aus dem staatsorganisatorischen Verfassungsteil fällt das Prinzip der Gewaltenteilung in dem Satz auf (Art. 32 a): "The system of government shall be based on the principle of separation of the legislative, executive and judicial powers, functioning in co-operation with each other in accordance with the provisions of this Constitution." So zeigt sich beispielhaft, wie
Gnaden-Kommission (Art. 88), der detaillierte Abschnitt über den 'Ombudsmann" (Art. 91 bis 98). 42 Weitere Texte im Vergleich bei P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 18 ff. sowie Fünfter Teil VII.
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in islamisch-arabischen Kleinstaaten verfassungsstaatliche Errungenschaften mit fremden Staatselementen eine schwer bestimmbare Verbindung eingehen43. Die Komoren (Verf. von 1978/82) verdienen ein eigenes Wort (49 Artikel). Sie konstituieren sich als Bundesstaat ("République Föderale Islamique"), und schon ihre Präambel macht den Islam zur Staatsreligion. Sie "inspiriert" sich zugleich durch die Universelle Menschenrechtserklärung der UN, unter Berufung auf welche viele Grundrechte garantiert werden (bis hin zur Unabhängigkeit des Richters). Totalitär erscheint freilich der Satz (Art. 4 Abs. 4): "La loi fédérale peut fixer le nombre des partis et groupement politiques" 44 . (3) Sonstige Kleinstaaten Die letzte Textgruppe von Kleinstaaten muß unter der unbefriedigenden Rubrik "Sonstige" behandelt werden. Hier die Beispiele: Monaco (1962) ist in Sprache, Stil und Geist stark an Frankreich orientiert, was sich im Grundrechtsteil (Art. 17 bis 32) ebenso manifestiert wie in der Garantie der Gewaltenteilung (Art. 6). Seine typische kleinstaatliche Anlehnung an Frankreich dokumentiert Art. 2 Abs. 1 plastisch: "La principauté de Monaco est un Etat souverain et indépendant dans le cadre des principes généraux du droit international et des conventions particulières avec la France". Man darf vermuten, daß die später zu erörtende These von der hohen Angewiesenheit der Kleinstaaten auf abgestufte (Kon)Föderationen und intensive Rezeptionsvorgänge sich bei Monaco - ähnlich Liechtenstein - deutlich belegen ließe. Die Seychellen (1979) haben in ihrer Verfassung von 1979 (100 Artikel) eine merkwürdige Mischung geschaffen. Einerseits sind sie ein Einparteienstaat (Art. 3), andererseits normieren sie in ihrem Art. 7 den großen Satz: "This Constitution is the supreme law of Seychelles"; in Art. 8 (Interpre43
Gleiches gilt für die Verf. Quatar von 1972 (70 Artikel), vgl. ihre Präambel, ihren Staatsreligion-Artikel 1: "Its religion is Islam, and Islamic Shari'a Law shall be the fundamental source of its legislation. Its regime is democratic". 44 Verf. Brunei Darussalam von 1984 (86 Artikel) entspricht diesem Textbild formal und inhaltlich: ausfuhrliche Präambel, Art. 3 zur Staatsreligion mit dem Zusatz: "provided that all other religions may be practiced in peace and harmony...". Modern ist der "Auditor general" in Art. 66 bis 69, eigenwillig ein "Interpretation Tribunal" (Art. 85) an der Seite des Sultan.- Die Verf. von Tonga (1875/1981) ist recht unergiebig, (trotz ihrer 115 Artikel). Das liegt wohl an ihrer monarchischen Struktur. Immerhin hat sie eine Declaration of Rights, eine Garantie des Sabat (Art. 6); alles Land gehört feudalistisch - dem König (Art. 104 bis 115).
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tationsprinzipien) verweisen sie auf Schedule 3, dessen Originalitätswert hoch ist: "8.(1) The preamble to this Constitution expresses general principles and although it may be used as an aid to the Interpretation of this Constitution it shall be read subject to the other provisions of this constitution45. 9. For the purposes of Interpretation (a) the provisions of this Constitution shall be given their fair and liberal meaning; (b) this Constitution shall be read as a whole; and (c) this Constitution shall be treated as speaking from time to time." Sind schon solche textlichen Regeln zur Verfassungsinterpretation in klassischen Verfassungsstaaten nicht bekannt, so überrascht die Kühnheit dieses Artikels um so mehr. Die Verfassungslehre sollte jedenfalls diese Textstufe der Seychellen in ihren Auslegungskapiteln respektvoll zur Kenntnis nehmen und in ihre eigenen Überlegungen zustimmend bzw. differenzierend einbeziehen. Ein Kleinstaat hat hier pionierhaft gearbeitet. Selbst wenn man eine Bereicherung des geschriebenen Verfassungstextes um solche Interpretationsregeln wegen der Offenheit der Verfassungsinterpretation letztlich doch ablehnen sollte, liefert Art. 8 und 9 fur die Wissenschaft wichtige Problemlösungsaspekte. Der Verfassungstextgeber eines Kleinstaates hat hier Produktives geschaffen, so sehr seine Ratgeber ihrerseits um die wissenschaftliche Diskussion über "Prinzipien der Verfassungsinterpretation" gewußt haben müssen46. Oder erklärt (auch) die Lehre von der "praesumtio similitudinis" diese Parallelität? Die Verfassung der Republik Vanuatu von 1980 (94 Artikel) enthält eine bekenntnisreiche Präambel (u.a.: "cherishing our ethnic, linguistic and cultural diversity"), "traditional Melanesian values, faith in God and Christian principles"); von ihren klassischen und neueren verfassungsstaatlichen Strukturelementen sei der Grundrechtskatalog (Art. 5 bis 6) erwähnt, bei den Grundpflichten fällt der Satz auf (Art. 8): "except as provided by law, the fundamental duties are non - justiciable", im Kapitel zur Staatsbürgerschaft (Art. 13): "The Republic of Vanuatu does not recognize dual nationality", wohl eine kleinstaatliche Eigenart, ferner die Einrichtung des Ombudsmannes (Art. 59 bis 63), die Reservierung des Landes für die Einheimischen (Art. 71: "All land in the Republic belongs to the indigenous custom owners and their descendants"), 45 Die Präambel der Seychellen ist recht ambivalent: Einerseits setzt sie das Ziel der Einrichtung und Entwicklung eines "sozialistischen Systems", andererseits aber schützt sie die Menschenwürde und zählt eine bis ins einzelne gehende bill of rights auf (mit vielen klassischen Grundrechten), wobei sogar die aus der EMRK bekannte Grundrechtsschranke auftaucht ("subject only to limitations reasonably justifiable in a democratic society"). 46 K. Hesse, Grundzüge, aaO., 20. Aufl. 1995, S. 20 ff. 7 Häberle
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die Verankerung der "Dezentralisation" (Art. 80) und die Bindung bestimmter Verfassungsänderungen an das nationale Referendum (Art. 84). Wie vielseitig die einzelnen Kleinstaaten-Verfassungen sind und wie unterschiedlich sie die Elemente des verfassungsstaatlichen Modells "mischen", möge der Blick auf Equatorial Guinea zeigen (Verf. von 1982, 157 Artikel mit Übergangsbestimmungen). Die Präambel bekennt sich zur Verantwortung "before God and History", will "totale Unabhängigkeit" sichern und formuliert den Wunsch: "of maintaining the authentic traditionally African spirit of family and communal organization"; beschworen wird sogar "the charismatic authority of the traditional family", eine spezielle afrikanische Kultur-Klausel, der freilich recht unvermittelt ein Verweis auf die "Rechte und Freiheiten der Menschheit" von 1789 bzw. die Universale Erklärung von 1948 hinzugefügt wird. In den Grundsatz-Artikeln fällt die Anerkennung der Ureinwohnersprache neben der Amtssprache Spanisch auf ("The aboriginal languages are recognized as an integral to the national culture"). Der Grundrechtskatalog greift die neueren Entwicklungen auf, z.B. in Gestalt eines kulturellen Teilhaberechts (Art. 20 Ziff. 14), der Unschuldsvermutung (Ziff. 17 ebd.), der Erstreckung der Grundrechte auch auf Gesellschaften (Art. 21: "companies", ähnlich Art. 19 Abs. 3 GG). Vor allem aber hebt die generelle Grundrechtsentwicklungsklausel in Art. 22 die Verf. auf den jüngeren Standard des Verfassungsstaates: "The enumeration of the fundamental rights recognized in this Chapter does not exclude the others which are guaranteed by the Fundamental Law, nor others of a similar nature and which are derived from the dignity of man, from the principle of the sovereignity of the people or of the social and democratic legal State and the republican form of government". Vergleichbare Artikel treten später in den Verf. von Peru (1979) und Guatemala (1985) auf 47 ; sie können grundrechtstheoretisch gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Wir finden in Äquatorial Guinea überdies eine Garantie der freien Marktwirtschaft (Art. 65): "...principle of the freedom of the market-place, enterprise, competition, and competence, with the intervention of the State oriented toward the just distribution of the national wealth and revenue". Der auffälligste "Fund" im Ensemble dieser Verfassung ist neben der Garantie der lokalen Selbstverwaltung (Art. 154 f.) und einer Ewigkeitsklausel (Art. 157): "The republican and democratic system of the Sovereign State of Equatorial Africa, the national unity and the territorial integrity cannot be the object of any reform", 47 Dazu P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, VRÜ 23 (1990) S. 225 (266).
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der Rechtsquellen-Artikel 139. Er könnte und sollte das Beispielsmaterial jeder Methodenlehre von heute schmücken und verdient im ganzen wie einzelnen große Beachtung. Art. 139 lautet: "The following constitute sources of the law: a) The written norms b) The unwritten norms The unwritten norms serve to make up, delimit or interpret the written norms and have rank of the norm which they delimit or interpret. When it tries to make up for the absence of a written norm, the unwritten norm has rank of law. c) Written sources of Law by their order are: First, the Fundamental Law, Second, the International Treaties, Third, the laws and the decree-Laws Fourth, the by-laws. d) Unwritten sources are: First, the customs or the traditional practices, Second, the general principles of law, and Third, the jurisprudence." Wenn es eines Beweises bedürfte, wie erfindungsreich sowohl Entwicklungsländer als auch Kleinstaaten-Verfassungen sein können und wie sie den Typus Verfassungsstaat in Einzelfeldern pionierhaft voranbringen, so wäre dieser Art. 139 zu nennen. Jede eurozentrische Selbstgefälligkeit in Sachen Verfassungslehre wird durch solche Textleistungen Lügen gestraft und einmal mehr bestätigt sich die weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat. Was bei uns Lehrbücher zur Methodenlehre mühsam genug über die Rechtsquellen erarbeiten, wurde in Äquatorial Guinea 1982 auf den Begriff und Text gebracht. Daß es in jenem afrikanischen Land "Vollzugsdefizite" geben mag, insofern etwa Art. 139 nicht sogleich zur Verfassungswirklichkeit wird, ist eine andere Frage. Hier steht zur Diskussion, daß ein Art. 139 die Textstufenentwicklung als weltweiten Vorgang beweist und den Kleinstaaten insgesamt zur Zierde gereicht. Sie können in ihren Verfassungen im Teilbereich modellhaft am Typus des Verfassungsstaates weiterarbeiten, so sehr sie vielleicht in anderen Problembereichen Nachholbedarf haben bzw. Defizite aufweisen. b) Typisch kleinstaatliche Besonderheiten im Spiegel von Verfassungstexten - Adaptionen Die bisherige Textanalyse war ausführlich. Sie diente dem Zweck, der Wissenschaft ins Bewußtsein zu rufen, wie ergiebig die verfassungsstaatlichen Kleinstaaten schon im Spiegel ihrer Texte sind. Bislang wurden sie von der
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Staats- bzw. Verfassungslehre unverhältnismäßig vernachlässigt. Der Textvergleich unter a) konnte zeigen, wie ausgeprägt der Verfassungsstaatscharakter vieler Kleinstaaten ist - sie haben keine bloße "Rumpfverfassung" - und was ihre Innovationskraft in bezug auf einzelne Elemente der Textstufenentwicklung des Typus Verfassungsstaat leistet (z.B. im Präambelbereich, bei Auslegungsprinzipien zur Verfassungsinterpretation, in der Rechtsquellenlehre). Jetzt geht es darum, die kleinstaatlichen Spezifika zu erforschen, die schon in gruppengebündelten Textbildern anschaulich werden. Herauszuarbeiten ist ihre Eigenart, auch dies im ersten Zugriff eines Verfassungstextvergleichs, dem von anderer Seite später der Gesetzgebungs-, Rechtsprechungs- und Wissenschaftsvergleich zuwachsen müßte. Skizzenhaft genug erweisen sich folgende konstitutionellen Aspekte als "Eigenart" verfassungsstaatlicher Kleinstaaten: (1) Differenzierte Präambelkultur Der Reichtum der kleinstaatlichen Präambelkultur wurde schon dargestellt; ein Höhepunkt ist die Verf. der Fiji (1990). Zwar zeichnen sich viele Verfassungsstaaten normaler Größenordnung durch ihre Präambeln aus (vgl. etwa Verf. Portugal von 1976 und Verf. Spanien von 1978 sowie Südafrika von 1996/97), doch sind die Kleinstaaten aus den erwähnten Gründen besonders stark auf "gute", identitätsstiftende Präambeln bedacht und angewiesen. Die verfassungstheoretische und -praktische Nähe zu den Entwicklungsländern ist spürbar. (2) Detaillierte Klauseln zu Staatsgebiet, Raum und Grenzen Die konstitutionelle Umschreibung von Staatsgebiet, Raum und Grenzen gehört zu den Auffälligkeiten und Markenzeichen der kleinstaatlichen Verfassungen. Das sei im folgenden an Textstellen belegt; sie dienen als Materialien für die spätere Einordnung des Kleinstaates in eine Verfassungstheorie des Raumes. Bereits die klassischen bzw. alten größeren Verfassungsstaaten pflegen in ihren Texten das Staatsgebiet sehr grundsätzlich zu piazieren (etwa Art. 2 Verf. Irland von 1937; Art. 1 Abs. 1 Verf. Frankreich von 1958; Art. 2 Verf. Luxemburg von 1868/1983; Art. 5 Verf. Portugal von 1976/92). Das geschieht teils in kürzeren Artikeln (z.B. Art. 2 Verf. Spanien von 1978: Garantie der Einheit der Nation und der Autonomie der Nationalitäten und Regionen; Art. 2 WRV von 1919; Art. 3 Österreich B-VerfG von 1920), teils in ausführlichen Regelungen des Staatsgebietes und seiner Gliederung (z.B. Art. 1 bis 3 bis Verf. Belgien von 1831/1988). Auch Entwicklungsländer-Verfassungen nehmen sich des Verfassungsproblems "Territorium" als solchen detailliert an (z.B. Art. 97 bis
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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99 Verf. Peru von 1979: Art. 97: "Das Territorium der Republik ist unverletzlich. Es umfaßt den Boden, den Untergrund, das Seehoheitsgebiet und den darüber befindlichen Luftraum" 48 ). Mögen sich beim Thema "Staatsgebiet" Textstufenprozesse nachweisen lassen - z.B. fällt die gelegentliche "Wanderung" des systematischen Regelungsortes von den Eingangsartikeln nach hinten auf, da die Grundrechte heute oft den ersten Platz beanspruchen - festzuhalten bleibt, daß das Thema Staatsgebiet ein klassisches und modernes Verfassungsthema ist. Das entspricht der traditionellen Staats- bzw. der Dreielementenlehre eines G. Jellinek 49 . Die Frage ist, ob und wie die Kleinstaaten das Thema behandeln. Prima facie läßt sich vermuten, daß bereits ihre Verfassungstexte die besonders hohe Bedeutung von Gebiet und Raum anzeigen (durch ausfuhrliche und differenzierte Normierung). Denn wenig ist, neben den Menschen, für einen "Kleinstaat" so kostbar wie das eigene - kleine - Territorium. Der Verfassungstextvergleich bzw. die genaue konstitutionelle Umschreibung von Staatsgebiet, Raum und Grenzen ist der "Boden", das Material für die verfassungstheoretische Annäherung an eine Eigenart des Kleinstaates bzw. an die Verfassungstheorie des Raumes ganz allgemein. Die Verf. Liechtenstein (1921/1989) präzisiert das Staatsgebiet schon in ihrem Art. 1. Die Verf. von Antigua und Barbuda (1981) regelt die Staatsgebietsfrage in dem Grundlagen-Artikel 1 Abs. 2. Sie legt hier die drei Inseln fest und sie spricht die Kompetenz zu weiteren Gebiets-Defmitionen dem Parlament zu. Malta (Verf. von 1964/93) hat einen sehr flexiblen Territorial-Artikel geschaffen (in Art. 1 Abs. 2):
48 Das Seehoheitsgebiet wird in Art. 98 näher umschrieben; besonders detailliert arbeiten Art. 121 bis 128 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. bzw. S. 641 ff.).- Bemerkenswert Verf. Portugal (1976/1992), Art. 5: (1) Das portugiesische Hoheitsgebiet umfaßt das geschichtlich festgeschriebene Gebiet auf dem europäischen Kontinent sowie die Inselgruppe Azoren und Madeira. (2) Die Ausdehnung und Grenzen der portugiesischen Hoheitsgewässer, der exklusiven Wirtschaftszone und die Rechte Portugals an dem jeweiligen Festlandsockel regelt das Gesetz. (3) Der Staat veräußert, unbeschadet eventueller Grenzkorrekturen, weder portugiesisches Hoheitsgebiet noch die an portugiesischem Hoheitsgebiet bestehenden Hoheitsrechte. 49 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 6. Neudruck, 1959, S. 394 ff.; Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1984, S. 86 ff.; aus der neueren Lit.: W. Graf Vitzthum, Staatsgebiet, HdbStR Bd. I (1987), S. 709 ff.; H. Bethge, Das Staatsgebiet des wiedervereinten Deutschland, HdbStR Bd. VIII (1995), S. 603 ff. Zum ganzen noch unten Sechster Teil VI.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß "The territories of Malta consist of those territories comprised in Malta immediately before the appointed day, including the territorial waters thereof, or of such territories and waters as Parliament may from time to time by law determine."50
Die Verf. der Seychellen (1979) geht vielgliedrig vor. In dem EingangsAbschnitt 1 "Die Nation" wird das Staatsgebiet mit Hinweis auf den Seychellen-Archipel (und Verweis auf den Anhang 1) umschrieben und um die "territorial waters and historic waters of Seychelles and the seabed und subsoil underlying those waters" ergänzt. In einem eigenen Absatz ebd. wird eine Art "flexible" Staatsgrenze institutionalisiert ("The limit of the territorial waters of Seychelles shall be as declared, from time to time, by or under an Act"). A l l dies steht im Kontext der folgenden Symbol-Artikel zur Flaggen- und Sprachen-Frage (Art. 3 und 4). Die Liste der Seychellen wird als Anhang 1 im Jahr 1982 seitenlang aufgezählt 51. Manche kleinstaatlichen Verfassungen legen in einem ausfuhrlichen Anhang die Staatsgebietsteile aufs genaueste fest: so z.B. Schedule 2 Verf. von Kiribati (1979), ebenso Art. 2 Abs. 2 Verf. Belize (1981): "Belize comprises the land and sea area in Schedule 1 to this Constitution, which immediately before Indépendance Day constituted the colony of Belize"52. Ebenso apodiktisch wie knapp formuliert Art. 1 a S. 2 Verf. Bahrein (1973): "Neither its sovereignity nor any part of its territory shall be relinquished"53. Tuvalu normiert im Grundlagen-Teil seiner Verfassung von 1986 seinen Staatsgebiets-Artikel 2 "The area of Tuvalu" wie folgt: "(1) Subject to subjections (3) and (4), the area of Tuvalu consists of the land areas referred to in subsection (2), together with (a) the territorial sea and the inland waters as declared by law, the land, beneath them, and the air space above; and
50 Art. 2 Abs. 2 Verf. West-Samoa (1960) zählt die zu ihm gehörenden Inseln präzise mit Namen bzw. Lagebezeichnungen nach Längen- und Breitengraden auf. 51 Knapper heißt es in Art. 1 Abs. 2 Verf. Malediven (1968/75): "The political territory of Maldives comprises of the islands, the sea, air and other place attached to them which are within a 12 mile distance from the outer reef of every Atoll of Maldives". 52 Die Verf. von Vanuatu (1980) besitzt ein ausfuhrliches Kapitel "Land", wo die Eigentumsfrage normiert ist: "All land in the Republic belongs to the indigenous custom owners and their descendants"; "... the Government shall give priority to ethnic, linguistic, customary and geographical ties" heißt es als Maxime für die Landverteilung (Art. 71 bzw. 79). 53 Ähnlich Art. 2 Abs. 3 Quatar (1972) im Kontext von Staatsreligion, Staatssprache, Staatsbürgerschaft: "The State may not relinquish its sovereignity, or cede any part of its territory or its waters."
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(b) such additional lands and waters as are declared by law to be part of the land area of Tuvalu. (2) the land areas referred to in subsection (1) consist of all islands, rocks and reefs within the area bounded by (a) the parallel 05° S;... together with all small islands, islets, rocks and reefs depending in them." Von den islamisch geprägten Kleinstaaten sei die Verf. der Islamic Federal Republic of Comoros erwähnt (1978/82). Schon vor der Präambel findet sich in bezug auf den Präsidenten der Satz, er sei "à la fois le garant de l'unité de l'Archipel et de l'autonomie des Iles". Kap Verde (Verf. von 1980) hat in seinem Grundlagen-Artikel das Staatsgebiet mit einem Ressourcen-Artikel gekoppelt: Art. 8: "The Republic of Cape Verde shall exercise its sovereignity: 1. Over all national territory, including a) The surface territory historically belonging to it; b) The straits and territorial as defined by law, as well as riverbeds and underground territory; c) The air space associated with the geographical areas referred to in the previosus paragraphs. 2. Over all natural resources, living and non-living, found in its territory" 54. Dem Muster des traditionellen Staatsverständnisses mit seinen klassischen Elementen und dem Textbild vieler Verfassungen folgt zunächst Äquitorial Guinea in seiner Verf. von 1982. Im ersten Titel stehen die Aussagen über Staatsform, Staatssprache, Nationalflagge, Grundwerte ("supreme values"), Staatsaufgaben (z.B. "to ensure the enforcement of the fundamental human rights"), aber eben auch zum Staatsgebiet. Art. 7 lautet höchst differenziert und präzise: "The Territory of the Republic of Equatorial Guinea is made up of the continental zone called ..., small adjacent islands, fluvial waters, territorial seas and continental shelf determined by the Law and air space which covers it. The State fully exercises its sovereignity over its territory and can explore and exploit, exclusively, all the ressources and mineral wealth, minerals and hydrocarbons.
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Verf. Surinam (1987) legt in ihrem Art. 2 ("Territory") fest: "1. Suriname comprises the territory on the South American continent that is as such historically defined. 2. The state shall not transfer rights to territory or sovereign rights which it exercises over that territory. 3. The extent and boundaries of the territorial waters and the rights of Suriname to the adjacent continental shelf and the economic zone are determined by law." - Verf. von Trinidad-Tobago (1976) bringt schon in ihrem Preliminary-Artikel 1 in Absatz 2 eine genaue Definition des Staatsgebietes: Inseln mit Stichtagsregelung, mit Einbeziehung von "territorial sea" und "continental shelf' und anderen Gebieten, die durch Gesetz ("Act") bestimmt werden.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß The National territory is inalienable and irreducible. The law determins the extent of the territorial waters." (3) Staatsbürgerschafts-Kapitel bzw. das Volk - die Detailregelung in Verfassungstexten der Kleinstaaten
Ein Vergleich der Verfassungen vieler Kleinstaaten läßt ein weiteres Spezifikum ihrer Textbilder hervortreten: Die Staatsbürgerschaft ist auffallend detailliert geregelt, wenngleich in vielen Varianten. Das kann nicht überraschen. Der Kleinstaat versichert sich seines - zahlenmäßig ja geringen - Volkes durch präzise Normierungen. Was in größeren Verfassungsstaaten allenfalls grundsätzlich in den konstitutionellen Texten, im übrigen in Staatsangehörigkeitsgesetzen im einzelnen bestimmt ist 55 , muß im Kleinstaat aus theoretischen und praktischen Gründen schon in der Verfassung normiert sein: so wichtig ist hier jedes Detail. Denn so wie das Staatsgebiet bzw. der Raum gerade in Kleinstaaten buchstäblich "konstituierend" ist, so wird die Frage, welche Menschen Bürger speziell dieses Landes sind (bzw. bei entkolonialisierten Kleinstaaten geworden sind), fundamental. Anders formuliert: Die "knappe Ressource Mensch" - wie zuvor die knappe Ressource Gebiet bzw. Land und Raum machen dieses Problem im Kleinstaat zum spezifischen Verfassungsthema: weil es für dieses politische Gemeinwesen "wichtig" ist. Hier einige Beispiele in typisierender Auswahl, wobei freilich anzumerken ist, daß neuere Entwicklungsländerverfassungen sich desselben Themas ebenfalls sehr genau annehmen (eine gewisse Parallele zwischen beiden Varianten des Verfassungstaates: Entwicklungsländer dort 56 , Kleinstaaten hier): Ein differenziertes Textbild findet sich in der Verf. Grenada von 1973. Diese unterscheidet zwischen den Bürgern, die vor dem Unabhängigkeitsjahr bzw. tag (1974), und solchen, die danach geboren wurden (Art. 95 bzw. Art. 96). Die Regelungen stehen in einem eigenen Kapitel und ziehen sich von Art. 94 bis Art. 100 hin, mit vielen Differenzierungen und Legaldefinitionen. Noch ausführlicher und ebenfalls durch eine gespaltene Regelung der Staatsbürgerschaft gekennzeichnet (Unabhängigkeitstag als Stichtag) ist die Verf. von Antigua und Barbuda (1981). In einem eigenen Kapitel bzw. im Rahmen von Art.
55 Vgl. Art. 4 Verf. Belgien von 1931/1988; Art. 6 Österreichisches B-VerfG von 1920; Art. 116 GG; Art. 4 Abs. 3 Verf. Griechenland von 1975; Art. 2 Verf. Niederlande von 1983; Art. 4, 15 Verf. Portugal von 1976/92; Art. 11 Verf. Spanien von 1978; Art. 12 Verf. Georgien (1995). S. aber auch Art 146 bis 154 Verf. Paraguay (1992). 56 Vgl. Art. 89 bis 96 Verf. Peru von 1979; Art. 144 bis 148 Verf. Guatemala von 1985.
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111 bis 118 ist das Tatbestandsprofil der konstitutionellen Staatsangehörigkeitsnormen höchst differenziert: z.B. hinsichtlich des Erwerbs der Staatsbürgerschaft durch Heirat (Art. 114), der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit (Art. 115), der Kompetenz des Parlaments bzw. des zuständigen Ministers (Art. 116); wer sich um eine Staatsbürgerschaft bemüht, muß einen "Oath of allegiance" leisten (Art. 117) - eine kleinstaatliche Eigenart! Dieses Grundmodell findet sich in vielen Kleinstaaten. Malta nimmt sich des Themas in seiner Verf. von 1964/92 ausfuhrlich an: in einem eigenen Kapitel von Art. 22 bis 31 wird in einer nach dem Unabhängigkeitstag unterscheidenden (dualistischen) Weise das Staatsangehörigkeitsproblem aufs genaueste geregelt. Eine besondere ausführliche Normierung ist der doppelten Staatsbürgerschaft, die möglichst vermieden werden soll, gewidmet (Art. 27, mit 8 langen Absätzen); auch hier finden sich Parlamentskompetenzen und Legaldefinitionen (Art. 30, 31). Verf. Kiribati (1979) entspricht in ihrem ausführlichen StaatsbürgerschaftsKapitel (Art. 19 bis 29) ebenfalls diesem Muster, wobei eine besonders strenge Regelung zur Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit ins Auge springt (Art. 27; zweijährige Fristenregelung). Plakativ an der Spitze der Verf., als Kapitel II, figuriert das Thema "Staatsbürgerschaft" in der Verf. von Barbados (1974) in den Art. 2 bis 10, mit einer Stichtagsregelung (Unabhängigkeitstag bzw. -jähr 1966, CommonwealthStaatsbürgerschaft (Art. 8), restriktive Regelung zur doppelten Staatsbürgerschaft etc.). Die Einschränkung oder gar das Verbot doppelter Staatsbürgerschaft ist eine typische kleinstaatliche Adaption: Die "knappe Ressource Mensch" und das naturgemäß enge Band zwischen Staat und Bürger, in häufigen Gelöbnissen (Eiden) greifbar, verträgt keine doppelte Staatsangehörigkeit 57. Anderes dürfte 57 Ebenfalls als Kapitel II erscheint das Thema "Citizenship" in der Verf. der Bahamas (1973) mit den bekannten Elementen: Vermeidung doppelter Staatsbürgerschaft (Art. 11, 12), Stichjahrregelung (1973, gemäß Art. 3) etc.- Als Kapitel 3 Verf. Vanuatu (1980) mit einem scharfen Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft (Art. 13).- Weitere Varianten dieses Modells z.B. in Verf. Equatorial Guinea (1982): 2. Titel (Art. 9 bis 18) mit einem Kapitel über den Status des Ausländers (Art. 16 bis 18) und einem Verfassungsauftrag, die Einwanderung zu erleichtern (Art. 17). Die Verf. Nauru (1968) regelt das Thema "Citizenship" in einem eigenen Teil in Art. 71 bis 76, mit dem bekannten Stichtags-Modell, der tunlichsten Vermeidung doppelter Staatsbürgerschaft (Art. 73, 75 Abs. 3), der Parlamentskompetenz usw. Verf. St. Christopher und Nevis (1983) nimmt sich der Staatsbürgerschaftsfrage in einem eigenen Kapitel an (Art. 90 bis 95); auch hier die Stichtagsregelung (Unabhängigkeitstag, Art. 91, die Tendenz der Vermeidung doppelter Staatsbürgerschaft (Art. 93), Legaldefinitionen. Eine ähnliche Struktur in Art. 20 bis 26 Verf. Solomon Islands (1978).- Die Verf. von Fiji (1990) behandelt in Kap. IV
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
für die "normalen" Verfassungsstaaten der heutigen Entwicklungsstufe gelten. Zum einen ist schon die Terminologie fragwürdig: Der Bürger "gehört" doch nicht dem Staat - wie ein altes Staatlichkeitsdenken dies suggerieren mag. Sodann sollte sich das verfassungsstaatliche Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit öffnen (z.B. durch Zulassung doppelter Staatsangehörigkeiten, durch die Erleichterung von Einbürgerungen "aus Kultur", Stichwort erleichterte Einbürgerung von Gastarbeiterkindern der 2. Generation). Die neue Unionsbürgerschaft in Europa (Art. 8 bis 8 e EGV) ist verfassungs- und europatheoretisch erst noch zu erschließen. Über die Kleinstaaten hinaus hat ein Forschungsprogramm in Sachen "Staatsbürgerschaft im Verfassungsstaat" folgendes zu erarbeiten: (1) An welchen systematischen Stellen der Verfassungen bzw. in welchen Kontexten ist die sog. "Staatsangehörigkeit" geregelt: im Grundlagenteil, im Kontext typischer Staatlichkeits-Artikel zu Staatsgebiet, Flaggen, Hymnen, Wappen, Hauptstadt etc. oder im Grundrechte-Kapitel? (2) Welches sind die inhaltlichen Direktiven, etwa zum ius soli oder zum ius sanguinis, zum absoluten oder relativen Entziehungsverbot, zur Erleichterung doppelter Staatsangehörigkeit im Blick auf sprach- bzw. kulturverwandte Völker? Gibt es hierbei typische Varianten, etwa der Kleinstaaten und Entwicklungsländer, der ehemaligen Kolonien als "neuen" Verfassungsstaaten und den "alten" Verfassungsstaaten (wobei sich die hohe Relevanz des Staats- bzw. Verfassungsverständnisses zeigt)?
(Art. 22 bis 30) die Staatsbürgerschaft: Auch hier die bekannten Elemente: Stichtageregelung bezogen auf 1987 (Art. 22), Registrierung (Voraussetzung u.a. "that he is a person of good character" sowie eines "oath of Allegiance" (Art. 26), "Avoidance of dual citizenship" (Art. 28), Parlamentskompetenzen (Art. 29).- Verf. von Trinidad und Tobago (1976) geht schon in Kap. 2 von Art. 15 bis 21 auf die Staatsbürgerschaft ein, auch hier mit Stichtagsregelung unter Verweis auf die alte Verf. (1962) mit einer Commonwealth-Regelung (Art. 18), Parlamentskompetenzen etc.- Zur deutschen Literatur zur Staatsangehörigkeit: B. Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, 1995, freilich mit einer einseitig "institutionellen" Versteinerung des geltenden Staatsangehörigkeitsrechts, die sich weder verfassungstheoretisch noch rechtsvergleichend halten läßt. S. aber auch H. Quaritsch, Die Einbürgerung der "Gastarbeiter", FS Doehring, 1989, S. 725 ff; M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag der europäischen Union unter besonderer Brücksichtigung des Wahlrechts, DÖV 1993, S. 749 ff.; H.G. Fischer, Die Unionsbürgerschaft, EuZW 1992, S. 566 ff.; A. Zimmermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Staatsangehörigkeitsrecht der Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, EuR 1995, S. 54 ff. Zuletzt: J. Delbrück, Das Staatsvolk und die "Offene Republik", FS Bernhardt, 1995, S. 777 ff; N.I. Goes, Mehrstaatigkeit in Deutschland, 1997; P. Häberle, "Staatsbürgerschaft" als Thema einer europäischen Verfassungslehre, FS M. Heckel, 1998, i.E.
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(3) Zeichnen sich Entwicklungstrends etwa zugunsten der doppelten Staatsangehörigkeit bzw. zur menschenrechtlichen Fundierung der Staatsbürgerschaft ab? Schon dieser typologische Fragenkatalog der Regelungsvielfalt könnte die Umrisse einer "europäischen Verfassungslehre in Sachen Staatsbürgerschaft" erkennbar machen, mit folgenden Thesen: - Der Begriff "Staatsangehörigkeit" ist zu verabschieden und durch die Idee einer "republikanischen Staatsbürgerschaft" zu ersetzen. - lus soli und ius sanguinis sind zwei gleichermaßen vertretbare (auch "mischbare") Anknüpfungspunkte für diese Staatsbürgerschaft, hinter denen in kulturwissenschaftlicher Sicht freilich Tieferes steht: das ius sanguinis vermittelt über die Person mindestens eines Elternteils die den jungen heranwachsenden Menschen prägende kulturelle Sozialisation, während das ius soli an den Geburtsort als kulturell erfüllten Raum anknüpft. - Die Staatsbürgerschaft hat in der Menschenwürde wurzelnde Grundrechtsqualität. - Im Europa der EU relativiert die Unionsbürgerschaft (Art. 8 bis 8 e EGV) die überkommene "Staatsangehörigkeit", insofern sie wesentliche politische Rechte wie das aktive und passive Kommunal-Wahlrecht, das Petitionsrecht und den Weg zum Bürgerbeauftragten nicht mehr nur staatsbezogen sondern EU- bzw. EG-bezogen garantiert (die Jellinek'sche Dreielementen-Lehre ist auch hier zu revidieren). - Die "Europäisierung" des (nationalen) Verfassungsrechts in Europa sollte in Richtung auf großzügigere Ermöglichung doppelter Staatsbürgerschaft vorangetrieben werden: So wie einzelne Staatsbürger z.B. aus "portugiesischsprachigen Ländern" (vgl. Art. 15 Abs. 3 Verf. Portugal) oder aus "iberoamerikanischen Ländern" (vgl. Art. 11 Abs. 3 Verf. Spanien) bei politischen Rechten bzw. in Sachen doppelte Staatsangehörigkeit begünstigt werden, könnten die 15 EU-Mitglieder Öffnungen ihres Staatsbürgerschaftsrechts vorsehen, die dann "europäischen Länder" zugute kommen (das ließe sich langfristig sogar für die Mitglieder des Europarates ins Auge fassen). Das "Goldoni"-Argument, man könne (nicht) "Diener zweier Herren" sein, ist im Verfassungsstaat überholt: weil es hier weder einen noch mehrere "Herren" gibt, sondern nur die von der Menschenwürde ausgehende Demokratie. Dieser programmatische Einschub wurde mit voller Absicht im vorliegenden Kontext piaziert: um einmal mehr darzutun, daß nur eine Verfassungslehre, die die Kleinstaaten und Entwicklungsländer von vornherein in ihr Koordinatensystem einbezieht und als Beispiele des Typus Verfassungsstaat ernst nimmt, heute diesen Namen verdient.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß (4) Allgemeine Ressourcen-Artikel als Kleinstaatsspezifika
Erweisen sich Staatsgebiet bzw. Raum und Grenzen sowie der Mensch als "knappe Ressource" und darum im Kleinstaat schon konstitutionell als regelungsbedürftig, so liegt es auf der Hand, daß es mitunter allgemeine Ressourcen-Artikel gibt, die sich allerdings auch in größeren Entwicklungsländer-Verfassungen finden 58. Spätestens angesichts dieser Texte wird es für die Verfassungslehre unverzichtbar, das Problemfeld "Ressourcen" zu thematisieren, sei es im Zusammenhang mit der Staatsaufgabenlehre 59, sei es im Rahmen eines eigenen Kapitels "Ressourcen des Verfassungsstaates". Wiederum bestätigt sich die These von der Provokation, die die Lehre vom Verfassungsstaat in Einzelfeldern seitens des Typus "Kleinstaat" erfährt, und von der Pionierleistung, die derselbe Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates mitunter schon heute erbringt. Die Ausgestaltung der Ressourcen-Artikel zeichnet sich durch Variationsvielfalt aus: So piaziert die Verf. Kiribati (1979) eine entsprechende Klausel schon in der Präambel: "the natural resources of Kiribati are vested in the people and their government". Die Phosphat-Ausbeutung spiegelt sich in Art. 119 der Verf. Ebenfalls auf der hohen Ebene der Präambel angesiedelt ist der Ressourcen-Artikel in der Verf. der Solomon Inseln von 1978: Unmittelbar nach der Volkssouveränität und den drei Gewalten wird gesagt: "the natural resources of our country are vested in the people and the government of the Solomon Islands" 60 .
58 Art. 124 bis 128 Verf. Guatemala von 1985; Art. 118 bis 123 Verf. Peru von 1979 mit eigenem Kapitel: "Die natürlichen Ressourcen"; bezeichnenderweise auch schon in der kleinen Inselrepublik Irland: Art. 10 Verf. von 1937/1987.- Ein Beispiel fur eine Ressourcen-Klausel in einem klassischen Verfassungsstaat findet sich in der Verfassung von Kanada (1981) Art. 92 A, unter dem Stichwort "Non - Renewable Natural Ressources" (zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 (637)). 59 Dazu meine Verfassungstextanalysen in dem Beitrag: Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. und - für die Entwicklungsländer - in VRÜ 23 (1990), S. 225 (267 ff.); ferner allgemein: H.-C. Link/G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat nach 40 Jahren GG, VVDStRL 48 (1990), S. 7 ff.; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 111 ff.; D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990; J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, HdbStR Bd. III, 1988, S. 3 ff.; D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff.- Zum Ganzen Sechster Teil VIII Ziff. 6. 60 Spezieller geht Verf. Nauru (1968) vor. Art. 83 Abs. 1 lautet: "Except as otherwise provided by law, the right to mine phosphate is vested in the Republic of Nauru." S. auch den "Phosphaf'-Artikel 93.- S. noch Art. 11 Verf. Bahrein (1973): "All natural resources shall be the property of State ...".
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3. Ältere und neuere Klassikertexte und wissenschaftliche Theorien zum Kleinstaat Auch der "Kleinstaat" hat seine Klassikertexte im methodologisch bereits skizzierten Sinne. Sie sind den geschriebenen und ungeschriebenen juristischen Verfassungstexten komplementär, sie werden in den juristischen Detailfragen bewußt oder unbewußt "mitgelesen", und dasselbe gilt für die sich wandelnden wissenschaftlichen Theorien, die mitunter zu Klassikern reifen können. Hier die Fragmente einer Bestandsaufnahme: Den Rang eines Klassikertextes darf die viel zitierte Passage in Jacob Burckhardts "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" beanspruchen: "... Kleinstaat ..., damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen, Bürger im vollen Sinn sind, ein Ziel, wobei die griechischen Polis in ihrer besseren Zeit ... im großen Vorsprung gegen alle jetzigen Republiken bleiben. Kleine Monarchien haben sich diesem Zustand möglichst zu nähern ... Der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Großstaates, selbst dessen Macht, ideal völlig aufwiegt" 61 . Eine weitere klassische Stimme im Chor des "Lobes des Kleinstaats" ist Franz Gschnitzers Beitrag von 1963: "Lebensrecht und Rechtsleben des Kleinstaates"62, mit Sätzen wie: "Im Kleinstaat fallen Staatsbewußtsein und Heimatgefühl zusammen" und, fast prothetisch: "Es (sc. Liechtenstein) schlägt nicht nur geographisch Brücken über den Rhein- den europäischen Strom! -, es schlägt sie auch geistig zwischen europäischer Vergangenheit und Gegenwart und zwischen europäischen Völkern und Rechten"63. Kongenial hat dies G. Batliner weitergedacht in den schönen Worten (1986): "Der Kleinstaat ist eine Art existenzialistisches Gemeinwesen. Er ist eine politische
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Wieder zitiert etwa bei J. Kühne, Zur Struktur des Liechtensteinischen Rechtes, Eine föderative Rechtsordnung, JöR 38 (1989), S. 379 (381 f.).- Vgl. noch das viel zitierte Wort von Clemens von Brentano: "Wo dein Himmel, ist dein Vaduz, ein Land auf Erden ist dir nichts nutz".- Auch von Wilhelm Röpke, dem großen liberalen Nationalökonomen und Europäer, wird eine Schwäche für die kleinen, friedlichen Staaten Europas überliefert. 62 F. Gschnitzer, Lebensrecht und Rechtsleben des Kleinstaates, Gedächtnisschrift L. Marxer, 1983, S. 19 ff. 63 S. noch A. Riklin, Liechtensteins politische Verfassung als Mischverfassung, in: Kleine Schriften 11, Liechtenstein-Institut, 1987, S. 20 ff; s. auch A. Waschkuhn, Zur Bedeutung der Monarchie für Liechtenstein, Liechtensteinische Juristenzeitung 1989, S. 41 ff.; ders., Die Mischverfassung Liechtensteins, Liechtensteinische Juristenzeitung 1989, S. 9 ff.; P. Geiger/A. Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein: Kleinheit und Interdependent 1990; G. Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921, 1994.
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Nation, eine civitas" 64 , und derselbe Autor formuliert 1989 65 : "So ist der Kleinstaat dank seiner Dimension besonders geeignet, die Einzelperson zur Geltung kommen zu lassen... So ist der kleine Staat auch ein Element des Friedens ... Ich denke auch an das alternativisch Kleine... An der Erhaltung des Kleinen muß Europa ein Interesse haben". Den besonderen Reichtum des Kleinstaates charakterisiert G. Batliner durch vier Strukturelemente: der Kleinstaat 1. als Ordnungseinheit der Geltung der Person, 2. als Friedensordnung, 3. und 4. als Lebenseinheit internationaler Solidarität und Kommunikation 66 ; er deutet sogar den schönen Gedanken an: "Je mehr das Recht im Menschsein angelegt ist und einem jeden Menschen zusteht, stellt sich das Thema von Kleinheit und Interdependenz gar nicht 67 . Und G. Malin formuliert - und praktiziert - den Satz: "Um dem Staat Liechtenstein nach innen und außen Glaubwürdigkeit zu verleihen, ist Kulturpolitik eine wesentliche Voraussetzung" 68. Schließlich sei J. Kühne erwähnt, der für Liechtenstein drei Thesen belegen kann: Rechtsordnungen sind stets auch in territorialen und nationalen Grenzen in ein umfassenderes Netzwerk eingebunden, Liechtenstein hat eine föderativ gewachsene Rechtsordnung, Liechtenstein stellt ein Modell einer europäischen Rechtsintegration dar 69 . Lassen wir "Gegenklassiker" zu Wort kommen, etwa einen Freiherrn vom Stein, der ganz im Bann der deutschen "Kleinstaaterei" des 19. Jahrhunderts sagte70: "die Verengung des Blicks, die Lähmung des Charakters, das Kleinliche und Spießbürgerliche in ihnen, das Fehlen großer allgemeiner Interessen
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G. Batliner, Liechtenstein - ein Staatsrechtliches und politisches Portrait, 1986. Viel Kleinstaaten-Literatur (über Liechtenstein hinaus) enthält die G. Batliner gewidmete Festschrift "Kleinstaat und Menschenrechte", 1993. Vgl. zuletzt: R. Kellenberger, Kultur und Identität im Kleinen Staat, 1996. 65 G. Batliner, Liechtenstein und die europäische Integration, 1989, S. 29 f. 66 G. Batliner, Strukturelemente des Kleinstaates - Grundlagen einer liechtensteinischen Politik - ein Versuch, in: Liechtenstein, Politische Schriften, 2. Aufl. 1977, S. 11 (16 ff). S. auch W. Hoop, Die Auswärtige Gewalt nach der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, 1995. 67 So G. Batliner, Die Liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention, Liechtensteinische Politische Schriften Bd. 14 (1990), S. 91 (174). Allgemein: W. Höfling, Die liechtensteinische GrundRechtsordnung, 1994; M Batliner, Die politischen Volksrechte im Fürstentum Liechtenstein, 1993. 68 G. Malin, Zur liechtensteinischen Kulturpolitik, in: Liechtenstein, Politische Schriften, 2. Aufl. 1977, S. 31 (36); s. auch dersKunst zur kulturellen Selbstdarstellung, in: NZZ vom 10. Sept. 1990 Nr. 209 (Liechtenstein), S. 24. 69 J. Kühne, aaO, S. 381 f. 70 Zit. nach A. Waschkuhn, Strukturbedingungen des Kleinstaates und ihre Auswirkungen auf den politischen Entscheidungsprozeß, 1992; ders., Der Kleinstaat in globaler Sicht, 2. Aufl. 1991.
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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und als Folge davon das Mangeln des Gemeingeistes, der gründlichen politischen Bildung, der großen öffentlichen Meinung, des umfassenden praktischen Verstandes." A. Waschkuhn hat mit Recht an diesen Text erinnert, und wir fügen das von ihm ebenfalls zitierte Wort eines englischen Titels (1984/85) "Small is beautiful but vulnerable" bzw. "dangerous" hinzu. Α. Waschkuhn spricht anschaulich von einem "Abhängigkeitsdilemma" des Kleinstaates71. So müssen auch Gefahren bedacht sein. Beispielsweise wurde von der Schweiz aus im Blick auf die Schweiz gesagt, die europäische Perspektive sei für den freiheitlichen Kleinstaat eine "schwerwiegende Herausforderung" 72. All diese Aussagen bilden ein Ensemble von Klassikern und Gegenklassikern, von i.S. Poppers vorläufigen wissenschaftlichen (Hypo)Thesen und Gegenthesen, die in jeder Verfassungstheorie des Kleinstaates als kultureller Kontext mitbedacht sein müssen. Daran wird hier aus methodologischen Gründen erinnert. Denn all diese Vorverständnisse und Vor-Urteile steuern ja unsere juristischen Wertungen und Interpretationen mit. Eine Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Theorien im einzelnen ist hier freilich nicht möglich. Vielleicht sei aber angemerkt, daß sich der Wertungsrahmen, das Pro und Contra in Sachen Kleinstaat seinerseits wandelt: Wurde im 19. Jahrhundert vor allem auf der Folie des (großen) Nationalstaates geurteilt, so scheinen heute die "Weltgesellschaft", die "Makroweit" und die regionale Vergemeinschaftung der Staatenwelt z.B. in Europa, ihre Zwänge und Entwicklungen zum geänderten Bezugspunkt zu werden. Es dürfte nicht nur eine Werbung in eigener Sache sein, wenn der Monarch Hans Adam II. von und zu Liechtenstein in der deutschen Wochenzeitung "Zeit" äußert: "Staatengrößen sind Modeerscheinungen wie die langen oder kurzen Röcke der Damen. Wir werden bald wieder eine Renaissance der Kleinstaatlichkeit erleben" 73 . Zukunft hat das Wort des niederländischen Historikers J. Huizinga: "Die Existenzmöglichkeit des Kleinstaates ist ein Indiz für die Gesundheit der völkerrechtlichen Beziehungen als Gan-
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A. Waschkuhn, aaO. So T. Pfisterer, Von der Freiheit- nach der Revolution in Osteuropa, ZSR 1131 (1990), S. 339 (359 f.). 73 Die Zeit Nr. 46 vom 9. November 1990, S. 99 f.; s. auch die Äußerung von G. Batliner (zit. nach FAZ vom 16. März 1990, S. 10): "Im Innern" (Liechtensteins) sei noch die "Wärme und Nähe des Kleinen" zu finden. 74 Zit. nach NZZ vom 677. Okt. 1990, S. 91. 72
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 4. Elemente und Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Verfassungstheorie des Kleinstaates, seine strukturelle und funktionelle Offenheit, Bedingtheiten und Möglichkeiten
Der Kleinstaat ist ein aus vielen beweglichen Elementen konstituiertes offenes Ensemble. Er zeichnet sich durch strukturelle und funktionelle Offenheit aus. Der Kleinstaat läßt sich in seiner Zugehörigkeit zum Typus Verfassungsstaat, aber auch in seinen Eigenheiten nicht in ein statisch-starres Begriffskorsett zwingen; er läßt sich auch nicht "rein juristisch" umschreiben. Erforderlich ist vielmehr ein offener Ansatz: Eine Vielzahl von verschiedenen Elementen und Aspekten, Perspektiven und Dimensionen, die ihrerseits im Zusammenspiel variabel sind, macht den Kleinstaat ideell und realtypisch aus und zu einem flexiblen Ganzen. Vor allem kann er nur kulturwissenschaftlich erfaßt werden. Im folgenden seien die wichtigsten Facetten herausgearbeitet, die den Kleinstaat zwar voll ins Kraftfeld des Verfassungsstaates rücken, doch auch von dessen normalen, d.h. "größeren" Beispielen unterscheiden. Zugleich rückt der dreifache Modellcharakter des Kleinstaates ins Blickfeld: eine Trias, in der sich seine Bedingtheiten, aber auch seine Möglichkeiten spiegeln. a) Die persönliche Seite (das intensivierte
Näheverhältnis Bürger/Staat)
Stichwort ist die gesteigerte Grundrechtswirklichkeit, aber auch Ressourcenknappheit. Die Massendemokratien und großräumigen Flächenstaaten (klassisch: die USA) haben ihre von der traditionellen Staatslehre oft geschilderten Grundrechts» und Demokratie-, Organisations- und Integrationsprobleme, die sie u.a. mit besonderen Partizipationsinstrumenten, mit Dezentralisierungsstrukturen von der kommunalen Selbstverwaltung über den Regionalismus bis hin zum Föderalismus lösen wollen. Die Frage ist, ob und wie der durch die geringe Zahl seiner Bürger und damit sein kleines Volk und oft auch durch die Kleinheit seines kultivierten Raumes gekennzeichnete Kleinstaat die Grundprobleme des "normalen" Verfassungsstaates variiert, d.h. das Staat/Bürgerverhältnis, das Verhältnis von Menschenwürde sowie Grundrechten und Demokratie. Die klassische Staatselementenlehre G. Jellineks behält ihr relatives Recht, aber sie ist verfassungstheoretisch zu überdenken - es gibt nur so viel Staat wie die Verfassung konstituiert -, und sie ist vor allem kulturwissenschaftlich anzureichern: Die Kultur der Verfassung ist das übergreifende Ganze, in dem Volk und Staat, Raum und Recht ihren Platz haben. Wie der größere Verfassungsstaat so baut sich seine Beispielsgruppe "Kleinstaat" von der Menschenwürde her auf, um von ihr bzw. den privat und politisch verstandenen Grundrechten her zur Demokratie - spätestens seit der
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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KSZE-Charta von Paris (1990) die einzige Regierungsform -, zu führen. So schwer es bis heute ist, Individuum und Gemeinschaft zugleich zu denken: im modernen Verfassungsstaat bildet die Menschenwürde des einzelnen den archimedischen Punkt, die kulturanthropologische Prämisse von Recht und Staat. Zugleich politisch verstanden, führt sie notwendig zur pluralistischen Demokratie. "Volksrechte" sind nur die andere Seite der aus der Menschenwürde des einzelnen entfalteten und weiterentwickelten Grundrechte. Was bedeutet all dies für den Kleinstaat? Wenn nach I. Kant der Staat eine "Menge Menschen unter Rechtsgesetzen" ist, so heißt diese auf den Kleinstaat bezogen: eine kleine Menge Menschen auf zumeist kleinem Gebiet, jedenfalls in einem Raum, für den intensive Näheverhältnisse charakteristisch sind. Die verfassungsstaatliche Raumtheorie ist hier einzubringen. "Kleinstaatsbürger" und kleines Kleinstaatsvolk sind sich und den Staatsftinktionen in ihrer Grundrechtswirklichkeit näher als in den "normalen" Verfassungsstaaten, an denen die klassische allgemeine Staatslehre und die Verfassungslehre ihre Grundfragen und Methoden diskutieren. Eigentlich wäre es notwendig, die wichtigsten Staatstheorien im deutschsprachigen Raum, besonders die modernen Klassiker H. Heller und R. Smend, auf den Kleinstaat hin zu buchstabieren: etwa die spezifischen Anforderungen an die Organisation ebenso wie besondere Möglichkeiten der Integration 75 . Das ist hier nicht möglich. Genügen müssen Stichworte: Die Integrationsvorgänge zwischen Staat und Bürger können im Kleinstaat intensiver sein. Angesichts oft (heute vor allem ökonomisch und kulturell) bedrohender größerer Nachbarstaaten werden die Integrationselemente und gegenstände, mit denen sich der Bürger des Kleinstaates für die Selbstbehauptung identifizieren kann, aber auch wichtiger. Symbolvorgänge wie gelebte Feiertage, - Liechtenstein illustriert diese Möglichkeiten gut -, aber auch erfahrbare Symbole wie Staatsflagge und Hymne werden besonders wichtig. Im staatsorganisatorischen Bereich lassen sich wohl viele Aufgaben und Chancen, die im Verfassungsstaat den Kommunen, im Bundesstaat den Gliedstaaten (bei uns in Deutschland etwa die Stadtstaaten Hamburg und Bremen) und im "Europa der Regionen" den Regionen zugedacht werden, für den Kleinstaat in Anspruch nehmen: Demokratie von unten nach oben, Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl, Bürgernähe der Staatsftinktionen, aktive Teilhabe im überschaubaren Raum "Heimat". Was sich im größeren Verfassungsstaat schwer bilden läßt: Heimatgefühl und Staatsbewußtsein, das hat im Kleinstaat besondere Chancen.
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H. Heller, Staatslehre (1934), 6. Aufl. 1983; R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 ff. 8 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Die räumliche Enge des Kleinen, die Nähe der Grenzen bzw. der Nachbarn, die geringere Zahl der Mitbürger vermittelt dem Kleinstaat zumal heute in der einen weltweiten Kommunikationsgesellschaft mit dem Verfassungsstaat als tendenziell universalem Freiheitsgefüge und humaner Ordnungsstruktur in eigentümlicher Dialektik ein spezifisches Element der Offenheit, auch Angewiesenheit auf andere Verfassungsstaaten und internationale Organisationen. Darauf ist zurückzukommen, zumal es in dem zusammenrückenden Europa "der Kommunen und Regionen" paradigmatische Bedeutung hat. An dieser Stelle ist der erste Grund zu nennen, weshalb dem Kleinstaat Modellcharakter zukommt: er bildet eine verfassungsstaatliche Struktureinheit, die der größere Verfassungsstaat durch regionale und föderative Strukturen "nachahmt" bzw. tendenziell heute immer mehr zu erreichen sucht. Der Unterschied zwischen den größeren Staaten- und den Kleinstaaten relativiert sich in gewisser Hinsicht: Jene suchen "Verkleinerungs-" bzw. Gliederungsformen, die dem Kleinstaat und seinen Positiva ein Stück weit entgegenkommen; der Kleinstaat seinerseits fügt sich in größere konstitutionelle Zusammenhänge - etwa Regionen, (Kon)Föderationen, internationale Organisationen - ein, um sich ein Stück "größer" zu machen. An dem Fallbeispiel Liechtenstein läßt sich dies gut studieren: man denke an seine Staatsverträge mit der Schweiz, seine Einbindungen in Regionalzusammenhänge mit den Nachbarn, seinen Beitritt zum Europarat (EMRK), ja jüngst zur UNO. Diese wechselseitige Annäherung der kleinen und größeren Verfassungsstaaten scheint paradox. Sie ist aber nur Ausdruck einer Dialektik von Begrenzung und Öffnung einerseits, von globalen Entwicklungen andererseits: Die Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten intensiviert sich, weil die eine Welt des "blauen Planeten" Erde enger zusammenrückt bzw. kleiner geworden ist und insofern - überspitzt formuliert - alle Verfassungsstaaten mehr oder weniger "Kleinstaaten" zu werden beginnen. b) Kulturelle Rezeptionen, insonderheit des Rechts (Chancen und Leistungen) Die Kleinheit an Volk und meist auch an Raum, die spürbare Umgrenzung und Beschränkung und die ebenfalls mit der kleinstaatlichen Struktur zusammenhängende Knappheit kultureller Ressourcen ganz allgemein zwingt die hier behandelte Beispielgruppe des Verfassungsstaates, den Kleinstaat, zu einer spezifischen Offenheit und Öffnung nach außen. Die kulturelle Rezeption einschließlich der Rezeption fremder Rechte und ihre Anverwandlung zu einem eigenwüchsig werdenden Ensemble von "Mischrecht" bildet das zweite Signum des Kleinstaates. Und sie ist zugleich modellhaft für neueste Entwicklungen aller Verfassungsstaaten: ihre wachsende Integrierung in einen Verbund anderer Verfassungsstaaten und das Entstehen gemeinsamer Rechtsordnungen
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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(Rechtsgemeinschaften), man denke an das Europarecht im engeren Sinne (EG), aber auch an das im weiteren Sinne (Europarat, EMRK, ESC, Europäisches Kulturabkommen und die Europäische Charta der Kommunen, die OSZE) bzw. ihre alle klassischen Souveränitätsideologien hinter sich lassenden überstaatlichen Zusammenschlüsse. Die schon beschriebene Dialektik von Begrenzung und Öffnung, von "Grenze und Brücke", von Beschränkung auf das Kleinere und Offenheit fur das Größere ist auch hier nachweisbar. Was im großen immer deutlicher zu einer Dimension heutiger Entwicklungen des weltweit attraktiv werdenden Verfassungsstaates wird, hat der Mikrostaat im Kleinen schon "vorgemacht". Es ist zu vermuten, daß manche seiner Rezeptionsvorgänge, -inhalte und -funktionen Vorbildwirkung für den Verfassungsstaat im allgemeinen entfalten können. Umgekehrt vermag der Kleinstaat von heute seine Rezeptionsmethoden an den Integrationsvorgängen der größeren Verfassungsstaaten zu schulen, vor allem sollte er sich tunlichst in übernationale Rechtsgemeinschaften einbringen - wie dies Liechtenstein ja plan- und zielmäßig gelingt. Leitbild ist bei all dem der "kooperative Verfassungsstaat", d.h. der von vornherein verflochtene und auf vielfältige Kooperation angewiesene Verfassungsstaat; er besitzt im (konstitutionellen) Kleinstaat nur ein besonders anschauliches Beispiel 76 . Rezeptionen sind ganz allgemein ein typischer Vorgang des Entstehens, Verbreitens, Weiterwachsens und auch der Umformung und Variation der Aneignung von Kultur. Sie müssen zentraler Gegenstand allen kulturwissenschaftlichen Arbeitens sein. Hier kann nur ein Ausschnitt behandelt werden: die Rezeption von fremden Rechtsordungen, ganz oder in Teilen. Wie erwähnt, entwickelt sich der Typus Verfassungsstaat heute in weltweiten Produktionsund Rezeptionszusammenhängen, die sich auf Verfassungstexte, Verfassungsdogmatik und -Rechtsprechung beziehen, aber auch auf Prinzipen des einfachen Rechts, ganze Kodifikationen oder einzelne Gesetzeswerke erstrecken. Eine Rezeptions-Theorie in diesem Sinne ist erst im Werden 77 . Immerhin kann schon auf einige Problemformulierungen verwiesen werden: Rezeptionen von Rechten sind zunächst passiv, sie haben aber auch eine aktive und aktivierende Komponente, vor allem entwickelt das Rezipierte im neuen, fremden Kontext eigene Inhalte und Funktionen etc. Der Kleinstaat ist spezifisch auf Rezeptionen angewiesen, er vermag sich so besser zu behaupten, aber zugleich in größere Rechtszusammenhängen einzu76 Zum kooperativen Verfassungsstaat meine gleichnamige Arbeit, in: P. Häberle, Verfassung als offener Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 407 ff., sowie unten VII. 77 Dazu etwa der Band U. Battis/E.G. Mahrenholz/D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, und darin besonders die Diskussion mit eigenen Beiträgen des Verf., bes. S. 251 f., 259 f.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
fügen. Er greift das Nahe, besonders der Nachbarn auf, aber er macht es zur eigenen Sache, verwandelt es und schmilzt es meist so ein, daß seine Rechtsordnung im ganzen nach wie vor diejenige Integrationsleistung erbringt, die etwa ein H. Heller von der Rechtsordnung für den Staat verlangt 78 . So kommt es zu der hier und heute zitierten "Adaption und Innovation", zur Offenheit und Identitätsgewinnung. Die offene Gesellschaft des Kleinstaates verschafft sich dank fortlaufender Rezeptionen ein Stück der eigenen unverzichtbaren kulturellen Identität. Rezeption als Integration, Innovation dank Adaption sind Stichworte. Der Kleinstaat macht aus seiner Not eine Tugend. Da er nicht über die Quantität von Personen und all das verfügen kann, was den größeren Verfassungsstaat primär aus Eigenem, häufig genug auch aus Fremdem an Recht schaffen läßt ("knappe Ressource Recht"), bedient er sich fremder Vorarbeiten und Vorleistungen: er rezipiert Recht und reproduziert es "im Laufe der Zeit". Rezeption wird hier in einem sehr weiten Sinne verstanden, sie begegnet in vielen Formen und Abstufungen. So ist für die aus der Dekolonisation entstandenen Kleinstaaten typisch, daß sie noch stark durch die Verfassung und Rechtsordnung der alten Kolonialmacht geprägt sind: man denke an die Mikrostaaten des englischen Commonwealth und die Frankreichs, auch Spaniens etc. Mitunter läßt sich dies schon verfassungstextlich belegen79. Eine zweite Form sind die Rezeptionen, die andere Mikrostaaten im Blick auf ihre Nachbarn vornehmen. Liechtenstein ist hierfür in bezug auf Österreich und die Schweiz, auch Deutschland ein gutes Beispiel. Im übrigen gibt es eine reiche Skala von Rezeptionsformen. Sie reicht von intensiver Teil- oder Totalrezeption von Gesetzeswerken bzw. Rechtssystemen über die Rezeption einzelner Verfassungsprinzipien oder Rechtsinstitute bis hin zur lockeren Form von Vertragsabschlüssen oder Konföderationen. Freilich spielen sich produktive Rezeptionsvorgänge nicht nur auf der Ebene der Rechtssetzung ab. Nicht minder wichtig ist die Rezeption auf wissenschafitlich-dogmatischer und richterlicher Ebene. In diesen Zusammenhang gehört die Aufwertung der Rechtsvergleichung zur "fünften" Interpretationsmethode80. Überdies seien die Aktivitäten genannt, die einzelne Gelehrteingruppen) bei nationalen Verfassungs- oder Gesetzesvorhaben als Sachverständige oder Gutachter entfalten. So ist bekannt, daß sich eine rumänische Delegation (1991) bei den Autoren des privaten Verfassungsentwurfs Kölz/Müller (1984/90) in der Schweiz Rat holte. So hat sich Spanien im Prozeß seiner Verfassunggebung 1977/78 der Hilfe deutscher Staatsrechtsrechtler 78 79 80
H. Heller, Staatslehre, aaO, S. 216 ff., 238 ff. Vgl. oben 2 a aa). Dazu Fünfter Teil IV.
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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bedient, und so durfte sich der Verfasser vor 7 Jahren zum Verfassungsentwurf des Kantons Tessin 81 und im Juni 1991 vor dem Verfassungsausschuß des Sejm in Warschau zu dessen Verfassungsentwurf äußern. Eine auffallige Form ist die Berufung ausländischer Richter in das Verfassungsgericht. Sie geschieht in einer kaum zu überschätzenden Weise in Liechtenstein, ist in Art. 105 seiner Verfassung im Grunde angelegt und sie darf 82
wohl uneingeschränkt gerühmt werden, auch als Vorbild für andere kleine Verfassungsstaaten. A l l diese theoretischen Überlegungen zur Rezeption können insgesamt am Fallbeispiel Liechtenstein illustriert werden. Die Wissenschaft hat darauf früh hingewiesen83. So sind Teile seiner Rechtsordnung Österreich zu verdanken, andere der Schweiz, manche der Paulskirche und dem deutschen Frühkonstitutionalismus. Jüngst strahlt die europäische Rechtsordnung z.B. qua EMRK ins Liechtensteinische Recht aus 84 , und vieles deutet daraufhin, daß Liechtenstein an der Entwicklung von "Gemeineuropäischem Verfassungsrecht" passiv und aktiv teilhat. Sich der Kunst und Wissenschaft des Rezipierens bewußt und intensiv bedient zu haben, bildet eine besondere Leistung dieses Kleinstaates. Dies ist um so mehr zu würdigen, als Liechtenstein sich das Rezipierte schöpferisch anzueignen verstand 85. Die Integrierung fremder Richter in den StGH ist ebenso kühn wie vorbildlich. Sie bedeutet eine personale, institutionalisierte Form der Verfassungsrechtsvergleichung, ihrer Indienstnahme als "fünfter" Auslegungsmethode. Nicht nur hier ist Liechtenstein pionierhaft. Was auf europäischer Ebene in den aus vielen Nationen zusammengezogenen Richtergremien wie EGMR und dem EuGH transnational stattfindet, hat Liechtenstein als Kleinstaat national gewagt. In dem Maße, wie sich ein "gemeineuropäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht" herausbildet und eine "Europäisierung der
81 Dazu der von M. Borghi herausgegebene Band: Costituzione e diritti sociali, 1990, S. 99 ff. Zuletzt J-.F. Aubert/M. Borghi u.a., La revisione totale della costituzione ticinese, 1996. 82 Aus der Lit.: D. Thürer, Gute Erfahrung mit "fremden" Richtern, in: NZZ Beilage Liechtenstein Nr. 209 v. 10. September 1990. 83 F. Gschnitzer, in: Gedächtnisschrift L. Marxer, 1963, S. 19 (27 ff., 32 ff.); s. auch J. Kühne, Zur Struktur des Liechtensteinischen Rechtes, JöR 38 (1989), S. 379 (400 f., 408). 84 Zu alledem G. Batliner, Die Liechtensteinische Rechtsordnung und die EMRK, Liechtensteinische Politische Schriften, Bd. 94 (1990), S. 91 (114, 131, 133 ff., auch 160 ff.). 85 Vgl. J. Kühne, aaO.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 86
nationalen Verfassungsgerichte" im Gange ist, könnte das Modell Liechtenstein hier Vorreiter sein. Vielleicht sitzen eines Tages spanische Richter in Karlsruhe und deutsche in Rom - ein Traum, aber einer, den es zu träumen lohnt 87 ! c) Kleinräumigkeit und geringe Bevölkerungszahl als kulturanthropologische Determinanten des Kleinstaates (Ressourcenknappheit) Schon die Verfassungstextanalyse hat ergeben, daß der Kleinstaat sich durch eine detaillierte Fixierung des Staatsgebietes und seiner Grenzen auszeichnet, auch wenn die wissenschaftliche Literatur gegenüber der gebietsmäßigen Größe als Merkmal eher skeptisch ist und lieber die Bevölkerung zum Unterscheidungskriterium wählt. Es gibt anschauliche Textbeispiele dafür, daß das Staatsgebiet in den klassischen Symbol-Artikeln - neben Sprache, Hymnen, Flagge seinen hervorgehobenen Platz hat und daß Gebietsabtretungen entweder ganz ausgeschlossen oder nur unter erschwerten Bedingungen (2/3 Mehrheit) möglich sind. Mitunter werden Wirtschaftszonen bzw. durch eine etwaige Insellage bedingte Zonen u.ä. schon verfassungstextlich festgelegt. A l l dies zeigt, daß Gebiet bzw. Raum als constituens des Kleinstaates der hohe Stellenwert schon vom Verfassungstextgeber eingeräumt wird, der ihnen im "Kleinstaat" naturgemäß zukommt. Ohne derartige Textaussagen zu Gebiet und Raum verabsolutieren zu wollen, sei doch im Kontext der geringeren Bevölkerungszahl von "Kleinstaaten" an dieser Stelle eine kulturelle Verfassungstheorie des - bewohnten - Raumes skizziert. Sie gilt ganz allgemein für den Typus Verfassungsstaat, besitzt aber bei Kleinstaaten ihre spezifischen Ausformungen.
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Dazu mein Beitrag: Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: EuGRZ 1991, S. 261 ff. sowie die Fortschreibung in R. Bieber/R. Widmer (éd.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 361 ff. Dabei kann es auch subtile Formen geben: so wenn vier der ungarischen Verfassungsrichter derzeit (1991) Humboldt-Stipendiaten sind (FAZ vom 11. Sept. 1991, S. 2), wodurch sie das deutsche Verfassungsrecht besonders studiert haben. 87 Rechtspolitisch ist wohl zu empfehlen, daß ein Kleinstaat sich nicht nur auf einen einzigen "Rezeptionspartner" festlegt, sondern versucht, die jeweils besten Gesetze, Kodifikationen, Verfassungsprinzipien zu übernehmen, sofern der "Kultursprung" nicht zu groß ist. Die Maxime dieses "Pluralismus der rezipierten Rechtsquellen" hat Liechtenstein mit seinen Anleihen in der Schweiz, Österreich und Deutschland in seiner bisherigen Geschichte denkbar glücklich praktiziert.
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d) Vorüberlegungen: die Verfassungslehre im Gespräch mit Geowissenschaften Die Verfassungslehre ist von vorneherein darauf angewiesen, sich die von vielen Einzelwissenschaften aufbereiteten Materialien zu integrieren. So "selbständig" sie dabei bleiben muß, so offen sollte sie gleichwohl sein. Das gilt für ihr Verhältnis z.B. zur Nationalökonomie und eben auch - im Blick auf Gebiet und Raum - in bezug auf die hierfür primär zuständigen Disziplinen: die (politische) Geographie, die Geopolitik und sog. Raumforschung. Das interdisziplinäre Gespräch steht hier noch am Anfang. Der Gegenstand der "Politischen Geographie" wird wie folgt umschrieben 88: "Entscheidungen und Handlungen innerhalb eines politischen Systems, soweit sie aufgrund räumlicher Gegebenheiten zustande kommen und/oder räumliche Auswirkungen haben". Als Begründer der modernen politischen Geographie gilt F. Ratzel mit seinem Begriff der "Anthropogeographie" (1897), Klassiker der Geopolitik sind R. Kjellen (1905) ("Die Geopolitik ist die Lehre über den Staat als geographischen Organismus oder Erscheinung im Raum") und - umstritten - K. Haushofer, ein Vorläufer der NS-Geopolitik, die 1945 zusammenbrach 89. Die Raumforschung begreift als ihr "Gegenstandsgebiet" den "durch die Natur dargebotenen bevölkerten und durch das menschliche Wirken veränderten Raum", als ihren "Gesichtspunkt der Betrachtung" dessen "optimale Nutzung und ordnende Gestaltung". Verlangt wird vor allem, den Komplex "Raum und Bevölkerung" zu behandeln, d.h. neben der Zahlenrelation "Bevölkerungscharakter und Kulturzustand, soziales Gefüge und politische Ordnung". Zu recht wird eine "richtungsweisende Gesamtkonzeption für die zu erstrebende räumliche Ordnung des Staatsgebietes" angemahnt90. Aus fast unerwarteter Richtung kam ein einschlägiges Stichwort: Frankreichs Präsident F. Mitterrand sprach von einer von ihm gewünschten neuen "Mengenlehre der Geopolitik", wonach im Norden und Osten Europas ein "Zentralkörper" als "solider" Pol bestehen solle 91 . 88 K.-A. Boesler, Art. Politische Geographie, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Bd. 4, 7. Aufl. 1988, Sp. 540 ff. 89 Vgl. K.H. Olsen, Art. Raumforschung, in: Handwörterbuch zur Raumforschung und Landesplanung, Bd. II. 2. Aufl. 1970, Sp. 2447 ff.- Jüngst machte der alte Begriff "Geopolitik" von Frankreich aus erneut Karriere, dazu R. Walther, Man braucht mehr Platz, in: Die Zeit vom 21. Juli 1995, S. 28; A. Bolaffi, Das lateinische Reich, Die Wiederkehr der Geopolitik, FAZ vom 31. Okt. 1995, S. Ν 6; D. Diner, Denker des Raumes, Feind der Zeit, Vor 50 Jahren starb der Geopolitiker K. Haushofer, FAZ vom 25. März 1996, S. 31; M Cacciari, Geo-Filosofia dell' Europa, 2. Aufl. 1994. 90 So G. Müller, Art. Raumordnung, in: E.v. Beckerath u.a. (Hrsg.), HdSW, 8. Bd. 1964, S. 684 (685 f.). S. auch noch A. Benzing u.a., Verwaltungsgeographie, 1978, S. 5 ff. ("Wechselwirkung zwischen Verwaltung und Raum"). 91 Zit. nach FAZ vom 13. Sept. 1991, S. 5.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß e) Theoretische Perspektiven des Raumes
Bislang fehlt eine Verfassungstheorie des Raumes. "Raum" ist als Begriff besetzt und belastet durch die Raumideologie des Faschismus, durch "Landnahmen" im Osten Deutschlands, aber auch im Westen der USA; er besitzt heute Fortsetzungsideologien in interplanetarischen Filmen. Carl Schmitt hat dem Zeitgeist der NS-Jahre gemäß raumideologisch gearbeitet. Die neuere Literatur ist spärlich 92 . Das überrascht 93. Denn die kommunale Gebietsreform hätte ähnlich wie die Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 GG) eine Diskussion um den verfassungstheoretischen Stellenwert des Raumes provozieren müssen (parallel zur Kategorie "Zeit"). Daher ist ein Wort zur kulturwissenschaftlichen Grundlegung geboten. Die politische und kulturelle (und damit auch kulturpolitische) Bedeutung des Raumes prägt seit alters Leitbegriffe des politischen Denkens: zu erinnern ist an "polis" und "urbs" oder an den "Territorialstaat" (moderne Staatlichkeit wurde über das Territorium definiert), an "Heimat" und "Heimaterde", aber auch an "Blut" und "Boden", nicht zuletzt an die Bedeutung der räumlich konkretisierten Stadt, wie sie in manchen Redewendungen anklingt (z.B.: "Stadtluft macht frei", die Mauern- und Toremethaphorik, all das, was mit Forum und Marktplatz zusammenhängt).
92 C Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, 1939, S. 12-15: der Boden des seßhaften Volkes sei von den jüdischen Rechtsgelehrten zur Kompetenzsphäre denaturiert worden; S. 33: Raum und politische Idee lassen sich nicht trennen, es gebe keine ideenlosen Räume; S. 69 ff: das Reich als Großraum, S. 83: Staat als Raumordnung. Anders allerdings ders., Staat, Bewegung, Volk, 1934: Staat, Bewegung und Volk seien die konstitutiven Merkmale des (faschistischen, Zusatz vom Verfasser) Staates, S. 13 ff. Eher kritisch gegenüber dem Raumgedanken R. Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1974, S. 222 f.: Domizilierung im Gebiet als Möglichkeit der Staatsangehörigkeit; grundsätzlich allerdings sieht Grawert als die konstitutiven Merkmale von Staatsangehörigkeit Beständigkeit, Ausschließlichkeit und Effektivität an, S. 232 ff.; interessant allerdings die Funktion des Landes (also des Raumes) als Angehörigkeitsrahmen in der historischen Retrospektive, S. 78 ff.- Zur Bedeutung des Raums aus historischer Sicht G. Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: ständische Verfassung, landständische Verfassung und landschaftliche Verfassung, in: ZS f. hist. Forschung 6 (1979), S. 63 (75 ff.).- Zum "völkerrechtsdogmatischen Defizit" in bezug auf den Raum: O. Kimminich, Volksgruppen als Bausteine eines neuen Europas, in: Sudetenland 1979, S. 171 (178 ff.). 93 Gegen den "Gebiets-Naturalismus" (H. Kelsens): R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 169. Ebd. S. 168, schon zum Lebensraum als integrierendem Sachgehalt der staatlichen Gemeinschaft.
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Auf sehr allgemeiner Ebene betrachtet ist der Raum eine Grundstruktur des Seins, ebenso wie die Zeit 9 4 . Nach I. Kant 95 ist der Raum eine Form der Anschauung. Konkreter, anthropologisch gefaßt, begründet die Physis des Menschen seine Räumlichkeit. Die Raumgebundenheit und Raumbezogenheit des Menschen spiegelt sich wider in der starken Tendenz, in räumlichen Metaphern zu denken 96 . Eine hervorragende Eigenschaft des Raums besteht in seiner Fähigkeit, als (politisches) Ordnungsprinzip zu wirken. Komplexität kann durch Verteilung im Raum aufgegliedert und übersichtlich gemacht werden. Grundlegend für die anthropologische Bedeutung des Raumes ist, daß er sich weder im naturwissenschaftlichen noch im geographischen Raum erschöpft. Der Raum des Menschen ist mehrdimensional: neben der geographischen entwickelt sich die soziale Dimension 97 ; der soziale Raum kann sich von einer geographischen Basis lösen und verschieben; es kann mehrere soziale Räume auf dem gleichen Territorium geben; der soziale Raum kennt andere Wege und andere Hindernisse ("soziale Barrieren") als der geographische; man denkt in Begriffen von "sozialer Distanz" und "sozialer Mobilität". Der soziale Raum hat mehrere untereinander verflochtene Bereiche: Die wirtschaftliche Dimension ist sicherlich jedem präsent, die religiöse Dimension besitzt eine uralte Tradition und war schon früher eine Größe, die den Zusammenhalt eines sozialen Raumes jenseits von Sprache und Verwandtschaft aus-
94 Es gibt M Heideggers "Sein und Zeit", soweit ersichtlich aber kein vergleichbares Werk "Sein und Raum"; grdlgd. aber M Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1967, S. 127 ff.: "Das kollektive Gedächtnis und der Raum". Der Begriff ist jetzt zum Verfassungstext "geronnen": vgl. Art. 81 Abs. 2 Verf. Paraguay (1992): „collective memory of the nation". 95 I. Kant , Kritik der reinen Vernunft, Β 37 ff. bes. 39; s. weiter Β 120-122, zum Grundsätzlichen Β 166 f., 305, zit. nach der 2. Aufl. 1787. 96 Jemand steht einem nahe, es gibt "Grenzen des Wachstums" und juristische "Schranken der Grundrechte" (dieses Bild wird bis zur "Schrankenschranke" pervertiert!), ein "entfernter Gedanke" oder ein "abwegiges" Argument finden sich auch an "entlegenen Stellen", man setzt an zum "großen Sprung" oder macht sich auf einen "langen Marsch". 97 Zum Gebiet als "Kulturprodukt": R. Smend, aaO., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 169. Aus der spärlichen Literatur E. Könau, Raum und soziales Handeln, 1977, mit einer guten Darstellung der Analysen von E. Durkheim und G. Simmel, für die Raumbezogenheit ein konstitutiver Aspekt kognitiver und normativer Ordnungen war (S. 15 ff., 214); ders., S. 216, zu den neuen Umweltproblemen als alle (Staatsund andere) Grenzen überschreitenden Problemen und S. 217 ff. zur "Vielschichtigkeit der Raumbezogenheit sozialen Handelns" und zur "Verschränkung von Raumhorizonten". Weiterführend auch G. Isbary, Raum und Gesellschaft, 1971; Dogmengeschichtliches bei W. Hamel, Das Wesen des Staatsgebietes, 1933.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
machte; dazu aber kommt der kulturelle Raum, der die scheinbar natürlichen Grenzen von Landschaften oft durch andere keineswegs weniger "natürliche" sei es festigt, sei es aber auch überlagert und transzendiert (Beispiel: Südtirol). Der kulturelle Raum besitzt ähnliche Eigenschaften wie der soziale (was letztlich an der - definitorischen - Abgrenzung des Sozialen vom Kulturellen hängt). Er kann sich ausweiten, einengen, verpflanzt werden, er drückt anderen räumlichen Dimensionen seinen Stempel auf und schafft z.B. aus der geographischen Landschaft eine "Kulturlandschaft" 98 . Psychologisch werden Raumwahrnehmungen, Raumgefühle, Raumbewertungen untersucht, so z.B. in Gestalt der "crowding-Effekte" 99 oder der normalen und als angenehm empfundenen Distanz zum anderen. Die wirtschaftliche Bedeutung des Raums wird von der Raumwirtschaftstheorie untersucht 100 , z.B. von der Standorttheorie. Religiöse Räume schließlich haben eine uralte Tradition 101 . Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Zusammenhängen wechselt die relative Bedeutung der einzelnen dieser Dimensionen. Raum ist also für den Menschen und Bürger nicht als rein "natürliche" physikalische oder geographische Größe zu begreifen. Raum ist für ihn immer wahrgenommener, interpretierter, "besetzter" Raum (auch im psychologischen Sinne). Das wirkt sich gerade juristisch aus, nicht zuletzt im Bereich der Kommunen, Regionen und Kleinstaaten.
98 Vgl. § 1 Abs. 3 BNatSchG.- Aus der Literatur: P.C. Mayer-Tasch, Kulturlandschaft in Gefahr, 1976; siehe aber auch die modernen "Stadt/Umland"-Probleme. Zu Stadt-Umland- und interregionalen Beziehungen: H. Heuer, Sozioökonomische Bestimmungsfaktoren der Stadtentwicklung, 1975, S. 35 ff.; M. Glotz-Richter u.a. (Hrsg.), Lokale Demokratie auf dem Prüfstand, 1994. Bemerkenswert H. Engel/W. Freedman/S. Klevansky/P.R. Ribbe (Hrsg.), "Via triumphalis". Geschichtslandschaft Unter den Linden, 1997. 99 J.-L. Freedmann, S. Klevansky, P.R. Ehrlich: The Effect of Crowding on Human Task Performance, Journal of Applied Social Psychology 1 (1971), S. 7-25; R. Sommer, Personal Space, Englewood Cliffs, N.J., 1969. 100 Zu Modellen der Raumwirtschaftstheorie: H. Heuer, Sozioökonomische Bestimmungsfaktoren der Stadtentwicklung, 1975, S. 48 f. 101 Es gibt ausgezeichnete heilige Orte, Haine, Quellen, Berge, aber auch Tempel und Kirchen, an denen oft verschiedene Religionen nacheinander ihren sakralen Bedürfnissen nachkommen. Vgl. M. Eliade, Das Heilige und das Profane, 1957. Eine kulturwissenschaftliche Erfassung von "Bergen" spiegelt die Festschrift "offert à J.-F. Bergier, Quand la Montagne aussi a une Histoire", 1996 (darin zu den Alpen der Beitrag von M. Lendi, S. 99 ff).
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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Die Bedeutung des Raumes als Grundlage politischer Organisation ist weder voraussetzungslos noch historisch beständig. Die "Drei-Elementen-Lehre", die im Territorium ein Wesenselement des Staates sieht, greift zu kurz 1 0 2 . Erst seit dem 15. Jahrhundert ist der Territorialstaat als vollste Ausprägung politischer Organisation auf räumlicher Grundlage deutlich entwickelt. Ihn hat die "Drei-Elementen-Lehre" im Blick. Der Zentralbegriff dieser modernen Staatlichkeit ist die Souveränität, die immer mit einem räumlichen Bezug formuliert wird. Plastisch zum Ausdruck kommt diese territorial verortete (!) Souveränität z.B. in der "cuius-regio-Formel" 103 . Das Aufkommen effektiver Transportmittel und neuerdings leistungsfähiger Medien zur Informationsübertragung relativiert die Bedeutung des rein geographischen Raumes und die territoriale Abgrenzung der Staaten. Die Erschließung der dritten Dimension zeigt sich juristisch an der Entwicklung der neuen Gebiete Luftfahrt-, Weltraum- und Meeresbodenrecht. Die Souveränität 104 im herkömmlichen Sinne ist damit von oben her faktisch und rechtlich begrenzt worden. Die zunehmende Verflechtung und das Entstehen von zwischen- und
102 Kritik schon bei R. Smend, aaO., S. 167 ff., 170, 197, 217.- Es gab politische Organisationen, wenn auch auf relativ unentwickeltem Niveau, deren Identitätsprinzip nicht das Bewohnen eines bestimmten Gebietes bildete, sondern die Zugehörigkeit zu einer Verwandtschaftsgruppe. Noch in der Neuzeit haben wir mit den USA das Exempel eines Staates ohne feste Grenzen! Erinnert sei an die Bedeutung der Westwärtsbewegung und der "new Frontiers", (auch im übertragenen Sinne). Historisch betrachtet setzte sich die Bedeutung der räumlichen Orientierung der politischen Organisation mit der Einfuhrung von Ackerbau, Viehzucht und der Seßhaftwerdung durch. Ein bestimmter Raum wurde zur Existenzgrundlage. Die Entwicklung von Befestigungsanlagen und Städten war die Folge. Auf die Bedeutung von Städten und Mauern sei nur pauschal verwiesen. Genannt sei folgendes Zitat von Heraklit: Über die Natur, 44: "Kämpfen soll ein Volk für seine Verfassung wie für seine Mauern" (nach der Ausgabe von Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 1957). Auch rechtsgeschichtlich ist die Entwicklung von einem personalen zu einem territorialen Recht nachzuzeichnen (vgl. S.L. Gutermann: From Personal to Territorial Law, 1978). S. noch Sechster Teil VI Inkurs. 103 Außenpolitisch entsprachen dieser Betonung des Territoriums die "Geopolitik" (dazu E. Könau, aaO., S. 83 ff), Imperialismus und Kolonialismus, schließlich das Denken in "Lebensräumen" (und die "Blut- und Boden"-Ideologie). Einen wesentlichen Inhalt der Politik dieser Phase faßt J.G. Herders Formel von der Geschichte als in Bewegung gesetzter Geographie. Eine "Geschichte des Raumes" erweist sich als sinnvoll und notwendig! 104 Zur Souveränitätsproblematik: P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 ff., jetzt in ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 264 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität I, 1970. Zum Meeresbodenrecht: W. Graf Vitzthum, Recht unter See, FS für R. Stödter, 1979, S. 355 ff. und weitere Beiträge in diesem Band. Zum Luftraum und Weltraum: M. Dauses, Die Grenze des Staatsgebietes im Raum, 1972; zuletzt P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
überstaatlichen Einrichtungen hat das völkerrechtliche Interesse zwar auch auf andere Fragen als die Abgrenzung territorialer Einheiten gelenkt. Es kommt zu offenen Räumen. Ein räumliches Substrat allen sozialen Geschehens bleibt aber unverzichtbar. Der Raum wird immer weniger per se wichtig als vielmehr in seiner Verknüpfung mit menschlichem sozialen Geschehen (Idee der "Mehrdimensionalität" des Raumbegriffs) 105 . Als Reaktion auf ein Übermaß an gesellschaftlicher Komplexität, auf die Größe der organisatorischen Einheiten, auf die Länge der Handlungszusammenhänge und Faktoren, von denen der Mensch abhängig ist, auf die Abstraktheit der Beziehungen, die ihn betreffen, kurz: die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse entwickelt sich heute eine neue Hinwendung zu konkreten räumlichen Einheiten. Dieser neue Raumbezug entsteht aus einem Bedarf nach personaler Sicherheit und Orientierung, nach Vertrautheit und Schutz. Der Mensch möchte "zu Hause sein", "wissen, wo die Dinge sind, die einem wichtig sind". Solche anthropologischen Bedürfnisse scheinen nicht ohne den Bezug zu einer konkreten räumlichen Einheit erfüllbar zu sein. "Zu Hause" fühlt man sich nur in bezug auf eine räumliche Größe 106 . Selbstfindung geschieht offenbar im und am Raum, und zwar in und an "nahen" sinnlich erfahrbaren (sie) Räumen. Die Entwicklung eines Identitätsgefühls setzt voraus, daß ein "hier und wir" unterschieden werden kann von einem "dort und die". A l l dies ist eine Chance für den Kleinstaat. Die relative Bedeutungsminderung des Raumes in der "großen Politik", sprich: als Grundlage staatlicher Organisation, schlagwortartig gekennzeichnet durch die Tendenz zum "kooperativen Verfassungsstaat" 107, wird begleitet von einer neuen Betonung der Räumlichkeit im Kleinen: Plätze (schließlich der Ursprungsort der Öffentlichkeit!), Fußgängerzonen 108, "Kommunikationsbereiche", Stadtteilfeste, eine Neubelebung des kommunalen Zugehörigkeitsgefühls 109 : Zeichen einer neuen Zuwendung zum Raum, jetzt ganz deutlich als erlebtem Raum, als sozial "besetztem" Raum. 105
Die verminderte Bedeutung der territiorialen Grundlage des modernen Verfassungsstaates kann durch das bekannte Zitat des US-Supreme-Court illustriert werden: "Representatives represent peoples, not trees or acres". 106 Vgl. zum räumlichen Ausdruck dieser Schutz/Geborgenheits/Vertrautheitsgefühle: G. Bachelard, La poétique de l'espace, 1974. 107 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. sowie Vierter Teil VII. 108 Zu Aufgabe und Bedeutung von Fußgängerzonen: H. Röhn, in: Glaser (Hrsg.), Urbanistik, 1974, S. 163 ff. 109 Wie sie etwa in der neuen Mode erscheint, Aufkleber mit einem Hinweis auf die eigene Stadt aufs Auto zu kleben. In diesem Kontext gilt auch den spezifischen Strukturen der Stadtstaaten besonderes Augenmerk, vgl. dazu meinen Bremer Festvortrag: Die
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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A l l dies findet in der heutigen Renaissance der "Heimat" eine Stütze 110 . Sogar die juristischen Texte formulieren Anhaltspunkte (vgl. Art. 3 Abs. 2 GG), an erster Stelle Art. 2 Abs. 2 Verf. Baden-Württ. (1953) mit seinem wohl einzigartigen "unveräußerlichen Menschenrecht auf die Heimat" 111 . "Heimat" hat einen regionalen und einen - auszubauenden - kommunalen Aspekt 112 . Dieser raumbezogene Ansatz ist durch neuere Ergebnisse der kulturwissenschaftlichen Forschung abgesichert. Gesprochen wird vom "territorialen Imperativ" und von "kulturspezifischen" Territorien in ihrer Bedeutung für den Menschen" 113 - der "territoriale Mensch" (Ina-Maria Greverus) ist das Stichwort. Territorial aber ist der Mensch zunächst einmal in seiner Gemeinde. Für die Gastarbeiter zeitigt dies nicht nur kulturpolitische Konsequenzen. Der neue grenzüberschreitende Regionalismus ist eine Strukturierung des Raumes von der kulturpolitischen Seite her. Das den Nationalstaat transzen dierende bzw. unterlaufende Moment ist das Kulturelle 114 . Der kulturgeschicht lieh zusammenhängende Raum eröffnet die Dimensionen dazu: er setzt auch die Kraft frei, die staatlichen Grenzen zu durchbrechen. Erneut zeigt sich die Relevanz des - sozialen - Raumes. Mag der heutige Regionalismus neben kulturellen Verbindungen und Bindungen, Bahnen und Zusammenhängen auch wirtschaftliche freilegen, der kulturelle Kontext von
Zukunft der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen im Kontext Deutschlands und Europas. Zugleich ein Beitrag zu einer föderalen Verfassungstheorie der Stadtstaaten, JZ 1998, i.E. 110 Vgl. aus der Literatur: Ina-Maria Greverus, Auf der Suche nach Heimat, 1979.F. Lenz-Romeiss, Die Stadt - Heimat oder Durchgangsstation?, 1970; H. Treinen, Symbolische Ortsbezogenheit..., Münchner Diss., 1962.- Vgl. BVerfGE 9, 124 (128): Heimat ist die "örtliche Beziehung zur Umwelt". Aus der Lit.: P. Saladin, Heimat als Aufgabe, FS O.K. Kaufmann, 1989, S. 29 ff; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 58 f. 111 Zu "Erziehungszielen" wie Heimat(kunde) z.B. Art. 12 Abs. 1 Verf. BadenWürtt.: "Liebe zu Volk und Heimat"; Art. 101 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): "Heimatliebe". 112 Art. 131 Abs. 3 Bay Verf.: "Liebe zur bayerischen Heimat", vgl. auch BayEUGH vom 9. März 1960; Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz: "Liebe zu Volk und Heimat"; heimatkundlicher Grund ist ein Topos z.B. in Art. 7 Abs. 1 BayNaturschutzG (alte Fassung) vom 27.7.1973.- In regionaler Art ist die sog. "Heimatklausel für Zentralbehörden" in Art. 91 Verf. Baden-Württ. zu verstehen: Die bisherigen Länder im Südwesten haben ex post gesehen Regionalcharakter. 113 So bei Greverus, Auf der Suche nach Heimat, 1979, S. 35 ff., s. ebd., S. 36: "Heimat als Raumbereich"; S. 40: Objektivierung der subjektiven Mensch-TerritoriumBezogenheit. 1,4 Gerade dort, wo die Kulturnation keinen (National-)Staat machte, regt sich heute oft der Regionalismus. Dazu Sechster Teil VIII Ziff. 5.
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Landschaften und Städten wirkt als wesentliches Vehikel des Regionalismus. Er gliedert den Raum jenseits und unabhängig von staatlich durchgesetzten Einteilungen wie (National-)Staat, Bund und Ländern oder Kantonen, Einheitsstaat und Departements 115. f) Folgerungen für den Kleinstaat Daß hier die Skizze einer Verfassungstheorie des Raumes gerade aus Anlaß der Kleinstaaten vorgelegt wird, schließt den Verdacht jeder Art von "Größenwahn" vorn vorneherein aus 116 . Es geht nicht um "mehr Raum" für irgendeinen Verfassungsstaat, sondern um eine ideelle Hochbewertung des Raumes für jeden Verfassungsstaat und seine kulturanthropologische Instrumentalisierung. Dem Kleinstaat ist er besonders kostbar und teuer (knappe Ressource Raum und Personen). Und die räumliche Nähe aller mit allen, wie sie den Kleinstaat auszeichnet, in manchem aber auch benachteiligt, muß von jeder verfassungsstaatlichen Kleinstaatentheorie bedacht werden. Der Raum ist gewiß nur ein Element im Gesamtmosaik des Kleinstaates als Typus und der Kleinstaaten als Beispiele, aber er ist im angedeuteten Sinne kulturanthropologisch einzuordnen. Raumkomponenten wie Insellage (die die Identitätsgewinnung erleichtert), Anzahl der Nachbarn, Größe des kulturellen Raumes, Ethnisches, sind Ansatzpunkte. g) Inkurs: Ein Trend zu Kleinstaaten im Rahmen der Zerfallserscheinungen des Ostblocks in Osteuropa? Der Kleinstaat gewinnt derzeit hohe Aktualität; zwar nicht im technischen Sinne (Kleinstaat definiert durch die Mindestbevölkerung bis 500 000 Einwohner) 117 , wohl aber in Form kleiner Staaten zeichnet sich heute in Osteuropa ein Trend zu dieser Variante des Verfassungsstaates ab. Man denke an die Loslösung der 3 Baltenrepubliken Litauen, Estland, Lettland von der (damals noch)
115
Aus der Literatur: H. Lübbe, Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus, in: PVS 1979, S. 7 ff; Rohe/Kühr, Politik und Gesellschaft im Ruhrgebiet, 1979; G. Zang, Provinzialisierung einer Region. Zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz, 1978. 116 Darum hat der Verf. erste Versuche in Sachen Raumtheorie auch in seiner Schrift "Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 38 ff. unternommen. 117 So z.B. Η. v. Wedel, Der sog. "Mikrostaat" im internationalen Verkehr, VRÜ 5 (1972), S. 303 (304 f.).
I. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaates als kulturelle Leistung
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UdSSR 118 und an das Ausscheiden von Slowenien und Kroatien sowie Mazedonien aus Jugoslawien (1991) auch von Bosnien-Herzegowina (1996). Zu hoffen ist, daß die hier entstehenden kleinen Verfassungsstaaten auf Dauer auf dem Erfahrungsschatz der eigentlichen "Kleinstaaten" aufbauen werden und daß die Verfassungstheorie des "Kleinstaates" diese "kleinen Staaten" einbezieht. Ja, es ist zu fragen, ob sich mittelfristig eine Art Skala abzeichnet; sie siedelt den (ja sich differenzierten) "Kleinstaat" am unteren Ende an, die "kleinen Staaten" wie die Schweiz und Luxemburg in der Mitte und die größeren wie die klassischen Nationalstaaten am oberen Ende. Das versinnbildlichte den großen, einen Zusammenhang aller Verfassungsstaaten und die Relativität der Unterscheidung ihrer Varianten. Wie dem auch sei: festzuhalten bleibt, daß die kleineren Staaten in Osteuropa sich nicht zuletzt deshalb auf dem Weg zu eigener Staatlichkeit vorgekämpfit haben, weil das sozialistische Gehäuse der Bundesstaatlichkeit der UdSSR und Jugoslawiens nur formal war. Der "real geltende Sozialismus" herrschte als ein der Idee des gelebten Föderalismus feindlicher Einheitsstaat totalitär. In Zukunft wird genau zu beobachten sein, ob die hier erarbeiteten Spezifika für Kleinstaaten sich gerade bei den neuen bzw. alten kleinen Staaten im Baltikum und in Ex-Jugoslawien nachweisen lassen: der - kleine - durch eigene Kultur erfahrene und gestaltete Raum dürfte ebenso ein Grund für die Herausbildung des "kleinen Staates" sein wie sich die Offenheit für die Rezeption fremder Rechte und ihre eigenwüchsige Integration in das Eigene als unverzichtbar erweisen wird. Speziell die Baltenrepubliken sollten nicht nur auf Rechtsschichten ihrer europäischen Nachbarn zurückgreifen, vor allem auf Prinzipien gemeineuropäischen Verfassungsrechts 119, sie können in manchem an ihre eigene, vergangene Rechtskultur anknüpfen, also aus der Tiefe ihrer Verfassungs- und Rechtsgeschichte (bis 1939) das rezipieren, was sie selbst vor der Unterjochung durch den Marxismus-Leninismus geschaffen haben 120 .
118 Estland (45 100 Quadratkilometer) hat 1,6 Millionen Einwohner, Lettland (64.500 Quadratkilometer) hat 2,7 Millionen Einwohner, Litauen (66.000 Quadratkilometer) hat 3,7 Millionen Einwohner, Armenien (30.000 Quadratkilometer) hat 3,3 Millionen Einwohner (Angaben nach FAZ vom 28. August 1991, S. 16). Gagausen in Moldavien will ein eigener Kleinstaat werden (FAZ vom 3. Sept. 1991, S. 2). 119 Im Sinne meines Beitrages Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. S. auch unten Sechster Teil XI Ziff. 3. 120 Ein Beispiel ist der vorbildliche Minderheitenschutz im Estland der 20er Jahre, dazu P. Häberle, Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates..., der polnische Entwurf 1991, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 ff. Allgemein zum Minderheitenschutz: P. Pemthaler, aaO., S. 65 ff.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 5. Die Zukunft des Kleinstaates
Der Kleinstaat ist eine Teilgruppe des Typus "Verfassungsstaat" und für diesen eine unentbehrliche Bereicherung. Einerseits unterscheidet er sich von den an Bevölkerungszahl und bewohntem, zur "Kulturlandschaft" gemachten Raum größeren Verfassungsstaaten, andererseits ist er ein Respekt erheischendes Beispiel für den Typus "Verfassungsstaat", für dessen Anpassungsfähigkeit und Vitalität, Vielfalt und Flexibilität. Daß Kleinstaaten auch und besonders heute friedlich überleben können, ist eine Leistung der "Verfassung der Völkergemeinschaft", so vieles, z.B. in Sachen Aufnahme in die UN, noch zu verbessern sein mag. Daß wir mit ihnen gut leben können, zeigt die Geschichte und verlangt die Zukunft. Kleinstaaten haben manche Vorteile, die die größeren Verfassungs- bzw. Nationalstaaten erst mühsam genug durch kommunale, regionale und foderale (vertikal gewaltenteilende) Strukturen erreichen wollen und können. Grundrechtserfüllung vor Ort, Demokratie im kleinen, überschaubaren Raum, politische Teilhabe des Bürgers, Gemeinsinn, kulturelle Freiheitsverwirklichung, Identität von Heimat und Staat etc. Was zunächst oft schmerzhafte Begrenzung eigener Möglichkeiten und Aufgabenerfüllung ist, wird zur Herausforderung, Brücken zu schlagen (Dialektik von Grenzen und Brücken, von Beschränkung bzw. Selbstbescheidung und Offenheit). Die - kulturelle - vor allem "fremdes" Recht umfassende Rezeption und die so entstehende "Misch-Rechtsordnung" ist eine markante Überlebensstrategie des Kleinstaates (prägnant Fallbeispiel Liechtenstein, besonders seine Berufung fremder Richter in den StGH). Der Kleinstaat bildet insofern eine Experimentierbühne für größere Staaten und die überstaatlichen regionalen oder gar universalen Zusammenschlüsse bzw. Vergemeinschaftsformen, z.B. in Europa: Sie sind ebenfalls auf mannigfache Rezeptionsvorgänge und die gemeinschaftliche Produktion von Recht angewiesen; die Inthronisierung der Rechtsvergleichung als "fünfter" Interpretationsmethode ist nur eine Folge davon. Im Europa der kulturellen Vielfalt, im "Europa der Regionen" und "Kommunen" insonderheit, aber auch in der sich immer überzeugender abzeichnenden Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten erfüllt der Kleinstaat unverzichtbare, gelegentlich modellhafte Funktionen. Er mag seine Kosten und Nachteile haben. Ihn für die moderne Verfassungslehre und die Völkerrechtswissenschaft besser zu "entdecken", kann heute gelingen. Die Kultur des Kleinstaates, oft aus ethnischen oder geographischen geschichtlichen Besonderheiten (Insellage, historische Sonderentwicklungen) erwachsen, bildet ein Stück jenes "kulturellen Erbes der Menschheit", das heute viel berufen ist. Das Wort "Weltbürgertum und Nationalstaat" ist eine bleibende Synthese, Weltbürgertum und Kleinstaat ist ihre glückliche Ergänzung und Fortschreibung. Die
II. Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts
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Weltstunde des Verfassungsstaates 1989 wirft Licht auch auf den Kleinstaat als Verfassungsstaat; er tritt aus dem Schatten der größeren Staaten. Wie alle anderen Beispiele dieses Typus trägt er große Verantwortung in der einen Welt von heute - so klein er sein mag. Speziell Liechtenstein könnte in der Reihe der Kleinstaaten eine Pionierrolle übernehmen: seine differenzierte Verfassungskultur, seine Wirtschaftskraft, seine Zugehörigkeit zu Alteuropa und nicht zuletzt die wissenschaftliche Aufbereitung durch das Forschungs-Institut in Bendern sichern ihm eine herausragende Stellung in der Welt. Vielleicht liegt die "Epoche der Kleinstaaten" noch vor uns, wenn wir uns nicht auf eine nach Bevölkerungszahl und/oder Gebiet fest definierten Begriff festlegen, sondern kleine(re) Staaten einbeziehen. Das in Europa und weit darüber hinaus seit 1989 angebrochene VerfassungsZeitalter gibt ihnen neue Chancen und Aufgaben in der einen geschrumpften Welt von heute. Die Erfahrungen, die Kleinstaaten mit sich, ihren Nachbarn und der Welt bisher gemacht haben, sind für die sich in Europa neu gruppierenden kleineren Staaten zu nutzen 121 . Die kleineren Staaten wie die Kleinstaaten dürften eine wachsende eigenständige Rolle in der künftigen gemeineuropäischen Rechtskultur spielen. Letztlich kann es nicht auf die Größe eines Staates ankommen, sondern nur darauf, wie er es mit Menschenwürde, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Freiheit, der Demokratie und mit dem Recht hält.
II. Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts Nach dieser Integrierung der Entwicklungsländer und Kleinstaaten in die Verfassungslehre wird es Zeit, die Grundthese zu formulieren: Mit "bloß" juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren - sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives "Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der
121 Freilich ist es grotesk, wenn der Regierungschef von Singapur Goh Cho Lo Tong behauptete, das nur 2,8 Millionen Einwohner zählende Singapur sei "zu klein für eine parlamentarische Opposition" (FAZ vom 6. Sept. 1991, S. 1, im Blick auf vier der Opposition zugefallenen Parlamentssitze). 9 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen "Informationen", Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten 122 . Entsprechend tiefer liegt ihre - kulturelle - Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfaßt in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei "geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert kulturell betrachtet ist es in (mehr oder weniger guter) Verfassung! Die Akzeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung im Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesen etc. - all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierungen zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, daß ein Verfassungsstaat hic et nunc "wirklich" ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur.) Ob dies gelungen ist, zeigt sich nur in Fragestellungen wie: Besteht ein gelebter Verfassungskonsens? Hat der juristische Verfassungstext eine Entsprechung in der "politischen Kultur" eines Volkes? Sind die spezifisch kulturverfassungsrechtlichen Teile einer Verfassung so in die Wirklichkeit umgesetzt, daß sich der Bürger mit ihnen identifizieren kann? M.a.W.: Die rechtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit einer "lebenden Verfassung", die - weit- und tiefgreifend - kultureller Art ist. Verfassungstexte müssen buchstäblich zur Verfassung "kultiviert" werden. Verfassung ist als Kultur bald aktuell 123 , bald fiktiv als Vertrag zu denken. Was heißt das? Die Lehren des Gesellschaftsvertrages vor allem in I. Kants Variante als "Probierstein der Vernunft" jenseits von realen Vorgängen, aber auch die Version von J. Rawls (Stichwort: "Schleier des Nichtwissens") bleiben gerade im Verfassungsstaat hilfreich. Wir müssen die Verfassung und als Teilaspekt von ihr Recht und Staat so konstruieren, "als ob" sie auf einem Vertragsabschluß aller mit allen (i.S. von J. Locke) beruhten. Der Verfassungspakt auf der "Mayflower" der englischen Pilgerväter, der Rütlischwur in der Schweiz (1291) und die späteren vertragsartigen Fortschreibungen ebendort (etwa das "Stanzer Verkommnis"), sind glückliche reale Vorgänge, die wir im Konzept der Verfassung als "immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller" fortschreiben bzw. (wieder) denken (ggf. fingieren) müssen. Die Schwei122 Im nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff "Verfassung" nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142. 123 Hierher gehört auch H.-G. Gadamers Dictum: "Das Ziel kann nur das Leben sein, in dem Kultur miteinander gelebt wird", zit. nach Norbayerischer Kurier vom 15. Juli 1997, S. 25.
II. Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts
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zer Konkordanzdemokratie oder der Föderalismus machen den Rückgriff auf das Vertragsmodell zugegebenermaßen leichter als zentralisierte Nationalstaaten. Und doch hat eine Idee wie ein Funke das "annus mirabilis" von 1989 mit geprägt: das Paradigma des "Runden Tisches". Von Walesas "Solidarnosc" "erfunden" (oder soll man sagen: "entdeckt"?), hat es Weltgeschichte geschrieben und Verfassungsgeschichte "gemacht": im Übergang von totalitären Systemen zur offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates. Überall kam es zu Runden Tischen, zuletzt etwa in Gestalt der "Codesa" in Südafrika. "Runde Tische" lassen sich verfassungstheoretisch begründen, kulturwissenschaftlich einordnen und konsens- bzw diskurstheoretisch legitimieren. Der "runde Tisch" symbolisiert ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander vieler in einem politischen Gemeinwesen. Die gleiche Distanz und Nähe zu allen anderen Teilnehmern, die Rekonstruktion des Dialogs und das Miteinander bricht mit totalitären Herrschaftsstrukturen. Es ist die beste optisch-bildliche Umsetzung des gleichberechtigten "Sich-Vertragens und Sich-Ertragens", das das Aushandeln von pluralistischen Verfassungen kennzeichnet. Der Kreis und der (runde) Tisch - diese Methapher könnte so etwas wie ein "kulturelles Gen" der Menschheit sein bzw. werden. Zu den traditionellen Kapiteln der allgemeinen Staatslehre gehören die drei "Staatselemente" Staatsvolk, Staatsgewalt, Staatsgebiet. Typischerweise hat die "Verfassung" in dieser Trias (noch) keinen Platz - das kennzeichnet gerade "allgemeine Staatslehren", macht sie aber auch fragwürdig. Eine "Verfassungslehre", die ihren Namen verdient, muß die Einordnung suchen: Verfassung ist, wenn nicht bereits das "erste" Staatselement, so jedenfalls ein wesentliches. Konkret: Die Staatselementenlehre muß vom erwähnten Begriff der Kultur aus durchdekliniert (konjugiert) werden. Verfassung ist ein Teil der Kultur, sie bildet, wenn man will (richtiger: muß) mindestens ein "viertes" Element. G. Dürig hat dies früh (1954) tendenziell gewagt, aber nicht weiter ausformuliert 124 . Spätestens heute ist dieser Schritt in einer Verfassungslehre zu wagen. Dies bedeutet, daß auch die übrigen Staatselemente kulturwissenschaftlich zu "erfüllen" sind. Beginnend mit dem Volk als "Menge Menschen unter Rechtsgesetzen" (I. Kant), aber eben dadurch im "status culturalis". Die - unterschiedliche - Identität der Völker Europas ist eine solche kultureller Art, und das macht die Vielfalt dieses Europas aus.
124
Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff.).
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Das Staatsgebiet ist kulturell geprägtes Land, ein "Kultur-Raum", kein factum brutum 125 . J.G. Herders Verständnis von Geschichte als "in Bewegung gesetzte Geographie" mag hilfreich sein. Die Staatsgewalt ist ihrerseits als kulturell bestimmte, nicht naturhaft wirkende vorzustellen: sie ist im Verfassungsstaat normativ begründet und begrenzt, und sie steht im Dienste kultureller Freiheit. Wie notwendig sie ist, zeigen die Bürgerkriegswirren in ExJugoslawien nur zu dramatisch. Daß und wie sich die Staatselemente kulturwissenschaftlich "komponieren" lassen, sei nur noch in Stichworten angedeutet: Nicht nur im "Kulturfoderalismus" schweizer und deutscher Prägung, nicht nur im vielleicht in Italien heranreifenden "nuovo regionalismo", aus der Vielfalt der Kultur (und zur Abwehr der Sezessionsbestrebungen "Padaniens") ist die Prägekraft des Kulturellen für alle Verfassungsstaatlichkeit offenkundig, in allen Erscheinungsformen von Kulturverfassungsrecht kommt sie zum Ausdruck. Das beginnt mit den Erziehungszielen wie Toleranz, Verantwortungsfreude und neu: Umweltbewußtsein (vgl. ostdeutsche Verfassungen wie Art. 28 Brandenburg, Art. 22 Thüringen, zuvor auch Art. 131 Abs. 2 Bayern) und endet oder beginnt auch mit der Erziehung zu den Menschenrechten, wie dies neuere Verfassungen schon textlich verlangen. Das führt zur Fülle spezifisch kultureller Freiheiten wie der Glaubens-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit - in Goethes Dictum tiefgründig zusammengebunden: "Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion, wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion" -, und das setzt sich fort in dem Verständnis von Sprachen-Artikeln und Feiertagen, von Staatssymbolen (wie Hymnen) sowie in dem sich intensivierenden Kulturgüterschutz, der innerstaatlich wie transnational gerade in jüngster Zeit sich auch in textlich eindrucksvollen kulturellen Wachstumsprozessen dokumentieren läßt (Stichwort: "kulturelles Erbe" der Menschheit bzw. der Nationen). Die Menschenwürde ist die "kulturanthropologische Prämisse" des Verfassungsstaates, die Demokratie ihre "organisatorische Konsequenz". "Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" - sagte schon D. Sternberger, und B. Brecht variierte die bekannte klassische Formel: "aber wo geht sie hin?" Wir sollten heute dieses Fragespiel abbrechen und den Satz wagen, daß die im Verfassungsstaat verfaßte Staatsgewalt auf die Bürger zurückkehrt, von ihnen ausgeht. "Träger" der verfassunggebenden Gewalt ist nicht "das Volk" in einem fiktiven oder realen Naturzustand; sie ist nicht unverfaßt, entscheidet nicht "normativ aus dem Nichts" i.S. des soziologischen Positivismus eines C. 125
Dazu mein Beitrag: Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, FS G. Batliner, 1993, S. 397 ff. Allgemein: H. Brill, Geopolitik heute, 1994 (dazu G. Eisermann, Staat, Geographie und Politik, Der Staat 35 (1996), S. 124 ff.).
II. Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts
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Schmitt 126 . Subjekte sind die kulturell einander verbundenen Bürger, die Bürgergemeinschaft. Die menschen- bzw. bürgerrechtliche Verortung der sog. verfassunggebenden Gewalt baut auch die Brücke zum Demokratieprinzip. Demokratie ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei bilden die unmittelbare und mittelbare Demokratie gleichberechtigte Varianten, die am besten als "Mischform" zu kombinieren sind. Das Wort von der "mittelbaren Demokratie" als "eigentlicher" 127 entpuppt sich als sehr deutscher "Jargon der Eigentlichkeit" (T.W. Adorno). Von diesem Demokratieverständnis sind dann auch Fragen zum Demokratiedefizit in der EU zu stellen, ist nach europäischer Öffentlichkeit zu fragen, ist das europäische Parteienrecht (vgl. Art. 138 a Maastricht) 128 zu bauen. Die Menschenwürde wird dabei mit der handlichen Objektformel eines G. Dürig bzw. des BVerfG konzipiert und ins Kulturelle intensiviert 129 . Die Menschenbild-Problematik, "gedämpft optimistisch" gewagt, mit jenem Schuß von Skeptizismus versehen, der sich bei Montesquieu findet ("Der Mensch neigt von Natur aus dazu, Macht zu mißbrauchen"), sei erwähnt: Alle Formen der Gewaltenteilung im engeren (staatlichen) und weiteren (gesellschaftlichen Sinne) haben hier ihre Wurzel. Das Motto "Zurück zur Natur" (J.-J. Rousseau) ist durch A. Gehlens "Zurück zur Kultur" zu ersetzen. Erziehung als Bildung ist die andere Seite aller grundrechtlichen Freiheit, auch und gerade in der "Verfassung des Pluralismus". Vor allem die Präambeln und (ausdrücklichen oder verdeckten) Erziehungsziele (wie Toleranz, Pflichtbewußtsein, Solidarität), auch Symbole oder Feiertagsgarantien formulieren als "kulturelle Kristallisationen" im Verfassungstext Kulturgehalte der Verfassungen mit eher nicht-juristischen Mitteln und in einer nicht-juristischen Sprache, die vielfach bürgernäher, aber auch "idealistischer" ist als die der übrigen Verfassungsnormen. Der verfassungstextlich aggregierte Kulturgehalt ist aber nur eine besondere Form der "juristischen Verdichtung"; dieser rechtliche "Aggregatzustand" bedarf anderer
126 Dazu P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, eine vergleichende Textstufenanalyse (1987), auch in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 135 ff. 127 E.-W. Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, FS Eichenberger, 1982, S. 301 ff. 128 Aus der Lit.: D. Tsatsos/D. Schefold/H.-P. Schneider (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990; D. Tsatsos, Europäische politische Parteien?, EuGRZ 1994, S. 45 ff. 129 Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdbStR Bd. I, 1987, S. 815 (839 ff.); aus der weiteren Lit. tiefdringend H Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), S. 353 ff. S. noch unten Sechster Teil VIII Ziff. 1.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
"Aggregate": der "kulturellen Ambiance", etwa aus Verfassungstexten i.w.S. wie Klassikertexten 130 u.ä. Ihre Dichte ist unterschiedlich, sie "gelten" kulturell, nicht-juristisch, und bilden letztlich doch ein Ganzes. Sie sind eine Art "nichtjuristische Fassung" der Verfassung. Als "Glaubensartikel" wollen sie den "Geist" zum Ausdruck bringen, aus dem die verfassungsjuristische Seite von Verfassungen entsteht und tradiert werden soll. Die Identität der Verfassung des Pluralismus zwischen Überlieferung, Erbe und geschichtlicher Erfahrung einerseits, Hoffhungen, Möglichkeiten und Gestaltungsfähigkeit der Zukunft eines Volkes andererseits ist von vornherein eine Bezugnahme auf den kulturellen Zusammenhang eines Volkes, wie er in großen Zeiträumen geworden ist. Die Vielfalt kultureller Kristallisationen (vom Klassikertext über eine Festrede des Bundespräsidenten oder des Bundeskanzlers bis zum Sondervotum des BVerfG und der Artikulation von Selbstverständnissen durch Künstler und Wissenschaftler) ist das Substrat für die Entfaltung der normativen Texte, die als Katalysator wirken. K.R. Poppers "offene Gesellschaft" liefert das Stichwort zur "metajuristischen" Kennzeichnung des Verfassungsstaates, und sie wurde ja im Kontrast zu geschlossenen Systemen eines Piaton, Hegel und Marx entwickelt 131 . Dies darf freilich nicht dazu verleiten, die kulturelle Grundierung jeder noch so offenen Gesellschaft zu übersehen, sie stürzte sonst buchstäblich ins Bodenlose, könnte keine nationale Identität stiften und kein Volk zusammenhalten. Jeder einzelne Verfassungsstaat lebt aus Grundkonsens und Pluralität, aus entwicklungsgeschichtlich z.B. über das "kollektive Gedächtnis" gewordener Identität und Vielfalt, aus Basiswerten und variablen Alternativen. Greifbar werden solche verfassungsstaatlichen Grundwerte je nach Nation in Staatssprachen-Artikeln, in Flaggen, Wappen und Hymnen, in Nationalfeiertagen und Bekenntnis-Nor132
men, in kulturelles-Erbe-Klauseln etc. . Die Entwicklung der weltanschaulich-konfessionellen Neutralität des Staates, von BVerfG und Lehre als Verfassungsprinzip immer wieder berufen 133 , bedeutet eine große - kulturelle - Lei-
130 Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 49 ff. sowie Fünfter Teil VIII. 131 Vgl. K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I und II, 7. Aufl. 1992. 132 Nachweise in P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, bes. S. 238 ff., 836 ff. 133 Aus der Lit.: Κ . Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972. Aus der Judikatur: BVerfGE 19, 206 (216); 24, 236 (246); 33, 23 (28). S. auch für ein anderes Feld: H. Seiter, Staatsneutralität im Arbeitskampf, 1987.- Zu Frankreich: A. Gromitsaris, Laizität und Neutralität in der Schule. Ein Vergleich der Rechtslage in Frankreich und Deutschland, AöR 121 (1996), S. 359 ff.- Zur Türkei: C. Rumpf, Das
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stung des Verfassungsstaates, Ausdruck der westlichen Verfassung der Welt; sie darf aber nicht vergessen lassen, daß es ihrerseits eine bestimmte Kultur ist, nämlich die des Christentums, die Kontext und Grenze dieses Prinzips bildet. Gerade in Grenzfragen, zu denen der Fundamentalismus provoziert, wird der Rückgriff auf das "Christentum als Kulturfaktor" (BVerfG) unentbehrlich. M.a.W.: Herb. Krügers viel gerühmtes "Prinzip der Nichtidentiflkation", d.h. der Gedanke, daß der Staat sich nicht mit bestimmten Religionen, Konfessionen, Ideologien identifizieren darf, hat seinerseits gewisse Prämissen. Es gilt nicht absolut. Es gibt, "horribile dictu", fundamentierende Grundwerte des Verfassungsstaates, die dieser gerade im Konflikt mit dem Fundamentalismus braucht; das macht aber den Verfassungsstaat nicht etwa seinerseits zu einem fundamentalistischen System! Gerade in seinem siegreichen Kampf gegen totalitäre Systeme, etwa die NS-Ideologie und den Marxismus-Leninismus, hat der Verfassungsstaat durchlebt, auch durchlitten, daß er diesen schwierigen Balanceakt schaffen kann: einerseits offene Gesellschaft zu sein und immer wieder zu werden; andererseits sich in Berufung auf seine Grundwerte wie Menschenwürde, kulturelle Freiheiten, Demokratie sowie staatliche und gesellschaftliche Gewaltenteilung gegen geschlossene Gesellschaften und ihren Monismus in seinem eigenen Pluralismus zu behaupten. An dieser Einsicht ändern auch die neuen Anti-Staatsideologie-Klauseln nichts, die sich so viele Verfassungsentwürfe und Verfassungen postkommunistischer Staaten wie Rußland oder die Ukraine geben - gerade wegen ihrer schlechten Erfahrungen mit der absoluten Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Ideologie 134 . In der Weise des Rechts, d.h. juristisch kann freilich nur ein Teil der Selbstbehauptung gelingen. Auf weiten Strecken handelt es sich um einen Konflikt der Kulturen, oft der Ethnien und Konfessionen. Das beginnt mit gelebten, um die Toleranz angereicherten Erziehungzielen in der Schule und endet im Respekt vor der Menschenwürde des anderen im Alltag. Vom Recht darf nicht zu viel erwartet werden, in der Herausforderung seitens des Fundamentalismus135; Laizismus-Prinzip in der Rechtsprechung der Republik Türkei, JöR 36 (1987), S. 179 ff; dersDas türkische Verfassungssystem, 1996, S. 105 ff. 134 Beispiele: CSFR-Grundrechtscharta von 1991 (Art. 2 Abs. 1): "The state is founded on democratic values and must not be bound either by an exclusive ideology or by a particular religion" (vgl. meinen Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa..., AöR 117 (1992), S. 169 (191)); Verfassung der Russischen Föderation (1993), Art. 13 Ziff. 2: "No ideology may be established as the state ideology or as compulsory ideology"; Verfassungsentwurf Ukraine (1993), Art. 9 Abs. 4: "No ideology shall limit the freedom of convictions, opinions, and thoughts or be recognized as the official state ideology." (Ähnlich Art. 15 Verf. Ukraine von 1996, Art. 12 Verf. Usbekistan.) 135 Dazu mein Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates: rechts- bzw. kulturwissenschaftlich betrachtet, liber amicorum J. Esser, 1995, S. 49 ff. Aus der Lit. zuletzt: M. Razwi, Die Bedeutung der Glaubensfreiheit aus der Sicht
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
in seinen Grenzen hat es aber sehr wohl seine umschreibbare Aufgabe. Das staatliche Gewaltmonopol, als ultima ratio praktiziert, behält seine Berechtigung. Allerdings ist immer wieder daran zu erinnern, daß Staat und Recht nur instrumentale Bedeutung haben, kein Selbstzweck wie in manchen "Gottesstaaten" sind. Trotz aller Fundamentierungen, deren die offene Gesellschaft nicht entraten kann: ihr Signum bleibt die ewige Wahrheitssuche in Politik, Wissenschaft und Kunst, das Wissen um das mögliche Scheitern statt Heilsgewißheit.
III. Verfassungskultur Im Begriff "Verfassungskultur" 136 als der Summe der subjektiven Einstellungen, Erfahrungen, Werthaltungen, der Erwartungen und des Denkens sowie des (objektiven) Handelns der Bürger und Pluralgruppen, der Organe auch des Staates etc. im Verhältnis zur Verfassung als öffentlichem Prozeß findet diese nicht-juristische Fassung der Verfassung eines politischen Gemeinwesens einen angemessenen Ausdruck. Zum Beispiel sind die Grenzen der Verfassungsänderung kaum allein in einer rechtlichen sog. "Ewigkeitsklausel" wie in Art. 79 Abs. 3 GG (einer typischen "Juristennorm"!) zu suchen als vielmehr über praktizierte Erdes Islam, in: Friedmann/Frowein/Grewe u.a., Religionsfreiheit, 1996, S. 35 ff; E. Mikunda Franco , Das Menschenrechtsverständnis in den islamischen Staaten, JöR 44 (1996), S. 205 ff. 136 Dazu ausf. P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl/A. Möhler (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 289 ff. (Neuausgabe 1989).- Ein Parallelbegriff zu "Verfassungskultur" ist "Verwaltungskultur" (vgl. Vorauflage 1982, S. 20 Anm. 25). Sie meint jene Einstellungen und Praxen, Traditionen und Ziele, Selbstverständnisse und Vorverständnisse, die die öff. Verwaltung über das "rein Rechtliche" hinaus und über längere Zeit hin prägen. Hierzu gehören auch Defizite: die gute oder weniger gute Art, in der die Verwaltung mit dem Bürger "umspringt", ihre tatsächliche oder verfehlte Bürgernähe, ihre Vollzugsdefizite und ihre Effizienz, ihr "Stil", ihre "personale Substanz", ihr Gegen- und Miteinander zu den anderen - staatlichen - Funktionen sowie ihr Verhältnis zur organisierten und nicht organisierten Öffentlichkeit. Die Gerichte operieren schon durchaus mit einzelnen Aspekten: etwa im Topos "Sachlichkeit" und bei anderen Anforderungen an "gutes" Verwalten (im Rahmen von Amtspflichten). Gute Verwaltungskultur prägt die Verfassungskultur mit, schlechte verdirbt sie. Die Neigung der Bürokratie, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen, ist schlechte Verwaltungskultur. Zum Allgemeinen Verwaltungsrecht als "Ordnungsidee", durch die die "Verwaltungskultur" eines Landes geprägt werde: E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, S. 7. Später: W. Thieme, Über Verwaltungskultur, in: Die Verwaltung Bd. 20 (1987), S. 933 ff.; jetzt D. Czybulka, Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, FS Knöpfle, 1996, S. 119 ff.
I . Verfassungskultur
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ziehungsziele im Blick auf Menschenwürde und Toleranz, Freiheit und Gleichheit: "Pädagogische Verfassungsinterpretation" als Vehikel für Verfassungskultur und der pflegliche Umgang mit der qualitativ verstandenen Verfassung werden zur wirklichen Garantie der Verfassung. Bis aus "erlassenen" Verfassungen eine Verfassungskultur wird, braucht es viel Zeit. Darum muß z.B. der Satz, dieses GG sei die freiheitlichste Verfassung, die es je auf deutschem Boden gab, durch die Frage relativiert werden, 137
wie tief die "politische Kultur" auch in Krisen demokratisch gegründet sei, wie sehr sich in Wort und Tat der einfache Bürger mit den Grundrechten aller anderen Bürger identifiziert, nicht nur mit den eigenen, und wie pfleglich die Verfassung von allen gewahrt wird 1 3 8 . "Politische Kultur" geht der Verfassungskultur in zeitlicher Hinsicht oft voraus, diese bildet einen spezifischen Aggregatzustand jener 1 3 9 . Es besteht aber keine volle Identität. Formal setzt Verfassungskultur einen höheren Grad an Dichte, Beständigkeit, Dauer und Objektivation voraus als "politische Kultur": nicht alles, was politische Kultur ist, wird zur Verfassungskultur; diese verlangt ein Mindestmaß an Ausdauer und Objektivierbarkeit. Verfassungskultur ist Ergebnis generationenlanger Ar137 Der Begriff der "politischen Kultur" wird seit geraumer Zeit und neuerdings verstärkt diskutiert; aus der Fülle der Literatur zur "politischen Kultur" etwa: P. Reichel, Politische Kultur - mehr als ein Schlagwort? Anmerkungen zu einem komplexen Gegenstand und fragwürdigen Begriff, PVS 21 (1980), S. 382 ff.; ders., Politische Kultur der Bundesrepublik, 1981; ders., Politische Kultur zwischen Polemik und Ideologiekritik, PVS 22 (1981), S. 415 ff.; D. Berg-Schlosser, H. Gerstenberger, K. L. Shelt/J. Schissler bzw. 0. W. Gabriel, jeweils PVS 22 (1981), S. 110 ff., 117 ff, 195 ff. bzw. 204 ff.; J. Schissler (Hrsg.), Politische Kultur und politisches System in Hessen, 1981, bes. S. 7 ff.; M. und S. Greiffenhagen/R. Prätorius, Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, 1981; G. A. Almond/S. Verba (Eds.), The civic culture revisited, 1980. Demgegenüber besitzt "Verfassungskultur" noch kaum Tradition. Die Sache, die sie meint, ist freilich unter anderen Namen schon diskutiert worden. Das Wort vom Verfassungsrecht als "politischem Recht" (R. Smend, auch H. Triepel), D. Schindlers "Ambiance", aber auch Überlegungen zum - kulturellen - Kontext von Verfassungsnormen liefern Gesichtspunkte für die Erarbeitung der "Verfassungskultur". - Für Frankreich denkt ganz in diesem Sinne: A. Kimmel, Nation, Republik, Verfassung in der französischen politischen Kultur, FS H. Maier, 1996, S. 423 ff. Ergiebig auch R. Picht, Kulturpolitik als Modernisierungsstrategie, Der französische Weg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 39/1989, S. 26 ff.- Für Österreich: T. Öhlinger, Stil der Verfassungstextgebung - Stil der Verfassungsinterpretation. Einige undogmatische Reflexionen zur österreichischen Verfassungskultur, FS Adamovich, 1992, S. 502 ff. 138 Zum Zusammenhang von Grundrechten und (politischer) Kultur auch H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S. 200 ff., 308 f.; s. schon meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 ff. 139 Vgl. auch die These von J. Schissler, aaO., S. 9, demzufolge "jede Wertimplikation im politischen Handeln, in den Verfassungen und den Institutionen als Element von politischer Kultur aufgefaßt und analysiert werden kann".
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
beit an der Verfassung.- Inhaltlich hat der (freilich ungeklärte) Begriff der "politischen Kultur" einen stärker betonten Bezug zum politischen Prozeß; er meint die kulturellen Grundlagen demokratischen Verhaltens. Verfassungskultur meint diese auch, umfaßt aber noch weiterhin alle verfassungsrelevanten kulturellen Grundlagen des verfaßten Gemeinwesens, auch soweit es an einem unmittelbaren Bezug zur Bestellung, Ausübung und Kontrolle politischer Macht fehlt. Für den Bereich der Demokratie können beispielhaft Felder genannt werden, in denen das Verfassungsrecht Raum läßt für ein eigenes Werden politischer Kultur. Verfassungskultur nimmt dabei allmählich Elemente dessen auf, was man in Deutschland allenfalls "Nationalkultur" nennt: Das Wahlverhalten der Bürger, etwa die Bereitschaft, "Machtwechsel" auch wirklich herbeizuführen (wie in England), die Bereitschaft, Ehrenämter zu übernehmen, Parlamentsbräuche und praktizierter Ehrenkodex der Abgeordneten, die Rolle des Journalismus (überwacht etwa vom Deutschen Presserat), auch der freien Advokatur, Sensibilität, psychologische "Dämme" gegen Korruption und Steuerhinterziehung, Wachsamkeit und Kritikbereitschaft der öffentlichen Meinung, all das sind Momente der "Verfassungskultur" 140. Auch war und ist in Frankreich das Verhältnis von politischer Macht und Kultur immer ein anderes näheres - als in Deutschland. Zu viel wird vom "Wirtschaftsstandort Deutschland" gesprochen, zu wenig vom Kulturstandort. So brennt J. Habermas' Wort vom "DM-Nationalismus" (1990) schmerzhaft in den Ohren und kann allenfalls durch D. Sternbergers "Verfassungspatriotismus" balanciert werden. So kennzeichnet schon H. Heine treffend Polen: "Wenn Vaterland das erste Wort der Polen ist, so ist Freiheit das zweite." Verfassungskultur wirkt spezifisch in der "Zeit". Dazu das Folgende:
140 Im einzelnen kann der Inhalt von "Verfassungskjultur" ambivalent sein. Die hohe Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen kann als charakteristisches Merkmal der Verfassungskultur angesehen werden, die vom "Willen zur Verfassung" i.S. von K. Hesse gekennzeichnet ist (so: H.-P. Schneider, Die Verfassung Aufgabe und Struktur, in: AöR-Beiheft 1, 1974, S. 64 ff. [68 ff.]), aber auch als Signal für politische Störungen oder politischen Zwang (vgl. in dieser Tendenz R. Dahrendorf, Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, 1968, S. 36 ff.).- Ausdruck der "Verfassungskultur" ist z.B. die Bürgernähe der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie auch dank der das "Rechtsgespräch" eröffnenden Popularklage in Bayern praktiziert wird.- Einen die Wissenschaft vom öffentlichen Recht befruchtenden Vorstoß unternimmt A.-H. Mesnard, L'action culturelle des pouvoirs publics, 1969.
IV. Zeit und Verfassungskultur
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IV. Zeit und Verfassungskultur 1. Einleitung: Makrodimension - Mikrodimension - Alltagsbeispiele Der Versuch, dem Thema "Zeit" im Lichte der Verfassung und ihrer Kultur nachzugehen, beginnt mit einer ersten Annäherung anhand von Alltagsbeispielen und brisanten tagespolitischen Fragen (Stichworte: Grenzen der Staatsverschuldung, Atommüll). Die Zeitproblematik entfaltet sich im politischen Gemeinwesen in zwei Dimensionen: die erste, große, "historische" läßt sich als "Verfassung in der Zeit" kennzeichnen. Sie ist die Makro-Dimension. Die zweite oder "kleine" Mikro-Dimension kann als "Zeit im Verfassungsrecht" charakterisiert werden. Im Makrobereich geht es um Verfassungen und ihr Recht vor und in der Geschichte, im Mikrobereich um die Zeit in der Gegenwart des konkreten Verfassungsrechts, in Deutschland also des Grundgesetzes. Beginnen wir mit Beispielen, wie der Bürger die Zeit im Recht erfährt. Schon dem Laien sind aus dem juristischen Alltag in der Mikrodimension rechtliche Figuren mit Zeitbezug vertraut: Fristen, deren Nichteinhaltung den Verlust von Rechten mit sich bringt; die Verjährung von Rechtsansprüchen oder der strafrechtlichen Verfolgbarkeit im Interesse des Rechtsfriedens. Gerichtsurteile werden rechtskräftig, Verwaltungsakte der Behörden bestandskräftig. Manche Eltern werden den Schritt ihrer Kinder zur Volljährigkeit schon mit 18 Jahren mit gemischten Gefühlen betrachten, ebenso wie manche Politiker die entsprechend erfolgte Herabsetzung des Wahlalters (jüngst des Kommunalwahlrechts in Niedersachsen: 16 Jahre). Denken wir aber auch an die Legislaturperioden z.B. des Bundestages oder an Amtsperioden für Regierende, jeweils als ein Stück Kontrolle und Legitimation der politischen Macht in Demokratien, etwa im Falle der sog. "Abwahl" der Präsidenten Carter und Giscard (1980 bzw. 1981) sowie Bush (1992) evident 141 . Eine Fülle weiterer rechtlicher Formen der Periodizität von Geschehnissen wäre nachweisbar. Im
141
Der Zeitfaktor spielt je nach staatlichem Funktionsbereich eine unterschiedliche Rolle. Die 4jährige Wahlperiode des Bundestages z.B. entspricht seiner Funktion als parlamentarisches Organ; die jetzige Begrenzung der Amtsdauer von Bundesverfassungsrichtern auf 12 Jahre (§ 4 BVerfGG) ist aber nicht selbstverständlich, früher wurden sie auf Lebenszeit gewählt. Der Grundsatz, bestimmte öffentliche Aufgaben in bestimmten Gremien bzw. Funktionen nur auf Zeit zu übertragen, rechtfertigt sich aus einer Vielzahl einzelner Gesichtspunkte: etwa Verhinderung von Machtmißbrauch, demokratische Legitimation, Öffnung gegenüber neuen Entwicklungen, z.T. auch Stärkung der (richterlichen) Unabhängigkeit: Zeit und (öffentliches) Amt sind einander spezifisch verbunden. Umgekehrt gilt aber auch, daß ein Mandat auf bestimmte Zeit anvertraut ist, vom Mandatsträger verantwortet werden muß und dieser nur ausnahmsweise vorzeitig aus seiner Verantwortung entlassen werden sollte.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Problemfeld des Rechtsschutzes zeigt sich die Verknüpfung der Gerechtigkeit mit der Rechtzeitigkeit nicht nur an der aktuellen Diskussion um die Dauer der Verwaltungsgerichtsprozesse (z.B. bei Asylbewerbern und atomrechtlichen Genehmigungsverfahren), das Planverfahren im Straßenbau oder am "einstweiligen Rechtsschutz"; schon die enormen "zeitlichen Belastungen" z.B. in NS-Prozessen (wie dem Majdanek-Prozeß, im Fall Priebke (1996)), oder im Falle König 1 4 2 verdeutlichen, wo die Gerechtigkeit (schon) wegen unangemessen langer Verfahrensdauer verfehlt werden kann 143 . Gedenkaufsätze wie "30 bzw. 40 Jahre Bundesrepublik -Tradition und Wandel" 1 4 4 rufen ins Bewußtsein, wie stark die Zeit unsere - "bewährte" - Verfassung prägt; denn in diesen drei Jahrzehnten erfolgten nicht weniger als 34 (bis Ende 1996: 43) formalisierte Verfassungsänderungen: Die Makrodimension wird sichtbar. Die Verfassungsrechtswissenschaft steht hier nicht allein: Ganz allgemein, d.h. kulturell wird die Geschichte "wiederentdeckt". Das beginnt bei dem Bemühen, für das Gymnasium zu einem "Kanon der Fächer, der Texte und der Werte zurückzufinden" 145 , und führt über die studentische Wiederbesinnung auf Rechts- und Verfassungsgeschichte bis hin zur Suche nach einem Beitrag zur "Überwindung der Geschichtslosigkeit der deutschen Demokratie" 146 . Von großer Brisanz sind heute nach wie vor zwei rechtliche Fragen, hinter denen die Zeitthematik ganz neu sichtbar wird in Gestalt des Problems der Verfassung als eines "GenerationenVertrages": erstens beim Schutz der noch ungeborenen Nachwelt vor dem (endgelagerten) "Atommüll"; zweitens bei der Fra142 EuGH Menschenrechte, NJW 1979, S. 477 ff. Er hätte schon aus Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG "richtig entschieden werden können. Vgl. BVerfGE 55, 349 (369): "Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit". S. aber auch BVerfGE 55, 1 (6): Das rechtliche Gehör verwehrt, "daß mit dem Menschen 'kurzer Prozeß'gemacht wird." 143 Ein Beispiel für die Arbeit mit dem Zeitargument bei der Feststellung von Gewohnheitsrecht: BVerfGE 34, 293 (304). 144 So der Titel des von J. Becker 1979 herausgegebenen Bandes; ferner: D. Merten/R. Morsey (Hrsg.), 30 Jahre Grundgesetz, 1979; H.P. Ipsen, 40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, JöR 38 (1989), S. 1 ff. 145 Vgl. K. Adam, in: FAZ vom 15. Dezember 1980, S. 21. 146 Λ Glotz, zit. nach FAZ vom 16. Dezember 1980, S. 2.- P. Lerche berichtet als Mentor einer Vortragsreihe der Siemensgesellschaft zum Thema "Die deutsche Neurose" (Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, hrsgg. von A. Peisl und A. Möhler, Bd. 3, 1980, S. 238, 240) von der zugehörigen Erläuterung: Handlungsfähig sei ein Volk erst, wenn es in der Lage sei, seine Geschichte zu erzählen und sich mit ihr und durch sie zu identifizieren.- Bemerkenswert Art. 23 Abs. 2 Verf. Thüringen (1993): "Der Geschichtsunterricht muß auf eine unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein".
IV. Zeit und Verfassungskultur
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ge der Grenzen der Staatsverschuldung, die im Interesse späterer Generationen zu ziehen sind. Beide Fragen haben mehreres gemeinsam: Die positiven Texte des GG (vgl. nur Art. 115 Abs. 1 S. 2), aber auch anderer Verfassungen, lassen uns weitgehend im Stich. Darum ist grundsätzlich vom Verfassungsverständnis aus und tiefer kulturwissenschaftlich zu argumentieren: Beinhaltet eine als dynamisierter (Sozial-)Vertrag i.S. eines "immer neuen sich Vertragens" verstandene Verfassung nicht auch den Schutz der späteren Generationen, ihrer kulturellen Güter als materielles und immaterielles Substrat für ihr Leben, ihrer Umwelt und ihrer Freiheit vor übermäßigen Steuerlasten? Der heutige Verfassungsinterpret und -politiker sähe sich also auch zeitlichen Grenzen gegenüber: in der Makrodimension. A u f diese verfassungstheoretisch noch auszumessende Fragen könnte das Thema "Zeit und Verfassungskultur" antworten. Denn "Kultur" erinnert an Verantwortungen und Bindungen, die die rein juristische Betrachtungsweise nicht zu erkennen vermag. Und die Verfassungslehre muß sich dem Zeit-Thema ganz allgemein stellen.
2. Bestandsaufnahme: Das Zeitproblem in Verfassungspraxis und -theorie a) Ausgangspunkte der Diskussion Der Verfassungsstaat gemeineuropäisch/atlantischer Prägung ist gekennzeichnet durch die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse, durch Volkssouveränität und Gewaltenteilung, durch Grundrechte und Toleranz, Parteienvielfalt und Unabhängigkeit der Gerichte; er wird aus gutem Grund als pluralistische Demokratie bzw. offene Gesellschaft gerühmt. Seiner Verfassung, verstanden als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, kommt erhöhte formelle rechtliche Geltungskraft zu. Sie stiftet das Moment der Stabilität und Dauer; eindrucksvolles Beispiel ist die mehr als zweihundertjährige US-Bundesverfassung. Dieser Dauer wegen - das GG wagt für seine Grundprinzipien in Art. 79 Abs. 3 analog einigen anderen, ihm vorangegangenen und später nachfolgenden Verfassungen sogar einen "Ewigkeitsanspruch"! - bedarf es aber auch der Instrumente und Verfahren, dank derer sich die Verfassung als "öffentlicher Prozeß" 147 an Entwicklungen in der Zeit flexibel anpaßt, ohne daß der Sinn der Verfassung Schaden leidet: nämlich "Anregung und Schranke" i.S. R. Smends zu sein, auch "Norm und Aufgabe" (U. Scheuner) und "Beschränkung und Rationalisierung" staatlicher Macht (H. Ehmke), auch gesellschaftlicher Macht. Gerade die US-Bundesverfassung 147
Zum Ganzen: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996); zu den Ewigkeitsklauseln unten Fünfter Teil III Ziff. 2.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
kennt neben der zahlenmäßig in zweihundert Jahren ungewöhnlich selten in Anspruch genommenen Verfassungsänderung (derzeit erst 28 Amendments) Verfahren des Wandels: vor allem durch Verfassungsrichterspruch. Die deutsche Staatsrechtslehre hat sich mit dem Zeitthema erst in den 70er Jahren näher beschäftigt. Sowohl die Reformeuphorie dieser Jahre als auch die Verfassungs-Jubiläen und der berechtigte Stolz auf das GG und seine Geschichte dürften dem Zeitthema günstig gewesen sein. So finden wir 1974 die Stichworte "Zeit und Verfassung" 148 , später die Modifizierung zu "Verfassung 149
und Zeit" ; W. Maihofers Wort von der "Rechtswissenschaft als Zukunftswissenschaft" (1971) und G. Husserls frühe Studien über "Recht und Zeit" (1955) waren hier ebenso motivierend wie die Entdeckung der Planung als "neuer" Staatsfunktion 150. Auch das "Prinzip Hoffnung" Ernst Blochs könnte eine dauernde Ermutigung sein, die Zeitdimension im gesellschaftlichen Zusammenleben zu thematisieren und sie im Recht bewußt zu reflektieren 151 . Dafür hat sich die Verfassungslehre zu sensibilisieren. Für die meisten heutigen Arbeiten zum Zeitthema ist ein Doppeltes charakteristisch: Erstens vernachlässigen sie die Ambivalenz des Janus "Zeit": Zeit wird voller Entdeckerfreude vor allem im Blick auf die Zukunft betrachtet, der 148
P. Häberle, Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 (1974), S. 111 ff, auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 ff. 149 Vgl. M. Kloepfer, Verfassung und Zeit, in: Der Staat 13 (1974), S. 457 ff.; W.-R. Schenke, Verfassung und Zeit..., in: AöR 103 (1978), S. 566 ff. Aus der Literatur ferner und zuvor: W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972; G. Dürig, Zeit und Rechtsgleichheit, in: FS Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 21 ff. Früh: HA7. Evers, in: W. Weber/C.H. Ule/O. Bachof (Hrsg.), Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 63 ff.; R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 9 ff. u.ö.; S. Rosenne, The time factor in the Jurisdiction of the International Court of Justice, 1960; Κ. Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 67 ff.; zuletzt: G. Winkler, Zeit und Recht, 1995; H. Maier, Die christliche Zeitrechnung, 1991; C.M. Cipolla, "Gezählte Zeit". Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte, 1997. 150 Dazu J.H Kaiser, in: J.H. Kaiser (Hrsg.), Planung, Bd.I (1965), S.7, 31 f. 151 Die Utopie, als klassische Literaturgattung in der Staatslehre bekannt, holt als utopischer Entwurf die Zukunft spezifisch in die Gegenwart herein. Sie hat in ihr schon im jeweiligen Heute eine Funktion: als Hoffnung, aber auch als Entlastung. Es darf der Satz gewagt werden, Utopien seien unentbehrlich für politisches Denken und Handeln. Ihr "élan créateur" ist jeweils eine Herausforderung an die Gegenwart und ihre Möglichkeiten. Auch der heutige Verfassungsstaat war einmal eine Utopie! Die kritische Sonde, die Utopien implizite oder explizite an die Gegenwart anlegen - oft durch Verlegung von Raum und Zeit ins Utopische - ist auch in der offenen Gesellschaft unverzichtbar. Sie ist ein legitimes Mittel der Kritik an bestehenden Zuständen, so "unerträglich" Utopien oft erscheinen. Das Eigentümliche ist, daß hier eine Literaturgattung mit Hilfe des Kunstgriffs der Raum- und Zeitverschiebung eine Grundlagenwissenschaft wie die Staats- und Verfassungslehre mit bestimmt. S. dazu auch noch unten Fünfter Teil IX Ziff. 5.
IV. Zeit und Verfassungskultur
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traditionale Aspekt ist nicht gleichermaßen grundsätzlich und differenziert behandelt. Da aber die Eigenart des Verfassungsstaates, ja seine besondere Leistung in einer flexiblen Verknüpfung von dynamischen und statischen Momenten liegt, müssen Tradition bzw. Erbe und Gegenwart bzw. Zukunft mit Offenheit nach vorn verarbeitet werden können. Mögen die Akzente und Bedürfhisse im Laufe der Entwicklungsgeschichte einer Verfassung wechseln, verfassungstheoretisch sind von vorneherein beide Perspektiven ins Auge zu fassen. Zweitens wird das Zeitthema weder methodisch noch sachlich prinzipiell über das im engeren Sinne Juristische hinausgeführt: etwa im Blick auf das übergreifend Kulturelle hin, von dem Verfassung und Recht doch nur ein Teil sind. Spätestens das Buch von R. Wendorff "Zeit und Kultur" von 1980 wird daher zur Herausforderung, unser Thema "Zeit und Verfassung" von 1974 heute (1996) zum Thema "Zeit und Verfassungskultur" fortzuführen. b) Verfassungsstaatliche Instrumente und Verfahren zur Anbindung der Verfassung an die Zeit Vergleichen wir verfassungsstaatliche Verfassungen, so erweist sich, daß sie dem Zeitfaktor in zwei Richtungen Tribut zollen: (1) Im Blick zurück (retrospektiv): auf die Vergangenheit, auf Tradition und Überlieferung, Herkommen und "kulturelles Erbe", (2) im Blick nach vorn (prospektiv): auf das Gegenwärtige, Zukünftige, Werdende (z.B. in der Form von sog. "Verfassungswandel", gesetzlichen Experimentierklauseln, Vorwirkung von Gesetzen und völkerrechtlichen Verträgen oder Verfassungstextänderungen). Im Spannungsfeld beider Dimensionen, im Wechselspiel der einzelnen stärker traditionalen bzw. prospektiven Verfahren erst "lebt" die Verfassung offener Gesellschaften, deren Eigenart gerade die Anerkennung der Ungleichzeitigkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen (und damit des Pluralismus) ist. Langfristig kommt es durch beide Dimensionen hindurch zu kulturellen Prozessen der Produktion und der Rezeption, an denen Verfassungen teilhaben und in ihnen alle Interpreten einer offenen Gesellschaft: staatliche und öffentliche Funktionen, Gesetzgeber und Parteien, Bürger und Gruppen, Bundesverfassungsgericht und Untergerichte, die mehr als sog. bloße "Fachgerichte" sind, Staatsrechtslehre, sogar andere Wissenschaften, ja (selbst und besonders auch) die Kunst. Im einzelnen:
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß (1) Anbindung der Verfassung an Tradition und Herkommen
Verfassungen entstehen nicht auf der tabula rasa einer kulturlosen Stunde Null. Selbst wenn sie aus revolutionären Prozessen geboren sind, kennen sie Formen der Anbindung an Vorgefundenes, bleiben Bruchstücke der alten (Verfassungs-)Rechtskultur erhalten. Das GG und die deutschen Landesverfassungen seit 1946 sowie die ostdeutschen seit 1992 kennen ein differenziertes Instrumentarium der Einbeziehung von Tradition und Traditionen. Seine Behandlung muß vor der Erörterung des Wandels von Verfassungen stehen. (a) Rezeptions- und "kulturelles
Erbe"-Klauseln
An die erste Stelle gehört die ausdrückliche Rezeption (Tradition durch Rezeption): Beispiele wie Art. 140 GG (die Übernahme des Weimarer Staatskirchenrechts), aber auch Herkommensklauseln wie Art. 12 Abs. 2 GG oder Art. 123 Abs. 1 GG ("Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht") sind klassische verfassungsstaatliche Rezeptionsformen 152. Im übrigen gibt es eine Fülle mehr oder weniger stillschweigender Rezeptionen vor allem im Grundrechtsteil 153. Ganze 152
Weitere Beispiele: vgl. Art. 178 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 WRV; s. auch die Regelungen in Art. 170 Abs. 3 S. 1, 174 S. 1 WRV. Ferner: Art. 94 Abs. 3 Verf. Bad.-Württ.; Art. 196 Abs. 2 und 3 Verf. Bayern; Art. 85 Verf. Berlin; Art. 151 Abs. 2 Verf. Hessen (Antastung der "bestehenden Rechtseinheit" nicht ohne zwingenden Grund); Art. 55 Verf. Niedersachsen; Art. 137 Verf. Rheinl.-Pfalz; Art. 132 Verf. Saarland mit einer Anpassungsklausel. Zuletzt Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg (1992): Rezeption der EMRK. S. auch Art. 56 Abs. 2 Verf. Niedersachsen: "Die überkommenen heimatgebundenen Einrichtungen dieser (sc. ehemaligen) Länder...". Mitunter ist aber gerade hier schon auf künftige Verfassungen Bezug genommen: Art. 152 Verf. Bremen; s. auch Art. 153 Abs. 2 Verf. Hessen: "Künftiges Recht der deutschen Republik bricht Landesrecht". Ferner Art. 141 Verf. Rheinl.-Pfalz. 153 Dazu allg. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 162 ff.; s. auch P. Lerche, Zum Anspruch auf rechtliches Gehör, in: ZZP 78 (1965), S. 1 (11 f.).- Durchmustert man die deutschen Länderverfassungen seit 1946, so gibt es Rezeptionsklauseln in bezug auf 140 GG (so Art. 5 Verf. Bad.-Württ., Art. 22 Verf. NRW), wie überhaupt das Staatskirchenrecht in Deutschland nicht nur ausweislich Art. 140 GG eine betont "rezeptionshaltige" Materie ist, vgl. etwa die Kirchenvertragsgarantien in Art. 8 Verf. Bad.-Württ. oder die Status-quo-Garantie in Art. 7 Abs. 1 ebd. (Leistungen an die Kirchen bleiben dem Grunde nach gewährleistet); ähnlich Art. 145 Abs. 1 Verf. Bayern, Art. 133 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern: "anerkannten Religionsgemeinschaften"; s. auch Art. 37 Abs. 2 Verf. Saarland; Art. 60 Abs. 2 Verf. Hessen: Statusquo-Garantie für theologische Fakultäten an den Universitäten.- Bezug genommen wird mitunter auf eine "abweichende Übung" (Art. 10 Verf. Bad.Württ.). Überall dort, wo auf christliche Kulturwerte verwiesen wird, bricht mehr oder weniger deutlich der Rezeptionsaspekt auf, vgl. Art. 3 Abs. 1 S. 3 Verf. Bad.-Württ.: "Christliche Überliefe-
IV. Zeit und Verfassungskultur
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Rechtskulturen wie das Bürgerliche Recht, das BGB 1 5 4 , haben auf diese Art große Verfassungsumbrüche überlebt 155 , mitunter im Wege einer "Sprung-Rezeption" über Perioden - wie das sog. "Dritte Reich" - hinweg. Im Medium der "historischen Auslegung" als dem klassischen Mittel, die Vergangenheit juristisch einzubinden 156 , wird so schließlich ein "vorverfassungsrechtliches Gesamtbild" (H. Nawiasky) 157 zum Anknüpfungspunkt an die Vergangenheit 158. Für unseren Zusammenhang besonders zu beachten ist jene Gattung von Verfassungssätzen, die intensiv auf "verfassungskulturelle" Tiefendimensionen verweisen. Gemeint sind Normen, die sich auf Aspekte des "kulturellen Erbes" berufen, vornehmlich in Präambeln 159 , aber auch in anderen Rechtstexten160.
rung"; Art. 16 Abs. 1 Verf. Bad.-Württ.: "christliche und abendländische Bildungs- und Kulturwerte". S. auch BVerfGE 41, 29 (52); zuletzt E 93, 1 (19, 23). 154 Und in seinem historischen Zusammenhang auch das Staatshaftungsrecht, vgl. P. Badura, Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Staatshaftungsgesetz, in: NJW 1981, S. 1337 (1339 ff.). 155 Dabei können einst wichtige Institute textlich verblassen bzw. verloren gehen! Ein Beispiel ist das Öffentlichkeitsprinzip für die Rechtsprechung. In Art. X § 178 Paulskirchen Verfassung heißt es noch: "Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein". Im GG fehlt eine solche Norm (s. aber Art. 90 Verf. Bayern: Grundsatz öffentlicher Gerichtsverhandlungen!). Ihr Inhalt ist aber in Art. 92 GG mitzudenken (ähnliches gilt für die in Art. XI § 184 ebd. programmierte kommunale Selbstverwaltung bzw. Art. 28 Abs. 2 GG). in Art. 109 WRV mußte es in Abs. 3 noch heißen: "Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben; Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens...". In Art. 3 GG wurde das immanent vorausgesetzt. Viele der in Art. 129 WRV noch einzeln aufgeführten Prinzipien gehören heute zu den "hergebrachten Grundsätzen" des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG. So gesehen schaffen Verfassungen in vielerlei Formen der ausdrücklichen oder stillschweigenden Rezeption Kontinuität. 156 Dazu auch Ch. Starek, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34 (1976), S. 43 (72); P. Häberle, Zeit und Verfassung (1974), später in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 (76 ff). 157 H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1948, S. 130 f.; s. auch BVerfGE 56, 22 (28): "Vorverfassungsrechtliches Gesamtbild des Prozeßrechts". 158 Es darf nicht zeit-los interpretiert werden, um die Bildung von "Verfassungsfossilien" zu vermeiden; vgl. kritisch W.-R. Schenke, aaO., AöR 103 (1978), S. 566 (584). Beispiele für die Gefahren solcher Versteinerung lassen sich unschwer bei Auslegungen der "hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" (Art. 33 Abs. 5 GG) finden.- Rezeptionen vorgefundener (Rechts-)Texte sind keine lediglich "passive" Übernahme. Die inkorporierten Texte gewinnen in ihren neuen Kon-Texten neue Dimensionen und entsprechend gewandelte Inhalte. Umgekehrt beeinflussen sie ihrerseits diese Kon-Texte. Insofern kommt es auch hier zu einem Wechselspiel von (kultureller) Rezeption und Produktion. 159 Vgl. Präambel Verf. Hamburg: "Als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene Aufgabe...". Präambel Verf. Bayern: "Mehr als tausendjährige Geschichte". Präambel Verf. Brandenburg: "... im Geist der Traditionen von Recht, Toleranz und Solidarität". Präambel Verf. Sachsen: "gestützt auf Traditionen der sächsi10 Häberle
100
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Ergiebig sind hier - wie gezeigt - vor allem die Verfassungen der Entwicklungsländer. (b) Klassikertexte
und Erziehungsziele
Ähnlich wirksame kulturelle "Transmissionsriemen" für Überlieferung sind Klassikertexte und Erziehungsziele. Klassikertexte eines Locke oder Montesquieu 161 haben den Verfassungsstaat wesentlich vorangetrieben und ausgebaut. Was zur Zeit des John Locke und danach noch "Utopie" war, ist heute täglich praktizierte verfassungsstaatliche Errungenschaft: Denken wir an Elemente des Rechtsstaates, die Bindung aller öffentlichen Gewalt, an das Widerstandsrecht als ultima ratio. Diese Klassikertexte erweisen sich im Laufe der neueren (Verfassungs-)Geschichte immer wieder als Legitimationsebene und Herausforderung für den Verfassungsstaat. Nicht nur die "Federalist Papers" von 1788 für die USA, auch alte und neue
sehen Verfassungsgeschichte".- Die vielleicht umfassendste, über das Juristische hinausführende Umschreibung des - kulturellen - Erbes findet sich in der Präambel der EMRK von 1950: "...entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Uberlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen...". Präambeln erweisen sich mithin als diejenigen Bestandteile von Rechtstexten, die dem umfassenden Kulturellen am ehesten Raum lassen und die Brücke zwischen diesem und dem rechtlich Ausgeformten schlagen. Schon die vorangegangene Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949 hatte in ihrer Präambel ebenfalls zwischen dem Geistigen und den Rechtsprinzipien Brücken geschlagen: "...in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht".- Die europäische Sozialcharta (ESC) von 1961 beschwört schon in ihrer Präambel die Ideale und Grundsätze, die der Mitglieder des Europarates "gemeinsames Erbe sind"; zugleich will sie aber auch "Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten". Allgemein: P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 8. 160 Vgl. Art. 1 Europäisches Kulturabkommen vom 19. Dez. 1954 (zit. nach F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. 1, 1967): "Jede Vertragspartei trifft geeignete Maßnahmen zum Schutz und zur Mehrung ihres Beitrags zum gemeinsamen kulturellen Erbe Europas". S. auch Art. 5 ebd.: "Als Bestandteil des gemeinsamen europäischen kulturellen Erbes".- All diese Rezeptionsformen sind ein Stück Legitimation der Gegenwart durch Tradition. 161 Einzelheiten zum folgenden in: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 11 ff., 35, 47 f. u.ö.- Aus der ("klassischen") Lit. noch T.S. Eliot: Was ist ein Klassiker? (1944), 1963. S. noch Fünfter Teil VIII.
IV. Zeit und Verfassungskultur
101
Texte (von Sophokles bis B. Brecht) etwa zur Menschenwürde 162 speichern kulturelle Einsichten und Erfahrungen, die den "positiven" Verfassunggeber überdauern. Spätere Verfassungsausleger können die alten Texte jeweils neu interpretieren - sie sollen sie aber nicht archivieren! Erinnert sei beispielhaft daran, wie man Montesquieu und J.-J. Rousseau auch für das Demokratieverständnis des GG immer wieder gegeneinanderstellt 163. Schließlich tradieren die ausdrücklichen ebenso wie die durch Interpretation gewonnenen Erziehungsziele Bildungsgüter (etwa nach Art. 131 Abs. 2, 136 Abs. 2 Bayer. Verf. z.B. Toleranz, Menschenwürde, Völkerversöhnung etc., ähnlich Art. 22 Verf. Thüringen); sie formulieren auf einem Teilbereich ein Stück des "kulturellen Erbes" 164 . Insofern dienen sie als Instrument, das Vorgefundene zu stabilisieren; zugleich richten sich die Erziehungsziele auf die Zukunft: Sie grundieren die offene Gesellschaft kulturell, übers Juristische hinaus, und sichern so den Verfassungsstaat in der Generationenfolge. Mit Rezeption kann so bereits auch der Wandel rezipiert werden: Damit kommen, nach den verschiedenen Stufen der Vergangenheitsbewältigung, Gegenwart und Zukunft ins Blickfeld. (2) Verarbeitung des Zeitfaktors in Gegenwart und Zukunft Die Verfahren und Instrumente zur verfassungsrechtlichen Verarbeitung des Zeitfaktors im Blick auf Gegenwart 165 und Zukunft sind vielgestaltig; ein stärker "dynamisches" Verfassungsverständnis 166 wendet sich ihnen primär zu. Gestuft nach dem Grad der Formalisierung ergibt sich folgendes Bild:
162
Dazu mein Athener Gastvortrag über die Menschenwürde, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 (420 f., 423 f.). 163 Etwa im Verhältnis von Art. 38 zu Art. 21 GG. 164 Einzelheiten in P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 29 ff.; ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS Hans Huber, 1981, S. 211 ff. Vgl. noch Sechster Teil VIII Ziff. 2. 165 Vergessen wir nicht, daß der Faktor Zeit auch Gegenwärtigkeit bedeutet. Im Verfassungsrecht heißt dies "Geltung", Bejahung und Annahme durch die Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft, Durchsetzbarkeit und Präsenz im Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft. Dennoch dürfte "Gegenwart"" eher Sache der Verwaltung sein, s. P. Kirchhof, Verwalten und Zeit. Über gegenwartsbezogenes, rechtzeitiges und zeitgerechtes Verwalten, 1975, bes. S. 2 ff. im Anschluß an G. Husserl, Recht und Zeit, 1955, S. 42 ff., 52 f. 166 Vgl. als stärker "statisch" orientierten Ansatz aber: W. Leisner, Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts?, in: Der Staat 7 (1968), S. 137 ff.
102
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
(a) Zukunfts- und Fortschrittsklauseln Eine besondere Form verfassungstextlicher Beanspruchung der Zukunft findet sich in mehreren Varianten: in der absoluten, "ewigen" Festlegung auf bestimmte Prinzipien - ähnlich Art. 79 Abs. 3 GG 1 6 7 -, in der Formulierung eines 168 "immerwährenden Geltungsanspruchs" oder in der dauernden Negierung besonders verwerflicher früherer Rechtszustände wie der Leibeigenschaft oder der Titel 1 6 9 . Hier schlägt die scharfe Vergangenheitsbewältigung in einen hohen Zukunftsanspruch um. Eine weitere Thematisierung der Zukunft findet sich in Verfassungen, die ausdrücklich von "segensreicher Zukunft" sprechen 170, die kommenden deutschen Geschlechter ansprechen 171, von der Republik die Förderung der kulturellen Entwicklung verlangen 172 oder den "Fortschritt" beschwören: in Klauseln, die sich zur Feiertagsgarantie des 1. Mai als Bekenntnis zum Fortschritt äußern (Art. 32 Verf. Hessen 1946) oder weit allgemeiner 173 . Die zwei Seiten einer Kultur, ihre traditionale wie ihre prospektive, kommen hier schon deutlich zum Ausdruck 174 .
167 Vgl. Art. 16 Erkl. 1789; Art. 110 Abs. 1 Verf. Griechenland (1975); Art. 130 Verf. Belgien; Art. 9 Verf. Türkei (1961); Art. 89 Abs. 5 Verf. Frankreich (1958); Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern (1946). S. noch Fünfter Teil III Ziff. 2. 168 So Art. 25 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975): "immerwährende Menschenrechte". 169 "Die Leibeigenschaft bleibt immer aufgehoben": § 25 Verf. Württ. (1819); ähnlich Art. IX § 166 Paulskirchenverf.; Art. 11 § 137 ebd.: "Alle Titel... sind aufgehoben und dürfen nie wieder eingeführt werden". Art. 186 Abs. 1 Verf. Bayern (1946): "Die Bayerische Verfassung vom 14. August 1919 ist (!) aufgehoben". 170 Präambel Hessische Verfassungsurkunde (1831); s. auch die "Zukunft" in Präambel Verf.Hessen (1946). 171 So die generationenorientierte Präambel der Verf. Bayern (1946); jetzt Präambel Verf. Ukraine (1996): "past, present and future generations". S. auch Präambel Verf. Kwazulu Natal (1996): "present generation and posterity". Ähnlich Präambeln Verf. Kasachstan (1995), Verf. Armenien (1995) und Verf. Aserbaidschan (1996). 172 Art. 9 Abs. 1 Verf. Italien (1947). 173 Präambel Verf. Spanien (1978): "Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern". S. auch Art. 41 Abs. 2 Verf. Türkei. Bezugnahmen auf künftige Verfassungen sind eine Sonderform: Art. 152 Bremen; Art. 153 Abs. 2 Hessen; Art. 141 RheinlandPfalz. 174 Prägnant Art. 9 Verf. Italien: Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung (Abs. 1), sie schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation (Abs. 2).- Die Texte sind zitiert nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nichtkommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, sowie nach Ch. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995.
IV. Zeit und Verfassungskultur (b) Verfassungswandel
kraft
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Verfassungsinterpretation
Relativ unauffällig und ohne Formalisierung vollzieht sich der Verfassungswandel 175 kraft Interpretation, d.h. ohne ausdrückliche Textänderung. Allein im Wege der Interpretation, sei es durch die Gerichte, sei es durch die Staatspraxis, öffentliche Meinung und die Wissenschaft bzw. in ihrem Verbund, wird hier eine Verfassungsnorm neu bzw. anders verstanden. Das Eigentum, z.B. auch das des BGB von 1900, ist so einem tiefgreifenden Wandel unterlegen 176 . Hierher gehören Wachstumsprozesse, die einzelne Verfassungsprinzipien mit enormen Resultaten ergriffen haben. So hat das Verständnis des "sozialen Rechtsstaats" von 1997 z.B. mit der Auslegung des GG von 1949 nur noch wenig gemeinsam. Auch die - unverändert aktuellen 177 - rechtsschöpferischen Leistungen, die dem BVerfG 1960 im (ersten) Fernsehurteil im Blick auf Art. 5 GG geglückt sind 178 , bilden ein Beispiel für Wandel durch Interpretation 179 . Die Grenzen - etwa die Grenze des Wortlauts - sind viel behandelt 180 , aber schwer zu ziehen.
175 Verf. benutzt hier mit der h.M. (G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, 1906, Nachdruck 1996) den Begriff "Verfassungswandel", obwohl dieser nach seiner Ansicht eigentlich "verabschiedet" werden müßte: vgl. P. Häberle, Zeit und Verfassung (1974), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 59 (82 f.). Aus der Literatur s. P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Festgabe für Maunz, 1971, S. 285 ff.; K. Hesse, Grenzen des Verfassungswandels, in: FS für Scheuner 1973, S. 123 ff.; W.-R. Schenke, aaO., AöR 103 (1978), S. 566 (585 ff); E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff des Verfassungswandels, FS Lerche, 1993, S. 3 ff. 176 Dazu etwa: T. Maunz, Wandlungen des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes, in: BayVBl. 1981, S. 321 ff - Probleme auch der Mikrodimension behandelt C. Timm, Eigentumsgarantie und Zeitablauf, 1977. 177 Vgl. z.B. die Entscheidung des BVerfG zum saarländischen Privatrundfunkgesetz (BVerfGE 57, 295), zuletzt die Urteile bzw. Beschlüsse BVerfGE 90, 60 (87 ff.); 91, 125 (133 ff.). 178 BVerfGE 12, 205. 179 Die rechtswissenschaftliche Literatur zum Wandel ist kaum mehr zu überblicken, vgl. etwa J. Harenburg/A. Podlech/B. Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980; W. Fikentscher/H. Franke/0. Köhler (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, 1980; U. Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980; vgl. auch T.W. Adornos Diktum: "Seine Zuflucht hat das Alte allein an der Spitze des Neuen, in Brüchen, nicht durch Kontinuität". 180 Vgl. K. Hesse, aaO., FS U. Scheuner, 1973, S. 123 (136 ff.). Vgl. auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 171 ff.; N. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 1996, S. 109; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988; F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 183 ff.Aus der weiteren Lit. zuletzt: G. Haverlcate, Normtext- Begriff- Telos, 1996; P. Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 142 ff.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Verfassungsinterpretation ist je nach Methode in sich teils retrospektiv 181 , teils prospektiv. Die einzelnen Auslegungsmethoden "organisieren" nichts anderes als die Zeit! Die historische Auslegung bringt die Entstehungszeit ein, die objektive die Gegenwart und die folgenorientierte, prognostische die Zukunft. Vielleicht ist die generelle "Unberechenbarkeit" der Zeitläufte der Grund, weshalb bislang keine Methodenlehre die einzelnen Auslegungsmethoden gewichten konnte. Vermutlich ist ihr Verhältnis zueinander eine Funktion der Zeit, also flexibel. Was Rezeptionsklauseln einerseits, Verfassungsänderungen andererseits im Großen bedeuten - sie tradieren Erbe und öffnen sich der Zukunft -, das organisieren die Interpretationsmethoden "im kleinen". Verfassungsinterpretation ist freilich kaum je nur dem Erbe oder nur der Zukunft zugewandt. Das Mischverhältnis der traditionalen bzw. gegenwartsnahen und zukunftsoffenen Momente dürfte seinerseits variabel sein. Verfassungsinterpretation - "schöpferisch" verstanden als Ausdruck des (public) law in action im Sinne J. Essers 182 - ist eben hierdurch in die Zeitachse "gespannt". Wenn das BVerfG den Prognoseentscheidungen anderer staatlicher Instan183
zen, vor allem des Gesetzgebers, funktionellrechtlich richtig Raum läßt , ist dies eine Form interpretatorischer Bewältigung der Zeit: ein Stück Zukunft wird schon jetzt berücksichtigt. Zwar hat jede staatliche Funktion ein Stück Prognosekompetenz. In der Demokratie kommt indes dem parlamentarischen Gesetzgeber die "Vorhand" zu, nicht aber ein Monopol. Schließlich sei - eng damit verbunden - die folgenorientierte Auslegung als Tribut an die Zeit erwähnt. Rechtsprechungsänderungen sind ebenfalls Ausdrucksformen der Mikrodimension "Zeit im Verfassungsrecht" wie auch die Rückwirkung von Gesetzen. (c) Sondervoten Das Sondervotum durch alternativ interpretierende Verfassungsrichter kann zu einer speziellen Form der Ankündigung und Beförderung, ja Beschleunigung von "Verfassungswandel" werden. Vor allem die Geschichte der Verfas181 Das BVerfG ist dann insofern "Rezeptionsorgan", neben ihm alle an Verfassungsinterpretation Beteiligte. 182 J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, hat insofern juristische Interpretation als Vorgang in der Zeit klassisch zum Ausdruck gebracht. 183 Dazu F. Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen ..., in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 458 ff.; R. Stettner, Verfassungsbindungen des experimentierenden Gesetzgebers, NVwZ 1989, S. 806 ff. S. z.B. BVerfGE 50, 290 (331 ff.); 56, 54 (78 ff.); 95, 267 (314).
IV. Zeit und Verfassungskultur
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sungsgerichtsbarkeit in den USA liefert hierfür erstaunliche Beispiele 184 , etwa im Zusammenhang mit der Respektierung der New-Deal-Gesetzgebung Roosevelts. Auch bei uns sind schon Anzeichen solcher Wirkungen der "Alternativjudikatur" von Sondervoten auf die Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG insgesamt nachweisbar 185 . In der Zeitachse gesehen, gibt es zwei Arten von Sondervoten: die retrospektiven und die prospektiven. Prospektive Sondervoten sind gemeinhin spektakulärer, weil ihnen die Zukunft gehört oder doch zu gehören scheint: Sie weichen durch neue Einsichten vom Überkommenen, bisher Herrschenden ab und stellen den Konsens in der Gegenwart mit neuen Erkenntnissen "produktiv" in Frage. Ein Beispiel ist das Sondervotum W. Rupp-von Brünneck zum Eigentumscharakter von Sozialleistungen186, das später vom BVerfG für Ren187
tenansprüche insgesamt aufgegriffen wurde , auch das Sondervotum Simon/ Heußner in Sachen Mühlheim-Kärlich wird immer wichtiger, es nimmt in der Wissenschaft vertretene neue Positionen auf und denkt das Mehrheitsvotum konsequent zu Ende 188 (etwa die Lehre vom "status activus processualis"). Das Sondervotum von Erwin Stein im Mephistofall 189 könnte insofern zu einem "prospektiven" und "produktiven" Sondervotum werden, als ihm seit der Wiederveröffentlichung des Klaus Mannschen Buches im Deutschland der 80er Jahre die Zukunft zu gehören scheint. Das Persönlichkeitsrecht von G. Gründ184
Dazu W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972 (vgl. auch meine Besprechung in DVB1. 1973, S. 388 f.). 185 Belege bei P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 24 ff.; eine Zusammenstellung der Sondervoten bei B. Zierlein, Erfahrungen mit den Sondervoten beim Bundesverfassungsgericht, DÖV 1981, S. 83 (94 ff.). Zuletzt K. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1994, S. 36 ff. 186 BVerfGE 32, 129(141 ff.). 187 BVerfGE 53, 257 (289 ff.). S. auch E 92, 365 (405). 188 BVerfGE 53, 30 bzw. 69; dazu ferner K. Redeker, Grundgesetzliche Rechte auf Verfahrensteilhabe, in: NJW 1980, S. 1593 ff, zuletzt E 90, 60 (96).- Als anderes "prospektives" Beispiel kommt das Sondervotum zweier Richter des BayVfGH zur Anwendbarkeit von Art. 141 Abs. 3 S. 1 (freier Zugang zu Naturschönheiten) auch auf Reiter (BayVfGHE 28 (1975), 107, 135) in Betracht. Zwar scheint dieses Sondervotum in seinem ersten Teil retrospektiv zu argumentieren - es greift dort auf den Willen des Verfassunggebers und die bisherige Rechtsprechung zurück-, letztlich ausschlaggebend ist jedoch eine neuere und zukünftige Entwicklungen berücksichtigende Argumentation. Gerade angesichts der starken Zunahme der Reiter ist es zukunftsweisend, den von ihnen ausgehenden relativ intensiven Beeinträchtigungen Belange Dritter und Gesichtspunkte der Gemein Verträglichkeit gegenüberzustellen und Reiter schon nicht in
den Anwendungsbereich von Art. 141 Abs. 3 S. 1 BayV hineinzunehmen (anders jedoch die Mehrheitsmeinung in BayVfGHE 28 (1975), 107, auch noch in E 30 (1977), 152). 189 BVerfGE 30, 173, Sondervotum ebd. S. 200.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
gens tritt jetzt zurück, sei es durch Zeitablauf, sei es in Korrektur an der Mehrheitsmeinung des Senats. Die Grenze zwischen dem Rechtlichen und dem Widerrechtlichen kann also gerade durch das Vorpreschen eines Sondervotums variabel werden 190 . Die normative Kraft von Sondervoten, ihre Rolle als "Alternativjudikatur" ist an diesem Beispiel besonders plastisch, ebenso der Vorgang von Produktion und Rezeption weit über das Juristische hinaus: Die Vitalität kultureller Prozesse wird effektiv. Retrospektive Sondervoten bringen demgegenüber eine Meinung in Begründung oder Ergebnis zum Ausdruck, die von der "moderneren" der Mehrheit überholt bzw. "überwunden" ("overruled") wurde. Vereinfacht gesagt: Der "konservative" Standpunkt ist in der Minderheit geblieben 191 .- Im Zusammenhang gesehen kann sich über längere Zeit in Sondervoten eine ganz bestimmte (Außenseiter-)Richtung repräsentieren, die ein Teil des ganzen Spektrums der Republik und der offenen Gesellschaft ihrer Verfassungsinterpreten ist. Hinter der personellen Kontinuität wird die Kontinuität in der Sache sichtbar, über die Grenzen der einzelnen Senate hinaus. So können Sondervoten in wenigen Jahren Traditionen begründen und schließlich einmal in Zukunft die Mehrheit gewinnen - oder auch als auf Dauer nicht konsensfähig zur bloßen "Fußnote" der Rechtsprechungsgeschichte werden. Man darf den (Anti-)Kruzifix-Beschluß des BVerfG (E 93, 1) unter diesem Aspekt betrachten. (d) Gesetzgebung(saufträge) Die Tätigkeit des Gesetzgebers läßt sich als ständige Verarbeitung des sozialen Wandels in der Zeit begreifen und offenbart eine Fülle von einschlägigen Verfahren und Techniken. In der Frühzeit des GG galt es, die offenen (oder versteckten) Verfassungsaufträge, etwa zur Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 2 GG), der unehelichen Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) oder auch zur innerparteilichen Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) zu 190
Erwin Steins Sondervotum dürfte auf diejenigen, die eine Wiederveröffentlichung des Romans von Klaus Mann in der Bundesrepublik verantworten zu können glaubten, eher als Ermutigung gewirkt haben, vgl. B. Spangenberg, Vorwort zu: K. Mann, Mephisto, 1980, S. 11, IV; M Reich-Ranicki, FAZ vom 18. Dezember 1980, S. 23; B. Spangenberg, Karriere eines Romans, 1981. 191 Es wäre reizvoll zu untersuchen, ob es in der relativ jungen Geschichte des Sondervotums im BVerfG auch dafür schon Beispiele gibt (vermutlich sind die USA ergiebiger).· Eine eher retrospektive Begründung (zu "Gemeinwohl", "öffentlichem Interesse" usw.) in: Sondervotum Böhmer (BVerfGE 56, 249 (266 ff.)) zur Gondelbahnentscheidung; vgl. auch das Sondervotum von F.v. Schlabrendorff, BVerfGE 33, 35 ff. Erforscht werden müßte auch, ob und wie das retrospektive und prospektive Moment an und in den Auslegungsmethoden einzelner Sondervoten ablesbar wäre.
IV. Zeit und Verfassungskultur
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"erfüllen" 192 (vgl. auch Art. 95 Abs. 3, 117 Abs. 2 GG); heute sind es oft durch Interpretation gewonnene Aufträge des Bundesverfassungsgerichts, die die Legislative in die Pflicht nehmen, in Zukunft verfassungsgerechte(re) Folgerungen zu ziehen 193 : sei es, daß eine Regelung für "noch nicht" (aber bald) verfassungswidrig erklärt wird - wie bei der Reform der Witwenrente, die bis 1984 erfolgt sein mußte 194 -, sei es, daß eine Regelung für verfassungswidrig erklärt wird, dem Gesetzgeber aber zu ihrer Neuerung Zeit gelassen ist 1 9 5 oder daß "nachzubessern" ist 1 9 6 . Die Diskussion um Verfassungsaufträge 197, ja die Deutung des GG und seiner wesentlichen Prinzipien als "Verfassungsauftrag" ist eine mehr oder weniger bewußte Thematisierung der Zeit, die sich in die neuere Entwicklung einfügt. Die Weimarer Staatsrechtslehre hatte die Gesetzgebungsaufträge charakteristischerweise in der Alternative: "Programmsatz oder aktuelles Recht?" stehen lassen198. Auch ohne solche Aufträge konkretisiert die Legislative durch ihre einfache Gesetzgebung ständig und immer wieder neu die grundrechtlichen Freiheiten
192
Vgl. aber auch A. Arndt, Das nicht erfüllte Grundgesetz, 1960, jetzt in: ders., Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 141 ff.- Zu "Gesetzgebungsaufträgen" aus Schweizer Sicht: gleichnamig T. Jaag, FS Häfelin, 1989, S. 275 ff. 193 Vgl. auch Ch. Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in: Festgabe 25 Jahre Bundesverfassungsgericht, 1976, Bd. 1, S. 519 (540 ff., 558 ff.). 194 Vgl. BVerfGE 39, 169 (194 f.). 195 Der österreichische Verfassungsgerichtshof verpflichtet den Gesetzgeber mitunter zu einer nach seinen zeitlichen Möglichkeiten abgestuften Reform-Gesetzgebung. 196 BVerfGE 83, 1 (19 ff.). Dazu P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 99; Ch. Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, 1996. 197 P. Lerche, Das Grundgesetz und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 341 ff.; E. Wienholtz, Normative Verfassung und Gesetzgebung, 1968, ebd. S. 3 ff. Nw. aus der Rspr. des BVerfG.- Es gibt Materien, die über längere Perioden immer ein Auftrag an die Zukunft waren - lange Zeit galt dies für die Gleichstellung des unehelichen Kindes in Gestalt der Verfassungsaufträge wie Art. 121 WRV bzw. 6 Abs. 5 GG. Oft braucht der Verfassungsstaat die Arbeit und den Einsatz vieler Generationen. Denkmalund Naturschutz ist eine seit langem vorhandene, der Tradition verpflichtete, sich aber in der Zukunft intensivierende Aufgabe.- Der Aufbau und Ausbau der neuen Bundesländer und die "Erfüllung" ihrer Verfassungen erfordern heute viele Ausgestaltungen, dazu mein Beitrag: Die Schlußphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern, JöR 43 (1995), S. 355 (387 ff.).- Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 6. 198 Dazu E. Wienholtz, aaO., S. 14 ff. Art. 29 Abs. 1 S. 1 GG wurde durch Verfassungsänderung (1975) vom Verfassungsauftrag zur bloßen Kompetenznorm zurückgestuft. Umgekehrt können auch bloße Kompetenznormen zu Verfassungsaufträgen umgedacht werden. Art. 3 Verf. Bayern ist als Ist- und Soll-Norm zu verstehen, die in die Dimension des Verfassungsauftrages hinüberwächst.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
und Rechtsprinzipien des G G 1 9 9 und wirkt mit veränderten rechtspolitischen Akzenten "von unten" auf die Verfassung als öffentlichen Prozeß: Hier begegnet auch am ehesten die Problemfülle der Mikrodimension von "Zeit im Verfassungsrecht" 200: von den Fristen im Gesetzgebungsverfahren über Fragen des Geltungsbeginns, der Geltungsdauer (als einem der wichtigsten Gleichheitsfaktoren 201 , der Stichtage oder des Übergangsrechts bis hin zur Rückwirkung von Gesetzen, auch der "dynamischen" Verweisungen) 202 . Verfassungsdogmatische Figuren wie Vertrauensschutz oder Bundestreue, auch die Figur des dynamischen Grundrechtsschutzes 203 verbergen Probleme (auch) der Zeitgerechtigkeit 2 0 4 . (e) Vorwirkung
von Gesetzen
Nur noch kurz seien zwei erst jüngst stärker bewußte Formen der Hereinnahme der Zeit in die Verfassungsentwicklung erwähnt: zunächst die Vorwirkung von Gesetzen und Verträgen 205 . Die Vorwirkung formell noch nicht wirk-
199 Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 219 ff.; W.-R. Schenke, aaO., AöR 103 (1981), S. 566 (586). 200 Vgl. M. Kloepfer, Verfassung und Zeit, Der Staat 13 (1974), S. 457 ff. 201 G. Dürig, Zeit und Rechtsgleichheit, in: FS Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 21 (29); s. auch G. Dürig, in: T. Maunz/G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz, GG, Kommentar, 5. Aufl. 1980, Art. 3 Abs. 1 GG/ Rdn. 194 ff.- Vgl. BVerfGE 55, 100 ff.: Der Gesetzgeber muß gesetzliche Regelungen, die das BVerfG für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt hat, auch für die Vergangenheit entsprechend neu regeln. 202 Aus der Lit.: Β. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981.- Die Zeitproblematik steckt auch hinter der Rechtstechnik der Verweisung in Gesetzen, also der Bezugnahme auf andere Regelungen ("Verweisungsobjekte", z.B. andere Normen, Verwaltungsvorschriften, DIN-Normen, Regeln privater Vereinigungen), soweit es sich um "dynamische" (oder "antizipierte") (Terminologie: F. Ossenbühl, in: DVB1. 1967, S. 401) Verweisungen handelt. Diese beziehen sich im Gegensatz zu den "statischen" Verweisungen nicht auf die bei Verabschiedung der Verweisungsnorm geltende, sondern auf die jeweilige Fassung der Verweisungsobjekte. Da sie häufiger und leichter aktualisiert werden als Gesetze, werden letztere durch dynamische Verweisungen "zeitoffener". Der jeweils neue Entwicklungsstand findet Eingang ins Gesetz. Es hält sich dadurch beweglich, macht sich andererseits aber auch abhängig vom Verweisungsobjekt und dessen Gestaltern.- Aus der Judikatur: BVerfGE 47, 285 (311 ff); 67, 348 (363 ff.). 203 Vgl. BVerfGE 49, 89 (137). 204 S. auch die Zeitklausel in § 40 BVerfGG. Das Fehlen einer "Wiederaufnahmeklausel" im Parteiverbotsverfahren schafft besondere Probleme. Dazu etwa R. Schuster, Über die Grenzen der "abwehrbereiten Demokratie", in: JZ 1968, S. 152 ff. 205 Zur Vorwirkung von Gesetzen: M. Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974; P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 396, Anm. 148, S. 486
IV. Zeit und Verfassungskultur
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samen Rechts ist ebenso nachweisbar wie - differenziert - zulässig. Im internationalen Bereich fällt die Vorwirkung des Salt-II-Vertrages auf: die USA und die damalige UdSSR hielten sich lange noch stillschweigend an den Vertragsentwurf. Vorwirkungen sind aber nichts anderes als eine Beschleunigung des Zeitfaktors. (f) Experimentier-
und Erfahrungsklauseln
Schließlich sei ein Blick auf gesetzliche Experimentier- und Erfahrungsklauseln geworfen. Sie treten besonders in reformfreudigen Zeiten auf und erweisen sich als Versuch einer zeitlich befristeten begrenzten Vorwegnahme des Zukünftigen. In den 70er Jahren wurden sie in Deutschland zum Thema. Bekanntes Beispiel war § 5 b DRiG - die einstufige Juristenausbildung. Hier können diese schon von Montesquieu gesehenen206 Klauseln nicht im einzelnen diskutiert werden 207 , sie sind aber als eine Form der "probeweisen" Vorwegnahme der Zukunft zu registrieren. Heute wendet sich das Interesse der Evaluation von Gesetzen zu: Die Implementationsforschung z.B. behandelt ganze Gesetze, als ob sie ein Experiment wären, um möglicherweise verbessernde Gesetzesnovellen vorbereiten zu können (besonders im Umweltschutz- und im Planungsrecht) 208; "Gesetzgebung auf Zeit", z.B. im Hochschul- und Kommunalrecht, wird zum Thema 209 (zuletzt ihr "Verfalldatum").
und ff; ders., Zeit und Verfassung (1974), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 (83 ff.). 206 Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, II. Buch, 2. Kap. a.E. (Reclam 1976, S. 109). 207 Näheres bei P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 85 ff; s. auch D. Pirson, Vorläufige und experimentelle Rechtsetzung im Schulrecht und Hochschulrecht, in: FS Jahrreiß, 1974, S. 181 ff.- Zur Gesetzgebung als Experiment im Bereich von "Pilotprojekten": W. Schmitt Glaeser, Kabelkommunikation und Verfassung, 1979, S. 205, 207 ff.; allgemein: H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. 208 Vgl. R. Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, 1980; H. Wollmann (Hrsg.), Politik im Dickicht der Bürokratie, 1980; E. Blankenberg/K. Lenk (Hrsg.), unter Mitarbeit von R. Rogowski, Organisation und Recht, 1980. 209 W. Hugger, Legislative Effektivitätssteigerung: Von den Grenzen der Gesetzesevaluierbarkeit zum Gesetz auf Zeit, in: PVS 20 (1979), S. 207 ff.-; s. auch K. Eckel, Das Sozialexperiment - Finales Recht als Bindeglied zwischen Politik und Sozialwissenschaft, in: ZfS 7 (1978), S. 39 ff; K. Hopt, Finale Regelungen, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung, JZ 1972, S. 65 (70).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
(g) Verfassungsänderungen Das klassische Institut, um Neuem formalisiert und unmittelbar Eingang in die Verfassung zu eröffnen, ist die Verfassungsänderung, also die Änderung des Verfassungstextes in bestimmten Verfahren mit meist qualifizierter Mehrheit als vergrößerter Konsensbasis (vgl. Art. 79 Abs. 2 GG). Alle Verfassungsstaaten mit Verfassungsurkunde kennen diese Möglichkeit, dem Wandel der Zeit auch textlich Rechnung zu tragen, mögen sich die Voraussetzungen im einzelnen (etwa die Größe der Mehrheit) unterscheiden. Verfassungsänderungen können der Anpassung an Entwicklungen dienen, die faktisch schon gelaufen sind; sie können solche aber auch erst herbeifuhren (wollen). "Anpassungs-" und "Gestaltungsänderung" sind also zu unterscheiden. Dauer und Stabilität einer Verfassung scheinen zunächst gegen Verfassungsänderungen zu sprechen, doch können diese der Dauer und Stabilität eines Gemeinwesens gerade auch dienen, wenn sie "zeitgerecht" sind. Ob das so ist, läßt sich nur im Einzelfall und bereichsspezifisch sagen 210 Das gilt erst recht für jene Bündelung von Verfassungsänderungen, die zur "Totalrevision" einer Verfassung führen sollen. Die deutsche Diskussion in und um die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in den 70er Jahren hat sich seinerzeit als offenbar unzeitgemäß erwiesen 211 : Sie ist verfassungspolitisch und wissenschaftlich weitgehend im Sande verlaufen. Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission (1993) war nur wenig erfolgreich. Die Schweizer Diskussion 212 könnte sich demgegenüber mittel- und langfristig 210 Dazu näher P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 88 ff. S. aber auch die Zeitgrenze für Verfassungsänderungen in Art. 110 Abs. 6 Verf. Griechenland (1975): Eine Verfassungsänderung vor dem Ablauf von 5 Jahren nach dem Abschluß der vorhergehenden ist unzulässig. Vgl. auch Art. 284 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/92). Allgemein noch unten Fünfter Teil III 2. 211 Zu ihr: Enquête-Kommission Verfassungsreform, Schlußbericht 1976 (BT-Drs. 7/ 5924); ferner: R. Grawert, Zur Verfassungsreform, in: Der Staat 18 (1979), S. 229 ff., R. Wahl, Empfehlungen zur Verfassungsreform, AöR 103 (1978)1 S. 477 ff.- Zur Gemeinsamen Verfassungskommission: U. Ber lit, Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 44 (1996), S. 17 (27 ff.). 212 Vgl. den Entwurf einer Schweizer Bundesverfassung (1977), abgedruckt in: AöR 104 (1979), S. 475 ff.; ferner: P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff, sowie die Beiträge in: ZSR N.F. 97 (1978), 1. Halbbd., S. 229 ff; dazu auch K. Eichenberger, Der Entwurf von 1977 für eine neue schweizerische Bundesverfassung, in: ZaöRV 40 (1980), S. 477 ff.; G. Müller, Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 83 ff. Zuletzt: Y. Hangartner, Der Entwurf einer nachgeführten Bundesverfassung, AJP/PJA 1997, S. 139 ff.; G. Müller, Zur Bedeutung der Nachführung..., in: ZSR 116 (1997), S. 21 ff.
IV. Zeit und Verfassungskultur
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als wirksamer erweisen: dies zeigt die heutige Diskussion um eine "nachzuführende" Bundesverfassung (1995). Besonders fruchtbar aber waren und sind die Totalrevisionen der Schweizer Kantonsverfassungen, zuletzt Appenzell A.Rh., 1995. Diese sachliche Bestandsaufnahme relativiert die analytische Trennung von Mikro- und Makro-Dimension: Beide Ebenen sind vielfältig miteinander verschränkt. Die Summierung kleiner Zeiteinheiten in den spezifischen Verfahren und Instrumenten einer Verfassung bildet letztlich ein Stück der historischen Makro-Wirkdimension der Zeit (Verfassungsinterpretation kann schließlich zur Verfassungsänderung, diese sogar zu einem Stück Verfassunggebung werden!). Auch umgekehrt gilt: Die Makrodimension "Verfassung in der Zeit" beeinflußt die Mikrodimension "Zeit im Verfassungsrecht". Vermutlich ist die Veränderung der richterlichen Funktion, vor allem der verfassungsrichterlichen, eine entsprechend bedeutsame Wende: Die Anerkennung von Sondervoten (z.B. in Spanien) und der Vorwirkung von Gesetzen usw. beinhaltet ja eine Auflockerung der Bindung an das Gesetz und insoweit auch der relativen Dauer. Die richterliche "Emanzipation" vom Gesetz, die in der Gewinnung prätorischer Funktionen liegt, spiegelt eine veränderte Lage im Mikrobereich: Auch der Richter, nicht nur der Gesetzgeber, (re-)agiert auf Wandel: Gerechtigkeit heute, hier und jetzt! 3. Thematisierung der Zeit durch den kulturwissenschaftlichen Ansatz Der Brückenschlag zu einem komplexen kulturellen Zeitbegriff Zeit als kulturelle Kategorie a) Verfassungen als Garanten von Kontinuität und Wandel Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, wie sich verfassungsstaatliche Verfassungen zwischen Tradition und Zukunft entfalten und zu bewähren suchen; insgesamt eine eindrucksvolle Entwicklungsgeschichte213, in der manche Momente des kulturellen "Erbes" aber auch verworfen oder vergessen wurden. "Verfassung in der Zeit" ist, aufs Ganze des Werdens des Verfassungsstaates als Typus gesehen, keine Zeit ohne Verfassung! Es gibt seitdem kein Denken 213 Die in Deutschland erreichten Verfeinerungen der Instrumente und Verfahren (z.B. das verfassungsrichterliche Sondervotum und Art. 79 Abs. 3 GG) erlauben sogar, von einem "Fortschritt" im Ausbau des Verfassungsstaates zu sprechen. Freilich: Die verfassungsstaatlichen Instrumente zur Einbindung von Entwicklungen sind nicht per se Instrumente für den "Fortschritt". Reformen können, müssen aber nicht zu Besserem führen.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
über die Zeit jenseits aller verfassungsstaatlichen Elemente - selbst nicht am Vorabend von Verfassunggebungen 214. Der Zeitfaktor prägt nämlich Verfassunggebung besonders, denn hier wird eine "neue" Verfassung kreiert. Die neue Zeit beginnt meist mit einem Akt der Verfassunggebung. In dem Maße, wie sich Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung im Rahmen des gemeineuropäisch/atlantischen Verfassungstypus näher rücken 215 , relativiert sich aber die Bedeutung der Verfassunggebung und damit der sogenannte "neue Anfang". Gerade der verfassungskulturelle Ansatz baut Brücken von der alten zur neuen Verfassung, die die formaljuristische, vom Volkssouveränitätsdogma verfälschte Betrachtung, fixiert auf den explosionsartig gedachten Akt der Verfassunggebung, nicht sehen kann.- Hier ein Beispiel: Vieles an der Weimarer Verfassung war schon außer Kraft, bevor revolutionäre Akte des NSRegimes sie auch formell außer Kraft setzten. Umgekehrt haben sich formell fortgeltende Verfassungsprinzipien über eine längere Zeit hin stärker geändert, als dies die bloß juristische Betrachtungsweise erkennen kann: sei es über tiefgreifende formelle Verfassungsänderungen, die weite Ausstrahlungswirkungen entfalten, sei es durch "stillen Wandel" der Interpretation desselben Textes. Die Tiefenwandlungen der US-Bundesverfassung im Laufe von mehr als 200 Jahren vermag nur eine kulturwissenschaftliche Verfassungsbetrachtung zu erfassen. Unser Denken von "Zeit" geschieht heute je immer schon im Kraftfeld von einzelnen Verfassungen als Beispielen des Typus: Verfassungen als freiheitliche Ordnungen des Pluralismus versuchen der Zeit in doppelter Weise gerecht zu werden: in Gestalt der Bereitstellung von Verfahren, die Konflikte im sozialen Wandel befrieden und auffangen, aber auch durch Schaffung von Instituten, die Dauer garantieren und Identität des einzelnen und des politischen Gemeinwesens im Wandel sichern 216 . Verfassungen schaffen und bewahren ein
214 Ex post gesehen verlaufen die geschichtlichen Entwicklungen eher kontinuierlich. Für den Verfassungsjuristen sind sie der Eigenheit des Rechts gemäß, das sich an Äußerem, Greifbarem, z.B. an Terminen, festhalten muß, weniger kontinuierlich: Eine Verfassungsänderung kulminiert in einem bestimmten vorgeschriebenen Verfahren, zu einem bestimmten "Zeitpunkt", ein Sondervotum objektiviert sich - vielleicht nach längerer Vor-Diskussion in der Wissenschaft und im Gericht - mit einem Mal. Über die "Totalrevision" einer Verfassung wird dann einmal entschieden (oder sie wird verworfen). 215 Dazu P. Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (1978), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 182 ff.; s. auch meine Besprechung von D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt..., 1978, in: AöR 106 (1981), S. 149 ff. 216 Vermutlich gibt es ein optimales Verhältnis zwischen den eher vergangenheitsorientierten "rezeptiven" und den eher zukunftsorientierten "prospektiven" Teilen verfassungsstaatlicher Verfassungen. Ein Übermaß an "Neuanfängen" könnte die neue
IV. Zeit und Verfassungskultur
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Stück kultureller Kontinuität 217 . Wie stark ist z.B. unser Bewußtsein seit 2 Jahrhunderten von Menschenwürde, (kultureller) Freiheit, Toleranz, Gewaltenteilung, Pluralismus, Privatautonomie, "habeas corpus" etc. geprägt! Unser modernes Rechtsbewußtsein ist aber zugleich besonders von der Idee geformt, Recht und Gerechtigkeit seien wandelbar, die "Reform des Rechts" sei für das Recht wesentlich, bis hin zur Konsequenz einer "Reform der Reformen". b) Zeit als kulturelle
und interdisziplinäre
Kategorie
Die Kategorie "Zeit", wie sie sich im Verfassungsrecht ausprägt, folgt primär der zeitlichen Strukturierung der täglichen Handlungen des Menschen (und 218
seiner "Anschauungen" mit subjektiv-objektiven
Komponenten) bzw. seiner
Ordnung zu labil machen, ein Übermaß an Rezeptionstätigkeit der verfassunggebenden Kräfte könnte (wie beim GG ?) zu früh Verfassungsänderungen oder andere Formen des Wandels erzwingen. Ein Denken, das Verfassungen möglichst in der Zeit sich entwikkeln sehen will, wird beide Extreme meiden. Unter dem Zeitaspekt kann es sich empfehlen, eine ausgeglichene Mischung von bloßen Kompetenznormen einerseits, "zwingenden" Verfassungsaufträgen andererseits herzustellen. Werden zu viele - unerfüllbare - Verfassungsaufträge postuliert, wird die Verfassung u.U. im ganzen unglaubwürdig, weil sie nicht alle gleichzeitig einlösen kann. Werden nur formale Kompetenzen eingeräumt, bleibt der Forderungscharakter von Verfassungen zu schwach und zu blaß. Im ganzen wäre eine Skala von Techniken zu erstellen, wie der Verfassunggeber die Zeit in die Verfassung einbaut. Neben der erwähnten "großen" Abstufung von der Verfassungsänderung über das Sondervotum bis zum Wandel durch Interpretation träte "im kleinen" eine weitere Differenzierung: vom Programmsatz bzw. von der bloßen formalen Kompetenz (Art. 15 GG) über die materielle Kompetenz (Art. 74 Ziff. 16) bis zum Verfassungsauftrag (z.B. Art. 6 Abs. 5 GG). Dazu noch Fünfter Teil X Ziff. 3 c. 217 Einen Teilaspekt liefert hier z.B. die unter Historikern geführte KontinuitätsDiskussion: s. H.M. Baumgartner, Kontinuität als Paradigma historischer Konstruktion, in: Philosophisches Jahrbuch 1973, S. 254 ff; grundsätzlich: R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1979. 218 Auch auf Verfassungsebene hat Zeit objektive und subjektive Komponenten. Einerseits finden sich durch die Objektivität der Zeit festgelegte Fristen (etwa Art. 68 Abs. 2 GG, Art. 62 Abs. 1 S. 2 Verf. Brandenburg), andererseits auch Zeitregelungen, die subjektivierende Elemente enthalten, also auf Vorstellungen der Individuen abstellen. Ein Beispiel für die subjektive Komponente ist der häufig erscheinende Begriff "unverzüglich" (z.B. in Art. 63 Abs. 4 S. 1, Art. 76 Abs. 2 S. 3, Art. 115d Abs. 2 S. 2, Art. 115 1 Abs. 2 S. 3 GG, Art. 101 Abs. 2 S. 2 Verf. Hessen, Art. 21 Abs. 2 S. 1 Verf. Niedersachsen, Art. 52 Abs. 3 S. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen). Deutlich werden subjektive Zeitvorstellungen auch herangezogen, wenn darauf abgestellt wird, daß etwas "als besonders eilbedürftig bezeichnet" wurde (Art. 76 Abs. 2 S. 3 GG), "für dringlich erachtet" bzw. "bezeichnet" wird (Art. 84 Abs. 5 S. 2, Art. 85 Abs. 3 S. 3, Art. 115d Abs. 2 S. 1 GG), "frühzeitig" zu erfolgen hat (Art. 39 Abs. 1 S. 1 Verf. MecklenburgVorpommern) oder daß die Lage "ein sofortiges Handeln erfordert" (Art. 115a Abs. 2 S. 1, Art. 115i Abs. 1 GG) oder daß etwas nicht mehr "rechtzeitig" möglich ist (Art. 115a
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Gemeinschaft. Dieses Bewußtsein und Verständnis von Zeit 2 1 9 als Strukturmerkmal sozialer Ordnungen und menschlicher Erfahrungen steht nicht neben, sondern im Zusammenhang mit den Ausprägungen von "Zeit" in den übrigen Wissenschaften 220 und Künsten, weil diese alle 2 2 1 letztlich Ausformung einer Kulturperiode sind. So gewiß die "Eigenständigkeit" des Rechts (und der Rechtswissenschaft) gegenüber dem Sozialen (und den Sozialwissenschaften) bleibt 222 , so sicher hat das Recht, besonders das Verfassungsrecht, Teil an der Gesamtkultur einer Zeit, also auch am Denken über Zeit und Handeln in und mit der Zeit (bzw. ihrem "Tempo") 223 . Abs. 2, Abs. 3 S. 2, Art. 115e Abs. 1 GG). Derartige Formulierungen finden sich bes. zahlreich in den Bestimmungen des GG für den Verteidigungsfall (Art. 115a ff.). 219 Neben der Zeit ist es der "Raum", der menschliches Handeln strukturiert. Und vielleicht gehören die Verfassungstheorie der Zeit und des Raumes letztlich zusammen. Ansätze zu einer Verfassungstheorie des Raumes bei P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 38 ff.; s. auch R. Wendorff, Zeit und Kultur, 1980, S. 660 f. 220 S. aus der Ethnologie: U.R. von Ehrenfels, Zeitbegriff und Stufenfolge in völkerkundlicher Sicht, Studium generale 19 (1966), S. 736 ff.; J.T. Fraser , The interdisciplinary study of time, Studium generale 19 (1966), S. 705 ff; ders. (ed.), The study of time, 1972; R.W. Meyer (Hrsg.), Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, 1964; W.E. Moore, Man time and society, 1963; J. Piaget , Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde (1955), 1974; M. Schöps, Zeit und Gesellschaft, 1980; H. Yaker (ed.), The future of time, man's temporal environment, 1971; J.A. Roth, Time tables, 1963. 221 Die Gestaltungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften sollten nicht gering geschätzt werden. Sie entscheiden mit, welche Klassikertexte als solche tradiert werden, sie bestimmen das "kulturelle Erbe", das z.B. eines Montesquieus nicht entraten kann. Die Rechtswissenschaft arbeitet dabei Hand in Hand mit der Politik- und Geschichtswissenschaft. Die Wiederentdeckung eines Tocqueville war auch ein Dienst am Verfassungsstaat als gemeineuropäisch/atlantischer Leistung. 222 Vgl. K. Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, in: FS E.R. Huber, 1973, S. 291 ff. 223 Die Berufung auf eine spezifische Aufgabe des Juristen, "Recht dem Unrecht" und "Ordnung dem Chaos" abzutrotzen, und eine scharfe Gegenüberstellung vom offenen Prozeß des politischen, sozialen und kulturellen Lebens und einem rechtlich geordneten Bereich, also auch von Politik und Recht (vgl. W. Henke, Staatsrecht, Politik und verfassunggebende Gewalt, in: Der Staat 19 [1980], S. 181, [190 f.]), bergen einen verkappten Dezisionismus. Der Verzicht, das Verfassungsleben als realen und i.w.S. kulturellen Prozeß in seinen (tatsächlich vorhandenen) vielfältigen Wirkungen auf das Verfassungsrecht weder bei der Interpretation des Grundgesetzes noch bei der theoretischen Analyse der Verfassungen von vornherein einzubeziehen, muß zu einem rechtspositivistisch halbierten Rationalismus führen. Er kann bereits die Vielfalt verfassungsrechtlicher Interpretationsstreitigkeiten in Wissenschaft und Praxis nicht erklären, geschweige denn nach übergreifenden Maßstäben entscheiden, sondern nur in "richtig" oder "falsch" sortieren. Erst und nur ein Rückgriff auf die realen, sozio-kulturellen Hintergründe von Interpretationsdivergenzen kann rationalere Maßstäbe für rechtliche Entscheidungskonflikte erarbeiten - und damit die rechtliche Diskussion vertiefen, ohne diese damit schon der Politik auszuliefern. Soweit sich die dem Prozeß der Rechts-
IV. Zeit und Verfassungskultur
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Der die Wissenschaften und Künste einer Epoche verbindende interdisziplinäre Zeitbegriff ist gewiß komplex 2 2 4 und findet seine Grenzen an der Relativität der auf die jeweiligen Gegenstandsbereiche der Einzelwissenschaften zugeschnittenen Zeitbegriffe und Zeithorizonte. Gleichwohl lassen sich dank des Zusammenhanges der Kultur der jeweiligen Epoche im Zeitverständnis 225 Aspekte eines gemeinsamen kulturellen bzw. kulturbedingten Zeitbegriffs erarbeiten, die der Verfassungsrechtswissenschaft weiterhelfen 226 . Das Bewußtsein vom immer rascheren Wandel dürfte eine solche Gemeinsamkeit sein, die fur die Verfassungen und ihre Kultur ähnlich wie für andere Wissenschaften und die Künste gilt. Umgekehrt dürfen etwa die Sozialwissenschaften die spezifische Verwendungsweise von Zeit durch den Juristen, z.B. die differenzierten Instrumente des Verfassungsrechts, nicht einebnen 227 , etwa unter der Forderung "sofortiger
erzeugung durch Norminterpretation zugrunde und vorausliegenden sozio-kulturellen Prozesse im Gehalt von offenen Rechtsnormen verdichten, ermöglichen sie eine kulturwissenschaftlich vertiefte Verfassungsinterpretation. Gewiß sind dabei der Wortlaut als Grenze der Auslegung und methodische Disziplin zu beachten, doch werden Wortlaut und Methodik oft überschätzt (was durchaus kein Widerspruch ist); anders freilich B. Schlink, Bemerkungen zum Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979, in: Der Staat 19 (1980), S. 73 (84), der sich dann aber selber (S. 91, vgl. auch 105) relativieren muß: jeder Anspruch auf Methodenklarheit kann die Grenzen der Rechtswissenschaft als einer letztlich hermeneutischen Disziplin nicht überspringen. 224 Vgl. nur N. Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems, in: W. Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System, 1980, S. 32 ff., hier S. 56 ff.; s.a. ders., Soziologische Aufklärung 2, 1975, S. 103 ff.; vgl. auch N. Elias' Unterscheidung zwischen zwei Begriffen von "Zeit": der physikalischen Zeit ("Fließbandzeit der Momente") und der historisch-gesellschaftlichen Zeit der Utopie als "Prozeßzeit", in der sich die Vergangenheit über die Gegenwart mit der Zukunft zusammenschließt (FAZ vom 26. Juni 1981, S. 25, Utopie-Kolloquium in Bielefeld). 225 In diesem Sinne: R. Wendorff, Zeit und Kultur, 1980, z.B. S. 653 ff. 226 Ein Einblick in das in der Verfassung zum Ausdruck gelangende Zeitverständnis einer Rechtskultur ergibt sich auch aus Einsichten in das Selbstverständnis des Menschen und Bürgers überhaupt. Zum "Selbstverständnis als Rechtskriterium" gleichnamig M Morl ok, 1993. Vgl. auch BVerfGE 70, 138 (162 ff.), für die Kirchen. 227 Damit soll keiner Immunisierungsstrategie das Wort geredet werden. Z.B. wird die Unterscheidung von "Zeit im Verfassungsrecht" und "Verfassung in der Zeit" unschwer Kontakt finden zu N. Luhmanns Differenzierung von punktueller (irreversibler) Gegenwart und dauernder (reversibler) Gegenwart, finden Kontinuität und Wandel von Verfassungen bzw. ihren Kulturgehalten in seinem Zeitbindungseffekt eine parallele Analyse (auf anderer, allgemeiner Ebene), s. ders., in: W. Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System, 1980, S. 32 ff. bzw. S. 41 f. bzw. 47 f. Die Notwendigkeit, bei interdisziplinären Bemühungen die unterschiedlichen Handlungszusammenhänge und Konkretionsebenen der einzelnen (besonders: praxisorientierten) Wissenschaften zu berücksichtigen, erweist sich dabei oft als praktische Kommunikationsbarriere. 11 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 228
und totaler Rezeption von Wandel durch das Recht" . Dies bedeutete Auflösung des Rechts, Verlust der Rechtssicherheit und damit eines Gerechtigkeitselements sowie Negierung der Verfassung, die nach ihrem Telos "Grundordnung" sein soll: Dazu gehört ein Mindestmaß an Dauer und Stabilität (z.B. durch Rezeptionen, Disziplinierung richterlicher Rechtsschöpfung, behutsames Vorgehen bei Reformen 229 etc.), dem sich auch ein dynamisches und "prozedurales" Verfassungsverständnis 230 verpflichtet weiß. Hier treffen wir uns mit R. Wendorff, der "um einen Ausgleich, ein Gegengewicht gegen die Einseitigkeiten unserer linearen Zeitkultur" ringt 2 3 1 , nach "bleibenden Werten" sucht 232 und so eine spannungsreiche "Polarität" in der westlichen Welt erhofft 2 3 3 . 228 Das (Verfassungs-)Recht und seine Wissenschaft täten sich einen schlechten Dienst, gäben sie jedem sozialen Wandel eilfertig nach, reagierten sie auf jede kulturelle Herausforderung oder gar Provokation. Sie verlören ihren Stellenwert im Zusammenwirken mit den anderen kulturellen Faktoren und Vorgängen. Der Weg zwischen Behauptung und Wandel ist gewiß schwer, aber er ist der Weg des (Verfassungs)-Rechts. Auch die richterliche Unabhängigkeit gehört zu den verfassungsstaatlichen Instrumenten, die dem "Eigenwert" des Rechts gegenüber anderen Vorgängen dienen wollen und können. Was letztlich den Gang der (Verfassungs-)Geschichte steuert, ist eine Frage an das, besser die "Subjekte" der Geschichte. Sie kann nur in Glaubenssätzen beantwortet werden, ein solcher ist der Satz von der dem Menschen möglichen Sinngebung der Geschichte i.S. Sir Poppers. 229 An gesetzlichen Reformen zeigt sich, wie sehr es kultureller Wachstumsprozesse bedarf, damit das - neue - Recht "Wurzeln" schlägt. Ein etwaiges Übermaß an Reformen im rechtlichen Bereich greift nicht mehr. Der Gesetzgeber mag noch so viel "von oben" reformieren: Wird den Reformen nicht genügend Zeit gelassen, in der Praxis zu wirken, werden sie gegenstandslos. Der Prozeß der Rechtsgeltung ist mit der Verkündung einer Norm im Bundesgesetzblatt nicht gewonnen, denn das Vertrautmachen und Vertrautwerden der Gesetzesadressaten mit der Norm braucht Zeit. Die Bedingungen für die Geltung von Rechtsnormen sind letztlich kultureller Natur: sie sind weder nur "staatlich" noch nur "gesellschaftlich", weder nur sachlich noch nur persönlich begründet. 230 Die verschiedenen "Schulen" dürften sich gerade durch ihr unterschiedliches Zeitverständnis, ihre verschiedenen "Einstellungen" zur Zeit unterscheiden: Die ältere denkt eher statisch, die von R. Smend angeführte Richtung eher dynamisch. Je nach dem ist der Stellenwert von Normativität als "Unverbrüchlichkeit" verschieden; vgl. auch W.-R. Schenke, aaO., AöR 103 (1978), S. 566 (570 ff.). 231 R. Wendorff Zeit und Kultur, 1980, S. 655. 232 R. Wendorff aaO., S. 657. 233 Dazu R. Wendorff aaO., S. 653 ff.: "Polarität, Spannung, Ausgewogenheit".- Die Zeitebenen verschränken sich vielfältig: Der Verfassungshistoriker, der "Vergangenes" berichtet, tritt dabei mehr oder weniger bewußt und offen auch als Kommentator des Gegenwärtigen auf, der Staatsrechtliche Dogmatiker hat auch seine Vorverständnisse und Anleihen aus der Geschichte und seine Hoffnungen auf die Zukunft; der Verfassungspolitiker des "Prinzips Hoffnung" lebt auch aus Vergangenheit und Gegenwart und sei es auch nur, indem er ein Kontrastprogramm zu ihnen (bis hin zur "konkreten Utopie") entwirft.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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Halten wir fest: "BrückenbegrifT zu dieser Einbettung des Verfassungsrechts und seiner Zeitprobleme ist die "Kultur", die Methode dieses "Brückenschlages" muß daher kulturwissenschaftlich sein: Nur so erscheinen eine theoretische Anbindung des Verfassungsstaates an die Zeit, sein Zugleich von Vergangenheitsorientierung und Offenheit sowie seine materiale Fundierung als Teil eines "kulturellen Wachstumsprozesses" (L. Kolakowski) möglich. "Kultur" ist der "Stoff 1 , aus dem Verfassungen werden, sich wandeln und entwickeln, auch "altern" 234 2 3 5 . Das verlangt, den öffentlichen Prozeßcharakter von verfassungsstaatlichen Verfassungen näher zu umreissen.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß ein Pluralismuskonzept 1. Die verfassungsjuristische Ebene a) Fragestellung und Ausgangsthese Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß oder Verfassungsinterpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung - dieses Programm verknüpft Verfassung und Verfassungsinterpretation mit "Öffentlichkeit" schon im Ansatz 236 . These dieses ersten Abschnitts ist:
234 Auf eine Weise geht die Staatsgewalt vom Volk zur Kultur und vice versa, jedenfalls bei einem weit verstandenden Kulturbegriff und offenen Kulturkonzept. 235 Das (Verfassungs-)Recht besitzt aber noch einen besonderen Zeitbezug. In seinen Instituten "speichert" es kulturelle Erfahrungen. Ja, sie sind ein Stück Kultur. Die in Jahrhunderten römischer Rechtskultur gewachsenen Erfahrungen haben z.B. in einer Vielzahl noch heute im Bürgerlichen Recht zu findender Formen Gestalt gewonnen. Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung als Erfahrung bezüglich der Neigung des Menschen zum Machtmißbrauch ist ein Beispiel für viele (dazu D. Merten (Hrsg.), Gewaltenteilung im Rechtsstaat, 2. Aufl. 1997). Gerade der erfahrungswissenschaftliche Ansatz bringt die Zeit - ja eine ganze Kultur - auf seine Weise in die Verfassungstheorie ein. Das GG ist in vielem Reaktion auf die Erfahrungen in Weimar! Das Minimum an Erziehung, das gerade auch freiheitliche Verfassungen brauchen und vermitteln müssen, ist auch Schaffung von Kontinuität und Stabilität in der Zeitachse. Normierte Erziehungsziele sind wie viele Rechtssätze ein Stück geronnener Erfahrung!- Aus der tiefdringenden Lit. jetzt M. Kriele, Recht als gespeicherte Erfahrungsweisheit - Zu einem Argument Ciceros, FS K.H. Friauf, 1996, S. 185 ff. 236 Dazu mein Beitrag: Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. ("Verfassung als öffentlicher Prozeß").
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
1. Verfassungsinterpretation soll öffentlicher Prozeß sein. 2. Sie ist "unter" dem GG zum Teil schon öffentlicher Prozeß - so greifbar hier gewisse Defizite sind: als Öffentlichkeits- und Pluralismusdefizite 23 . Eine derartige Sicht der Verfassungsinterpretation ist nicht Ergebnis theoretischer Willkür und persönlicher Beliebigkeit; sie ist vielmehr "angeregt" durch die bisherige Praxis der Verfassungsinterpretation zum Grundgesetz, insbesondere in bezug auf erkennbar öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene Begriffe 2 3 8 , z.B. Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit von Bundesregierung (und Bundestag!) 2 3 9 , die neuere Diskussion um Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt (Publizität). Verfassungsinterpretation bedarf theoretisch der Erweiterung und Vertiefung um die Dimension des Öffentlichen, weil ihr Gegenstand die Verfassung der res publica ist und weil die an ihren Vorgängen personal Beteiligten öffentliche Kräfte und "Faktoren" sind 240 . b) Die Durchführung
im einzelnen
Zwei Fragen bedürfen näherer Erörterung: der hier zugrundegelegte - Begriff von "Verfassung" und die Gestalt ihrer Interpreten (1) - sowie der Begriff von "Öffentlichkeit" (2). (1) "Verfassung" und ihre Interpreten (a) Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, schließt also die - verfaßte - Gesellschaft ein 2 4 1 , - freilich nicht im Sinne von 237
Zur neueren Pluralismuskritik: H.H. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 148 ff. (151 ff. m.w.N.). 238 Nachw. in: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim, bes. S. 274 ff., 349 ff., 708 ff. 239 Gerade auch in bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit "für" die Verfassung (BVerfGE 44, 125 [147]). Aus der Lit.: F. Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, 1992. 240 P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff; ders., Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis, in: T. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 ff - Das Konzept des Verf. wird in Italien z.B. diskutiert von L. Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica, 1996, S. 124. 241 Dazu mein Mitbericht Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (56 f.). Allgemein zu "Staat und Gesellschaft": K. Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 1975, jetzt in Staat und Gesellschaft, hrsgg. von E.-W. Böckenförde, 1976, S. 484 ff.; H. Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, 1962, jetzt ebd., S.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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Identitätsvorstellungen, d.h.: nicht nur der Staat ist verfaßt (Verfassung ist nicht nur "Staatsverfassung). Dieser weite Verfassungsbegriff umschließt die Grundstrukturen der - pluralen - Gesellschaft, etwa das Verhältnis von gesellschaftlichen Gruppen untereinander bzw. zum Bürger (Toleranz!). Gewiß sind hier über die "Drittwirkung" der Grundrechte, die Prinzipien der allgemeinen Rechtsordnung oder Institutionen zur Verhinderung von Machtmißbrauch (Wettbewerbs- und Kartellrecht!) 242 verfassende Strukturen erst im Ansatz vorhanden - aber sie sind vorhanden. Das gewaltenteilende Verfassen 243 wird eine rechtspolitische Aufgabe. Keineswegs ist nur das "Normengerüst" gemeint. Einzubeziehen sind politische Kultur 2 4 4 und ambiance (D. Schindler), die nicht im engeren Sinne juristischen Anschauungen und Praktiken in der konstitutionellen - "Gesellschaft": Man denke an gute oder schlechte Parlamentsbräuche, an Urteilsschelten von Politikern und Journalisten, an Selbstdisziplin der Medien (Fall H.-M. Schleyer) 245 oder an die Richtlinien für multinationale Unternehmen von 1976 246 . A l l dies strukturiert die offene Gesellschaft ebenso wie Klassikertexte (etwa Montesquieus), Lebensleistungen (etwa T. Heuss'), Präambeln von Verfassungen und ihre pädagogischen Inhalte.
241 ff - Zur älteren konstitutionellen Staatslehre: P.v. Oertzen, Die soziale Funktion des Staatsrechtlichen Positivismus, 1952, Suhrkamp 1974. 242 Auch durch die Einbeziehung von Verbänden mit bestimmten, satzungsmäßig festgelegten, "repräsentativen" Verbandsinteressen sowohl in den Verwaltungsvollzug wie z.T. auch in das Rechtsschutzsystem (Verbandsklage) rücken Staat und Gesellschaft näher zusammen: Das repräsentierte Allgemeininteresse wird subjektiv-rechtlich geltend gemacht(!), ein für individualistisch-positivistische Verständnisse unbegreifbarer Vorgang. 243 S. zur "Entdogmatisierung" der Gewaltenteilungslehre: W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, 1961, jetzt in: Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, hrsgg. v. Rausch, 1969, S. 286 ff., bes. S. 298 ff.; P. Häberle, Besprechung Schelsky, AöR 100 (1975), S. 645 (648 f.); ders., VVDStRL 35 (1977), S. 121 f. (Diskussion). Aus der Lit.: Κ. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 207 ff. m.w.N.; H. Seiler, Gewaltenteilung, Allgemeine Grundlagen und schweizerische Ausgestaltung, 1994. Zuletzt BVerfGE 95, 1 (15 ff.). 244 "Zu den 'Natur- und Kulturbedingungen' der staatlichen Einheit" s. H. Heller, Staatslehre, 4. Aufl. 1970, S. 139 ff.; zur "Werkgemeinschaft der Kultur" im Kontext sachlicher Integration: R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 45. 245 Vgl. die Dokumentation zu den Ereignissen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Entführung von Hanns-Martin Schleyer und der LufthansaMaschine "Landshut", 2. Aufl. 1977: Materialien, Schreiben des Regierungssprechers an Chefredakteure mit der Bitte um zurückhaltende Berichterstattung (S. 7* und 40*), Appell des Deutschen Presserates v. 8. Sept. 1977 (S. 8*). 246 Dazu: K. Hopt, Recht und Geschäftsmoral multinationaler Unternehmen, in: J. Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, 1977, S. 279 ff.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Der Philosophie des "offenen Geistes" gemäß (Popper) läßt die Verfassung Offenheit nach vorn, in die Zukunft, sie institutionalisiert Erfahrungen (Offenheit nach zurück) und läßt Raum für Entwicklungen des menschlichen Geistes und seiner Geschichte 247 . Um der Würde der Person willen erzwingt sie ein Höchstmaß an Toleranz - sie erlaubt die Fülle der Sinngebung -, freilich mit bestimmten "Toleranzgrenzen", die um so unverzichtbarer werden als sich die Toleranz zu dem Bestandteil des verfassungsrechtlichen Grundkonsensus entwickelt, der als solcher (verfassungs-)rechtlich schwer formalisierbar ist 2 4 8 . Verfassungsinterpretation ist ein öffentlicher Prozeß, d.h. sie ist ein offener Vorgang und soll ein solcher sein. Geht man von der Innovation und Wandel 249 bewußt einbeziehenden offenen Gesellschaft unseres freiheitlichen Gemeinwesens aus, so kommt man zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Sie finden sich, sie finden "zu sich" in komplexen öffentlichen Prozessen, von denen die konkrete Verfassungsprozesse betreffenden Kontroversen der wissenschaftlichen (juristischen) Öffentlichkeit (und Gemeinschaft) nur einen Ausschnitt bilden. (b) Der Begriff "Verfassungsinterpretation" wird weit verstanden. Er umschließt neben der üblichen im engeren Sinne, der juristischen, insbesondere durch die Gerichte, die weitere, an der viele aktiv und passiv Betroffene, letztlich alle im politischen Gemeinwesen beteiligt sind 250 . Sie alle verlebendigen 251
das Grundgesetz i.S. der "constitutional law in public action"
247
Zum Anschluß demokratischer Verfassungsrechtswissenschaft an die "allgemeine" Wissenschaft vom Menschen: P. Häberle, Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 ff. (67 f.). 248 Vgl. dazu: A. Podlech, Wertentscheidungen und Konsens, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 9 ff. (25) und den Diskussionsbeitrag von U. Scheuner, ebd., S. 31. 249 Vgl. J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1977; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982. 250 Der Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne entspricht die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (und umgekehrt). Zu fragen ist daher, ob nicht enge (vereinseitigende) Interpretationsvorstellungen von geschlossenen Gesellschaftsmodellen (-theorien) ausgehen (dies wäre z.B. bei einer anonymen, amtlichverbindlichen Verfassungs- und Gesetzeskommentierung der Fall). 251 Nun könnte man einwenden, daß weite Bereiche des Lebens "unter" der Verfassung aus dem Zusammenspiel zwischen Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne deshalb herausfallen, weil zwischen dem bloß Verfassungskonformen, das vielgestaltig ist, und dem Verfassungsgeforderten klar zu unterscheiden ist (P. Häberle, Allgemeine Staatslehre..., AöR 98 (1973), S. 119 (131 f.); ders., Besprechung von Hartwich, Sozialstaatspostulat..., 100 (1975), S. 333 (336)). Indessen sind nähere oder fernere Verfassungsbezüge auch bei dem"bloß" Verfassungskonformen erkennbar.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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Dazu einige Verdeutlichungen: Bewußt wird auch die Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne als "Interpretation" bezeichnet. Schon terminologisch soll damit die Brücke geschlagen werden zwischen dem Bürger (als Interpreten) und dem juristischen Fachinterpreten, zwischen dem juristisch relevanten Verhalten (der gelebten Interpretation) des Bürgers und der "gekonnten" und "wissenden" (d.h. rational begründeten und konsenstauglichen) Interpretation des "Zünftigen" und "Berufenen". Das von ihnen gemeinsam erreichte Gesamtergebnis ist pluralistische Verfassungsinterpretation. Die innere Vermittlung zwischen beiden Interpretationsarten wird - in großer sozialer Relevanz und pluralismusförderlich - hergestellt z.B. durch den Selbstverständnisbegriff: Die Presse (einschließlich Presserat!), der Künstler, der Wissenschaftler, die Tarifpartner, die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften liefern relevante "Selbst-Interpretationen" im Felde der Art. 5 Abs. 1 und 2 bzw. 3 sowie Art. 9 Abs. 3 und Art. 4, 140 GG für die verfassungsjuristische Interpretation dieser Bestimmungen 252 . Die Vielzahl (pluralistischer) Selbstverständnisse muß freilich in das gemeinschaftliche Verständnis der ganzen res publica eingebunden sein. Dabei sind die Selbstverständnisse konstituierende Elemente. Das Verständnis, das die Bürger und Gruppen von ihrem Gemeinwesen haben, ist insofern die "wahre Verfassung des Landes". Dieses Verständnis ist nicht primär juristischer Natur - denn die Mehrzahl der Bürger sind Nicht-Juristen. Und eben daraus folgt die Relevanz der Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne, eben darum bedarf es des Mutes zu einer Präambel wie im Verfassungsentwurf der Schweiz (1977) dank A. Muschg. Aufklärerischer Optimismus und Symbolcharakter der Verfassung schließen sich nicht aus. Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne von der im engeren (personal akzentuierten) Sinne zu unterscheiden, sie aber zugleich zusammenzuführen, bedeutet: Man macht mit den Grundrechten aller und der pluralistischen Demokratie theoretisch wie praktisch ernst. Die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne sind die grundrechtlich (grundrechtstheoretisch) und demokratisch (demokratietheoretisch) legitimierten Interpreten in der Bürgerdemokratie bzw. "civil society". Im pluralistischen Gemeinwesen muß ihr Kreis theoretisch und praktisch in den der juristischen Interpreten (im engeren Sinne) hinein offen 253
sein
. Es wäre fragwürdig, die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten im
252 Darum ist es auch konsequent, daß in den Achten Bitburger Gesprächen über "Kunst und Recht" neben den Staatsrechtlern U. Scheuner und W. Knies der Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys referierte (FAZ vom 13. Januar 1978, S. 6). 253 Siehe auch die pluralistische Tendenz in neueren (Leistungs-)Gesetzen: § 29 BNatSchutzG (Mitwirkung von Verbänden bei Naturschutz und Landschaftspflege); §§ 11 a ff. AbfallG (Betriebsbeauftragter für Abfall, der vom Betreiber der Anlage (!)
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
engeren Sinne geschlossen254, den Kreis der Interpreten im weiteren Sinne aber offen zu halten und beide von- und gegeneinander abzugrenzen. Schon die Person des ehrenamtlichen Richters (Handels- und Arbeitsrichters, Schöffen und Geschworenen), des ehrenamtlich in der Verwaltung tätigen Bürgers (§§ 81 ff. VwVfG) 2 5 5 , der "sachverständig", aber nicht Jurist ist, führt beide Arten von Interpreten zusammen bzw. dient der Öffnung der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten im engeren Sinne und der gemeinsamen Arbeit aller an der Verfassung. Die Urteilsformel "Im Namen des Volkes" gewinnt dadurch einen tieferen Sinn. Tiefgründige Beispiele für die Verknüpfung beider Interpretationsarten und Interpreten liefern die Erfahrungen 256 , die ein Volk im Laufe seiner Geschichte mit sich und seinen Institutionen macht und (selbstverständnishaft) der eigenen Rechtskultur vermittelt (Beispiel: die Verfassungstradition der USA). Die historische Dimension des Menschlichen 257 wird über Erfahrung eingebracht: über Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne. Zu denken ist ferner an die wandlungsfähigen Begriffe wie "öffentliche Sicherheit und Ordnung", die konsensfähig bleiben müssen 258 . Es wäre zu wenig, die viel zitierten "gesell-
zu bestellen ist, § 11 c); § 51 BImSchG: "Anhörung beteiligter Kreise"; §§ 53 ff. BImSchG (Betriebsbeauftragter für den Immissionsschutz); Ethikkommission nach dem TierschutzG. 254 Zu Verengungen wegen des (neo-)marxistischen Ansatzes bei H.H. Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, 1970, meine Kritik: AöR 100 (1975), S. 333 (335 ff.). Vgl. noch Hartwichs Reformulierung Sozialstaatspostulat und Reformpolitik, in: FS für G. von Eynem, 1977, S. 137 ff. 255
Zur Mitwirkung des Volkes an der Verwaltung durch Deputationen der Hamburger Fachbehörden s. den gleichnamigen Beitrag von HP. Bull, in: FS für Ipsen, 1977, S. 299 ff. 256 Zur "Erfahrung als Rechtsquelle" s. das gleichnamige Werk von K. Lüderssen, 1972, bes. S. 68 ff: zur empirischen Seite des allgemeinen Werturteils.- Erfahrungen werden nicht nur bei der Interpretation, sondern auch bei der Verfassungs- und Gesetzgebung relevant: s. z.B. die, auf historischen Erfahrungen beruhende, Voranstellung der Grundrechte (vor den organisatorischen Teil) im GG. S. auch die Feier des 25jährigen Bestehens der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus, 1977: "Weimar als Erfahrung und Argument".- "Erfahrung" wird zur Kontextgröße. Zum "Kontext": BVerfGE 46, 43 (54 f.). 257 Zum menschenrechtlichen Gehalt der Grundrechte etwa beim Problem der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen: BVerfGE 21, 362 (369 ff. bzw. S. 371): "Bezug zum Menschen"; s. auch E 61, 82 (101); 68, 193 (205 f.). 258 Vgl. BVerfGE 34, 269 (288 f.): "Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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schaftlichen und politischen Wandlungen" 259 dieser offenen Begriffe nur als solche zu sehen und zu bejahen. Die gesamtgesellschaftlichen Vorgänge, in die das Recht als law in action eingebettet ist, blieben sozusagen "vor" der juristischen Interpretation, ihr gegenüber äußerlich. Sachlich und funktionell, auch personell sind sie aber ein Teil von ihnen. Sie liegen nicht "vor den Toren der Jurisprudenz". Interpretationstheoretisch läßt sich eine Theorie des sozialen Wandels bzw. der Zeitfaktor nur über "Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne" dem Recht vermitteln. Auf diesem Weg können Erkenntniselemente der Rechtstatsachenforschung ("Recht und Leben") oder sogenannte Normbereichsanalysen 260 bzw. die Wirklichkeit außerjuristischer Lebensprozesse innerlicher als bisher der juristischen Interpretationslehre zugeführt werden. Auch die Entwicklung "ungeschriebenen Verfassungsrechts" als gelebten, materiellen Verfassungsrechts wäre ohne die Verklammerung von Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne nicht erklärbar. Für das GG ist "Parallelwertung in der Laiensphäre" nicht unwesentlich 261 . Es gibt aber auch eine "Parallelwertung in der Juristensphäre". Beides gehört im Spektrum der Verfassungsinterpreten im weiteren und engeren Sinne zusammen. Im Spannungsfeld beider "Parallelwertungen" entfaltet
Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, "Recht" zu sprechen, verfehlen will. Zum anderen stoßen, wie die Erfahrung zeigt, gesetzgeberische Reformen gerade dann auf besondere Schwierigkeiten und Hemmnisse, wenn sie zu Änderungen eines der großen Gesetzgebungswerke führen sollen..." (Hervorhebungen vom Verf. - zugleich ein Beisp. für Kontext-Argumentation!). Der Kontext-Begriff ist jüngst sogar zum Verfassungstext aufgestiegen: vgl. Art. 73 Abs. 1 Verf. Paraguay (1992): "permanent educational system, conceived as a process within the cultural context of the community". 259 Man denke an den Wandel vom Verbot der "Sünderin" (H. KneJ) in den 50er Jahren bis hin zur Freigabe Pasolinis "120 Tage von Sodom" (1978).- Zu den "soziologischen und ideologischen Differenzen zwischen Recht und Gesellschaft" vgl. J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1977, S. 70 ff. 260 F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976, z.B. S. 117 ff., 120 f., 180 ff. (6. Aufl. 1995, S. 146 ff. u.ö.).- S. auch seine Unterscheidung zwischen den allgemeinen Vorverständnissen und den besonderen juristischen Vorverständnissen, S. 137, 279 (6. Aufl. 1995, S. 162 ff.). 261 Vgl. Hans F. Zacher, Was können wir vom Sozialstaatsprinzip wissen?, in: FS für HP. Ipsen, 1977, S. 207 (217 f.).
124
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
sich die Wirklichkeit der Verfassung. Der vielzitierte "Bürgersinn" gehört in diesen Zusammenhang262. Die Vermittlung zwischen Verfassungsinterpretation im weiteren und engeren Sinne 263 erfolgt zum Teil über verschiedene Personen, zum Teil aber auch über die bzw. "in" denselben konkreten Personen. So sind etwa die Richter auch Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne: als Bürger. Darum wird z.B. die (Verfassungs-)Richterbiographie relevant. Verfassungsinterpreten im engeren Sinne "als" Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne zu sehen - diese Thematik eröffnet ein neues Forschungsfeld. Das "Richterleben" ist eben auch ein "Bürgerleben", und das wirkt sich auf die "kunstregelorientierte", juristische Interpretation aus (unbeschadet des Art. 92 GG). Die Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne, z.B. die des Verfassungsrichters (und dessen Erfahrung), prägt auch dessen eigene Verfassungsinterpretation im engeren Sinne mit. Die Vorverständnis-Diskussion der Hermeneutik hat auf ihre Weise daran erinnert. Die hier entwickelte Selbstverständniskonzeption als Vermittler zwischen den beiden Arten von Verfassungsinterpreten sucht diese Verknüpfung schon im Ansatz: systematisch und konsequent. A l l dies will freilich den Richter nicht verunsichern, es soll ihm vielmehr die Lebens- und Wirkzusammenhänge seines öffentlichen Amtes klarer machen. Von hier aus fällt Licht auf die tiefere Bedeutung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs 264 . Er verknüpft die - "betroffenen" - Interpreten im weiteren Sinne (d.h. Bürger und Gruppen) mit denen im engeren Sinne, selbst dann, wenn man diesen Grundsatz noch nicht als "Rechtsgespräch" (A. Arndt) verstehen sollte. Das "Gespräch mit dem Bürger", das die (pluralistische) Verwaltung zunehmend sucht und suchen muß, gehört in diesen Zusammenhang. Der Bürger wird beteiligt im Rechtsbildungsprozeß der offenen Gesellschaft der Verwaltungsrechtsausleger 265. Im ganzen: Verfassungsinterpretation im weite-
262
Vgl. BVerfGE 40, 237 (251): "Einverstandensein des Bürgers mit dem Staat". Bemerkenswert auch BVerfGE 71, 108 (115): "...daß dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist." 263 Die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne sind also mehr als bloße "Faktoren", sie sind nicht etwa nur terminologisch "Interpreten"!- S. noch das berufsrichterliche Element im BVerfG (§ 2 Abs. 3 BVerfGG). 264 Entsprechendes gilt für die Partizipationsproblematik, dazu W. Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 ff. S. auch F. Schuppert, Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, AöR 102 (1977), S. 369 ff.; P. Badura,, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 238 f. 265 Dazu mein Beitrag: Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht, BayVBl. 1977, S. 745 (749 ff.).
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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ren Sinne ist kein Synonym für "Politik", so sehr auch der Politiker interpretiert. Die Verklammerung von Verfassungsinterpretation im weiteren und im engeren Sinne ist einerseits sachlich-funktional zu sehen bzw. zu leisten, andererseits personal. Ausdruck dieser Verknüpfung ist es, daß einzelne spezielle Freiheitsrechte strikt formal zu verstehen sind, weil sie nur so gelebt werden können bzw. weil die Selbstverständnis-Äußerungen der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne auch juristisch wesentlich sind: Das gilt besonders für Meinungs- und Pressefreiheit als formal interpretierte Grundrechte 266 , für die Wissenschaftsund Kunstfreiheit 267 , aber auch für die Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG und für den formalen Parteibegriff des Art. 21 GG sowie für den "Interpretationsprimat" der Eltern im Blick auf Art. 6 Abs. 2 GG 2 6 8 . Je relevanter das Selbstverständnis der Normadressaten wird, desto formaler ist die Garantie zu 269
interpretieren . Damit zeigt sich aber auch, daß hier nicht lediglich eine Methodologie der Verfassungsinterpretation entfaltet wird. Bestimmte Demokratie-, bestimmte Grundrechtsforderungen sind sachliche Grundlage für das Zusammenwirken 270
von Verfassungsinterpretation im weiteren und engeren Sinne . Daß das GG die "beste Verfassung" ist, die es in Deutschland je gab, wird zur ganzen Wahrheit erst dann, wenn diese Einsicht Bestandteil des allgemeinen Bürgerbewußtseins geworden ist und sich eine Art "Verfassungsglaube" (wie in den USA) entwickelt hat. 266
Vgl. BVerfGE 30, 336 (347); 33, 1 (14 f.); 34, 269 (283); 35, 202 (222 f.); auch 65, 1 (41); 85, 1 (15). 267 Vgl. BVerfGE 35, 78 (112 f.); 30, 173 (188 ff.). Zuletzt E 67, 213 (225 ff. ). Aus der Lit.: S. Vlachopoulos, Kunstfreiheit und Jugendschutz, 1996, bes. S. 84 ff, 101 ff. 268 Dazu F. Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977, S. 801 (806). 269 Freilich gilt auch das Entsprechende: Aus den besagten Grundrechtsgarantien folgt zwingend die Kompetenz der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne zu "ihrer" Verfassungsinterpretation. 270 Es wäre reizvoll, die Wirkungen von Diskussionsbeiträgen auf Staatsrechtslehrertagungen in der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft zu untersuchen. Herausragend ist KP. Ipsens "Junctim-Klausel" des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG (VVDStRL 10 [1952], S. 93, 94), seine "Plangewährleistung" (VVDStRL 11 [1953], S. 129; dazu H. Krüger, ebd., S. 139; W. Abendroth, S. 141, Schüle, S. 144, U. Scheuner, S. 150. M. Oldiges, Grundlagen eines Plangewährleistungsrechts, 1970, S. 128 f.- Aufschlußreich ist die Frage, welche Themen wie lange "schlummerten", dann aber doch aufgegriffen wurden (z.B. G. Dürigs Hinweis auf das Problem "Sachverstand und Politik" (VVDStRL 24 [1966], S. 106), vgl. W. Brohm, Sachverständige und Politik, in: Festgabe f. E. Forsthoff, 1972, S. 37 ff.). Die Ergiebigkeit der Diskussionen ist groß, z.B. was die "Eigenständigkeit der Verwaltung" angeht und zwar über viele Jahre hin (dazu Nachw. in meinem Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 (747 Anm. 29).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß (2) "Öffentlichkeit"
Ein Wort zu Struktur und Funktion der Öffentlichkeit, die in die Vorgänge und "Beteiligungen" der Verfassungsinterpretation einbezogen ist und diese zum öffentlichen Prozeß macht. Verwiesen sei auf die Grundsatzarbeiten von Rudolf Smend und Konrad Hesse 271 . Die Verfassung steht schon dem GG-Text nach in vielfältigen Öffentlichkeitsbezügen: Art. 42, 21 Abs. 1 S. 3 und 4, 79 Abs. 1 S. 1 GG. Zu erwähnen ist die Demokratiekomponente der Grundrechte, insbesondere die öffentliche Seite der Pressefreiheit 272 (Stichwort: Pressesubventionierung 273 ). Idealiter geht es um pluralistische Öffentlichkeit, eine Öffentlichkeit, die aus der Vielfalt von Ideen und Interessen lebt. Das Spektrum reicht von der Macht "organisierter Interessen" bis zur Ohnmacht nicht organisierter oder nicht organisierbarer Interessen, etwa gesellschaftlicher (Rand-) Gruppen (Zeugen Jehovas, Gastarbeiter und Behinderte, Transsexuelle oder Verbraucher und Sparer), die um so stärker auf Berücksichtigung durch die und "in" der Verfassungsinterpretation angewiesen sind als sie Minderheiten, aber auch "allgemeine Interessen" ohne Macht darstellen: Hier liegt ein spezifisches Feld für die Verfassungsinterpretation des BVerfG, das sich dieser Aufgabe durchaus stellt 274 . Hier eröffnen sich Perspektiven für Verständnis und Praxis des Verfassungsprozeßrechts, das "feine" Instrumente für die Artikulierung und Formulierung solcher Minderheitsinteressen bereitzustellen und entsprechend zu "stimmen" hat, um dann pluralistische Verfassungsinterpretation zu ermöglichen. (Öffentlicher Prozeß durch Verfassungsinterpretation!) Öffentlichkeit ist vielfältig strukturiert und insbesondere den Steuerungsinhalten und -Vorgängen der Verfassung unterworfen. Sie ist intrakonstitutionell auch dort, wo sie normative Kraft entfaltet. Diese Öffentlichkeit ist als vom Grundgesetz geprägte - komplex. Sie hat teils amorphe, grobe
271
R. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Gedächtnisschrift für W. Jellinek, 1955, S. 11 ff.; Κ Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (39 ff.). Daran anknüpfend mein Beitrag: Struktur und Funktion der Öffentlichkeit im demokratischen Staat, in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 3 ff. (wiederabgedruckt in: Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 126 ff.). S. noch Sechster Teil VII. Den öffentlichen Status des Abgeordneten erarbeitet das BVerfG zu Recht auch unter Hinweis auf Art. 42 Abs. 1 GG: E 70, 324 (355). 272 Dazu D. Czajka, Pressefreiheit und "öffentliche" Aufgabe der Presse, 1968. 273 Dazu W. Krebs, Grundrechtlicher Gesetzgebungsvorbehalt und Pressesubventionierung, DVB1. 1977, S. 632 ff. S. auch BVerfGE 80, 124. 274 Z.B. in den Zeugen Jehovas-Fällen: BVerfGE 23, 127 bzw. 191; dazu mein Diskussionsbeitrag in VVDStRL 34 (1976), S. 110. Zu den Transsexuellen: BVerfGE 49, 286; 60, 123; 88, 87.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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(gelegentlich "brutale") Züge (Massenaufmärsche bis an die Grenze der Gewaltanwendung), teils auch feine, gegliederte und feinste Ausdrucksformen: die Pressekonferenz eines Politikers, die Rede des Bundespräsidenten 275, das politische Gedicht, der Chanson eines Liedermachers, der Auftritt der Melina Mercouri oder ein Film (wie "Z"); sie sind ein Mosaik im Ganzen der Kulturverfassung. Die Öffentlichkeitskristallisationen, d.h. Anhaltspunkte für Pluralismus- und "öffentlichkeitsbewußte" Verfassungsinterpretation sind komplex; sie können nicht abschließend systematisiert werden, auch nicht die Medien oder "Vermittler", d.h. Beteiligten an - öffentlicher Verfassungsinterpretation 276. Besonders seien genannt: Das Verständnis und Selbstverständnis(!) 277 gesellschaftlicher Gruppierungen wie politischer Parteien 278 , Gewerkschaften, Berufsverbände, Presse und anderer Medien (vor Gericht, außergerichtlich usw.), sonstige "Objektivationen" der öffentlichen Meinung, z.B. Programme, etwa der politischen Parteien, oder das vom Bundestag artikulierte Selbstverständnis in der 279
sog. Verfassungsdebatte (1974) . Sie gehören ebenso hierher wie Regierungserklärungen oder Festreden auf Verbandskongressen (etwa der Ärzte). Proteste (Bürgerinitiativen!) und Formen künstlerischen Ausdrucks sollten in 275 Herausragend ist die Ansprache des (damaligen) Bundespräsidenten W. Scheel zur 500Jahr-Feier der Universität Tübingen am 8. Okt. 1977, Bulletin 1977, S. 897 ff: "Kritische Sympathie des Bürgers mit dem demokratischen Staat". Sie ist beste Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne. 276 Dazu und zum folgenden P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. sowie Fünfter Teil III 1 Inkurs A. 277 Dabei wird auch die Fremdeinschätzung des Selbstverständnisses (z.B. durch Rechtsprechung) relevant, vgl. einerseits BVerwGE 39, 197 ff., für die Bundesprüfstelle nach dem GjS, andererseits BVerwGE 45, 309 ff. (323 f.): Die "im guten wie im schlechten Sinne parteiische Gemeinde".- Zum "ethischen Standard" des GG: BVerfGE 41, 29 (50). Dort ebenfalls eine Einschätzung der beiden christlichen Konfessionen (S. 62 ff.). Zum Problem s. auch H.-R. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 38 ff.; K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, bes. S. 233 ff., 244 ff.- Zur Relevanz des Selbstverständnisses pluralistischer Gruppen meine Besprechung von M Gerhardt, Das Koalitionsgesetz, 1977, in: DVB1. 1978, S. 121 f. 278 Diese werden die verfassungsgestaltende Kraft in Europa als "werdende (bzw. Vor-)Verfassung", die ihre Identität zwischen Pluralität und Homogenität freilich noch zu suchen hat. Dazu Sechster Teil XI. 279 P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (115 FN 33).- S. auch BVerfGE 7, 198 (230, 1. Absatz): Relevanz einer Bundestagsdebatte für die Verfassungsinterpretation. BVerfGE 42, 312 (331): Relevanz einer Regierungserklärung für das "Vorverständnis" des Art. 140 GG.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Umweltschutzfragen oder bei der Erfassung von Inhalt und Grenzen des Art. 5 280 ** Abs. 3 GG ebensowenig außer acht gelassen werden wie Äußerungen von wissenschaftlicher Seite. Sie bilden - im juristischen Bereich - ohnehin eine "zweite" oder "dritte" Öffentlichkeit (Lehrmeinungen, Schulenkontroversen, Monographien). Auch diese macht sich - dank öffentlicher Freiheit - öffentlich geltend. Sie ist ("vor-läufiges") "Material" für die spätere Verfassungsinterpretation aus der Pluralität der konstitutionellen Gesellschaft. Es gibt keine Verfassung ohne pluralistische Öffentlichkeitsinterpretationen und ihre Kontexte. Es besteht Grund zu "gedämpftem" Öffentlichkeitsoptimismus. Den theoretischen Hintergrund für Verfassungsinterpretation als pluralistisch-öffentlichen Prozeß bildet die gleichermaßen demokratische wie grundrechtliche Fundierung des freiheitlichen Gemeinwesens. Sie läßt sich als "Bürgerdemokratie" umschreiben und ist als solche eine Absage an" volksdemokratische" Konzeptionen jeder Art 2 8 1 . (3) Beispiele (a) Verfahrensmäßig Ausdruck und Folge des öffentlichen Prozeßcharakters der Verfassungsinterpetation lassen sich an Beispielen verdeutlichen: - an der Praxis zum BVerfGG, in der das BVerfG pluralistisch eine Art öffentlicher Hearings schon bisher bei mehr oder weniger "großen" Prozessen
280 S. die Formulierung in BVerfGE 35, 79 ff. (113): Die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG erstrecke sich "auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit" anzusehen sei. Dies folge unmittelbar aus der "prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis" (s. auch E 90, 1 (12 f.)). Diese "Definition" läßt unterschiedlichen Selbstverständnissen Raum.Zur Repräsentationsfunktion von Wissenschaft s. auch H.H. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 315 ff. Zur Demokratie gehört eine Forschung, die Ungerechtigkeiten aufdeckt (so zu Recht P. Bourdieu , Störenfried Soziologie, in: Die Zeit vom 21. Juni 1996, S. 42). 281 Dazu mein Aufsatz: Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff - Zur Relevanz bürgerdemokratischer Konzeptionen für ein vereintes Europa s. den Tindemans-Bericht v. 29. Dez. 1975 über die Europäische Union, Bulletin EG Beil. 1/76, S. 29 ff.: "Das Europa der Bürger". Jetzt Art. A Abs. 2 "Maastricht": "bürgernah". Zuletzt die Wiener Staatsrechtslehrertagung mit dem großen Thema "Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat", VVDStRL 55 (1996), vgl. besonders W. Berka, ebd. S. 48 ff.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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seinen Entscheidungen vorgeschaltet hat 282 . (Auch gewisse Öffentlichkeitsdefizite seien nicht verschwiegen: das BVerfG macht vom Öffentlichkeitsprinzip seines Prozeßrechts nicht immer den optimalen Gebrauch 283 , und die Verfassungsrichterkandidaten sollten m.E. vor ihrer Wahl öffentlich befragt werden wie - durch den Senat - in den USA), - in der Einrichtung von und Praxis zu Sondervoten im BVerfG (hier vermag sich auf längere Sicht die normierende Kraft der Öffentlichkeit zu entfalten, indem sich die unterlegene Partei im Sondervotum zunächst "aufgehoben" sieht und mittelfristig, wie Beispiele des US-Supreme Court und BVerfG belegen, einen Umschlag bewirken kann). (b) Materiellrechtlich Materiellrechtlich illustrieren folgende Beispiele den Zusammenhang von Verfassungsinterpretation und Öffentlichkeit(saktualisierung): -Abwägungsvorgänge bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Grundrechte 284 , hinter denen heute nicht nur Individualinteressen, sondern auch Gruppenkonflikte stehen: Prozessual werden z.B. vor dem BVerfG viele Verfahren als "faktische Verbandsklagen" geführt (etwa in der Mitbestimmungsfrage), - die Auslegung betont öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogener Begriffe 285
wie "öffentliche Aufgabe" der Presse und Pressefreiheit , -der Durch- bzw. Rückgriff auf öffentlich vorgebrachte Wertungen bestimmter Gruppen, Fachkreise usw. 286 , aber auch des Gesetzgebers, z.B. in der
282 Dazu mein Beitrag in JZ 1976, S. 377 (382 f.); Beispiele hierfür: BVerfGE 40, 296 (299 ff.); 42, 133 (136 f.); 43, 34 (40 f.), 79 (85 ff.), 213 (220 ff.). Zuletzt E 83, 238 (285 ff.); 92, 365 (389 ff.). S. auch die "Umfrage" in E 91, 1 (22 ff.). 283 Nachweise und Kritik bei P. Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 ff. (31 mitFn 120). 284 Zu Beispielen des Verf.: "Gemeinwohljudikatur" und Bundesverfassungsgericht, AöR 95 (1970), S. 86 (96 ff, 112 ff ); ders., Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 351 ff.; fortgeschrieben in ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 308 ff. Zuletzt findet sich „Gemeinwohljudikatur" in BVerfGE 88, 103 (114 f.); 89, 48 (66), 69 (84); 90, 263 (271); 91, 186 (207), 294 (308), 335 (340). 285 Zu Beispielen des Verf. s. ebenfalls: "Gemeinwohljudikatur" und Bundesverfassungsgericht, in: AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.). 286 Dazu und zu dessen Grenzen: BVerfGE 33, 125 ff. (Facharzt-Beschluß), bes. S. 156 f.: "Die Verleihung von Satzungsautonomie hat ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschauba-
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Gemeinwohljudikatur zur einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) 287 , und etwa zur Wehrdienstnovelle 288 , - die Umschreibung des Wandels verfassungsrechtlicher Begriffe: Stichwort "gesellschaftliche Anschauungen" wie bei Art. 14 GG 2 8 9 , das Verständnis der politischen Parteien 290 , - der (zulässige) Blick auf die Folgen einer bestimmten Verfassungsinterpretation 291 , die Folgen- und Prognosenproblematik stellte sich besonders in der Mitbestimmungsfrage (E 50, 290). - Die rationale Offenlegung der Gesichtspunkte und des Vorverständnisses durch das BVerfG hat ihre Entsprechung in der Offenlegung von Interessen und Ideen in den gesellschaftlichen Konflikten 292 , die verfassungsrechtlich gefordert ist. Dies gilt auch für die Kontexte.
ren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte". Zu dieser E. auch mein Besprechungsaufsatz in: DVB1. 1972, S. 729 ff. 287 S. meine Belege zur "Gemeinwohljudikatur" des BVerfG, in: AöR 95 (1970), S. 86 (90 ff.). Später BVerfGE 64, 67 (69 ff.); 81, 53 (54 ff.); 91, 70 (81). 288 BVerfGE 48, 127 ff. 289 Dazu: BVerfGE 1, 264 (278); 2, 380 (402); 11, 64 (70); 28, 119 (142); s. auch BVerfGE 14, 263 (278) und E 19, 268 (270). Zuletzt E 79, 292 (302). 290 S. die Entwicklung von BVerfGE 20, 56 ff., 24, 300 ff. (Parteifinanzierungsurteile) zu BVerfGE 41, 399 (Wahlkampfkostenerstattung für unabhängige Bewerber) und BVerfGE 44,125 ff. (Wahlwerbung der Bundesregierung): von der Leibholzschen Parteienstaatslehre zur mehr bürgerdemokratischen Konzeption des Parteienstaates, dazu mein Beitrag: Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff. Zuletzt BVerfGE 85, 246. 291 Dabei geht es um folgenorientierte Interpretation wie auch, bei komplexen, d.h. besonders bei leistungsstaatlichen Erscheinungen, um dogmatikgesteuerte, funktionsund kompetenzgerechte Beschränkung der Folgenberücksichtigung.- Vgl. allgemein meine Schrift Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, z.B. S. 711. 292 Allgemein steht die "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" der diskursiven Begründbarkeit von Wahrheit (J. Habermas) näher als dem N. Luhmannschen Konzept der Legitimation durch Verfahren i.S. der faktischen Abnahme von Entscheidungen: Idealiter müssen sich Legitimation durch Verfahren und Legitimation durch Begründung (so der Titel von F. Eckhold-Schmidt, 1974) decken. Dies ist nur möglich durch die genannte Offenlegung von Interessen und Ideen wie durch die Bestimmung realer Paritäten in der pluralistischen Gesellschaft. Zu J. Habermas zuletzt: I. Maus, Freiheitsrechte und Volkssouveränität, Rechtstheorie 26 (1995), S. 507 ff.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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(4) Gefahren und Grenzen Ein Verständnis der Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß hat Grenzen und birgt Gefahren. Sie liegen in der denkbaren zu starken Dynamisierung des sogenannten "geschriebenen" Verfassungsrechts 293, - das freilich weit mehr ungeschrieben ist als gemeinhin gesehen wird, insofern Verfassungsauslegung prinzipiell im Spannungsfeld von (verfassungsrechtlichem) Grundsatz und ("unterverfassungsrechtlicher") Norm geschieht. Gewiß ist die Verfassung nicht nur Prozeß, sie hat wesentliche Momente der Konstanz als "Rahmenordnung", ist vor allem - funktionell-rechtliche - Grundordnung 294 und "konstituiert". Sie zieht auch Grenzen, aber vor allem regt sie (Prozesse) an (R. Smend). Ein Blick in die fast 200jährige Geschichte der US-Verfassung sollte uns über das Wechselspiel von Dauer und Wandel bzw. von der Rolle der Öffentlichkeit belehren - gerade unter dem Gesichtspunkt des Einflusses der öffentlichen Meinung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit ("The Supreme Court follows the elections") 295 . Bei der Verfassungsinterpretation geht es freilich nicht nur um das (verfaßt) Öffentliche. Das Private ist auch als solches vielfältig geschützt, nicht nur durch Grundrechte; es ist Korrelatbegriff, Bedingung für Innovation des Öffentlichen. Folglich muß Verfassungsinterpretation das eigenständig (konstitutionell) geschützte Private im Auge behalten (Verfassungsinterpretation als Privat[rechts]schutz). Erinnert sei an Probleme der Vorschulerziehung, des Sexualkundeunterrichts 296, des Datenschutzes oder der Abtreibung 297 . Zu die293
Zu dessen stabilisierender und rationalisierender Funktion: K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 13 f.- Nach Fr. Müller (Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik, 1974/76, jetzt in: R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 248 ff. [250]) ist die Wortlautinterpretation nur "in den seltenen Fällen echter Subsumtion ... allein tragfähig". Hier entfalte sie in positiver Richtung nur Indiz-, in negativer Grenzwirkung. Zur (begrenzten) Nützlichkeit semantischer Analysen allgemein: H.J. Koch, in: ders. (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, 1977, S. 15 ff., 29 ff, 56 ff. 294 W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945; dazu F. Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, 1968, S. 488 ff. 295 S. dazu K. Hopt, Die dritte Gewalt als politischer Faktor, 1969, S. 63 ff., 175 ff., 202 ff. (205f.: breiter Konsensus als Bedingung für die Macht des Supreme Court); W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 12 ff. (s. das Wort von Woodrow Wilson, ebd., S. 13, der Supreme Court sei eine Art "constitutional Convention in continuous session"), S. 320 ff.; Κ. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 15 f., 418 ff. 296 Dazu BVerfGE 47, 46 und EGMR, NJW 1977, S. 487 ff. (für Dänemark).- Hintergrund des Streits um Sexualkundeunterricht sind letztlich Fragen des Art. 4 GG, vor allem das Toleranzprinzip. Die Schule sollte in einem tieferen und weit über den reli12 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
sem Privatheitsschutz gehört auch der Gedanke, in Ruhe oder "allein gelassen 298
zu werden" , sich durchaus im Sinne des Ohne-mich-Standpunktes zurückzuziehen. Insofern ist Ruhe "Bürger-Recht" (nicht aber erste Bürgerpflicht!). Verfassungsinterpretation darf nicht in den Sog von tagespolitischen Augenblickstimmungen, Pressionen einer "formierten", "verordneten" (statt pluralistischen!) Öffentlichkeit, sie darf nicht unter die "Herrschaft der Verbände" (T. Eschenburg) geraten. Ihr Zurechnungspunkt ist die Bürgerdemokratie aller 2 9 9 . Zur Abwendung der Gefahren bedarf es einerseits der "feinen" Instrumente rationaler und pluralistischer Verfassungsinterpretation und ihrer herkömmlichen Methoden, andererseits der pluralistischen Strukturierung und Organisation der Öffentlichkeit (z.B. durch Pluralismusgesetze in Rundfunk und Fernsehen 300, im Hochschulbereich, im Pressewesen [Anti-Fusionsgesetze]), im Verfassungsprozeßrecht, im Verwaltungsverfahrens- und prozeßrecht usw. ("status activus processualis"); Pluralismus- bzw. Öffentlichkeitsdefizite können sich hier besonders nachteilig auswirken. Es gibt einerseits Formen und Inhalte des Drucks der Öffentlichkeit, denen die Verfassungsinterpretation standzuhalten hat 3 0 1 ; es gibt andererseits innovatorische Öffentlichkeitsimpulse, die sie aufzunehmen und zu verarbeiten bzw. "umzusetzen" hat. Hier den richtigen Weg zu finden, ist zugegebenermaßen schwierig und verlangt Sensorium und Takt, aber auch Standhaftigkeit.
giösen Sinn hinaus als "Gemeinschaftsschule" verstanden werden, so wie die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten nicht ohne den Kontext von Gemeinschaft(en) hält.- Zu Frankreich: P. Rädler, Religionsfreiheit und staatliche Neutralität an französischen Schulen, ZaöRV 56 (1996), S. 353 ff. 297 Dazu die interdisziplinäre Arbeit G. Rüpkes, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976 (mit informations- und Kommunikationstheoretischem Ansatz) und meine Kritik in: FS Boorberg Verlag, 1977 (Hrsg.: W. Schmitt Glaeser), S. 47 (76 FN 125). Siehe später W. Schmitt Glaeser, Schutz der Privatsphäre, HdbStR Bd. VI (1989), S. 41 ff. 298 BVerfGE 35, 202 (233); vgl. auch E 44, 197 (203). 299 Zu diesem Konzept: P. Häberle, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff. 300 Vgl. meinen Beitrag: Leistungsrecht im sozialen Rechtsstaat, in: FS fur Küchenhoff, 1972, S. 453 (465, 472).- S. für die europäische Ebene: M. Kloepfer, "Innere Pressefreiheit" und Tendenzschutz im Lichte des Art. 10 EMRK, 1996.- In Deutschland hat das BVerfG durch seine prätorische Pluralismus-Judikatur "wie ein Gesetzgeber" gehandelt; Lit. und Rechtsprechung bei Κ Hesse, Grundzüge, S. 172 f.; z.B. E 90, 60. 301 Dem Richter kann letztlich niemand die Entscheidung abnehmen.
V. Vefassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
133
Auch die "zweite Gewalt", die Verwaltung, erlangt pluralistische Züge. Als pluralistische (Gemeinwohl-)Verwaltung 302 bezieht sie zunehmend pluralistische Interessen in ihre Programme ein. Gelegentlich wird der Zusammenhang mit der pluralistischen Öffentlichkeit schon direkt greifbar 303 . Parallelstück zur Pluralismusgesetzgebung und -Verwaltung ist die Pluralismusrechtsprechung, insbesondere des BVerfG. Sie begegnet vielfältig: in Gestalt der "Richtlinienpolitik" in den (mittlerweile 8) Fernsehurteilen 304 des BVerfG - das auf lange Sicht zum Vorreiter einer Konzeption der Rundfunkfreiheit als "Gruppengrundrecht" zu werden scheint 305 - ebenso wie in den späteren Verfeinerungen zu Art. 5 Abs. 1 und 2 GG, d.h.: keine Differenzierung zwischen wertvollen und nicht wertvollen Meinungen 306 , Gebot der weiten und "formalen" Auslegung der Pressefreiheit 307. Im Felde der Pressefreiheit bedarf es umso mehr der "Pluralismuspolitik" durch die gesetzgeberischen Instanzen, als nach BVerfGE 41, 53 (62) die Presse selbst bei regionaler Monopolstellung den Abdruck von Anzeigen und Leserzuschriften verweigern darf 308 . Solche Pluralismuspolitik, eine Gestalt der Grundrechtspolitik, ist etwa durch Pressesubventionierung in Angriff zu nehmen. Herausragendes, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel solcher pluralistischen Verfassungsinterpretation durch das BVerfG ist der - oft über Art. 20 Abs. 1 und 3 GG - erreichte Schutz der Schwachen und Hilfebedürftigen im Sozialrecht 309 , im Armenrecht 310 und in bezug auf Ausländer 311 . Das Sozialstaatsprinzip verlangt "staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesell-
302
Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 95 f., 457, 475 ff., 501 ff. S. auch Η-D. Horn, Staat und Gesellschaft in der Verwaltung des Pluralismus, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 545 ff. 303 Vgl. mein Beispiel, aaO., S. 501 ff. 304 BVerfGE 12, 205; zuletzt E 91, 125 (133 ff.); 95, 163 (172 f.), 220. 305 Dazu J. Lücke, Die Rundfunkfreiheit als Gruppengrundrecht, in: DVB1. 1977, S. 977 ff. Aus der späteren Lit.: M. Stock, Medienfreiheit als Funktionsgrundrecht, 1985; A. Hesse, Rundfunkrecht, 1990. 306 BVerfGE 30, 336 (347); 33,1 (14 f.); s. auch E 35,202 (222 f.), E 65, 1 (41). 307 BVerfGE 34, 269 (293). Zuletzt E 66, 116 (134); 95, 28 (35). 308 Zu "Öffnungsklauseln" bei Zeitungen die gleichnamige Schrift von I.v. Münch, 1977. 309 BVerfGE 28, 324 (347 ff.); 29, 57 (65 ff.), 71 (78 ff.); 35, 283 (296); 37, 154 (165 ff.), 363 (400).- Zu den Transsexuellen; s. BVerfGE 49, 286; 60, 123; 88, 87. 3,0 BVerfGE 35, 348 (355 f.). 311 BVerfGE 35, 382 (400 ff.); 38, 52 (57 ff.); 40, 95 (100); 42, 120 (123 ff.); 43, 212 f.; E 51, 386; 76, 1.- S. auch BVerfGE 42, 64 (77): Der Schutz des Eigentums muß sich in einem sozialen Rechtsstaat auch und gerade für den sozial Schwachen durchsetzen.· Für das Nichtehelichenrecht: E 25, 167.
134
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
schaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind" - dazu gehören auch die "Gefangenen und Entlassenen"312. Zusammenfassend: "Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß" - das ist zum Teil Programm, zum Teil aber schon die heutige Wirklichkeit der Verfassungsinterpreten einer offenen Gesellschaft mit oder ohne Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses normativ-prozedurale pluralistische Verständnis von Verfassungsinterpretation läßt den herkömmlichen Interpretationsmethoden ihr relatives Recht 313 , ergänzt aber ihr ohnehin reiches, ständig verfeinertes Spektrum und Instrumentarium um die öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene pluralismusorientierte Auslegung. Sie fordert für die Zukunft einen weiteren Ausbau der Pluralismusgesetze, eine noch bewußtere Pluralismusrechtsprechung und eine bürgerdemokratische Aktivierung (z.B. in Gestalt des status activus processualis im Verhältnis Bürger/Öffentliche Verwaltung) 314 . Die Aktualisierung der Verfassung durch gelebte Freiheit ihrer Bürger und die normierende Kraft der Öffentlichkeit im gekennzeichneten Sinn verlangt viel von uns. Der Jurist kann als Verfassungsinterpret (im engeren und weiteren Sinne) einiges dazu tun, um das Gemeinwesen verfaßt und dadurch den Bürger in Freiheit zu halten. Letztlich aber muß sich der Bürger selbst engagieren, um (sich) verfaßte Freiheit in Staat und Gesellschaft zu sichern. Das ist seine (unverzichtbare) Verfassungsinterpretation !
2. Der wissenschafts- und gesellschaftstheoretische Hintergrund: das Pluralismuskonzept In diesem Abschnitt geht es um den wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Hintergrund des Konzepts "Verfassung" bzw. "Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß". Prämisse ist das Pluralismusmodell, Pluralismus verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen im politischen Gemeinwesen,
312
BVerfGE 35, 202 (236); vgl. auch BVerfGE 43, 1 (19). Dazu mein Beitrag in: R. Dreier/ F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (305 ff.).- Zu den vier Auslegungsmethoden jetzt präzise: N. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 1996, S. 104 ff. 314 Dazu P. Häberle, Verfassungsprinzipien "im" Verwaltungsverfahrensgesetz, in: FS Boorberg Verlag, 1977, S. 47 (66 ff.) sowie Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), 43, S. 86 ff. und ders., Auf dem Weg zum allgemeinen Verwaltungsrecht, BayVBl. 1977, S. 745 (748). 313
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
135
von Ideen als Interessen bzw. umgekehrt 315 , - gesehen im Hier und Heute. Diese Vielfalt lebt aus einer Fülle von unterschiedlich stark formalisierten Verfahren. In ihnen begegnen sich die Interessen und Ideen der realen und idealen Welt in Konflikt und Konsens (nämlich im Minimal- bzw. Grundkonsens); sie ringen mit- und gegeneinander und objektivieren sich zu Alternativen. Ein Basisbegriff für diesen Pluralismus ist Offenheit: z.B. der Verfassung, ihrer Theorien, ihrer Interpretation und Interpreten (etwa hinsichtlich der Grundrechte), ihrer Dogmatik sowie ihrer Fortentwicklung usw. a) Der erfahrungswissenschaftliche
Ansatz
Ein Wort zur "Offenheit": Sie besteht nicht nur "nach vorn", in die Zukunft hinein, sondern auch "nach zurück", in die Vergangenheit. Klassikertexte sind Verfassungstexte im weiteren Sinn! Im einzelnen: Die Erfahrung, ein Maßstab in den Verfahren von "trial and error", ist bislang verfassungstheoretisch noch nicht hinreichend thematisiert worden 316 . 315
Zur "freien Auseinandersetzung der Ideen und Interessen", "die für das Funktionieren dieser Staatsordnung lebensnotwendig ist": BVerfGE 12, 113 (125), vgl. auch E 5, 85 (204 f.); E 7, 198 (208). E 41, 65 (78): "Pluralität der Gesellschaft"; E 41, 29 (50), 98 (107): "pluralistische Gesellschaft"; E 33, 1 (15): "... ist in einem pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge jede Meinung... schutzwürdig".- (Vor dem Forum des BVerfG "wanderte" das Pluralismusproblem zwischen Art. 5 GG und Art. 4 GG!). Zuletzt E 93, 1 (21): "pluralistische Gesellschaft". 316 Ansätze in meinem Beitrag: "Zeit und Verfassung", ZfP 21 (1974), S. 111 (115, 117, 122): sowie Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 (298): Verfassungsrechtswissenschaft als "Erfahrungswissenschaft". Wichtig: K. Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, 1972, bes. S. 50 ff; s. auch das Habermas-Zitat, ebd., S. 66: "Die Paradigmen, die die theoretischen Ansätze tragen, stammen ... aus den Primärerfahrungen des Alltags". Kritisch: J. Esser, Traditionale und postulati ve Elemente der Gerechtigkeitstheorie, in: J. Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, 1977, S. 113 ff. (128: Erfahrung allein erbringe keine normativen Gesichtspunkte).- Vgl. noch das berühmte (freilich wohl eher aphoristische und daher nicht unproblematische) Wort des US-Richters O.W. Holmes (zit. nach J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, erg. Ausgabe 1972, S. 40 FN 19): "The life of the law has not been logic; it has been experience"; zum verfassungsrechtlichen Problemdenken, das durch einen "schubweisen Stoffwechsel zwischen den Neuerfahrungen der Fall-Praxis und den Formkräften der Schule" (Esser) bestimmt wird, s. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (99 f.).- Zur "Werterfahrung" H. Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977, S. 13 f., m.w.N., und dem Radbruch-Beispiel: Aufgabe der relativistischen Einstellung aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Zur Hermeneutik als Erfahrung und grammatische Analyse zugleich s. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse (1968), 1973. S. 204 ff.- S. auch BVerfGE 43, 291 (317): Abhängigkeit der Würdigung vom "Stand der jeweiligen Erfahrung".
136
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Pluralistische Verfassungstheorie und eine die Folgen "erwägende" Verfassungsinterpretation und -politik können aber auf sie nicht verzichten, zumal sie letztlich anthropologisch begründet ist. Mehr oder weniger bewußt bedienen sie sich ihrer auch sehr häufig. So beruht die "ewige" Berufung auf die "gemischte Verfassung" bzw. "die" Gewaltenteilung, etwa als Versuch, ihre neuen Anwendungsfelder z.B. im gesellschaftlichen Bereich (wie bei den Medien) zu erschließen (Stichwort: "publizistische" oder pluralistische Gewaltenteilung), auf den guten freiheitssichernden Erfahrungen, die man mit diesem vielgestaltigen Gedanken (ebenso wie mit dem Pluralismus) immer wieder gemacht hat. Über den anthropologischen Ansatz erhält auch das Irrationale seinen begrenzten Platz. Die Erfahrung als kritischer Erkenntnismaßstab verweist auf die Verfassungsgeschichte als "Schatzhaus" einerseits, auf die "Verfassungsvergleichung" andererseits. Jede Generation muß ihre Erfahrungen neu 317 , jedes Volk muß seine eigenen Erfahrungen machen, auch mit "guten" Verfassungsinstitutionen, die sie bei sich oder anderen vorfinden. Diese fortzuentwickeln, zu erben und zu erwerben, um sie zu besitzen, ist eine Kunst. Zwar muß die "Offenheit nach vorn" ungeschmälert bleiben, damit die Freiheit eine Chance hat. Doch schließt dies den Rückgriff auf Erfahrungen nicht aus, so behutsam historische Analogien zu ziehen sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse gründen sich nicht auf das Vergessen. In Abwandlung des Schillerwortes heißt dies: Siehe vorwärts und zurück! Freilich: Verfassungen allein können den "Stabwechsel" zwischen den Generationen nicht garantieren - er geschieht ständig, jeden Tag, jede Stunde und sei es auch nur in einer je einzelnen Person -, aber sie können ihn erleichtern: im Rahmen der Gesamtkultur 318 . Diese "Hereinholung" der Erfahrung in die pluralistische Verfassungstheorie ist das Ergänzungsstück zur vielberufenen Aktualität und Zukunftsorientiertheit der Verfassung, zum Möglichkeitsdenken nach vorn 3 1 9 . Sie ist kein Wider-
317 Zu Gerechtigkeitsurteilen als komparativen Urteilen J. Esser, in: J. Gernhuber (Hrsg.), aaO., S. 129. 318 S. auch die Überlegungen in meinem Berner Gastvortrag, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, ZSR 119 (1978), S. 1 ff. 319 Dazu mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, in: AöR 102 (1977), S. 27 ff- "Erfahrung" taucht bei den Klassikern der Staatstheorie in langer Tradition an zentralen Argumentationsstellen auf: So etwa in Montesquieus "De l'ésprit des lois", XI. Buch, 4. Kap. (zit. nach der Reclam-Ausgabe 1976, S. 211: "Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen"), in W.v. Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (Reclam-Ausgabe 1967, unter XV, S. 189: "nach der Erfahrung aller Zeitalter"), in Rousseaus Gesellschaftsvertrag (4. Kap., Reclam-Ausgabe 1977, S. 121: "Jeden Tag lehrt uns die Erfah-
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
137
spruch zur geforderten "Bewährung" der Verfassung. Pluralistische Verfassungstheorie sucht sich "zwischen" Konservativismus und Reformismus ihren Weg 3 2 0 . Pluralistische Verfassungstheorie ist kein juristischer Ikarus 321 . b) Die Verfassung des Pluralismus - Der Pluralismus in der Verfassung Im Spektrum des Pluralismus sind grob gesehen vier Bereiche zu unterscheiden: 1. der im weiteren Sinne politische Bereich des Öffentlichen, dann 2. der kulturelle, insbesondere wissenschaftliche 322 und künstlerische Bereich, 3. der wirtschaftliche 323 , 4. der im engeren Sinne staatliche Bereich.
rung...") und in J. St. Mills "Über die Freiheit" (Reclam-Ausgabe 1974, 2. Kap., S. 30: "Er [sc. der Mensch] ist fähig, seine Mißgriffe durch Diskussion und Erfahrung richtigzustellen. Nicht durch Erfahrung allein: Diskussion tut not, um zu zeigen, wie die Erfahrung zu deuten ist". S. auch S. 59 ebd. sowie 3. Kap., S. 80: "gesicherte Ergebnisse menschlicher Erfahrung... Erfahrung auf die ihm gemäße Weise nutzte und auslegt"). 320 " R e f o r m i s m u s » meint den Willen zur Reform um ihrer selbst willen (sie zehrt sich letztlich selbst auf) bzw. um jeden Preis: Reformen bedürfen aber einer Einordnung in das Koordinatensystem bestimmter Ziele, was auch eine Bewertung der zu erwartenden "Kosten" im weitesten Sinn und der Folgen verlangt. Reformen als solche für gut zu halten, ist ebenso fragwürdig, wie das Bewahren als solches im Sinne des Konservativismus fragwürdig wäre. 321 Es bleibt die Frage, wie Erfahrung "transportiert" wird, wer sie wie bewertet, insbesondere kritisiert und wer sie - nach welchen Kriterien - vermittelt. Die "erfahrene, gewissenhafte Öffentlichkeit" wird hier relevant.- Dieser verfassungstheoretische Einbau der Erfahrung, "de lege lata" nachweisbar in Experiment- und Erfahrungsklauseln, die von der Gegenwart und Zukunft her arbeiten (dazu: P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 [1974], S. 111 [132 ff.]), will freilich keinem "Denkmalschutz" das Wort reden! Erfahrungen können trügen, sie haben oft getrogen; sie sind kein deus ex machina, aber kritisch ausgelegt (vgl. J. St. Mill , Über die Freiheit, Reclam-Ausgabe 1974, 2. Kap., S. 30), können sie im politischen Gemeinwesen als Sache für den Menschen hilfreich sein. Erfahrung und Rationalität sind keine Gegensätze.- Die Erfahrung spielt als Argument eine große Rolle im "Federalist" von Hamilton, Jay und Madison (Ausgabe Ermacora, 1958: z.B. S. 49, 55, 103, 106 f., 128, 154, 164, 190 f., 206. Vgl. bes. S. 55: "Laßt euch von der Erfahrung, der unfehlbaren Führerin in die Tiefen der menschlichen Natur, Antwort auf diese Fragen geben."- S. 128: "Die Erfahrung ist die unfehlbare Autorität für die Wahrheit einer Sache; und wo sie unzweideutige Antworten gibt, sollten diese als endgültig und heilig hingenommen werden."). Dazu jetzt A. Hamilton, J. Madison , J. Jay , Die Federalist-Artikel, hrsgg. von A. Adams und W.P. Adams, 1994; s. auch P.D. Carrington, Der Einfluß kontinentalen Rechts auf Juristen und Rechtskultur der USA, 1776 - 1933, JZ 1995, S. 529 ff. 322 Von "Wissenschaftspluralismus" spricht z.B. das Sondervotum Simon/Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 35, 149 (157, 164). Dazu zuletzt I. Pernice , in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 Abs. 3 Rn. 21. 323 Angesprochen ist die seit F. Böhm oft betonte Parallele zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb und demokratischem Prozeß. Der wirtschaftliche Wettbewerb
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Diese vier unterschiedlich strukturierten Bereiche, zusammen mit dem Privaten das politische Gemeinwesen, sind vielfältig miteinander verflochten. Ihr gemeinsamer Nenner ist der freiheitliche Pluralismus, die Verfassung erscheint als das Pluralismus-"Gesetz"! Große Gefahren zeigen sich allerdings in den Zwischenzonen, etwa zwischen dem staatlichen und dem künstlerischen Bereich; ein Beispiel bilden die "Staatspreise". "Offizielle" Kunst kann zur tödlichen Gefahr für die Freiheit der Kunst und ihren Pluralismus werden. Darum müssen die Personen und Instanzen, die über "Staatspreise" und ähnliches entscheiden, Gewähr für Pluralismus bieten (z.B. über verfahrensmäßige Regelungen, pluralistische Beiräte etc.), sollte über steuerliche Anreize verstärkt das private und insofern auch pluralistische Mäzenatentum gefördert werden, auch wenn heute manche Gefahren aus dem "Kultur-Sponsoring" sichtbar werden - ohne daß dabei ein grundsätzlicher Einwand gegen die zutreffende These erhoben sei, es gehe in der modernen Gesellschaft um "neue Formen der Kulturpartnerschaft zwischen Staat, Wirtschaft und der freien Kulturszene" (O. Scheytt). Dennoch darf der Verfassungsstaat sich nicht aus der kulturellen Grundversorgung zurückziehen. Die Parallelität zum Medienrecht (Fernsehen) liegt auf der Hand. Heikle und differenziert zu beantwortende Pluralismusfragen im staatlichen Bereich stellen die Schulen, Hochschulen, Berufsbeamtentum und Bundeswehr 324 . Ein Beispiel an der Nahtstelle zwischen "staatlichem Bereich" und dem Bereich des Öffentlichen im weiteren Sinne bietet das Parlament selbst, insofern an seine Zusammensetzung Pluralismuspostulate gerichtet werden 325
("pluralistische Repräsentation") Wie ist dieser Pluralismus im einzelnen beschaffen, wo liegen seine "Garantien" (1)? Wo verlaufen seine Grenzen (2)? Ist er entwicklungsfähig und -bedürftig: theoretisch wie praktisch (3)?
in der EG als "offener Prozeß" könnte (begrenzt) Wegbereiter eines demokratischen Europas werden. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 7 d. 324 Fragwürdig daher BVerfGE 44, 197 (201 ff.); zutreffende Kritik in der Abw. Meinung Rottmann/Geiger, ebd., S. 205 ff.- Treffend aber BVerfGE 88, 40 (54) zum "Prozeß dauernder gegenseitiger Anregungen zwischen privatem und öffentlichem Schulwesen". 325 Z.B. über das Diätenurteil: BVerfGE 40, 292, dazu mein Besprechungsaufsatz: Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S. 537 ff.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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(1) Der verfaßte Pluralismus Gemeint ist der "verfaßte Pluralismus". Er findet Ausdruck in einer pluralistischen Verfassungstheorie zum Grundgesetz, in pluralistischer Verfassungsinterpretation des Grundgesetzes 326 und in pluralistischer Verfassungspolitik für das Grundgesetz als Typus einer freiheitlichen Verfassung. (a) Das GG ist die vielzitierte "Rahmenordnung", ist verfaßter und (stets neu) zu verfassender Pluralismus. Allgemeiner ließe sich von "normativem Pluralismus" sprechen. Das Normative besteht darin, daß die Verfassung (und "unter" ihr 3 2 7 die allgemeine Rechtsordnung) ein Minimum an Inhalten und ein Optimum an verfahrensmäßigen "Spielregeln" 328 , besser: Kommunikationsregeln, besonders i.S. des "due process" der US-Tradition, verbindlich vorschreibt. Dieser Verfassungsrahmen hält "das" Volk als pluralistische Größe zusammen und er setzt zugleich dessen vielfältige (auch widersprüchliche) Interessen und Ideen frei. Pluralismus besteht auf und lebt aus inhaltlich und verfahrensmäßig unverzichtbaren Konsensbedingungen, wie Menschenwürde, Informations-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, Parteien- und Oppositionsfreiheit, Demokratie, Öffentlichkeit, Sozial- und Kulturstaat, Gewaltenteilung (im engeren und weiteren Sinne) und Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Diese Rahmenbedingungen ermöglichen "autonome", gesellschaftliche und staatliche Integration und Repräsentation, aber auch Partizipation (Gruppen, Verbände, besonders Tarifvertragsparteien, Kirchen, aber auch die Gliederung in Bund, Länder und Gemeinden sowie andere staatsorganisatorisch ausgegliederte [Selbstverwaltungs-]Körperschaften). Die Konsensbedingungen 329 ermöglichen zugleich Konkurrenz und Dissens. Art. 5 GG ist in all seinen Absätzen das Kernstück verfaßter Pluralität.
326 Interpretation ist ein pluralistischer Vorgang ("Methoden- und Beteiligtenpluralismus"). Einzelheiten in meinem Beitrag JZ 1975, S. 297 ff. (Untertitel: "pluralistische und prozessuale Verfassungsinterpretation").- Zum "dogmatisch scheinbar anstößigen Fall offener Meinungspluralität" als Normalfall für Rechtsbeurteilung wie Tatsachen Würdigung: J. Esser, aaO., S. 129. 327 Das Verfassungsrecht ist z.T. vom Verwaltungsrecht her neu zu durchdenken; s. meinen erwähnten Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 ff. 328 Zu Bereichen, die "nicht dem freien Spiel" der gesellschaftlichen Kräfte allein überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind: BVerfGE 41, 29 (49). Vgl. auch BVerfGE 31, 314 (325). 329 Ohne Minimalkonsens zwischen Regierung(s-Parteien) und Opposition(s-Parteien) ist kein demokratischer (Verfassungs-)Staat zu machen.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Insofern ist "Verfassung der Freiheit" Verfassung des Pluralismus und umgekehrt. "Verfassung" ist sowohl "paktiert" 330 als auch "gesetzt", so widersprüchlich das erscheinen mag. Das sich einbürgernde Wort vom "Verfassungskonsens" dürfte dies andeuten. Der hier skizzierte Pluralismus ist nicht nur formaler Natur 331 . (b) Der sozialwissenschaftlich nachweisbare Pluralismus organisierter, nicht organisierter sowie nicht organisierbarer Interessen korrelliert mit, ja er ist der "geisteswissenschaftlich" feststellbare Pluralismus von Religionen und Weltanschauungen332, politischen Ideen, wissenschaftlichen Lehrmeinungen und privaten Ansichten, Hoffhungen und Wünschen "im Rahmen" des GG. Die ideenpluralistische - offene - Gesellschaft unserer Tage gehört zur interessengespaltenen (aber verfaßten) Gesellschaft als eine von zwei Seiten derselben res publica. Die pluralistische Verfassungs- und Wissenschaftstheorie verweist auf eine pluralistische Gesellschaftstheorie 333. Ohne Pluralismus in den Wissenschaften keine pluralistische Demokratie. Dieser Pluralismus von Ideen und Interessen ist positiv zu beurteilen, vom GG wird er vielfältig positiv bewertet (und z.B. in Gestalt der Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit vorbildlich ausgebaut). Darin darf man sich durch die Pluralismuskritik von rechts und von links früher wie heute bestärkt fühlen 334 , da diese, insoweit gemeinsam, von nicht verfas330
Neben der fast täglichen rentenpolitischen Bezugnahme auf den "Generationenvertrag" finden sich aktuelle Hinweise auf den Gesellschaftsvertrag z.B. bei H. v. Hentig, Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977, S. 80. S. noch Sechster Teil V. 331 Das zeigt auch seine Konfrontation mit dem sogenannten "sozialistischen Pluralismus"; dazu H. Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, 1977, S. 410 ff. Zum Ganzen schon mein Beitrag: Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, (2. Aufl. 1996), S. 121 ff. 332 Vgl. BVerfGE 41, 29 (50). 333 Verfassungstheorie und Gesellschaftstheorie bedingen sich wechselseitig insofern, als z.B. die Sachgehalte der Verfassung (bes. Art. 5 GG) die "Wahl" des gesellschaftstheoretischen Ansatzes steuern und andererseits Gesellschaftstheorie auf die offene Verfassung(stheorie) Einfluß nimmt. Programmatisch war mein Taschenbuch von 1980: "Die Verfassung des Pluralismus". 334 Eine Auseinandersetzung mit dieser Kritik bei H. Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, 1977, S. 94 ff., 105 ff., 261 ff., 302 ff., 382 ff., 406 ff.- Allgemein H. Quaritsch, Zur Entstehung der Theorie des Pluralismus, Der Staat 19 (1980), S. 29 ff.; W. Brugger, Theorie und Verfassung des Pluralismus, Eine Skizze im Anschluß an E. Fraenkel, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1990, S. 529 ff; H. Huba, Zur Verfassung der Theorie des Pluralismus, Der Staat 33 (1994), S. 581 ff.; S. Smid, Pluralismus und Zivilreligion, Der Staat 24 (1985), S. 3 ff.; H.-M. Pawlowski, Das Verhältnis
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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sungsorientierten Identitätslehren (C. Schmitt einerseits, J. Agnoli andererseits) oder Elitetheorien (einerseits in der Nachfolge J.A. Schumpeters, andererseits in (neo)marxistischer Spielart) ausgeht bzw. ausging. Alle Interessen und Ideen - sie bilden die heutige "Allgemeinheit" - leben aus der pluralistischen Öffentlichkeit und ihren Prozessen, welche die Verfassung anregen und begrenzen, z.B. den wissenschaftlichen Verfahren, den diffusen Verfahren der Freiheit der Kunst, den grundsätzlich geregelten der Tarifautonomie. Die Homogenität des bzw. eines allgemeinen Willens i.S. J.-J. Rousseaus ist angesichts der Heterogenität von Interessen und der Pluralität von Ideen eine Fiktion, wie der Absolutheitsanspruch einer Theorie, einer Meinung oder eines Interesses ein Fehler ist. Pluralität und Offenheit 335 des "Inputs" dieser öffentlichen Verfassungsprozesse sind die einzigen Garanten dauernder und temporärer Einheitsbildung im freiheitlichen Gemeinwesen. Die Integrationsleistung der Verfassung (und der Verfassungsgerichtsbarkeit) darf freilich weder über- noch unterschätzt werden. Z.B. ist einerseits sehr die Frage, ob es sich das BVerfG "leisten" hätte können, unter Berufung auf das GG die nicht voll paritätische Mitbestimmung scheitern zu lassen: gegen die - verfaßte - Macht der sich sonst immer wieder in freiheitlicher Integrationsleistung bewährenden Gewerkschaften: zumal der im Mitbestimmungsgesetz (1976) erfolgte Versuch einer Lösung der Spannungen zwischen "Kapital und Arbeit" in Gestalt eines fast einstimmigen Bundestagsbeschlusses ergangen ist (das kann bzw. könnte m.E. vom BVerfG - verdeckt - berücksichtigt werden). Andererseits war es viel eher möglich, im Streit um die Wehrpflichtnovelle gegen einzelne (wenn auch Tausende) Wehrdienstverweigerer zu entscheiden, zumal das deutsche "Modell" schon bisher in der westlichen Welt an Liberalität kaum übertroffen wird. An den Minderheitenschutz ist freilich auch hier immer wieder zu erinnern. Letztlich kann eine freiheitliche Verfassung nicht mehr leisten als ihre Bürger und Gruppen für sie und in ihr leisten wollen. Beste, erste und letzte Garantie für äußeren gesellschaftlichen Pluralismus ist die innere Toleranz der Menschen und Bürger im Verhältnis zueinander.
von Staat und Kirche im Zusammenhang der pluralistischen Verfassung, Der Staat 28 (1989), S. 353 ff.; W. Brugger, Radikaler und geläuterter Pluralismus, Der Staat 29 (1990), S. 437 ff. 335 Zur "Offenheit" der Ordnung des Grundgesetzes allgemein K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 12 f., 15 f., 72, 141, 191,298.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Im ganzen: Realistische Demokratie- und Gesellschaftstheorie wie realistische Grundrechts- und Wissenschaftstheorie begegnen sich "im" Pluralismus. (c) Diese pluralistische Verfassungstheorie kann an Vorarbeiten anknüpfen: an die politikwissenschaftlichen und verfassungstheoretischen Bemühungen Ernst Fraenkels, Ulrich Scheuners, K. Loewensteins, Hans F. Zachers u.a. um eine pluralistische Staats- und Gesellschaftstheorie 336, an die pluralistische Gemeinwohlkonzeption 337 , an das Leitbild einer verfaßten (konstitutionellen) Gesellschaft 338, an die Überlegungen zu einer pluralistischen und prozessualen Verfassungsinterpretation und die entsprechende Sicht des Verfassungsprozeßrechts 339 sowie an Erörterungen zum Pluralismus im ökonomischen System und zum Wissenschaftspluralismus 340 als Teil der Kulturverfassung. 336
E. Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, Verh. des 45. Dt. Juristentages, Bd. 2 B, 1965; s. auch ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl. 1973, S. 197 ff.; U. Scheuner, Politische Repräsentation und Interessenvertretung, DÖV 1965, S. 577 ff.; ders., Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 (43 ff, 51: "Das entscheidende Moment der pluralen Struktur der politischen Gemeinschaft ist demnach nicht in der Erwartung einer ausgleichenden Wirkung der Offenheit gegenüber verschiedenen Strömungen zu suchen, sondern in der Verhinderung von solchen Herrschaftsmomenten, die in der Festlegung auf bestimmte Anschauungen und politische Richtungen unter Ausschluß der Entfaltung anderer Kräfte bestehen. Der Pluralismus zeigt sich vor allem auch in der Sphäre der Öffentlichkeit, deren Kritik in der Gegenwart die wichtigste Gegenwirkung gegen die herrschende politische Richtung darstellt."); R. Herzog, in: Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1848 ff.; K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, insbes. S. 367 ff.; H.F. Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, in: Der Staat 9 (1970), S. 161 ff.; Κ Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 181, auch 186 f., 233 ff., 244 ff.; H.-P.Bull, Die Staatsaufgaben nach dem GG, 2. Aufl. 1977, S. 83 ff., 447. 337 Dazu P. Häberle, Gemeinwohljudikatur.., AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff., unter Hinweis auf E. Fraenkel (ebd., S. 261, 279); ders., Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, bes. S. 54 ff., 68 f., 560 f., 706, 708 ff. Zu Fraenkel jetzt: W. Brugger, Theorie und Verfassung des Pluralismus, Zur Legitimation des Grundgesetzes im Anschluß an Ernst Fraenkel, in: ders. (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 273 ff. 338 Dazu mein Beitrag: "Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 10. 339 Dazu mein Beitrag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff; s. auch D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Staat, 1977, S. 77 ff.; dazu meine Besprechung in DÖV 1978, S. 257 f.- Zum Verfassungsprozeßrecht mein Beitrag: Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: JZ 1976, S. 537 ff. Bei seiner Anwendung (z.B. bei Partizipationsinstrumenten) kommt es (via BVerfG) zu pluralistischer Verfassungsinterpretation.Zum Ganzen jetzt: M. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, 1995. 340 Dazu statt vieler H. Kremendahl, aaO., S. 362 ff. und 391 ff.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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Den philosophischen Rahmen für dieses Spektrum liefert Sir Poppers "Offene Gesellschaft" 341 . Der Kritische Rationalismus ist die überzeugendste Wissenschaftstheorie des Pluralismus, weil die Sachgehalte des GG (dessen pluralistische Strukturelemente) und die Theorieelemente des kritischen Rationalismus kongruent sind. Die angedeutete pluralistische Verfassungstheorie fordert die Verknüpfung von Wissenschafts- bzw. Erkenntnistheorie des kritischen Rationalismus und der Bemühungen um pluralistische Gesellschaftstheorie. Während die pluralistische Verfassungstheorie Fraenkels wesentlich auf dem Boden der USA gewachsen ist (E. Fraenkel war aus dem Nazi-Deutschland emigriert), ist die Wissenschaftstheorie Sir Poppers auf dem Boden der englischen Verfassungspraxis mit ihren vielfaltigen Pluralismusgarantien (Meinungs-, Pressefreiheit, Schutz der Opposition usw.) fortgeführt worden zur Gesellschaftstheorie. Dies legt den Gedanken nahe, die Gesellschafts- bzw. die Wissenschaftstheorien seien letztlich mehr oder weniger direkt aus freiheitlich pluralistischen Verfassungspraxen entstanden, geschriebene bzw. ungeschriebene Verfassung hätten das Denken über Gesellschaft und Wissenschaft beeinflußt 342 . So betrachtet wären Fraenkels und Poppers Gesellschafts- bzw. Wissenschaftstheorie in nuce eigentlich ("verborgene") Verfassungstheorien! Mit der Folge, daß die pluralistische Verfassungstheorie praktisch (nur) wieder zu sich selbst zurückkehrt: von den angloamerikanischen Verfassungsinstitutionen über Fraenkel und Popper jetzt zum Typus des - interpretierten - Grundgesetzes. Genau gesehen zeigt sich eine Wechselwirkung: Pluralismustheorien erwachsen aus mehr oder weniger schon pluralistisch verfaßten Gemeinwesen, umgekehrt regen diese Pluralismustheorien die reformpluralistische Fortentwicklung solcher Verfassungen an. Zwar ist "in" den Normen und Instituten, Verfahren und Grundrechten des GG allenthalben, d.h. im ganzen und einzelnen pluralistisches Denken am Werk gewesen - das GG ist insofern normative Gestalt gewordener Pluralismus 343 -; die weitere Entfaltung des GG, sei sie 341
Einzelheiten in meinem Beitrag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 (302 Anm. 68).- Der Versuch des Aus- und Aufbaus der "leistungsstaatlichen Seite" der Grundrechte wäre ohne den (herkömmliche Dogmen aufbrechenden) Kritischen Rationalismus schwer denkbar (dazu mein Mitbericht Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 [1972], S. 43 [69 ff, 72 f.]). 342 Zum Denken "aus" Verfassungen mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 (28 f , 38 ff.). 343 Zu einzelnen Pluralismusgehalten im GG vgl. z.B. die „Pluralismus-Artikel" (im engeren und weiteren Sinn): 3 Abs. 3; 4 Abs. 1 und 2; 5 Abs. 1 und 3; 7 Abs. 2, 4 und
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
("bloß") interpretatorischer 344 oder verfassungspolitischer Art, kann auf Pluralismustheorien (und ihre Weiterentwicklung) aber gleichwohl nicht verzichten. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten meint die plurale Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, Öffentlichkeit meint Pluralität, und Pluralismustheorien wirken als "erkenntnisleitende Interessen" bei der vielfältigen Fortbildung der Verfassung. Pluralismustheorie wird zum großen Nenner, auf dem der freiheitliche Verfassungsstaat seine Identität als Typus findet: Demokratische Verfassungslehre ist an und für sich pluralistisch in einem doppelten Sinne: ihre Verfassungstheorie ist vereint mit der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie des Pluralismus und steht als solche gegen Antipluralismus jeder Art. Als Theorie eines Verfassungstypus läßt sie Raum für viele Spielarten unterschiedlicher Verfassungen 345. So mag es zu einem von der Verfassungsvergleichung erfaßten und angeregten Wettbewerb unter den Mitgliedern der "Familie" der Verfassungen des Pluralismus kommen. Ihr demokratie-immanentes, ihr grundrechtsimmanentes Prinzip heißt Pluralismus 346 . Positiv-rechtliche Festlegungen des Pluralismus sind die Grundgesetzinhalte, die das BVerfG zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" rechnet 347 :
5; 8 Abs. 1 und 3; 20 Abs. 1/21 Abs. 1; 28 Abs. 1 und 2; 29 Abs. 1; 33 Abs. 1 - 3; 74 Ziff. 3; 75 Ziff. 1 a, 2; 140 i.V.m. Art. 136, 137, 141 WRV. 344 Wegen des hohen Stellenwerts der Verfassungsinterpretation wird das Stichwort von der "Verfassung als öffentlichem Prozeß" (1969) fortentwickelt: "Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß". Vgl. auch die bewußte Zuspitzung in meinem Beitrag: "Zeit und Verfassung", ZfP 21 (1974), S. 111 (127): "Es gibt keine Rechtsnormen, es gibt nur interpretierte Rechtsnormen". Entsprechend vertieft und verbreitert sich die Rolle der Interpretation "vor" dem Erlaß von Verfassungen: in den Verfahren der Verfassunggebung und der Verfassungsänderung. Dazu Fünfter Teil III Ziff. 2 und 3. 345 Die Sachgehalte pluralistischer Verfassungen wie des GG sind also Teilelemente eines wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Pluralismuskonzepts, sie bilden dessen beste "Beweisstücke", machen es aber nicht etwa überflüssig. Anleitend ist Theorie auch für den, der glaubt, "nur" von der "positiven" Verfassung ausgehen zu können. Denn was positive Verfassung ist bzw. hergibt, erschließt sich erst "aus" ihrem Verständnis im Lichte bestimmter Theorien. 346 Es bleibt die Frage, ob und wie pluralistische Verfassungstheorie das vielzitierte "dialektische Gesetz des Pendels" verarbeiten kann, wonach alles auch sein Gegenteil hervorbringt: dem Zuviel an Öffentlichkeit und Staat folgt gerne und bald ein Zuwenig (privates "Ohne-Mich"), einem Zuviel an Rechten und Ansprüchen (im Leistungsstaat) ein Zuviel an Pflichten, einem Übermaß an Kritik des Hergebrachten ein Übermaß an blindem Vertrauen, der Akzentuierung des Harmoniemodells die des Konfliktsmodells, der Planung heute der "Markt". 347 BVerfGE 2, 1 (12 f.).- Zur "freien Bildung der öffentlichen Meinung, die sich im freiheitlich demokratischen Staat notwendig 'pluralistisch' im Widerstreit ver-
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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neben der Gewaltenteilung insbesondere die verfahrensmäßige Seite der Grundrechte i.S. des status activus processualis. Der Minimal- bzw. Grundkonsens bezieht sich auf die Inhalte des Art. 79 Abs. 3 GG, wobei das Bundesstaatsprinzip als Kulturföderalismusgarantie, aktuell als Gegengewicht gegen parteipolitischen Monismus "von Bonn" bzw. "Berlin her", gerade im vereinten Deutschland von heute als "absolut" unverzichtbar erscheint 348. Herzstück von allem ist das Verfassungsprinzip der - aktiven - Toleranz und Gewaltlosigkeit. Sie beginnt in den Klassenzimmern bzw. Schulräumen und "endet" im Wissenschaftspluralismus der Universitäten, um von da wieder in die Klassenzimmer (und die Gesellschaft) zurückzuführen. Sie sollte auch dem Politiker nicht fremd bleiben. Insofern ist Pluralismus ein "Lern- und Erziehungsziel", wird die pluralistische Verfassung zum Lehrgegenstand: für Schüler und Lehrer, Eltern und Kinder, Professoren und Studenten, Verbandsvertreter und Journalisten. Das GG ist die "Rahmenrichtlinie" für Erziehung und politische Bildung als Ausdruck der Kulturverfassung. Im ganzen wäre eine sorgfältige Bestandsaufnahme der einzelnen pluralismus-"freundlichen" 349 , -"neutralen" oder gar "pluralismusgefährdenden" und -"gefährdeten" Bestimmungen des GG erforderlich, aber auch aller pluralis-
schiedener... in Freiheit vorgetragener Auffassungen... vollzieht": BVerfGE 12, 113 (125). 348 Anders, d.h. eher für eine Unterbewertung des Bundesstaatsprinzips im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG aber R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 318 FN 30.Die formellen Bund-Länder/Streitigkeiten, aber auch die materiellen (im Gewand von abstrakten Normenkontrollen, Organstreitigkeiten usw.), von oppositionellen Ländern wie Hessen der 50er und frühen 60er Jahre unter dem Ministerpräsidenten K.A. Zinn eingeleitet, sind ebenso fruchtbar wie die der sogenannten B-Länder (d.h. nicht sozialliberal regierten Länder) der 70er Jahre. Diese Sicht des Föderalismus wirkt sich zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit als korrelativer Institution des Pluralismus aus. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 4. 349 Das optimale bundesstaatliche Pluralismusmodell steht noch aus. Entscheidend ist der grundsätzliche Zusammenhang von Bundesstaats"form" und Pluralismus. Er wird bestätigt durch die jüngeren Entwicklungen in Spanien (Katalonien, Baskenland) und England (Schottland, Wales). Ihre Regionalisierungstendenzen zielen vielleicht auf Bundesstaatlichkeit, sind Reaktion auf die vom Absolutismus erzwungenen Einheitsstaaten, so daß man in einer zukünftigen bundesstaatlichen europäischen Union sowohl in mehreren Mitgliedstaaten als auch auf europäischer Ebene eine Bundesstaatlichkeit hätte, im ganzen also eine Art "doppelte Bundesstaatlichkeit" (in einzelnen Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union). Das würde die Attraktivität des Bundesstaats als gewaltenteilendes pluralistisches Modell erhöhen und weitere Regionalisierungs(und Föderalisierungs-)Tendenzen nahelegen. Vgl. aber noch Sechster Teil VIII Ziff. 4 und 5, zum Regionalismus als "kleineren Bruder".
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
musgefährdenden tatsächlichen und rechtlichen Entwicklungen in unserer Republik 3 5 0 . Verfassungsrechtlich und -politisch schon jetzt greifbare Einzelelemente einer Verfassungslehre des Pluralismus sind: - das Möglichkeitsdenken des pluralistischen Alternativendenkens, - die plurale Struktur der Verfassunggebung, auch im kulturellen Bereich, - die souveränitätsbegründende Seite des Pluralismus 351 und der Freiheit, - die pluralistische Komponente der Gewissensfreiheit 352, das pluralistische Verständnis der Rundfunk- und Fernsehfreiheit 353, - der Gedanke der pluralistischen Gewaltenteilung, welche Gleichheit und Freiheit der pluralistischen Kräfte und Selbstbeschränkung fordert. Im Namen des Pluralismus als Strukturprinzip der verfaßten Gesellschaft 354 müssen Pluralismusdefizite in dieser Gesellschaft aufgedeckt und möglichst beseitigt werden. Die gewaltenteilende Funktion des Pluralismus hat freiheitssichernde Wirkung 3 5 5 ,
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Zu einzelnen Pluralismusgehalten im GG vgl. z.B. die "Pluralismus-Artikel" (im engeren und weiteren Sinn): 3 Abs. 3; 4 Abs. 1 und 2; 5 Abs. 1 und 3; 7 Abs. 2, 4 und 5; 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 3; 20 Abs. 1/21 Abs. 1; 28 Abs. 1 und 2; 29 Abs. 1; 33 Abs. 1 bis 3; 74 Ziff. 3; 75 Ziff. 1 a, 2; 140 i.V.m. Art. 136. 137, 141 WRV.- Zu den pluralismusgefährdeten Erscheinungen (Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung, Lobbyismus, "pressure groups", Beraterverträge) s. etwa Art. 74 Ziff. 16 GG; Ani. 1 zur GO BT (Verhaltensregeln fur Mitglieder des Deutschen Bundestages) und Ani. 1 a zur GO BT (Registrierung von Verbänden und deren Vertreter). 351 Dazu mein Beitrag: Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: AöR 92 (1967), S. 259 (280, 283); vgl. auch K. Schiaich, aaO, S. 256; KP. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem GG, 2. Aufl. 1977, S. 94. 352 Vgl. meinen Diskussionsbeitrag: VVDStRL 28 (1970), S. 110, 111 f , 117; zustimmend z.B. K. Obermayer, Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung, 1971, Art. 140 GG Rdnr. 60. Aus der Lit. zuletzt M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 1996, Art. 4 Rn. 69. 353 Seit BVerfGE 12, 205 ständige Rechtsprechung. Von "Binnenpluralismus" spricht BVerfGE 89, 144 (153).- Im Blick auf Art. 7 Abs. 4 GG spricht BVerfGE 90, 107 (116) von "schulischem Pluralismus". 354 Zur verfaßten Gesellschaft s. meinen Versuch: "Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff. 355 Dazu H. Schelsky, Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, 1973, und meine Bespr. in AöR 100 (1975), S. 645 ff.- Verteilungsprobleme gibt es nicht nur in bezug auf Besitzstände, Zukunftserwartungen usw., sondern auch in bezug auf die Freiheit selbst.
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- die "neue soziale Frage" (K. Biedenkopf): an ihr zeigt sich, daß die Gesellschaft nicht (mehr) einfach Bereich des sogenannten "freien Spiels der Kräfte" ist 3 5 6 , (trotz der Markteuphorie unserer Tage), - das Gegeneinander und Zusammenwirken von Gruppen als Wechselspiel im pluralistischen Gemeinwesen, das schwierige Probleme der Kooperation und Koordination aufwirft und darum nicht gruppenegoistisch mißverstanden werden darf, - die Aufdeckung und Behebung von Partizipationsdefiziten, nicht auf Kosten, sondern im Interesse einer auch repräsentativen Demokratie, - eine pluralistische Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Verfahren 357 , zum Teil auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verbandsklage!), - die Forderung an das BVerfG, sich der Festlegung auf einen theoretischen 358
Gesamtentwurf zu verfassungsrechtlichen Fragen zu enthalten , um den pluralistischen Integrationsprozeß des Gemeinwesens nicht zu gefährden, - Möglichkeiten und Grenzen pluralistischer (Betriebs-, Verbands-, Berufs-, Kirchen-)Gerichtsbarkeit im Gegensatz zur "staatlichen" Gerichtsbarkeit 359, -die Ablehnung von C. Schmitts Freund/Feind-Ideologie als Theorie des Politischen 360 - und die Pluralisierung des Rechts 361 .
356 Dazu mein Beitrag: Allgemeine Staatslehre..., in: AöR 98 (1973), S. 119 (125 ff.). 357 Dazu P. Häberle, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 ff. (bes. S. 26 ff., 34 ff). S. auch I. Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985. Zum ganzen noch Fünfter Teil III Ziff. 1 Inkurs B. 358 Vgl. meinen erwähnten Beitrag in JZ 1977, S. 361 (370 f.). 359 BVerfGE 18, 241 (253 ff.); 26, 186 (194 ff.); 22, 42 (47 ff.)-, dazu meine Bespr. in DÖV 1965, S. 369 ff.-; C.-F. Menger, JuS 1966, S. 66 ff. und mein Beitrag: Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 258 (283). Zuletzt E 48, 300.- In Abgrenzung zu den Religionsgemeinschaften: M. Hechel, Die staatliche Gerichtsbarkeit in Sachen der Religionsgesellschaften, FS Lerche, 1993, S. 213 ff. 360 Im Sinne eines pluralistischen Politikbegriffs z.B. E. Fraenkel·, dazu H. Kremendahl, aaO., S. 205 f.- Kritik am Freund/Feind-Denken, z.B. bei Η v. Hentig, in: Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977, S. 75; Walter Jens, ebd., S. 89.- Vgl. auch bereits die Kritik Η Hellers, Staatslehre, 4. Aufl. 1970, S. 9 (am Freund/Feind-Denken), S. 206 f. (im Zusammenhang mit dem Begriff des Politischen), S. 253, 264 f. (Kritik am Dezisionismus), S. 274, 276 f. (am Verfassungsbegriff). 361 P. Häberle, Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 (35). 13 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß (2) (Toleranz-)Grenzen
Pluralismus setzt freilich (Toleranz-)Grenzen: Sie werden aktuell bei der differenzierten - Abwehr von auf antipluralistische Theorien zurückgehenden Praktiken sowie von entsprechenden ökonomischen Modellen und antipluralistischen wissenschaftlichen Strategien. Poppers "Paradox der Freiheit" ist auch das Paradox des Pluralismus 362 . Wo antipluralistische Theorien und Strategien die den Pluralismus konstituierenden Momente praktisch in Frage stellen, muß sich die pluralistische Verfassung inhaltlich und in geregelten Verfahren zur Wehr setzen (können). Darum ist ein gestuftes Abwehrsystem aufzubauen: der Marxismus-Leninismus z.B. fällt bzw. fiel als politischaggressiv eingesetzte Doktrin unter das Verdikt des Art. 21 Abs. 2 und 18 GG, nicht aber als "reine Lehre" 363 . Entsprechendes gilt für die Kunst, die gerade wegen ihrer wechselnden Affinität zum Politischen in offenen Gesellschaften das Signum der Freiheit im Gemeinwesen ist. (3) Die Entwicklungsfähigkeit und -bedürftigkeit der pluralistischen Verfassung und ihrer Theorien Warum dieses Gewicht auf Pluralismus im allgemeinen, pluralistischen Verfahren im besonderen? Weil sie schöpferische Kräfte der Menschen in Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft und Politik freisetzen, weil sie vorhandene Spannungen offenlegen, versachlichen und ausgleichen und damit den Bürgerkrieg und Klassenkampf vermeiden (können) 364 ; vor allem: weil sie Ausdruck der pluralistisch verfaßten Freiheit des Bürgers sind. Pluralismus bedeutet ein Höchstmaß an öffentlicher und privater Freiheit (Freiheit durch Pluralismus). Er ist ein Maß des Menschen, d.h. anthropologisch begründet! Damit wird weder einem Harmoniemodell gehuldigt, noch der Konflikt zum "Vater" und Maß aller Dinge stilisiert. Der Konflikt und Dissens ist ein Ausdruck der res publica. Die Verfassung hat die inhaltlichen und verfahrensmäßigen Grundsätze der Konfliktaustragung (i.S. R. Dahrendorfs) 365 , z.B.
362
Dazu H. Kremendahl, aaO, S. 413. Im Sinne von BVerfGE 5, 85 (LS 7 und 145 f.). 364 Zur Legitimation der Verfahren: mein Beitrag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 (300 Anm. 46). Vgl. Fünfter Teil Inkurs A. 365 Dazu H. Kremendahl, aaO., S. 39. 363
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Bereiche und Grenzen des Mehrheitsprinzips 366 , zu umschreiben und das "Gewalt- und Rechtsprechungsmonopol" des Staates glaubhaft und möglich zu machen. Eben dadurch schafft sie aber auch Konvergenz und Konsens, an denen vielfältig zu arbeiten ist. Beispiele sind die Kompromißbereitschaft der Politiker 367 und die Fähigkeit aller Bürger zur Toleranz. Ohne diese Tugend der Bürger läßt sich eine freiheitliche Verfassung nicht halten und "kein Staat machen". Zu schützen und ständig zu verfeinern sind die Bedingungen dafür, daß die Verfassung im öffentlichen Prozeß Rahmen für viele divergierende und konvergierende öffentliche (und private) Prozesse sein kann 368 . Diese Bedingungen sind mit den Bedingungen des - freiheitlichen - Pluralismus (im Gegensatz zum "sozialistischen Pluralismus") identisch. Die Prozesse verlaufen nicht willkürlich in bezug auf beliebige Inhalte, Bereiche und Menschen bzw. Gruppen. Bestimmte Prozesse sind nur für bestimmte inhaltlich begrenzte Aufgaben und Beteiligte und unter bestimmten Maximen eingerichtet. D.h. z.B.: Die Verfahren richterlicher Erkenntnisbildung und Entscheidungsfindung dürfen nicht zugunsten anderer Verfahren beschnitten werden (keine Ausnahmen von Art. 19 Abs. 4 und Art. 92 GG!). Darum bleiben die Zweifel am Abhörurteil des BVerfG 3 6 9 . Oder: es gibt - wechselnde Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit (!), und: Kommunale Selbstverwaltung, die sich wirklich bürgerdemokratisch und grundrechtlich begründet, muß Raum lassen für Selbstverständnisse. M.a.W.: Der - variable - funktionellrechtliche Gesichtspunkt370 gibt dem Wort vom Prozeßcharakter der Verfassung Strukturen. Gefordert ist, jeweils herauszufinden, für welche Aufgaben welche Arten von Verfahren heute Opti366
Dazu im Blick auf U. Scheuner (Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973) mein Beitrag: Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, JZ 1977, S. 241 ff. 367 BVerfGE 37, 401 (408), Abw. Meinung: Legiferieren als politischer Prozeß bei Meinungsverschiedenheiten in der Demokratie ein Kompromiß. 368 Poppers "öffentlicher Charakter der wissenschaftlichen Methode" (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, 3. Aufl. 1973, S. 267 ff.) führt notwendig zur Qualifizierung der Verfassung als öffentlicher Prozess. "Wissenschaftliche Objektivität" ist nicht ein Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers, sondern ein Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode (Popper, ebd., S. 270). Es zeigt sich, wie unverzichtbar die Öffentlichkeit der Prozesse der Auslegung und Fortbildung der Verfassung und ihr zugehöriger Wissenschaften ist. 369 E 30, 1 ff. Dazu meine Kritik in JZ 1971, S. 145 ff. und H H Rupp, in: NJW 1971, S. 275 ff. Zuletzt W. Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 14, 1996. 370 Im Sinne von H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73 f.) und K. Hesse, aaO., S. 29, 31 ff.
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males bewirken können. Hier ein Beispiel: Die gesetzgeberischen oder Verwaltungsverfahren sind stärker in den gesellschaftlichen Bereich hinein zu erweitern (i.S. vermehrter gestufter Partizipation). Oder: Die Bürgerinitiativen sind verfassungsrechtlich einzubinden. Konsens und Dissens lassen sich gegenständlich und verfahrensmäßig nicht bereichsartig ein für allemal voneinander abscheiden und festschreiben. So können Konflikte in bezug auf bisher allgemein konsentierte "gesicherte" Inhalte aufbrechen: man denke an die immer wieder umstrittenen Lerninhalte in Schulen. Auch für solche Wandlungen sollte die Verfassung des Pluralismus gewappnet sein, konkret durch den demokratischen, öffentlichkeitsorientierten Gesetzesbegriff 371 und die Ausrichtung am Erziehungsziel der Toleranz 372 . Umgekehrt können bislang umstrittene Bereiche Gegenstand eines Konsenses werden 373 : etwa auf dem Weg der Verfassungsänderung und des sogenannten "Verfassungswandels". Im - variablen - Wechselspiel von Dissens und Konsens entsteht die - offene - Einheit der res publica, erwächst die produktive Kraft des Pluralismus. Diese Konzeption setzt die ständige Weiterentwicklung des Pluralismus als Verfassungstheorie und Verfassungspraxis voraus. Sie hat sich selbst dem Postulat des Kritischen Rationalismus nach fortwährender Kontrolle und Kritik gerade im Sinne des Möglichkeitsdenkens zu stellen. Auch der "konstitutionelle Pluralismus" muß sich selbstkritisch (etwa mit Hilfe fremder Theorieelemente) gegen die Verführung der oft bequemen immunisierenden Dogmatisierung wehren. Zu fragen ist, wie die immer wieder drohende harmonistische Gruppengleichgewichtsideologie zu korrigieren ist, wie gesellschaftliche Gruppen "relevant" werden (können), wie an die Stelle eines quantitativen Sozialstaatsdenkens, auch im Blick auf den Kulturstaat, ein qualitatives tritt: nicht in noch größerer Ausweitung staatlicher Leistungen, sondern durch Intensivierung ihrer Effizienz und schrittweise Neuverteilung der Lasten bei etwaigem Nullwachstum. Nur diese Lockerung der Fixiertheit auf die Wirtschaft, 371 Dazu G. Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, S. 1313 ff.; BVerfGE 45, 400 (417 f.). Zuletzt Κ Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 217 ff. 372 Sie rückt in der Rechtsprechung des BVerfG immer stärker in den Vordergrund, vgl. z.B. E 41, 29 (51 f.), 65 (78, 83), 88 (108); s. auch E 33, 23 (32), E 12, 205 (263); E 31, 314 (326 f.): "gegenseitige Achtung".- S. auch Art. 131 Abs. 2, 159 Abs. 2 Verf. Bayern.- Schulische Erziehungsziele tragen die Verfassung "von unten." Vgl. noch Sechster Teil VIII Ziff. 2. 373 Z.B. die - wissenschaftlich vorbereitete - Verabschiedung des "besonderen Gewaltverhältnisses" durch BVerfGE 33, 1 ff. Aus der Lit.: W. Loschelder, Grundrechte im Sonderstatus, HdbStR Bd. V (1992), S. 805 ff.; Κ Hesse, Grundzüge, aaO., S. 144 ff.
V. Verfassung(sinterpretation) als öffentlicher Prozeß
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nur diese Aktualisierung des Kulturstaates ermöglicht Identifizierung des Bürgers mit seinem Gemeinwesen. Diese Sicht schafft die Ebene, von der aus Kritik am "real existierenden Pluralismus" vom normativen Pluralismuskonzept der freiheitlichen Verfassung her jederzeit möglich wird und notwendig ist. Erinnert sei an Reformanliegen wie Fusionskontrolle, Verbesserungen des Minderheitenschutzes, Sozialpflichtigkeit der Verbände, negativ an die etablierte 5%-Klausel im Parteienrecht. Verfassung und Verfassungstheorie des Pluralismus sind die Verfassung und Theorie schrittweiser Reformen i.S. von Poppers Stückwerk-Technik 374 . Insofern geht es um "Pluralismus-Politik" als eine Dimension im Rahmen einer Verfassungslehre des Pluralismus (ebenso um die Aktualisierung des Kontextbegriffes 375 ). Der Verfassungsstaat ist nicht schon deshalb an sein Ende gekommen, weil die klassischen Theorien in vielem nicht mehr ausreichen. Allein die "rechtsstaatliche Verfassung" im Zentrum der Verfassung, alles andere außerhalb, unter ihr oder gar gegen sie sich abspielen zu lassen, spricht nicht gegen die Verfassungsidee, sondern gegen die Phantasie ihrer heutigen Interpreten, Theoretiker und Politiker. Ein reformpluralistischer Ansatz könnte hier weiterhelfen, die Pluralismus-Artikel in Osteuropa ermutigen (z.B. Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991); auch Asien kennt Beispiele: Art. 5 Abs. 1 Verf. Kasachstan von 1995: "ideologischer und politischer Pluralismus". Pluralismus ist ein Stück "Idealität", ist nie voll erreichte Wirklichkeit, aber auch Chance und darum ständige Aufgabe, wie die Verfassung selbst Norm und Aufgabe ist (U. Scheuner) 376. Diese Einsicht sollte zum Grundlagenkonsens gehören. An ihm ist zu arbeiten, nicht zuletzt im Ringen um wissenschaftlichen Pluralismus. Wurde bisher die verfassungsstaatliche Verfassung vor allem am Beispiel des GG in der Dimension "Zeit" als spezifisch öffentlicher Prozeß geschildert, so ist im folgenden in primär vergleichender Sicht der Verfassungsstaat zum Typus verallgemeinert in seiner "entwicklungsgeschichtlichen Perspektive" aufzubereiten.
374
Das Bekenntnis zu wissenschaftlichem Optimismus (gegen den wissenschaftlichen Pessimismus H. Schelskys, s. meine Besprechung in AöR 100 [1975], S. 645 [650]) kann (nur) der Kritische Rationalismus einbauen. 375 Die Trias von Kontextbegriff, erfahrungswissenschaftlichem Ansatz und Kulturverfassungsrechtlichen Gehalten grundiert die Offenheit der Verfassung. 376 Beispiele für Aufgabendenken: BVerfGE 45, 297 (331); 46, 268 (297); 47, 46 (80).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
VI. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive 1. Problem Die Rechtswissenschaft erfaßt die großen Themen der Zeit wohl immer erst als "letzte" Disziplin. Recht und Staat werden schon umgangssprachlich zuvörderst mit Statik und Stabilität, mit Rechtssicherheit und Bewahrung verknüpft, und der Mitbürger bescheinigt dem Juristen nur zu gerne eine "konservative" Gesinnung, "rückschrittliches Denken", Identifizierung mit dem "Hergebrachten", Sorge um "law and order". Dem wird oft die Dynamik des Politischen, die Fortschrittlichkeit anderer Disziplinen gegenübergestellt. Dabei ist vergessen, daß schon die Existenz des Faches "Rechtsgeschichte" bzw. "Verfassungsgeschichte" die Kategorie der "Zeit" verdeutlicht. Ein F.C. von Savigny, der Begründer der Historischen Rechtsschule, hat damit seit 1814 "Epoche" gemacht, daß er das Recht als "Gewordenes" begriff 377 , und viel zu wenig im allgemeinen Bewußtsein lebt die Einsicht, daß die Rechtsordnung im Laufe von Jahrhunderten viele variantenreiche Techniken und Verfahren entwickelt hat, um die "Zeit", nach H. von Hofmannsthal ein "wunderlich Ding" (so die Marschallin im "Rosenkavalier"), spezifisch zu verarbeiten. Die Verfassungsänderung, bislang 43 mal beim GG seit 1949 erfolgt, bildet dafür das bekannteste Beispiel. Der revolutionäre Bruch der Verfassung aber ist das extreme Gegenstück, die bezeichnende Ausnahme. Das Ringen um Rechts- und Verfassungspolitik in der pluralistischen Demokratie bildet die vertraute Normalität, die zeigt, wie sehr der Gegenstand selbst der Rechtswissenschaften eine entwicklungsgeschichtliche Dimension besitzt, auch wenn sie sich auf "Utopien" 378 nur sehr diskret einlassen kann. Seit dem "annus mirabilis" 1989 ist freilich fast jedem Zeitgenossen bewußt, wie sehr sich die Geschichte mit Relevanz für das Recht beschleunigt hat und zunächst nur Positives hervorzubringen schien: als "Weltstunde des Verfassungsstaates" haben dessen Elemente - Menschenrechte, Demokratie, Pluralismus, soziale Marktwirtschaft - den fast globalen Raum erobert. Nach dem Zu-
377 Zu Savignys Idee, die Völker hätten eine dem Menschenleben vergleichbare "Bildung und Entwicklung": E. Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 495. Hierin komme der später viel berufene "Evolutionismus" Savignys zum Ausdruck. Zu R. von Jherings "Entwicklungstheorie" in bezug auf das römische Recht, E. Wolf ebd., S. 633 f. 378 Dazu meine Studie: Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates (1987), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 673 ff. sowie Fünfter Teil IX, Ziff. 5.
VI. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive
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sammenbruch des Marxismus-Leninismus haben sich die meisten Staaten in Osteuropa und Asien als "Reformstaaten" auf den Weg begeben, die Elemente des im Westen in Jahrhunderten gewachsenen Verfassungsstaates zu übernehmen, und zwar in möglichst kurzer Zeit. Eine eigene Wissenschaftsdisziplin hat sich etabliert, die "Transformationswissenschaft" 379, und auch hier ist schon prima facie der entwicklungsgeschichtliche Aspekt greifbar. Gleiches gilt für die sog. Entwicklungsländer in Afrika oder Südamerika als "Gesellschaften im Übergang" 380 . Gewiß, wir sehen allenthalben "Rückbildungen", "Rückschritte" und erkennen ganz neue Gefahrenherde und Krisen. Hinzu kommt, daß ausgerechnet der Verfassungsstaat als "Sieger" von 1989 heute, 1997, ein besonders hohes Maß an Reformbedarf, also an Kraft zur Weiterentwicklung braucht: als ob sich Hegels Geschichtsphilosophie bewahrheitete, wonach der überwundene Konkurrent seine Probleme dem Sieger dialektisch mit auf den Weg gibt. Stichworte sind die Arbeitslosigkeit, die Krise des Sozialstaates, der Umweltschutz, die Korruption, Gefahren aus der Parteienstaatlichkeit, die Schwierigkeit der Integrierung von Minderheiten, die Konfrontation mit dem Islam als neuem Thema, statt der alten Bipolarität mit dem Sozialismus. Verfassung, die "lebende Verfassung" konstituiert sich auch aus "im Laufe der Zeit" gewordenen Klassikertexten - die eine "Universal-Bibliothek" der Verfassungsstaaten bilden -, und diese verweisen oft auf die Rechtsphilosophie als Lehre vom "richtigen Recht". So offen der Kanon von Klassikertexten der Jurisprudenz ist, in den Klassikertexten spiegelt sich in und aus der Vergangenheit die raumzeitliche Tiefe des Verfassungsstaates. Und seine Herausforderung bzw. Weiterentwicklung zeigt sich in täglichen Zeitungsmeldungen (z.B. über das Entstehen von Regionalismus in Südafrika oder menschen-
379 Dazu die Abhandlung: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Transformationsforschung, in: Europäische Rechtskultur, 1994, S. 149 ff., m.w.N. 380 Dazu mein Speyrer Beitrag: Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht - die Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang, in: R. Pitschas (Hrsg.), Entwicklungen des Staats- und Verwaltungsrechts in Südkorea und Deutschland, 1997, i.E. sowie in JöR 45 (1997), S. 555 ff. Aus der allgemeinen und älteren Lit.: T. Dams, Art. Entwicklung, Entwicklungspolitik, in: Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl., 1986/1995, Sp. 294 ff- Textbelege für das Selbstverständnis der "Entwicklungsländer": Art. 80 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff): Förderung von Wissenschaft und Technik durch den Staat "als grundlegende Notwendigkeit der nationalen Entwicklung"; Art. 57 ebd.: Teilhabe von jedermann am "wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt"; Art. 68 ebd.: "bessere Entwicklung" der Eingeborenengemeinschaften. Die Präambel der Verf. von Peru (1979, zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.) spricht von "Beseitigung der Unterentwicklung und der Ungerechtigkeit". Spezielle Entwicklungsaufträge finden sich in Art. 110 bis 121. Art. 123 gibt allen das Recht, "in einer gesunden, ökologisch ausgeglichenen und der Entwicklung des Lebens... angemessenen Umwelt zu leben".
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
rechtliche Mindestanforderungen des Europarates an die Länder Osteuropas und die Türkei). Aus der "Reibung" zwischen ihnen, d.h. der Gegenwart und Zukunft, und den Klassikertexten, d.h. der Vergangenheit, entsteht eine Spannung, die die Rechtswissenschaften gesamthänderisch zu bewältigen haben, die Verfassungslehre zumal. Hatte Hegel gemeint, die Philosophie sei "ihre Zeit in Gedanken gefaßt", so kann man heute den Satz wagen: die Verfassungslehre ist ihre Zeit in Gedanken gefaßt. Verfassung besitzt eine wohl einzigartige Legitimation, vielleicht kulturwissenschaftlich letztlich aus der Tradition der drei Weltreligionen als Buchreligion verständlich. Dem müssen wir uns stellen. Ein Wort zur Einordnung und Selbstbescheidung im Kranz der anderen Wissenschaften: Seit Ch. Darwin (1859: "On the Origin of Species...") beginnt der Gedanke der "Evolution" wohl alle Wissenschaften zu ergreifen und das moderne Weltbild zu prägen: Natur- und Geisteswissenschaften, Natur- und Kulturwissenschaften, Natur- und Sozialwissenschaften 381. Das Evolutionsparadigma dürfte zuvor in Hegels Geschichtsphilosophie (Stichwort: Dialektik bzw. das Leben des einzelnen Menschen und der Gang der Geschichte wird zunehmend von der Vernunft bestimmt) und dann bei K. Marx angelegt sein, der ans Ende der Geschichte einen Idealzustand der Gesellschaft zu setzen wagte. H. Spencers "Evolutionismus" deutete die Philosophie als die vereinheitlichte wissenschaftlich begründete Erkenntnis höchster Stufe mit universeller Geltung (1876 bis 1906). Heute ringen z.B. Schöpfungstheologie und Evolutionsbiologie um Kompatibilität 382 (aus den USA ist der Streit um ihre Rolle 381
In der Periode des "Evolutionismus" wurde, beeinflußt von Darwin, auch in den Gesellschaftswissenschaften die Suche nach evolutionären Gesetzmäßigkeiten begonnen, nach welchen sich menschliche Gesellschaften und deren Rechtssysteme entwikkeln. Stichworte sind die Suche nach "Frühformen" (Mutterrecht), der Wandel vom "Statusrecht" zum "Kontraktrecht" und die Gegenüberstellung von "primitiven" und "zivilisierten" Gesellschaften. J. Kohler u.a. entwickelten die "ethnologische Jurisprudenz" (dazu Art. Rechtsethnologie, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Stand Aug. 95, 3/160, S. 2); s. auch R. Schott, Der Entwicklungsgedanke in der modernen Ethnologie, in: Saeculum Bd. 12 (Jahrg. 1961), S. 61 ff. mit Stichworten wie "Gedankenmodelle der Kulturauffassung", die "Vorgeschichte des modernen ethnologischen Entwicklungsdenkens" (z.B. die zyklische Theorie über den Ablauf der Verfassungsformen von Polybios). Schott fordert, daß der Entwicklungsgedanke nicht in der ursprünglichen, "primitiven" Form aufrechtzuerhalten ist, sondern ein Detailstudium von zahlreichen Einzelfragen erheischt. Zuletzt: N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 ff.; A. Hollerbach, Globale Perspektiven der Rechts- und Staatsentwicklung, in: Freiburger Universitätsblätter 1991, H. 11,S. 33 ff. 382 Ein Überblick über "Evolution" in: Staatslexikon, Art. Evolution von R. Low, W. Bröker, W. L. Bühl, 2. Bd., 7. Aufl., 1986/95, Sp. 518 ff.; dort auch zur Entstehung des Evolutionsgedankens im 19. Jahrhundert in der romantischen Naturphilosophie und im
VI. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive
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in den Lehrplänen bekannt: der Affenprozeß in Tennessee, 1925). Sir Popper plädiert für eine "evolutionäre Theorie des Wissens" 383 . Vielleicht ist es kein Zufall, daß "Evolution" die Rechtswissenschaften als "letzte Disziplin" erfaßt hat, weil wir Juristen auf eine Weise "immer zu spät sind". Dennoch sind sie, wir, heute in Sachen "Entwicklung" besonders gefordert: "Entwicklung" verstanden als Entstehung von Neuem im zeitlichen Verlauf' 3 8 4 , mit Variationen und Selektionen. Geht man von den Entwicklungs- bzw. Anpassungsvorgängen des Menschen selbst aus, so bleibt einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre manche relevante Erkenntnis zu verarbeiten: zum einen ist es der aufrechte Gang (und die Kunst des Gebrauchs von Werkzeugen), der den Menschen als "homo sapiens" bzw. Kulturwesen von seinen "Vorläufern", den Menschenaffen oder Hominiden, seit ca. 100 000 Jahren unterscheidet. Er hat sich ihn entwickelt, so die vorherrschende "Savannen-Hypothese", als er vor 1 0 - 5 Millionen Jahren den Urwald verließ und sich in die Savanne wagte (anders die "aquatische" These, die den Menschen, den Delphinen ähnlich, aus dem Wasser kommen sieht). Wir erinnern uns der Philosophie des "aufrechten Gangs" i.S. von E. Bloch, der dem Menschen etwas Einzigartiges, seine "Würde", verleiht! Zum anderen ist es die Sprache, die den Menschen vor allen Mitgeschöpfen bzw. Lebewesen auszeichnet, was zur Folge hat, daß wir die Sprache als Kulturgut besonders hoch ansiedeln und der in der Schweiz vorbildhaft entwik385
kelten Sprachenfreiheit
ebenso viel Aufmerksamkeit widmen wie der Ein-
Darwinismus. S. auch H. Meier (Hrsg.), Die Herausforderung der Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 1992; D.J. Futuyma, Evolutionsbiologie, 1990. Repräsentativ E. Haeckel, Die Welträtsel (1899), 11. Aufl., 1919, mit dem bezeichnenden Abschnitt: "Entwicklungsgeschichte der Welt" (S. 247 ff). Zur "evolutionären Perspektive der Medizin" gleichnamig H. Markl, FAZ vom 3. Januar 1996, S. Ν 1.- Auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1959, S. 42 sprach von dem fortschreitenden Sieg der evolutionistischen Denkweise in der gesamten Wissenschaft. In der Staatslehre ist für ihn "Entwicklung nur jene Änderung, die vom Einfachen zum Komplizierten führt" (ebd., S. 43). Der Entwicklungsgedanke prägt auch die Rechtsphilosophie von H. Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1993, z.B. S. 137, 296, 300.- "Entwicklungstendenzen des Rechts in der Gegenwartgesellschaft" beobachtet mit den Augen der Rechtssoziologie: M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 2. Aufl., 1989, S. 111 ff. 383 R. Popper, Auf dem Weg zu einer evolutionären Theorie des Wissens, in: ders., Eine Welt der Propensitäten, 1995, S. 55 ff. S. auch G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1983; B. Irrgang, Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, 1993; s. auch H. Jonas, Evolution und Freiheit, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 1992, S. 11 ff. 384 Vgl. R. Low, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Bd., 7. Aufl. 1986/95, Sp. 518 (520). 385 Die Sprache wird zunehmend zum Gegenstand von verfassungsrechtlicher Grundsatzliteratur, vgl. etwa: P. Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache,
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
sieht, daß die Sprache nicht, wie manche Rechtschreibereformer behaupten, einfach der staatlich-ministerialen Verfugung unterliege 386 . Schließlich könnte man sich fragen, was aus der "Evolutionstheorie" für den Umweltschutz folgt. Wenn sich der Mensch entwicklungsgeschichtlich ständig an die Umwelt anpaßt, wie stark kann und soll dann derselbe Mensch heute diese Umwelt schützen, deren Artenvielfalt er doch so bedroht? Blockiert er damit etwa künftige Anpassungsvorgänge? Wie entwicklungsoffen muß man "Umwelt" als Gegenstand der Verfassungslehre verstehen? Die Frage ist umso dringlicher, als im Weltall die "Schöpfung" i.S. der "creatio continua" weiter zu gehen scheint: Man erinnere sich der jüngsten sensationellen Bilder des "Hubble-WeltraumTeleskops", das die Geburt neuer Sterne im A l l unserer Tage filmte. (Traurig muß uns freilich die Information stimmen, daß bis heute 99 Prozent der auf der Erde entwickelten Arten inzwischen ausgestorben sind.) Der Verfassungsstaat setzt zwar den Menschen als "fertigen" homo sapiens voraus. Dem einzelnen Individuum gegenüber nimmt er jedoch auf dessen persönliche Entwicklungsphase Rücksicht. Zwar ist der Mensch spätestens mit der Geburt Träger der "Menschenwürde", indessen wächst ihm von da an der volle Rechtsstatus erst nach und nach zu. Das zeigt sich prägnant auf zwei Feldern: Zum einen stuft unsere Rechtsordnung die Mündigkeit ab, greifbar etwa im Bereich der Religionsfreiheit als sich stufenweise entwickelnde "Religionsmündigkeit". Die bürgerliche Geschäftsfähigkeit, aber auch das Wahlrecht wird erst mit 18 Jahren erlangt. Hier verhält sich die Rechtsordnung wohl parallel den Untersuchungen zur Entwicklung des Kindes, etwa seines Zeitbegriffs (J. Piaget) oder der "Psychologie der Moralentwicklung" 387 . Zum anderen rechnet der Verfassungsstaat mit der Entwicklung des Menschen auf dem ebenso tiefen wie breiten Gebiet der Erziehungsziele. Bildung und Erziehung sind ja Verfahren, den (jungen) Menschen im Blick auf bestimmte Ziele und Grundwerte wie Verantwortungsfreude, Respekt vor der Würde des anderen Menschen, Toleranz, demokratische Gesinnung und neuerdings "Verant-
1987; J. Isensee, Staat im Wort, 1995; P. Häberle, Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten (1990), jetzt in ders.; Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 273 ff. Zum Entwicklungsdenken in der Sprachwissenschaft: A. Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, 3. Aufl., 1873; H. Arens, Sprachwissenschaft: Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Aufl., 1969.- Der Literaturnobelpreisträger J. Brodsky wagte die These: "Das Ziel der Evolution ist Schönheit" (zit. nach FAZ vom 30. Januar 1996, S. 31). S. noch Sechster Teil VI. 386 Vgl. zum Parlamentsvorbehalt hier: W. Kopke, Rechtschreibreform auf dem Erlaßwege?, JZ 1995, S. 874 ff. 387 L. Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, 1995; ders., Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, 1973.
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388
wortung für Natur und Umwelt" zu entwickeln . Auch diese Relevanz des Entwicklungsgedankens im demokratischen Verfassungsstaat ist ein "Merkposten". Allerdings muß uns die Frage des Gründervaters von Singapur Lee Kuan Yew provozieren, der unter Berufung auf "asiatische Werte" fragt: Wer sage, daß es ohne Demokratie keine Entwicklung geben könne? 389 Wie steht es also um den Universalismus der Elemente des Verfassungsstaates, etwa Menschenrechte und Demokratie? - wobei wir "Universalismus" mit E. Tugendhat als eine "primär moralische Kategorie" verstehen. "Es erscheint als eine kulturelle Errungenschaft, daß es Gebote und insbesondere Verbote gibt, die die Menschheit als ganze betreffen" 390 . Jetzt ein Blick auf Konkretes: Der Verfassungsstaat gibt dem Entwicklungsgedanken inhaltlich schon prima facie in Gestalt ganz unterschiedlicher Normenensembles sozusagen "inhärent" Raum: Das neueste Beispiel ist die Rezeption des Begriffs "Schöpfung", zu deren Bewahrung die Präambel der Verf. Sachsen von 1992, ebenso die der neuen Kantonsverfassungen von Bern (1993) und Appenzell A. Rh. (1995) aufrufen. Hier wagt der Verfassunggeber im Kontext des Umweltschutzes eine Brücke zur Transzendenz, ähnlich wie bei Klauseln, in denen er sich zur "Verantwortung vor Gott" bekennt (so Präambel GG von 1949) 391 . Denn wo von "Schöpfung" die Rede ist, wird auch ein "Schöpfer" mitgedacht 392 . Neben diesem eher transzendenten Blickwinkel stehen Umweltschutzklauseln, die das Lebendige eher rational als Ergebnis von "Evolution" ansehen. So sorgt sich Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992 (ähnlich Art. 12 Abs 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993) um den Schutz der "Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kul-
388 Aus der Lit.: H.-U. Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979; P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981 ; M. Bothe/A. Dittmann, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995), S. 7 ff.; A. Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik?, 1996. 389 Zit. nach M. Nass, Nicht schweigen, wenn andere schreien. Die Verteidigung der Menschenrechte kennt keine Grenzen: Der Westen darf sich seine Werte nicht abhandeln lassen, Die Zeit Nr. 52 vom 22. Dez. 1995, S. 1. 390 Das totale Wir. Wenn die universelle Moral im Konflikt mit dem Partikularismus unterliegt, FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" vom 16. Dez. 1995. 391 Zu derartigen Klauseln mein Beitrag: Gott im Verfassungsstaat? (1987), jetzt in: Rechtsvergleichung, aaO., S. 213 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 9. 392 Zu Fragen der "Schöpfungstheologie": W. Bröker, Art. Evolution, in: Staatslexikon Bd. 2, 7. Aufl. 1986/1995, Sp. 522 f.; zur "Theorie der Schöpfungsordnungen": G. Sauter, Art. Recht, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl. 1987, Sp. 2693 (2700).- Bemerkenswert aus der älteren Lexikon-Artikel-Lit.: Art. Entwicklung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 3 (hrsgg. von M. Buchberger), 1931, Sp. 699 ff.
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turlandschaft" als "Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens"; andere Verfassungen sprechen von der "Verantwortung gegenüber kommenden 'bzw.' künftigen Generationen" (Art. 141 Abs. 1 S. 1 Verf. Bayern seit 1982, Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 20 a GG seit 1994). In weiteren Kontexten tritt der Entwicklungsgedanke wie folgt hervor: Im GG findet er sich (seit 1992) im neuen Staatsziel "Europa" in Art. 23 Abs. 1 n. F. GG ("wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit"). Mitunter finden sich "Fortschrittsklauseln" (z.B. Art. 40 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978: "sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt"); Art. 81 d Verf. Portugal von 1976/82 postuliert die Aufgabe, "die wirtschaftliche und soziale Entwicklung" in bestimmte Richtung zu lenken. Den Staatszielen, etwa der Sozialstaats- und Kulturstaatsklausel (Art. 20, 28 GG bzw. Art. 3 Verf. Bayern), wohnt überhaupt die dynamische Kraft des Entwicklungsgedankens inne. Das Europäische Gemeinschaftsrecht ist besonders von ihm beherrscht. Es ist fast ein "Entwicklungsverfassungsrecht", ähnlich den Entwicklungsländern! 393 - Stichwort: "Maastricht II" bzw. "Amsterdam", 1997. Fündig wird man in Internationalen Rechtsdokumenten. So postuliert die Satzung des Europarates (1949) "Schutz und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (Art. 1 lit. b), das Europäische Kulturabkommen (1954) setzt in der Präambel das Ziel, "europäische Kultur zu wahren und ihre Entwicklung zu fördern". Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) verlangt unter dem Stichwort der "sozialen Sicherheit" die Garantie der für die "Würde und die freie Entwicklung seiner (sc. des Menschen) Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte" ein Menschenbild, das durchaus idealistisch von der Idee der Entwicklung der Persönlichkeit inspiriert ist. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) überträgt diesen Gedanken auf die Völker (Art. 1 Abs. 1): "Alle Völker gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung" 394 . Freilich muß sich ein solches Entwicklungs-(Verfassungs-)Recht die Frage stellen: "Entwicklung wohin?". Welches sind die materiellen Konturen
393
Vgl. z.B. Art. Β EU-Vertrag ("Entwicklung einer engen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres"), Art. 3 lit. m/p EG-Vertrag (Förderung der "technologischen Entwicklung, einer qualitativ hochstehenden Bildung"); s. auch Abs. 2 ebd.: ("Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen").- Zur "EG-Entwicklungspolitik": T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 651 ff. 394 Ähnlich völkerbezogene Entwicklungs-Artikel finden sich in Art. 31 Satzung der OAS von 1967; s. ebd. auch Art. 43 lit. g: "Entwicklungsprozeß". Die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1982) postuliert das Recht der Völker auf "eigene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung" (Art. 23).
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("Ideale") der Entwicklungsziele - bei aller Entwicklungsoffenheit? Uberschätzen sich hier die Normgeber? Oder folgen sie mehr oder weniger bewußt der Idee W. von Humboldts (Humanität als Endzweck der Geschichte)? 2. Strukturelemente des Verfassungsstaates a) Inhalte Der Verfassungsstaat als Realtypus und Idealtypus von heute ist das Ergebnis jahrhunderte-langer Entwicklungs- bzw. Wachstumsprozesse. Bei seiner Charakterisierung ist der Entwicklungsgedanke unverzichtbar, umso mehr dann, wenn man ihn aus seinen Einzelelementen schildert. Hier einige Beispiele: Die Menschenwürde, heute als kulturanthropologische Basis des Verfassungsstaates begriffen und in vielen nationalen und internationalen Rechtstexten positiviert, wurde in langen Perioden der Geistesgeschichte dank einem Pico della Mirandola (1486) von I. Kant, auch F. Schiller entwickelt, bis sie unter dem GG zu einer festen, sich an hartem Fallmaterial bewährenden juristischen Größe geworden ist, die man mit G. Dürig und dem BVerfG mit Hilfe der sog. "Objekt-Formel" umschreibt: Der Mensch darf nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden 396 . Auch die Demokratie ist nicht von heute auf morgen geworden, sie hat sich in denkbar langen Zeiträumen mit vielen Vorformen und Varianten entwickelt: man erinnere sich der Frühformen des Parlamentarismus in England, der Volkssouveränität Rousseaus (1762), der Präsidialdemokratie in den USA (1787) und dem "ewigen" Streitgespräch um die "richtige" Demokratieform, die unmittelbare und die mittelbare bzw. glückliche Mischformen wie in der Schweiz (seit 1848). Ein weiteres, heute klassisches Strukturelement des Verfassungsstaates ist die Gewaltenteilung: von J. Locke vorbereitet, von Montesquieu auf die Dreiteilung gebracht (1748) und von den USA als System der "checks and balances" ausgebaut (1787), ist sie heute fast universal geworden: ein Stück "Weltliteratur des Verfas395
Vgl. prägnant Art. Entwicklung, Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl., 1988, Bd. 6, S. 435 (437): "Im engen volkswirtschaftlichen Sinn wird E. als Synonym für wirtschaftliches Wachstum angesehen... In einem zweiten Schritt wird E. als Verbesserung der objektiv feststellbaren Lebensbedingungen verstanden, wozu neben dem materiellen Lebensstandard (z.B. Befriedigung der Grundbedürfnisse...) auch soziale Indikatoren zählen (z.B. Arbeitsbedingungen in individueller Freiheit...) und Verteilungsaspekte (z.B. Einkommensverteilung...)". 396 Aus der Lit.: H. Hofmann , Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), S. 353 ff.; P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, S. 815 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 1.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
sungsstaates". Ihr Gedanke beruht auf einer anthropologischen Einsicht Montesquieu: Der Mensch neigt von Natur aus dazu, die Macht zu mißbrauchen, darum die Machtteilung (und Funktionendifferenzierung). Diese "Rechtsweisheit" ist auch heute noch der Fortentwicklung fähig und bedürftig: man denke an die "publizistische Gewaltenteilung" zwischen Presse und Fernsehen, an die Balance zwischen den Tarifvertragsparteien. Im Grunde ist auch die Idee des Pluralismus ein Stück Gewaltenteilung, vor allem in der Gestalt des Föderalismus. Er, von den "Federalist Papers" in den werdenden USA 1787 "erfunden", hat einen großen Siegeszug angetreten: über die Schweiz (1848) und die deutsche Paulskirchen Verfassung (1849), über die Bismarck- und Weimarer Reichsverfassung (1871 bzw. 1919) bis zum deutschen GG. Weltweit zeigen sich auch hier Entwicklungsstufen: vom klassischen "dual" bzw. "seperative federalism" in den USA über den "kooperativen Föderalismus" von Kanada bis Australien und das GG (vgl. Art. 91 a und b von 1968) bis zu der Sonderform des deutschen "fiduziarischen Föderalismus" auf Zeit, d.h., der solidarischen Hilfe von Bund und westdeutschen Ländern gegenüber Ostdeutschland seit dem Glücksfall unserer Verfassungsgeschichte, der Einigung 1990 397 . Der Beispielskatalog sei hier abgebrochen: Nur pauschal erwähnt sei die Entwicklung der ("Generationen" der) Menschenrechte ganz allgemein 398 und der fast weltweite Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit: vom USSupreme Court über Österreich (1920) bis zum deutschen BVerfG (1951) und wohl allen Reformstaaten in Osteuropa seit 1989 sowie in Südafrika (das heute um Föderalismus bzw. Regionalismus ringt): ein Beleg für die "Ausbreitung" des Verfassungsstaates. Im ganzen läßt sich der Verfassungsstaat als textstufenhafter Entwicklungsprozeß begreifen, der sich teils in großen Daten wie 1776 (Virgina bill of rights), 1789 (Französische Menschenrechtserklärung), 1848 und 1989 festmachen läßt, teils mit Klassikertexten von Aristoteles (Gleichheit bzw. Willkürverbot) über Montesquieu bis zu Texten der katholischen Soziallehre (Prinzip der Subsidiarität in der Enzyklika "Rerum novarum" von 1891, jetzt im GG (Art. 23!) und im EG-Vertrag von 1992 (Art. 3 b) und bis zu H. Jonas' "Prinzip Verantwortung" 1984 (im Umweltschutz umzusetzen) oder J. Rawls Lehre von der "Gerechtigkeit als Fairneß" (1971). In diesem Wachstums- und Entwicklungs-, auch Variations- und Ausbreitungsprozeß eines Kanons von verfassungsstaatlichen Elementen haben wohl alle (europäischen) Nationen 397
Einzelheiten in meinem Beitrag: Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 4. 398 Vgl. Ε. H Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, bes. S. 210 ff.: "Die Rechte der Dritten Generation als Synthese? - Das Beispiel des Rechts auf Entwicklung"; ders., Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, S. 12 ff.
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Beiträge geleistet, und heute wird der Entwicklungsprozeß europa-, ja weltweiter Natur. Der Verfassungsstaat ist jetzt ein Kulturgut der Menschheit; einzelne seiner Elemente wie der Vertragsgedanke, jüngst aktualisiert in Walesas "Rundem Tisch" im Warschau von 1989 (im übrigen als Fiktion), könnten so etwa wie ein "kulturelles Gen" der Menschheit sein (sofern uns die Naturwissenschaftler bzw. Evolutionsbiologen diesen Begriff erlauben!) 399 . Dasselbe gilt für die immer wieder gefährdete Idee der Toleranz, die in der Ring-Parabel Lessings ihren Klassikertext besitzt und später in vielen älteren und jüngeren Landesverfassungen Deutschlands als Erziehungsziel normiert wird. Die Toleranz bietet ein Lehrstück für Entwicklungsvorgänge, mit genügend aktuellen Beispielen von Rückschritten und Defiziten! Übrigens sind auch die Menschenrechte juristisch in die Ebene der Erziehungsziele hineingewachsen, vor allem in Entwicklungsländerverfassungen (z.B. Peru (alte) Verf. 1979 und Guatemala Verf. 1985: Art. 22 Abs. 3 bzw. Art. 72 Abs. 2). Der junge Mensch muß die eigenen Rechte und die der anderen in seiner Entwicklung buchstäblich "lernen". Bereits Aristoteles verlangte die "Erziehung zur Verfassung" (Politik). b) Methodische Wege der Erkenntnis: Verfassungslehre als vergleichende Kulturwissenschaft Schon bisher war erkennbar, daß die inhaltlichen Prinzipien des Verfassungsstaates als kulturelle Errungenschaft nicht im engeren juristischen Sinne dargestellt wurden. Die hier gewählte Methode greift weiter und tiefer. Es geht nicht nur um rechtliche Texte und die zugehörige Dogmatik und Judikatur, so wichtig sie bleiben. Es geht auch um die übergreifenden kulturellen Kontexte, in die die Rechtswissenschaft eingebettet ist und aus denen sie - gerade in der Entwicklungsperspektive - lebt. Verfassungen sind auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Darum entfalten auch "überlebende" Klassikertexte der "Dichter und Denker", nicht nur der Juristen, Aussagekraft, etwa B. Brechts provozierende Frage: "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?". Und darum "transportierte" die Streichung der Widmung der "Eroica" Beethovens an Na399
Hierher gehören auch alle aktualisierenden Fortschreibungen des Paradigmas vom Gesellschaftsvertrag in der "Zeitachse" des Generationenvertrags (z.B. der "Pakt für Amerika" in den USA, das "Bündnis für Arbeit" in Deutschland, der "Stabilitätspakt für Europa"). Aus der Lit. zuletzt: W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994; W. Pauly, Verfassung als Synallagma, Der Staat 33 (1994), S. 277 (zu G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992).- Architektonisch war das erste Parlament des sich vereinigenden Italien im "Palazzo Carignano" (Turin, 1861) "rund".
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poleon, als dieser sich 1804 zum Kaiser krönte, wirksamer die "Ideen von 1789" als so manches juristische Traktat. In diesen Kontext gehören auch Symbole wie Feiertage und Staatshymnen bzw. andere "irrationale Konsensquellen" des Verfassungsstaates. Dabei unterscheiden sich die Nationen durchaus: So besitzt Frankreichs Republik ihren 14. Juli mit seinem ganzen Pathos und der glücklichen Identifikation von Bürgern, Staat und Nation. Demgegenüber können wir Deutsche allenfalls auf den "Verfassungspatriotismus" i.S. von D. Sternberger hoffen, jedenfalls sollten wir uns nicht auf den "DMNationalismus" (J. Habermas) abdrängen lassen! Statt dessen ist das Verständnis "von deutscher Freiheit" als föderativer Freiheit ein glückliches Angebot der Verfassungsgeschichte unseres Landes. Dieses Konzept der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft schlägt tiefe Brücken zu den anderen Kulturwissenschaften. Es wird umso aktueller, als Europa als Einheit und Vielfalt nur aus seiner Rechtskultur verstanden werden kann 400 . Und gerade Entwicklungen der Menschheitsgeschichte und ihrer Leistungen wie einzelne kulturelle Errungenschaften können kaum je mit den so typischen "Engführungen" einer allein dogmatisch arbeitenden Wissenschaft erfaßt werden. Der letzte Brückenschlag zur Natur- und Entwicklungsgeschichte des Menschen ist Verfassungsjuristen selbst bei diesem erweiterten Ansatz freilich kaum möglich. Nicht einmal Goethes "Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden" vermag zu helfen. Vermutlich muß mit unterschiedlichen wissenschafts- bzw. disziplinspezifischen Evolutionsbegriffen gearbeitet werden, die aber doch "zusammenfinden". c) Inkurs: Entwicklungsvorgänge
im Völkerrecht
Ein kurzer Blick auf das Völkerrecht: Angesichts der wachsenden Universalisierbarkeit von Elementen des Verfassungsstaates und seines Rechts wird das Völkerrecht immer wichtiger. Auch diese Materie und Disziplin ist "gewachsen", vielleicht bald einmal "erwachsen". Das verrät schon Hugo Grotius' Ehrenname, "Vater des Völkerrechts" zu sein (1583 - 1645). Das GeburtsParadigma war der große Gedanke "pacta sunt servanda". Schon oder erst 1795 wagte I. Kant das andere "kulturelle Gen": das "Tractat zum Ewigen Frieden". In ihm erscheint der Entwicklungsgedanke in den Worten: "Wenn es Pflicht,
400
Dazu P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994, m.w.N.-1. Kants "Zum ewigen Frieden" (1795) dürfte als konkrete Utopie ein Stück "kulturelles Gen" der Menschheit sein; vgl. jetzt R. Merkel/R. Wittmann, "Zum ewigen Frieden", 1996, mit Beiträgen u.a. von O. Höffe ("Eine Weltrepublik als Minimalstaat") und K Ipsen ("lus gentium - ius pacis?"). S. auch M. Lutz-Bachmann/J. Bohman (Hrsg.), Frieden durch Recht, Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, 1996.
VI. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive
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wenn zugleich gegründete Hoffnung da ist, den Zustand des öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen, so ist der ewige Friede... keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst ihrem Ziele... beständig näher kommt". Weit entfernt, heute, 200 Jahre später voll eingelöst zu sein - die Präambel der japanischen Verfassung von 1946 wagt ausdrücklich den Wunsch nach "ewigem Frieden" -, darf man gleichwohl positive Entwicklungsvorgänge beobachten: etwa die UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948, die friedenschaffenden Kompetenzen des Weltsicherheitsrates, das Entstehen von Weltraumrecht und die Verstärkung des Umweltvölkerrechts sowie die Entwicklungshilfe. Gewiß, das Völkerrecht bleibt vorerst ein sehr "unvollkommenes", weil in der Regel nicht erzwingbares Recht. Die humanitäre Intervention ist umstritten; auf dem Balkan scheiterte viel, in Somalia (1994) alles. Vor allem aber: es besteht ein erstaunliches Theoriedefizit in Sachen Völkerrecht, das mit den Theorien zum Verfassungsstaat, auch zu den Menschenrechten, derzeit noch nicht konkurrieren kann. Dennoch ist es als "werdendes" Recht (D. Schindler) durch Entwicklungsprozesse gekennzeichnet, die viele Rückschläge erfahren, aber - über Jahrhunderte betrachtet - Anlaß zu vorsichtigem Optimismus erlauben 401 . Ein W. von Simson konnte von "überstaatlicher Bedingtheit des Staates" sprechen 402; Pendant ist die "staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen". Vor allem bedarf es einer "Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten", die zum Völkerrecht letztlich in einem "Innenverhältnis" stehen - Konsequenz der "offenen Staatlichkeit". Die Menschenrechte bilden einen Ansatz für diese Entwicklung. Im Ganzen gesehen darf man hier sogar von "Fortschritt" sprechen: Das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit für die die Menschheit konstituierende Bedeutung der Menschenrechte und für die Umweltproblematik - auf dem einen "blauen Planeten Erde in der Wüste des Weltalls" - ist gewachsen. Hier muß es zur Kooperation mit den Naturwissenschaften kommen. Der im Blick auf die Umwelt für die Nachwelt zu denkende "Weltgenerationenvertrag" sollte eine die Entwicklung des Völkerrechts vorantreibende Bedeutung gewinnen 403 . 401
Aus der Lit.: W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984. S. noch Sechster Teil XIII. 402 Dazu P. Häberle/W\ Graf Vitzthum/1 Schwarze, EuR Beiheft 1 (1993). 403 Einen Ausschnitt beleuchtet die von den UN seit 1961 jeweils für das folgende Jahrzehnt proklamierte 10-Jahres-Periode der internationalen Entwicklung (z.B. "Brandt-Bericht"). Die erste "Entwicklungsdekade" sah vor allem eine Steigerung der Finanzhilfe für die Entwicklungshilfe vor, die 1970 ausgerufene ein bestimmtes globales Wachstum für das Bruttosozialprodukt der Entwicklungsländer; die dritte, 1980 begonnene, verfolgt das Ziel der schnelleren Entwicklung der Entwicklungsländer unter dem Globalziel der Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen mit der Strategie einer neuen, auf Recht und Billigkeit gegründeten internationalen Ordnung (Art. 14 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
3. Die zwei Dimensionen der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive: die Zeit und der Raum a) Rechtsvergleichung in der Zeit: Verfassungsgeschichte "Entwicklung" verläuft zum einen auf der "Zeitschiene" oder "Zeitskala". Für den Verfassungsstaat hat sich dazu die eigene Wissenschaftsdisziplin der "Verfassungsgeschichte" herausgebildet, die in jüngster Zeit in den großen Werken von E. R. Huber (Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1957, 2. Aufl., 1967, bis Bd. 7, 1984), O. Kimminich (Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970), D. Willoweit (Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1997) und M. Stolleis (Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (Bd. I, 1988, Bd. II, 1992) präsent ist. Freilich hat sie ihren Gegenstand und ihre Methoden noch nicht so "klassisch" fixieren können, wie dies der "Privatrechtsgeschichte der Neuzeit" eines F. Wieacker (1952, 2. Aufl. 1967) gelang, die ja Elemente der Verfassung der Freiheit umschließt (vgl. S. 621 ff). Das ist vielleicht auch gar nicht möglich. E. R. Huber hofft (Vorwort, I. Bd. S. VII), "wenigstens im Abglanz hervortreten zu lassen, wie das noch ungestaltete reale Sein und das Ordnungsgefüge der staatsrechtlichen Institutionen und der Normen, wie die großen Ströme der Ideen und die bewegte Flut der Interessen, wie die Subjektivität der handelnden Kräfte und die Objektivität des sich selbst verwirklichenden Geistes einer Epoche im krisenreichen Ringen um Verfassung untrennbar, doch nicht unterscheidbar ineinander gebunden sind". Er bekennt sich zu einem "substantiellen Verfassungsbegriff' (Bd. II, Vorwort S. VII) und faßt bereits eine "gesamteuropäische Verfassungsgeschichte" ins Auge (teilweise eingelöst jetzt von H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992). M. Stolleis (Bd. I S. 43) spricht von der "evolutionären und gelegentlich revolutionären Veränderung" der Rechtsregeln, die "das Gemeinwesen konstituieren und das Binnenverhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten sowie die Außenverhältnisse zu anderen Gemeinwesen ordnen", und er verlangt nach einer "Analogisierung", d.h. einer Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen heute und damals (aaO., S. 54). Es geht also um ein Vergleichen in der Zeit. Dadurch können wir "Entwicklungen" nachzeichnen, das Neue und Andere als Ungleiches zur Sprache bringen. Alles Ringen um Verfassungsgeschichte erweist sich als Vergleichen in der Zeit, ein Ausgreifen vom Näheren zum Ferneren: vom nationalen Verfassungsstaat zum regionalen (heute) europäischen
Entwicklungsdekade, in: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl., 1988, Bd. 6, S. 437).
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Verfassungsstaat und von da zu universalen Entwicklungen je nach Epoche 404 . Im einzelnen ist freilich die Rekonstruktion der (verfassungs)geschichtlichen Entwicklung denkbar schwierig, zumal "Vorverständnis und Methodenwahl" ihrerseits historisch bedingt sind. b) Rechtsvergleichung im Raum: Zeitgenössische Komparatistik, weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat Rechtsvergleichung im Raum ist die der Rechtsvergleichung in der Zeit, d.h. der Geschichte zugehörige "andere" Dimension, die es uns erlaubt, Entwicklungen "nachzugehen". Zeit und Raum sind zwei jedenfalls für das entwicklungsgeschichtliche Verständnis des Verfassungsstaates zusammengehörende, "geschwisterliche" Dimensionen. Man mag sich auf Richard Wagners "Parsival" ("Zum Raum wird hier die Zeit") berufen oder nicht: fällig wird eine Verfassungstheorie des Raumes 405 . Damit ist kein Rückgriff auf unselige Raumideologien der NS-Zeit gemeint, zum Glück hat M. Heidegger nach 1933 ja kein Buch "Sein und Raum", sondern zuvor das Buch "Sein und Zeit" (1927) geschrieben. Vielmehr geht es um die Einsicht, daß sich Entwicklungen des Verfassungsstaates letztlich nur nachvollziehen lassen, wenn der Raum, heute Europa, ja die Welt in den Blick genommen wird. Nicht erst seit 1989 können wir viele Räume bzw. Kontinente überschreitende Produktions- und Rezeptionsvorgänge in Sachen Verfassungsstaat beobachten. Das sahen wir schon für die heute klassischen Elemente, wie die Gewaltenteilung Montesquieus und ihre "Zündung" in den jungen USA; eine umgekehrte Rezeption offenbart sich im "Sprung" des Föderalismus von dort nach Europa. Vor allem aber seit 1989 ist eine weltweite, Osteuropa und Teile Asiens einschließende Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft greifbar: Verfassungstexte, wissenschaftliche Paradigmen, richterliche Entscheidungen werden Gegenstand der "Globalisierungsvorgänge", d.h. ausgetauscht, auch "verwandelt" 406 . Dabei wird auch "Verfas-
404 Zur "Bedeutung der Verfassungsgeschichte für die Staatsrechtswissenschaft": K. Stern, aaO., Band I, 2. Aufl., 1984, S. 30. S. auch D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866, 1988: Verfassung in der modernen Bedeutung des Wortes ein historisches "Novum", mit Ausbreitung, Verzögerungen und Krisen (S. 9). 405 Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 38 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 778 ff. sowie oben Vierter Teil I, Inkurs B. 406 Materialien dazu für Osteuropa in P. Häberle, Dokumentation von Verfassungsentwürfen und Verfassungen ehemals sozialistischer Staaten in (Süd-)Osteuropa und Asien, Einführung, JöR 43 (1995), S. 105 ff. Ein Theorieentwurf hierzu in dem Beitrag des Verf.: Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells (1992), jetzt in: Europäische Rechtskultur, 1994, S. 175 ff. (TB 1997).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
sungswirklichkeif rezipiert: in der Weise, daß jüngere Verfassungsstaaten das auf Begriffe und Texte bringen, was sich in älteren Ländern nach und nach entwickelt hat. So diskutiert Italien heute Elemente des "kooperativen Föderalismus" in seinem Koordinatensystem als "kooperativen Regionalismus"; so übernahm Spanien seit 1978 vieles, was in Deutschlands Föderalismus gewachsen ist. Das spektakulärste Beispiel eines raumübergreifenden Erfahrungsaustausches in Sachen Verfassungsstaat (vor allem Föderalismus und Verfassungsgerichtsbarkeit) aber liefert heute Südafrika 407 . Aus dieser Befundnahme ergeben sich Folgerungen: die Inthronisierung der Rechtsvergleichung als "fünfter Auslegungsmethode" 408 , (schon K. Zweigert wagte das Wort von der "universalen" Auslegungsmethode) - sie tritt der "historischen" zur Seite; im Bereich der Grundrechte erfolgt deren Integrierung in den Typus Verfassungsstaat z.B. über das Postulat der "menschenrechtskonformen Auslegung" bzw. deren Verdichtung zu "allgemeinen Rechtsgrundsätzen", wie dies der EuGH vorgelebt hat, und auf der Ebene von Europa reift die Idee des "Gemeineuropäischen Verfassungsrechts" 409. Da die "Werkstatt" in Sachen Verfassungsstaat im Raum immer globaler wird (z.T. kompensiert durch neue Fragmentierungen), sind die "Werkstücke" entsprechend weitgreifend in den Blick "zu nehmen": Pendant zur Weite und Tiefe der verfassungsgeschichtlichen Forschung. Zeit und Raum arbeiten am Typus "Verfassungsstaat" als "Entwicklungsprojekt". Die verfassungsstaatliche Methodenlehre wird entsprechend weitgreifend. Im ganzen: Der Verfassungsstaat sichert sein Weiter- und Überleben im Laufe der Zeit durch "große" (grobmaschige) und "feine" Instrumente und 407
Vgl. den Einfluß, den deutsche Experten und die parteinahen Stiftungen auf die Verfassungsprozesse in Südafrika nehmen: "Bayern will Südafrika helfen" (FAZ vom 11. Nov. 1995, S. 7), "Inkatha zeigt sich wieder kompromißbereit" (FAZ vom 27. Nov. 1995, S. 6), "Südafrikanische Richter in Bonn, Studium der deutschen Verfassung" (FAZ vom 9. Jan. 1996, S. 6). Aus der Lit.: U. Karpen, Südafrika auf dem Weg zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung, JöR 44 (1996), S. 609 ff; J. Lücke, Grundrechte in einer neuen südafrikanischen Verfassung, ZaöRV 52 (1992), S. 70 ff; H.F. Heese/T.H. Böhnke, Die Neue Übergangsverfassung der Republik Südafrika, Ende der Apartheid - Aufbruch in die Demokratie, VRÜ 27 (1994), S. 491 ff.; H. Klug,, South Africa's New Constitution: the Challenges of Diversity and Identity, VRÜ 28 (1995), S. 421 ff.; C. Pippan , Südafrikas Verfassungswandel im Zeichen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ZaöRV 55 (1995), S. 993 ff.; H. Scholler, Der Verfassungsdialog in der Republik Südafrika, ZÖR 52 (1997), S. 63 ff.; F. Venter , Aspects of the South African Constitution of 1996, ZaöRV 57 (1997), S. 51 ff. Das führende Lehrbuch ist: I. Rautenbach/E. Malherbe, Constitutional Law, 2. Aufl. 1996. 408 Erstmals vom Verf. vorgeschlagen in dem Beitrag: Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. Weitere Fortfuhrungen in ders., Rechtsvergleichung, aaO., S. 815 ff. sowie Fünfter Teil IV. 409 Dazu mein gleichnamiger Beitrag, in: EuGRZ 1991, S. 261 ff; jetzt der Band von P. Widmer/R. Bieber (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995.
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Verfahren, in einer Balance von Wandel und Konstanz. Zeit und Verfassungskultur 410 bildet eine Daseinsweise dieses Typus. Er ist gegen Irrtümer und Umwege auch durch die dargestellte Verfahrensskala nicht gefeit, genauso wenig wie alles andere Menschenwerk. Im Rahmen einer "Verfassungslehre als Kulturwissenschaff gewinnt der Verfassungsstaat indes differenziert "Anschluß" an das heute wohl alle Natur- und Kulturwissenschaften prägende Paradigma der "Evolution". (Jüngstes Stichwort ist: "der Computer als 'Evolutionsmaschine'".) In einem tieferen Sinne sind alle Verfassungsstaaten "Entwicklungsländer"! 41 1
4. Heutige Aufgaben verfassungsstaatlicher Reformpolitik Bislang wurde der Entwicklungsaspekt für den Verfassungsstaat im Blick auf die Vergangenheit und zum Teil auch Gegenwart analysiert. Die Zukunft kam dabei nur insoweit ins Blickfeld, als die Skala der Instrumente und Verfahren zur Verarbeitung der "Zeit" systematisiert worden ist. Juristen wie Nichtjuristen, die wissenschaftliche wie die nichtwissenschaftliche, allgemeine Öffentlichkeit dürften jedoch wissen wollen, welche inhaltlichen Reformthemen für den so erfolgreich gewordenen Verfassungsstaat jetzt (1997) anstehen und wie er sich als stets unvollendetes Projekt als "werdendes" Menschenwerk für die Zukunft darstellt. Ohne sich eine "Prophetenrolle" anzumaßen, darf man vorab die These wagen, daß der Verfassungsstaat heute wie inskünftig hohen Reformbedarf besitzt. Mochte man in der Euphorie des "annus mirabilis" 1989 hoffen, der im Weltmaßstab so erfolgreiche Verfassungsstaat werde in Zukunft
410 Dazu gleichnamig mein Beitrag Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl/A. Möhler (Hrsg.), Die Zeit, 3. Aufl. 1991, S. 289 ff.; auch in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 627 ff. sowie Vierter Teil IV. 411 Hinsichtlich der dem Verfassungsstaat obliegenden Pflicht zur Hilfe für "Entwicklungsländer" vor allem der "Dritten Welt" darf man sich auch nicht durch Rückschläge wie in Somalia irritieren lassen (charakteristisch A. de Waal , "Das Gift der guten Gaben, der Glaube an Entwicklung ist verloren", FAZ vom 29. Dezember 1995, S. 29). Nach wie vor kann von einem "Entwicklungsvertrag" zwischen Hilfsorganisationen und dem jeweiligen Volk gesprochen werden, bilden die "Entwicklungsinstitutionen" einen Legitimationsaspekt des Verfassungsstaates. Im Zehnten Entwicklungsbericht der deutschen Bundesregierung für die Jahre 1992 bis 1994 sind 11 Milliarden DM ausgewiesen. Nach Meinung des Entwicklungsministers C.-D. Spranger muß die Entwicklungspolitik in den Partnerländern auf politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen hinwirken, die Konflikte vermeiden (FAZ vom 14. Dezember 1995, S. 5). Nach Bundesaußenminister Κ Kinkel bildet die Entwicklungspolitik ein unentbehrliches Element der Friedenspolitik. Andere F.D.P.-Politiker fordern den Abschied von Subventionen und den Aufbau von rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen (FAZ vom 23. Jan. 1996, S. 5).
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seinen Reformbedarf leicht befriedigen, entdeckte man, daß er - paradoxerweise vielleicht gerade weil der "Außendruck" des marxistisch-leninistischen "Lagers" entfallen ist - sich in eigenen Reformen schwer, wenn nicht schwerer tut als zuvor. Gerade das Wissen darum, daß dem Verfassungsstaat die entwicklungsgeschichtliche Dimension immanent ist, macht es so dringlich, auch in der Zukunft für die notwendigen Reformen offen zu sein. Vorweg sei freilich daran erinnert, daß der Verfassungsstaat nicht immer sozusagen "von selbst" zu Reformen bereit ist. Oft bedarf es besonderer, nicht institutionalisierter "Frühwarnsysteme" für kommende Gefahren bzw. Themen. In der Wirklichkeit der offenen Gesellschaften des Westens haben hier private Organisationen wie "Amnesty International", "Robin Wood" und "Green Peace" (diese trotz mancher Fragwürdigkeit in der Brent-Spar-Affäre 1995) ihren Platz (auch die internationale MenschenrechtsOrganisation "Human Rights Watch"). Rechtsphilosophisch leistet hier die Lehre von der "civil disobedience" von D. H. Thoreau bis J. Rawls ihren Flankendienst. Was die anstehenden Reforminhalte betrifft, so müssen Stichworte genügen. Das übergreifend wirksame Defizit, das sich in vielen Verfassungsstaaten Europas heute höchst negativ bemerkbar macht, ist der Mangel an dem Maß von unverzichtbarem Idealismus, der ihn (wie die "Menschheit" im ganzen) als Kulturgebilde "im Innersten zusammenhält". M.a.W.: es ist der einseitige Materialismus, die Vergötzung des wirtschaftlichen und persönlichen Erfolges, die Verabsolutierung des Marktmodells in Frage zu stellen; all dem muß reformerisch entgegengewirkt werden 412 . Konkret äußert sich dieser Materialismus in den vielen Erscheinungsformen der Korruption nicht nur in Italien und Osteuropa, auch in Frankreich, Belgien, Spanien und (beginnend) in Deutschland. Ausgerechnet nach der Überwindung der dem Materialismus als Staatsideologie verpflichteten sozialistischen Länder verschreiben sich Staat und Gesellschaft der westlichen Demokratien einem platten Nutzenstreben: eine merkwürdige Dialektik. Der Verfassungsstaat kann als Wagnis, das er immer bleibt, indes auf inhaltliche Ziele und kulturelle Grundlagen nicht verzichten, die Kommunitarismus-Debatte 413 erinnert auf ihre Weise daran. Er kann - ja muß - sehr wohl die geistigen Grundlagen, auf denen er beruht, mitschaffen,
412 Daß die verfassungskräftige Verankerung von "Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn" im GG gescheitert ist, ist symptomatisch, dazu aus der Lit.: C. Gramm, Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn als Verfassungsrechtssatz, JZ 1994, S. 611 ff. Vgl. auch die "Zwölf Thesen gegen die Maßlosigkeit" von M. Gräfin Dönhoff in: Die Zeit Nr. 48 vom 24. Nov. 1995, S. 11. 413 Dazu etwa: M. Brumlick/H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, 1993; A. Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 1995; P. Selznick, Kommunitarischer Liberalismus, Der Staat 34 (1995), S. 488 ff.
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dies entgegen einer viel zitierten Behauptungsformel von E.-W. Böckenforde 414 - wobei das "Münchhausen-Trilemma" (H. Albert) freilich bleibt. So arbeitet der Verfassungsstaat über die Einforderung der Erziehungsziele in den Schulen, etwa Toleranz, demokratische Gesinnung, Respekt vor den Menschenrechten anderer und Umweltbewußtsein am ethischen Grundkonsens mit. So legt er durch die Ausbildung und Bildung an Universitäten die materiellen und geistigen Grundlagen für künftige Generationen (vgl. z.B. BVerfGE 35, 79 (114 f.)). So garantiert er via Bürgerliches Recht (Generalklauseln) und Strafrecht (Rechtsgüterschutz) ethische Grundwerte par excellence. So sucht er über Feier- und Gedenktage am Grundkonsens mitzuarbeiten, ihn anzuregen und zu "pflegen". Das gesamte Grundrechts- und Rechtssystem, aber auch alles konkrete Ringen um Gerechtigkeit und Gemeinwohl sowie die Verfahren zur Wahrheitsfindung sind Wege, auf denen der Verfassungsstaat auf der Basis eines gedämpft optimistischen Menschenbildes415 die Staatsform des Idealismus nach den Möglichkeiten des Menschen ist. Das bedeutet keine Geringachtung der Wirtschaft 416 und ihrer "Evolution durch Wettbewerb" bzw. der inneren Dynamik des Marktmodells und seiner Anreize für Kreativität und Innovation. Kritisiert wird hier nur die Verkennung ihrer allein instrumentalen Bedeutung. Der Mensch in seiner personalen Unverfügbarkeit und seinem potentiellen Transzendenz-Bezug - nicht der "Markt" - ist das Maß der Dinge (nicht alles ist "marktfähig"). Das verordnet schon die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG 4 1 7 . Sie verlangt auch eine effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; ein Mensch, der keine Arbeit finden kann, verliert ein Stück seiner Identität, d.h. seiner Würde: der Gesellschaftsvertrag wird für den Arbeitslosen zur Farce. Und sie verlangt soziale und ökologische Marktwirt-
414
Vgl. z.B. in VVDStRL 45 (1995), Diskussion, S. 113 {H.H. Klein). Dazu meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988.- Aus der späteren Lit.: J. Kraetzer (Hrsg.), Das Menschenbild des Grundgesetzes, Philosophische, juristische und theologische Aspekte, 1996. 416 Ein Klassikertext des Entwicklungsgedankens in der Nationalökonomie ist A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, hier zit. nach der Ausgabe von H.C. Recktenwald, 1974, z.B. S. 55 ("Entwicklungsphasen eines Landes"), S. 62, 781 ("Stufe der Entwicklung"). Die "evolutorische Ökonomik" ist mittlerweise ein eigenes Forschungsfeld geworden: J.A. Schumpeter , Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl., 1952; V. Vanberg, Evolution und spontane Ordnung, Anmerkungen zu F.A. von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution, in: H. Albert u.a. (Hrsg.), FS für E. Boettcher, 1994, S. 83 ff; W. Kerber, Evolutionäre Marktprozesse und Nachfragemacht, 1989; A. Wagner/H.-W. Lorenz (Hrsg.), Studien zur Evolutorischen Ökonomik III, 1995. 417 Dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III 1, 1988, S. 3 ff.; H. Hofmann, aaO., AöR 118 (1993), S. 353 ff. 415
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schafit 418. Art. 1 Abs. 1 GG zieht überdies der Gentechnologie und ihrem "Fortschritt" Grenzen. Vor allem besteht eine kulturelle Leistung des Verfassungsstaates darin, daß er dank Menschenwürde und Minderheiten gerade nicht dem "survival of the fittest" des "Sozialdarwinismus" unbegrenzt Raum läßt. M.a.W.: Die kulturelle Evolution hat gelernt, auch mit "Mißerfolgen" zu rechnen. Ohne die politischen Parteien in Deutschland verketzern zu wollen, wie dies eine einseitige Richtung heute öffentlichkeitswirksam unternommen hat 4 ' 9 , müssen offenkundige Fehlentwicklungen beim Namen genannt werden: an erster Stelle der unverfrorene Zugriff auf die höchsten Richterstellen in Bund und Ländern, ja selbst beim BVerfG und EuGH (über deren meist dennoch geglückten Urteile man indes nur froh sein kann). Art. 33 Abs. 2 GG macht allein "Eignung, Befähigung und fachliche Leistung", nicht Parteizugehörigkeit oder -nähe zur Voraussetzung für öffentliche Ämter! Die Parteienfinanzierung in Italien und Deutschland, mancher Diätenskandal hier, Ämterhäufungen allerorten sind weitere Stichworte, die dringenden Reformbedarf signalisieren. Punktuelle Reformen ermutigen: So hat Frankreich 1994 ein Transparenzgesetz verabschiedet; in Italien, Belgien und Spanien ist es vor allem die "stille Gewalt" der Richter, die recht effektiv dem Machtmißbrauch der politischen Parteien entgegentritt. Bei uns hat im Herbst 1995 eine wache Öffentlichkeit ein verfassungsänderndes Diätengesetz auf GG-Ebene verhindert. Ein Dauerproblem bleibt die Frage nach dem richtigen Maß einer klugen Mischung von Elementen repräsentativer und direkter Demokratie; die aus den USA stammende Lehre vom "responsive government" könnte die Fronten auflockern 420 . Verfassungspolitisch verdienen Innovationen wie die von der holländischen Regierung geplante Einführung eines "korrektiven Referendums" als Beitrag zur "staatsrechtlichen Erneuerung" Beifall 421 . Ein weiteres Reformthema ist der Umweltschutz: Von einer ursprünglichen "Nicht- bzw. Anti-Partei", den "Grünen", auf die Tagesordnung gesetzt, be418 Dazu aus der Lit.: P. Häberle, Soziale Marktwirtschaft als "Dritter Weg", ZRP 1993, S. 383 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 7. 4,9 Vgl. etwa H.H. von Arnim, Staat ohne Diener, 1993; ders., "Der Staat sind wir", 1995. Ausgewogen die Beiträge von D. Grimm und W. Graf Vitzthum auf dem Kolloquium für P. Badura: Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, hrsgg. von P.M. Huber, W. Mößle, M. Stock, 1995, S. 3 ff. bzw. 71 ff.- Ein allgemeines Reformproblem ist die staatliche Parteienfinanzierung, dazu H.H. von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld. Parteienfinanzierung in Deutschland, 2. Aufl. 1996; C Landfried, Parteienfinanzierung und politische Macht, 2. Aufl. 1994 (vergleichend). 420 Dazu J. P. Müller, "Responsive Government": Verantwortung als Kommunikationsproblem, ZSR 114, 1995,1, S. 1 ff. 421 FAZ vom 25. Okt. 1995, S. 9.
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zeichnet er die Herausforderung für den Verfassungsstaat, der sich hier wie beim Übermaß an Staatsverschuldung vor künftigen Generationen verantworten muß - ggf. über einen fingierten in die Zeitachse erstreckten "Generationenvertrag", der unter Einschluß der Entwicklungsländer die Welt umspannt, wobei uns die universelle Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" (A. Schweitzer) anleiten kann 422 . Zu erwähnen ist auch die noch zu erarbeitende Kunst, für multikulturelle Gesellschaften das richtige verfassungsstaatliche "Gehäuse" zu bauen (sowie doppelte Staatsangehörigkeiten zuzulassen). Die Schweiz liefert ein Vorbild, Preußens Staat war ein solches "Gehäuse" seit 1685. Zu denken ist an Grundrechte wie individueller und kollektiver Minderheitenschutz, Sprachenfreiheit, neue Formen des Regionalismus. Speziell in Europa wird ein spezifisch europäisches Staatsverständnis mit "nationalem Europaverfassungsrecht" 423 und dem Willen zum Europa "von unten" erforderlich. Schließlich zeichnen sich neue Formen überregionaler Verantwortungszusammenhänge als Reformthema ab. Das sich verfassende Europa z.B. nimmt - zeitweilig - quasiverfassungsstaatliche Aufgaben auf dem Balkan wahr: Friedenssicherung, humanitäre Hilfe, Bekämpfung wirtschaftlicher Not, Wiederaufbau menschlicher Gesittung und Kultur. Die Weltgemeinschaft muß hier zuarbeiten, etwa durch den neuen Internationalen Gerichtshof für die Verbrechen in Ex-Jugoslawien in Den Haag (1995) oder durch den effektiven Ausbau des humanitären Völkerrechts und die Sicherung durch einen ständigen Gerichtshof 424 . Hier liegen Zukunftsthemen und Reformfelder für die Weltfamilie der Verfassungsstaaten, die sich erst ahnen lassen. Vielleicht ist sogar die Welt der "Menschheit" eine "kulturelle Schöpfung", jedenfalls eine soziokulturelle "Entwicklung", mit Fortschritten, aber auch kompensatorischer "Bewahrungskultur" (O. Marquard) und mit "Verlusten". Bei all dem mag das unterschiedliche Temperament der Völker sich auf die Reformfähigkeit unterschiedlich auswirken. De Gaulle sagt man die Äußerung nach, die Franzosen hätten kein Talent für Reformen, sondern nur für die Revolution. Wir Deutsche hatten immerhin erstmals 1989 im Osten eben dieses (friedliche) Talent! Zuletzt ein Blick zurück und ein Blick voraus. Die juristisch-rechtsphilosophische Disziplin "Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht" hat 422 Vgl. auch das Erziehungsziel in Art. 101 Abs. 1 Verf. Sachsen: "Ehrfurcht vor allem Lebendigen". 423 Dazu mein gleichnamiger Beitrag, in: FS Everling, 1995, S. 355 ff. 424 Jüngst auf der 26. Internationalen Rotkreuz-Konferenz in Genf von Deutschland gefordert: FAZ vom 6. Dezember 1995, S. 6. Zur "Durchsetzung humanitären Rechts zwischen Prävention und Repression" aus Anlaß dieser Tagung: T. Pfanner, NZZ vom 16./17. Dezember 1995, S.41.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
mindestens andeutungsweise erkennen lassen, wie sehr sie aus und in der entwicklungsgeschichtlichen Dimension lebt. Der Verfassungsstaat bildet als "Zwischensumme" ein unabgeschlossen offenes "Projekt", das stets unterwegs bleibt, so wie der Weg zur Gerechtigkeit immer nur "vorläufiger" Natur ist 4 2 5 . Der Verfassungsstaat und die ihn erforschende, aber auch "befördernde" Wissenschaft der vergleichenden Verfassungslehre hat mit den anderen Kulturwissenschaften die entwicklungsgeschichtliche Dimension gemeinsam. Ob und inwieweit es Parallelen zum Begriff der "Evolution" in den Naturwissenschaften bzw. zur Entstehung der Tiere und der evolutionären Menschwerdung gibt, sei nicht zu beurteilen gewagt: zu kurz ist der uns bekannte Weg des Menschen als "zoon politicon" bzw. Kulturwesen, die Herausbildung von Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Vergleich mit der Jahrmillionen betreffenden Abstammungslehre 426 . Im uns überschaubaren Zeitraum, mit dem die Rechtswissenschaft arbeitet, scheint der Mensch "derselbe" geblieben zu sein: in seiner prekären Mischung von Gut und Böse, in dem ihm durch Kultur vermittelten "aufrechten Gang" seiner Natur, in den Phasen der individuellen Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenen und Alten i.S. der Lehren von L. Kohlberg. A. Gehlens "Urmensch und Spätkultur" (1956) dürfte Stichworte liefern. Sie sollten zu der Frage fuhren, ob nicht letztlich ein kulturwissenschaftliches Verständnis der Naturwissenschaften erforderlich wird, zumal sie ja "historische Wissenschaften" sind 427 . Vergegenwärtigen wir uns auch das viele Wissenschaften heute prägende Denken im Rahmen von Prozessen - z.B. auch im Konzept des Marktes als "Entdeckungsverfahren" (F.A. von Hayek)
425
S. auch H Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992, S. 775: "Was in der Geschichte geworden ist, wird ständig vom Verfall bedroht". S. 777 f.: Europa hat im Laufe seiner Geschichte viel Unrecht begangen... Es hat sich selbst immer wieder zur Abkehr von der Herrschaft des Rechts verführen lassen... Wenn Europa der Welt im Recht etwas Gültiges hinterlassen hat, so die aus dem abendländischen Denken geborene Lehre von den Grundrechten. Die Überzeugung, daß es ein allem Menschenwillen vorgegebenes Recht gibt,... ist eine Frucht der abendländischen Geschichte". 426 Treffend W.L Bühl, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Band, 7. Aufl., 1986/1995, Sp. 523 (524): "Von sozialer Evolution läßt sich nur in Jahrzehntausenden sprechen". Zur Frage, ob die Gerechtigkeitsgrundsätze "der Richtung der Entwicklungsgeschichte" besser entsprechen als das Nutzenprinzip: J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 546 f.- Trotz oder gerade wegen seines beispiellosen "Erfolges" auf Erden (1830: 1,6 Mrd.; 1995: 6,5 Mrd. Menschen) wird wohl auch biologisch kein "neuer Mensch" entstehen. 427 Darauf deutet auch der Band von A. Einstein/L. lnfeld hin: Die Evolution der Physik (1938), dt. 1956. Eine Provokation bleibt freilich T.S. Kuhns These, Fortschritt in der Wissenschaft vollziehe sich nicht durch kontinuierliche Veränderung, sondern durch revolutionäre Prozesse: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 4. Aufl., 1979. Ebd. S. 183 zu Darwin sowie zur "Analogie zwischen der Evolution von Organismen und der Evolution wissenschaftlicher Ideen".
VI. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive
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greifbar - und das Wissenschaftsbild eines W. von Humboldt: Bemühen um Wahrheit als "etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" (vgl. BVerfGE 35, 79 (113)) bzw. Poppers "Vorläufigkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse" bzw. "Vermutungswissen". Gezeigt wurde, daß sich Grundgedanken des Verfassungsstaates wie die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit, ihre Ergänzung durch die Sozialstaatlichkeit, die Gewaltenteilung nach und nach herausgebildet und verfeinert haben, so wie sich etwa das Zivilrecht seit der 12 Tafel-Gesetze in Rom (451/0 v. Chr.) ausdifferenziert hat. Dennoch sei vor einem "naiven" Entwicklungsbegriff und Fortschrittsoptimismus gewarnt. Die Verfassungsgeschichte ist nicht einfach eine "Fortschrittsgeschichte" i.S. von einem stetig zunehmenden Mehr an Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie und Kultur. Zum einen dürfte die Entwicklung allenfalls i.S. der "Echternacher Springprozession" verlaufen: zwei Schritte vor, einen Schritt zurück 428 , mit Krisen und Verhinderungen. Die "Endgesellschaftsteleologie" des Marxismus-Leninismus und ihr hoher Preis in Sachen Humanität sollte uns warnen. Vielleicht kennt die Geschichte als Entwicklungsprozeß viele Kausalitäten und mögliche "futures" (im Plural!), aber wohl keine Teleologie 429 , nicht einmal auf dem Forum des Verfassungsstaates. Die Weltgeschichte ist weder ein Amts- noch ein Verfassungsgericht, um ein berühmtes Wort abzuwandeln. Für eine Geschichtstheologie i.S. eines L. von Ranke ("Unmittelbar zu Gott") bleibt wenig Raum 430 . Auch können wir weder Hegels Kennzeichnung von Napoleon als "Weltgeist zu Pferde" noch dem Schriftsteller Heiner Müller folgen: "Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel". Die Prognosefähigkeit verfassungsstaatlicher Entwicklungen ist höchst begrenzt. Wir sollten uns die Skepsis L. Wittgensteins vor Augen halten, die er zum Motto seiner "Philosophischen Untersuchungen" (1958) gewählt hat: "Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er
428
Vgl. schon P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 445. S. auch W.L. Bühl, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Band, 7. Aufl, 1986/1995, Sp. 523 (525): "Der immer wieder unternommene Versuch, die kurze Zivilisationsgeschichte mit Hilfe der Evolutionstheorie zu erklären und zu prognostizieren, ist... zum Scheitern verurteilt...". "Obwohl sich die Kulturentwicklung nur im Rahmen der genetischen Anlage des Menschen bewegen kann, sind daraus keine zwingenden Verhaltensnormen abzuleiten". "... die biologische Evolution ist nicht teleologisch zu deuten, hat also kein definitives Ziel". 430 Vorsichtig T. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1866- 1918, Bd. I, 1990, S. 817: "Man kann nicht alles nur als Vorgeschichte lesen, man muß die Dinge auch selbst lesen". Differenziert auch sein gleichzeitiges Sehen von "Kontinuitäten" und von "Diskontinuitäten" (Bd. II, 2. Aufl., 1993, S. 878 ff.). Fruchtbar ist auch sein Begriff der "Entwicklungsbarrieren" (ebd., S. 891). 429
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
wirklich ist" (Nestroy) 431 . Doch sollten wir uns auch nicht in den (KulturPessimismus eines L. Althusser treiben lassen ("Die Veränderung der Welt hat kein Subjekt") 432 . Zum anderen ist aufs Ganze gesehen gar nicht so sicher, daß wir im politischen Gemeinwesen uns stets "entwickeln", in dem Sinne, daß der Verfassungsstaat immer mehr Gerechtigkeit garantiert: dem Maximum an effektivem Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG steht bei uns eine schwer verrechenbare Zunahme der Arbeitslosigkeit gegenüber, dem Maximum an (äußerer) Freiheit ein schwer aufrechenbarer Verlust an Sinnfindung und Grundwerteorientierung. Kaum zu erkennen ist, ob die Erweiterung der Freiheitsräume im Fernsehen durch die von der Verfassungsinterpretation zum GG und die Entwicklung der Technik erzwungene Öffnung auch für Private um den hohen Preis eines evidenten Kulturverlustes erfolgt ist. Demgegenüber gibt es Felder, in denen eine Entwicklung in Richtung auf mehr Gerechtigkeit offenkundig ist: Denken wir an die Gleichstellung der unehelichen Kinder mit den ehelichen, an die Durchsetzung der Menschenwürde ganz allgemein, aber auch in Haftanstalten (größere Zellen!) oder an die Stärkung der Arbeitnehmerrechte durch das sich entwickelnde Arbeits- und Sozialrecht. Auch im Umweltrecht mögen sich - optimistisch - Entwicklungen beobachten lassen. Erst aus der Höhenlage eines uns nicht erkennbaren "juristischen Weltgeistes" könnten sich "Entwicklungen" vielleicht eindeutig als solche ausmachen lassen. Der Streit um A. Einsteins These: "Gott würfelt nicht" 4 3 3 , bleibt - trotz der Chaostheorie - offen. Noch ist nicht sicher, ob der "Teufel" des Sozialismus als Herausforderung des Verfassungsstaates mit dem "Beizebub" des islamischen Fundamentalismus vertauscht wurde 434 , so daß wir wieder auf die alten Gerechtigkeitsfragen, z.B. 431 Zu "Fortschritt und Fortschrittsdenken" jetzt: G. Henrik von Wright , Rechtstheorie 26 (1995), S. 9 ff.- Zur "Konjunktur der Fortschrittstheorie" als "Neuzeitphänomen": O. Marquardt in: O. Marquard, H.-G. Gadamer u.a., Menschliche Endlichkeit und Kompensation, 1995, S. 38. Dort auch die Frage, ob der Fortschrittsgedanke die ganze Wirklichkeit fasse. Marquard meint (S. 39), ohne Kontinuitäten hielten die Menschen den Fortschritt und seine Beschleunigung nicht aus. "Darum entwickelt sich in der modernen Welt kompensatorisch zum Fortschritt eine "'Bewahrungskultur'". 432 Zur Subjektfrage mein Beitrag: Das GG vor den Herausforderungen der Zukunft, in: FS Dürig, 1990, S. 3 ff. 433 Dazu M Jammer, Einstein und die Religion, 1995. Vgl. auch das Ringen um die "Chaos-Theorie" und die Frage, ob sich in ihr Natur- und Sozialwissenschaften näher kommen, insofern die Welt weder nur linear bzw. Ordnung, noch nur Chaos bzw. Zufall ist (Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar 1995). Aus der Lit: G. Struck, Gesetz und Chaos in Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft, JZ 1993, S. 992 ff. 434 Die Jahresbilanz von "Freedom House" 1995 sieht Freiheit und Demokratie von drei alten und neuen Feinden bedroht: "rotbraune" Allianzen aus ehemaligen Kommunisten und Ultranationalisten, vor allem in Rußland, marktwirtschaftliche Autokraten in Asien und radikale Muslime in Nahost und Afrika (zit. nach FAZ vom 19. Dez. 1995,
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
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nach den Toleranzgrenzen, zurückgeworfen sind. In einem reduzierten, bescheidenen Sinne dürfen wir den Entwicklungsgedanken auch für die Verfassungslehre gebrauchen und seine Tauglichkeit dank der Verarbeitung des Zeitfaktors und des Textstufenparadigmas bejahen. Ob aber der Mensch als Gattungsbegriff sich dank des sich entwickelnden (Verfassungs-)Rechts sich seinerseits soziokulturell "entwickelt", ist zweifelhaft. Die Annäherung an Gerechtigkeit und Wahrheit 435 bleibt wohl ein nie erreichtes "ewiges" Etappenziel - wie alles Menschenwerk, und der Kulturwert Recht, Freiheit und Frieden ist sogar stets besonders gefährdet (Balkan, Tschetschenien, Algerien). Dennoch bezeichnet der Entwicklungsgedanke im Verfassungsstaat eine Teilwahrheit 436 , die wir postulieren dürfen, mit der wir im Sinne Poppers arbeiten können: freilich nicht i.S. überschwänglichen Fortschrittsdenkens sondern i.S. ständiger geduldiger Arbeit an der Gerechtigkeit - Arm in Arm mit den anderen Wissenschaftsdisziplinen. Nach diesem mehrfach "gewechselten" Blick auf "Zeit" bzw. "Entwicklung" muß im folgenden ein erster Schritt zur Dimension des Raumes getan werden: zunächst im Blick auf das (scheinbare) "Außen" des Verfassungsstaates unter dem Stichwort von 1977: der "kooperative Verfassungsstaat".
VII. Der kooperative Verfassungsstaat 1. Problem, Begriff, Ausgangsthesen a) Möglichkeiten, Wirklichkeit und Notwendigkeiten kooperativer Strukturen in den "Staatswissenschaften" Der Typus des westlichen freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates 437, eine kulturelle Errungenschaft par excellence, ist als solcher nicht unwandelbar. S. 6). Zum Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates mein gleichnamiger Beitrag in: Liber amicorum für J. Esser, 1995, S. 50 ff. 435 Dazu meine Studie: Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995. Ein erstaunlicher, die Wahrheit einordnender Verfassungstext ist Art. 28 Abs. 1 Verf. Paraguay (1992): "The people's right to receive true, responsible, and equitable information is hereby recognized". 436 Vielleicht läßt sich eines Tages für den Verfassungsstaat ein R. von Jherings "Geist des römischen Rechts auf den Stufen seiner Entwicklung" (1852) kongeniales Werk schreiben. 437 Zu seinen Strukturmerkmalen s. etwa: P. Badura, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 2708 ff; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 3.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Jahrhunderte haben an seinem "Ensemble" von rechtsstaatlichen und demokratischen, grundrechtlichen und zuletzt sozial- und kulturstaatlichen Elementen gearbeitet, und die Zukunft wird ihn weiter entfalten (z.B.: im Blick auf "umweltstaatliche Aufgaben"). Die einzelnen ihn konstituierenden Merkmale sind von der Verfassungslehre in wirklichkeitsnaher Begriffsbildung zu konzipieren 438 ; andere Wissenschaften, etwa die (Volks- und Welt-)Wirtschaftswissenschaften sowie die Lehre von den internationalen Beziehungen haben "Zubringerarbeit" zu leisten. Vieles deutet darauf hin, daß der Verfassungsstaat vom Völkerrecht her in eine neue Phase getreten ist: das "Geflecht" internationaler Beziehungen, Gegenstand der Basler Staatsrechtslehrertagung von 1977 439 , hat eine solche Intensität, Breite und Tiefe gewonnen, daß der westliche Verfassungsstaat in seinem Selbstverständnis darauf angemessen reagieren muß: In diesem Sinn wird seit 1977 der Begriff des kooperativen Verfassungsstaates vorgeschlagen. Die Zürcher Tagung von 1991 hat den Verfassungsstaat regional als "Glied einer europäischen Gemeinschaft" behandelt 4 4 0 . Der Verfassungsstaat wird als heutiger Typus konzipiert, es gibt ihn als solchen, er läßt in diesem Rahmen Abwandlungen in beträchtlicher Variationsbreite zu: entscheidend ist seine verfaßte, d.h. rechtlich begrenzte, und entscheidend ist seine - nach innen und außen - offene Struktur 441 . Sie wird garantiert durch pluralistische Demokratie, Menschenwürde, Grundrechte, Elemente der Gewaltenteilung, die in den gesellschaftlichen Bereich hinein zu erweitern sind, und durch unabhängige Rechtsprechung. Die ideell-moralische Seite (ausgedrückt durch Verfassungssätze wie "internationale Zusammenarbeit" bzw. "Verantwortung", "Friede in der Welt", "Grundrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft", Art. 1 Abs. 2 438 Dazu meine Beiträge, in: AöR 99 (1974), S. 437 ff. (bes. S. 442 ff.); 100 (1975), S. 333 (337 f.); 102 (1977), S. 27 ff. 439 Berichte von C. Tomuschat und R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff; s. auch R. Bernhardt und M Zuleeg, Verfassungsrecht und internationale Lagen, DÖV 1977, S. 457 ff., bzw. Zum Standort des Verfassungsstaates im Geflecht der internationalen Beziehungen, ebd. S. 462 ff; E. Grabitz, Der Verfassungsstaat in der Gemeinschaft, DVB1. 1977, S. 786 ff. 440 Berichte von H. Steinberger/E. Klein und D. Thürer, VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff. 441 Verfassungsgrundsatz der "offenen Staatlichkeit": Κ Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1967, S. 36 ff; M Zuleeg, Zum Standort des Verfassungsstaates im Geflecht der internationalen Beziehungen, DÖV 1977, S. 462 (465); /. Pernice, Deutschland in der europäischen Union, HdbStR VIII (1995), § 191 Rn. 43 (S. 258); C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, HdbStR VII (1992), § 172 (S. 483 ff.); Κ Vogel, Wortbruch im Verfassungsrecht, JZ 1997, S. 161 ff.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
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GG, (ähnlich Art. 1 Abs. 2 Verf. Thüringen), universale (!) Erklärung der Menschenrechte usw.) ist mit der soziologisch-wirtschaftlichen, "staatswissenschaftlich" zu erfassenden 442, vielfältig verknüpft: der Meeresboden als "gemeinsames Gut der Menschheit" 443 , die Knappheit des wirtschaftlichen "Substrats" (Rohstoffe, Energie, Lebensmittel), der Ressourcen der "Umwelt" und die soziale Situation der Menschen in Entwicklungsländern zwingt die Staaten in gemeinsame Verantwortung. Der Verfassungsstaat begegnet ihr "innen wie außen" mit wachsender, sich verbreitender und intensivierender Kooperation: regional und global. Kooperation wird für den Verfassungsstaat ein Teil seines Selbstverständnisses, das er im Interesse der "Verfassungsklarheit" nicht nur praktizieren, sondern in seinen Rechtstexten, besonders in den Verfassungsurkunden, auch dokumentieren sollte. Ein Vergleich der Verfassungsstaaten zeigt, daß sie in dieser Hinsicht noch sehr unterschiedlich "kooperativ" sind 444 , indes eine positive Tendenz erkennbar wird. "Kooperativer Verfassungsstaat" ist der Staat, der seine Identität gerade auch im Völkerrecht, im Geflecht internationaler und supranationaler, besonders regionaler Beziehungen, in der Wahrnehmung internationaler Zusammenarbeit und Verantwortung sowie in der Bereitschaft zur Solidarität und Humanität findet 445. Er entspricht damit weltweiten friedens- und umweltpolitischen Notwendigkeiten. 442 Dazu K.H Friauf VVDStRL 27 (1969), S. 111 (Diskussion); H Wagner, ebd., S. 91 f. (Diskussion); H.P. Ipsen, 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft..., AöR 97 (1972), S. 375 (409); P. Häberle, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f. (Diskussion).- Vgl. noch U. Scheuner, VVDStRL 31 (1971), S. 7 (10 f.); T. Oppermann, Öffentliches Recht, Staatswissenschaft und Sozialwissenschaften, JZ 1967, S. 725 ff. 443 Zum Problem vgl. W. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972; ders., Seerechtsdarstellungen in dürftiger Zeit, AöR 119 (1994), S. 484 ff.; D.-C. Dicke, Die europäischen Gemeinschaften und das Problem der seerechtlichen Wirtschaftszonen, in: Ged. Schrift f. Klein, 1977, S. 65 ff.; R. Lagoni, Seerechtswissenschaft, Ged.Schrift für Martens, 1987, S. 803 ff. 444 Vgl. die Aufzählung "kooperationsoffener" Verfassungen unter cc) 1. - 6. ff. 445 Ansätze hierzu finden sich aus der Sicht des Völkerrechts bei der Qualifikation der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten von 1974, zu der etwa C. Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 444 (453) feststellt, sie erkenne "ein Prinzip weltweiter Solidarität an, indem sie den entwickelten Staaten eine allgemeine Verantwortung für die EL (sc.: Entwicklungsländer) zuspricht"; dazu auch E.-U. Petersmann, ZaöRV 36 (1976), S. 492 (496): "Das neoliberale Wirtschaftsvölkerrecht soll damit durch redistributiv-solidarisches Gemeinschaftsrecht (z.B. auch völkerrechtliche Sicherung "kollektiver wirtschaftlicher Sicherheit" bei der Energie- und Nahrungsmittelversorgung) ergänzt und eine entwicklungspolitische Völkerrechtsentwicklung eingeleitet werden, die der vorangegangenen Entwicklung vom liberalen 'Nachtwächterstaat' zum sozialen Wohlfahrtsstaat sowie der Ergänzung bürgerlicher und politischer durch
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß b) Verfassungsstaat
und "kooperativer
Verfassungsstaat "
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Vorstellung vom kooperativen Verfassungsstaat 446 als einer Form des Verfassungsstaates, die diesen als Typus und als relatives Ideal in die Völkerrechtsgemeinschaft so eingliedert, daß er ihren gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben elastisch gerecht zu werden vermag. (1) Begriffliches Die Begriffsbildungen einer (vergleichenden) Verfassungslehre sollen nicht nur Wirkliches, schon sicher Erreichtes widerspiegeln, sie sollen als "Vor- und Nachformung" politischer Entwicklungen (i.S. "wissenschaftlicher Vorratspolitik") auch in der Lage sein, mögliche künftige Entwicklungen rechtzeitig aufzufangen und zu verarbeiten. Der kooperative Verfassungsstaat ist nicht nur eine mögliche (künftige) Entwicklungsform des Typus "Verfassungsstaat"; er hat tendenziell schon heute in der Wirklichkeit Gestalt angenommen, und er ist vor allem notwendige Form legitimer Staatlichkeit von morgen 447 : in weltbürgerlicher Absicht. Der Begriff "Verfassungsstaat" kann hier nur skizziert werden: als Staat, in dem die öffentliche Gewalt rechtlich konstituiert und begrenzt ist durch materielle und formelle Verfassungsprinzipien: Menschenwürde bzw. Grundrechte, sozialer Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, und in dem sie demokratisch legitimiert ist und pluralistisch kontrolliert wird. Es ist der Staat, in dem auch gesellschaftliche Macht (wachsend) begrenzt wird 4 4 8 durch "Grundrechtspolitik" und gesellschaftliche (z.B. "publizistische") Gewaltenteilung. Verfassungsstaat ist idealtypisch der Staat der "offenen Gesellwirtschaftliche und soziale Menschenrechte komplementär verläuft und teils eine notwendige Abhängigkeit des Wirtschaftsvölkerrechts vom nationalen Wirtschaftslenkungsrecht ist". Daß der Gedanke der internationalen Solidarität nicht neu ist, zeigt U. Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, 1965, S. 53 f. 446 Zu diesem Begriff erstmals mein Diskussionsbeitrag in VVDStRL 36 (1978), S. 129 f., 163; zust. u.a.: F. Kopp, H.-P. Schneider, ebd.; C. Tomuschat hielt den Begriff in der Diskussion ebd. für "erwägenswert". 447 Zum Zusammenwirken von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 ff. S. noch Fünfter Teil XI. 448 Vgl. meine Besprechung von Κ Loewenstein (Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969), JZ 1970, S. 196 f. und das Koreferat Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 43 (56).
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
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schafìt". Offenheit hat zunehmend auch eine internationale bzw. "übernationale" Dimension - ihr korrespondiert Verantwortung. Der kooperative Verfassungsstaat betreibt aktiv die Sache der anderen Staaten, der internationalen und supranationalen Einrichtungen und der "fremden" Bürger mit: seine "Umweltoffenheit" ist "Weltoffenheit" (vgl. Art. 4 Verf. Jura) 449 . Kooperation vollzieht sich politisch und rechtlich. Sie ist vor allem ein Moment der Gestaltung. Der kooperative Verfassungsstaat "entspricht" Entwicklungen zum "kooperativen Völkerrecht" 450 . Idealtypisches (z.T. noch "realtypisches"!) Gegenstück zum kooperativen Verfassungsstaat ist - innerhalb des Spektrums des Typus Verfassungsstaat der "egoistische", selbstbezogene und nach außen "aggressive" Verfassungsstaat, außerhalb dieses Spektrums der totale Staat mit "geschlossener Gesellschaft" (die frühere Sowjetunion) und/oder der "wilde" ("Schurken-")Staat (Entwicklungsländer wie Uganda in den 80er Jahren, der Irak und Ruanda in den 90er Jahren). Insofern das Modell vorbildliche Elemente (hier: der Kooperation) enthält, übt es durch seine ideelle Konzipierung in der Wirklichkeit unmittelbar eine positive (Vorbild-)Wirkung aus, auch wenn es dieser Wirklichkeit partiell noch "voraus" ist. Dieses "gedämpft" optimistische Verfahren ist auch unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten legitim, sofern es nur rationalisiert wird und nicht einem "euphorischen Optimismus" anheimfällt - der bekanntlich oft ins Gegenteil "guter" Leitbilder und Institute umzuschlagen droht. In vielem ist der kooperative Verfassungsstaat "noch" nicht zur vollen Wirklichkeit gelangt; manches an kooperativen Strukturen, Verfahren, Aufgaben und Kompetenzen ist erst in nuce erkennbar, fragmentarisch ausgebildet oder gefährdet und prekär. Indes ist das kein Hindernis, sondern eher Ansporn zur künftigen Arbeit an dem "Modell" eines kooperativen Verfassungsstaates einem Modell freilich, das auch Gefährdungen von Seiten ungebändigter ("wilder", "Schurken"-) Staaten, autoritärer, antidemokratischer Gebilde ausgesetzt ist, die eine Ambivalenz im Verhältnis Verfassungsstaat und internationale Beziehungen sichtbar werden lassen451 (man denke an Ex-Jugoslawien). 449
Vgl. dazu die unten folgenden Aspekte. Hierzu etwa O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 83 ff. (5. Aufl. 1993, S. 108 ff., 320); A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 59 f., 251 ff. Zuletzt A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, 1995, bes. S. 737 ff. 451 Auf die Gefahren dieses "Gefälles" hat vor allem H.F. Zacher in der Basler Diskussion hingewiesen: VVDStRL 36 (1978), S. 134 ff. 450
15 Häberle
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß (2) Der Wandel von Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen der Kooperation
Das aktive Moment der und in der Kooperation hat eine formellverfahrensrechtliche Seite: das Procedere (Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln, zu "Abstimmungen", zu Arrangements bis hin zu Verträgen und festen Einrichtungen), und es hat eine materielle (-rechtliche) Seite: solidarische sachliche Ziele wie "Friede in der Welt", "soziale Gerechtigkeit", Entwicklung von anderen Ländern, Menschenrechte, "humanitäre Hilfe für notleidende Menschen und Völker" (Art. 54 Abs. 2 S. 1 Verf. Bern von 1993). Beides gehört zusammen. Oft muß das kooperative Verfahren vorausgehen, oft ist es der alleinige Nenner, auf dem kooperiert wird und Einigung möglich ist: der Dissens über die sachlichen Ziele ist (noch) zu groß. Darum ist die "formelle" Seite hoch einzuschätzen. Kooperation beginnt beim punktuellen Kontakt, z.B. Sprechen, geht über das ständige "Sich-Vertragen" und endet im "Füreinander-Da-Sein" (im Kontrakt). Die begrenzte "Anlehnung" an den Begriff des "kooperativen Föderalismus" liegt nahe 452 . In manchem deutet der kooperative Verfassungsstaat auf Vorformen bundesstaatlicher Strukturen, Verfahren, Kompetenzen und Aufgaben 453 . Doch dürfen solche Analogien angesichts des utopischen Charakters eines "Weltbundesstaates" nur höchst behutsam gezogen werden. Der kooperative Verfassungsstaat lebt aus der Kooperation mit anderen Staaten, Staatengemeinschaften und internationalen Organisationen. Er bewahrt und bewährt dessen ungeachtet aber seine Identität auch gegenüber diesen Gebilden 454 . Er nimmt die verfassenden Strukturen der Völkerrechtsgemeinschaft in sich auf, ohne seine eigenen Konturen völlig zu verlieren oder verfließen zu lassen. Er treibt die "Verfassung" der Völkerrechtsgemeinschaft voran, ohne deren Möglichkeiten zu überschätzen. Er nimmt mit den anderen Staaten z.B. im "Nord/Südoder West/Ost-Dialog" Verantwortung "zur gesamten Handwahr, ohne seine individuelle Verantwortung dadurch bequem verdecken zu wollen und zu können. Er entwickelt vor allem - schon textlich - "interne" Verfahren, Kompeten452
Dazu etwa G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; ders., Kooperation zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1977, S. 689 ff.; F. Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme, 1976, S. 41 ff, 97 ff; W. Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, HdbStR Bd. IV (1990), S. 1091 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 4. 453 Vgl. die Präambel des GG, wonach sich das Deutsche Volk als "Glied in einem vereinten Europa" versteht. 454 S. demgemäß Art. F Abs. 1 EUV. Dazu K. Doehring, Die nationale "Identität" der Mitgliedstaaten der EU, FS Everling, 1995, S. 263 ff.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
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zen und Strukturen und stellt sich Aufgaben, die der Kooperation mit "Außenkräften" gerecht werden, und er öffnet sich ihnen so, daß das Trennungsschema von "Außen" und "Innen", die Ideologie der Impermeabilität und des etatistischen Rechtsquellenmonopols455 fragwürdig werden. Er arbeitet an der Entwicklung eines "kooperativen Völkerrechts" mit 4 5 6 : auf dem Weg zum "gemeinen Kooperationsrecht". Kooperativer Verfassungsstaat ist die innere Antwort des westlichen freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates auf den Wandel im Völkerrecht und dessen Herausforderung, der zu Kooperationsformen gefuhrt hat. Er ist Verfassungswandel "von außen her", wenn das Bild nicht wegen seines Innen-/ Außenschemas bedenklich wäre. Verfassungsstaaten und Völkerrecht bzw. internationale Beziehungen beeinflussen sich heute auch in ihrem Wandel gegenseitig - die "Zwei-Welten-" oder "Zwei-Reiche-Lehre" ist fragwürdig geworden! 457 -, und sie sind beide zugleich Subjekt und Objekt dieses Wandels. Der offene Verfassungsstaat kann auf Dauer nur kooperativ sein, oder er ist kein " Verfassungs"Staat! Offenheit nach außen heißt Kooperation. Umgekehrt führt diese Verknüpfung im guten Fall dazu, daß sich die Staaten ihrerseits zunehmend verfassen: weil sie dem Druck der verfaßten - und sich weiter verfassenden - Völkerrechtsgemeinschaft und der "werbenden" Kraft des Verfassungsstaates458 ausgesetzt sind, unbeschadet der erwähnten - negativen "Gefällesituation". 455 Dazu kritisch P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 ff. (271, 283). S. noch Fünfter Teil V Inkurs. 456 O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 83 ff. (Funktion und Zielsetzung des gegenwärtigen Völkerrechts: Frieden und Zusammenarbeit), S. 88: "So mündet letztlich auch das Koexistenzrecht in das Recht der friedlichen Zusammenarbeit" - mit dem Hinweis (S. 86) auf W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, S. 60 ff. und dessen Begriff "Völkerrecht der Zusammenarbeit" (vgl. auch 5. Aufl. 1993, S. 113 f.); s. auch M. Krieles Votum für ein "System globaler Kooperation" (Einfuhrung in die Staatslehre, 1975, S. 13). Ferner K.J. Partsch, Von der Souveränität zur Solidarität: Wandelt sich das Völkerrecht?, EuGRZ 1991, S. 469 ff. 457 Vgl. U. Scheuner, VVDStRL 19 (1961), S. 152 (Diskussion): Völkerrecht "als gemeines unter den Staaten geltendes Recht" (im Gegensatz zur dualistischen Lehre, wonach Völkerrecht und Staatsrecht "zwei getrennte Welten" sind); s. auch J.H. Kaiser, ebd., S. 151: "gemeinsamer Rechtsboden", der sich über die Grenze von Völkerrecht und nationalstaatlichem Recht erstreckt. Jetzt: A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, 1995. 458 Dazu R. Schmidt, aaO., VVDStRL 36 (1978) S. 67; s. auch U. Scheuner, aaO., S. 53: "Die Internationale Rechtsordnung wirkt stärker auf die einzelnen Staaten, sogar in gewissem Umfang auf ihre innerstaatliche Ordnung, ein. Daneben vermögen aber auch die Kräfte des innerstaatlichen Bereichs heute in ausgedehnterem Maße unter sich Verknüpfungen über die Staatsgrenzen hinweg herzustellen und Einfluß auf Fragen der internationalen Rechte zu nehmen."
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Insofern wandeln sich heute Verfassungsstaat und Völkerrecht gemeinsam. Verfassungsrecht beginnt nicht dort, wo Völkerrecht aufhört. Auch das Umgekehrte gilt: Das Völkerrecht hört nicht dort auf, wo das Verfassungsrecht anfängt. Die Verschränkungen und Wechselwirkungen sind viel zu intensiv, als daß diese äußere Form der Komplementarität ein zutreffendes Bild ergäbe. Es entsteht "gemeines Kooperationsrecht". Der kooperative Verfassungsstaat kennt nicht die Alternative eines "Primats" von Staatsrecht oder Völkerrecht 459 ; er macht mit den beobachteten Wechselwirkungen zwischen Außenbeziehungen bzw. Völkerrecht und innerer (nationaler) Verfassungsordnung 460 so ernst, daß Teile des Völkerrechts und innerstaatlichen Verfassungsrechts zu einem Ganzen zusammenwachsen. Darum ist es auch nicht voll geglückt, internationale Menschenrechtsabkommen in bezug auf das GG nur als eine "völkerrechtliche Nebenverfassung" zu bezeichnen 461 . Denn diese "Neben-Verfassung" ist in Wirklichkeit integrierender Bestandteil der staatlichen Verfassung des GG, sie steht nicht "neben" ihr. Der kooperative Verfassungsstaat westlicher Prägung ist von vornherein auf Kooperation im internationalen Feld angelegt. Art. 23 und 24 GG und die ihm parallelen Normen in den EU-Ländern 462 sind sein adäquater, immanenter Ausdruck, sie sind als Regel, nicht als Ausnahme 463 zu denken. (3) Erscheinungsformen und verfassungstextliche Anknüpfung Die Erscheinungsformen der Kooperation sind vielfältig: Sie reichen von "lockeren" (z.B. "abgestimmtem Verhalten") zu "dichteren": der Konzipierung und kooperativen Erfüllung von "Gemeinschaftsaufgaben" in gemeinsamen Verfahren und Einrichtungen oder der Begründung supranationaler Gebilde usw. Viele Kooperationsformen begegnen noch in der nur vage greifbaren
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Dazu mein Diskussionsbeitrag, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f. Dazu C. Tomuschat, aaO, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff., LS V, VI. 461 So aber C Tomuschat, ebd., LS 13 a. 462 S. den Überblick bei I. Pernice , Bestandssicherung der Verfassungen, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 225 (233 ff.); vgl. auch unten bei Fn. 466 ff. 463 Zur Bedeutung von Art. 24 GG: A. Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl. 1990, S. 312 ff. Wegweisend: K. Vogel (Anm. 5); H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 52 ff: "tragendes ... Element der grundgesetzlichen Verfassungsentscheidung für die Öffnung der deutschen Staatlichkeit". Zuletzt H. Mosler, Die Übertragung von Hoheitsgewalt, HdbStR Bd. VII (1992), S. 599 ff. 460
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Form des "soft law" 4 6 4 oder seinen ganz unverbindlichen Vorformen. Die reiche Stufenfolge möglicher Instrumente der - unterschiedlich intensiven - Einbeziehung des Völkerrechts ins innerstaatliche Recht gehört hierher. Die Verfassungstexte geben nur erste Anhaltspunkte: Obgleich sie oft hinter der Entwicklung herhinken und die Verfassungs- bzw. Staatspraxis und völkerrechtliche Kooperations- (nicht nur Vertrags-)Praxis oft "weiter" sind, müssen sie in die Diagnose als "Textstufen" einbezogen werden. Darüber hinaus deuten sie Tendenzen an. Verfassungstextlich dürfte der kooperative Verfassungsstaat wie folgt auf den Begriff und in die juristische Sprache zu bringen sein: 1. durch allgemeine Bekenntnisse zu "Weltoffenheit" ( M Scheler), "Solidarität", internationaler Zusammenarbeit und (Mit-)Verantwortung: vgl. Art. 4 Verf. Jura (1977), Art. 24, 26 GG sowie "Dienst" am Frieden (GG-Präambel) und Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), jüngst das Bekenntnis, "Bestandteil der Demokratien Europas in der Welt" zu sein (Präambel Verf. Tschechien von 1992) 2. durch spezielle - abgestufte - Kooperationsformen wie Art. 23 und 24 Abs. 1, 2 und 3 GG, regional jetzt Art. 24 Abs. 1 a GG 3. durch allgemeine universelle Grund- und Menschenrechtserklärungen: Art. 1 Abs. 2 GG: "Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" oder durch andere Formen der Rezeption regionaler oder universaler Menschenrechtspakte 4. durch spezielle Grund- und Menschenrechtsbestimmungen mit "Außenwirkung" (z.B. Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. die weitgehende Gleichstellung von Ausländern mit Inländern (z.B. Art. 15 Verf. Portugal) 5. durch - abgestufte - Einbeziehung des internationalen Rechts ("Modell Holland" 465 bis "Modell Österreich" 466 ): Vollzugslehre oder Transformation mit der Zwischenform in Art. 25 GG 6. insgesamt durch die Thematisierung von "Gemeinschaftsaufgaben" (Menschenrechte einerseits - Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Rohstoffver-
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Dazu die Berichte und Diskussionen in Basel: VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff.; C Tomuschat, LS 8; Kritik durch K. Vogel, ebd., S. 145. S. auch A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. (1984), S. 419 ff. 465 Vgl. Art. 66, 58 Abs. 2, 60 altes Niederl. Grundgesetz. 466 Art. 50 Abs. 3 i.V.m. Art. 44 Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz Österreichs: Völkerrechtliche Verträge mit Verfassungsrang (zit. nach H.R. Klecatsky/S. Morscher (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung, 7. Aufl. 1995).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
sorgung, Terroristenbekämpfung, Sicherung des Weltfriedens, humanitäre Aufgaben andererseits). Entwicklungen der Verfassungstexte sind in Sachen "kooperativer Verfassungsstaat" besonders greifbar: in Texten, die die klassische Staatssouveränität zugunsten internationaler Zusammenarbeit aufbrechen oder sonstige Öffnungen bewirken: bis hin zur Ermöglichung überstaatlicher Einrichtungen und Inkorporierung ausländischer und internationaler Menschenrechtserklärungen. Einige prägnante neue Texte müssen genügen. Öffungsklauseln nach Art der Art. 23 und 24 GG finden sich immer häufiger 467 . Es gibt aber auch ganz allgemein gehaltene Klauseln wie 4 6 8 Art. 2 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975): "Griechenland ist bestrebt, unter Beachtung der allgemeinen anerkannten Regeln des Völkerrechts den Frieden, die Gerechtigkeit und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu fördern", oder Präambel Verf. Spanien (1978): "... bei der Stärkung friedlicher und von guter Zusammenarbeit gekennzeichneter Beziehungen zwischen allen Völkern der Erde mitzuwirken...". Art. 90 Verf. Niederlande (1983): "Die Regierung fördert die Entwicklung der internationalen Rechtsordnung". Art. 149 Guatemala (1985): "Guatemala entwickelt seine Beziehungen mit anderen Staaten ... mit dem Zweck, zur Erhaltung des Friedens und der Freiheit beizutragen, die Menschenrechte zu verteidigen, demokratische Prozesse zu verstärken und internationale Institutionen zu stärken, die die Wohlfahrt zwischen den Staaten garantieren". Herausragend ist der "(Wahl)Verwandtschafts-" bzw. "Entwicklungs"-Artikel 151 ebd.: 467 Beispiele: Art. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975): "Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern, ist durch Verträge oder Abkommen die Zuerkennung von verfassungsmäßigen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen zulässig". Abs. 3 ebd.: "Griechenland stimmt freiwillig durch ein Gesetz ... einer Einschränkung seiner nationalen Souveränität zu,wenn die Menschenrechte und die Grundlagen, der demokratischen Staatsordnung nicht berührt werden ...". S. auch Art. 29 Abs. 4 Verf. Irland mit Nennung der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (in Nr. 3 a.E.).- Art. 91 Abs. 3, 92 Verf. Niederlande (1983).- Art. 8 Abs. 3 Verf. Portugal.- Art. 93 Verf. Spanien. 468 S. auch Art. 7 Abs. 1 Verf. Portugal: " Portugal läßt sich in seinen internationalen Beziehungen von den Grundsätzen ... der Achtung der Menschenrechte ... sowie der Zusammenarbeit mit allen Völkern zur Befreiung und zum Fortschritt der Menschheit leiten".
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"Der Staat Guatemala unterhält Beziehungen der Freundschaft, Solidarität und Zusammenarbeit mit allen Staaten, deren ökologische, soziale und kulturelle Entwicklung ähnlich ist wie die von Guatemala, mit dem Ziel, Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und gemeinsam eine Politik zum Wohle der genannten Staaten zu entwickeln". Guatemala ist damit inhaltlich wie formal eine neue Textstufe geglückt, die vorwegnimmt, was in der Praxis später, z.B. erst heute sich entwickelt und was die Verfassungslehre erst nach- und aufarbeiten muß. Sie erweist sich insofern als "Sekundärliteratur". Wieder zeigt sich, wie gut sie daran tut, ihre Materialien (auch) in Verfassungstexten zu suchen und insofern auch in sensiblen Textstufenanalysen Erkenntnisgewinn zu erarbeiten. Im großen "Zeitsprung" sei die auch inhaltlich reife Textstufe in Art. 11 Verf. Slowakische Republik (1992) in Sachen Menschenrechte erwähnt: "International agreements concerning human rights and basic freedoms, ratified by the Slovak Republic and proclaimed in accordance with approved Law, take precedence over her constitutional Acts, if they guarantee greater constitutional rights and freedoms". (Ähnlich Art. 5 Abs. 4 Verf. Bulgarien von 1991.) 469 Sogar die Bildungs- und Erziehungsziele reichern sich entsprechend an 4 7 0 . Schönstes Beispiel nach wie vor ist Art. 72 Abs. 1 Verf. Guatemala: "Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur" 4 7 1 . Auch hier dürften internationale Menschenrechtstexte Vorbildwirkung entfaltet haben 472 . Ausdrückliche Bezugnahmen auf internationale, regionale und nationale Menschenrechtserklärungen werden immer häufiger. Sie sind auf dem Weg, 469
Zit nach JöR 44 (1996), S. 478 ff. bzw S. 497 ff. Art. 22 S. 2 (alte) Verf. Peru (1979): "Sie (sc. die Bildung) fördert die nationale und lateinamerikanische Integration sowie die internationale Solidarität". 471 Vgl. schon Art. 26 Ziff. 1 bzw. 4 Verf. Bremen (1947): "friedliche Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern" bzw. "Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker". Siehe auch das nach 1945 in mehreren deutschen Länderverfassungen verankerte Erziehungsziel der "Völkerversöhnung" (z.B. Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz). Die Verfassungen der neuen Bundesländer erfinden seit 1992 neue Wendungen, z.B. Art. 28 Verf. Brandenburg: "Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker"; Art. 27 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt: "Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern". 472 Vgl. Art. 13 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: Bildung muß "Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern fördern". 470
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sich zu einem verfassungsstaatlichen Strukturelement der heutigen Textstufe zu entwickeln 473 . So rezipiert etwa Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg (1992) die EMRK-, die ESC-Grundrechte sowie die internationalen Menschenrechtspakte. Entscheidend wird die Differenzierung: Kooperation ist der jeweiligen Aufgabe, dem jeweiligen Sachgebiet und der jeweiligen (äußeren) "Lage" des Verfassungsstaates gemäß zu verstehen und textlich zu formulieren. Das "Kooperative" am Verfassungsstaat läßt sich nicht abschließend umschreiben oder gar "katalogisieren": dies widerspräche seiner Offenheit und der Freiwilligkeit der einzelnen Kooperationsformen. Intensität und Grad, Materien, Verfahren und Instrumente der Kooperation besitzen eine beträchtliche Variationsbreite. Zwar gibt es Verfassungsstaaten, die sich der Kooperation auch textlich schon so weitgehend (und weiter) stellen wie das GG 4 7 4 ; es finden sich aber auch Staaten, die selbstbezogener, "souveräner" konzipiert sind und praktisch entsprechend "egozentrisch", weniger völker(rechts)freundlich und offen agieren (wie Frankreich) 475 . Nach all dem begegnen unterschiedliche Stufen und Grade der kooperativen Staatlichkeit, was jeweils besondere historische Gründe hat. Entscheidend ist, daß die Tendenz als solche bewußt wird und die Verfassungsdogmatik "vorbereitet" ist auf die Intensivierung und Differenzierung der Kooperation: Sie stellt begriffliche Apparaturen zur Verfügung - entwirft sie vor -, die den weiteren Weg zur Kooperation steuern, ja beschleunigen können. Ein Wort zur Frage der "Grob- und Feineinstellung" des kooperativen Verfassungsstaates auf die internationalen Verflechtungen. Hier müssen Institute und Instrumente überprüft, neue entwickelt oder bekannte verfeinert werden.
473 Beispiele: KV Jura (1977), Préambule: "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des droits de l'homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l'homme de 1950".Verf. Portugal (1976/89), Art. 16 Abs. 2: "Die Auslegung und Anwendung der die Grundrechte betreffenden Verfassungs- und Rechtsvorschriften erfolgt in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung".- Ähnlich Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien (1978).- Art. 105 (Alte) Verf. Peru (1979): "Die Vorschriften, die in den Verträgen über Menschenrechte enthalten sind, haben Verfassungsrang".- Art. 46 Verf. Guatemala (1985): "Es gilt generell das Prinzip, daß auf dem Gebiet der Menschenrechte internationale Verträge und Konventionen, soweit sie durch Guatemala ratifiziert worden sind, Vorrang vor dem nationalen Recht haben". 474 Zu "außengerichteten" Grundsätzen nationaler Verfassungen siehe oben Themenliste 1-6.- Zur Schweiz vgl. Schlußbericht der "Wahlenkommission" VI 1973, S. 637 ff. 475 Vgl. Art. 52 ff. der franz. Verf. von 1958, vgl. aber Art. 55 und 88 ff.
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Begriffe wie "Souveränität" 476 , Impermeabilität, das Innen-/Außenschema477, der alte Rechtsquellenkanon (und das Verständnis des Völkerrechts) sollten in Frage gestellt werden. Das weltwirtschaftliche Außenverhältnis des Verfassungsstaates ist ein Teil seines Innenverhältnisses geworden! Zu überlegen ist, wie der (kooperative) Verfassungsstaat auf die Verflechtungen hin typusgerecht fortentwickelt werden kann 4 7 8 , durch z.B. neue Inhalte, neue Verfahren (z.B. Öffentlichkeit) und neue Organe wie den Beirat für Handelsfragen 479, um den Kompetenzverlust der Parlamente wettzumachen (etwa durch Informationspflichten 480 und Beteiligungsrechte, wie jetzt in Art. 23 Abs. 2 und Abs. 3 n.F. GG). Ferner wäre zu prüfen, wie der (kooperative) Verfassungsstaat in künftigen Verfassungen textlich auf das Thema "internationale Beziehungen" tiefer, breiter, genauer und elastischer eingestellt wird, auch in den Methoden der Verfassungsinterpretation; hier gibt es freilich Grenzen der Verrechtlichung. Auf der Basis verfassungstheoretischer "Vorleistungen" ist verfassungspolitische Arbeit zu erbringen. Zu vergleichen sind die Verfassungen des westlichen Typus von deutlicher "verflochtenen" offenen Staaten wie Holland hier mit noch stärker "in sich gekehrten" Nationalstaaten dort. Vielleicht können die europarechtlichen Strukturen und Verfahren Hinweise geben. Hic et nunc sind jedenfalls die einzelnen Konsequenzen zu ziehen i.S. eines auf dem Wege "nach außen" kooperativen (verantwortlichen) Verfassungsstaates.
476
Vgl. E. Grabitz, Der Verfassungsstaat in der Gemeinschaft, DVB1. 1977, S. 786 (790): Menschenrechte als negative Kompetenzvorschriften im Verfassungsstaat; Verabschiedung der Theorie staatlicher "Kompetenz-Kompetenz"! 477 Vgl. P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 (268 ff.).-"Außenpolitik" wird zur "Weltinnenpolitik": Staatengemeinschaft i.S. einer verfaßten Einheit als Aufgabe (Integration!). 478 Vgl. z.B. R. Schmidts geglückten Begriff der "parlamentarischen Regierung" (aaO., VVDStRL 36 (1978), LS 23), der im Blick auf die internationalen Verflechtungen die Zusammengehörigkeit von Parlament und Regierung herausstellt bzw. die parlamentarisch-demokratische Legitimierung der Regierung betont. 479 Dazu R. Schmidt, Der Verfassungsstaat..., VVDStRL 36 (1978), S. 65 (100 f.). 480 Vgl. schon Art. 2 des deutschen Zustimmungsgesetzes zum (so die damalige Bezeichnung) E WG-Vertrag, nach dem der Bundestag über jeden geplanten europäischen Gesetzgebungsakt informiert werden muß, dazu: HP. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 276, m. N. Insgesamt stellt sich hier die Legitimationsfrage bei Entscheidungen internationaler Organisationen, jedenfalls soweit sie verbindlichen Charakter haben sollen.- Zu den "Mitwirkungsrechten des Bundesrates und des Bundestages" nach Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG jetzt R. Lang, 1997.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 2. Ursachen und Hintergründe
Die Ursachen und Hintergründe der Entwicklung zum kooperativen Verfassungsstaat sind komplex. Vornehmlich zwei Faktoren stehen im Vordergrund: die soziologisch-wirtschaftliche Seite - und die ideell-moralische Seite. Herausragender Faktor und Motor der Tendenz zur Kooperation ist die wirtschaftliche Verflechtung der (Verfassungs-)Staaten 481. Läßt sich vom "europäischen Staat" sagen, er komme von der Wirtschaft her 482 , so gilt dies erst recht für den kooperativen Verfassungsstaat. Er wird bewirkt durch die wirtschaftlichen Verflechtungen und er bewirkt diese mit. Die heutige "Globalisierung" intensiviert diese Entwicklungen. Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Kooperationsformen und ihre "Umsetzung" in adäquate juristische Begriffe, Verfahren und Kompetenzen verlangt eine Anknüpfung an Methoden und Gegenstand der "Staatswissenschaften" 483. Die ideell-moralischen Hintergründe der Entwicklung zum kooperativen Verfassungsstaat lassen sich nur andeuten: Sie sind zum einen Ergebnis seiner Konstituierung durch Grund- und Menschenrechte, Die "offene Gesellschaft" verdient dieses Prädikat nur dann, wenn sie auch die international offene Gesellschaft ist. Grund- und Menschenrechte verweisen den Staat und "seine" Bürger auch auf das "Andere", sog. "Fremde", d.h. andere Staaten mit ihren Gesellschaften bzw. die "fremden" Bürger 484 . Der kooperative Verfassungsstaat lebt von wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Kooperationsbedürfnissen sowie - anthropologisch - vom Kooperationsbewußtsein (Internationalisierung der Gesellschaft, des Datennetzes, Weltöffentlichkeit, Demonstrationen mit außenpolitischen Themen, Legitimation von außen, regional: europäische Öffentlichkeit).
481 Dazu die Analyse von R. Schmidt, aaO., VVDStRL 36 (1978), S. 68 ff.- S. auch T. Oppermann, VVDStRL 27 (1969), S. 95 f. (Diskussion). 482 So P. Dagtoglou, VVDStRL 23 (1966), S. 127 (Diskussion); vgl. auch R Schmidt, aaO., VVDStRL 36 (1978), S. 65 (67). 483 Dazu K.K. Friauf, VVDStRL 27 (1969), S. 111 (Diskussion); H. Wagner, ebd., S. 91 f. (Diskussion); H.P. Ipsen, 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft..., AöR 97 (1972), S. 375 (409); P. Häberle, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f. (Diskussion).- Vgl. noch U. Scheuner, VVDStRL 31 (1971), S. 7 (10 f.); T. Oppermann, Öffentliches Recht, Staatswissenschaft und Sozialwissenschaften, JZ 1967, S. 725 ff. 484 Zum Problem: Κ Doehring/J. Isensee, Die Staatsrechtliche Stellung des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), S. 1 ff. und die Diskussion, ebd., S. 107 ff.; H. Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, HdbStR Bd. V (1992), S. 663 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 88 f.
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3. Grenzen und Gefahrdungen Der westliche Verfassungsstaat war bis 1989 zahlenmäßig ein relativ seltener Staatstypus. Er konkurrierte mit den sog. "sozialistischen" Staaten einerseits, autoritären bzw. totalitären Staaten in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien andererseits. Es wäre kurzsichtig, ja gefährlich, wenn sich die Verfassungslehre dieses Tatbestands heute nicht erinnerte, wenn sie - begeistert vom eigenen "Modell" - europäische Kooperationsformen konstruierte, die die eigenen Staaten so öffnen, daß sie Gefahren durch die "wilden" Staaten (die ja ihrerseits Subjekte des Völkerrechts sind) ausgesetzt werden (Beispiele finden sich in Ex-Jugoslawien). Gewiß, die "werbende Kraft" (und der Erfahrungsschatz) des (westlichen) Verfassungsstaates 485 ist groß, und sie dürfte sich in der Weltöffentlichkeit in dem Maße steigern, wie mit der Kooperation noch ernster gemacht wird. Doch ist nicht zu übersehen, daß verfassungsstaatliche Errungenschaften wie rechtsstaatliche Formelemente oder der Rechtsbegriff 486 immer wieder bedroht sind und die teilweise sehr andere Wertstruktur (und Identität) dritter (z.T. der islamischen) Staaten sich dem verfassungsstaatlichen Modell weder anpassen kann noch will. Auch mit ihnen muß aber (begrenzte) Kooperation möglich sein. Es liegt also eine Ambivalenz im Thema "Verfassungsstaat und internationale Verflechtungen". Einerseits birgt die Möglichkeit der Kooperation große Chancen und Herausforderungen: die konstituierenden Elemente des Verfassungsstaates (wie rechtsstaatlich-demokratische Verfahren, unabhängige Gerichtsbarkeit, Menschenrechte) können "exportiert" werden, um die Staatengemeinschaft zu verfassen (so derzeit in Richtung Osteuropa oder Südostasien). Andererseits sind die Gefahren aus dem "Import" offenkundig. Es kommt zu Rückwirkungen und Sachzwängen: der Verfassungsstaat als Typus droht in seinen dogmatisch-rechtsstaatlichen Elementen, etwa in Währungsfragen, in eine Gefahrenzone für seine - freilich wandlungsoffene - Identität zu geraten: die Verflechtung mit (Noch)Nicht-Verfassungsstaaten wie einigen Entwicklungsländern, wohl auch mit multinationalen und privaten, nichtstaatlichen Organisationen kann zu einer negativen Sogwirkung führen. Es kommt zu Reibungen zwischen dem Verfassungsstaat und dem völkerrechtlichen Staats-
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Dazu R. Schmidt, aaO., VVDStRL 36 (1978), LS 32. Hier liegt die Problematik des "soft law"; dazu C. Tomuschat und R. Schmidt, aaO.; es ist mit Vorsicht zu "begreifen" (aus der Diskussion K. Vogel, ebd., S. 145), es ist eine Art "vorformender" und "vorgeformter" Gewohnheitsrechtsbildung, ein bestimmter Argumentations- und Verfahrensstil, dem Faktischen nahe, der durch seine Konturenlosigkeit und Unberechenbarkeit rechtsstaatliche Elemente des Verfassungsstaates gefährdet (zu Gefahren R. Schmidt, ebd. LS 24). 486
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begriff 487 , zwischen verschiedenen Wirtschaftsverfassungsmodellen (z.B. in Entwicklungsländern oder in Nordkorea und Kuba), zu Rückwirkungen auf die nationalen Wirtschaftsverfassungen. Es kann zu Erosionen des Verfassungsstaates kommen, zu deren Verhinderung sich die Dogmatik und Politik des Verfassungsstaates einiges einfallen lassen muß. Doch ist auch eine "Aktivbilanz" denkbar: i.S. eines Wettbewerbs zwischen den Staaten in bezug auf die bedingt auswechselbaren und übertragbaren Elemente ihrer Verfassungsstaatlichkeit auf dem Weg zu einem optimalen "Modell" von kooperativer Verfassungsstaatlichkeit.
4. Elemente einer Bestandsaufnahme Mit der Fortentwicklung und Perfektionierung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln rund um den Erdball bzw. dem "Näherrücken" der Staaten (und Menschen) zueinander werden die insbesondere ökonomischen (und ökologischen) Ungleichgewichte zwischen ihnen zunehmend sichtbar. Dem tatsächlich noch immer wachsenden Abstand zwischen reichen und armen Ländern ("widening gap") 4 8 8 steht die immer wieder vertretene Forderung der Entwicklungsländer nach einem internationalen wirtschaftlichen Ausgleich in einer neuen Weltwirtschaftsordnung gegenüber. Verstärkte Kooperation zwischen den Staaten im beschriebenen Sinne ist die einzige Alternative zu einer sonst unausweichlichen Konfrontation angesichts dieses Widerstreits. Tendenzen, die dieser Notwendigkeit Rechnung tragen, sind sowohl in der Entwicklung des Völkerrechts als auch in der Entwicklung des Verfassungsrechts vieler Staaten nachweisbar. Die Erkenntnis der sozialen Verantwortung der Staaten nach innen und außen steht im Mittelpunkt eines in Ansätzen bereits vollzogenen grundlegenden Wandels im (rechtlichen) Verhältnis der Staaten zueinander 489 .
487 Zu ihm M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 81 ff. Zu diesem Dilemma mein erwähnter Besprechungsaufsatz in AöR 102 (1977), S. 284 (288, 296 Anm. 54). 488 Vgl. dazu E.-U. Petersmann, Zur Inkongruenz zwischen völkerrechtlicher und tatsächlicher Weltwirtschaftsordnung, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 5 ff. 489 Beispiel ist der "Erdgipfel" von Rio, die UN-Konferenz von 1992 über Umwelt und Entwicklung, dazu zuletzt A. Rest, Die rechtliche Umsetzung der Rio-Vorgaben in der Staatenpraxis, AVR 34 (1996), S. 145 ff.
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a) Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht: Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft (1) Die Organisation der Staatengemeinschaft Schon in der Völkerbundsatzung (1919) 490 , der "Verfassung" der ersten umfassenden politischen Organisation der Staatengemeinschaft 491, wird von der "Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen" gesprochen. Sie gilt neben der "Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit" als Ziel des Völkerbundes. Die in der Präambel dieser Satzung wie auch in den 26 Artikeln angegebenen Mittel zur Verwirklichung dieses Friedenszieles aber sind die typischen Verpflichtungen einer als Koordinationsrecht verstandenen Völkerrechtsordnung (Abrüstung, Besitzschutz, Kriegsverbot und friedliche Streiterledigung) 492 . Wie die Gründung des Völkerbundes war auch die der Vereinten Nationen (1945) eine Reaktion auf die Erschütterungen und Leiden des vergangenen Krieges. Anders als in der Satzung des Völkerbundes wird jedoch in der Charta der Vereinten Nationen die Zusammenarbeit zwischen den Völkern nicht als Ziel sondern als Mittel angegeben, "um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen" (Art. 1 Abs. 3 Charta der V N ) 4 9 3 . So bekräftigt auch die Präambel der Charta die Entschlossenheit der Gründerstaaten der Vereinten Nationen, "internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern". Ausdrücklich 490 Abgedr. in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht, Dokumentensammlung Bd. 1, Friedensrecht, 1967, S. 1 ff. 491 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 77 f.; s. auch A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, und ders., Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 21: "Eine völkerrechtliche Verfassungsurkunde bildet erst die Satzung des Völkerbundes, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Satzung der Vereinten Nationen ersetzt wurde." Zum Thema "Verfassungselemente der Völkerrechtsgemeinschaft" s. auch H. Mosler, ZaöRV 36 (1976), S. 31 ff. 492 O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 68 f. spricht schon hier (insbes. wegen Art. II der Satzung) von einer epochalen Wendung: "Damit war der Grundpfeiler des klassischen Völkerrechts, nämlich die Souveränität und das aus ihr fließende Recht der souveränen Staaten zum Krieg (ius ad bellum) zum Einsturz gebracht worden". Der Übergang vom partiellen zum generellen Kriegsverbot erfolgte durch den "Briand-Kellogg-Pakt" vom 27. August 1928 (Berber, aaO., Bd. 2, S. 1674 ff.). 493 Abgedr. in F. Berber, aaO., S. 13 ff. Zur Bedeutung des Menschenrechtsschutzes und der Zusammenarbeit als Mittel der Friedenssicherung vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 83 f. (3. Aufl. 1984, S. 820 ff.).
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
wird in Art. 13 die Generalversammlung mit der Durchführung von Untersuchungen und der Abgabe von Empfehlungen beauftragt, M a) um die internationale Zusammenarbeit auf politischem Gebiet zu fördern und die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung zu begünstigen;
b) um die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Kultur, der Erziehung und der Gesundheit zu fördern und zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion beizutragen". Daß die Charta der Vereinten Nationen, anders als die Satzung des Völkerbundes, in der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zwischen den Staaten ein Kernelement der Friedenssicherung sieht 494 , ist vor allem Art. 55 zu entnehmen: "Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, fördern die Vereinten Nationen a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg, b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung, c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion". Die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Kooperation zwischen den Staaten gewinnt in der Arbeit der Vereinten Nationen zunehmend an Gewicht 4 9 5 . Betrachtet man die Satzung des Völkerbundes ebenso wie die Charta der Vereinten Nationen mit A. Verdross 496 als völkerrechtliche Verfassungsurkunden, so wird die Gewichtsverlagerung von H. Mosler zutreffend damit beschrieben, daß der "allgemeinen Friedenspflicht" als materiellem Verfassungselement der Völkerrechtsordnung die "Kooperationspflicht" hinzuzu-
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Zur Wandlung des Friedensbegriffs in der UNO gegenüber dem Völkerbund vgl. auch E.-U. Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 30 f. 495 Vgl. U. Scheuner, Aufgaben und Strukturwandlungen in den UN, in: W. Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 209. 496 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 21.
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fügen sei 497 . Die umfassende Rechtsetzungstätigkeit der Vereinten Nationen durch Kodifikationen 498 , Deklarationen und Resolutionen 499 zur Schaffung formaler Voraussetzungen (Wiener Vertragsrechtskonvention (1969), Wiener diplomatische Konvention (1961)) 500 sowie zur Festlegung materieller Verhaltenspflichten und Zielbestimmungen der internationalen Kooperation 501 zeigen, daß sie ihre Verpflichtungen aus der Charta ernst nehmen. Die in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen proklamierte Entschlossenheit der Staaten, "unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen", gewinnt durch die Deklarationen und Pakte zum kollektiven Schutz der Menschenrechte 502 sowie durch die Bemühungen um internationale wirtschaftliche und
497 H. Mosler, Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 36 (1976), S. 33; ähnlich O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 196: "Neben dem Gewaltverbot ist es die Pflicht der Staaten zur internationalen Zusammenarbeit, die das 'neue Völkerrecht' kennzeichnet und vom klassischen Völkerrecht abhebt". S. auch H. Mosler, Festrede, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1976 (1977), S. 77 ff. 498 Vgl. insbes. zum Kodifikationsverfahren: W.K. Geck, Völkerrechtliche Verträge und Kodifikationen, ZaöRV 36 (1976), S. 96 (108 ff.) m. N. 499 Vgl. die Beispiele bei A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 329 ff. (m.N.) unter der Fragestellung ihrer Rechtsquelleneigenschaft im Völkerrecht; s. auch JA. Frowein, Der Beitrag der internationalen Organisationen zur Entwicklung des Völkerrechts, ZaöRV 36 (1976), S. 147 (149 ff.). 500 Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, dazu: A. Verdross/B. Simma (Anm. 498), S. 345 ff- Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18.April 1961 (BGBl. 1964 II 958, abgedr. in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. I, S. 865 ff), ist am 24. April 1964 in Kraft getreten. S. auch W. Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, S. 74 ff. 501 Vgl. etwa die Deklaration der Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten ("Declaration on principles of international law concerning friendly relations and cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations") vom 24. Oktober 1970, dazu: J.A. Frowein , EA 1973, S. 70 ff.; Graf zu Dohna, Die Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, 1973. S. auch die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten vom 12. Dez. 1974, wiedergegeben in: Die Friedenswarte 59 (1976), S. 71 ff, dazu: C. Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, in: ZaöRV 36 (1976), S. 444 ff. 502 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (in: Berber, aaO., S. 917 ff); Internationaler Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte, in Kraft seit 23. März 1976, einschließlich des Fakultativprotokolls, BGBl. 1973 II, S. 1534; vgl. dazu: B. Meißner, Die Menschenrechtsbeschwerde vor den Vereinten Nationen, 1976; C. Tomuschat, Vereinte Nationen 1976, S. 166 ff; H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, 1973.
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soziale Solidarität 503 klarere Konturen. Die Menschenrechtsfrage wird zur internationalen Angelegenheit (so wie die internationalen Menschenrechte national rezipiert werden). (2) Regionale Formen intensivierter Kooperation Weiter als auf universeller Völkerrechtsebene ist die Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft auf regionaler Ebene fortgeschritten. Abgesehen von den Regionalen Organisationen und Systemen kollektiver Sicherheit nach Kap. V I I I der Charta der Vereinten Nationen, etwa der OAS, der WEU, der N A T O 5 0 4 , gilt dies besonders für die Europäische Gemeinschaft, deren "Verfassung" 505 die Verträge von Paris und Rom sind 506 . Ein partieller Souveränitätsverzicht 507 zugunsten der "Gemeinschaftsgewalt" der EG in Verbindung mit der in Art. 5 EGV verankerten grundlegenden Solidaritätspflicht der Mitgliedstaaten war und ist Voraussetzung für die Verwirklichung der Vertragszie503
Vgl. etwa die Deklaration über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung vom 1. Mai 1974, UN. Doc. GA Res. 3201 (S-VI) vom 9. Mai 1974; vgl. dazu K. Ipsen, Entwicklung zur "Collective economic security" im Rahmen der Vereinten Nationen? in: W. Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 11 ff. 504 Vgl. dazu: R. Pernice , Die Sicherung des Weltfriedens durch Regionale Organisationen und die Vereinten Nationen, 1972, insbes. S. 42 ff. 505 Η P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 64 ff.; vgl. BVerfGE 22, 296: "Der E WG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar". S. auch J. Wuermeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht. Die Rechtsakte der Mitgliedstaaten, insbesondere die Gemeinschaftskonventionen nach Art. 220 EWGV, 1988. Zur Diskussion heute vgl. Roland Bieber, Steigerungsform der europäischen Union: Eine Europäische Verfassung, in: Jörn Ipsen/Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel 1995, S. 291 ff.; D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff; J. Habermas, Remarks on Dieter Grimm's Does Europe need a Constitution?, European Law Journal 1 (1995), S. 303 ff.; S. Oeter , Souveränität und Demokratie als Problem in der "Verfassungsentwicklung" der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 659 ff.; G.C. Rodriguez Iglesias, Zur "Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996, S. 125 ff. 506 EGKS-Vertrag vom 18. April 1951, in: Berber, aaO., S. 391 ff.; EWG-Vertrag vom 25. März 1957, ebd., S. 441; EAG-Vertrag vom 25.März 1957, ebd., S. 519; Fusionsvertrag für die drei Gemeinschaften (Vertrag über die Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften) vom 8. April 1965, ebd., S. 656. Von "Kooperationsverfassung" der EU spricht jüngst A. Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 184 ff. 507 Zu den entsprechenden Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten s. unten; s. auch L. Wildhaber, Treaty-Making-Power and Constitution, 1971, S. 384 ff. Vgl. zuletzt: H Lübbe, Geteilte Souveränität. Die Transformation des Staates in der europäischen Einigung, FS Lobkowitz, 1996, S. 269 ff.
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le, insbesondere der Wirtschaftsintegration, der Regional- 508 und der Sozialpolitik durch unabhängige rechtsetzende und rechtsprechende Organe. Die Herstellung unmittelbarer Legitimation der Gemeinschaftsorgane durch ein direkt gewähltes europäisches Parlament 509 dürfte das Dogma der nationalen Souveränität Schritt für Schritt zugunsten einer sachlich begründbaren Aufgabenverteilung zwischen Staat und übernationaler Organisation zurücktreten lassen. Die Annahme einer neuen "europäischen" Identität 510 bahnt der Ausübung "sozialer Verantwortung" reicher Regionen gegenüber ärmeren und der allgemeinen Hebung des Lebensstandards 511 den Weg. Integration als Steigerungsform der Kooperation kann damit als Perspektive auch internationaler 512
Kooperationsbestrebungen angesehen werden . Der "Staatenverbund" der EU (BVerfG), besser: der "Verfassungsverbund" der EU (I. Pernice) hat heute die Kooperation zur dichteren Integration geführt. Die europäische Integration nahm ihren Anfang bereits mit der Gründung des Europarats (1949). Seine Satzung 513 wurde in der Überzeugung angenom-
508 Vgl. hierzu etwa den ersten Jahresbericht des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (1975), Bull. EG Beil. 7/76. 509 S. dazu etwa: Bangemann/Bieber, Die Direktwahl - Sackgasse oder Chance für Europa? Analysen und Dokumente, 1976; T. Oppermann, Juristische Fortschritte durch die europäische Integration, in: Tradition und Fortschritt, Festschrift zum 500-jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 426 ff. 510 Vgl. die Erklärung der Präsidentschaft am Schluß der Gipfelkonferenz der EG von Kopenhagen (Dez. 1973), Bull. EG Beil. 12/1973, S. 9 ff.: "Die neun Länder bekräftigen ihren gemeinsamen Willen, dafür Sorge zu tragen, daß Europa in den wichtigen Angelegenheiten der Welt mit einer Stimme spricht. Sie haben die Erklärung über die europäische Identität verabschiedet, die in dynamischer Perspektive die Grundsätze für ihr Handeln näher bestimmt". Vgl. auch E. Grabitz, Der Verfassungsstaat in der Gemeinschaft, DVB1. 1977, S. 786 (791): "Die direkte Wahl des Europäischen Parlaments wird wesentliche Konstitutionsbedingungen dessen hervorbringen, was in den Europäischen Gemeinschaften noch nicht existiert - eine europäische Nation". Bericht von Leo Tindemans über die Europäische Union, Bull. EG Beil. 1/76, S. 11 ff.- Vgl. jetzt Art. 128 Abs. 2 EGV "Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung". Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal (1976/92): "europäische Identität". 511 Vgl. Art. 2 EWGV sowie Abs. 5 der Präambel: "In dem Bestreben, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern ...". 512 Vgl. dazu auch das Stichwort bei T. Oppermann, Juristische Fortschritte..., aaO., S. 427: "Über die Vereinigten Staaten von Europa auf dem Wege zum künftigen Weltstaat der Vereinten Nationen", und seinen Hinweis auf eine mögliche Übertragbarkeit des Ansatzes des EUGH zum europäischen Grundrechtsschutz auf einen internationalen Menschenrechtsschutz über Art. 38c des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (S. 431). 5,3 Wiedergegeben in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 357 ff. 16 Häberle
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men, "daß die Festigung des Friedens auf den Grundlagen der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation von lebenswichtigem Interesse ist". Neben der Verwirklichung der Werte der persönlichen und politischen Freiheit der Demokratie stehen nach der Präambel sowie nach Art. 1 der Satzung des Europarats die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts im Vordergrund. Nach Art. 1 b erfüllt der Rat seine Aufgaben "durch Beratung von Fragen von gemeinsamem Interesse, durch den Abschluß von Abkommen und durch gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechts und der Verwaltung sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" 514 . Mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 515 und der Errichtung der Europäischen Kommission 5 1 6 bzw. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 517 wird den Angehörigen der Unterzeichnerstaaten unmittelbarer Grundrechtsschutz durch eine übernationale Instanz eingeräumt 518 . Für die Kodifizierung sozialer Rechte richtungsweisend ist die Europäische Sozialcharta mit einem besonderen, kooperativen Kontrollverfahren 519 .
514 Zu den zahlreichen, auf Betreiben des Europarats zustandegekommenen Verträgen und Konventionen vgl. Council of Europe: Conventions and agreements concluded within the Council of Europe and which concern the European Committee on Legal cooperation, 1974; s. darüber hinaus auch Lenz, Die unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit der Europaratskonventionen unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts, 1971. 515 Wiedergegeben in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 955.- S. im übrigen auch: K.J. Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. I 1 (1966), S. 235 ff; M.E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1993. 516 Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom 1./5. August 1960, in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 975 ff. 517 Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1./5. Aug. 1960, in: ebd., S. 993 ff. Dazu zuletzt J.A. Frowein/W. Peukert, EMRKKommentar, 2. Aufl. 1996, S. 938 ff.; Jens Meyer-Ladewig, Die Zukunft des europäischen Menschenrechtsschutzsystems, EuGRZ 1996, S. 374 ff, unter besonderer Berücksichtigung des 11. Protokolls zur EMRK über die Neuorganisation des Gerichtshofs und seiner Zuständigkeit. 518 Vgl. etwa: Kersten Rogge, Der Rechtsschutz der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 1975, S. 117 ff. und den Überblick von A.H. Robertson, Die Menschenrechte in der Praxis des Europarats, 1972. 519 Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961, in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 1270 ff; vgl. auch den Diskussionsbeitrag von H.F. Zacher, VVDStRL 30 (1972), S. 151 (153) sowie vom Verf. ebd., S. 187.
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Speziell der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Staaten unter Einbeziehung auch einiger außereuropäischer Staaten wie der USA und Japans gewidmet ist das Übereinkommen über die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 1960. Diese Organisation wurde nach der Präambel unter anderem "in der Überzeugung (sc.: gegründet), daß eine umfassendere Zusammenarbeit entscheidend zur Förderung friedlicher und harmonischer Beziehungen zwischen den Völkern der Welt beitragen wird" und "daß die wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Nationen zusammenarbeiten müssen, um die Entwicklungsländer nach besten Kräften zu unterstützen" 520 . Eine Sonderstellung unter den Formen verstärkter, jedoch regional begrenzter Kooperation nimmt die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 (KSZE, heute OSZE) ein 5 2 1 . Entscheidend ist hier nicht so sehr die Rechtsform und mögliche völkerrechtliche 522
Verbindlichkeit der Erklärungen , sondern die durch diese Akte veranschaulichte innere Beziehung zwischen militärischer und allgemeiner Sicherheit und verstärkter Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozialem, wissenschaftlichem, technischem, kulturellem usw. Gebiet. Die Schlußakte, an der auch die osteuropäischen Staaten beteiligt waren, dokumentiert mit ihren Grundsatzund Absichtserklärungen ein für die Weiterentwicklung des Völkerrechts und des internationalen Menschenrechtsschutzes wesentliches Kooperationsbewußtsein der Staaten. Seit "1989" hat es sich vertieft. Auf amerikanischem Boden zu nennen ist insbesondere die "Organization of American States" (OAS), deren revidierte Charta von 1970 Ansätze zu einem dem Grundrechtsschutz durch den Europarat ähnlichen System enthält 523 . Teils
520 Organization of Economic Cooperation and Development, in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 650 ff. (Hervorhebung vom Verf.). 521 Wiedergegeben in: Archiv des Völkerrechts 1977, S. 84 ff. Vgl. jetzt H. Tretter, Von der KSZE zur OSZE, EuGRZ 1995, S. 296 ff. 522 Vgl. dazu: T. Schweisfurth, Zur Frage der Rechtsnatur, Verbindlichkeit und völkerrechtlichen Relevanz der KSZE-Schlußakte, in: ZaöRV 36 (1976), S. 681 ff; J. Delbrück, Die völkerrechtliche Bedeutung der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Bernhardt/v. Münch/Rudolf (Hrsg.), Drittes deutsch-polnisches Juristen-Kolloquium, 1977, S. 31 ff; dazu D. Blumenwitz, in: Die KSZE und die Menschenrechte, 1977, S. 53 ff. Zur neueren Entwicklung: E. Decaux, La CSCE au lendemain du Conseil de Rome: un bilan de la transition institutionnelle, EJIL 5 (1994), S. 267 ff. 523 Vgl. dazu: T. Buergenthal , The revised OAS Charter and the protection of human rights, in: AJIL 69 (1975), S. 828 ff.; ders., Implementation of the Inter-American Human Rights System, in: R. Bernhardt/J.A. Jolowicz (Hrsg.), International Enforcement of Human Rights, 1987, S. 57 ff. ; M.E. Tardu , The protocol to the United Nations
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den europäischen Gemeinschaften, teils der EFTA nachgebildet, tragen auch die auf außereuropäischem Raum gegründeten Organisationen zur - vorwiegend - wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Staaten zur weiteren Verbreitung des Kooperationsgedankens bei. Beispiele sind in Lateinamerika der durch den Vertrag von Managua gegründete zentralamerikanische gemeinsame Markt (1960), die lateinamerikanische Freihandelszone (1960), der mit dem Vertrag von Bogotà vereinbarte gemeinsame Markt der Andenländer 524 , jetzt der "Gemeinsame Markt in Südamerika" (MERCOSUR) 525 , die karibische Freihandelszone, der ostkaribische gemeinsame Markt, der 1966 gegründete asiatische und pazifische Rat sowie die "Regional Cooperation for Development" von 1964 zwischen Iran, Pakistan und der Türkei 526 , aber auch die Gemeinschaft der südost-asiatischen Staaten (ASEAN) 5 2 7 und die seit 1989 bestehende, 1992 institutionell verfestigte asiatisch-pazifische Wirtschaftskooperation (APEC). Gleiches gilt für die "NAFTA" in Amerika (1995) zwischen den USA, Kanada und Mexiko. (3) Ansatzpunkte eines "humanitären" und "sozialen" Völkerrechts und weltweit für das seit 1994 in der WTO institutionalisierte Welthandelssystem528 Der Schutz der Menschenrechte, eines der wesentlichen Ziele der Vereinten Nationen, wurde bereits 1948 durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekräftigt und konkretisiert 529 . Art. 22 dieser Erklärung dokumentiert die
Covenant on civil and political rights and the inter-American system: A study of coexisting petition-procedures, in: AJIL 70 (1976), S. 778 ff. 524 Vgl. die Übersicht zu den Integrationsprojekten in Lateinamerika 1960 - 1990 bei R.O. Dichiara , Wirtschaftsintegration in Lateinamerika: Der MERCOSUR, Integration, 1994, S. 234 f. 525 Dazu auch unten Sechster Teil XIII. 526 Vgl. zu diesen Organisationen den Überblick bei E.-U. Petersmann, Wirtschaftsintegrationsrecht und Investitionsgesetzgebung der Entwicklungsländer, 1974, S. 55 - 87. 527 Gegründet im August 1967 durch die Unterzeichnung der Bangkok-Erklärung, jüngst um Burma erweitert (1997). 528 Vgl. etwa E.-U. Petersmann, The Transformation of the World Trading System through the 1994 Agreement Establishing the World Trade Organization, EJIL 6 (1995), S. 161 ff. 529 Text in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 917 ff.; vgl. auch W. Schaumann, Der völkerrechtliche Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte in seiner Verwirklichung durch die Vereinten Nationen, JIR 13 (1967), S. 133 ff. Zur "intervention d'humanité" s. Perez-Vera, in: La protection internationale des droits de l'homme, 1977, S. 7 ff.; aus neuerer Zeit: R.B. Lillich, Humanitarian Intervention through the United Nations: Towards the Development of Criteria, ZaöRV 53 (1993), S. 557 ff.; N.S. Rod-
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Abhängigkeit der Verwirklichung der Menschenrechte von den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihrer Ausübbarkeit und damit von der internationalen Kooperation: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jeden Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen." Rechtliche Verbindlichkeit erhält der internationale Menschenrechtsschutz jedoch erst in den 1976 in Kraft getretenen internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte bzw. über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen von 1966. Ein international besetzter Ausschuß für Menschenrechte sowie eine Kommission sind dazu bestimmt, die jährlich von den Unterzeichnerstaaten vorgelegten Berichte zu überprüfen und, soweit sie sich dem unterworfen haben, selbst Staatenbeschwerden und Individualbeschwerden entgegenzunehmen530. Seine Tätigkeit wird in der Weltöffentlichkeit zunehmend beachtet. Diese Verlagerung des Schwerpunkts der Arbeit der UNO von der Aufrechterhaltung eines bloßen negativen Friedens (i.S. der Abwesenheit von militärischer Gewalt) auf die Schaffung einer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Infrastruktur für einen "positiven Frieden" durch größere soziale Gerechtigkeit 531 führt die völkerrechtliche Entwicklung hin zu einem Kooperationsrecht im materiellen Sinne 532 . So heißt es in der am 24. Oktober 1970 von der Generalversammlung verabschiedeten Erklärung zu den Grundprinzi-
ley (Hrsg.), To Loose the Bands of Wichedness: International Intervention in Defence of Human Rights, 1992; C. Greenwood , Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, Europa-Archiv 48 (1993), S. 93 ff. 530 Dazu im einzelnen: B. Meißner, Die Menschenrechtsbeschwerde vor den Vereinten Nationen, 1976; Marc-André Eissen, Convention européenne des Droits de l'Homme et Pacte des Nations Unis relatif aux droits civils et politiques: problèmes de "coexistence", ZaöRV 30 (1970), S. 236 ff. und 646 ff.; M.E. Tardu, The protocol to the United Nations Covenant on civil and political rights and the Inter-American System: A study of co-existing petition-procedures, AJIL 70 (1976), S. 778 ff. 531 Vgl. C. Tomuschat , aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 459 f.; E.-U. Petersmann, Zur Inkongruenz zwischen völkerrechtlicher und tatsächlicher Weltwirtschaftsordnung, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 30 ff.; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 196 ff. 532 Vgl. U. Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht..., aaO., S. 55; für ihn erscheinen die Verträge, in denen sich die Staaten zu wirtschaftlicher Kooperation zusammenschließen, "insgesamt als ein Ausdruck kooperativer internationaler Gesinnung und Aktivität, in der die nationale Vereinzelung zugunsten einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit überwunden wird". S. jetzt A. Bleckmann, aaO., bes. S. 915 ff.
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pien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, daß Staaten ungeachtet ihrer Unterschiede im politischen, wirtschaftlichen und sozialen System zur Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen der internationalen Beziehungen verpflichtet sind, um den internationalen Frieden und die Sicherheit zu erhalten, wirtschaftliche Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben, ebenso wie die allgemeine Wohlfahrt der Staaten und die internationale Zusammenarbeit, frei von jeder Diskriminierung, die auf solchen Unterschieden beruht 533 . War die internationale Wirtschaftsordnung zunächst von klassisch-liberalen Ordnungsideen geprägt und die Zusammenarbeit der Staaten von Institutionen und Organisationen wie der Weltbank 534 , dem internationalen Währungsfonds 535 sowie dem G A T T 5 3 6 repräsentiert, so zeichnet sich mit der Schlußakte der ersten Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD I ) 5 3 7 in Genf eine grundlegende Wende von der liberalen zu einer sozialen Ordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ab 538 . Die hier erhobenen Forderungen der Entwicklungsländer an die entwickelten Staaten werden in der Deklaration über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung 539 , in dem Aktionsprogramm über die Errichtung einer
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Declaration on principles of international law concerning friendly relations and co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, Text in: Graf zu Dohna, Die Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, 1973, S. 267 ff. (273). 534 Vgl. das Abkommen über die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vom 27. Dezember 1945 (BGBl. 1952 II 664), in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 132 ff. 535 Abkommen über den Internationalen Währungsfonds vom 27. Dezember 1945 (BGBl. 1952 II, 638), in: ebd., S. 161 ff-, dessen Ziel es nach Art. 1 (i) u.a. ist, "die internationale Zusammenarbeit (!) auf dem Gebiet der Währungspolitik durch eine ständige Einrichtung zu fördern, die als Apparat für Beratungen und die Zusammenarbeit bei internationalen Währungsproblemen zur Verfügung steht". 536 Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT) vom 30. Oktober 1947 (BGBl. Anlage I 1951, S. 4), in: F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht..., aaO., S. 1182 ff. 537 Schlußakte der I. Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD I) in Genf vom 16. Juni 1964, in: Die Friedenswarte 59 (1976), S. 65 ff. (auszugsweise). 538 Vgl. U.K. Rüge, Der Beitrag von UNCTAD zur Herausbildung des Entwicklungsvölkerrechts, 1976. 539 Zur auf der 6. Sondertagung der Generalversammlung (Weltrohstoffkonferenz) durch Akklamation angenommenen "Declaration of a New International Economic Order" vom 1. Mai 1974 (GA Res. 3201 (S - VI), dt. übers, in: Deutsche Außenpolitik 1974, S. 1255 ff.) sowie zum Bericht des UN Generalsekretärs zur "Collective economic security" vom 5. Juni 1974 (UN Doc. E/5529) vgl. K. Ipsen, Entwicklung zur „Collectiv economic security...", aaO., S. 12 - 20.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
201
neuen internationalen Wirtschaftsordnung 540 und in der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, verabschiedet durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12. Dezember 1974, präzisiert und verstärkt 541 . Es tritt, mit den Worten U. Scheuners, "das Bestreben hervor, in der Völkergemeinschaft den Gedanken einer internationalen Solidarität der Nationen zur Geltung zu bringen, aus dem sich die Folge eines auf Ausgleich der Situation gerichteten Handelns und sogar Pflichten der Industriestaaten ableiten lassen, durch Gewährung von Präferenzen, finanziellen Beiträgen zur Stabilisierung der Rohstoffpreise und andere Mittel zu einer solchen breiteren Wohlfahrt aller Völker beizutragen. Im Grunde sucht diese Konzeption Gedanken sozialer Gerechtigkeit, wie sie heute innerhalb der nationalen Gemeinschaft vielfach im modernen Wohlfahrtsstaat verwirklicht werden, auf die internationale Ebene zu übertragen" 542 . Die formelle Rechtsqualität dieser Erklärungen der Vereinten Nationen, die in der Regel von den Industriestaaten nicht unterstützt wurden 543 , ist noch ungeklärt 544 . Ob man von einem "pré-droit" 545 oder von einem "soft law" 5 4 6 ausgeht, ob man ihre Verbindlichkeit aus dem allgemeinen Vertrauensprinzip im
540 GA Res. 3202 (S - VI) vom 1. Mai 1974, dt. Übersetzung in: Deutsche Außenpolitik 1974, S. 1238 ff. 541 Vgl. C. Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, ZaöRV 36 (1976), S. 460: "Die Charta sollte als ergänzender Rechtsakt die Völkerrechtsgemeinschaft endgültig als Solidargemeinschaft konstituieren". 542 U. Scheuner, Aufgaben und Strukturwandlungen im Aufbau der Vereinten Nationen, in: Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 189 ff. (210 f.); ähnl. C. Tomuschat, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 48: "Im Grunde ist es das Sozialstaatsprinzip, das nun auch auf Weltebene in den Vordergrund drängt"; ders., aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 460. 543 Zum Abstimmungsverhalten vgl. z.B. C. Tomuschat, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 444 f.; s. auch die knappe Zusammenstellung bei H.J. Hett, Vereinte Nationen: Wirtschaftliche Rechte und Pflichten der Staaten, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 63 ff; J.A. Frowein, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 162 f. 544 Vgl. allgemein dazu: E.-U. Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 7 f. m.N; ausfuhrl.: C. Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 460 ff; J.A. Frowein, ZaöRV 36 (1976), S. 149 ff., 161 ff. 545 So etwa Claude-Albert Virally, in: Pays en voie de développement et transformation du droit international, Société Française pour le Droit International, Colloque d'Aix en Provence, 1974; s. auch ders., Résolutions et recommandations dans le processus décisionnel de l'Assemblée Générale et du Conseil économique et social, in: Les résolutions dans la formation du droit international du développement, 1971, S. 59 ff.; ebenso: Colliard, Institutions et relations internationales (6. Aufl.), 1974, S. 276. 546 R. Schmidt, aaO., VVDStRL 36 (1978), LS 18; in bezug auf die KSZE-Schlußakte vgl. auch C. Tomuschat, ebd., LS 8 a) aa). S. noch K. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 221 f; W. Graf Vitzthum, aaO.. S. 14 f., 45.
202
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
Völkerrecht 547 herleitet oder aber gänzlich verneint 548 , kann an ihrer Leitbildfunktion bzw. ihrem Appellcharakter für die künftige Entwicklung des Völkerrechts insbesondere des Vertragsvölkerrechts als "Kooperationsvehikel" nichts ändern 549 . Die Tatsache, daß sie als Grundsatzerklärung einer überwältigenden Mehrheit der in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten gemeinsam erarbeitet und verabschiedet wurden, kann auch von den Industriestaaten, selbst wenn sie Vorbehalte angemeldet haben, nicht als rechtlich irrelevant abgetan werden. Allein die Einseitigkeit der hier proklamierten Interessen 550, die Unausgewogenheit der bezeichneten Rechte und Pflichten der Staaten, die fehlende "Einsicht in die notwendige Gegenseitigkeit einer geforderten Solidarität" (U. Scheuner) 551 hindert es, die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten bereits als "Verfassung der 'neuen' Weltwirtschaft" zu bezeichnen: "Die gegenwärtige Situation der faktischen Ungleichheit darf... kein Anlaß sein, ein neues Völkerrecht der Ungleichheit ausschließlich zu Lasten der Industriestaaten zu entwickeln" (C. Tomuschat) 552 . Unklar bleibt auch, wie sich der Appell an die Solidarität und "soziale Verantwortung" 553 der Industriestaaten mit dem gerade auch von den Entwicklungsländern unablässig bekräftigten Prinzip der "souveränen Gleichheit der Staaten" 554 verträgt. Diese
547
Im Anschluß an die Ergebnisse der Untersuchung von J.P. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, 1971, in diesem Sinne etwa J.A. Frowein, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 154 ff.; s. auch C. Tomuschat, aaO., S. 479 f. m. N. 548 So wohl O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 172 f. (s. aber auch ders. 5. Aufl. 1993, S. 251 ff.); A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 329 ff. (3. Aufl. 1984, S. 419 ff.); U. Scheuner, Aufgaben- und Strukturwandlungen in den UN, in: W. Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 211. 549 Hierüber besteht bei den soeben zitierten Autoren weitgehend Einigkeit (vgl. oben). 550 Dazu ausf.: E.-U. Petersmann, Die Dritte Welt und das Wirtschaftsvölkerrecht, "Entwicklungsland" als privilegierter Rechtsstatus, ZaöRV 36 (1976), S. 492 ff. (auch 536 ff.). Zum Typus "Entwicklungsland" Vierter Teil I Inkurs I. 551 U Scheuner, Aufgaben und Strukturwandlungen..., aaO., S. 211. 552 C. Tomuschat, aaO, ZaöRV 36 (1976), S. 490. 553 Vgl. etwa Art. 6 S. 2 und 7 S. 1,2 sowie Art. 9 der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, abgedr. in: Die Friedenswarte 59 (1976), S. 76 f.; Art. 9 lautet: "All States have the responsibility to cooperate in the economic, social, cultural, scientific and technological fields for the promotion of economic and social progress throughout the world, especially that of the developing countries". 554 Nach der Ansicht von E.-U. Petersmann, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 537, "fordern die Entwicklungsländer eine materielle Auffüllung der völkerrechtlichen Souveränitäts- und Gleichheitsgrundsätze in den Nord-Süd-Beziehungen und interpretieren den Souveränitätsgrundsatz häufig nicht allein als Rechtsgrundlage für Freiheits-, Schutz- und Abwehrrechte, sondern zugleich für Teilhaberechte (z.B. an der multilatera-
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
203
Verantwortung ohne Befugnis läuft auf Funktionen des blinden Zahlmeisters hinaus und hat mit den humanitären Zielen sozialer Kooperation nur wenig zu tun 5 5 5 . Trotz dieser Vorbehalte setzen die genannten Deklarationen und Resolutionen wesentliche Akzente für die Entwicklung eines sozialen Kooperations-Völkerrechts, in dem das Prinzip der "kollektiven wirtschaftlichen Sicherheit" 556 zugleich Handlungsnorm und Mittel für die Verwirklichung der Menschenrechte der gesamten Weltbevölkerung ist. Der Übergang von bilateraler zu multilateraler Entwicklungshilfe, sei es durch regionale Organisationen, wie die E G 5 5 7 (jetzt EU), sei es über einen Entwicklungsfonds der Vereinten 558
Nationen , ermöglicht eine von den einzelstaatlichen wirtschaftlichen Interessen unabhängigere und damit gerechtere Verteilung der Hilfsleistungen auf die verschiedenen Gruppen von Entwicklungsländern, insbesondere dann, wenn auch die Empfängerstaaten mit an der Formulierung der Entwicklungsprogramme beteiligt sind. Die zeitweilige Konfrontation der Entwicklungsländer mit den Industriestaaten um die "Neue Weltwirtschaftsordnung" fand in diesem Sinne auf dem Erdgipfel von Rio im Juni 1992 ihr Ende: Das Stichwort "global partnership" ist jetzt Symbol einer weltweiten Zusammenarbeit für umweltgerechte Entwicklung entsprechend den Prinzipien der Rio-Erklärung und dem in der "Agenda 21" festgelegten Programm 559 . Die bei der UNO neu len UN-Entwicklungshilfe) und für ein droit au développement und präferenzielles Entwicklungsvölkerrecht (droit du développement)". 555 Zum Problem: Flory , Souveraineté des Etats et coopération pour le développement, RdC 1974, S. 255 ff. 556 Von Brasilien eingeführter und zum Leitprinzip der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten erhobener Gedanke (vgl. C. Tomuschat, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 456 m.N). Vgl. dazu den Bericht des damaligen UN-Generalsekretärs vor dem Wirtschafts- und Sozialrat auf dessen 57. Tagung am 6. Juni 1974 (UN Doc. E 5529) und Κ Ipsen, Entwicklung zur „Collective economic security"..., aaO., S. 11 ff. 557 Vgl. dazu die neuen Vorschriften im EGV über die Entwicklungszusammenarbeit, Art. 130 u bis 130 y. 558 Zum "United Nations Development Program" (UNDP) und zur "United Nations Industrial Development Organization" (UNIDO) vgl. die Nachw. bei O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 5. Aufl. 1993, S. 196 f.; s. auch Morse, Zur Rolle des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen - Sieben Charakteristika der multilateralen Hilfe, in: Vereinte Nationen 1977, S. 104 ff. 559 Vgl. den Bericht der Bundesregierung über die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, hrsgg. vom Bundesumweltminister, 1993, sowie die ebd. dazu veröffentlichten Dokumentenbände "Dokumente: Agenda 21" und "Dokumente - Klimakonvention, Konvention über die biologische Vielfalt, Rio-Deklaration, Walderklärung", 1993. Zusammenfassend H. Hohmann, Ergebnisse des Erdgipfels in Rio, NVwZ 1993, S. 311 ff; R. Wägenbaur, Rückblick auf Rio-Bilanz der UNCED, EuZW 1992, S. 490 ff.; U. Beyerlin, Rio-Konferenz 1992:
204
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
eingerichtete Kommission für umweltgerechte Entwicklung soll die Implementation des Programms koordinieren und überwachen 560 . b) Staatsübergreifende Kooperation von privater Hand: Die internationale Gesellschaft Internationale Zusammenarbeit beschränkt sich nicht nur auf die Kooperation von Staaten. Verbesserte Verkehrs- und Kommunikationsmittel sind auch und gerade auf gesellschaftlicher Ebene Ursachen der Überwindung nationaler Grenzen und der Konstituierung der internationalen Gesellschaft 561. Der kooperative Verfassungsstaat hat sich der Herausforderung internationaler Kooperation auch von privater "gesellschaftlicher" Ebene zu stellen. Die Überlagerung (und gelegentlich auch Kompromittierung) staatlicher Entwicklungs- und Wirtschaftspolitiken durch anders gerichtete Geschäftspolitiken multinationaler Unternehmen 562 kann nur durch die internationale Zusammenarbeit der Staaten sozial eingebunden und auf das Ziel der kollektiven wirtschaftlichen Sicherheit verpflichtet werden. Die Bemühungen um einen "Verhaltenskodex für multinationale Unternehmen" im Rahmen der OECD sind ein erster Ansatz zur Verwirklichung dieses Postulats. Soweit sie zur Übernahme der ihrem Einfluß entsprechenden sozialen Verantwortung auf internationaler Ebene bereit sind, sollten sie als Faktoren privater Wirtschaftsintegration nicht mehr als Störfaktoren des internationalen Wirtschaftslebens be-
Beginn einer neuen globalen Umweltrechtsordnung?, ZaöRV 54 (1994), S. 124 ff; ders., Staatliche Souveränität und internationale Umweltschutzkooperation, FS Bernhardt, 1995, S. 937 ff. 560 Vgl. Kap. 38.11-14 der Agenda 21. 561 Zum Begriff der "Internationalen Gesellschaft" vgl. P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (63); J.H. Kaiser, Art. "Staatslehre", Staatslexikon, 6. Aufl. Bd. VII (1962), Sp. 589 (595). 562 Vgl. dazu: United Nations, Multinational Corporations in World Development, Report by the Dep. of Economic and Social Affairs of the U. N. Secretariat, New York, 1973, ST/ECA/190. Vgl. auch die Mitteilung der Kommission der EG (heute EU) an den Rat über: Die multinationalen Unternehmen und die Gemeinschaft, Bull. EG Beil. 15/73; Feltham/Rauenbusch, Canada and the Multinational Enterprise, in: Hahlo/ Smith/ Wright (Hrsg.), Nationalism and the Multinational Enterprise, 1974, S. 45: "The peculiar characteristic of the multinational enterprise in this world of economic integration is that many such enterprises have achieved transnational integration and coordination in much higher degree than any of thè political organizations". Zum Thema "Völkerrecht und multinationale Unternehmen" s. auch E.-U. Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 16-23. S. auch die OECD-Declaration on International Investment and Multinational Enterprises-Guidelines for Multinationals, in the OECDObserver No. 82/ July/August 1976, S. 9 ff.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
205
kämpft, sondern als Ergänzung staatlicher Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene gefördert werden. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Organisation des Roten Kreuzes, dessen internationales Komitee sogar Völkerrechtssubjektivität besitzt 563 . Unter den übrigen (in den 70er Jahren ca. 2000 564 ) "nichtstaatlichen internationalen Organisationen", die in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens tätig sind, ist besonders hervorzuheben die Organisation der mit dem Friedensnobelpreis von 1977 ausgezeichneten Amnesty International 565 . Ihre Arbeit macht ebenso wie diejenige des Internationalen Roten Kreuzes deutlich, daß humanitäre Aktionen und der effektive Schutz der Menschenrechte weder allein staatliche Aufgaben sind, noch der Kooperation zwischen Staaten überlassen werden können, sondern der Ergänzung, der Mitwirkung und oft auch der - privaten - Initiative aus der internationalen Gesellschaft heraus bedürfen: durch Menschen um der Menschen willen 5 6 6 . "Green Peace", dem in Sachen Umweltschutz jahrelang viel zu verdanken war, hat seit der Affäre "Brent Spar" (1995) freilich an Vertrauen eingebüßt. Nichtstaatliche internationale Organisationen haben auch in der Charta der Vereinten Nationen Anerkennung gefunden. Nach Art. 71 kann der Wirtschafts- und Sozialrat 567
563
Vgl. etwa: W.v. Stare k, Internationale und nationale Rechtsstellung des Roten Kreuzes, JIR 13 (1967), S. 210 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 219 (3. Aufl. 1984, S. 253 f.); Knitel, Le rôle de la Croix-Rouge dans la protection internationale des droits de l'homme, in: La protection internationale des droits de l'homme, Bruxelles 1977, S. 137 ff.; H. Haug , Über die Grundprinzipien des Roten Kreuzes, FS D. Schindler, 1989, S. 241 ff.; B. Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Der Grundsatz der Unabhängigkeit des Roten Kreuzes, FS H. Haug, 1986, S. 241 ff. S. noch Sechster Teil XIII. 564 So O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 125 f. (vgl. aber auch 5. Aufl. 1993, S. 209 ff.); U. Scheuner, Nichtstaatliche Organisationen und Gruppen im soziologischen und rechtlichen Aufbau der heutigen internationalen Ordnung, Jahrbuch des Landesamts für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 1966, S. 584 ff. 565 Vgl. dazu die Dokumentation von Claudius/Stephan, Amnesty International Portrait einer Organisation, 1976; M. Frisé, Die machtlose Schutzmacht der Menschenrechte, FAZ vom 22. Dez. 1977. 566 Vgl. hierzu ansatzweise: H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, 1973, S. 27 ff., 69 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 583 ff. (3. Aufl. 1984, S. 797 ff.). 567 Vgl. H Lauterpacht, International Law and Human Rights, 1973, S. 23 ff.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
"geeignete Abmachungen zwecks Konsultation mit nichtstaatlichen Organisationen treffen, die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit befassen. Solche Abmachungen können mit internationalen Organisationen und, soweit angebracht, nach Konsultation des betreffenden Mitglieds der Vereinten Nationen auch mit nationalen Organisationen getroffen werden". Die Anerkennung und Förderung der Arbeit dieser Organisationen gehört mit zu den Hauptaufgaben des kooperativen Verfassungsstaates, selbst wenn oder gerade weil hiermit die Introvertiertheit nationalen Souveränitätsdenkens in Frage gestellt wird.
5. Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat In dem Maße, wie aus der völkerrechtlichen Perspektive die Kooperation zwischen den Staaten an die Stelle der bloßen Koordination und der bloßen Ordnung der friedlichen Koexistenz 568 (d.h. der Abgrenzung nationaler Souveränitätsbereiche voneinander) tritt, sind im Felde des nationalen Verfassungsrechts Tendenzen erkennbar, welche die Aufweichung des strikten Innen-/Aussenschemas zugunsten einer Völkerrechtsoffenheit bzw. -freundlichkeit anzeigen. Hier einige Beispiele zur Textstufenentwicklung: a) Völkerrechtsoffenheit
in Verfassungstexten
Als älteste noch heute geltende geschriebene Verfassung enthält diejenige der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17. September 1787, abgesehen von einigen Bestimmungen über die auswärtige Gewalt (Art. 1 Section 8 Abs. 3 und 10 sowie Art. 2 Section 2 Abs. 2) 5 6 9 , keinerlei Aussagen über das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu anderen Nationen. Andere ältere Verfassungen, wie diejenige Norwegens von 18 1 4 5 7 0 , der Niederlande von 18 1 5 5 7 1 , Belgiens von 183 1 5 7 2 und Luxemburgs von 1868 573 , haben sich gegenüber ihrer ursprünglichen Introvertiertheit erst durch jüngste Verfassungsänderungen dem
568
Zum Inhaltswandel dieses von der sozialistischen Völkerrechtslehre entwickelten Prinzips vgl. die Nachw. bei O. Kimminich, Einfuhrung in das Völkerrecht, 1975, S. 87 f. (insbes. Fn. 12); ders., ebd., 5. Aufl. 1993, S. 112 ff. 569 Text in: G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, 1964, S. 10 ff. 570 Text in: P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 404 ff. 571 Ebd., S. 367 ff. 572 Ebd., S. 40 ff. 573 Ebd., S. 348 ff.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
207
Völkerrecht geöffnet. Indem die neueingefügten Verfassungsartikel im Hinblick auf die europäische Integration die Übertragung von Hoheitsgewalt auf überstaatliche oder völkerrechtliche Organisationen und Einrichtungen gestatten 5 7 4 , dokumentieren sie die Bereitschaft zu einem Souveränitätsverzicht, der dem traditionellen Völkerrecht fremd war. Erstmalig sind entsprechende Bestimmungen in der Verfassung Italiens von 1947 (Art. 1 1) 5 7 5 und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 (Art. 24 Abs. 1) niedergelegt worden. Die neue griechische Verfassung von 1975 enthält sie in Art. 28 Abs. 2 5 7 6 . Daß sich hier ein möglicherweise allgemeiner grundlegender Wandel im Selbstverständnis souveräner Staaten anzeigt, läßt die neue Verfassung des Königreichs Schweden von 1975 577 vermuten, die im Gegensatz zur Verfas578
sung von 1809 trotz der unveränderten Neutralität Schwedens in Kapitel 10 § 5 Abs. 2 bestimmt, daß Aufgaben der Rechtsprechung und der Verwaltung "einem anderen Staat, einer zwischenstaatlichen Organisation oder einer ausländischen oder internationalen Einrichtung oder Gemeinschaft übertragen werden" können (s. jetzt Kap. 10 § 5 Abs. 3). Regional werden spezifische "Europa-Artikel" üblich (z.B. Art. 23 n.F. GG). Bekenntnisse zur internationalen freundschaftlichen Zusammenarbeit sind vorwiegend in jüngeren Verfassungen enthalten. So bekräftigt Irland nach Art. 29 seiner Verfassung von 1937 "seine Ergebenheit gegenüber dem Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit und Moral". Das japanische Volk erklärt sich nach der Präambel seiner Verfassung von 1946 entschlossen, "die 579
Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern ... zu erhalten" Die Idee des kooperativen Verfassungsstaates findet vorbildlich textlichen Ausdruck in der Verfassung des neugebildeten Schweizer Kantons und der Republik Jura (1977). Ihr Art. 4 lautet:
574 Vgl. § 93 Abs. 1 Norweg. Verf.; Art. 67 Abs. 1 Niederl. GG.; Art. 25 b,s Belg. Verf.; Art. 49 b,s Luxemb. Verf. (s. jetzt Art. 92 Verf. Niederlande von 1983/1995, Art. 168, 169 Verf. Belgien von 1994). 575 Text in: P.C. Mayer-Tasch, aaO, S. 314 ff. 576 "To serve an important national interest and to promote cooperation with other States, competences under the Constitution may be granted by treaty or agreements to organs of international organizations..." Vgl. dazu: Fatouros, International law in the new Greek constitution, in: AJIL 70 (1976), S. 492 ff. 577 P.C. Mayer-Tasch, aaO., S. 580 ff.- Die neuen Texte sind zit. nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl. 1996. 578 P.C. Mayer-Tasch, aaO., S. 554 ff. 579 Text in: G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, 1964, S. 542 ff.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
1. Die Republik und der Kanton Jura arbeiten mit den anderen Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft zusammen. 2. Sie ist bestrebt, mit ihren Nachbarn eng zusammenzuarbeiten. 3. Sie ist weltoffen und arbeitet eng mit den um Solidarität bemühten Völkern zusammen. Das aktive Moment ist schon sprachlich erkennbar: im Wort "arbeiten". Das Moment des Kooperativen prägt sich bundesstaatlich aus in Abs. 1 - Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen-, aber auch darüber hinausgreifend: in bezug auf die Zusammenarbeit mit den "Nachbarn" und den "um Solidarität bemühten Völkern". Weltoffenheit und Solidarität sind Schlüsselworte des kooperativen Verfassungsstaates; daß seine Wirklichkeit ein entsprechendes Bemühen verlangt, formuliert Abs. 3 sogar wörtlich; die Stufung der Kooperation von der bundesstaatlichen zur völkerrechtlichen Ebene könnte nicht evidenter sein. Die innerschweizer Vorbildwirkung war und ist groß (vgl. nur Art. 1 Abs. 2 Verf. Appenzell A.Rh, von 1995: "Er (sc. der Kanton) arbeitet mit dem Bund, mit anderen Kantonen und dem benachbarten Ausland zusammen."). Schon der kurze Streifzug durch die europäischen und einige außereuropäische Verfassungen läßt eine Tendenzwende vieler (Verfassungs-) Staaten zur internationalen Kooperation erkennen. Die Analyse von über 100 anderen heute geltenden Verfassungen auch der Entwicklungsländer dürfte diese Tendenz nur bestätigen 580 . Auf spezielle Öffhungs- bzw. Kooperationsklauseln, die letztlich auf kulturellen Gemeinsamkeiten wie derselben Sprache beruhen, sei verwiesen (vgl. Art. 15 Abs. 3 Verf. Portugal von 1976/92 in bezug auf fremde Staatsbürger aus "portugiesisch-sprachigen Ländern" bzw. Art. 11 Abs. 2 Verf. Spanien von 1978/92 hinsichtlich von Verträgen über doppelte Staatsangehörigkeit mit "iberoamerikanischen Ländern").
580
Vgl. z.B.: Verfassung der Republik Niger (I960), Präambel, Abs. 2: "They affirm their determination to cooperate in peace and friendship with all peoples who share this ideal of Justice, Liberty, Equality, Fraternity and Human Solidarity" (in: Blaustein/Flanz, Hrsg.) Constitutions of the Countries of the World, Bd. IX); ebd., Bd. XIV: Verf. der Rep. Zaire vom 24. Juni 1967, Art. 69: "For the purpose of promoting African Unity, the Republic may conclude treaties and Agreements of affiliation involving partial abandonment of sovereignty"; Verfassung der Volksrepublik Bangladesh vom 4. Nov. 1972, Präambel, Abs. 4: "... make our full contribution towards international peace and cooperation in keeping with the progressive aspirations of mankind", ebd. Bd. II. Weitgehend Art. 145 Abs. 1 Verf. Paraguay (1992): "The Republic of Paraguay, on an equal footing with other states, accepts a supranational legal system that would guarantee the enforcement of human rights, peace, justice, and cooperation, as well as political, socio-economic and cultural development".
VII. Der kooperative Verfassungsstaat b) Das Internationale Privatrecht
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als Ausdruck offener Rechtsstrukturen
Auch das Internationale Privatrecht (IPR) ist als Ausdruck der und Mittel zur Verflechtung der Staaten bzw. ihrer "Gesellschaften" staats- und verfassungstheoretisch hier einzubeziehen, in seinen Fragestellungen und in seinen Entwicklungstendenzen. Zum einen fragt sich, welches verfassungsstaatstheoretisch die optimale Lösung für die Ausgestaltung des IPR ist. Eindrucksvollerweise kann und will es sich der deutsche Staat - zumal nach dem allmählichen Ausbau einseitiger 581
Kollisionsnormen zu allseitigen - leisten, fremdes Recht durch seine eigenen staatlichen Richter anzuwenden. Es ist wohl kein Zufall, daß der deutsche Richter das fremde Recht als "Recht" anwendet, während die französische Theorie hier zurückhaltend von "Tatsachen" ausgeht582 - das dürfte eine Nachwirkung des Souveränitätsdogmas sein, wobei freilich H. Batiffols Theorie 5 8 3 als französische Selbstkritik aufzugreifen wäre. Die Anwendung "fremden" (Privat-)Rechts durch deutsche Richter ist ein bestes Stück Kooperation der Staaten und Privaten. (Man denke auch an das (privatrechts-)kooperationsfördernde internationale Kaufrecht.) Die Achtung vor der Identität fremder Verfassungs- und Rechtskultur bleibt freilich auch für den kooperativen Verfassungsstaat Gebot. Zum anderen geht es um die Frage, inwieweit das deutsche GG 5 8 4 , insbesondere die Grundrechte 585 , im IPR gelten und wie es mit dem "ordre public" 581 Dazu G. Kegel, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 1977, S. 125 ff. (7. Aufl. 1995, S. 236 ff). Zur Europa-Ebene: C.v. Bar (Hrsg.), Europäisches Gemeinschaftsrecht und internationales Privatrecht, 1991; H.J. Sonnenberger, Europarecht und internationales Privatrecht, ZVglRVWiss 1996, S. 3 ff. 582 Vgl. A.N. Makarov, Der allgemeine Teil des internationalen Privatrechts im neuen französischen Kodifikationsentwurf, in: Multitudo legum jus unum, Wilhelm Wengler zu seinem 65. Geburtstag, 1973, Bd. II, S. 505 (510 f.). 583 Dazu G. Kegel, aaO., S. 90 f. (bzw. 7. Aufl. 1995, S. 150 f.).- S. auch Κ Zweigert, Zur Armut des internationalen Privatrechts an sozialen Werten, RabelsZ 37 (1973), S. 435 ff.; weiterführend E. Jayme, Menschenrechte und Theorie des IPR, in: Internationale Juristenvereinigung Osnabrück 2 (1991/92), S. 9 ff. 584 S. etwa H.J. Sonnenberger, Die Bedeutung des Grundgesetzes für das deutsche internationale Privatrecht, Diss. München 1962. 585 Vgl. etwa BGHZ 41, 136 (150 f.): Keine Eheschließung katholischer Spanier mit geschiedenen Deutschen, trotz Art. 6 Abs. 1 GG: "Das Grundrecht auf Freiheit der Eheschließung kann nur im Rahmen der Gesetze, zu denen auch die von unserem Kollisionsrecht bezeichnete fremde Rechtsordnung gehört, ausgeübt werden". Nach BGHZ 42, 7 (13 f.) "greift der Grundsatz des gemeinen Völkerrechts durch, daß jedes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft die Rechtsordnungen der anderen Mitglieder anerkennen muß... Dem würde es widersprechen, wenn die Anwendbarkeit der Rechtssätze fremder
210
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
steht. Ein sich bewußt in der internationalen Verflochtenheit sehender Verfassungsstaat wird sich dem fremden Recht stärker öffnen als der "selbstherrliche" Staat.
6. Verfassungstheoretische Konsequenzen a) Neuorientierung
der Rechtsquellen- und Interpretationslehre
Im Rahmen dieser Verfassungsstaaten und internationale Beziehungen, Verfassungsstaat und benachbarte (Verfassungs-)Staaten "zusammendenkenden" Sicht ist die herkömmliche Rechtsquellenlehre in Zweifel zu ziehen. Die Ideologie vom etatistischen Rechtsquellenmonopol586 wird dem Verfassungsstaat in dem Maße fremd, wie er sich zum kooperativen Verfassungsstaat wandelt. Er nimmt kein Monopol bei Rechtssetzung und Interpretation mehr in Anspruch: er öffnet sich - gestuft - völkerrechtlichen bzw. internationalen Rechtssetzungsverfahren und Interpretationsvorgängen. Gewiß, formal ließe sich sein Rechtssetzungs- und Interpretationsmonopol noch begründen, d.h. auf die "souveräne" Entscheidung für eine internationale Zusammenarbeit zurückführen, der Sache nach und realistischerweise geht es um komplexe Rechtssetzungs- und Interpretationsvorgänge mit vielen Beteiligten: die einseitige Setzung entwickelt sich in Richtung auf konzertierte, kooperierende Aktionen. Die Kooperation der Verfassungsstaaten in internationalen Organisationen, die gemeinsame Ausarbeitung umfassender Kodifikationswerke, welche Form und Verfahren ihrer Zusammenarbeit regeln 587 , und die Ausdehnung einer internationalen Gerichtsbarkeit, zu deren Rechtsmaterial u.a. "die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" gehören 588 , bilden
Rechtsordnungen, die nach dem internationalen Privatrecht maßgebend sind, von vornherein von ihrer Vereinbarkeit mit den Vorschriften des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland abhängig gemacht würde." M.w.N. dagegen zu Recht BVerfGE 31, 58 (70 ff., 72 f.): "Diese Auffassung wird dem Vorrang der Verfassung und der zentralen Bedeutung der Grundrechte nicht gerecht." S. auch H. Dölle, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 1972, S. 20 ff.; G. Kegel, aaO, S. 240 ff. (bzw. 7. Aufl. 1995, S. 381 ff.); E. Jay me/ KM. Meessen, Staatsverträge zum Internationalen Privatrecht, 1975, S. 13 ff., 58 ff. Aus der späteren Judikatur zum IPR: BVerfGE 63, 181 sowie E 68, 384. 586 Dazu meine Kritik: Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 (271). S. noch Fünfter Teil VI. 587 Vgl. etwa die Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 22. Mai 1969, dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 345 ff. (3. Aufl. 1984, S. 432 ff.). 588 Art. 38 c IGH-Statut; vgl. dazu^. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 120 ff., 126 ff. (3. Aufl. 1984, S. 382 ff.); K. Hailbronner, Ziele und
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
211
die Grundlage einer wechselseitigen Einflußnahme von nationaler und internationaler Rechtsordnung: Rechtsstrukturen und Gerechtigkeitsideen aus den verschiedenen Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft wirken auf den völkerrechtlichen Rechtsbildungsprozeß ein 5 8 9 ; Grundsätze und Einzelregelungen des Völkerrechts setzen ihrerseits Maßstäbe für die innerstaatliche Rechtsentwicklung. Die Rechtsvergleichung ist hier das typische Medium 5 9 0 . Das völkerrechtliche Fremden- bzw. das innerstaatliche Ausländerrecht und die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes 591 mögen als Beispiele dienen. Neben dieser Durchdringung der verschiedenen Rechtsordnungen in sachlicher Hinsicht ist das personale Element, die "Beteiligtenfrage", von entscheidender Bedeutung. Die internationale Besetzung der für die Abfassung der einzelnen Kodifikations-, Deklarations- und Resolutionsentwürfe zuständigen Gremien 592 sowie des IGH gewährleistet die Berücksichtigung der verschiedenen Rechtsvorstellungen auch in institutioneller Hinsicht. Die intensivierte Form internationaler Kooperation bei der Rechtsschöpfung und -auslegung in der EG 5 9 3 deutet die Richtung einer möglichen Weiterentwicklung auch auf globaler Ebene an. Die "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" wird international. b) "Gemeines Kooperationsrecht":
Integration von Staats- und Völkerrecht
Ausdruck, Voraussetzung und Folge der Kooperation zwischen den (Verfassungs-)Staaten ist die Entwicklung gemeinen Rechts. Es soll "Kooperationsrecht" heißen. Zwischen den Verfassungsstaaten untereinander ist solches gemeines Kooperationsrecht durchaus erkennbar. Das zeigt der typologische Überblick. Typische völkerrechtsfreundliche Normen, Verfahren und Kompetenzen, Ziele und Gehalte haben sich hier schon bemerkenswert weit verdich-
Methoden völkerrechtlich relevanter Rechtsvergleichung, in: ZaöRV 36 (1976), S. 205 ff. 589 Vgl. etwa H. Strebet, Einwirkungen nationalen Rechts auf das Völkerrecht, in: ZaöRV 36 (1976), S. 168 ff. 590 Dazu M Bothe, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Praxis internationaler Gerichte, in: ZaöRV 36 (1976), S. 280 ff. 591 Vgl. H. Strebet, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 176 f.; allgemein: A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 583 ff. (3. Aufl. 1984, S. 797 ff.). 592 So bestand die Arbeitsgruppe für die Abfassung der "Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten" von 1974 aus Vertretern von 31 bzw. 40 Staaten; vgl. dazu C. Tomuschat, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 444 (446). 593 Vgl. dazu meinen Beitrag: Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht, in: BayVBl. 1977, S. 745 (751). 17 Häberle
212
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
tet: es entsteht ein "gemeinsamer" Bestand an kooperationsrechtlichen Formen und Normen, den die Verfassungsvergleichung weiter zu präzisieren hat. Solches gemeines Kooperationsrecht zwischen den Verfassungsstaaten dürfte sich auch in dem Maß entwickeln, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit vordringt. Besonders sie kann als "Kooperationsvehikel" wirken, so wie der EuGH als Integrationsfaktor im Bereich der EG bzw. EU aktiv ist. "Kooperation" ist insofern eine Vorform, eine Vorstufe solcher (europäischer) Integrationsrechte. Darum ist der Erfahrungsschatz der EG/EU für den Aufbau und Ausbau von überregionalem Kooperationsrecht zwischen den Verfassungsstaaten zu nutzen. (Man denke an die Grundrechte, allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Gerichtsbarkeit als Integrationsmotor 594 .) Kooperationsrecht ist jedoch auch zwischen solchen Staaten bzw. Verfassungsstaaten zu entwickeln, die nicht regional benachbart sind: die z.B. in verschiedenen Kontinenten liegen; m.a.W.: Die "Einheit der Völkerrechtsgemeinschaft" darf nicht durch unterschiedlich rasches Wachstum von regionalem Kooperationsrecht gesprengt werden. Kooperationsrecht im hier verstandenen Sinne wird zwar immer unterschiedlich dicht sein, und es wird unterschiedlich rasch entwickelt. Gleichwohl sollten die Elemente und Institute dieses Kooperationsrechts "gemein" sein: um eine allmähliche Gesamtentwicklung aller Staaten in Richtung auf Kooperationsrecht zu verstärken, das den "Überbau" bzw. "Unterbau" von gemeinsamem Völkerrecht und Staatsrecht liefert, welches sich der Alternative "Völkerrecht oder Staatsrecht" entzieht und beides 595
integriert "Gemeines Kooperationsrecht" ist der nicht nur terminologische Versuch, aus dieser Alternative mitsamt dem Dualismus-/Monismusstreit "herauszuspringen". c) Kooperative Grundrechtsverwirklichung Kooperative Grundrechtsverwirklichung ist eine weitere Konsequenz des kooperativen Verfassungsstaates und "seines" gemeinen Kooperationsrechts 594
Vgl. zur entsprechenden Rolle des EuGH: H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 374; R. Lecourt, L'Europe des Juges, 1976, S. 219, 309; H.-J. Schlochauer, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsfaktor, in: Festschrift für W. Hallstein, 1966, S. 431 ff.; M. Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, S. 1 ff; T. Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, DVB1. 1994, S. 901 ff. 595 Anders als das Kooperationsvölkerrecht bzw. das "völkerrechtliche Kooperationsrecht" (vgl. E.-U. Petersmann, aaO., ZaöRV 36 (1976), S. 517) umfaßt das "gemeine Kooperationsrecht" per se auch Teile des Verfassungsrechts der Staaten.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
213
sowie des Kooperationsvölkerrechts. Der Begriff entstammt dem Innovationspotential bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung 596; er findet - weit über den Bereich des kooperativen Föderalismus hinaus - wachsenden und vielfältigen Ausdruck: von der vergleichsweise "festen" und intensiven (auch leistungsstaatlichen) Kooperationsform im Bundesstaat, über regionale Menschenrechtskonventionen wie die EMRK bis hin zu den weniger dichten universalen Menschenrechtspakten von 1966 bzw. 1976 oder dem "Korb 3" der KSZE und jetzt der OSZE sowie der menschenrechtskonformen Interpretation. Kooperative Grundrechtsverwirklichung ist der Auftrag des (kooperativen) Verfassungsstaates, in seinem Verhalten "nach außen", in der Völkerrechtsgemeinschaft ein Mindestmaß an materieller und prozessualer Grundrechtswirklichkeit für "Fremde" und Staatenlose "bei sich" zu schaffen. Das gilt auch für seine auswärtige Gewalt 597 und hat Konsequenzen für das Internationale Privatrecht. Freilich gibt es keine Patentrezepte und -formein, weder für die einzelnen Grundrechte, noch für die Mittel und Verfahren ihrer Anwendung. So ist Art. 1 Abs. 2 GG Kompetenz und Auftrag zur kooperativen Grundrechtsverwirklichung ebenso wie zur menschenrechtlichen Ausgestaltung einzelner Grundrechte im Ausländerrecht 598 . Kooperative Grundrechtsverwirklichung ist nicht auf eine Grundrechtsdogmatik beschränkt, m.a.W.: Die abwehrrechtliche Grundrechtsseite ist eine, aber nicht die alleinige "Seite" grundrechtlicher Freiheit, die sich der kooperative Verfassungsstaat zur Richtschnur seines Handelns zu machen hat. Andere Grundrechts-"Seiten" kommen hinzu 5 9 9 , etwa der "status activus processualis". Leistungsstaatliche Grundrechtsaktivitäten sind nicht minder wichtige grundrechtseffektivierende Kooperationsformen. In nuce finden sie sich schon in der ausländer(rechts)596 Vgl. etwa das erste "Numerus-Clausus"-Urteil des BVerfG in E 33, 303 (357) zur "Mitverantwortung" der Bundesländer "für eine kooperative Verwirklichung des Grundrechtsschutzes", und dazu mein Besprechungsaufsatz: DÖV 1972, S. 729 (739 f.). 597 Dazu die Kontroverse in Basel zwischen W. Geck und E. Grabitz: VVDStRL 36 (1978), S. 142 ff., 159 ff. (Diskussion). 598 Zur Effektivierung des Art. 19 Abs. 4 GG für sprachunkundige Ausländer durch das BVerfG meine Nachw. in: W. Schmitt Glaeser (Hrsg.), Verwaltungsverfahren, 1977, S. 47 (61 f.). S. zuletzt BVerfGE 64, 135 (145 f.); 86, 280 (284 ff.). 599 Zur - variablen - Kombination mehrerer Grundrechtsseiten mein Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (75 f.). Die spätere Grundrechtsliteratur ist unüberschaubar geworden, vgl. nur HdbStR Bd. V (1992): "Allgemeine Grundrechtslehren" mit Stichworten wie "Das Grundrecht als Abwehrrecht und als Schutzpflicht" (J Isensee, S. 45 ff.) oder "Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung" (E. Denninger, S. 291 ff). S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 1.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
freundlichen Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG durch das BVerfG, man denke auch an "armenrechtliche" Konsequenzen; die "Integration by Jurisprudence" im EG-Bereich (Grundrechte als "allgemeine Rechtsgrundsätze") 600 ist eine weitere Stufe, auch und soweit sie leistungsrechtliche Perspektiven enthält 601 . Vor allem aber deutet der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf "leistungsstaatliche Grundrechtspflichten" 602 und "Grundrechtspolitik". Gerade sie geben der Staatlichkeit heute neuen Rang. Auch in sonstigem Rechtsmaterial zur "Internationalisierung" von Grundrechten dürften leistungsstaatliche Momente nachweisbar sein. Das bedeutet keine vorschnelle Ausdehnung nationaler (hier GG-introvertierter) Grundrechtsdogmatiken auf die "internationale Familie der Verfassungsstaaten". Gewiß wird man vorsichtig sein müssen, grundrechtstheoretische Kontroversen aus dem deutschen Binnenbereich "nach außen" zu verlagern - so sehr etwa die französische Doktrin die Problematik der "Leistungsgrundrechte" diskutiert 603 . Dennoch können sich die Konturen einer Übereinstimmung der Verfassungsstaaten hinsichtlich eines Minimums an "Multifunktionalität" bzw. "Mehrdimensionalität" der Grundrechte abzeichnen, die über die "klassische" Grundrechtswirkung hinausreicht. Es dürfte auch Bereiche geben, in denen die (wahrlich nicht unterentwickelte) deutsche Grundrechtsdogmatik von der ausländischen "lernen" kann (z.B. auf dem Felde von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, jetzt das BVerfG). "Kooperative Grundrechtsverwirklichung" umfaßt die Menschenrechtsproblematik, geht aber über sie hinaus. Zu denken ist an die kooperative Grundrechtserstreckung von Bürgerrechten auf Angehörige benachbarter (Verfassungs-)Staaten; so reichen gewisse EMRK-Freiheiten und Grundrechte der EGMarktbürger über das menschenrechtliche Minimum hinaus 604 . Art. 13 Abs. 1 600 Rspr. des EuGH seit Urt. vom 12. Nov. 1969, Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419 (425, Rn. 7); s. auch Urt. vom 14. Mai 1974, Rs. 4/73 (Ν old ), Slg. 1974, 491 (507). Zum Begriff der "Integration by Jurisprudence" vgl. A. Deringer/ J. Sedemund, Europäisches Gemeinschaftsrecht, NJW 1977, S. 1997. 601 Dazu /. Pernice , Religionsrechtliche Aspekte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, JZ 1977, S. I I I (779 ff.). 602 Zur Terminologie mein Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 103 ff. Als spätere Stimme in der Schweiz: R.A. Rhinow, Grundrechtstheorie, Grundrechtspolitik, Freiheitspolitik, FS Huber, 1981, S. 427 ff. 603 Vgl. etwa: J. Rivero , Les libertés publiques, 1973, S. 100 ff.: "droits à des prestations"; G. Burdeau , Les libertés publiques, 1961, S. 21: "droits-créances"; s. auch K. Stahl, Die Sicherung der Grundfreiheiten im öffentlichen Recht der 5. französischen Republik, 1970, S. 17, 22 ff., 35 f.; C. Grewe/H. Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995, S. 160 ff., 185 ff. 604 Vgl. etwa die im EG-Vertrag als "Grundlagen der Gemeinschaft" ausgestalteten Marktfreiheiten: freier Warenverkehr (Art. 9 ff.), Freizügigkeit (Art. 48 ff.), Nieder-
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
215
Verf. Spanien (1978) wagt den Grundsatz: "Ausländer geniessen in Spanien nach Maßgabe der Verträge und des Gesetzes die öffentlichen Freiheiten, die dieser Titel garantiert". Die "werbende Kraft" des Typus Verfassungsstaat ist auf keinem Feld so groß wie auf dem der kooperativen Grundrechtsverwirklichung. Seine Grundrechtskataloge werden in der Weltöffentlichkeit in doppelter Hinsicht zum Vorbild: als Hoffnung der "Staatsangehörigen" dritter Staaten auf Grundrechte für sich selbst 605 und als Hoffnung aufgrundrechtliche Besserstellung der Menschen als "Fremde" in diesen Staaten. Größere Liberalität in Sachen "doppelte Staatsangehörigkeit" gehört ebenfalls hierher. Das Ansehen des Verfassungsstaates wächst mit seiner Kraft zur kooperativen Grundrechtsverwirklichung. Staatlichkeit gewinnt hier eine neue Legitimationsebene. Das "gemeine Kooperationsrecht" erfahrt von den Grundrechten her die stärksten Impulse, es integriert sie zu "Gemeinschaftsaufgaben" und hat in ihnen einen verläßlichen Garanten.
7. Zusammenfassung - Ausblick, die jüngste Textstufe im südlichen Afrika und in Osteuropa Der kooperative Verfassungsstaat ist noch kein erreichtes Ziel, er ist erst "auf dem Weg". Ihn begrifflich-dogmatisch weiter auf den Weg zu bringen (und zu halten), ihn als "Möglichkeif voll zur " Wirklichkeif werden zu lassen, ist Sinn dieses Abschnitts. Was ist das "Eigene" am "Kooperativen Verfassungsstaat"? Hier eine Zusammenfassung: Es ist - Offenheit für internationale Bindungen mit Durchgriffswirkung in den innerstaatlichen Bereich (Permeabilität), auch im Zeichen der (nicht mehr in den domaine réservé eingeschlossenen) weltöffentlichen Menschenrechte und ihrer "kooperativen" Verwirklichung
lassungsfreiheit (Art. 52 ff), freier Dienstleistungs-(Art. 59 ff.) und Kapitalverkehr (Art. 67 ff.). Beispielhaft ist auch die Ausgestaltung des in Art. 119 EGV verankerten Grundsatzes der Lohngleichheit für Männer und Frauen als Grundrecht mit Drittwirkung durch den EuGH im Urt. vom 8. April 1976, Rs. 43/75 ÇDéfrenne ), Slg. 1976, 455 (472 bis 476). Dazu R. Streinz, Europarecht, 3. Aufl. 1996, S. 219 ff., 298 ff. 605 Der Begriff "Staatsangehöriger" ist in der Perspektive des Verfassungsstaates fragwürdig, weil die Bürger nicht ihrem Staat gehören, sondern umgekehrt der demokratische Staat ihnen gehört. Dazu schon Vierter Teil I Inkurs B.
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Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
- aktives, zielgerichtetes Verfassungspotential (und gestufte Einzelelemente) für "gemeinsame" internationale Aufgabenbewältigung als Gemeinschaftsaufgaben der Staaten, prozessual und materiell - leistungsstaatliche Solidarität, Kooperationsbereitschaft über die Staatsgrenzen hinaus: Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Terroristenbekämpfung, Förderung internationaler Kooperation auch auf privatrechtlicher Ebene (Rotes Kreuz, Amnesty International) - kongeniale Erziehungsziele. Der kooperative Verfassungsstaat rückt an die Stelle des (introvertiert) nationalen Verfassungsstaates. Er ist die verfassungsstaatsrechtliche Antwort auf den Wandel des Völkerrechts vom Koexistenzrecht zum Kooperationsrecht in der zunehmend verflochtenen und verfaßten Staatengemeinschaft (nicht mehr "-gesellschaft") 606 und entwickelt mit ihr und in ihr "gemeines Kooperationsrecht". Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wird international! Mit der "überstaatlichen Bedingtheit des Staates" (W.v. Simson) wird ernst gemacht. Im kooperativen Verfassungsstaat wird das nationalstaatliche Element relativiert und der Mensch ("idem civis et homo mundi") - über die Staatsgrenzen hinaus - in den Mittelpunkt (gemeinsamen) staatlichen (und zwischen- bzw. überstaatlichen) Handelns, der "kooperativen Grundrechtsverwirklichung" gerückt (Art. 1 GG). Für die Völkerrechtstheorie kann dies nicht ohne Folgen bleiben (dazu Sechster Teil XIII), ein "status mundialis hominis" wird sichtbar (vgl. Sechster Teil V I I I Ziff. 1). Heute stehen weltweite, über die Staaten als selbständige Einheiten hinausführende "Gemeinschaftsaufgaben" der Menschheit des "blauen Planeten" an (z.B. in Sachen Umweltschutz, Bekämpfung der Drogen-Mafia). Es mag sein, daß viele Staaten in ihrem Selbstverständnis, in ihrer politischen und wissenschaftlichen (rechtsdogmatischen) Literatur und in ihren "Verfassungstexten" z.T. nur Lippenbekenntnisse zur Kooperation ablegen - im übrigen aber sich auf "Souveränität" und "innere Angelegenheiten", den domaine réservé 607 , berufen, um der gemeinsamen Verantwortung auszuweichen. Das ist - politisch - ihre Sache. Die Wissenschaft des freiheitlich-demokratischen Ver606
Vgl. O. Kimminich, Völkerrecht, 1975, S. 83 f. im Anschluß an die soziologische Unterscheidung bei und seit F. Tönnies. 607 Dazu P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 (286 f.) m.w.N.; A. Verdross/ Β. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 155 ff. (3. Aufl. 1984, S. 159 ff.); Ch. Rousseau, Droit international public, 7. Aufl. 1973, S. 297 m.N.; L. Delbez, Les principes généraux du droit international public, 3. Aufl. 1964, S. 180 ff; W. Graf Vitzthum, aaO., S. 24 f.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
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fassungsstaates hat ihren eigenen Auftrag: Sie kann vor sich selbst nur bestehen, wenn sie begrifflich-dogmatisch weltweite und regionale staatsübergreifende Verantwortung wahrnimmt - das ist ihr verfassungsethischer Auftrag! Ihm sucht die Idee des "kooperativen Verfassungsstaates" und des "gemeinen Kooperationsrechts" gerecht zu werden 608 . Das "Weltbild" des Verfassungsstaates zielt auf Kooperation. Neue Akzente in Sachen "kooperativer Verfassungsstaat" werden gerade in jüngsten Verfassungen gesetzt. Dabei wirkte sich teils die auf Texte gebrachte normierende Kraft der Praxis ständig zunehmender regionaler und weltweiter Kooperation aus, spürbar wird aber auch ein die "Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten" mit-stützender Idealismus, hinter dem freilich dann oft genug die Wirklichkeit zurückbleibt, die von Renationalisierungs-Tendenzen selbst in Europa nie frei ist. Die jüngsten Kooperations-Artikel bzw. einschlägigen Textensembles werden an anderer Stelle - im Kontext des "Weltbildes des Verfassungsstaates" - näher behandelt 609 . Hier genügen einige ausgewählte Beispiele. So findet in Afrika die neue Verfassung Südafrika (1996/97) schon in der Präambel eine glückliche Wendung "sovereign state in the family of nations", und dieser "Grundton" setzt sich auf die innerstaatliche Ebene übertragen fort in Kapitel 3 "Co-operative Government", was z.B. die 9 Provinzen zu Bundesbzw. Regionaltreue, alle Verfassungsorgane zu "Verfassungstreue" verpflichtet: gewiß auch Ergebnis einer Rezeption einschlägiger deutscher Staatsrechtslehre und Judikatur 610 .
608 Ein herausragendes Plädoyer für Notwendigkeit und Grenzen globaler Kooperation hielt Z. Brzezinski in seiner Rede vom 25. Oktober 1977 vor der Trilateral Commission (FAZ vom 17. Nov. 1977, S. 11 f.): Grundpriorität: "bei der Gestaltung eines umfassenden und kooperativen Weltsystems mitzuhelfen", s. auch: "Eine sichere und zusammenarbeitende Gemeinschaft der modernen demokratischen Industriestaaten ist die notwendige Quelle der Stabilität für ein breites System der internationalen Zusammenarbeit ... muß ein umfassenderes und kooperatives Weltsystem auch jenen Teil der Welt miteinbeziehen, der von kommunistischen Regierungen beherrscht wird ... und diese Staaten müssen ... in das größere Netz globaler Kooperation miteingegliedert werden. Das Ziel..., die Ost-Westbeziehungen in einen erweiterten Rahmen der Kooperation mit einzubeziehen... Zu den Ost-WestBeziehungen gehören Elemente sowohl des Wettstreits als auch der Kooperation". S. auch den Begriff der "globalen Gemeinschaft". Seit " 1989" hat dieser Text an Dringlichkeit gewonnen. 609 Dazu Sechster Teil XIII. 610 Aus der Lit.: //. Bauer, Die Bundestreue, 1992; A. Alen/P. Peeters/W. Pas, "Bundestreue" im belgischen Verfassungsrecht, JöR 42 (1994), S. 439 ff.- Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 12, 205 (254 f.); 81, 310 (337).- M. Lück, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip im Recht der Europäischen Gemeinschaft, 1992; Α. Anzon, La "Bundestreue" e il sistema federale Tedesco, 1995.
218
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
"Offen" wird die Verfassungsstaatlichkeit Südafrikas aber auch durch Art. 233: "When interpreting any legislation, every court must prefer any reasonable Interpretation of the legislation that is consistent with international law over any alternative Interpretation that is inconsistent with international law" 611 . Den kühnsten "Ausblick" in andere Verfassungsstaaten und damit auch einen kooperativen Brückenschlag im Geistig-Kulturellen wagt die Verf. von Kwazulu Natal (1996). In ihrem Kap. 14 heißt es unter Ziff. 3 Abs. 1: "The language of this Constitution shall be interpreted as a whole, on the basis of the meaning of its text, and, when necessary or appropriate, in the context of the principles and values expressed by this Constitution as well as domestic and broadly recognised principles of constitutionalism in democratic countries in which a constitution is the supreme law of the land". Damit entsteht ein "Verfassungsinterpretationsverbund", der beispielhaft ist. Ein Blick auf die jüngste Entwicklungsstufe in Asien und Osteuropa ergibt folgendes: die Verfassung Aserbeidschans (1995) spricht bereits in der Präambel von "vivre dans les conditions d'amitié, de paix et de sécurité avec les autres peuples et à cette fin realiser une coopération mutuellement avantageuse". Dieser Gedanke "gegenseitig vorteilhafter Kooperation" zeigt sich auch an anderen Stellen: etwa beim Verweis auf die "universell anerkannten Normen des Völkerrechts" (Art. 10) oder bei der Statuierung des Vorrangs des Rechts internationaler Verträge gegenüber innerstaatlichen Normen im Konfliktfall (Art. 151). Restriktiver ist hier Art. 9 Abs. 4 Verf. Ukraine (1996): "The conclusion of international treaties which contravene the Constitution of Ukraine is possible only following the introduction of requisite changes to the Constitution of Ukraine". Eine begrenzte Öffhungsklausel, die an ähnliche Artikel in westeuropäischen Staaten der EU erinnert (etwa Art. 24 GG, Art. 11 Verf. Ita612
lien) findet sich indes in Art. 79 Verf. der Russischen Föderation (1993)
6,1
Die Verfassung Namibia (1990), zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff., spricht schon in der Präambel von der Nation Namibias "among and in association with other nations of the world". In den Schlußbestimmungen (Art. 144) wird das Verhältnis zum "International Law" geklärt.- Zum vorbildlichen Interpretations- bzw. RechtsquellenArtikel der Verf. der Südafrikanischen Provinz Kwazulu Natal (1996) unten Sechster Teil VIII Ziff. 15 (Stichwort: Positivierung der Rechtsvergleichung als Auslegungsmethode!). 612 Zit. nach J.C. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 381 ff.
VII. Der kooperative Verfassungsstaat
219
"Die Russische Föderation kann nach entsprechenden Verträgen an zwischenstaatlichen Vereinigungen teilnehmen und ihnen einen Teil ihrer Vollmachten übergeben, wenn dies keine Einschränkung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers nach sich zieht und den Grundlagen des Verfassungsaufbaus der Russischen Föderation nicht widerspricht". 613 Mußte in der Frühphase der Verfassunggebung in Osteuropa noch kritisch angemerkt werden, daß die Idee offener Staatlichkeit bzw. Kooperation in den Texten - noch - keinen Niederschlag gefunden hat 6 1 4 , so kann jetzt dank Art. 79 Verf. Russland ein Textfortschritt beobachtet werden (beachtlich ist die Grundrechts- und Struktursicherungsklausel!). In der Verfassung Litauens (1992) 615 fällt die Bezugnahme auf internationale Verträge zur "politischen Kooperation" mit ausländischen Staaten (Art. 138 Abs. 1 Ziff. 2) ebenso auf wie die Integrierung ratifizierter internationaler Abkommen in das Rechtssystem der Republik Litauen (Abs. 3 ebd.). Besonders weit geht hier die Verfassung Bulgarien (1991) . Denn sie normiert eine Kollisions- bzw. Vorrang-Klausel schon in den Grundlagenbestimmungen des ersten Kapitels (Art. 5 Abs. 4 S. 2: "Iis (sc. les accords internationaux) ont la priorité sur les normes de la législation interne qui sont en contradiction avec eux"). Der Verfassungsentwurf Weissrußland (1994) spricht in der Präambel von "subject, with full rights, of the world community" und "adherence to values common to all mankind". Und er verlangt in Art. 8 Abs. 1: "The Republic of Belarus shall recognize the supremacy of the universally acknowledged principles of international law and ensure that its laws comply with such principles". Im ganzen läßt sich damit folgende Typologie intensivierter und extensivierter Kooperation unter Einschluß der jüngsten Textstufenentwicklung entwerfen: - präambelhafte Bekenntnis-Artikel zur eigenen Einordnung in die Gemeinschaft bzw. Familie der Völker (auch via Erziehungsziele)
613
Der frühe Verfassungsentwurf der Verfassungskommission Russlands (März 1992, zit. nach JöR 45 (1997), S. 310 (312)), wagte noch einen besonders "offenen" bzw. "kooperativen" Artikel 11 Abs. 1 : "La Fédération de Russie est membre de plein droit de la communauté mondiale, elle observe les principes universellement admis et les normes du droit international et les traités internationaux qu'elle a conclus; elle tend à une paix universelle et juste, à la cooperation mutuellement avantageuse, à la solution des problèmes globeaux". Die Formel von "problèmes globeaux" dokumentiert eine neue Textstufe zum Thema "Weltbild des Verfassungsstaates", dazu Sechster Teil XIII. 6,4 Dazu meine Beiträge in JöR 43 (1995), S. 170 (181 f.). 615 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 360 ff. 616 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 497 ff.
220
Vierter Teil: Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
- Bekenntnis-Artikel zur (Aufgabe der) Kooperation, neuerdings mit dem Zusatz "gegenseitig vorteilhaft", gelegentlich auf das Regionale konzentriert - Wahlverwandtschafts- bzw. Solidaritäts-Artikel - Rezeption von regionalen oder/und universalen Menschenrechtspakten - Integration von universal anerkannten Völkerrechtsnormen -Vorrang- bzw. Kollisions-Artikel zugunsten des internationalen Rechts, z.B. bei den Menschenrechten - Interpretationsnormen zur völkerrechtskonformen Auslegung auch, aber nicht nur der Menschenrechte
bzw.
-freundlichen
- völkerrechtsoffene Rechtsquellen-Artikel - fur ausländisches Recht offene Interpretationsklauseln. Nach diesem Blick auf die letztlich kulturellen Kooperationsprozesse in der internationalen Familie der Verfassungsstaaten wird jetzt eine Betrachtung des Gegenständlichen, "Stofflichen" erforderlich: das Inhaltliche der Kultur der Verfassungsstaaten bedarf der Ergründung.
Fünfter
Teil
Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsentwicklung I . Sachlich-systematisches Tableau Die Entwicklung jeder Verfassungskultur vollzieht sich im Medium von vielgestaltigen kulturellen Kristallisationen, die die Prozesse der Verfassungsinterpretation, vor allem auch der Verfassungsänderung und Verfassunggebung nachhaltig mitbestimmen. Realistisch gesehen besorgen nämlich nicht nur eine Vielzahl von Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinn das "Geschäft" der Verfassungsauslegung; bei realistischer Betrachtung bestimmen auch zahlreiche sachliche Momente "neben", "vor" oder "nach" den juristischen Texten in einem tieferen Sinn "in" ihnen die Prozesse der Verfassungsentwicklung mit. Bei einer Vergegenwärtigung der tatsächlich wirksamen Faktoren, Momente, Elemente, Gegenstände, kurz: "Objektivationen" des Arbeitens von Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinn ergibt sich folgendes Bild 1 , das hier und später bewußt wiederholt sei: 1. Die staatlichen Funktionen und ihre "Resultate": a) die Werke der Gesetzgebung, der Exekutive und der Rechtsprechung einschließlich der Teilaspekte einer ("bloßen") Staatspraxis wie repräsentative (Fest-)Reden (Bundespräsident, Bundeskanzler); b) letztverbindlich: die Entscheidungen des BVerfG, gestuft in tragende Gründe (vgl. § 31 BVerfGG), obiter dicta und die in ihrer normierenden Kraft nicht zu unterschätzenden Sondervoten als "Alternativjudikatur" (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) und potentiell letztverbindliche Verfassungsinterpretation von morgen, gestuft aber auch in Grundsatzurteile oder "ständige Rechtsprechung", in
1
Vorbild ist, z.T. modifiziert, das systematische Tableau bei P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff, später in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. Aspekte der Wirkungsgeschichte dieses Konzepts in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 180 f.; zuletzt z.B. L. Du P les sis, Legal academics and the open community of the Constitutional Interpreters, in: South African Journal on human rights, Vol 12 (1996), S. 212 ff.
222
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
von der Wissenschaft einhellig als "Fehlurteile" verworfene oder allgemein konsentierte Entscheidungen. 2. Die (nicht notwendigerweise staatlichen, aber formell) Verfahrensbeteiligten (und ihr Selbstverständnis) an den Entscheidungen zu a) bzw. ihre Werke, z.B.: Gutachten auf allen Ebenen und in allen Formen: in EnquêteKommissionen, Hearings des Gesetzgebers oder der Exekutive (z.B. das von der niedersächsischen Landesregierung 1979/80 durchgeführte GorlebenHearing oder (1982) die Anhörung für ein etwaiges Gleichberechtigungsgesetz)2, Schriftsätze von Verfahrensbeteiligten; sonstige Arbeiten, in denen ein "Rechtsgespräch" (A. Arndt) mit den staatlichen Instanzen aller drei Staatsftinktionen gesucht wird, von der Berufungsschrift bis zur Verfassungsbeschwerde, von der Petition (Art. 17 GG) bis zu einer Pressekonferenz. 3. Die Objektivationen der pluralistischen Öffentlichkeit als "großen Anregers", gegliedert in Stellungnahmen der a) politischen Öffentlichkeit: wie politische Parteien (Parteiprogramme!), Verbände und Vereine, Kirchen, Bürgerinitiativen etc. und der Medien, eingeschlossen das Verhalten und die Öffentlichkeitsarbeit von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden; b) der kulturellen Öffentlichkeit - zu ihr gehören Werke und Leistungen des kulturellen Prozesses eines politischen Gemeinwesens, (besonders) solche im Bereich der (1) Kunst: kulturelle Kristallisationen wie Klassikertexte oder auch andere klassische Kunstwerke (samt alten und neuen Interpretationen in der Handschrift großer Regisseure) oder in den Fachwissenschaften (z.B. der Germanistik oder Pädagogik); (2) der Wissenschaften insgesamt: z.B. die Stellungnahmen der Natur- und Ingenieurwissenschaften zu "Regeln von Wissenschaft und Technik" 3 oder der Erziehungswissenschaften zum Thema "staatliche Erziehungsziele"; (3) der Religion: objektiviert in Bibeltexten, Kirchentraditionen, Ausdrucksformen für Selbstverständnisse und religionstextliche "Weisungen" usw. (z.B. Denkschriften der EKD, zuletzt zum "Handwerk als Chance", 1997), 2
Zu Problemen dieses Hearings: W. Schmitt Glaeser, Die Sorge des Staates um die Gleichberechtigung der Frau, DÖV 1982, S. 381 ff. 3 Zum Ganzen: P. Marburger, Die Regelp der Technik im Recht, 1979; R. Grawert, Technischer Fortschritt in staatlicher Verantwortung, in: FS Broermann, 1982, S. 457 ff.; A. Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenabschätzung, 1993; zuletzt H Hofmann, Technik und Umwelt, in: HdbVerfR 2. Aufl., 1994, S. 1005 ff.; R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995.
II. Die relative Gewichtung der Teilbeiträge
223
aber auch z.B. vorbildliche persönliche Lebenshaltungen großer Persönlichkeiten (man denke an Altbundespräsidenten wie T. Heuss oder Altbundeskanzler wie H. Schmidt) 4. (in noch zu klärender Weise zwischen a), b), c) einzuordnen:) Die Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur (vgl. Fünfter Teil X.), gestuft in arbeitsteiligen Leistungen erbracht zusammen mit a) den staatlichen Funktionen (Auftragsarbeiten wie (Partei-)Gutachten oder Sachverständigenvoten), freie wissenschaftliche Stellungnahmen zur Verfassungspolitik von Parteien u.ä., Buch- oder Entscheidungsrezensionen (z.B. auch aus Anlaß des Mitbestimmungsstreits und -urteils oder des (Anti-)Kruzifix-Beschlusses des BVerfG (1995) b) Werken und Leistungen der übrigen wissenschaftlichen, der sonstigen kulturellen Öffentlichkeit (in Gestalt von Gegenaufsätzen, Beteiligung an wissenschaftlichen Kontroversen, rechtspolitischen Kongressen wie dem Deutschen Juristentag, auch der Verwaltungsrichtertagung oder dem Verkehrsgerichtstag usw., Beschlüssen des deutschen Presserates) c) Leistungen der europäischen Staatsrechtslehre in anderen Ländern (Rechtsvergleichung) als Vorboten der europäischen Verfassungslehre.
II. Ansätze zu einer funktionell-rechtlichen Theorie relativer Gewichtung der Teilbeiträge Das relative Gewicht, das die einzelnen Grundierungselemente der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten besitzen, entspricht nicht immer dem Gewicht, das sie idealiter haben sollen; Maßstäbe, die die Vielzahl der einzelnen Faktoren von Verfassungstraditionen bis zu Klassikertexten, von Rechtsprechungstraditionen und Staatspraxen bis zu Alternativ-Interpretationen von Untergerichten, Sondervoten oder Minderheits-, ja Außenseiterpositionen in der Wissenschaft einander optimal zuordnen, sind aus dem funktionellrechtlichen Ansatz zu gewinnen4.
4 Grdlg. H Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff. (73 ff.), später in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 329 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 28, 31 f.
224
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Aus ihm auch folgt z.B., daß es self-restraint beim Absetzen von verfassungsrichterlichen Sondervoten gibt 5 ; denn ein Übermaß an Sondervoten ist keine fruchtbare Relativierung einer Entscheidung, sondern tendenziell ihre Negierung. Anders als beim vielstimmigen Meinungsstreit in der Wissenschaft bleibt der Sondervotant Teil der Funktion "Verfassungsgerichtsbarkeit". Klassikertexte 6 sind von der kulturellen Öffentlichkeit, als Teil von ihr aber auch von der juristischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit, ins Spiel gebrachte Texte. Als kulturelle Kontexte von Verfassungsprinzipien sind sie aber nicht nur interpretationsfähig, sondern auch je neu interpretationsbedtirftig. Als Verfassungstexte im weiteren Sinne sind an ihrer Auslegung Nichtjuristen wie Juristen beteiligt: Wissenschaftler wie Pädagogen, Künstler wie Regisseure und Schauspieler. Speziell für das Mit- und Gegeneinander der Rechtsprechungsrezensionen als "kommentierter Verfassungsrechtsprechung" ist im pluralistischen Gemeinwesen ebenso eine normative Rezensionstheorie notwendig und tendenziell schon Realität, wie dies für wissenschaftliche Buchrezensionen im Bereich öffentlich-rechtlicher Literatur nachweisbar ist 7 . Die behutsame Anerkennung der Relevanz des Selbstverständnisses von Kirchen, Gruppen, aber auch der Grundrechtsberechtigten (Bürger) 8 gehört ebenso in dieses pluralistische Gesamtbild von Teilmomenten wie die Schrittmacherrolle des Gesetzgebers: Er präjudiziell Verfassungsinterpretation vielfältig: er schafft präjudizierendes "Material" - in der Form eines Gesetzes -, das auf lange Sicht in die "Höhe" der Verfassung ausstrahlt und sogar zum Schrittmacher von Verfassungswandel werden kann 9 . 5 Negatives Beispiel ist die hohe Zahl der Sondervoten im Urteil des BVerfG zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz (E 55, 274 ff., 329 ff.) sowie in E 94, 115 ff. 6 Einzelheiten bei P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 18 ff, 49 ff. sowie unten VIII. 7 Ausf. P. Häberle, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 15 (63 ff). Auch im Rezensionsteil sollten die juristischen Fachzeitschriften Impulse vermitteln, ein Stück der Zeit prägen und Wirkung ausüben. Sie gehören nicht nur reflektierend zum "juristischen Gesicht der Zeit", sie bestimmen es auch mit. Dies verpflichtend ins Bewußtsein zu heben, ist das Anliegen meines Bandes "Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft", 1982. 8 Nw. unten in Inkurs A. 9 Vgl. dazu P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 240 ff.; ders., Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, FS Maunz, 1971, S. 285 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962 (3. Aufl. 1983), S. 167 ff., 180 ff., 213 ff.; s.a. D.C. Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 88 ff; O. Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht?, 1971, S. 86 ff; zuletzt P. Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in:
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
225
ΙΠ. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung 1. Verfassungsinterpretation, insbesondere: die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Schon die Arbeit des Verfassungsinterpreten geht nicht nur mit dem "positiven" Text um - daß sie dies vornehmlich tut, mag eine unverzichtbare "berufsnotwendige" Fiktion sein, so wie das Strafrecht die Willensfreiheit wenigstens als Fiktion ernst nehmen muß 10 . Allenthalben wird der Rückgriff auf jenseits oder diesseits des, über oder unter dem juristischen Text(es) liegende "kulturelle Kristallisationen" erforderlich. Methodisch-hermeneutisch gesehen prägen (personal) kulturelle Voraussetzungen schon das jeweilige juristische Vorverständnis des einzelnen Interpreten; aber auch im Rahmen der einzelnen herkömmlichen handwerklichen Kunstregeln und Auslegungstechniken färbt der kulturelle Kontext von Verfassungsnormen (sachlich) auf deren "fachjuristische" Interpretation ab: Die Explikation des Wortlauts etwa durch historische oder teleologische Interpretationen stößt bald auf kulturelle Hintergründe, die in den Auslegungsvorgang hereinzunehmen und damit zu disziplinieren sind (und tatsächlich auch hereingenommen und diszipliniert werden). HdbStR Bd. V, 1992, S. 739 ff.- Eine bemerkenswerte Gesetzesnovellierung vollzog sich in Griechenland (vgl. FAZ vom 25. Sept. 1982): Das Zensurgesetz von 1931 wird entschärft durch einen Zusatz, wonach als "unschicklich" nicht mehr künstlerische oder wissenschaftliche Werke gelten können, "die zum kulturellen Erbe der Menschheit" gehören oder "die menschliche Erkenntnis erweitern". Um den "künstlerischen oder wissenschaftlichen Wert" eines Werkes zu definieren, soll im Streitfall ein fünfköpfiger Rat berufen werden, der aus Dozenten für bildende Kunst, aus Pädagogen und Vertretern von Kinderschutzverbänden besteht. Kulturelle Freiheit, kulturelles Erbe und Wissenschaft setzen sich hier gegen das herkömmliche Strafrecht auf einfacher Gesetzesebene durch. Zu Kulturelles-Erbe-Klauseln im Verfassungsrecht allgemein: mein Münchener Vortrag "Zeit und Verfassungskultur" (1981), aaO. Auch sonst gibt es im Typus "Verfassungsstaat" viel "Verfassungserbgut": z.B. Präambeln, Grundrechts- bzw. Kompetenzteil, Normierungstechniken, Staatssymbolartikel, Ewigkeitsklauseln, Rezeptionsund Übergangsvorschriften etc. Zu Sprachen-Artikeln und Sprachenproblemen in westlichen Verfassungsstaaten meine vergleichende Textstufenanalyse (1990), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 273 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 1.- Grundsätzlich: J. Isensee, Staat im Wort, 1995. 10 Zum Sinn von Fiktionen im Bereich von Verfassungsrecht und -theorie s. meine Besprechung des Buches von M. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, 1980, in: DÖV 1981, S. 809 f.; s. auch bereits BVerfGE 31, 334 ff. (SV Geller/Rupp), 337 (349 ff, SV Geiger/Rinck/Wand). Zuletzt: P. Lerche, Die Technik des "Als-Ob" im Recht, in: P. Eisenmann/G. Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, 1990, S. 87 ff; P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 93 f.; M Jachmann, Fiktionen im öffentlichen Recht, 1997.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Als ein Beispiel sei der Begriff der "Kunst" i. S. von Art. 5 Abs. 3 GG genannt: Die These vom staatlichen Definitionsverbot 11 entbindet zwar nicht von den Entscheidungsnotwendigkeiten der Rechtspraxis, verweist aber (auch) auf das sich fortentwickelnde Selbstverständnis der Künstler. Ein sehr weites, in der Öffentlichkeit mitunter als Scharlatanerie interpretiertes, durch jahrzehntelange künstlerische Praxis entwickeltes Kunstverständnis wie das von J. Beuys wirkt über die kulturelle Öffentlichkeit allmählich auf den Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG zurück, bis hin zum "offenen Kunstbegriff(Folgenreich dürfte auch Christos Verhüllung des Deutschen Reichstages 1995 sein.) - Ähnlich läßt sich die stets neu umstrittene rechtliche Reichweite von "Satire" nicht gänzlich unabhängig von den sich wandelnden Einschätzungen des Kulturellen, hier besonders der literarischen Öffentlichkeit, bestimmen. - Auch die Frage, inwieweit die Polizei ihren zusätzlichen Kostenaufwand für Großsportveranstaltungen von den Veranstaltern zurückfordern darf 12 , läßt sich ohne eine Bestimmung des kulturellen Stellenwerts des Leistungs- und Spitzensports in der modernen "Massenkultur" (im Rahmen der Ermessensausübung nach §§81 Abs. 2 bad.-württ. PolG (alte Fassung), 1 nds. PolGebO) schwerlich beantworten: Die kulturellen Hintergrunddiskussionen reichen, auch über Gemeinwohlformeln, bis in die einzelnen Fasern des besonderen Verwaltungsrechts hinein. Kultureller Wandel "färbt" die Verfassungsinterpretation. "Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe." Dieser Satz R. Smends von 1951 führt auf die Frage, wie es zu rechtfertigen sei, daß dieselben juristischen Texte, etwa in den Menschenrechtspakten zwischen Ost und West (auch nach 1989), Nord und Süd, aber auch in den einzelnen Verfassungsstaaten des Westens, in Raum und Zeit verschieden interpretiert werden
11 W. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 217 ff. Allgemein F. Hufen, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, 1982; E. Denninger, Freiheit der Kunst, HdbStR Bd. VI (1989), S. 847 ff. (bes. S. 848 ff.); EG. Mahrenholz, Freiheit der Kunst, HdbVerfR, 2. Aufl., 1994, S. 1289 ff. (bes. S. 1296 ff.); P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 ff.; W. Berka/P. Häberle/C.H. Heuer/P. Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994; B. Geißler, Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995; M. Mihatsch, Öffentliche Kultursubventionierung, 1989; /. Pernice , in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 Abs. 3 (Kunst), Rdnr. 17. 12 Vgl. zum Problem D. Majer, Die Kostenerstattungspflicht für Polizeieinsätze aus Ani aß von privaten Veranstaltungen, VerwArch 73 (1982), S. 167 ff.; Κ Krekel, Die Kostenpflichtigkeit vollzugspolizeilicher Maßnahmen unter besonderer Berücksichtigung der Kostenerhebung von Großveranstaltern und von Störern bei Anwendung unmittelbaren Zwangs, 1986; s. zur verfassungsrechtlichen Dimension und zur gesetzlichen Neuregelung in Baden-Württemberg mit zahlreichen Nachweisen W. Sailer, Haftung für Polizeikosten, in: H. Lisken/E. Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, S. 861 ff. (894 ff.).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
227
und verschieden interpretiert werden dürfen. Der sachliche Hintergrund, auf dem die einzelnen Auslegungsmethoden "gebündelt" werden, ist die den jeweiligen Verfassungsstaat grundierende nationale Kultur. M.a.W.: Derselbe Text gewinnt in den einzelnen Rechtskulturen einen je nach Raum und Zeit unterschiedlichen Inhalt. "Kulturspezifische Verfassungsinterpretation" meint die Methoden und Verfahren, aber auch "Hintergründe" fur diese Auslegung. Sie mögen auch das - offene - Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden beeinflussen, das ja auch vom gerechten Interpretationsergebnis her gesteuert wird. Diese "Relativität" des Inhalts von Rechtstexten ist kein notwendiges Übel, sondern durch die Sache bedingt. Die Individualität einer Verfassung färbt identisch erscheinende Texte inhaltlich verschieden ein, d.h. sie prägt sie kulturspezifisch. Kulturspezifische Verfassungsinterpretation vermag der Zeit am besten "auf die Spur" zu kommen. Die Methoden der Verfassungsinterpretation haben dem Zeitfaktor mehr oder weniger verdeckt Eingang ins Geschäft der Auslegung verschafft. Zum Teil verabsolutieren sie einzelne "Zeiten". H. Ehmkes flexible Anwendung der einzelnen Interpretationsmethoden 13 ist daher ein Durchbruch gewesen, doch blieb offen, nach welchen Maßstäben die einzelnen Auslegungsmethoden letztlich kombiniert werden sollen. Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen, was kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinterpretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung bieten. Recht und Rechtswissenschaft, Gesetzgeber und Richter leben nicht aus sich selbst. Sie sind auf "Materialien" angewiesen, auf "Anstöße" und "Stoffe", z.B. auf neue Gerechtigkeitselemente, neue Erkenntnisse und Erfahrungen, aber auch neue Hoffnungen und Ideale, die das bisherige Recht in neuem Licht erscheinen lassen, oder die sie zwingen, die herkömmlichen Inhalte zu verteidigen. Im Bewußtsein, daß das Recht selbst Faktor und Ausdruck von Kultur ist, können sie - in ihren Kunstregeln "diszipliniert" - auch auf diese kulturellen Entwicklungen zurück-, notfalls auch vorausgreifen. Diese "kulturspezifische Verfassungsinterpretation" ist gewiß kein "Zauberstab", der nun die Auslegungsprobleme plötzlich löste. Wohl aber gewinnt die Verfassungsinterpretation offener als bisher Anschluß nicht nur an die sozialen und wirt-
13 H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (57 ff.), später in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 329 (332 ff.), hrsgg. vom Verf. P. Häberle.- Zu "Methoden der Verfassungsinterpretation im Wandel" gleichnamig: E. Riedel, FS P. Schneider, 1990, S. 382 ff. 18 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
schaftlichen, sondern vor allem an die kulturellen Bewegungen, Entwicklungen und Selbstbehauptungen, die ein politisches Gemeinwesen charakterisieren. In Europa intensiviert sich die Rechtsvergleichung zur "fünften Auslegungsmethode".
Inkurs Α.: "Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" I. Grundthese, Problemstand (1) Die bisherige Fragestellung der Theorie der Verfassungsinterpretation Die Theorie der Verfassungsinterpretation stellt sich bisher im wesentlichen zwei Fragen: - die Frage nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation 14 - die Frage nach den Methoden (Verfahren) der Verfassungsinterpretation (Auslegungsregeln) 15. Vernachlässigt ist das Problem, in welchem systematischen Zusammenhang dazu die (neue) dritte Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation steht, eine Frage, zu der die Praxis provoziert: Eine Bestandsaufnahme ergibt nämlich einen sehr weiten, pluralistischen, oft diffusen Beteiligungskreis; dies ist Grund genug für die Theorie, die Beteiligtenfrage explizit und zentral zu thematisieren, insbesondere in wissenschafts- und demokratietheoretischer Hinsicht. Die Theorie der Verfassungsinterpretation war zu sehr auf die "geschlossene Gesellschaft" juristischer Verfassungsinterpreten fixiert 16 , und sie verengte ihren Blickwinkel noch dadurch, daß sie primär auf die verfassungsrichterliche Interpretation und das formalisierte Verfahren schaute.
14 An Aufgaben werden genannt: Gerechtigkeit, Billigkeit, Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis, Vernünftigkeit (vgl. etwa BVerfGE 34, 269 [287 ff.]), Praktikabilität, Sachgerechtheit, Rechtssicherheit, Berechenbarkeit, Transparenz, Konsensfähigkeit, Methodenklarheit, Offenheit, Einheitsbildung, "Harmonisierung" ( ü Scheuner, VVDStRL 20 [1963], S. 125, Diskussion), normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gerechte ("gute") öffentliche Ordnung. 15 Dazu grundsätzlich K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 20 ff. 16 S. aber H Ehmke s aaO., (VVDStRL 20 [1963], S. 53 [71 f , 133]) auf das "ganze Gemeinwesen" zielende Figur "aller Vernünftig- und Gerecht-Denkenden". Zu ergänzen wäre: "und -Handelnden".
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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Wenn eine Theorie der Verfassungsinterpetation das Thema "Verfassung und Verfassungswirklichkeit" ernst nehmen will - man denke hier an die Forderung nach Einbeziehung der Sozialwissenschaften 17, an die schon bekannten funktionellrechtlichen Theorien 18 sowie an die neueren Methoden der öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogenen Auslegung 19 - dann muß entschiedener als bisher gefragt werden, wer "Verfassungswirklichkeit" gestaltet. (2) Neue Fragestellung und These In diesem Sinne stellt sich jetzt die Beteiligtenfrage, d.h. die Frage nach den an der Verfassungsinterpretation Beteiligten unter dem Stichwort: von der geschlossenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zur Verfassungsinterpretation durch und für die offene Gesellschaft! These ist: In die Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet. Es gibt keinen numerus clausus der Verfassungsinterpreten! Verfassungsinterpretation ist bewußtseinsmäßig, weniger realiter, bislang viel zu sehr Sache einer "geschlossenen Gesellschaft": der "zunftmäßigen" juristischen Verfassungsinterpreten und der am Verfassungsprozeß formell Beteiligten. Sie ist in Wirklichkeit weit mehr Sache einer offenen Gesellschaft, d.h. aller - insoweit materiell beteiligten - öffentlichen Potenzen, weil Verfassungsinterpretation diese offene Gesellschaft immer von neuem mitkonstituiert und von ihr konstituiert wird. Ihre Kriterien sind so offen, wie die Gesellschaft pluralistisch ist. (3) Erläuterung der These, Interpretationsbegriff Einer Erläuterung bedarf der hier zugrundegelegte Interpretationsbegriff, der sich auf die Formel bringen läßt: Wer die Norm "lebt", interpretiert sie auch (mit). Jede Aktualisierung der Verfassung (durch jeden) ist mindestens ein Stück antizipierter Verfassungsinterpretation. Herkömmlicherweise wird mit 17
Dazu der Sammelband Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften (Hrsg. D. Grimm), Bd. 1, 1973; s. aber auch H. Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozial wissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, JZ 1974, S. 410 ff. 18 Dazu H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73 f.); K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 31 ff. Zu verfahrensmäßigen ("procedere") und materiellrechtlichen Auswirkungen der funktionellen Arbeitsteilung zwischen BVerfG und "anderen Verfassungsorganen": BVerfGE 36, 1 (14 f.); 35, 257 (261 f.); 4, 157 (168 f.); 36, 342 (356 f.). Umstritten: E 93, 121 ff. 19 Dazu m. N. P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.), auch in ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 59 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Interpretation" nur eine Tätigkeit bezeichnet, die bewußt und intentional auf das Verstehen und Auslegen einer Norm (eines Textes) gerichtet ist 20 . Die Verwendung eines so umgrenzten Interpretationsbegriffs ist auch sinnvoll: Die Frage nach der Methode zum Beispiel läßt sich nur dort stellen, wo bewußt interpretiert wird. Für eine realistische Untersuchung des Zustandekommens von Verfassungsinterpretation kann aber ein weiterer Begriff von Interpretation erforderlich sein: Bürger und Gruppen, Staatsorgane und Öffentlichkeit sind "interpretatorische Produktivkräfte" - Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne. Zumindest als "Vorinterpreten" sind sie tätig; die Verantwortung verbleibt bei der "letztlich" interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit (vorbehaltlich der normierenden Kraft von Minderheitsvoten). Wenn man will, handelt es sich um eine Demokratisierung der Verfassungsinterpretation 21, wie überhaupt die Interpretationstheorie demokratietheoretisch abgesichert werden muß und umgekehrt. Es gibt keine Interpretation der Verfassung ohne die erwähnten Aktivbürger und öffentlichen Potenzen. Jeder, der in und mit dem von der Norm geregelten Sachverhalt lebt, ist indirekt und ggf. auch direkt Norminterpret. Der Adressat der Normen ist am Interpretationsvorgang stärker beteiligt als gemeinhin angenommen wird 2 2 . Da nicht nur die juristischen Verfassungsinterpreten die Normen leben, sind sie auch nicht die alleinigen, ja nicht einmal die Primärinterpreten. 23
Dabei geht es nicht nur um die "Staatspraxis" (etwa um die Interpretation der Art. 54 ff. GG durch den Bundespräsidenten oder des Art. 65 GG durch den Bundeskanzler). Bei manchen Grundrechten richtet sich die Interpretation (schon bewußt?) danach, wie die "Normadressaten" selbst den grundrechtlich geschützten Lebensbereich ausfüllen. So bestimmt das BVerfG den Schutzbe20
Diesen engeren Interpretationsbegriff legt Κ Hesse, Grundzüge, S. 20 ff., zugrunde. Er bezeichnet das, was hier mit Interpretation im weiteren Sinne gemeint ist, als "Verwirklichung" (Aktualisierung) der Verfassung; ähnlich H. Huber, der von "Konkretisierung anstelle von Interpretation" spricht, GS für Imboden, 1972, S. 191 (195). Zu einem weiteren Interpretationsbegriff vgl. auch H. Ehmke, aaO., VVDStRL 20 (1963), S. 53 (68 f.); U. Scheuner ebd., S. 125 (Diskussion). 21 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff.). 22 G. Winter und K.F. Schumann, Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 3, 1972, S. 529, fordern für den Bereich des Strafrechts die intensive Beteiligung derjenigen, denen ein Normverstoß vorgeworfen wird, an der kritischen Überprüfung und Fortentwicklung des Rechts durch die Justiz. 23 Wie diese die Interpretation beeinflußt, hat G. Jellinek Schon mit der normativen Kraft des Faktischen gezeigt: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960, S. 18 f., 332 ff.- Zu "Staatspraxis und Verfassungsgerichtsbarkeit" jetzt gleichnamig: P. Lerche, FS H. Maier, 1996, S. 341 ff. Zuletzt BVerfGE 77, 308 (331): Staatspraxis; auch E 91, 148(172).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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reich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit Hilfe des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften 24. Ähnliche Bedeutung könnte das Selbstverständnis des Künstlers bei der Auslegung der "offenen" Kunstfreiheitsgarantie (Art. 5 Abs. 3 GG) erlangen 25; auch bei der pluralistisch und verfahrensorientiert zu sehenden Wissenschaftsfreiheit mit ihrem "offenen" Wissenschaftsbegriff 26 stellt sich die Frage, inwieweit sie von den einzelnen Wissenschaften (und ihren Metatheorien) selbst notwendigerweise mitinterpretiert werden muß - wie überhaupt die Grundrechte in einem spezifischen Sinne offen auszulegen sind. In einem weiteren Sinne ließen sich hier auch die an der Realität der modernen Parteiendemokratie orientierte Auslegung der Art. 21 2 7 und 38 GG, die Lehre von den Berufsbildern 28, die Durchsetzung eines weiten Begriffs der Presse(freiheit) bzw. ihrer "öffentlichen Aufgabe" 29 oder
24
BVerfGE 24, 236 ff. (247 f.), mit dem bezeichnenden Hinweis auf die "pluralistische Gesellschaft"; dazu meine Anm. in DÖV 1969, S. 385 (388); Κ Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 202 ff. und meine Bespr. in ZevKR 18 (1973), S. 420 ff.- Zur Negierung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften nach Beginn des Kirchenkampfes in der Rspr. des RFH: M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 290 f. 25 Zum verfassungsrechtlichen Kunstbegriff: W. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, bes. S. 128 ff, 164 f , 172 f , 217 ff.; M Hechel Staat, Kirche, Kunst, 1968, S. 97 ff.: Offenheit des Kunstbegriffs der Verfassung.· Zum weiten, offenen Kunstbegriff: BVerfGE 67, 213 (224 ff.). 26 Zur Freiheit der Forschung: W. Schmitt Glaeser, WissR 7 (1974), S. 107 ff, 177 ff.; BVerfGE 35, 79 (113): Kein Schutz einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft oder einer bestimmten Wissenschaftstheorie durch Art. 5 Abs. 3; prinzipielle Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis; vgl. auch das Minderheitsvotum und dessen Hinweis auf den "freiheitlichen Wissenschaftspluralismus", auf Wissenschaft als "prinzipiell unabgeschlossenen, dialogischen Prozeß der Suche nach Erkenntnis" (ebd., S. 157) sowie auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zur "Reform der Reformen" (S. 165). Für einen "offenen" Wissenschafts- und Freiheitsbegriff: E.-L Solte, Theologie an der Universität, 1971, S. 30, 33 ff, dessen Begriff einer "neutralen" Interpretation der Grundrechte freilich fragwürdig ist. 27 Dazu Κ Hesse, aaO, S. 69 ff.; P. Häberle, Unmittelbare staatliche Parteienfinanzierung, JuS 1967, 64 ff - Z.B. wird ein verfassungsrechtlicher Schutz der Fraktionen aus der Regelung des Bundestages (BVerfGE 20, 56 [104] und (!) aus Art. 21 GG gefolgert; ihre "Konstitutionalisierung" in Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG (s. schon: BVerfGE 27, 44 [51 f.], dazu mein Aufsatz: "Landesbrauch" oder parlamentarisches Regierungssystem?, in: JZ 1969, S. 613 f. mit Note 10) folgte der GeschO-BT erst nach. S. jetzt Art. 67 Verf. Brandenburg (1992). 28 Ihr kommt allerdings nur eine begrenzte Bedeutung zu: BVerfGE 7, 377 (397); 21, 173 (180); 34, 252 (256); Th. Maunz /G. Dürig /R. Herzog, GG, K„ Art. 12, Rn. 24 ff. 29 Dazu BVerfGE 34, 269 (283); 12, 113 (125) und meine Schrift Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 582 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
die Interpretation der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) anführen 30, soweit sie das Selbstverständnis der Koalitionen berücksichtigen soll. (4) Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Diese Relevanz des Selbstverständnisses und des entsprechenden Wirkens von Einzelnen und Gruppen, aber auch von Staatsorganen ist eine herausragende und fruchtbare Form der Verbindung von Verfassungsinterpretation im weiteren und engeren Sinne. Das Selbstverständnis wird zu einem "grundrechtlichen Sachelement"31. Auch die realiter mitinterpretierende Rolle der Sachverständigen in Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren gehört hierher. Dieses Zusammenspiel von Interpreten im weiteren und engeren Sinne findet nicht nur dort statt, wo es schon institutionalisiert ist wie bei den Arbeitsrichtern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in den staatlichen Arbeitsgerichten 32. "Sachkundige" und "Interessenten" aus der pluralistischen Gesellschaft werden zu Interpreten staatlichen Rechts. Dieses erweist sich nicht nur im Entstehungsvorgang, sondern auch in der weiteren Entwicklung als pluralistisch: Wissenschafts-, Demokratie- 33 und (Verfassungs-)Interpretationstheorie führen hier zu einer spezifischen Vermittlung von Staat und Gesellschaft!
30 Ansätze in BVerfGE 4, 96 (108); 18, 18 (32 f.); 34, 307 (316 f.); 94, 268 (285) sowie bei P. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfrechts, 1968, S. 53; R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 43 ff., 93.- S. auch das Argument vom Fehlen der "billigenden Aufnahme" durch beteiligte Kreise in BVerfGE 34, 293 (304 f.) sowie der "allgemeinen Überzeugung der Rechtsanwaltschaft": E 36, 212 (221). Umfassende Rechtsprechungsanalysen hätten nachzuweisen, wo die jeweiligen (Rechts-) Ansichten beteiligter Kreise von den Gerichten mitverwertet werden (vgl. auch § 346 HGB!). Speziell die Gewohnheitsrechtsbildung dürfte sich als "Fundgrube" erweisen.- Allgemein stellt sich die Frage, wann welche praktizierten Selbstverständnisse pluralistischer (Rand-)Gruppen in die Verfassungsinterpretation eingebracht werden dürfen, ja müssen; das ist auch ein Problem des Gleichheitssatzes. 31 Ausdruck bei F. Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 30 ff., 37 f. (6. Aufl. 1995, S. 45 f., 60 ff.). Zum Begriff Selbstverständnis bzw. "Eigenverständnis" s. BVerfGE 83, 341 (356). 32 Dazu K. Schiaich, aaO, S. 66 ff. 33 Zu K.R. Poppers Wissenschaftstheorie als "Philosophie der Demokratie" vgl. die Belegstellen zur Demokratie in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I (1957), bes. S. 25, 156 ff., 170 ff.; Bd. II (1958), S. 157, 159 ff, 186 f., 197 ff., 293 f.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung II. Die an Verfassungsinterpretation
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Beteiligten
(1) Methodische Vorbemerkung Die Untersuchung, wer in diesem Sinne realiter an Verfassungsauslegung beteiligt ist, ist (verfassungs-)soziologischer Ausdruck und Konsequenz des Begriffs "republikanische", offene Auslegung, die als Ziel aller Verfassungsinterpretation anzusehen ist. Wenn man davon spricht, daß "die Zeit", "die pluralistische Öffentlichkeit", "die Wirklichkeit" Verfassungsprobleme stellen und Material für Verfassungsauslegung, ihre Notwendigkeiten und Möglichkeiten entfalten 34, dann können diese Begriffe nur als vorläufig abstrahierende Chiffren verstanden werden. Eine Verfassungstheorie, die sich (auch) als Erfahrungswissenschaft versteht, muß bereit und prinzipiell im Stande sein, anzugeben, aus welchen konkreten Personen (Gruppen) und Faktoren die Öffentlichkeit besteht, was für eine Wirklichkeit es ist, die in der Zeit auf welche Weise wirkt, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten es gibt. Die Frage nach den an Verfassungsinterpretation Beteiligten ist zunächst in einem rein soziologischen, erfahrungswissenschaftlichen Sinne zu stellen35. D.h. man fragt realistisch danach, welche vorfindbare Auslegung auf welche Weise zustande gekommen ist, durch welche Elemente der öffentlichen Meinung, durch welche Beiträge der Wissenschaft die Verfassungsrichter (oder die sonst verbindlich entscheidenden Instanzen) in ihrer Auslegung tatsächlich beeinflußt worden sind 36 . Schon diese Frage ist eine Bereicherung und Ergänzung für eine Verfassungstheorie, die nach Zielen und Methoden (und damit nach der "guten" Interpretation) fragt; sie hat eine Hilfs-, Informationsfunktion, eine Art "Zubringeraufgabe". Später werden die Fragen nach Zielen und Methoden sowie nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation in einen systematischen Zusammenhang zu
34
Dazu mein Beitrag Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 (1974), S. 111 ff. Gerade unter dem Aspekt der hier gestellten Beteiligtenfrage scheint der entscheidungssoziologische Ansatz von R. Lautmann interessant, der die auf den Richter zielenden Verhaltenserwartungen der Verfahrensbeteiligten und der weiteren Umwelt untersucht (Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. I, 1970, S. 383 ff). S. aber auch die Kritik von H. Schelsky aaO., JZ 1974, S. 410 (412) an der "rechtstheoretischen Vorherrschaft der 'Entscheidungstheorie' des Richters" mit einem Hinweis auf das "realdialektisch gegliederte Rationalisierungsverfahren" des prozessualen Zusammenwirkens von Ankläger, Verteidiger und Richtern. 36 Dazu mit einigem Material mein Buch Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, insbesondere zur normierenden Kraft der Staatspraxis, der Öffentlichkeit und öffentlicher Interessen, S. 475 ff., 678 ff. bzw. 418 f., 558 ff., 572, 584 f., 589 ff. bzw. 215 ff., 260 ff. 35
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
bringen sein, aus dem sich Konsequenzen und neue Fragestellungen für die "juristische" Verfassungsauslegung wie für die Verfassungstheorie ergeben. (2) Systematisches Tableau Der Versuch einer systematisierenden Zusammenstellung der an Verfassungsinterpretation Beteiligten ergibt das folgende, vorläufige Tableau: (1) Die staatlichen Funktionen: a) in letztverbindlicher Entscheidung: das Bundesverfassungsgericht (freilich durch das eigene Minderheitsvotum "relativiert" und eben dadurch "offen") b) vom GG zu verbindlicher, aber überprüfbarer Entscheidung aufgerufen: die Rechtsprechung, die Legislative, (je nach Sachbereich in unterschiedlichem Maße:) die Exekutive, besonders bei der (Vor-)Formulierung öffentlicher Interessen 37. (2) Die - nicht notwendigerweise staatlichen - Verfahrensbeteiligten an den Entscheidungen zu 1 a) und b), d.h.: a) Antragsteller und Antragsgegner, Beschwerdeführer (z.B. Verfassungsbeschwerde), Kläger und Beklagter, die ihr Vorbringen begründen und das Gericht zur Stellungnahme (zum "Rechtsgespräch") zwingen b) sonstige Verfahrensbeteiligte, Äußerungs- und Beitrittsberechtigte nach dem BVerfGG (z.B. §§ 77, 85 Abs. 2 3 8 , 94 Abs. 1 bis 4 bzw. 65, 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 88, 94 Abs. 5), vom BVerfG "zugezogene" (z.B. § 82 Abs. 4 BVerfGG) c) Gutachter (z.B. in Enquete-Kommissionen, § 73 a GeschOBT) d) Sachverständige und Interessenvertreter in Hearings (§ 73 Abs. 3 GeschOBT, § 40 Abs. 3 GeschOBR), Sachverständige im Gericht 39 , Verbände (Anlage 1 a GeschOBT: Registrierung von Verbänden und deren Vertretern), politische Parteien (Fraktionen) - sie wirken speziell auch über den "langen Arm" der Richterwahl ein 4 0 17 Dazu m.N. aus der Rechtsprechungswirklichkeit der Verwaltungsgerichte mein Buch: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 475 ff, 678 ff. 38 Aus der Praxis des BVerfG: E 36, 342 (353 f , 354 f.), zuletzt E 93, 121 (150 f.). 39 Aufschlußreich ist der vom BVerfG in E 35, 202 (219) eingebaute "Sachverständigenvorbehalt" . 40 Und zwar durchaus konsequenterweise, dazu meine Anm. in JZ 1973, 451 (453).I.S. einer (partei-)politischen Anbindung schon M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), S. 17 (102, 106 Anm. 25).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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e) Lobbyisten, "Deputationen" (§ 10 GeschOBReg.) f) Beteiligte in partizipatorisch ausgestalteten Verwaltungsverfahren 41. (3) Die demokratische - pluralistische - Öffentlichkeit, der politische Prozeß als "großer Anreger": Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) - die nicht im engeren Sinne verfahrensbeteiligt sind, professioneller Journalismus einerseits, Lesererwartungen, Leserbriefe andererseits, Bürgerinitiativen, Verbände, politische Parteien außerhalb ihrer organisatorischen Beteiligung (vgl. 2 d), Kirchen, Theater, Verlage, Volkshochschulen, Pädagogen, Elternvereine 42. (4) (in noch zu klärender Weise zwischen 1., 2., 3. einzuordnen) die Verfassungsrechtslehre; sie hat eine Sonderstellung, weil sie die Beteiligung der anderen Kräfte thematisiert, selbst aber auch auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist. (3) Erläuterung des systematischen Tableaus Aus dieser Übersicht wird deutlich: Verfassungsinterpretation ist weder theoretisch noch praktisch ein "exklusiver" staatlicher Vorgang. Zugang zu ihm haben potentiell alle Kräfte des politischen Gemeinwesens43. Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt 44 4 5 , ist ebenso Verfassungsinterpret wie die politische Partei, die Organklage einreicht 46 oder gegen die ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wird. Bislang herrscht eine zu starke Verengung des Prozesses der Verfassungsinterpretation auf die Staatsorgane oder unmittelbar Verfahrensbeteiligten vor, eine Fixierung auf das "Amt" der Verfassungsinterpretation, auf das fimktionellrechtliche Zusammenspiel der staat-
41
Zum Problem: W. Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 ff.; s. auch die Typologie in meinem Buch Öffentlichen Interesse, aaO., S. 88 ff. 42 Aufschlußreich ist die von Elternvereinen geforderte Einräumung eines "Klagerechts", FR vom 18. März 1975, S. 4 und die Aktivität des Vereins "Lebensrecht" in den 90er Jahren. 43 Zurückweisung einer "Demokratisierung" der VerfasS. aber E. Forsthoffs sungsinterpretation z.B. in bezug auf Politikwissenschaftler, in: Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 69; dazu meine Kritik in: ZHR 136 (1972), S. 425 (443). 44 Nimmt man A. Arndts Forderung nach dem Rechtsgespräch ernst, dann müssen die "vernünftig und gerecht Denkenden" i.S. H. Ehmke s zunächst einmal die Verfahrensbeteiligten sein, vgl. G. Roellecke, Grundfragen der Juristischen Methodenlehre und die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins, FS für Gebh. Müller, 1970, S. 323 (328 f.). 45 R. Lautmann, Justiz - Die stille Gewalt, 1972, S. 118, bezeichnet die Parteien des Prozesses als "Lieferanten für Alternativen". 46 Im Sinne von BVerfGE 4, 27 (30); 20, 56 (113 f.), 73, 40 (65 ff.), ständige Rspr.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
liehen Funktionen, so wichtig dieses ist. Verfassungsinterpretation ist aber ein "Geschäft", das potentiell jeden und alle angeht. Die genannten Gruppen, Einzelnen usw. können als "mittelbare" oder langfristig wirkende Verfassungsinterpreten bezeichnet werden. Gestaltung der Wirklichkeit der Verfassung wird auch zu einem Stück Interpretation der "zugehörigen" Verfassungsnormen. Auch in und hinter den Staatsfunktionen (Gesetzgebung, Regierung sowie Verwaltung und Rechtsprechung) sind die konkreten Personen, die Abgeordneten, Verwaltungsbeamten, Richter zu sehen47 ("Personalisierung" der Verfassungsinterpretation). Die sogenannte Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages im Februar 1974 48 gibt noch heute ein gutes Beispiel fur eine vorgezogene Verfassungsinterpretation. Abgeordnete werden hier zu Interpreten der Verfassung. Ihre Äußerungen können sich - auch ohne formelle rechtliche Bedeutung zu haben - z.B. bei der umstrittenen Frage der Einstellung von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst (aktuelles Beispiel: die Diskussion um die Scientology-Sekte) auf die Verwaltungspraxis, auf die Interpretation durch Staatsorgane auswirken. Der vielberufene "politische Prozeß", der meist sub specie Freiheit für ihn gegenüber der Verfassungsinterpretation zitiert wird 4 9 , ist de constitutione lata und de facto viel stärker ein Stück Verfassungsinterpretation, als gemeinhin angenommen wird ("Politik als Verfassungsinterpretation") 50. Er ist von der Verfassung nicht ausgegrenzt, sondern einer ihrer wesentlichsten Lebens- und Funktionsbereiche, ein Herzstück im wahren Sinne des Wortes: einer Pumpe vergleichbar. Hier kommt es zu Bewegungen, zu Innovationen, zu Änderungen, aber auch zu "Bekräftigungen", die mehr als nur "objektives Material" für (spätere) Verfassungsinterpretation bilden; sie sind ein Stück Interpretation der 47
Vgl. dazu den Versuch von D.P. Kommers, The Federal Constitutional Court in the West German Political System, in: Frontiers of Judicial Research (Hrsg. Grossmann und Tannenhaus), 1969, S. 73 ff, mit dem behavoristischen Ansatz der amerikanischen Richtersoziologie die Einstellungen der Bundesverfassungsrichter zu untersuchen. Kritisch dazu P. Wittig, Politische Rücksichten in der Rechtsprechung des BVerfG?, Der Staat 8 (1969), S. 137 (156 f.). Zu den verschiedenen verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen und ihrer Kritik vgl. auch H Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 61 ff. 48 79. Sitzung des 7. BT v. 14. Februar 1974, Sten. Ber. S. 5002 (Β), mit dem allseits als herausragend empfundenen Beitrag des bayerischen Kultusministers H. Maier, S. 5089 (C); s. auch H. Ehmke, 80. Sitzung des 7. BT v. 15. Februar 1974, Sten. Ber. S. 5139(C) ff, 5140 (C). 49 Auch H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, untersucht in erster Linie den Einfluß, der vom BVerfG in Richtung auf den politischen Prozeß ausgeht. 50 Es gibt nicht nur Politik durch Verfassungsinterpretation, es gibt auch Verfassungsinterpretation durch Politik!
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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Verfassung, weil in ihrem Rahmen öffentliche Wirklichkeit geschaffen und oft unmerklich verändert wird. Die Gestaltungsfreiheit, die der Gesetzgeber "als" Verfassungsinterpret hat, unterscheidet sich zwar qualitativ von dem Spielraum, den der Verfassungsrichter bei der Interpretation hat, weil der Spielraum jeweils auf technisch ganz verschiedene Weise begrenzt wird 5 1 . Das bedeutet aber nicht, daß auch quantitativ ein erheblicher Unterschied bestehen muß. Der politische Prozeß ist kein verfassungsfreier Raum; er formuliert Gesichtspunkte vor, er setzt Entwicklungen in Gang, die auch dort verfassungsrelevant sind, wo der verfassungsrichterliche Interpret später sagt, es sei Sache des Gesetzgebers, im Rahmen der verfassungskonformen Alternativen so oder anders zu entscheiden52. Der Gesetzgeber schafft ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung, er setzt Akzente für die spätere Entwicklung der Verfassungsprinzipien 53. Er wirkt als Schrittmacher von Verfassungsinterpretation und "Verfassungswandel" 54. Er interpretiert die Verfassung - revisibel -, etwa bei der Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums. Seine bloß verfassungskonformen Entscheidungen sind durchaus verfassungsrelevant und stecken weitere Entwicklungen der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung mittel- oder auch langfristig ab. Gelegentlich werden sie zum Verfassungsinhalt. Wesentlicher Faktor und Aktivbeteiligter ist die Verfassungsrechtswissenschaft selbst. Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein wesentlicher, wenn auch nicht der alleinige Katalysator der Verfassungsrechtswissenschalt als Verfassungsinterpretation 55. Ihr tatsächlicher (verfassungsinterpretierender) Einfluß
51
Für den Gesetzgeber "technisch" durch die Kontrolle des BVerfG, "untechnisch" durch Wahlen, Tragfähigkeit von Koalitionen, (inner)parteiliche Willensbildung; für den Verfassungsrichter gibt es keine "technische" Kontrolle. Freilich wird er durch "die Öffentlichkeit" normiert, diese strukturiert sich aber für ihn aufgrund seiner Berufsauffassung, seiner Sozialisation in die Verfassungsrechtswissenschaft, den professionellen und kollegialen Verhaltenserwartungen, denen er ausgesetzt ist (dazu in anderem Zusammenhang F Kübler, Kommunikation und Verantwortung, 1973), anders. 52 Zur Argumentationsfigur der "Alternative" im Interpretationsvorgang: J. Esser, Vorverständnis aaO., S. 65 f., 132, 151 (unter Hinweis auf Popper); allgemeiner BVerfGE 24, 300 (348): Zur Funktion der politischen Parteien gehört, daß sie "politische Alternativen für alle einer staatlichen Gestaltung zugänglichen Lebensbereiche anbieten"; s. auch den Sonderfall zur "Alternative": richterliche Interpretation/Gesetzesentwurf (Pflicht zum Abwarten?), BVerfGE 34, 269 (291 f.). 53 Zu ihnen: P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 ff. 54 Dazu meine Dissertation, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1. Aufl. 1962), 2. erg. Aufl. 1972, S. 178, 213 ff. (3. Aufl. 1983). 55 Berühmte Beispiele: Die Rezeption des Grundrechtsverständnisses von G. Dürig (Maunz/ Dürig/ Herzog, Art. 1, RN 5 ff.) durch das BVerfG (E 7, 198 [204 ff.], 21, 362
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
wirft die Frage nach ihrer Legitimation dazu auf - eine Frage, die freilich auch für alle anderen an Verfassungsinterpretation beteiligten Kräfte gestellt werden muß und allgemein zur Frage der Bewertung der vorgenommenen Bestandsaufnahme führt. III. Bewertung der Bestandsaufnahme (1) Mögliche Einwände, Kritik Ein Einwand könnte lauten: Verfassungsinterpretation wird in eine Vielzahl von verschiedenen Interpretationen und Interpreten "aufgelöst", je nachdem, welche Funktion agiert. Gerade eine Verfassungstheorie, die die Herstellung politischer Einheit als Aufgabe sieht und den Grundsatz der Einheit der Verfassung betont, muß sich dieser Kritik stellen, allerdings nicht dort, wo sie "nur" eine realistische Bestandsaufnahme versucht. Auf die Einwände ist im Rahmen einer differenzierten Bewertung einzugehen, die zunächst nach der Legitimation der verschiedenen Verfassungsinterpreten zu fragen hat. Die Legitimationsfrage stellt sich für alle nicht "formell", "offiziell", "kompetenzmäßig" zu Verfassungsinterpreten "bestellten" Kräfte. Formelle Kompetenz durch die Verfassung haben ja nur die Organe (Ämter), die an die Verfassung "gebunden" sind und die in einem vorgeschriebenen Verfahren "vollziehen" sollen - Legitimation durch (Verfassungs-) Verfahren 56 - d.h. die Staatsorgane (Art. 20 Abs. 2, 3 GG - Bindung an verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Recht). Aber auch die Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG) sind an die Verfassung gebunden, soweit sie nicht Verfassungsänderungen anstreben. Gebunden an die Verfassung sind auch politische Parteien, Gruppen, Bürger, wenn auch in unterschiedlichem Maße und unterschiedlich "direkt", meist nur auf dem Umweg über die - sanktionierende - Staatsgewalt. Hier scheint einem geringeren Maß an Bindung zunächst auch ein geringeres Maß an Legitimation zu entsprechen.
[371 f.], des "Prinzips der Einheit der Verfassung" (E 36, 342 [362]; 19, 206 [220]; 1, 14 [32 f.]), des Parteienstaatsverständnisses von G. Leibholz (BVerfGE 1, 208 [223 ff.]; 2, 1 [11, 73 f.]; 11, 266 [273]; 20, 56 [100]; 32, 157 [164], mit einem Hinweis auf K.U.v. Hassel, dessen Äußerung als Verfassungsinterpretation i.w.S. wirkt), des "bundesfreundlichen Verhaltens" i.S. R. Smends (BVerfGE 12, 205 [254]; 86, 148 [211 f.]); 92, 203 [230 ff.]. 56 Sowohl der Legitimations- als auch der Verfahrensbegriff müssen in einem materialeren Sinne als bei N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, verstanden werden.
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(2) Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Normund Interpretationstheorie Das Korrespondenzverhältnis von Bindung (an die Verfassung) und Legitimation (zur Verfassungsinterpretation) verliert aber an Aussagekraft, je mehr man neuere Erkenntnisse der Interpretationstheorie berücksichtigt: Interpretation ist ein offener Prozeß, keine passive Unterwerfung, kein Befehlsempfang 57. Sie kennt alternative Möglichkeiten. Bindung wird zur Freiheit in dem Maße, wie das neuere Interpretationsverständnis die Subsumtionsideologie widerlegt hat. Die hier vorgenommene Erweiterung des Kreises der Interpreten ist nur die Konsequenz der allseits befürworteten Einbeziehung der Wirklichkeit in den Interpretationsvorgang 58. Denn die Interpreten im weiteren Sinne konstituieren ein Stück dieser pluralistischen Wirklichkeit. Sobald man erkennt, daß die Norm nicht das simpel, fertig Vorgegebene ist, stellt sich die Frage nach den an ihrer "Entwicklung" funktional und personal Beteiligten, den Aktivkräften der "law in public action" (Personalisierung und Pluralisierung der Verfassungsinterpretation ! ). Jeder Interpret wird ja von der Theorie und der Praxis angeleitet. Diese Praxis aber wird wesentlich gerade nicht nur von den offiziellen, "amtsmäßigen" Verfassungsinterpreten gestaltet. Die richterliche Bindung nur an das Gesetz und die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Richter in der Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung interpretiert 59. Es
57 Dazu vor allem die von J. Esser angeführte Interpretationsdiskussion, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, zuvor schon Grundsatz und Norm, 1956; H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; M Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967 (2. Aufl. 1976); F. Müller, Juristische Methodik, 1971 (6. Aufl. 1995, S. 162 ff.); T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974. 58 Dazu Κ Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS für Scheuner 1973, S. 123 (137 f.); s. auch H.H. Klein, BVerfG und Staatsräson, 1968, S. 15, 16 ff., 29 (auch im Blick auf meine Rezension, DÖV 1966, S. 660 ff), dazu meine Besprechung in DÖV 1969, S. 150 f. 59 Das übersieht die Analyse von O. Massing, Recht als Korrelat der Macht? In: Der CDU-Staat, Hrsg. Schäfer/Nedelmann, 1967, S. 123, die in der MInterpretationsautonomie" des BVerfG "die wahre Macht des heimlichen Souveräns" sieht (S. 129). Die Behauptung, die Souveränität habe sich vom Volk auf andere Instanzen, "in erster Linie auf die Verfassungsgerichtsbarkeit" hin verschoben (S. 142), geht von einem fragwürdigen Volkssouveränitätsbegriff aus (dazu später), der die Wirkungsweise des demokratischen Prozesses in der pluralistischen Öffentlichkeit nicht erfassen kann.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
wäre falsch, die Beeinflussungen, Erwartungen, sozialen "Zwänge", denen Richter ausgesetzt sind, nur unter dem Aspekt der Gefährdung ihrer Unabhängigkeit zu sehen60. Diese Beeinflussungen enthalten auch ein Stück Legitimation 61 und verhindern eine Beliebigkeit 62 richterlicher Auslegung 63 . Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ist nur erträglich, weil andere Staatsfunktionen und die pluralistische Öffentlichkeit Material "zum" Gesetz liefern. Das ist die gedankliche Herleitung der These, alle seien in den Prozeß der Verfassungsinterpretation eingeschaltet. Sogar die nicht selbst unmittelbar von einer Interpretation Betroffenen! So offen Verfassungsinterpretation sachlich und methodisch ist, so offen ist auch der Kreis der an ihr Beteiligten. Denn es geht um die Verfassung als öffentlichen Prozeß 64. Gegenüber dem Einwand, die Einheit der Verfassung gehe verloren, müßte auf den - weiterhin wirkenden - allgemeinen Bestand an Interpretationsregeln verwiesen werden, auf das "Konzert", das durch das Zusammenspiel vieler Verfassungsinterpreten aus ihrer jeweiligen eigenen Funktion heraus zustande kommt, vor allem auf die 60
Vgl. O. Bachof, Die richterliche Kontrollfunktion im westdeutschen Verfassungsgefüge, (erste) FS für Hans Huber, 1961, S. 26 (43): Der Richter darf sich zwar in einem konkreten Fall nicht durch die öffentliche Meinung beeinflussen lassen, "aber er steht, wie mit den Prozeßparteien, wie mit den Kollegen im eigenen Gericht, wie mit der Vielzahl aller ihm neben-, über- oder nachgeordneten Gerichte, wie mit der juristischen Fachwelt und mit der Wissenschaft, so auch mit dem Volk, mit der öffentlichen Meinung, in einer ständigen Kommunikation, gewissermaßen in einem dauernden 'Gespräch'Bachof sieht sogar die Chance, im Gericht zu mehr echter Kommunikation zu kommen als im Parlament. 61 Auch die "Legitimation durch Verfahren" im Sinne N. Luhmanns ist Legitimation durch Beteiligung am Verfahren. Dennoch geht es hier um etwas grundlegend anderes: Beteiligung am Verfahren soll nicht die Bereitschaft zur Abnahme von Entscheidungen und zur Verarbeitung von Enttäuschungen erhöhen (so N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 27 ff, 107 ff). Legitimation, die nicht nur formal verstanden wird, ergibt sich aus der Mitwirkung, d.h. der qualitativ-inhaltlichen Einflußnahme der Beteiligten auf die Entscheidung. Nicht um das "Lernen" der Beteiligten, sondern um das Lernen des Gerichts von den Beteiligten geht es. (Zur Kritik an Luhmann in dieser Hinsicht J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 202 ff. und H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 141 ff). 62 Eine Rechtstheorie, die sich auf Normlogik beschränkt, kommt in Gefahr, die soziale Eingebundenheit der Rechtsprechung zu übersehen. Aus der Widerlegung der Subsumtionsideologie folgt nicht, daß "rechtsanwendende Organe als Zufallsgeneratoren fungieren" (A. Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 [1970], S. 185 [190 f.]. Vgl. dazu auch D. Schefold, Normenkontrolle und politisches Recht, in: JuS 1972, S. 1 (6). 63 Das bedeutet gleichzeitig, daß die kritische Suche nach einseitigen und illegitimen Beeinflussungen richterlicher Entscheidungsbildung (aus der neueren Richtersoziologie W. Kaupen/Tk Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, 1971) berechtigt und notwendig ist. 64 Dazu mein Beitrag: Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff.
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Offenheit der Verfassung, an deren "Gewand" viele "stricken", nicht nur der Verfassungsjurist! Die "Einheit der Verfassung" 65 entsteht, wenn überhaupt, so erst aus der "Bündelung" der Verfahren und Funktionen vieler Verfassungsinterpreten; hier müssen verfassungstheoretische, insbesondere demokratietheoretische Überlegungen eingebracht werden. (3) Legitimation aus verfassungstheoretischen Überlegungen Die grundsätzliche verfassungstheoretische Legitimation der mehr oder weniger starken Beteiligung aller pluralistischen Kräfte am "Geschäft" der Verfassungsinterpretation liegt in der Tatsache, daß diese Kräfte ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung selbst sind - nicht als "hingenommene Tatsache", als factum brutum, sondern im Rahmen der Verfassung: Die mindestens mittelbare Einbeziehung der res publica in die Verfassungsinterpretation insgesamt ist Ausdruck und Konsequenz des hier vertretenen weiten, offenen, in das Spannungsfeld des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellten Verfassungsverständnisses 66. Eine Verfassung, die nicht nur den Staat im engeren Sinne, sondern auch die Öffentlichkeit strukturiert und die Gesellschaft verfaßt, die die Bereiche des Privaten unmittelbar einbezieht, kann dies nicht nur passiv tun, die gesellschaftlichen und privaten Kräfte als Objekte behandeln. Sie muß diese auch aktiv einbeziehen: als Subjekte. Von der verfaßten Wirklichkeit und Öffentlichkeit aus gedacht, in der "Volk" vielfältig, im Ausgangspunkt diffus, im Endpunkt aber "konzertiert" wirkt, haben alle tatsächlich relevanten Kräfte theoretische Relevanz für Verfassungsinterpretation. Praxis wird hier zur Legitimierung der Theorie, nicht nur umgekehrt. Da diese Kräfte ein Stück konstitutioneller Wirklichkeit und Öffentlichkeit begründen, haben sie auch teil an der Interpretation der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung! Selbst dann, wenn sie ausgeschlossen werden: wie die vom BVerfG zu verbietenden und dann etwa verbotenen politischen Parteien. Gerade diese zwingen zur Reflexion über den Verfassungsinhalt und beeinflussen durch ihre Existenz die Entwicklung des Selbstverständnisses des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens67. Verfassungsinterpretation auf die
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Dazu K. Hesse, Grundzüge aaO., S. 5 ff, 27. Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 f.); ders., Besprechung von H.H. Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, 1970, in: AöR 100 (1975), S. 333 ff. sowie unten XI Ziff. 3. 67 Auch hier bleibt die Verfassungsdebatte des Dt. Bundestages vom 14./15. Febr. 1974 ein gutes Beispiel. Sie ist nur ein Teil einer Verfassungsdiskussion (der 70er Jah66
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"zunftmäßigen M, funktionellrechtlich ausgewiesenen staatlichen Interpreten zu beschränken, hieße Verarmung oder Selbsttäuschung. Zumal ein stärker experimentelles Verständnis 68 der Verfassungsrechtswissenschaft als Norm- und Wirklichkeitswissenschaft kann auf die Phantasie und Schöpferkraft der "nichtzünftigen" Interpreten im Prozeß der Verfassungsinterpretation nicht verzichten. Verfassung ist in diesem Sinne Spiegel der Öffentlichkeit und Wirklichkeit. Sie ist aber nicht nur Spiegel, sie ist auch Lichtquelle, wenn dieser etwas bildhafte Vergleich erlaubt ist. Sie hat Steuerungsfunktion 69. Eine spezielle Frage betrifft die Legitimation der Verfassungsrechtswissenschaft. Sie hat eine Katalysatorfunktion und wirkt, weil sie - öffentlich - Verfassungsinterpretation methodisch reflektiert und zugleich die Ausbildung der "amtsmäßigen" Interpreten gestaltet, in alle Bereiche der Interpretation in besonderem Maße hinein. Wie läßt sich eine etwaige besondere Legitimation begründen? Auf dem Weg über Art. 5 Abs. 3 GG selbst. Verfassung als Gegenstand ist (auch) Sache der Wissenschaft. Der Bereich Wissenschaft muß über Art. 5 Abs. 3 GG als eigenständiger, integrierender Bestandteil des politischen Gemeinwesens angesehen werden. Dabei ist die - relative - Autonomie dieser "Sache" vom Grundgesetz von vornherein mitgedacht; legitimiert wird sie weniger "von außen" als durch wissenschaftsinterne und -spezifische Verfahren und Kontrollmechanismen 70. Es muß aber auch Aufgabe der Wissenschaft sein, ihre Beiträge so zu formulieren und zugänglich zu machen, daß sie für die Öffentlichkeit kritisierbar werden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt der Begriff der Lehre in Art. 5 Abs. 3 GG: er enthält einen Aus-
re), die auf allen Ebenen und in allen Bereichen des politischen Gemeinwesens angesichts der Konfrontation mit radikalen Alternativen eingesetzt hatte. 68 Zu diesem Versuch, die Forderungen des Kritischen Rationalismus nach einer "offenen Gesellschaft" verfassungstheoretisch aufzunehmen, mein Beitrag, Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 (1974), S. 111 (132 f.). 69 Zu diesem Verfassungsbegriff K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959; P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (56 f.). 70 Dazu F. Kübler, Kommunikation und Verantwortung, 1973, S. 38 ff.; vgl. auch N. Lahmann, Selbststeuerung der Wissenschaft, in: Soziologische Aufklärung, 1970, S. 232 ff.- Zur Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer als möglichem "institutionellen Ansatzpunkt für das verfassungstheoretische Wissen und Gewissen unseres demokratischen Gemeinwesens": //. Ehmke, aaO., S. 133.- Für Popper ist "wissenschaftliche Objektivität"... nicht ein Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers ..., sondern ein Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode; und die Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers ist, soweit sie existiert, nicht die Quelle, sondern vielmehr das Ergebnis dieser sozial oder institutionell organisierten Objektivität der Wissenschaft" (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, Falsche Propheten, 1956, S. 270).
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bildungsauflrag an die Verfassungswissenschaft, der durch die Treueklausel eigens hervorgehoben wird 7 1 . (4) Insbesondere: Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation Im demokratischen Verfassungsstaat ist die Legitimationsfrage noch einmal speziell unter demokratischen (demokratietheoretischen) Gesichtspunkten zu stellen. Eine im herkömmlichen Sinne verstandene demokratische Legitimation zu Verfassungsinterpretation hat die Verfassungsrechtswissenschaft, haben die ihr "zuliefernden" sog. Wirklichkeitswissenschaften, haben Bürger und Gruppen nicht. Aber Demokratie entfaltet sich eben nicht nur über den formalisierten, kanalisierten, im engeren Sinne verfaßten Delegations- und Verantwortungszusammenhang vom Volk zu den Staatsorganen hin (Legitimation durch Wahlen) 72 bis zum letztlich "kompetenten" Verfassungsinterpreten, dem BVerfG 73 . Sie entfaltet sich in einem offenen Gemeinwesen auch in den "feineren" mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses täglicher Politik und Praxis, insbesondere in der Grundrechtsverwirklichung, oft angesprochen in der "demokratischen Seite" der Grundrechte 74: durch die Kontroversen über die Alternativen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Wirklichkeit und auch das wissenschaftliche "Konzert" über Verfassungsfragen, in dem es kaum "Pausen" und "Fermaten" und keine Dirigenten gibt und geben darf 75 .
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Jedoch ist eine entsprechende Vorbildung der Bundesverfassungsrichter keine Qualifikationsvoraussetzung. S. aber das Erfordernis "besondere Kenntnisse im öffentlichen Recht" und bezugsreich "im öffentlichen Leben erfahrene Personen" in einigen Verfassungsgerichtshofgesetzen der Länder (z.B. § 3 Abs. 1 Satz 1 Hambg. VerfGG) und in § 3 Abs. 2 a.F. BVerfGG. 72 S. zur Problematik das Urteil des Bremer Staatsgerichtshofs zur Juristenausbildung, NJW 1974, 2223 (2228 ff.); vgl. auch BVerfGE 33, 125 (158) (Facharztentscheidung, dazu meine Anm. in DVB1. 1972, S. 909 [911]), zuletzt E 93, 37 (67 f.). 73 Die Untersuchung von W. Billing , Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, 1969, geht zu sehr von dieser Vorstellung aus, S. 93 ff. (aber differenzierend S. 116). 74 Zur Kontroverse: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, aaO, S. 17 ff, einerseits; H.H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1971, (dazu meine Besprechung in DÖV 1974, S. 343 ff.), E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff. andererseits. 75 Daß Verfassungsinterpretation, so wie sie hier verstanden wird, zum "bellum omnium contra omnes der wissenschaftlichen und politischen Meinungen" (dazu D. Schefold, aaO, JuS 1972, 1 [8]) wird, muß (und kann nur) die jetzt vielberufene "Solidarität der Demokraten" verhindern. 19 Häberle
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"Volk" ist eben nicht nur einheitliche, (nur) am Wahltag "emanierende" Größe, die als solche demokratische Legitimation vermittelt 76 . Volk ist als pluralistische Größe für die Interpretationen im Verfassungsprozeß nicht minder präsent und legitimierend: "als" politische Partei 77 , als wissenschaftliche Meinung, als Interessengruppe, als Bürger; dessen sachliche Kompetenz zu Verfassungsinterpretation ist ein staatsbürgerliches Recht i.S. des Art. 33 Abs. 1 GG! So gesehen sind die Grundrechte ein Stück demokratischer Legitimationsbasis für die nicht nur in ihren Ergebnissen, sondern auch in ihrem Beteiligtenkreis offene Verfassungsinterpretation 78. In der freiheitlichen Demokratie ist der Bürger Verfassungsinterpret! Um so wichtiger werden die Vorkehrungen zur Garantie realer Freiheit: leistungsstaatliche Grundrechtspolitik 79, Freiheit der Meinungsbildung, Konstitutionalisierung der Gesellschaft z.B. durch gewaltenteilende Strukturierung des öffentlichen, insbesondere wirtschaftlichen Bereichs 80 . Das ist keine "Entthronung" des Volkes - es ist dies allenfalls von einem Rousseauschen Volkssouveränitätsverständnis aus, in dem das Volk absolut und gottgleich gesetzt wird. Volk als verfaßte Größe wirkt "allseitig", universal, auf vielen Ebenen, aus vielen Anlässen und in vielen Formen, nicht zuletzt über tägliche Grundrechtsverwirklichung. Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluß von Bürgern. Demokratie ist "Herrschaft der Bürger", nicht des Volkes im Rousseauschen Sinne. Es gibt kein Zurück zu J.-J. Rousseau. Die Bürgerdemokratie ist realistischer als die Volks-Demokratie. 76 Deshalb ist die Frage der demokratischen Legitimation der Rechtsprechung nicht durch Ausweitung der Richterwahl (dazu F.-J. Säcker, Zur demokratischen Legitimation des Richter- und Gewohnheitsrechts, ZRP 1971, S. 145 ff.) abschließend beantwortbar. - Zum Zusammenhang zwischen Demokratie und richterlicher Unabhängigkeit vgl. auch K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 103 ff. 77 Insofern besteht eine Übereinstimmung mit G. Leibholz' Parteienstaatslehre (Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, bes. S. 78 ff.): Das Volk wird nur in bestimmten Organisationsformen artikulations- und handlungsfähig. Das berechtigt aber nicht zur Identifikation von Volk und (Volks-)Parteien; das pluralistische Gemeinwesen ist viel stärker ausdifferenziert. 78 Zur offenen Verfassungsinterpretation: P. Häberle, Die Abhörentscheidung des BVerfG, JZ 1971, S. 145 ff.; Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.); vgl. auch K. Schiaich, aaO., S. 120; W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987. 79 Dazu mein Koreferat Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (69 ff.). 80 Pluralismus muß organisiert und verfaßt werden. Daher muß die Konfrontation zwischen "Demokratisierungsstrategien", die die Gefahr totalitärer Politisierung aller Bereiche in sich tragen, und restriktiven Auffassungen, die Demokratie auf einen der Gesellschaft gegenübergestellten Staat begrenzen wollen (W. Hennis, Die mißverstandene Demokratie, 1973), überwunden werden. S. noch Vierter Teil V.
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Bürgerdemokratie liegt nahe von einem Denken, das die Demokratie von den Grundrechten her sieht, nicht von Vorstellungen, in denen das Volk als Souverän eigentlich nur den Platz des Monarchen eingenommen hat. Diese Sicht ist eine Konsequenz der Relativiérung des - allzu leicht mißverstandenen - Volksbegriffs 81 vom Bürger her! Grundrechtliche Freiheit (Pluralismus) 82, nicht "das Volk" wird zum Bezugspunkt für demokratische Verfassung. Diese capitis diminutio des kryptomonarchischen Volksbegriffsdenkens steht im Zeichen der Bürgerfreiheit und des Pluralismus. Es gibt viele Formen von in diesem Sinne weit verstandener demokratischer Legitimation, macht man sich nur von dem linearen und "eruptiven" Denkstil traditioneller Demokratievorstellungen frei. Es kommt zu einem Stück Bürgerdemokratie durch die interpretatorische Entwicklung der Verfassungsnorm hindurch 83 . Möglichkeit und Wirklichkeit freier Diskussion von einzelnen und 81
Zu stark am herkömmlichen Volksbegriff orientiert ist auch der Versuch, "demokratische Legitimation der Rechtsprechung durch Rückgriffe des Richters auf demoskopisch zu ermittelnde Durchschnittswertungen" zu verstärken, vgl. W. Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, S. 45 ff. Gegen eine Orientierung am "Mehrheitswillen des Volkes" aus demokratietheoretischen Überlegungen auch F.-J. Säcker, Zur demokratischen Legitimation des Richter- und Gesetzesrechts, ZRP 1971, S. 145 (149 f.). Kritisch gegenüber der "Durchschnittswertung" auch H.F. Zacher, Soziale Indikatoren als politisches und rechtliches Phänomen, Vierteljahresschrift für Sozialrecht, Bd. II (1974), S. 15 (48 f., Fn. 95). Zum "Durchschnittsbürger" u.ä. als normativierter, demokratietheoretisch zu sehender, richterlicher Figur, mein Buch Öffentliches Interesse, S. 328, 347 f , 425 ff, 573, 725. 82 Diese Sicht gilt auch für alle Formen kommunaler, sozialer usw. Selbstverwaltung. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 1 Inkurs B. 83 Poppers Demokratiekonzeption und ihr sie rechtfertigender Zusammenhang^) mit seiner Wissenschafts- und Erkenntnistheorie kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden (Belegstellen zur Demokratie in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I (1957), bes. S. 25, 156 ff, 170 ff.; Bd. II (1958), S. 157, 159 ff, 186 f , 197 ff, 293 f.). Genügen muß der Hinweis, daß Poppers Wissenschaftskonzept demokratietheoretisch ergiebig ist, das im Text vertretene pluralistische und gewaltenteilige, konstitutionelle, bürgerfreiheitliche Demokratiekonzept sich auf Popper auch insofern berufen kann, als er seine Demokratietheorie ohne, ja gegen "klassische" Volkssouveränitätsdogmen entfaltet.- Rezeptionen und Adaptionen Poppers in der Demokratiediskussion unter dem GG haben mehr oder weniger ausdrücklich und mittelbar schon stattgefunden: besonders im KPD-Urteil des BVerfG, E 5, 85: "process of trial and error (/. B. Talmon)" (S. 135), "ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik als beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie" (S. 135), Verhältnisse und Denkweisen sind "verbesserungsfähig und -bedürftig", "nie endende Aufgabe" (S. 197), Ablehnung der Auffassung, daß die geschichtliche Entwicklung durch ein "wissenschaftlich erkanntes Endziel determiniert" sei (S. 197), "sozialer Kompromiß" (S. 198), "Offenheit" dieser Ordnung (S. 200), "relativer Vernunftgehalt aller politischen Meinungen" (S. 206); s. auch E 12, 113 (125): pluralistische öffentliche Meinungsbildung; E 20, 56 (97): freier und offener Prozeß der Meinungs- und Willensbildung; E 80, 124 (135): freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung.- Aus der Lit.: W. von Simson, Das demokrati-
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Gruppen "über" und "unter" den Verfassungsrechtsnormen und ihr pluralistisches Wirken "in" ihnen vermittelt sich dem Interpretationsvorgang vielfältig. (Daß dieser freie Prozeß realiter auch von innen her immer wieder bedroht ist und daß selbst unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Wirklichkeit gegenüber dem Idealtypus Defizite aufweist, sei ausdrücklich vermerkt.) Demokratietheorie und Interpretationstheorie 84 werden zur Konsequenz von Wissenschaftstheorie. Die Gesellschaft ist in dem Maße frei und offen, wie sich der Kreis der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne öffnet. IV Konsequenzen für die ['juristische"
Verfassungsinterpretation
(1) Relativierung der juristischen Interpretation neues Verständnis ihrer Aufgaben Die Überlegungen führen zu einer Relativierung der juristischen Verfassungsinterpretation. Sie ist aus folgenden Gründen geboten: (1.) Der Verfassungsrichter interpretiert schon im Verfassungsprozeß nicht "allein": mehrere sind am Verfahren beteiligt, die Verfahrensbeteiligungsformen dehnen sich aus. (2.) Im "Vorfeld" juristischer Verfassungsinterpretation der Richter interpretieren viele, d.h. potentiell alle öffentlichen pluralistischen Kräfte. Inso-
sche Prinzip im GG, VVDStRL 29 (1971), S. 3 (9 f.); G. Dürig, ebd., S. 127 (Diskussion): "immanente Spielregeln der Korrigierbarkeit und Revozierbarkeit"; ders., in: Maunz/Dürig/Herzog, GG, zu Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 210 (für die Rechtsfindung).- Unschwer wiederzuerkennen sind hier: Poppers Falsifikationsprinzip ("trial and error"), seine These von der Indirektheit und vom Vermutungscharakter der Erkenntnis (conjectures and refutations), deren ständigen Bewährung, die sich selbst bescheidende, korrigierbare "piece-meal social engineering" mit ihrer Ablehnung der Technik von Ganzheitsplanung, sein relativer Glaube an die Vernunft, sein experimentelles Verständnis von Politik, sein Plädoyer für schrittweise, folgenorientierte Reformen, seine Mahnung zu Geduld und Toleranz und sein Einsatz für die offene Gesellschaft als "rational und kritisch", für ihren pluralistischen Wettbewerb unterschiedlicher Ideen und Interessen dank der Freiheit der Kritik, des Denkens und damit des Menschen und dessen persönlichen Verantwortlichkeiten und Entscheidungen, aber auch sein Kampf gegen den Allwissenheits- und Allmachtanspruch "geschlossener" Gesellschaften. Insgesamt bleibt die grundsätzliche Aufgabe, Poppers Wissenschaftstheorie verfassungstheoretisch und -praktisch in die Demokratietheorie und zugleich in die Norm- und Interpretationstheorie im einzelnen "hineinzuentwickeln" (Ansätze in meinem Beitrag: Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 434 [448 ff.]). 84 Vgl. J. Essers Bezugnahme auf Poppers trial-and-error-Methode, Vorverständnis, aaO., S. 151, später die abw. Meinung der Richter Rupp- v. Brünneck und Dr. Simon zum Abtreibungsurteil des BVerfG vom 25. Februar 1975 (BVerfGE 39, 68 ff.).
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fern relativiert sich der Begriff "am Verfassungsprozeß Beteiligte" in dem Maße, wie sich die Kreise der an der Verfassungsinterpretation Beteiligten erweitern. Die pluralistische Öffentlichkeit entfaltet normierende Kraft. Das Verfassungsgericht hat später entsprechend Öffentlichkeitsaktualisierend zu interpretieren. (3.) Viele Problemkreise und Bereiche der materiellen Verfassung kommen mangels richterlicher Zuständigkeit und mangels Anrufung des Verfassungsgerichts gar nicht zum Verfassungsrichter. Gleichwohl "lebt" hier materielle Verfassung: ohne Verfassungsinterpretation durch den Richter. (Man denke an Grundsätze der parlamentarischen Geschäftsordnungen!) Die im weiteren Sinne Beteiligten und Interpretierenden entfalten eigenständig materielles Verfassungsrecht. Das Verfassungsprozeßrecht ist nicht der einzige Zugang zu den Verfahren der Verfassungsinterpretation. In die Zeit gestellt, geht der Instanzenzug der Verfassungsinterpretation ins Unendliche: Der Verfassungsjurist ist nur ein Zwischenträger 85. Sein Auslegungsergebnis steht unter dem Vorbehalt der Bewährung, die sich im Einzelfall 86
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zur Bewährung, zur "alternativenreichen Rechtfertigung" oder zur Änderung durch vernünftige Alternativen konkretisieren kann. Das Verfahren der Verfassungsinterpretation muß weit nach vorn und weit über den konkreten Verfassungsprozeß selbst hinaus ausgedehnt werden 87 ; der Interpretationsradius der Norm erweitert sich: dank aller "Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft". Sie sind in den Verfahren von "trial and error" im Rechtsfindungsprozeß 88 wesentliche Beteiligte. Gesellschaft wird eben dadurch offen und frei, daß alle potentiell und aktuell zur Verfassungsinterpretation Beiträge leisten (können). Juristische Verfassungsinterpretation vermittelt (nur) die pluralistische Öffentlichkeit und Wirklichkeit, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gemeinwesens, die vor, in und hinter den Verfassungstexten
85 Die Verfassungsrechtsprechung unternimmt z.B. mit obiter dicta den Versuch, über die punktuelle Entscheidung hinaus künftige Verfassungsauslegung vorzubereiten - und somit schon vorher kritisierbar zu machen. Kritisch dazu von einem anderen Verfassungsbegriff aus E. Kuli, Verfassung als Parteiprogramm - Zur Expansion der "relevanten Kräfte", in: FS für E. Forsthoff, 1972, S. 213, FN 2. 86 Ausdruck bei J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 148. 87 Dem soll mit den Begriffen "Vorverständnis" und "Nachverständnis" Rechnung getragen werden: P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (126 ff.).(Verfassungs-)Gesetze haben nicht nur Vor-, sondern auch Nachgeschichte. 88 Dazu J. Esser, Vorverständnis, aaO, S. 23, 151 f.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
stehen. Interpretationslehren überschätzen immer wieder die Bedeutung des Textes89. So diszipliniert und disziplinierend die Verfahren der Verfassungsinterpretation auf dem Weg über "juristische" Methoden sind - so vielfältig, ja diffus sind die diesem Prozeß "vor"-gelagerten Vorgänge: relativ rational scheinen noch die Prozesse der Gesetzgebung, soweit sie Verfassungsinterpretation sind, und das ist häufig der Fall; auch die Verwaltung als "interpretierende" (Gemeinwohl-)Verwaltung 90 wirkt in recht rationaler Weise, andere Formen der Staatspraxis sind im Auge zu behalten; die Partizipationsvorgänge der pluralistischen Öffentlichkeit sind aber alles andere als diszipliniert, darin liegt ein Stück Gewähr ihrer Offenheit und Spontaneität. Trotzdem behalten die Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation ihre Bedeutung, allerdings in einer neu verstandenen Funktion: Sie sind die "Filter", über die erst die normierende Kraft der Öffentlichkeit wirkt und Gestalt gewinnt. Sie disziplinieren und kanalisieren die vielfältigen Formen der Einwirkung verschiedener Beteiligter. (2) Insbesondere: Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle Differenzierung im Hinblick auf das Maß an Beteiligung Eine Theorie der Verfassungsinterpretation, die die Frage nach den Zielen und Methoden und die Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpre89 Vgl. auch zur Problematik des Textes als "Grenze der Verfassungswandlung" K. Hesse aaO., FS für U. Scheuner, S. 123 (139 f.). Zur geringen Ergiebigkeit des Wortlautes bei der "Konkretisierung von Grundrechten" Hans Huber, GS für Imboden 1972, S. 191 ff. 90 Dazu m. N. mein Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 475 ff, 678 ff.; F. Ossenbühl, Die Verwaltungsschriften in der verwaltungsgerichtlichen Praxis, AöR 92 (1967), S. 1 ff.; s. auch die sich an den B. des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (JZ 1972, 655 ff.) sowie das Urteil des BVerwG (JZ 1972, S. 204 ff. = BVerwGE 39, 197 ff.) anschließende Diskussion (Bachof JZ 1972, 641 ff. und 208 ff.; F. Ossenbühl, Zur Renaissance der administrativen Beurteilungsermächtigung, DÖV 1972, S. 401 ff.; H.-U. Erichsen, Unbestimmter Rechtsbegriff und Beurteilungsspielraum, VerwArch 1972, S. 337 ff; M. Bullinger, Ermessen und Beteiligungsspielraum - Versuche einer Therapie, NJW 1974, S. 769 ff.); H. Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte , JZ 1993, S. 772 ff. 91 Typisierende Nachweise aus der Rspr. des BVerfG im Beitrag Gemeinwohljudikatur, AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.); etwa E 34, 269 (283); 35, 202 (222 f, 230 ff.); 32, 111 (124 ff.); 31, 229 (242 ff.); 30, 173 (191); allgemeiner in meinem Öffentlichen Interesse, aaO., S. 304 f., 419 Anm. 31, 558 ff., 572 f., 583 f., 594, sowie mein Beitrag in Th. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 (39 ff.). S. auch den "Nachtrag" in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 343 ff.
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tation in einen systematischen Zusammenhang bringt, muß daraus konkrete Folgerungen für die Methode der Verfassungsauslegung ziehen. Mögliche Konsequenzen sollen hier thesenartig angedeutet werden. Ein Gericht wie das BVerfG, das die Verfassungsinterpretation einer anderen Stelle überprüft, soll verschiedene Methoden anwenden, je nachdem, wer bei der ersten (zu überprüfenden) Interpretation beteiligt war 92 . Dies ist andeutungsweise vom funktionellrechtlichen Denken schon gesehen worden: Bei der Überprüfung von Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers sollen sich die Gerichte besonders zurückhalten 93 ; entsprechendes gilt für die Überprüfung von Landesrecht durch das BVerfG 94 . In Weiterführung dieses Ansatzes wäre zu erwägen: Es gibt Gesetze (Hochschulgesetze, Reformen des StGB wie §218, Ladenschlußgesetze), denen die Öffentlichkeit enormes Interesse entgegenbringt, die ständig in der Diskussion stehen, die unter weitgehender Beteiligung und unter der wachen Kontrolle der pluralistischen Öffentlichkeit zustande gekommen sind. Das BVerfG sollte, wenn es ein solches Gesetz überprüft, berücksichtigen, daß dieses Gesetz besonders legitimiert ist, weil besonders viele am demokratischen Prozeß der Verfassungsauslegung beteiligt waren. Bei nicht grundsätzlich umstrittenen Gesetzen würde das bedeuten, daß diese nicht so streng zu überprüfen wären wie solche Gesetze, die weniger in der öffentlichen Diskussion stehen, weil sie scheinbar uninteressant (z.B. technische Zweckmäßigkeitsregelungen) oder schon vergessen sind. Besonderes hat aber für diejenigen Gesetze zu gelten, hinsichtlich derer in der Öffentlichkeit großer Dissens herrscht. Man denke an den den "Verfassungskonsens" berührenden § 218 StGB (wegen des "bayerischen Sonderweges" auch 1997 von aktueller Brisanz), an manche Regelungen der Hochschulgesetze, an die paritätische Mitbestimmung. Hier hat das BVerfG streng zu kontrollieren - und von der Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung (§ 32
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Ein ähnlicher Zusammenhang wird bei R. Geitmann, Bundesverfassungsgericht und "offene Normen", 1971, aufgezeigt: Die Bestimmtheitsanforderungen, die das BVerfG an "offene" Normen stellt, sind unterschiedlich, je nachdem, wer die Norm setzt (dazu nur kurz S. 22 ff.) und wer sie auszufüllen hat (S. 149 ff). 93 Vorkonstitutionelle Gesetze können nicht wie nachkonstitutionelle als Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber angesehen werden. Sie sind daher nicht nur verfahrensmäßig anders (vgl. Art. 100 GG), sondern auch inhaltlich schärfer zu überprüfen. 94 Dazu H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff. (75); H.H. Klumpp, Landesrecht vor Bundesgerichten im Bundesstaat des GG, 1969, S. 179 ff.- Für das Verhältnis des BVerfG zur zivilrechtlichen Dogmatik (Wissenschaft) bzw. zum BGH: BVerfGE 34, 269 (281 f.).
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BVerfGG) großzügigen Gebrauch 95 zu machen (s. noch unter 3.). Denn bei einer tiefen Spaltung innerhalb der öffentlichen Meinung kommt dem BVerfG die Aufgabe zu, darüber zu wachen, daß das unverzichtbare Minimum an integrativer Funktion der Verfassung nicht verspielt wird. Ferner: Das BVerfG sollte die faire Beteiligung verschiedener Gruppen bei den Verfassungsinterpretationen auch insofern überwachen, daß es bei seiner Entscheidung die Nichtbeteiligten (die nicht repräsentierten und nicht repräsentierbaren Interessen) interpretatorisch besonders berücksichtigt 96. Man denke an den Verbraucherschutz, an Umweltschutzprobleme. Hier offenbaren die "öffentlichen Interessen", nach der Terminologie von J. Habermas 97 die "verallgemeinerungsfähigen Interessen", ihren Stellenwert. Ein Minus an faktischer Partizipation führt zu einem Plus an verfassungsrichterlicher Kontrolle. Die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist variabel, je nachdem welche Partizipationsformen möglich sind oder waren. (3) Konsequenzen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozeßrechts Für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozeßrechts ergeben sich Konsequenzen: Die Informationsinstrumente des Verfassungsrichters 98 sind - nicht trotz, sondern wegen (!) der Bindung an das Gesetz - zu erweitern und zu verfeinern, insbesondere die abzustufenden Partizipa95 Tiefe Dissense bzw. Gefahren für den "Verfassungskonsens" sind der Gemeinwohlgrund i.S. von § 32 Abs. 1 BVerfGG! 96 Hier deutet sich eine Veränderung der Funktion des gerichtlichen Rechtsschutzes überhaupt an. Angesichts der zunehmenden Bedeutung planender und gestaltender Staatstätigkeit ist Rechtsschutz weniger durch ex-post-Kontrolle der Gerichte als durch partizipatorische Vorverfahren zu realisieren (P. Häberle, aaO., VVDStRL 30 [1972], S. 43 [86 ff, 125 ff.]; W. Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 [1973], S. 179 [204 ff.]). Die Einhaltung des "richtigen" Verfahrens muß aber durch die Gerichte überprüft werden können. 97 J. Habermas, aaO., bes. S. 153 ff. 98 Vorbildlich ist das Informationsinstrument des § 82 Abs. 4 BVerfGG sowie die vom BVerfG berührten "Stellen und Organisationen" gegebene Gelegenheit zu Äußerungen, meist in "großen" Prozessen: E 35, 202 (213 f.); 35, 78 (100 ff.); 33, 265 (322 f.); 31, 306 (307 unter Ziffer 4); 30, 227 (238 f.); 89, 214 (223 ff.); 92, 53 (64 ff.); 95, 267 (293). Sie vermitteln ein Stück pluralistischer "gesellschaftlicher Repräsentanz" in das Verfassungsprozeßrecht.- Symptomatisch ist die vom BVerfG (II. Senat) an Bundestag, Landtage u. Parteien gerichtete Fragebogenaktion zum Thema Parlamentarierdiäten, FR vom 10. März 1975, S. 1.- S. noch die vorbildliche Regelung in §§ 48, 43 Abs. 4 Hess. StGHG (1994) und §§ 40, 49, 51 Abs. 4 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (1993).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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tionsformen und -möglichkeiten" am Verfassungsprozeß selbst 100 (vor allem "Anhörung" und "Beteiligung"); neue Formen der Partizipation pluralistischer öffentlicher Potenzen als Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne müssen entwickelt werden. Verfassungsprozeßrecht wird ein Stück demokratischen Partizipationsrechts. Entsprechend elastischer und expandierender kann Verfassungsinterpretation der Verfassungsrichter werden 101 - ohne daß es je zu einer Identität mit der durch den Gesetzgeber kommen könnte und dürfte. Flexibel muß auch die konkrete Handhabung des Verfassungsprozeßrechts durch das BVerfG je nach den anstehenden materiellrechtlichen Fragen und den sachlich Beteiligten (Betroffenen) sein. Der intensive Zusammenhang von materieller Verfassung und Verfassungsprozeßrecht zeigt sich auch hier 102 .
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Dazu P. Häberle, aaO, AöR 98 (1973), 119 (128 Anm. 43). Brisant war die Streitfrage um die Beteiligung des Bundestages (bzw. seiner Mehrheit) an dem von der Oppositionsminderheit geführten Verfassungsstreit zu § 218 StGB (dazu Woche im Bundestag vom 18. Sept. 1974, Ausg. 15, S. 3). Die Entwicklung des Parlaments zum Gegenüber von Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit spricht dafür, diese Rollenverteilung auch im Verfassungsprozeßrecht fortzusetzen: das wäre ein Argument für eine Beteiligung des Bundestages durch Verfahrensbeitritt (s. auch § 77 BVerfGG, der dem Bundestag eine Äußerungskompetenz auch gerade dann gibt, wenn im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ein Drittel der Mitglieder des Bundestages einen Antrag gestellt hat, s. noch §§82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 94 BVerfGG). Parlaments- und Verfassungsprozeßrecht greifen hier ineinander (ein weiteres Beisp. dafür: BVerfGE 27, 44 [51 f.]). Es wäre konsequent, die Opposition als solche im Verfassungsprozeßrecht zu "konstitutionalisieren" und ihr vor dem BVerfG Partizipationsrechte einzuräumen, da sie mit dem klagebefugten Drittel der Mitglieder des Bundestages nicht identisch zu sein braucht. De lege lata sollte der Bundestag bei Stellungnahmen das oppositionelle Minderheitsvotum aufnehmen. 100 Bei G. Winter und Κ F. Schumann, Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 3, 1972, S. 529 f , werden die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Interaktion in der Gerichtsverhandlung als "beinahe anachronistisch anmutende Inseln kommunikativen Handelns in einer bürokratisch-zweckrationalen Gesellschaftsverfassung" bezeichnet. Vielleicht bietet sich im Verfassungsprozeß die Chance, zu einem höheren Maß an unverzerrte Kommunikation im Sinne J. Habermas' zu kommen als in anderen Bereichen, vgl. auch O. Bachof, Die richterliche Kontrollfunktion., (erste) FS für H. Huber, 1961, S. 26 ff. 101 Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Ermittlungs- und Prognoseinstrumentarien, die dem BVerfG zur Verfügung stehen, und der Schärfe der von ihm angelegten materiell-rechtlichen Maßstäbe: Während bei neueren Wirtschafts- (insbesondere Konjunktur-)Gesetzen das Erfordernis der Geeignetheit recht großzügig gehandhabt wird (BVerfGE 29, 402 [410 f.]; 36, 66 [71 f.]), hat das BVerfG z.B. im Apothekenurteil (E 7, 377 ff.) seine Untersuchungen und Prognosen empirisch sehr gründlich fundiert (vgl. K.J. Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971, S. 57 ff.) und konnte dann auch materiellrechtlich strenge Maßstäbe anlegen. 102 Dazu mein Beitrag Die Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts, JZ 1973, 451 ff; ebenso R. Zuck, Political-Question-Doktrin, judicial self restraint und das
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Freilich bedeutet eine Expansion verfassungsrichterlicher Tätigkeit eine Restriktion des Interpretationsspielraums des Gesetzgebers 103. Insgesamt ist die optimale gesetzgeberische Ausgestaltung und die interpretatorische Verfeinerung des Verfassungsprozeßrechts notwendige Bedingung, ohne die die hier versuchte demokratietheoretische Legitimationtion der Verfassungsrechtsprechung in der Realität nicht genügend abgesichert ist. V Neue Fragestellungen für die Verfassungstheorie (1) Unterschiedliche Ziele und Methoden der Auslegung bei verschiedenen Beteiligten? Nicht nur für die Verfassungsrechtsprechung und ihre Methoden, sondern auch für eine Verfassungstheorie, die sich mit diesen beschäftigt, ergeben sich aus der Verknüpfung der Fragen nach Zielen, Methoden und Beteiligten der Verfassungsinterpretation neue Fragestellungen. Es wurde schon auf den möglichen Einwand hingewiesen, daß sich die "Auflösung" der Verfassungsinterpretation nicht spannungslos in eine Verfassungstheorie einbauen lasse, die die Herstellung von Konsens, von politischer Einheit als Ziel verfassungsrechtlicher Verfahren und als Ziel des politischen Prozesses überhaupt ansieht 104 . Eine solche Verfassungstheorie darf jedoch nicht zu vereinfacht als harmonisierend mißverstanden werden. Konsens resultiert auch aus Konflikt und Kompromiß zwischen Beteiligten, die divergierende Meinungen und Interessen eigennützig vertreten. Verfassungsrecht ist nun einmal (auch) Konflikt- und Kompromißrecht. Evident ist, daß Antragsteller und Antragsgegner im Verfassungsprozeß verschiedene Ziele verfolgen und deshalb auch verschiedene Interpretationsmethoden wählen und ihre Inhalte in solche verschiedene Methoden kleiden werden; entsprechendes gilt für die Vertreter verschiedener Interessen im Hearing vor Bundestagsausschüssen, für Mehrheitsparteien und Opposition im parlamentarischen Prozeß 105 . Insofern zeigen sich Parallelen zwischen Verfassungsprozeßrecht und Parlamentsrecht.
BVerfG, JZ 1974, 361 (364). Wichtig war die Beibehaltung der Hochschullehrerklausel des § 3 Abs. 4 BVerfGG. 103 Die Frage differenzierter Begründungs- und Materialbeschaffungspflichten des Gesetzgebers müßte überdacht werden. Auch hier zeigt sich ein noch nicht voll ausgeloteter Zusammenhang zwischen Parlaments- und Verfassungsprozeßrecht. 104 Vgl. K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 5 ff., 28. 105 Zur parlamentarischen Demokratie als "Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozeß der Gesetzgebung": M. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL 29 (1971), S. 46 (50).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
253
Hier ergeben sich Rückwirkungen funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien auf die materielle Verfassungsinterpretation 106. Sie müssen stärker als bisher thematisiert werden, entsprechend den Rückwirkungen von Verfahrensgrundsätzen auf die materielle Verfassungsinterpretation 10. Das materielle - gelebte - Verfassungsrecht entsteht aus einer Vielzahl "richtig" wahrgenommener Funktionen: denen des Gesetzgebers, Verfassungsrichters, der öffentlichen Meinung, des Bürgers, aber auch der Regierung und der Opposition. Dieses Überdenken der Verfassungsinterpetation von der funktionellen, verfahrensmäßigen Seite her bedeutet: funktionelle Richtigkeit der Verfassungsinterpretation fuhrt zu praktischer Verschiedenheit der Verfassungsinterpretation. Es hängt ja jeweils vom Organ, seinem Verfahren, seiner Funktion, seinen Qualifikationen ab, wie - richtig - interpretiert wird. (2) Aufgaben der Verfassungstheorie Ein anderes Problem ist, ob in diesem Zusammenhang überhaupt von einer wenn auch relativierten - Richtigkeit der Auslegung gesprochen werden kann. Für die Verfassungstheorie stellt sich jetzt die Grundfrage, ob es ihre Aufgabe sein kann, die unterschiedlichen politischen Kräfte und Beteiligten im weitesten Sinne normativ einzubinden, ihnen die "guten" Interpretationsmethoden vorzuschlagen. Wie weit soll die Verfassungslehre, die nach ihrem Selbstverständnis bislang Kritiker und Berater, Diskussions- und Konsenspartner der Verfassungsgerichte war, den Kreis ihrer Gesprächspartner ausdehnen? Das könnte dann auch Konsequenzen für die Ausgestaltung des Verfassungsprozeßrechts haben. Ohne Zweifel muß die Fixierung auf die Rechtsprechung überwunden werden. Es scheint sich die Meinung Bahn zu brechen, daß Verfassungslehre zumindest ebenso auch Gesetzgebungslehre sein muß, d.h. Gesprächspartner des Gesetzgebers 108.
106 Mit Recht spricht H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73) vom "unlösbaren Zusammenhang" materiell- und funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien; s. auch S. 76: "Doppelseitigkeit". 107 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff.); ders, Die Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts, JZ 1973, S. 451 (452 f.); DVB1. 1973, 388 f. (Buchbesprechung). 108 Zur Frage der Gesetzgebungslehre: P. Häberle, in: Th. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 (38 f.); H.-P. Schneider, ebd. S. 76 ff.; P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973; H. Schneider, Gesetzgebung, 2. Aufl. 1991; W.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die Relevanz der Frage nach verschiedenen Zielen und Methoden verschiedener Beteiligter zeigt sich hier an Beispielen: die preferred-freedomsdoctrine 109 und der Grundsatz des self restraint gelten nur für die Rechtsprechung, gerade nicht für die Gesetzgebung. Insoweit ist das Problem bei K. Hesse und H. Ehmke schon angesprochen: wenn Verfassungsauslegung unter dem Gebot "funktioneller Richtigkeit" steht, dann muß das auslegende Organ aufgrund seiner spezifischen Kompetenzen anders auslegen als ein anderes Organ mit anderen Kompetenzen. Verfassungstheorie als Gesetzgebungslehre sollte die - bislang vernachlässigten - eigenen Besonderheiten der Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber (und damit auch die hohe Relevanz des Parlamentsrechts) untersuchen. Diese wurde bisher eher "spiegelbildlich" beobachtet: von der Verfassungsgerichtsbarkeit her, d.h. ihren funktionellrechtlichen Grenzen, z.B. mit Hilfe der preferred-freedoms-doctrine, der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Handelns 110 , der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in den Grenzen des "Wertsystems" der Verfassung 111 oder in der Negativformel: kein willkürliches Handeln 112 . Jetzt geht es darum, Verfassungsinterpretation "durch" den Gesetzgeber aus sich heraus, positiv zu umschreiben: aus seinen Verfahren (insbesondere des Parlamentsrechts), seinen Funktionen 113 usw., nicht nur negativ auf dem Umweg über die Frage, bis zu welchen funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpret (-richter) kontrollieren kann. Es geht um ein positives Kompetenzverständnis für den Gesetzgeber als Verfassungsinterpreten: sei es, daß er im politischen Prozeß
Schreckenberger/K. König/W. Zeh (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, 1986; H. Hill, Erfahrungen der Gesetzgebungslehre, 1986. 109 Dazu H Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 437 ff.; W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 40 f., 164 f. 110 Λ:. Hesse, aaO., Grundzüge, S. 32. 111 BVerfGE 11, 50 (56); 13, 97 (107); 14, 288 (301). Zur Kritik: H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, dazu meine Besprechung in JR 1974, 487 f. 1,2 BVerfGE 1, 14 (52), st. Rspr, vgl. BVerfGE 18, 38 (46). Dazu meine Nachweise im Beitrag "Gemeinwohljudikatur", AöR 95 (1970), S. 86 (104 f., 118 ff.), 260 (281 ff.) und für das Verhältnis Rechtsprechung und Verwaltung im Ermessensbereich: Öffentliches Interesse, aaO., S. 647 ff. Zuletzt BVerfGE 76, 256 (329). 113 Wichtig bleibt der Versuch von P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, eine "Methode der Gesetzgebung" zu entwickeln, die nicht nur "Machttechnologie" ist, sondern die "Wertfragen" stellt (S. 63) und Verfahrensweisen vorschlägt, die am Denken des kritischen Rationalismus orientiert sind (vgl. insbesondere die Abschnitte über den Entwurf von Alternativen und die Verfahren ihrer Kritik, S. 107 ff., 120 ff.). P. Noll sieht aber Gesetzgebung nicht so sehr unter dem Aspekt der Verfassungsinterpretation (vgl. nur S. 103 f.).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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ständig 'Vor"formuliert, sei es, daß er auf formalisierte Weise an den Verfassungsgerichtsverfahren selbst teilnimmt (vgl. §§ 77, 82 Abs. 2 1 1 4 , 83 Abs. 2, 88, 94 Abs. 4, 5 BVerfGG). Die Frage, ob und inwieweit andere Beteiligte, einzelne und Gruppen, von der Verfassungstheorie "konstitutionalisiert", normativ eingebunden werden sollen, ist schwieriger und muß differenziert beantwortet werden. Formen und Verfahren der Beteiligung zu konstitutionalisieren, ist spezifische Aufgabe einer (prozessualen) Verfassungstheorie. Für die Inhalte und Methoden kann das nur begrenzt gelten. Grundsätzlich soll der politische Prozeß so offen wie möglich sein (bleiben), auch die "abwegige" Verfassungsinterpretation soll die Chance haben, irgendwann von irgendwem vertreten zu werden. Zwar ist der politische Prozeß ein Prozeß der Kommunikation aller mit allen, in dem gerade auch die Verfassungstheorie versuchen soll, sich Gehör zu schaffen, ihren eigenen Standort zu finden und ihre Funktion als kritische Instanz wahrzunehmen 115 . Aber ein Zuwenig an "academical self restraint" kann auch zu einem Autoritätsverlust führen. Die hier angedeutete demokratische Verfassungstheorie hat gleichwohl eine besondere Verantwortung für die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Sie konzentriert sich in spezifischer Weise auf die und in der Verfassungsgerichtsbarkeit.
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Für eine Ausdehnung des § 82 Abs. 2 BVerfGG auf das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (durch Gesetzesänderung): E. Friesenhahn, Anmerkung, JZ 1966, S. 704 (709). Zur großzügigen Fortentwicklung des § 77 BVerGG durch das BVerfG: H Lechner, BVerfGG, K., 3. Aufl. 1973, Erl. 2 zu § 77 (jetzt H Lechner/R. Zuck, BVerfGG, 4. Aufl. 1996, Erl. 2 zu § 77, S. 384). 1,5 P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 (453 ff.).- Eine "Jenenser" Grundsatzfrage stellt M. Morlok: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen Inkurs B.: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat I. Das deutsche BVerfG als Verfassungsgericht - als "gesellschaftliches Gericht " eigener Art, seine Rolle bei der Garantie und Fortschreibung des Gesellschaftsvertrages (u.a. als Generationenvertrag) (1) Das BVerfG als "Verfassungsgericht" als "gesellschaftliches Gericht" eigener Art
Das BVerfG hat formal betrachtet alle Eigenschaften eines - in seiner eigenen Terminologie gesprochen - "staatlichen" Gerichts (dazu E 18, 241), d.h. es beruht auf staatlichem Gesetz, und der Staat regelt bzw. beeinflußt die Richterbestellung. Es ist indes weit mehr: es ist Verfassungsgericht, d.h. kompetent für enumerativ aufgezählte materielle Verfassungsstreitigkeiten. Das volle Gewicht dieser Aussage erhellt erst aus einer Klärung des Verfassungsbegriffs. "Verfassung" ist rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft; sie ist nicht nur Beschränkung staatlicher Macht, sondern auch Ermächtigung zu staatlicher Macht. Sie umgreift Staat und Gesellschaft. Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft wirkt von vornherein jenseits des Trennungsdogmas Staat/Gesellschaft 116. Daß das BVerfG "Verfassungsgericht" der ganzen res publica ist, hat sehr konkrete Auswirkungen in Detailfragen, z.B. bei der Richterablehnung (dazu BVerfGE 35, 171 (246); 89, 28); es hat überdies zur Folge, daß das Gericht sich nicht auf eine Theorie oder "Schule" festlegen darf, sondern sich um eine pragmatische Integration von Theorieelementen bemühen muß. Darum sollte sich jeder professorale Verfassungsrichter davor hüten, "seine" Theorie in den Entscheidungen festzuschreiben. Dieser materielle Verfassungsbezug der Verfassungsgerichtsbarkeit hat materielle und prozessuale Implikationen: z.B. in ihrer Verpflichtung auf das Plu-
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Zum Vorstehenden schon P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 435 ff. Zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Ausland: W. Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 1987; A. Auer, Grundlagen und aktuelle Probleme der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 40 (1991/92), S. 111 ff; F. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 2. Aufl. 1991; L. Favoreu/P. Loie, Le Conseil Constitutionnel, 2. Aufl. 1991; C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986; E. Smith (Hrsg.), Constitutional Justice under Old Constitutions, 1995; H.-R. Horn/A. Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal, 1989; J.A. Frowein/T. Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1997.
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ralismusmodell und in der Forderung nach Ausbau des Verfassungsprozeßrechts im Blick auf pluralistische Informations- und Partizipationsinstrumente. Die wachsende pluralistische Informationsbeschaffungspolitik des BVerfG ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch die Verfassungsrichterwahl, aus dem Spektrum aller politischen Parteien und in Zukunft hoffentlich noch stärker über diese hinausgreifend, bezieht den Pluralismus effektiv in die Verfassungsverfahren ein (und wirkt auf ihn ein). Das ist Voraussetzung für eine Steuerung der Gesellschaft durch das Verfassungsgericht und "sein" Recht. Hier kommt es zu einer Wechselwirkung: Je mehr das BVerfG in die Prozesse der Steuerung der offenen Gesellschaft eingreift, desto mehr wendet sich diese Gesellschaft ihm zu, will sie sich Gehör "in Karlsruhe" verschaffen. Wie sehr dies der Fall ist, zeigte sich in der Verhandlung in Sachen Mitbestimmung: Man spürte (1978) förmlich die Kraftlinien gesellschaftlicher Öffentlichkeit im Sitzungssaal (E 50,290). Dieser Ansatz führt zu einer weiteren "Stufe". Das BVerfG ist in seinem intensiven Bezug zur Gesamtgesellschaft zu sehen: es ist ein "gesellschaftliches Gericht" eigener Art und im weiteren Sinne. Es öffnet sich durch seine Rechtsprechung für die Vielfalt von Ideen und Interessen - nimmt sie in sich auf -, umgekehrt steuert es die Gesellschaft. Angesichts der Richterwahl, der Handhabung seines Verfassungsprozeßrechts und der materiellen Auslegungsergebnisse (z.B. in der Strukturierung von Teilaspekten der Gesellschaft über die "Drittwirkung" von Grundrechten, zuletzt E 95, 28 (37)) ist es mehr ein gesamtgesellschaftliches denn ein "staatliches" Gericht. Das hat Konsequenzen auf höherer Ebene, aber auch für die Alltagsarbeit des Gerichts! Das BVerfG und sein Verfahrensrecht gewinnen eine einzigartige Gesellschafitsbezogenheit. Seine - Staat und Gesellschaft umspannende - Tätigkeit folgt in einem allgemeinen Sinne daraus, daß es das Gericht für die Verfassung ist - und das GG regelt nicht nur den Staat, sondern in der Grundstruktur auch die Gesellschaft, die es zur "verfaßten Gesellschaft" macht. Das BVerfG wirkt überdies sehr speziell und gezielt, intensiv und weitreichend in spezifischer Weise in den Bereich der res publica zwischen "Staat" und "privat" hinein, den man die "Gesellschaft" oder den Bereich des - pluralistisch - Öffentlichen nennen kann. Das zeigt sich nicht nur in der Effektivierung der Grundrechte von der Verfahrensseite her (dazu E 46, 325 (333); 53, 30), sondern auch in seiner Verfahrenspraxis, sich zunehmend der Informations- und Partizipationsinstrumente des Verfassungsprozeßrechts zu bedienen. Es beschafft sich Informationen durch eine differenzierte Anhörungspraxis und gestufte Beteiligungsformen in bezug auf pluralistische Gruppen, Organisationen wie den DGB, die Arbeitgeberverbände und die Kirchen etc. (z.B. E 50, 57 (69 ff.); 51,115 (119 ff.)). Damit "ragt" es in den gesellschaftlichen Bereich hinein, es nimmt Ideen und Interes-
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sen aus ihm auf, "hört" und verarbeitet sie im Wege seiner offenen Verfassungsinterpretation. Auf diesem Wege ist es von der Wissenschaft zu unterstützen. Das Verfassungsprozeßrecht öffnet sich der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten"; es wird ihr "Medium", zumal dort, wo das Parlament versagt hat. So wie der Weg des parlamentarischen Gesetzes historisch der Versuch einer "Umsetzung" des Gesellschaftlichen in das Staatliche war und (auch im Verfassungsstaat) ist, so zeigen sich jetzt - begrenzte - Parallelerscheinungen im verfassungsgerichtlichen Verfahren. Anders formuliert: Das BVerfG nähert sich der Gesellschaft auf zweifache Weise: es steuert sie zunehmend durch seine ausladende Rechtsprechung (z.B. über die "Drittwirkung" und Objektivierung von Grundrechten), es strukturiert sie und macht sie auf seine Weise zu einem Stück "verfaßter Gesellschaft". Eben wegen dieser "Gesellschaftsbezogenheit" sieht es sich veranlaßt, in seinem Verfahrensrecht die Gesellschaft vor sein Forum zu bringen: nachweisbar in der pluralistischen Informations- und Partizipationspraxis vor allem in "großen Prozessen" (wie dem Numerus-clausus-Verfahren: E 33, 303 (318 ff.)), aber auch in kleineren Verfahren. Überspitzt formuliert: Das BVerfG gewinnt zu einem Gran den Charakter eines "(gesamtgesellschaftlichen Gerichts" eigener Art. Es verliert an herkömmlicher Staatlichkeit in dem Maß, wie es ein Faktor im Vorgang des Verfassens der Gesellschaft wird. Es ist "Verfassungsgericht" jenseits der Trennung von Staat und Gesellschaft, von staatlichen und "gesellschaftlichen Gerichten" (wie den sog. Sportgerichten). Das BVerfG macht mit der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" ernst - nicht nur verfahrensmäßig, d.h. verfassungsprozeßrechtlich, sondern auch inhaltlich in seiner Verfassungsinterpretation, indem es Äußerungen der Bundesregierung, z.B. Regierungserklärungen, das Selbstverständnis von Kirchen (E 42, 312 (331); E 46, 73 (95) bzw. E 83, 341 (356)), Argumente einer Vereinigung wie des Bundes "Freiheit der Wissenschaft" oder einer Institution wie des Wissenschaftsrats aufgreift (vgl. BVerfGE 47, 327 (384 f.)). (2) Verfassungsgerichtsbarkeit "im" Gesellschaftsvertrag: Das BVerfG als Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag Die These lautet: Das BVerfG hat eine spezifische gesamthänderische Verantwortung in der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag; es steuert ihre kontinuierlichen Prozesse mit; es ist dabei dem Pluralismusprinzip verpflichtet (dazu schon Vierter Teil V und VI). Das Modell des Gesellschaftsvertrages - klassischer gemeineuropäischer Besitz - ist im hier gebrauchten Sinn ein Denkmodell, ein heuristisches Prinzip
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zum Zweck der Verbürgung personaler Freiheit und öffentlicher Gerechtigkeit. Es ist gewiß kein "Leisten", über den sich die ganze Wirklichkeit einer Verfassung als öffentlicher Prozeß schlagen ließe; aber es kann Hilfestellung geben für die sachgerechte Bewältigung mancher politischer bzw. verfassungsrechtlicher Grundsatzfragen - frei von vereinseitigenden "Setzungsideologien". Seine Erstreckung auf das Verfassungsgericht mag manchen kühn erscheinen; sie ist - soweit ersichtlich - bislang nicht gewagt worden. So alt das Vertragsmodell ist, so relativ jung ist die (verselbständigte) Verfassungsgerichtsbarkeit. In Beziehung zueinander wurden beide (wohl eben darum) noch nicht gesetzt. Das kann eine Chance sein. Sie sollte genutzt werden. Die klassische Lehre vom Gesellschaftsvertrag hat im Gang der Geschichte in den verschiedensten Zusammenhängen als Erklärungs- und Rechtfertigungsmodell gedient (von J. Locke bis J.-J. Rousseau, von I. Kant bis zur Diskussion um den Grundkonsens). Warum sollte sie heute nicht Aussagekraft für unsere Probleme, für Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit, für die Fortentwicklung der Verfassung entfalten können? (3) Möglichkeiten und Grenzen der Leistungsfähigkeit des BVerfG - das BVerfG im Rahmen der politischen Kultur der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des GG Die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen des BVerfG im Rahmen der politischen Kultur der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des GG führt zum Ausgangspunkt zurück. Was das BVerfG in relativ kurzer Zeit juristisch für und durch Juristen geleistet hat, ist hoch zu bewerten; was es damit für den politischen Prozeß - teils begonnen, teils "anregend" ("richtlinienpolitisch") erbracht hat, nicht minder. Die Frage ist nur, ob und inwieweit es sich und das Gesamtsystem auf Dauer vielleicht überfordert, ob es sich nach den grundrechts- und bundesstaats-politischen Aufbauleistungen der ersten Jahrzehnte, vor allem gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber, jetzt stärker zurückhalten soll - und kann, um die demokratisch-politische Kultur von der rechtsstaatlich-justiziellen Seite her nicht zu sehr einzuschnüren oder zu "verwöhnen". Verfassungsgerichtsbarkeit ist letztlich weder eine juristische noch eine politische Lebensversicherung! Ihr entwickeltes pluralistisches und politisches Verständnis ist eingebunden in die Gesamtkultur unserer Republik. Das vermittelt ihr positive Funktionen, führt aber auch zu Grenzen. (Eine Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit folgt auch daraus, daß sie nur auf Antrag tätig wird, nicht von Amts wegen. Sie muß vom Bürger oder politischen Kräften "angestoßen" werden.) Dazu einige Überlegungen. Entwickelte Verfassungsgerichtsbarkeit ist (wie der Föderalismus) Teil der politischen Kultur, besonders in den USA, ebenso jetzt in Deutschland. 20 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Politische Kultur" ist hier als komplexer (empirisch-normativer) Begriff verstanden, kein wertfreies Schema. Er kann durch demoskopische Untersuchungen nur sehr punktuell erschlossen werden. "Politische Kultur" umfaßt gewiß die subjektiven Vorstellungen, Erfahrungen und Erwartungen der Bürger hinsichtlich der Institutionen ihres Systems (insofern die "innere Verfassung" eines Volkes); aber dazu gehört auch ihr sich objektivierendes Verhalten, gehört das Handeln der politisch Verantwortlichen, die Parlamentspraxis, auch die Funktion der Gerichte, gehört der Realitätsgrad individueller Freiheit und gelebten Pluralismus', gehören Themen und Objektivationen vom Leserbrief bis zur Bürgerinitiative, vom Gewerkschaftsbeitritt bis zur Kirchenmitgliedschaft und Künstlervereinigung, vom Bücherkaufen und Bücherlesen bis zum studentischen Verhalten als Elementen gelebter Verfassungskultur. Das BVerfG hat "grundrechtspolitisch" aber auch "föderalistisch" in seinen Maximen für das Verhalten der Verfassungsorgane untereinander (Stichwort: "Bundestreue", wechselseitige Rücksichtnahme der Verfassungsorgane untereinander - vgl. E 12, 205 (254 ff.); 35, 193 (199); 36, 1 (15); 45, 1 (38 f.); zuletzt E 81, 310 (337); 92, 203 (230 ff.)) ein Stück "politischer Erziehungs- und Bildungsarbeit" par excellence geleistet ("Verfassungspädagogik", Verfassungssätze "als" Erziehungsziele). Gerade wenn sich politische Kultur (ebenso wie "Kulturstaatlichkeit") nicht von heute auf morgen "einpflanzen" läßt, kommt in diesem langsamen Wachstumsprozeß - er ist ein solcher der Verfassung - der Verfassungsgerichtsbarkeit eine zentrale Rolle zu (vgl. schon Vierter Teil III). Nur: Die starke bürgerethische und bürgeröffentliche Verwurzelung der Verfassungsgerichtsbarkeit, besonders der deutschen Verfassungsbeschwerde (BVerfG als "Bürgergericht"), ihre Identifizierungsleistung im Verhältnis Bürger und Verfassung und damit ihre Mitkonstituierung der politischen Kultur birgt auch einen negativen Aspekt: Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem GG kann auch unpolitisches Mißtrauen gegen die Demokratie und unverhältnismäßig großes Vertrauen in die Rechtsprechung indizieren. Der deutsche Glaube an die Verfassungsgerichtsbarkeit darf nicht zum Unglauben an die Demokratie umschlagen. Anders gesagt: das heutige positive Verhältnis zur Verfassungsgerichtsbarkeit sollte sich nicht verabsolutieren; es darf nicht seine spiegelbildliche Entsprechung in einem negativen Verhältnis zum Interessenpluralismus, zu den - notwendigen - begrenzten Konfliktsituationen, zu den Eigenleistungen des offenen demokratisch-politischen Prozesses haben oder sich zu einem NichtVerhältnis steigern, wie nicht selten in der "schönen Literatur". Diese Überlegung verweist auf die Fülle der Aufgaben, die dem Politiker, dem Beamten, dem Erzieher, dem republikanischen Literaten, dem Bürger, uns allen in bezug auf unsere freiheitliche Ordnung bleiben - ohne daß der Verfassungsgerichtsbarkeit etwas von ihrem Glanz genommen wird. Nicht nur
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die Verfassungsgerichtsbarkeit, wir alle sind - politisch - "Hüter der Verfassung" 117 ! Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ist Beschränkung, Rationalisierung und Kontrolle staatlicher und gesellschaftlicher Macht, sie ist inhaltliche (Mit)Arbeit am Grundkonsens, sie liegt im je neuen Schutz der Minderheiten und der Schwachen, im flexiblen zeitgerechten Reagieren auf neue Gefahren für die Würde des Menschen, in ihrem nicht unpolitischen Steuerungs- und Antwortcharakter 118 . IL Verfassungspolitik
in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit (1) Problem
Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit ist heute weltweit. Nach den Pionierleistungen Österreichs bzw. H. Kelsens (1920) gehört sie zu den Elementen des Verfassungsstaates, die vielfältig rezipiert, weiterentwickelt, auch verändert und immer neu erprobt werden. Der US-Supreme Court wirkt auf seine Weise als Vorbild, sei es in der Rechtspolitik, insofern z.B. in Deutsch117
Die hier dargestellten Überlegungen hat der Verfasser 1979 (Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 425), entwickelt. I. Ebsen hat sie 1985 (Das BVerfG als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung 1985, S. 192) fortgeschrieben zu der These, Funktionsbestimmung (aus der Lit. auch D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, Funktion und Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 2, 1977, S. 83 ff.) und Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit müßten Abschied nehmen von der Vorstellung eines archimedischen Punktes außerhalb des politischen Prozesses, von welchem aus diesem gegenüber Sicherheit gewonnen werden kann. Das BVerfG müsse als relativ autonome Steuerungsinstanz begriffen werden. Und A. v. Brünneck meint in Wahlverwandtschaft zu all dem (Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, S. 146), die Verfassungsgerichtsbarkeit finde den Konsens nicht vor, sondern sie trage dazu bei, den durch die umfassende Geltung des Mehrheitsprinzips im Sozialstaat objektiv ständig in Frage gestellten Verfassungskonsens immer wieder neu herzustellen. Zum Ganzen jetzt U.R. Haltern, Integration als Mythos, JöR 45 (1997), S. 31 ff. 118 Vgl. schon mein Votum in VVDStRL 39 (1981), S. 202. Allgemein aus der Lit.: G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, HdbStR Bd. II, 1987, S. 665 ff.; K. Korinek/J.P. Müller/K. Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff.; C. Starck/K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 3 Bde., 1983; D. Franke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den Ländern, FS Mahrenholz, 1994, S. 923 ff.; K. Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, S. 265 ff; M Schulte, Zur Lage und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1996, S. 1009 ff.; H Schulze-Fielitz, Das BVerfG in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), S. 1 ff.; A. Rinken, Verfassungsgerichtsbarkeit als Arena politischer Justiz, in: A. Görlitz (Hrsg.), Politische Justiz, 1996, S. 91 ff.
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land derzeit (1996/97) erwogen wird, zur Vermeidung einer Überlastung des BVerfG bei Verfassungsbeschwerden ein freies Annahmeverfahren vorzusehen, sei es indem seine Doktrinen immer wieder diskutiert werden (z.B. die Preferred-Freedoms-Lehre) 119. Auch dies ist ein Grund, weshalb eine vergleichende Verfassungslehre wenigstens einige Stichworte aufgreifen und fragen sollte, welche Themenkreise in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates zu behandeln sind. Die folgende Auswahl bleibt fragmentarisch, die überbordende Literatur 120 wird nicht einmal andeutungsweise "mitgeführt". Nicht allein aus Not, auch aus "Tugend": Da diese Verfassungslehre primär die aus der Weite des Raums und der Tiefe der Zeit "zusammengelesenen" Verfassungstexte bearbeitet und sie betont zu "Literatur" verarbeitet, um das in den Texten gespeicherte Erfahrungs- und Wissenschaftspotential aufzuschließen, sollten die verfassungspolitischen Fragen mit Hilfe der Text-Materialien gestellt und mögliche Antworten gegeben werden, die sich typologisch um bestimmte Fragenkreise gruppieren lassen. Dabei liegt auf der Hand, daß "Modelle" bzw. Texte nicht einfach übernommen werden können. Jede einzelne Verfassungskultur eines Landes ist "individuell" gewachsen und muß als "autonome" respektiert werden. So kann etwa Frankreich nicht einfach das US-Modell übernehmen - sein Conseil Constitutionnel leistet schon genug in der vorsichtigen Ausweitung seiner Kompetenzen. So muß auch für Osteuropa zur Vorsicht gemahnt werden, das dort anbrechende Verfassungszeitalter, das zugleich eine Epoche neuer Verfassungsgerichtsbarkeit ist (wobei Polen schon vor der Wende von 1989 vorausgegangen war 1 2 1 ), bleibt prekär. Andererseits mag es beglücken, zu hören, daß südafrikanische Richter 1996 in Karlsruhe beim BVerfG Rat suchten, und daß das südafrikanische Verfassungsgericht sogar in den Prozeß der Verfassung119
Dazu T. Jaag, "Preferred Freedoms" im schweizerischen Verfassungsrecht, Études en l'honneur de J.-F. Aubert 1996, S. 355 ff; s. auch E. Klein, Preferred FreedomsDoktrin und deutsches Verfassungsrecht, FS Benda, 1995, S. 135 ff. 120 Vgl. Κ Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997; P. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II (1980), S. 341 ff; C. Starck, (Hrsg.), BVerfG und Grundgesetz, 2 Bde. 1976; G. Roellecke, Aufgabe und Stellung des BVerfG in der Gerichtsbarkeit, HdbStR Bd. II (1987), S. 665 ff.; Η Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 1637 ff.; Κ Hesse, Grundzüge, aaO., S. 239 ff. (278 ff.).- Aus der Schweiz: A. Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984 (dazu mein Beitrag: Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, DÓV 1986, S. 830 ff.).- Historisch aufschlußreich: H. Säcker, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Konvent von Herrenchiemsee, FS Zeidler, 1987, S. 265 ff. 121 Dazu L. Garlicki, Vier Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen (1985 - 1989), JöR 39(1990), S. 285 ff.
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gebung eingeschaltet war, um auf der Erfüllung aller "Constitutional Principles" der Vorläufigen Verfassung von 1993 in der endgültigen von 1996 zu bestehen (vgl. Kap. 5 Art. 66 Abs. 2 bis 4). (2) Drei Problemkreise: Richterwahl, Kompetenzen, Sondervoten im Licht der Textstufenvergleichung (eine Auswahl) (a) Die Richterwahl Die Richterwahl 122 ist eines der heikelsten Problemfelder heutiger Verfassungsgerichtsbarkeit. Je mehr diese an Kompetenzen geschrieben und ungeschrieben gewinnt, desto mehr suchen bestimmte politische Kräfte der offenen Gesellschaft auf die Auswahl der Richter Einfluß zu nehmen. Nachdem in Deutschland das BVerfG sich einen so zentralen Platz im Gesamtsystem von "Staat und Gesellschaft", "Verfassung und Gesellschaftsvertrag" erarbeitet hat und auch die Bonner Politik oft allzu gerne ihre Probleme in Karlsruhe "ablädt", müßte die Diskussion um die Wahl der Bundesverfassungsrichter ehrlicher und offener geführt werden als bisher. Vor allem wären alternative Modelle zu erproben. Hier kommt zum einen das öffentliche "Hearing" der Kandidaten in Betracht 123 . Das US-Modell (Anhörung vor dem Senat) hat freilich jüngst in der Praxis einige Zweifel aufkommen lassen. So bleibt abzuwarten, wie sich der kühne Vorstoß der Verf. Brandenburg (1992) auswirkt: Ihr Art. 112 Abs. 4 S. 4 sieht "vor der Wahl eine Anhörung in einem vom Landtag zu bestimmenden Ausschuß" vor. Zuvor verlangt S. 2 ebd., bei der Wahl "anzustreben, daß die politischen Kräfte des Landes angemessen mit Vorschlägen vertreten sind" ein beifallswürdiger Versuch, das Vorfeld der Verfassungsrichterwahl zu "pluralisieren".
122 Aus der Lit.: W.K Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter, HdbStR Bd. II (1987), S. 697 ff.; W. Billing , Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht - ein Beitrag zum Thema Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, 1969; /. Trautwein, Bestellung und Ablehnung von Bundesverfassungsrichtern, 1994. S. noch H. Frank, Die "neutralen" Richter des Bundesverfassungsgerichts, FS Zeidler, 1987, S. 163 ff; K. Stern, Gedanken zum Wahlverfahren für Bundesverfassungsrichter, Ged.Schrift für Geck, 1989, S. 885 ff. 123 Dazu im Anschluß an E. Friesenhahn meine frühe (1971) Befürwortung in: Das BVerfG im dritten Jahrzehnt, hrsgg. von J.A. Frowein/H. Meyer/P. Schneider, 1973, S. 54 f.; s. auch den Beitrag Bundesverfassungsrichter-Kandidaten auf dem Prüfstand?. Ein Ja zum Erfordernis öffentlicher Anhörung, in: B. Guggenberger/A. Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994, S. 213 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Zum anderen wäre zu fragen, ob es nicht "bessere" Modelle gibt, um mehr Offenheit und Pluralität in die Wahlen zu tragen. Dabei spricht viel für das frühe "Italienische Modell" von 1947, das auch in Osteuropa seit der "Wende" Schule macht. Art. 135 Abs. 1 der italienischen Verfassung schreibt die Bestellung der 15 Richter wie folgt vor: zu einem Drittel vom Präsidenten, zu einem Drittel vom Parlament und zu einem Drittel von den obersten ordentlichen und Verwaltungsrichtern gewählte Richter 124 . Die Partizipation des auf eine Weise über den politischen Parteien stehenden - unabhängigen - Präsidenten ist m.E. ein ernstzunehmendes Modell. In Italien hat es sich offenbar bewährt, weil die Präsidenten immer wieder eine glückliche Hand in der Berufung erstklassiger Verfassungsjuristen hatten (zuletzt A. Baldassarre und G. Zagrebelsky). In Osteuropa finden sich ähnliche, z.T. weitgehende "präsidiale Lösungen": Art. 163 Abs. 1 Verf. Slowenien (1991) etwa läßt die Verfassungsrichter "auf Vorschlag des Staatspräsidenten von der Staatskammer" wählen. Die Verf. Litauen (1992) schaltet den Präsidenten in die Normierung dreier von neun Richtern ein (Art. 103 Abs. 1 S. 3). Verf. Tschechische Republik (1992) legt in Art. 84 Abs. 2 fest: "Die Richter des Verfassungsgerichtshofs werden vom Präsidenten der Republik mit Zustimmung des Senats gewählt". Auch Art. 134 Abs. 2 Verf. Slowenische Republik (1992) gibt dem Präsidenten ein enormes Gewicht. Art. 147 Abs. 1 Verf. Bulgarien (1991) übernimmt das "italienische Modell" fast wörtlich. Art. 128 Abs. 1 Verf. Rußland (1993) gibt dem Präsidenten ein Vorschlagsrecht (Wahl durch den Rat der Föderation) 125 . Die neuen Verfassungen in Osteuropa, die fast durchweg in eigenen Abschnitten ihr Verfassungsgericht herausragend piazieren, räumen dem Staatspräsidenten freilich meist insgesamt größere Kompetenzen ein - die Beteiligung an der Auswahl der Verfassungsrichter scheint insofern konsequent. M.a.W.: Ehe für das GG das italienische Modell übernommen würde, müßte gefragt werden, ob dies nicht dem betont "nur" repräsentativen Status des deutschen Bundespräsidenten widerspräche. Rechtsvergleichung im Dienst der Verfassungs» und Rechtspolitik muß allseits (nicht punktuell) vergleichend vorgehen und i.S. E. Fraenkels "funktional" arbeiten. Darum sollte z.B. die Ermöglichung von Sondervoten mit einem Auschluß der Wiederwahl von Verfassungsrichtern verbunden sein.
124 Aus der Lit.: J. Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1990; M. Dietrich, Der italienische Verfassungsgerichtshof, 1995; G. Zagrebelsky, La giustizia costituzionale, 2. Aufl. 1988; zuletzt F. Bonini, Storia della Corte Costituzionale, 1996. 125 Verf. Mongolei (1992) normiert das italienische Drittel-Modell mit Modifikationen (Art. 65 Abs. 1). Ähnlich Art. 148 Abs. 2 Verf. Ukraine (1996), Art. 88 Abs. 2 Verf. Georgien (1995). S. noch Art. 95 Verf. Armenien (1995).
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Daß auch die De Gaulle-Verf. Frankreichs (1958) mit ihrem Art. 56 Abs. 1 (drei von 9 Richtern werden vom Präsidenten ernannt) - hier Italien folgend gemeinsam mit diesem in Osteuropa Vorbild war, ist zu vermuten. (b) Die Kompetenzen Eine vergleichende Textstufenanalyse kann eine eindrucksvolle Ausdehnung der Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den einzelnen Ländern nachweisen. In manchem dürfte das deutsche Vorbild des GG gewirkt haben. Diese kompetentielle bzw. funktionelle Macht speziell der Verfassungsgerichtsbarkeit, das offenbar ihr geltende besondere Vertrauen der Verfassunggeber, mag viele Gründe haben. Einer liegt in der Hoffnung, gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit werde aufkeimenden totalitären Regimen rechtzeitig wehren und dem antitotalitären "Konsens der Demokraten" einen spezifischen antitotalitären Konsens der Verfassungsgerichtsbarkeit hinzufügen. Nachdem in Europa der EGMR in Straßburg und der EuGH in Luxemburg auf eine Weise schon ("werdende") Verfassungsgerichte sind 126 , verstärkt sich die Stabilisierung, aber auch Fortentwicklung des Verfassungsstaates durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Verf. Portugal (1976/1992) widmet sich in einem eigenen Kapitel der Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 223 bis 226) und es schrieb deren Kompetenzen z.B. in den politischen Bereich der Volksentscheide und Volksbefragungen vor (Art. 225 Abs. 2 lit. f). Verf. Spanien (1978/92) schiebt die Kompetenzen noch weiter vor (Art. 161) und kennt - im Gegensatz zu Italien - auch die Verfassungsbeschwerde. Deutschland bleibt indes wohl an der Spitze eines Vergleichs der Kompetenzen seines Bundesverfassungsgerichts, auch wenn die osteuropäischen Länder mit Kompetenzen wahrlich nicht geizen (z.B. Art. 160 Verf. Slowenien; Art. 127, 132 Verf. Slowakische Republik; Art. 110 Verf. Mazedonien, 1991; Art. 125 Verf. Kroatien, 1991, Art. 89 Verf. Georgien, 1995) 127 . Die Gesetzes- und Urteilsverfassungsbeschwerde bleibt ebenso wie die abstrakte Normenkontrolle ein besonderes Kennzeichen des deutschen BVerfG. Ob und wie sich die Kompetenzen der Verfassungsgerichte in den anderen Län126
Vgl. Κ W. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgericht, 1985; W. Bernhardt, Verfassungsprinzipien -Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987. 127 Daß die Landesverfassungsgerichtsbarkeit in den neuen 5 deutschen Ländern unter dem Eindruck des BVerfG als Modell steht, sei festgehalten: vgl. z.B. Art. 80 Verf. Thüringen (1993); Art. 53 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993); Art. 75 Verf. Sachsen· Anhalt (1992). Zur Verfassungsbeschwerde mein Beitrag in JöR 45 (1997), S. 89 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
dem Europas erweitern oder verkleinern, hängt freilich auch vom Selbstverständnis und der Praxis der Gerichte selbst ab. (c) Sondervoten der Verfassungsrichter Sondervoten, bekanntlich in den USA von den dortigen Supreme CourtRichtern erfunden, sind ein dritter Problemkreis, in dem die auf einer vergleichender Textstufenanalyse aufbauende Verfassungspolitik in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit gefordert ist und fündig wird. Von der hier entwickelten Verfassungstheorie her sind Sondervoten konsequent: Ausdruck der "Öffentlichkeit und Offenheit der Verfassung", der Öffnung ihrer Interpreten und des "Pluralismus der Verfassung", schließlich Konsequenz des Themas "Zeit und Verfassungskultur", ermöglichen sie interpretatorische Alternativen im Sinn des erwähnten "Möglichkeitsdenkens" 128 . Sie wirken befriedend, weil der unterlegene Teil sich ggf. im Sondervotum i.S. Hegels "aufgehoben" weiß und sie schaffen ein spezifisches "Zeitfenster", insofern die Minderheit von heute morgen zur Mehrheit werden kann (so exemplarisch im Falle W. Rupp von Brünneck, BVerfGE 32, 129 (142 f.)). Damit sind sie auch ein Stück Demokratie. Weise und uneitel praktiziert, sind sie m.E. eine Krönung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe. Speziell in Deutschland haben sie sich seit 1971 bewährt (vorbildlich z.B. BVerfGE 80, 137 (164 ff.): Reiten im Walde), selbst oder gerade jüngst im heftig umstrittenen Antikruzifix-Beschluß (BVerfGE 93, 1 bzw. S. 25 ff., 34 ff.). Die Textanalyse erstaunt: Während in Deutschland erst eine BVerfGGNovelle von 1970 das Sondervotum ermöglicht hat, figuriert es als Institution in der Verfassung Spaniens von 1978 schon im formellen Verfassungstext selbst (Art. 164 Abs. 1 S. 1). Was in Deutschland nur "bewährte" Praxis auf der Basis eines formellen Parlamentsgesetzes ist, ist in Spanien zum Text auf Verfassungsstufe geworden bzw. geronnen: ein Beleg für die Fruchtbarkeit der hier angewandten Textstufenanalyse. In der Schweiz wird das Sondervotum dem Bundesgericht in Lausanne noch nicht eröffnet - trotz oder gerade wegen der Öffentlichkeit seiner Beratungen! In Italien wird heute vor allem im Kreise der Corte in Rom die Einführung lebhaft diskutiert. Da Sondervotanten sich selbst einen erhöhten Begründungsaufwand auferlegen (müssen), da sie unter Legi-
128
Dazu Fünfter Teil XI Ziff. 3.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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129
timationsdruck stehen , sind sie auch ein Gewinn für die Wissenschaft. Überdies können sie deutlicher rechtsvergleichend arbeiten 130 . Freilich gibt es auch Gegengründe gegen ihre sofortige Einführung etwa in osteuropäischen Ländern. Sie, die sich als Verfassungsstaaten erst in längeren kulturellen Sozialisations- und "Trainings-"prozessen etablieren müssen, können sich Sondervoten vielleicht "noch nicht" leisten. Das hoch differenzierte Verfassungsdenken westeuropäischer Länder kommt in Osteuropa oder gar in den Reformstaaten Asiens heute noch zu früh. Das gegen sie in Deutschland bis 1970 ins Feld geführte Argument gefährdeter "Rechtssicherheit" mag dort größeres Gewicht haben als im heutigen Deutschland. So empfiehlt sich rechtspolitisch wohl eine erst spätere und dann auch nur behutsame Einführung des Sondervotums in "neuen" Verfassungsstaaten. Daß Spanien dies 1978 sogleich gewagt hat, spricht für dieses Land, sollte aber nicht einfach imitiert werden. Einmal mehr zeigt sich, wie bei aller Verfassungs- und Rechtspolitik die jeweilige Wachstumsphase, die rechtskulturellen Vorbedingungen und nicht zuletzt der Bürger und seine konkrete Situation in den Blick zu nehmen sind 131 . 2. Verfassungsänderungen und ihre Grenzen: Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien a) Die Ausgangsfragen In noch höherem und intensiverem Maße als bei der Verfassungsinterpretation sind die anderen funktionellen Arten der Fortbildung einer Verfassung 132 auf "kulturelle Kristallisationen" angewiesen, nämlich die Verfassungsänderung (bzw. der sog. "Verfassungswandel") und die Verfassunggebung (Verfassungspolitik): Parteiprogramme, die Vorschläge der Wissenschaft (!), persönliche Lebenshaltungen großer Persönlichkeiten, sachliche bzw. persönliche Leit- bzw. Vorbilder, Orientierungswerte usw. sind mitbe129
Zum Ganzen P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 24 ff. S. noch R. Machacek, Pro und Kontra Dissenting Opinion, FS Adamovich, 1992, S. 361 ff.; R. Lamprecht, Richter kontra Richter, 1992. 130 Eher "unscheinbar", aber doch wohl eingerichtet ist das Sondervotum in Art. VII Ziff. 13 Verf. Philippinen (1986): Satz 3 ebd. lautet: "Any member who took not part, or dissented, or abstained from a decision must state the reason therefore." 131 In Südafrika wagte auch die Verf. Kwazulu Natal (1996) ein auf die Verf. Südafrikas (1996/97) abgestimmtes Verfassungsgericht (Kap. 8). Diese gibt ihrem "Constitutional Court" weite Kompetenzen (vgl. Art. 167 der Verf. von 1996). 132 Β.Ό. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 111 ff., 216 f., 293, 308 u.ö. übernimmt im Ansatz mein Tableau aus JZ 1975, S. 297 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
stimmende Momente und Elemente im Ganzen des Spannungsfeldes der Fortbildung von Verfassungen, ihrer Bewährung und ihrer Bewahrung 133 . Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Verfassungsänderungen in den einzelnen (west)deutschen Ländern seit 1945 einmal systematisch auf Anlaß und "Promotoren", Stil und Inhalte, auf Sprache, Formen und Wellenbewegungen in Abhängigkeit zur kulturellen Entwicklung hin zu untersuchen 134. Man denke nur daran, wie die Bekenntnisschule von der Gemeinschaftsschule Ende der 60er Jahre abgelöst wurde, nachdem tiefe Veränderungen in der kulturellen Öffentlichkeit vorausgegangen waren: Schulkonzentration, die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen mit der damit verbundenen stärkeren Mischung der Konfessionen in den Bundesländern haben sich auf Verfassungsebene niedergeschlagen (Art. 15 Verf. Baden-Württemberg, Art. 135 Verf. Bayern, Art. 29 Verf. Rheinland-Pfalz und Art. 27 Abs. 3 Verf. Saarland) 135. Gerade der Bundesstaat mit seinen vielen alternativen Möglichkeiten der Fortentwicklung der Einzelverfassungen ist Ausdruck pluralistischer kultureller Entwicklung. Die Institutionalisierung der parlamentarischen Opposition (Art. 23 a Verf. Hamburg), Rundfunkartikel (Art. l i l a Verf. Bayern), der Datenschutz (Art. 4 Abs. 2, 77 a Verf. Nordrhein-Westfalen) sind Beispiele dafür, wie einzelne Verfassungen im "Probelauf' für die übrigen Verfassungen im Bundesstaat kulturelle Entwicklungsprozesse aufnehmen können. Auch gescheiterte Verfassungsänderungen in den Ländern (einschließlich ihrer kulturellen (?) Hintergründe) sollten einmal systematisch aufgearbeitet werden 136 . Besonders ergiebig in Sachen Produktion und Rezeption ist die Entwicklungsgeschichte der 5 neuen Bundesländer-Verfassungen (1992/93).
133 Verfassungstheoretisch muß ein Mittelweg gefunden werden zwischen der Einbindung der Generationen in die Verfassung (Art. 79 Abs. 3 GG), ihrer Freistellung von der Verfassung (Art. 79 Abs. 2 GG) und der Verpflichtung der heutigen Generation, der künftigen das "natürliche" und "kulturelle" Erbe zu erhalten. Zur Behandlung dieser Fragen im Rahmen von "Zeit und Verfassungskultur" mein gleichnamiger Münchener Vortrag (1981), in: Peisl/Mohler, Die Zeit, 1983, S. 289 ff. (Neuausgabe 1989). 134 Ein Einzel vergleich ist ein Desiderat der Forschung. Ansätze bei C. Pestalozza, Einführung, in: Verfassungen der deutschen Bundesländer, dtv 5. Aufl., 1995, S. E 1 ff; Β. Beutler, Die Länderverfassungen in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, JöR 26 (1977), S. 1 (28); C. Starck, Die Verfassungen der neuen deutschen Bundesländer, 1994. Zur Verfassungsentwicklung in den neuen Bundesländern vgl. die Dokumentation in JöR 39 (1990) bis 43 (1995). 135 Vgl. C. Pestalozza, Einführung, in: Verfassungen der deutschen Bundesländer, aaO, S. E 8 ff. 136 Ein Beispiel ist der nur auf einfacher Gesetzesebene eingeführte Bürgerbeauftragte in Rheinland-Pfalz, dazu H. Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 88 ff, 93 ff - Zur "verfassungsrechtlichen Entwicklung in Rheinland-Pfalz": C. Gusy/A. Müller, JöR 45 (1997), S. 509 ff.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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Vor allem auch auf der Ebene der Bundesverfassung sind Verfassungsänderungen im kulturellen Zusammenhang zu begreifen 137 . Schon die erste Ebene des "gemeindeutschen" (Landes-)Verfassungsrechts läßt sich als ein Spiegel gesamtstaatlicher kultureller Prozesse begreifen: So sind die zahlreichen Landesverfassungsänderungen betreffend die Stellung der Landesparlamente und die Tendenz des Ausbaus direktdemokratischer Elemente 138 sicher auch als Folge von "Demokratisierungstendenzen" zu begreifen, die im Zuge des Regierungswechsels 1969 und der Studentenbewegung 1968 ff. das politisch-kulturelle Klima in der Bundesrepublik nachhaltig geprägt haben. Auch die Änderungen des Grundgesetzes lassen sich nicht nur im Detail (z.B. Art. 91 a Abs. 1 Ziff. 1 GG), sondern auch in der allgemeinen Tendenz zur Unitarisierung (etwa durch Zentralisierung von Kompetenzen) und der Festigung der Verfassungsstaatlichkeit der Bundesrepublik als Ausdruck kultureller Wandlungsprozesse der Nachkriegszeit verstehen. (Erst 1993/94 setzte eine "Reföderalisierung" von Kompetenzen ein.) Verfassungslehre als Kulturwissenschaft greift die zugrundeliegenden kulturellen Prozesse nicht nur inhaltlich auf, sondern geht auch den verschiedenen Formen und Möglichkeiten gegenseitiger Beeinflussung der verschiedenen Verfassungsrechtsmaterien im Bundesstaat nach 139 .
137
Vgl. die (politische) Analyse der GG-Änderungen von A. Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes. Eine Untersuchung der politischen Funktion von Verfassungsänderungen, 1981, sowie C. Bushart, Verfassungsänderungen in Bund und Ländern, 1989; T. Giesen, Die Vorbereitung der Grundgesetzänderungen nach der deutschen Wiedervereinigung, 1997.- Aus der allgemeinen Lit.: P. Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgerichtsbarkeit, HdbStR Bd. VII, 1992, S. 57 ff.; M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991; O. Jung, Volksbegehren auf Verfassungsänderung in Hessen und Nordrhein-Westfalen?, KritV 1993, S. 14 ff.; die klassische Schrift ist Κ Loewenstein, Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung, 1961; tiefdringend B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 116 ff., 224 ff. 1,8 S. dazu C. Pestalozza, Der Popularvorbehalt, 1981, S. 15 ff. Ein starker Ausbau der direktdemokratischen Elemente charakterisiert die Verfassungen der fünf neuen Bundesländer, dazu meine Analysen in JöR 42 (1994), S. 149 (165 ff); 43 (1995), S. 355 (365 ff., 378 ff.). 139 S. den Auftrag des saarländischen Landtages an die Enquête-Kommission für Verfassungsfragen, "unter Berücksichtigung neuer verfassungsrechtlicher Erkenntnisse in Bund und (!) Ländern Anregungen zu zweckdienlichen Änderungen zu geben" (zit. nach P. Krause, Verfassungsentwicklung im Saarland 1958-1979, in: JöR 29 (1980), S. 393 [448]).- Die Verfassungsbewegung in den ostdeutschen "neuen" Bundesländern ist dokumentiert und kommentiert in JöR 39 (1990) bis 43 (1995). Besonders ergiebig für die wechselseitigen Produktions- und Rezeptionsprozesse ist die Schweiz (dazu die Analysen und Dokumente in JöR 34 (1985), S. 303 ff.) und die Verfassunggebung in Ostdeutschland (dazu zuletzt JöR 43 (1995), S. 355 ff.). Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 4.
270
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
b) Ein verfassungspolitischer
Problemkatalog in Sachen Verfassungsänderung
Die Verfassungsänderung ist das institutionalisierte Verfahren zur Anpassung der Verfassung an den kulturellen Wandel bzw. zur aktiven Ingangsetzung von Steuerungen solchen Wandels. Sie ist aus rechtsstaatlich-demokratischen Gründen nur bedingt ersetzbar bzw. ausschaubar mit dem "Verfassungswandel" (G. Jellinek), d.h. der Änderung des Verfassungsinhalts ohne Änderung des Verfassungstextes, so frappierend der Unterschied zwischen 43 GG-Änderungen in nur 47 Jahren (1949 bis 1996) einerseits und lediglich 6 Änderungen der Bayerischen Verfassung von 1946 bis 1996 in 50 Jahren bzw. nur 27 Amendments der US-Bundesverfassung (auch dank "broad Interpretation") seit 1787 ist. Gleichwohl ist die Verfassungsänderung der Idee nach Ausdruck des normalen Wachstums- und Entwicklungsprozesses einer verfassungsstaatlichen Verfassung. Sie kann im Einzelfall sogar um der Idee der Verfassung willen geboten sein. Sie ist kein "Betriebsunfall". Sie bildet vielmehr einen Ausschnitt aus dem übergreifenden Thema "Zeit und Verfassungskultur" bzw. "Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive" 140 . Im folgenden seien typologisch die Problemkreise benannt, die der heutige Verfassunggeber bei seinen Normativerungen der Prozesse der Verfassungsänderung bedenken muß und - in Beobachtung langjähriger in Raum und Zeit vergleichender Praxis - auch tatsächlich beachtet. Dabei ist auffällig, daß sich der Problemkreis Verfassungsänderung durch viele Varianten und fortschreitende Differenzierungen (vor allem in Richtung auf materielle, auch zeitliche Kriterien) auszeichnet. In dem Maße, wie Verfassungslehre auch eine Lehre der "guten" Verfassung ist und konsequent verfassungspolitische Fragen von vornherein in ihren Fragenhorizont einbeziehen darf, ja soll, lassen sich folgende Problemkreise unterscheiden: (1) Die Frage, wer "Subjekt" der verfassungsändernden Kompetenz bzw. Funktion ist - etwa nur die parlamentarischen Körperschaften wie im GG (Art. 79 GG) oder auch (zusätzlich) das Volk (vgl. Art. 75 Abs. 2 S. 2 Verf. Bayern; Art. 46 Abs. 2 Verf. Irland; Art. 51 Abs. 2 Verf. Republik Guinea von 1991 und durchgängig in der Schweiz auf Bundes- wie Kantonsebene, vgl. Art. 135 KV Jura (1977)). (S. auch die in Art. 168 Abs. 3 Verf. Spanien verlangte Volksabstimmung, ebenso Art. 152 Verf. Aserbeidschan von 1995.) Art. 79 Verf. Brandenburg kennt die Alternative Zwei-Drittel-Mehrheit des Landtags oder Volksentscheid und - übrigens einzigartig in Deutschland - die gesonderte genaue Normativierung der Verfassunggebenden Gewalt in Art. 115! Nachweisbar sind auch Normen zum Revisions-Initiativrecht (Art. 110 Abs. 2 Verf. 140
Dazu Vierter Teil IV bzw. VI.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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Griechenland: Vorschlag von mindestens fünfzig Abgeordneten mit weiteren zeitlichen Staffelungen). In einer verfassungsstaatlichen Monarchie wie den Niederlanden hat auch der König ein Initiativrecht (Art. 137 Abs. 1 Verf. Niederlande). Art. 138 Verf. Italien (1947/93) kennt besondere Regelungen zur Einschaltung des Volkes - Alternativen sieht Art. 89 Abs. 2 und 3 Verf. Frankreich von 1958/96 vor. Nach Art. 277 Abs. 1 lit. c Verf. Guatemala von 1985 hat sogar der Verfassungsgerichtshof ein Initiativrecht für Verfassungsänderungen (ebenso Art. 143 Abs. 1 Verf. Ecuador von 1984, Art. 308 Verf. Panama von 1972, Art. 68 Abs. 1 Verf. Mongolei von 1992). Art. 98 Verf. Marokko von 1972/80 gibt auch dem König ein Initiativrecht 141 . (2) Die Frage nach Art und Ausmaß der verfahrensrechtlichen Erschwerungen von Verfassungsänderungen (also z.B. die 2/3 Mehrheit von Bundestag und Bundesrat nach Art. 79 Abs. 2 GG), wobei auch Regelungen auffallen, in deren Rahmen für inhaltlich besondere Verfassungsänderungen besondere zusätzliche Mehrheiten mit besonderen Konsequenzen (Auflösung der Kammern) möglich sind (so Art. 168 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978/92 142 ). (3) Die Frage, ob es weitere Formvorschriften gibt, etwa das Gebot ausdrücklicher Änderung des Verfassungstextes wie in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG: eine Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit der Verfassungsänderung 143, ein Grundsatz, welcher Ausdruck formalisierter Öffentlichkeit der Verfassung ist. Das Fehlen eines Art. 79 Abs. 1 S. 1 hat z.B. dazu geführt, daß das BV-G Österreichs bis zur "Ruine" verunstaltet ist 1 4 4 . Art. 168 Verf. Estland von 1992 normiert ein zeitliches Wiederholungsverbot desselben Gegenstandes der Verfassungsänderung für die Dauer eines Jahres (ebenso Art. 148 Abs. 4 Verf. Litauen von 1992). (4) Die Frage sonstiger, dem Verfahren gezogener (z.B. zeitlicher) Grenzen. So normiert etwa Art. 110 Abs. 6 Verf. Griechenland von 1975 ein Verbot einer Verfassungsänderung "vor dem Ablauf von fünf Jahren nach Abschluß der vorhergehenden" - Ausdruck der Idee der Verfassung als Grund-Oràmmg. Eine anlöge Zeit-Grenze findet sich in Art. 284 Abs. 1 Verf. Portugal. So verlangt 141
Zit. nach JöR 38 (1989), S. 516 ff. Vgl. auch § 79 Abs. 1 S. 1 Verf. Island (1944/1968), zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO.- In Präsidialsystemen mag es auch tunlich sein, spezielle Verbotsgrenzen in Sachen Verlängerung der Amtszeit oder Wiederwahl des amtierenden Präsidenten vorzusehen (so in Art. 129 Abs. 2 Verf. Korea von 1980, zit. nach JöR 35 (1986), S. 604 ff.). 143 Dazu K. Stern, Das Staatsrecht, aaO., Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 159. 144 Dazu Österreichische Parlamentarische Gesellschaft (Hrsg.), 75 Jahre Bundesverfassung, 1995, passim, z.B. S. 12 f., 160, 195 ff - S. auch das Verbot der "Verfassungsdurchbrechung" in Art. 64 Abs. 4 Verf. Baden-Württemberg von 1953. 142
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
§ 88 Verf. Dänemark (1953) ggf. eine Neuwahl des Folketing, wenn dieser zuvor eine neue Verfassungsabstimmung angenommen hat. Auch Kap. 8 § 15 Verf. Schweden (1975/80) fordert vom zweiten eine Grundgesetzänderung bestätigenden Beschluß, daß er erst dann gefaßt werden darf, wenn "im ganzen Reich" zuvor Reichstagswahlen abgehalten wurden. Art. 114 Abs. 2 Verf. Luxemburg (1868/1996) erklärt die Kammer von Rechts wegen für aufgelöst, wenn sie sich zuvor für eine Verfassungsänderung ausgesprochen hat, Art. 3 der Übergangsnormen Verf. Brasilien von 1988 gibt den Weg zu Verfassungsänderungen erst nach 5 Jahren frei. Mitunter wird bei Streitfragen über die Zulässigkeit einer Verfassungsänderung der Verfassungsgerichtshof eingeschaltet (z.B. Art. 74 Abs. 1 S. 3 Verf. Sachsen von 1992). (5) Grenzen der Verfassungsänderung via "Ewigkeitsklauseln" (wie zuletzt in Art. 56 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993, Art. 78 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt von 1993, Art. 83 Abs. 3 Verf. Thüringen von 1993, Art. 281 Verf. Guatemala von 1985, Art. 91 Abs. 5 Verf. Republik Guinea von 1991, Art. 131 Verf. Namibia von 1990, Art. 159 Verf. Angola von 1992, Art. 115 Verf. Turkmenistan von 1992: "Republikanische Form der Regierung", analog Art. 284/1 Verf. Haiti von 1987, Art. 9 Abs. 2 - 3 Verf. Tschechien von 1992: "wesentliche Befindlichkeiten des demokratischen Rechtsstaates", Art. 148 Verf. Rumänien von 1991, Art. 157 Abs. 1 Verf. Ukraine von 1996, Art. 155 Verf. Aserbeidschan von 1995, Art. 196 Abs. 3 lit. a Verf. Malavi von 1994: "substance") werden unter c) behandelt. (6) Die Frage, ob in bestimmten Zeiten, wie in Kriegszeiten oder im Notstandsfall Verfassungsänderungen unzulässig sind (vgl. Art. 289 Verf. Portugal, Art. 169 Verf. Spanien; s. auch Art. 115 e Abs. 2 S. 1 GG, Art. 196 Verf. Belgien von 1994; Art. 148 Abs. 3 Verf. Rumänien von 1991; Art. 91 Abs. 4 Verf. Republik Guinea von 1991; Art. 160 Verf. Angola von 1992; Art. 161 Abs. 2 Verf. Estland von 1992; Art. 147 Abs. 2 Verf. Litauen von 1992; Art. 103 Verf. Georgien von 1995; Art. 157 Abs. 2 Verf. Ukraine von 1996). Die Bejahung dieser Frage sollte m.E. zum selbständigen Element allen Denkens über Verfassungsänderungen heute werden und dort, wo sie nicht ausdrücklich geregelt ist, ungeschrieben ("immanent") durch (rechtsvergleichende) Verfassungsinterpretation begründet werden. (7) Verfassungspolitisch stellt sich die systematische Frage, an welchen "Orten" der Verfassunggeber die Verfassungsänderung regelt: etwa nur in Schluß- und Übergangsvorschriften wie in § 95 Verf. Finnland (1991/1995), Art. 152 Abs. 1 und 2 Verf. Slowakische Republik von 1992; s. auch Art. 116 Verf. Turkmenistan von 1992 und schon Siebenter Teil Verf. Türkei von 1982 (Art. 175) oder gar im Gegenteil im Abschnitt "Grundbestimmungen" (so in Art. 9 Verf. Tschechien von 1992), im Abschnitt Bundesgesetzgebung wie in Österreich (Art. 44 B-VG 1920/1994) oder in eigenen Abschnitten (wie in Art.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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110 Verf. Griechenland von 1975; Art. 46 Verf. Irland (1937/1992) oder "Gesetzgebung" (wie in Brandenburg! Art. 79 Verf. von 1992 oder Art. 74 Verf. Südafrika von 1996) oder im Kontext der Verfassunggebung als stärkeren, aber doch benachbarten Verfahren (so in Kap. IX Verf. Bulgarien von 1991, vgl. besonders Art. 158). Die Übergänge zwischen (mehreren) Teilrevisionen und (einer) Totalrevision (Verfassunggebung) können fließend sein. Art. 44 österreichisches B-VG unterscheidet zwischen Gesamtänderung und Teiländerung 145 . Vieles spricht dafür, daß beide Verfahren in einem gemeinsamen Abschnitt zu regeln sind (so Kap. X I I I Verf. Nicaragua von 1986 146 und Titel X Verf. Venezuela von 1961). Besonders geglückt erscheint es, die Verfassungsrevision mit einem Abschnitt über "Überwachung der Verfassungsmäßigkeit" zu verbinden (in einem gemeinsamen Teil: "Verfassungsgewährleistung und Revision": so in Art. 277 bis 289 Verf. Portugal von 1976/92). Denn damit kommt zum Ausdruck, daß die Verfassung ernst genommen wird, sich ihre Garantie aber auch einmal in ihrer (behutsamen) Revision äußern kann. Das Wort "Schutz der Verfassung" wie in Verf. Rheinland-Pfalz von 1947/1993 ist also kein Euphemismus, denn gewisse prozessuale und materielle Hürden sind klar bezeichnet. Die Schweiz kennt meist einen eigenen Abschnitt über die Revision der Verfassung mit den zwei typisch schweizerischen Spielarten "Teil- und Totalrevision" (z.B. §§121 KV Aargau von 1980; § 143 ff. K V Basel-Landschaft von 1984; Art. 127 ff. KV Bern von 1993). Die Verfassung der Russischen Föderation von 1993 behandelt in ihrem Kapitel IX "Verfassungsänderungen und Revision der Verfassung" 147 auch Vorgänge, die nicht nur die Revision betreffen, sondern in die Kompetenz der "Verfassunggebenden Versammlung" fallen (Art. 135) - ein Beleg für die sich abzeichnende "Konstitutionalisierung" der verfassunggebenden Gewalt im Verfassungsstaat 148.
145
Dazu aus der Lit.: H. Huber, Die Gesamtänderung der Verfassung, FS Scheuner, 1973, S. 183 ff. 146 Ähnlich schon Abschnitt XVII Verf. Costa Rica von 1949 mit ungewöhnlich detaillierten Verfassungsnormen in Art. 195 und der "allgemeinen Änderung der Verfassung", die eine verfassunggebende Versammlung voraussetzt (Art. 196). Auch Art. 373 ff. Verf. Honduras von 1982, zit. nach L. Lopez Guerra/L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992, sprechen von "Reform der Verfassung". Ebenso Titel XIII Verf. Kolumbien von 1991. 147 Zit. nach J.Ch. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 381 ff. 148 Dazu P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt, AöR 112 (1987), S. 54 (89 f.). Auch die Verf. der Philippinen von 1986 faßt in Art. XVII Verfassungsänderung und Verfassunggebung zusammen.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Insgesamt ist aber davon abzuraten, die Verfassungsänderung "nur" in den Übergangsvorschriften zu regeln, so wichtig diese sein können (dazu unten Sechster Teil V I I I 15). Zu diskutieren ist auch, ob man den neuerdings vordringenden Begriff der "Verfassungsreform" wählt (so Kap. 8 Verf. Niederlande von 1983, ähnlich Art. 191 bis 195 Verf. Nicaragua (1986)) und ob man sich vor der Unterscheidung zwischen "Änderungen" und "Ergänzungen" der Verfassung (so aber Verf. Aserbeidschan von 1995: Art. 152 ff. bzw. 156 ff.) besser hüten sollte. (8) Im ganzen erweist sich das Problem der Verfassungsänderung prozessual wie inhaltlich als typisches Thema des Verfassungsstaates. Dies nicht erst seit heute. Auch ein kurzer Rückblick 149 in die deutsche Verfassungsgeschichte zeigt einerseits eine große Variationsbreite möglicher Normierungen (man vergleiche den kargen Art. 76 WRV von 1919 einerseits, auch Abschnitt V I I I Art. I I I § 196 Verf. Paulskirche von 1849, immerhin unter der Überschrift "die Gewähr der Verfassung") mit so manchem ausgeklügelten Normenkomplex von heute. Das Thema war als solches bereits den frühkonstitutionellen Verfassungen Deutschlands bekannt (z.B. X § 7 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern von 1818 150 ). Durchweg sind es aber formell-prozessuale Elemente und ein differenzierter Einbau des Zeitfaktors, die auffallen; es fehlen noch materielle Grenzen bzw. gegenständliche Hürden. Die Pioniertat war und ist diesbezüglich die "Geistklausel" in § 112 Abs. 1 Verf. 149 Frankreich erweist sich einmal mehr als großes Verfassungslaboratorium auch bei diesem Thema. Eine Textstufenanalyse ist hier besonders ergiebig. Die Verf. von 1791 (alles folgende zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979) enthält im Titel VII 8 hochdifferenzierte Artikel, die mit dem berühmen Satz beginnen: "L'Assemblée nationale constituante déclare que la Nation a le droit imprescribtible de changer sa Constitution", um dann gleichwohl auf die Mittel der Verfassung zu verweisen und das Argument der Erfahrung (!) zu benutzen. Eine Fülle "feiner" Verfahrensnormen folgt: gestuft von der zweiten bis zur vierten Legislaturperiode. Die Verf. von 1795 baut diese Regeln in Art. 336 bis 350 aus. Auch die Verfassung von 1946 nimmt sich des Themas in Art. 90 bis 95 an und ziehlt vor allem auf einen langen Beratungsprozeß. Weit einfacher ist demgegenüber Art. 89 der Verfassung von 1958. 150 Zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 1, 1961, oder die originelle Lösung in § 153 Verf. Kurfürstentum Hessen von 1831 (zit. wie ebd.): zwei nacheinander folgende Landtage mit Stimmenmehrheit von drei Vierteln; § 152 Abs. 2 Verfassungsurkunde des Königreichs Sachsen von 1831 (zit. ebd.) baut zusätzlich die Hürde ein, daß der erste Landtag "keine Abänderung oder Erläuterung" beantragen oder beschließen kann. § 53 Verf. Sachsen-Anhalt von 1919 piaziert die Verfassungsänderung in den Schlußbestimmungen (zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), aaO.); Verf. Baden von 1919 verlangt in § 5 für Staatsgebietsänderungen Verfassungsänderungen, ihr § 23 unterwirft alle Verfassungsänderungen der Volksabstimmung. § 58 Abs. 1 S. 1 Verf. Bremen von 1920 verlangt "zwei" Lesungen an "verschiedenen Tagen". Art. 49 Verf. Danzig (1922) erfindet einen neue Variante: "zwei mindestens einen Monat auseinander liegende Lesungen mit Zweidrittelmehrheit."
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Norwegen von 1814 (ähnlich Art. 85 Abs. 1 S. 2 Verf. Württemberg-Baden von 1946): "Abänderungen, die dem Geist der Verfassung widersprechen, sind unzulässig" 151 . Das Ineinandergreifen von prozessualen und materiellen Regelungen (besonders ausgeprägt in Art. 278 bis 281 Verf. Guatemala von 1985 sowie Art. 66 Verf. Malta von 1964/92 152 ) kennzeichnet die heutige Textstufe des Problems. Jedes Volk verarbeitet auch auf diesem Feld seine eigene Verfassungsgeschichte (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG!), greift aber auch auf die "Werkstatt" vieler neuerer und älterer Verfassungen zurück. Zumal der wissenschaftlich beratende Verfassungslehrer sollte dies tun. Weder dürfen Verfassungsänderungen über Gebühr erschwert, noch wie in der Bismarck-Verf. formalistisch erleichtert werden (Art. 78). Die Schweiz hat m.E. mit ihrem variantenreichen Einbeziehen des Volkes und vielen differenzierten Verfahren wieder einmal eine geglückte "Mischung" erreicht. Dank ihrer insgesamt glücklichen Verfassungsgeschichte kann sie es sich leisten, auf Materielles zu verzichten. Auch die Verf. Südafrika (1996/97) kann sich "sehen" lassen. Sie normiert prozessuale und materielle Momente (Art. 74). Die eigene Institutionalisierung einer Verfassungsrevisionskonferenz wie in Kanada (nach Ablauf von 15 Jahren: Art. 49 Verf. von 1981) kann empfehlenswert sein 153 . c) Die Grenzen der Verfassungsänderung: Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln bzw. Identitätsgarantien sind geschriebene Verfassungstexte, in denen bestimmte Prinzipien oder Einrichtungen einer je geltenden Verfassung in aller Zukunft gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber für unantastbar erklärt werden. Solche Klauseln können aber auch unabhängig von kodifizierten Texten (Urkunden), also "ungeschrieben" sein bzw. durch Wissenschaft und Praxis entwickelt wer-
151
Art. 116 Abs. 1 Verf. Nepal von 1990, zit. nach JöR 41 (1993), S. 566 ff., untersagt Verfassungsänderungen, die "dem Geist der Präambel" widersprechen. 152 Ungewöhnlich differenzierte Abstufungen finden sich auch im Abschnitt "Von der Reform des Statuts" in dem Autonomiestatut des Baskenlandes von 1979, zit. nach JöR 43 (1995), S. 558 ff.: Art. 46 und 47, sowie in der Verf. Kanadas von 1981 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.: Art. 38 bis 49) und der Verf. Uganda von 1995 (Art. 258 bis 262). 153 Art. 157 Verf. Jemen von 1993 schaltet eine neutrale Kommission zur Überwachung des Revisionsverfahrens ein (zit. nach G.H. Flanz (Hrsg.), Constitutions of the countries of the world, 1995). 21 Häberle
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den 154 . In beiden Formen sind sie meist Reaktion auf Gefahren, die in der Vergangenheit für den Verfassungsstaat bestanden haben oder in der Zukunft befürchtet werden. Sie bilden aber auch ein Stück "Prinzip Hoffnung" auf ein Dauern bestimmter Inhalte oder können sogar ein "Utopiequantum" zum Ausdruck bringen. Eine Wissenschaftsgeschichte der Diskussion zu Ewigkeitsklauseln kann hier nicht geschrieben werden. Doch sei hervorgehoben, daß die Staatsrechtslehre in vielen Ländern, die einen Verfassungsstaat hervorbrachten, Ewigkeitsklauseln in höchst schöpferischer Weise vorbereitet 155 , aufbereitet und nachbereitet hat: so sehr, daß sich oft ein Hand-in-Hand-Arbeiten zwischen wissenschaftlicher Verfassungslehre und politischem Verfassunggeber belegen läßt. Dies beweist, daß in bezug auf den Typus Verfassungsstaat und seine konkreten Beispiele eine je nach Raum und Zeit variable Arbeitsteilung zwischen Verfassunggebung und Wissenschaft besteht. So hat die französische Staatsrechtslehre schon zur Verfassung von 1814 die Theorie entwickelt 156 , wonach zwischen (änderbaren) "articles réglementaires" und (unabänderlichen) "articles fondamentaux" zu unterscheiden sei - positiv-rechtlichen Ausdruck fand diese Differenzierung in § 112 Verf. Norwegen (1814) und in dessen "Nachbildern" (Ecuador (1861) sowie Griechenland (1864 157 )).
154
Zum folgenden schon mein Beitrag: Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: FS Haug 1986, S. 81 ff. (mit viel Beispielsmaterial bis 1985 bzw. einer Typologie). Vgl. die verfassungsstaatliche Ewigkeitsklauseln nach Art von § 112 Verf. Nonvegen (1814) und Art. 79 Abs. 3 GG (1949) vorwegnehmenden Sätze in J. Locke, Über die Regierung, Ausgabe Reclam (1974), Kap. XI (S. 110): "Dies sind die Grenzen, die der legislativen Gewalt gleich welcher Regierungsform durch jenes Vertrauen gesetzt sind, welches die Gesellschaft und das Gesetz Gottes und der Natur in sie gelegt haben. Zum ersten muß sie nach öffentlich bekannt gemachten festen Gesetzes regieren... Zum vierten darf und kann die Legislative die Gewalt, Gesetze zu geben, nicht auf irgendjemand anderen übertragen...". 155 Wie stark die wissenschaftliche Diskussion um Grenzen der Verfassungsänderung (und damit eine Grundsatzfrage der Verfassungslehre) weltweit wirkt, zeigt die Kontroverse in Japan. Obwohl die Japanische Verfassung von 1946 keine ausdrückliche Ewigkeitsklausel kennt, hält die h.M. in Japan die Achtung der Grundrechte, das Demokratieprinzip und den Pazifismus für unabänderlich (dazu R. Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, 1982, S. 154 ff, 160 f.). 156 Dazu m.N. H.-U. Evers, Bonner Kommentar Zweitbearbeitung, Art. 79 Abs. 3, 1982, Rdnr. 23. 157 Art. 107 Verf. Griechenland (1864) lautet (zit. nach W. Hildesheimer, Über die Revision moderner Staatsverfassungen, 1918, S. 111): "Die Revision der ganzen Verfassung ist nicht statthaft; einzelne nicht fundamentale Bestimmungen derselben aber können revidiert werden, jedoch erst 10 Jahre nach Veröffentlichung der Verfassung und nachdem die Notwendigkeit der Revision gehörig konstatiert worden ist".
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Die neueren deutschsprachigen Beispiele auf Länderebene nach 1945 und Art. 79 Abs. 3 GG sind ohne die Verfassungslehre von C. Schmitt (1928, S. 194 ff.) und die ihm verpflichtete Diskussion nicht denkbar. Freilich ist die Schweiz ein Beispiel dafür, daß selbst die intensivste wissenschaftliche Diskussion zum Thema "Schranken der Verfassungsrevision?" 158 die Verfassunggeber nicht zu präjudizieren braucht: Soweit ersichtlich haben die neueren Verfassungsentwürfe und Verfassungen auf kantonaler Ebene in der Schweiz keine Ewigkeitsklauseln (auch nicht die Bundestotalrevision von 1977 159 und der Privatentwurf Kölz/Müller, 1984 160 , sowie der "nachgeführte" Bundesverfassungsentwurf von 1995). Ein politisches bzw. praktisches Bedürfnis zu solchen Klauseln besteht angesichts der bewährten Verfassungskultur der Schweiz offenbar nicht. Das schließt indes nicht aus, die Schweizer "akademische" Diskussion über positivrechtliche Ewigkeitsklauseln für andere Länder auszuwerten - so wie dies bisher schon geschah: darin kommt das weltweite arbeitsteilige Bemühen um den Typus "Verfassungsstaat" zum Ausdruck. Im folgenden ist lediglich die Skizze einer verfassungsstaatlichen Theorie "in Sachen Ewigkeitsklauseln" möglich: im Sinne eines Theorievorschlags, bezogen auf den Verfassungsstaat als Typus. So groß die Variationsbreite positivrechtlich nachweisbarer Ewigkeitsklauseln in Geschichte und Gegenwart ist, so evident ist auch, daß viele verfassungsstaatliche Verfassungen ohne geschriebene Ewigkeitsklauseln auskommen wollen und auch auskommen können (z.B. die Schweiz von heute!): In dem Maße, wie es gelingt, zu einzelnen "Themen", Grundsätzen und Verfahren des Verfassungsstaates etwas "Typisches" zu sagen, muß es auch möglich sein, über ein traditionsreiches und nicht selten vorkommendes "Element" dieses Verfassungsstaates, die Ewigkeitsklausel, etwas "Prinzipielles" zu erarbeiten, und zwar auf dem Forum einer (vergleichenden) Verfassungslehre. Gewiß, die Vielfalt im Erscheinungsbild von im einzelnen sehr unterschiedlichen "Ewigkeitsklauseln" macht es schwer, etwas Generelles auszusagen und doch zugleich der Individualität der einzelnen
158
Die erste neuere Grundsatzarbeit stammt von H. Nef Materielle Schranken der Verfassungsrevision, ZSR 61 (1942), S. 108 ff. Auf ihn folgen vor allem H. Hang, Die Schranken der Verfassungsrevision, 1947, W. Kägi, Rechtsfragen der Volksinitiative auf Partialrevision, ZSR 75 (1956), S. 739 a ff. (dazu auch D. Schindler, AöR 81 (1956), S. 484 ff.); ferner P. Siegenthaler, Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision als Problem des positiven Rechts, 1970. S. auch J.P. Müller, Materiale Schranken der Verfassungsrevision?, FS Haug, 1986, S. 185 ff. 159 Ausdrücklich ablehnend: Bericht der Expertenkommission, 1977, S. 187 f.- Eine eingehende Erörterung der "limites matérielles de la révision" in: Rapport final der Schweizer Totalrevision-Kommission, VI, 1973, S. 734 ff. 160 Dazu mein Beitrag: Der "private" Verfassungsentwurf Kölz/Müller (1984), in: ZSR 104(1985), S. 353 ff.
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Verfassungsstaaten gerecht zu werden. Es besteht die Gefahr, daß Verfassungslehre in ihren Methoden und Inhalten so abstrakt wird, daß sie letztlich formal bleibt. Damit leistete man ihr besonders in der heutigen Zeit einen schlechten Dienst, in der der Typus "Verfassungsstaat" weltweit herausgefordert bleibt und z.B. die Menschenrechte als klassisches und lebendes Element des Typus Verfassungsstaat mindestens verbal ein universaler Legitimierungsausweis sind. Verfassungslehre muß vielmehr Methoden und Inhalte zu entwickeln suchen, die bei allem Ringen um den Typus des "Verfassungsstaates" Gestaltungsspielraum für das "Historisch-Individuelle" der einzelnen Beispiele dieses Typus lassen: der Begriff "Verfassungskultur" und die Methode der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft könnten diesen "Spielraum" positiv ausfüllen. So ist es z.B. letztlich aus den spezifischen Eigenheiten der Schweizer Verfassungskultur mit ihrer gelebten Demokratie, ihrer Tag für Tag bewiesenen Freiheitlichkeit, ihrer stabilen Bundesstaatlichkeit und ihrer historischen Kontinuität erklärlich, daß sie textlich eine ausdrückliche "Ewigkeitsklausel" heute weder auf Bundes- noch Kantonsebene braucht; denn aktuelle Gefahrenlagen sind für die Substanz ihrer Verfassung, für ihre "Identität" nicht erkennbar: Der Republikcharakter, die demokratische und freiheitliche Struktur, Bundesstaatlichkeit und Gewaltenteilung sind nirgends "grundsätzlich" bedroht. Wenn die Schweiz gleichwohl seit langem und bis heute das Thema "Schranken der Total- bzw. Partialrevision" auf höchstem Niveau diskutiert 161 , so hat sie damit einen wichtigen Beitrag für den Typus "Verfassungsstaat" und seine weltweiten Beispiele geleistet 162 . Zugleich kommt zum Ausdruck, wie intensiv die Zusammenarbeit vieler nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat ist und wie sehr sie dieser Typus weltweit "versammelt" bzw. integriert. Der "kooperative Verfassungsstaat" 163 ist nicht nur rechtlich eine Realität, er wird auch von der "Zunft" der Verfassungswissenschaftler wissenschaftlich gelebt. Die hier skizzierte verfassungstheoretische Sicht von Ewigkeitsklauseln setzt viele Ergebnisse der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion voraus, ohne sie im einzelnen nachzuweisen. Stärker zu betonen als in der überkommenen Literatur, ist die Aufgabe der Integrierung des normativen Beispiels- bzw. Text-
161
Dazu die Nw. in meinem Beitrag in FS Haug, 1986, S. 81, Anm. 1. Bsp.: Art. 130 Verf. Guinea-Bissau (1993); Art. 225 Verf. Tschad (1996). 162 Zum Einfluß der schweizerischen und deutschen Lehre auf die von der japanischen h.M. für Japan entwickelten Doktrin absoluter Grenzen der Verfassungsänderung vgl. R. Neumann, Änderung und Wandlung der Japanischen Verfassung, 1982, S. 156 ff. 163 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 407 ff. sowie Dritter Teil VII.
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Materials der bisher in Geschichte und Gegenwart nachweisbaren Ewigkeitsklauseln 164 . Diese Texte geben für die wissenschaftliche Einordnung und die verfassungspolitische Ausgestaltung von Ewigkeitsklauseln auch "theoretisch" weit mehr her als bislang aus ihnen "gemacht" wurde. Doch sei nicht verkannt, daß die Ewigkeitsklauseln zum Teil ihrerseits Ergebnis vorausgegangener höchst produktiver wissenschaftlicher Diskussionen sind 165 . Lösungsgesichtspunkte für die verfassungstheoretische Frage des Verständnisses von "Ewigkeitsklauseln" in diesem Sinne bilden folgende Erwägungen: -Ewigkeitsklauseln sind geschrieben oder gar ungeschrieben immanenter Bestandteil verfassungsstaatlicher Verfassungen, sofern man sie von einem materialen Ansatz aus deutet 166 1 6 7 . - Soweit sie ganz oder teilweise Elemente der "Substanz" dieser Verfassungen umschreiben, sind sie deklaratorischer Natur 168 . - Diese Substanz verfassungsstaatlicher Verfassungen umfaßt typusentsprechend folgende Inhalte: Grundrechte mit der Menschenwürde an der Spitze, weil sie die anthropologische Basis bildet, Demokratie und Gewaltenteilung 169 ; schon die (nur formal als "Nichtmonarchie" begriffene) Republikklausel ist aber vom Typus des Verfassungsstaates her gesehen kein notwendiges "Wesensmerkmal" (Beispiele: Schweden, Norwegen, Dänemark!); 164 Eher summarisch aufzählende, denn am jeweiligen Sachproblem eingearbeitete bzw. grundsätzlich "vergleichende" Bezugnahmen auf die Vorbilder und "Nachbilder" des Art. 79 Abs. 3 GG z.B. im AK-GG- H Ridder, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art. 79 Abs. 3 Rz. 27; H.-U. Evers, aaO, Rdnr. 23 ff.; K. Stern, Staatsrecht I, aaO., S. 166; B.-O. Bryde, in: v. Münch (Hrsg.), GGK, Bd. 3, 2. Aufl. 1983, Rdnr. 24 (3. Aufl. 1996). 165 Beispiele sind die französische Unterscheidung zwischen grundsätzlichen und anderen Verfassungsinhalten, die Erkenntnisse von C. Schmitt, Verfassungslehre (1928) und ihre Auswirkung auf deutsche Landesverfassungen nach 1945 und das GG von 1949. 166 Zu ihm vor allem H. Ehmke, aaO, S. 99 f , 136 ff.; aus der späteren Literatur Κ . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 292 ff. 167 Die bekannte (und "schiefe"!) Formel von Art. 79 Abs. 3 GG als "Ausnahmevorschrift" (BVerfGE 30, 1 (25)) ist mit Recht viel kritisiert worden (vgl. K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 293 Anm. 7; P. Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dez. 1970, JZ 1971, S. 145 (149 ff.); Zweifel auch bei K. Stern, Staatsrecht I, aaO., S. 168; s. auch B.-O. Bryde, aaO., Rdnr. 33. 168 Dazu aus der Lit.: Η. Ehmke, aaO., K. Hesse, aaO, S. 292 f.; s. auch B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 236: "zum guten Teil deklaratorisch"; ders., in: v. Münch (Hrsg.), Rdnr. 25 zu Art. 79 Abs. 3 m.w.N. zu im einzelnen sehr unterschiedlichen Lehren. 169 Vgl. K. Hesse, aaO., S. 293. Vgl. auch Art. 17 Verf. Gabun (1994).
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entsprechendes gilt für die Bundesstaatsstruktur (Beispiel: der Einheitsstaat Frankreich!). Das schließt nicht aus, innerhalb des vom Typus Verfassungsstaat offengelassenen Rahmens für einzelstaatliche Beispiele die Republikklausel (Frankreich) und Bundesstaatsformel (Schweiz) auf Grund der besonderen, individuellen Verfassungskultur zusätzlich zum "substantiellen Element" einer geschriebenen oder ungeschriebenen Ewigkeitsklausel zu machen bzw. sie als solche (wissenschaftlich und gegebenenfalls prätorisch) zu deuten. - Ewigkeitsklauseln sind im Sinne eines positiven oder "Wesensgehalts"bzw. Identitätsdenkens170 und erst in diesem Rahmen auch im Sinne des "Schrankendenkens" zu erschließen 171. Soweit sie positivrechtlich normiert sind, geben sie nicht per se erschöpfende Hinweise auf das, was einer konkreten verfassungsstaatlichen Verfassung "wesentlich" ist, und diese "Substanz" erschließt sich - historisch nicht unwandelbar - in ganzheitlicher Interpretation. - Dieses Verständnis von geschriebenen und ungeschriebenen Ewigkeitsklauseln lebt aus einer Zusammenschau der bisherigen typischen Erscheinungsformen solcher Klauseln in den Verfassungstexten und dem, was die Wissenschaft dazu erarbeitet hat: insbesondere sind die klassische "Geist-dieser- Verfassung" -Klausel nach dem Muster Norwegens (1814) und die ihr verwandte "Grundsatzklausel" (z.B. Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern, 1946) sowie das "Substanzdenken" eines C. Schmitt zusammenzusehen mit den typischen Inhalten, die der Verfassungsstaat in den einzelnen Nationen nach und nach in verschiedenen "Wachstumsschüben" hervorgebracht hat.
170
Zu "Identität" der Verfassung als Grenze der Verfassungsänderung B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, aaO., S. 232 f., 236; K. Hesse, Grundzüge, S. 293: "Identität", "materieller Kern"; Κ Stern, Staatsrecht I, aaO., S. 167: "unentbehrliche Grundsubstanz", S. 174: "Wesensgehalt".- BVerfGE 30, 1 (24): "Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann."- Identitätsdenken auch bei P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HdbStR Bd. I (1987), S. 775 ff. 171 Ein Verständnis der Verfassungsänderungen von "Begriff und Funktion" der Verfassung her, woraus sich dann auch "Grenzen" ableiten lassen, bei D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 488 ff, der eindrucksvoll auf der Ebene der Verfassungslehre argumentiert und "Richtpunkte" für Verfassungsänderungen erarbeitet (Verfassungsänderung als "Verfassungsverbesserung"). S. auch meinen Beitrag "Zeit und Verfassung" (1974), später in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 (88 ff.), dem es um ein "positives" Verständnis der Verfassungsänderung geht.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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- "Gemeinverfassungsstaatlich" typische Inhalte bilden insonderheit: die Menschenwürde und Menschenrechte 172, das Demokratieprinzip, die Gewaltenteilung (vgl. Art. 16 der französischen Erklärung von 1789), der soziale Rechtsstaat. Diese "Zusammenschau" bedeutet praktisch, daß Verfassungsstaaten mit bloßen, nicht näher spezifierten "Geist-dieser-Verfassung"- bzw. "Grundsätze"- und "Grundgedanken"-Klauseln 173 inhaltlich angereichert werden dürfen und müssen mit den "unerläßlichen Bestandteilen einer (!) demokratischen Verfassung" (in der sprachlich glücklichen Wendung von Art. 92 Abs. 3 Verfassung Baden (1947)), wie sie sich beispielhaft, aber nicht immer erschöpfend in anderen verfassungsstaatlichen Verfassungen finden. Umgekehrt liefern ausdrückliche Beispiele in solchen Verfassungen Hinweise darauf, was sie - den Typus Verfassungsstaat illustrierend - als Teil ihrer "Identität" ansehen. Das braucht nicht erschöpfend zu sein. Denn da der "Geist" einer verfassungsstaatlichen Verfassung für den verfassungsändernden Gesetzgeber per se unantastbar bleibt, ist die konkrete Verfassung immer auch daraufhin zu untersuchen, ob es gerade ihrem speziellen "Geist", ihrer konkreten historischen Individualität entspricht, weitere Elemente (wie die Bundesstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland 174 und den "Pazifismus" in Japan) zu ihrer "Substanz" zu rechnen. Erneut zeigt sich, wie viel die Interpretation zu leisten hat, wenn es um das "allgemeine" und "besondere" Verständnis von verfassungsstaatlichen Ewigkeitsklauseln geht 175 .
172 Zur "Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte" s. den gleichnamigen Aufsatz von K. Stern, JuS 1985, S. 329 ff; zur Manifestation der Menschenrechte in Art. 79 Abs. 3 GG s. auch schon W.O. Schmitt Glaeser, Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, DÖV 1965, S. 433 (438 f.). 173 Vgl. auch die Berufung auf den "Geist" des GG bei der Auslegung von Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 GG: Sondervotum Geller/v. Schlabrendorff/Rupp: BVerfGE 30, 33 (39). 174 Zur insoweit konstitutiven Bedeutung des Art. 79 Abs. 3 GG: H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 100; K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 293. 175 Zur Auslegungsbedürftigkeit von Art. 79 Abs. 3 GG: B.-O. Bryde, in: von Münch, aaO., Rdnr. 25 zu Art. 79 Abs. 3 (2. Aufl. 1983). Aus guten Gründen fordert er (ebd. Rdnr. 28), einen Mittelweg zu suchen zwischen der vom BVerfG (E 30, 1 (24 f.)) vorgenommenen Minimalisierung des Abs. 3 und "normativen Zementierungen" (Maunz/Dürig). Die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG ist aber nicht nur "Sache des BVerfG" (so aber Bryde, aaO., Rdnr. 25), sie ist Sache aller an Verfassungsinterpretation Beteiligten, also auch des verfassungsändernden Gesetzgebers (!), der zugleich von allen anderen Interpreten kontrolliert werden soll. In Verfassungsstaaten mit obligatorischem Referendum bei Verfassungsänderungen (Schweiz, Art. 121 BV), Beteiligung der Parlamente der Gliedstaaten (Art. V Verf. USA) liegt dies nahe. Aber auch für das GG sollte Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur vom BVerfG gehaltenen Barriere für eine dem Typus "Verfassungsstaat" entsprechende Verfassungsentwicklung werden. (Das Argument "Spielraum für legitime Verfassungsentwicklung" findet sich auch bei Bryde, Ver-
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
So gesehen ist die Erschließung geschriebender oder ungeschriebener Ewigkeitsklauseln eine Bewährungsprobe und ein "hic Rhodus hic salta " der Verfassungslehre: sowohl in ihrem Anspruch, einen Typus zu umschreiben, als auch in ihrer Aufgabe, der jeweiligen Individualität eines konkreten Verfassungsstaates gerecht zu werden. Bei diesem Ansatz zeigt sich eine spezifische Nähe von geschriebenen oder ungeschriebenen Ewigkeitsklauseln zu dem, was in Präambeln enthalten ist. Vielfach umreissen sie als eine Art "Verfassung der Verfassung" substantielle Grundsätze einer konkreten verfassungsstaatlichen Verfassung. Und es ist kein Zufall sondern positivrechtlicher Beleg dieser Einsicht 176 , daß manche positivrechtlich ausgestalteten Ewigkeitsklauseln die Präambeln ganz oder teilweise einbeziehen177. Mit anderen Worten: Bei der interpretatorischen Erschließung von geschriebenen oder ungeschriebenen Ewigkeitsklauseln sind die etwaigen Präambelinhalte der konkreten Verfassung und die typischen Wesensinhalte von verfassungsstaatlichen Präambeln insgesamt mit zu berücksichtigen 178. Die intensivste und zugleich extensivste Form der wicklung" ist die Verfassunggebung:
"Verfassungsent-
fassungsentwicklung, S. 247.) - Ein Beispiel dafür, was schöpferische Interpretation von Ewigkeitsklauseln hic et nunc leisten kann und muß, gibt K. Hesse s Erarbeitung der in Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen Bundesstaatsgarantie: Bundesstaatsreform und Grenzen der Verfassungsänderung, AöR 98 (1973), S. 1 (5 ff., 14 ff.). 176 Dazu mein Beitrag: Präambeln..., in FS Broermann, 1982, S. 211 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 8. S. auch Verf. Malawi (1994): Art. 196 Abs. 3 lit. a: "the amendment would not affect the substance of the effect of the Constitution". 177 So wohl Art. 176 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Verf. Türkei (1982); eindeutig Art. 129 Verf. Rheinland-Pfalz (1947). 178 Klauseln wie Art. 79 Abs. 3 GG können sehr unterschiedlichen theoretischen Verfassungsverständnissen eine "Heimstatt" geben: einem Denken in der Nachfolge von C. Schmitt, einem "Schweizer" (Nachweise bei P. Siegenthaler, aaO., S. 169 ff., 173 f.), einem wertphilosophischen im Sinne von G. Dürig (z.B. in FS Maunz, 1971, S. 41 ff), einem material-verfassungstheoretischen (wie H. Ehmke und K. Hesse), einem naturrechtlichen (wie T. Maunz). So unterschiedlich sie im einzelnen sind, so häufig kommen sie zu ähnlichen Ergebnissen (wie zum Teil bei der Frage des deklaratorischen Charakters der Ewigkeitsgarantie). So kann eine Ewigkeitsklausel Anregung sein für so manche "pragmatische Integration von Theorieelementen". Sie ist einer "Verfassung des Pluralismus" und einer um sie ringenden "Verfassungslehre" besonders angemessen. In ihr muß es eine Variationsbreite geben für sehr unterschiedliche Verfassungsverständnisse.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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3. Verfassunggebung a) Ein Problemkatalog,
Fragenkreise
und Antworten
(1) Die Fragestellung Der demokratische Verfassungsstaat von heute versteht sich und lebt von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes her. Sie ist teils in den Verfassungstexten ausdrücklich als solche ausgewiesen, - sie wurde in der Verfassungsgeschichte des Typus "Verfassungsstaat" bald revolutionär, bald evolutionär (vor allem gegen die verfassunggebende Gewalt der Monarchen) durchgesetzt -, teils wurde sie "ungeschrieben" von Wissenschaft und Praxis entwickelt, auf Begriffe gebracht, verfeinert und ganz oder teilweise in Verfassungstexte umgesetzt. Wie kaum sonst ergibt sich das für den Typus Verfassungsstaat "in Sachen Verfassunggebung" Charakteristische aus einem Ensemble und "Kräfteparallelogramm" von politischen Ideen, wissenschaftlichen Doktrinen, geschriebenen Verfassungstexten und ungeschriebener Praxis. So groß die Unterschiede von Land zu Land je nach der nationalen Verfassungsgeschichte auch in der Gegenwart sind: Heute hat sich ein Konzentrat von "Lehren" und von Praxis zur verfassunggebenden Gewalt des Volkes entwikkelt, das bei allen "Variationen" einen Grundtypus erkennen läßt. Er ist vorrangig aus den sich in der Geschichte wandelnden und von Nation zu Nation je nach Kulturzustand verschiedenen Verfassungstexten zu erarbeiten - doch bedarf es dabei der Berücksichtigung der (Verfassungs)-Geschichte der "politischen Lehrmeinungen" (ohne daß diese alle im einzelnen dargestellt werden könnten); denn sie haben zu bestimmten Verfassungstexten geführt und diese fortentwickelt, wie umgekehrt diese Verfassungstexte als "Material" und Herausforderung für die weitere Theoriebildung gewirkt haben bzw. wirken sollten. Speziell im Deutschland des 19. Jahrhunderts kam es überdies zu Formen des "Paktierens" zwischen den die Verfassunggebung beeinflussenden "Subjekten" (Monarch und Stände bzw. Volk), an die die - heute wieder aktuel179
len - Gedanken von der "Verfassung als Vertrag" erinnern
179
.
Dazu P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff.; P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff.; s. auch P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 7: "Das ältere ... Bild des Vertrages, also der Verständigung, Einigung und Vereinbarung, behält in seinem Kernpunkt für Sinndeutung der Verfassung seine Richtigkeit".
284
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Das Schrifttum ist schon im deutschsprachigen Raum unüberschaubar 180 und es setzt sich in wechselnden Frontstellungen und Rezeptionsweisen mit den 181 Autoren Sieyès und C. Schmitt in einer Weise auseinander, die diese zu "Klassikern" 182 , mitunter auch "Gegenklassikern" zu diesem Thema macht. Ihre einschlägigen Schriften bzw. Thesen wirken "wie" geschriebene Verfassungstexte, ja sie sind mehr und strahlen intensiver aus als die Verfassungstexte so mancher einzelner verfassungsstaatlicher Verfassungen: Sie haben eine das einzelstaatliche Beispiel oft übersteigende typisierende Macht entwickelt und konstituieren ein kulturelles Kraftfeld "produktiv" und "rezeptiv" mit, in dem sich das Problem "verfassunggebende Gewalt des Volkes" befindet und weiterentwickelt. Alle Verfassungstexte sind also immer im "Kontext" solcher politischen bzw. wissenschaftlichen "Klassikertexte" mitzulesen, was diese nicht der Kritik oder dem Bedürfnis nach Fortentwicklung entzieht, sondern sie ihnen gerade öffnet bzw. aussetzt. Das neuere Schrifttum läßt einen detaillierten Vergleich des Verfassungstextmaterials in der ganzen historischen und kontemporären Dimension vermissen 183 . Eine Verfassungslehre hat, bei aller Einsicht in die "kulturelle Unterfütterung" jedes juristischen Textes von den (historisch und kontemporär miteinander verglichenen) Verfassungstexten auszugehen. Erst auf ihrem Beispielshintergrund kann das Typische eines Problems, auch 180
C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 75 ff.; W. Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957; K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 138 ff.; U. Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1966 (dazu die Besprechung von P. Häberle, in: AöR 94 (1969), S. 479 ff); C.J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 148 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 143 ff; D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978 (dazu mein Beitrag in AöR 106 [1981], S. 149 ff.); H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, HdbStR Bd. VII, 1992, S. 3 ff.-Aus der Schweiz: P. Häberle, Verfassungsinterpretation ..., ZSR 1978, S. 1 ff, sowie U. Häfelin, Verfassunggebung, in: Probleme der Rechtssetzung, Referate zum Schweizer Juristentag, 1974, Schweizer Juristenverein Bd. 108, S. 77 ff.- Aus Österreich: L.K. Adamovich/B.-C. Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 3. Aufl. 1985, S. 98 ff.- Zu Brasilien: M. Eugster, Der brasilianische Verfassunggebungsprozeß von 1987/88, 1995. 181 Zu ihm: E. Zweig, Die Lehre vom pouvoir constituant, 1909, S. 116 ff.; Κ. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 146 feiert ihn zu recht als "Entdecker" der verfassunggebenden Gewalt; das Klassikerzitat ist "la division du pouvoir constituant et du pouvoir constitué". Zur Wirkung auf das BVerfG vgl. E 1, 14 (61): "Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des pouvoir constituant". 182 Zu den Erscheinungsformen und Methoden der (Re-)Produktion von "Klassikertexten im Verfassungsleben" meine gleichnamige Schrift, 1981 sowie unten VII. 183 Ansätze aber bei K. Stern, aaO., S. 147 und E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsstaates, 1986, S. 15 f.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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das Mögliche, Notwendige und Wirkliche 184 einer verfassungsstaatlichen Problemlösung erschlossen werden (auch im Blick auf künftige "Verfassungspolitik"). Erst im Durchgang durch die "wissenschaftliche Verfassungstextverarbeitung" kann es zu fortgeschriebenen wissenschaftlichen Folgerungen kommen - etwa im Blick auf die Konzeption der Verfassunggebung als pluralistischem Prozeß, der Relativierung ihres Unterschieds gegenüber der "Verfassungsänderung" und sogar (zum Teil) gegenüber der verfassungsrichterlichen Grundsatzentscheidung, schließlich im Blick auf die Frage der kulturellen "Grenzen" der im Rahmen des Typus Verfassungsstaat nur evolutionären, nicht mehr revolutionären Verfassunggebung. Bei aller "Demokratisierung" der verfassunggebenden Gewalt im Laufe der Geschichte hat sie sich heute im Gegensatz zur klassischen Tradition eines Sieyès und C. Schmitt pluralisiert und konstitutionalisiert 185 . Sie ist nicht mehr grundsätzlich ungebunden, auch nicht in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Es gibt einen "gemeinen" (Europa und Nordamerika verbindenden) Kanon von Inhalts- und Verfahrensregeln der verfassunggebenden Gewalt des Volkes: jedenfalls im Typus "Verfassungsstaat" und im Rahmen einer als Kulturwissenschaft betriebenen Verfassungslehre. " Pouvoir constituant " und "pouvoirs constitués " sind sich entscheidend näher gekommen und nicht durch Welten voneinander getrennt wie dies die revolutionäre Ideologie eines Sieyès 1789 glauben machte und historisch - wegen des "Sprungs" der Revolution - vielleicht glauben machen mußte und wie dies im Deutschland des Revolutionsjahres 1918 ebenfalls nahelag.
184
Die Dissertation von H. von Wedel, Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung, dargestellt am Beispiel Deutschlands 1848/49, 1919, 1948/49 (1976) hat zwar das Verdienst, an exemplarischen Beispielen (s. Untertitel) die Verfassunggebung "in der Praxis" (S. 85 ff.) zu erarbeiten, doch dringt auch sie nicht zu einer typologischen Textstufenanalyse vor. Immerhin wird ein Vierphasen-Modell sichtbar: die "Ausgangslage" (S. 87 ff.), die "Träger des Neuerungswillens" (S. 123 ff.), die Schaffung eines Organs für die Verfassunggebung (S. 152 ff.), die "Schaffung eines Verfassungsentwurfs" (S. 191 ff.) und die "Ratifikation" (S. 270 ff.). Damit wird die Wirklichkeit der historischen Prozesse von Verfassunggebung nach Typischem aufgeschlüsselt. Im Verbund mit der Textstufenanalyse ist dies ein weiterführender Weg. 185 Dazu - am Beispiel der Schweiz - mein Berner Vortrag Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 182 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen (2) Der Problemkatalog: fünf Fragenkreise als Kontinuum im Wandel der Verfassungstexte
Im einzelnen ergeben sich die folgenden fünf, anhand der im historischen und aktuellen Vergleich erarbeiteten Verfassungstexte 186 typologisch aufgeschlüsselten Problemkreise, die einerseits das im Verfassungsstaat Typische in Sachen "verfassunggebende Gewalt des Volkes", andererseits aber auch die große Bandbreite denkbarer verfassungspolitischer Problemlösungen erkennen lassen: 1. An welchen "Stellen" bzw. in welchen Abschnitten behandeln die einzelnen Verfassungswerke textlich-systematisch das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes? "Schon" in der Präambel (vgl. das GG), in Grundsatz- oder erst bzw. auch in Schlußbestimmungen (so in Art. 146 GG und Art. 115 Verf. Brandenburg) oder überhaupt nicht (wird sie also "systemimmanent" vorausgesetzt und "praktiziert" - in Orientierung an der seit 1789 entwikkelten Lehre (Sieyès), die in immer neuen Textvarianten um einen Grundtypus kreist)? 2. Wer ist in welchen Verfahren als "Subjekt" in die Prozesse der Verfassunggebung eingeschaltet: ausweislich der Verfassungstexte, aber auch in den "politischen Vorverfahren": in diesem Pluralismus wirken heute Parteien, Verbände, Kirchen, einzelne Persönlichkeiten (wie N. Mandela in Südafrika), die Wissenschaft (im Spanien und Portugal der 70er Jahre, in der Türkei der 80er Jahre [auch] das Militär) mit 1 8 7 . In Brandenburg (1992) haben sich die "Bürgerinnen und Bürger des Landes", also nicht das Volk "diese Verfassung" gegeben (Präambel), s. auch Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993). Verfassungsgeschichtlich kämpften - im Spiegel der Verfassungs-Texte ablesbar - in Deutschland Fürst und Stände bzw. Volksvertretungen darum, "Subjekt" der Verfassunggebung zu sein. Oktroyierte Verfassungen (wie die preußische von 1848) waren Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt des Monarchen, paktierte (wie die revidierte preußische von 1850) bildeten einen Vertrag bzw. Kompromiß zwischen Fürst und Ständen bzw. dem sie repräsen-
186 Derartige historische und kontemporäre Textstufenanalyse unternimmt der Verf. besonders seit den Aufsätzen: Vielfalt der Property Rights..., AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.); Die Freiheit der Wissenschaften.., AöR 110 (1985), S. 329 (333 ff.); Die Freiheit der Kunst.. , AöR 110 (1985), S. 577 (580 ff.); Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff. 187 Zur Rolle der Streitkräfte vgl. Präambel Verf. Portugal (1976/82) und Präambel Verf. Türkei (1982); diese nahmen sie 1997 erneut wahr.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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tierenden Volk. Erst spät, d.h. seit 1918 rückte in Deutschland das Volk in die alleinige "Subjektstellung" in Sachén verfassunggebende Gewalt ein 1 8 8 . 3. Wird die verfassunggebende Gewalt des Volkes schon textlich auf bestimmte Verfahren festgelegt oder nicht? Gibt es ausdrücklich-textlich bestimmte Verfahrensvarianten? Zum Beispiel: Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung mit anschließendem Plebiszit bzw. ohne ein solches. Oder sind diese vom Typus Verfassungsstaat immanent gefordert? Denkbar ist auch das Fehlen jeder direkt demokratischen ex ante Legitimation des Verfassunggebers (so für das GG von 1949). Die Schweiz ist in der "Prozessualisierung" der Verfassunggebung insofern besonders weit vorgestoßen, als sie einen festen Kanon von geschriebenen Verfahrensregeln zur "Totalrevision" entwickelt hat, die heute zur "Substanz" dieses Verfassungsstaates gehören dürften: auf Bundesebene ebenso wie kantonal (zuletzt etwa Art. 129 Verf. Bern von 1993 und Art. 83 bis 90 Verfassungsentwurf Tessin von 1995). 4. Ist die verfassunggebende Gewalt des Volkes textlich in einen "Kontext" bestimmter - normativierender - Inhalte (wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, historische Vorgänge) eingebettet (z.B. meist in Präambeln oder durch "Bekenntnisartikel"), die damit die Konturen des Typus Verfassungsstaat umreißen, oder erscheint sie als ungebundene, freie, "normativ aus dem Nichts" entscheidende "Gewalt"? 5. Damit zusammenhängend: Gibt es geschriebene oder ungeschriebene ("selbstgegebene" oder kulturell aufgegebene) Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes: abgelesen aus den Verfassungstexten (besonders in Präambeln), Verfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE 1, 14 (61 f.): 1. Neugliederungsurteil!) bzw. entwickelt von der Wissenschaft, die sich ihrerseits an den Texten bzw. einem Konzentrat des Typus Verfassungsstaat in Sachen Verfassunggebung orientiert. (3) Antworten 189
Eine im Lichte der Textstufenentwicklung arbeitende und aus Geschichte und Gegenwart Regelungsalternativen "anbietende" Theorie kann das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes wirklichkeitsnäher lösen als so 188
K. Stern, aaO, S. 147, trifft die Feststellung, die Lehre vom pouvoir constituant sei der wichtigste Anwendungsfall der Idee der Volkssouveränität, sie sei im demokratischen Verfassungsstaat selbstverständlich, "aber der Weg dorthin war ein dornenreicher". 189 Belege in P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat..., AöR 112 (1987), S. 54 (59 ff.). Zum Ganzen Fünfter Teil VII Ziff. 1.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
manche Ideologie. Der Typus demokratischer Verfassungsstaat vermag so ein Stück weit über die je konkrete Verfassung eines individuellen Volkes hinauszudenken und Handlungsalternativen bereitzuhalten, die offene Fortentwicklungen der je konkreten Verfassung erlauben. Daß es dabei letztlich auch zu einer Entwicklung des Typus "Verfassungsstaat" selbst kommen kann, ist nicht auszuschließen - man denke nur an die Grundwertekataloge, in die sich der Verfassungsstaat bzw. der Verfassunggeber seit 1945 zunehmend einbindet: sie sind eine neue Textstufe und ein Gewinn für den Verfassungsstaat, ebenso wie die schweizerischen Verfahrensinstrumente unter dem Stichwort "Totalrevision" und die österreichische "Gesamtrevision" bzw. das "Modell Spanien". Sobald eine konkrete verfassungsstaatliche Verfassung Wirklichkeit geworden ist und sich damit auf den "Gleisen" des Typus "Verfassungsstaat" (weiterentwickelt, kann es nur noch evolutionäre Verfassunggebung geben - eben weil die kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungslehre Inhalte und Verfahren auch jenseits der positiven Texte bereit hält, die den Weg zu einer neuen konkreten Beispielverfassung erlauben. Sobald es zu (Kultur-)Revolutionen kommt, die ein Schritt weg vom und gegen den Verfassungsstaat sind (im Zeichen totalitären Staatsdenkens von links oder rechts), versagt die Verfassungslehre. Der "große Sprung" zurück (besser: vorwärts) zum Typus "Verfassungsstaat" kann dann nur durch die oben entwickelte Argumentation geleistet werden: ausnahmsweise Verzicht auf vorgängige Wahlen zu einer Nationalversammlung, aber Unverzichtbarkeit eines späteren Plebiszits oder Wahlen: weil der neue Zustand "näher" am Typus Verfassungsstaat ist als der frühere (Beispiele: Deutschlands GG von 1949 und die Türkische Verfassung von 1982) 190 . Die These von der alleinigen "Subjektstellung" des Volkes in den materiell vorgeprägten und normativ vorstrukturierten Verfahren seiner verfassunggebenden Gewalt wird durch die Ersetzung der traditionellen "Willenseinheit 191
des Volkes" durch den heutigen Pluralismus des Volkes nicht widerlegt. Der im Verfassungsstaat typische Anspruch des Volkes, alleiniges Subjekt bzw. 192
"Träger" der verfassunggebenden Gewalt zu sein , macht die Einsicht nicht unrichtig, daß das Volk eine pluralistische Größe ist. "Das" Volk der freiheitlichen Demokratien ist in Wirklichkeit eine Vielheit von Gruppen, Parteien, Kirchen, Einzelpersönlichkeiten, die zwar ein kulturelles Band, die "Identität" 190
In Anlehnung an BVerfGE 4, 157 (169 f.): "näher beim Grundgesetz". Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 5 ff., 62. 192 P. Badura, Staatsrecht (1. Aufl.), 1986, S. 8: "In der Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, kann auch nur das Volk Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sein". 191
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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umschließt, die aber gerade in den Vorverfahren und Verfahren der Verfassunggebung das Spektrum eines facettenreichen Pluralismus offenbart. Eben darum bedarf es "vereinheitlichender" Elemente durch Verfahren, die die Verfassungslehre und -praxis bereithalten (z.B. in den Normenkomplexen der Schweiz auf Bundes- wie Kantonsebene zur "Totalrevision"). Das Aufkommen kontraktueller Momente, die zu einem schließlichen Verfassungskompromiß führen, der sich z.B. in den deutschen Länderverfassungen nach 1945 bis ins einzelne hinein belegen läßt 193 , ist ebenfalls kein Argument gegen die "Subjektstellung" bzw. "Trägerrolle" des Volkes in den Prozessen der verfassungsstaatlichen Verfassunggebung, so unbefriedigend die Metaphern "Subjekt" bzw. "Träger" sein mögen. Im modernen Verfassungsstaat arbeitet eine Vielheit pluralistischer "Faktoren" bzw. "Beteiligter" an dem Grund-Konsens, auf dem letztlich die Verfassung "gebaut" wird. Man mag von einem Pluralismus "der" Verfassunggeber sprechen, von einem Kompromiß und Vertrag(en) aller mit allen: in diesen Vorgängen und Beteiligten "ist" bzw. wirkt heute "das Volk". Die Renaissance des Gedankens der paktierten Verfassung trifft also den Pluralismus der Inhalte und der an Verfassunggebung Beteiligten besser als die Ideologie vom (unbeschränkten) Willen "des" Verfassunggebers, der "sich" die Verfassung "gibt". Sie ist jedenfalls kein "Rückschritt" in die Zeit des deutschen Dualismus Fürst/Stände und kein "stände-staatlicher" Irrweg, so sehr viele Verfassungstexte noch von der Ideologie "des" Verfassunggebers geprägt sein mögen. Immerhin ist ja in den Bekenntnis- bzw. Grundwerte-Artikeln bzw. Präambeln vieler neuerer Verfassungen einerseits und in den Verfahren zur "Totalrevision" in der Schweiz 194 , zur "Gesamtreform" in Spanien und zur 19
' Dazu B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973, S. 77, 126, 142, 152, 157, 169 f., 194 f.- Zum Kompromißcharakter der WRV: z.B. W. Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, S. 108. 194 Die verschiedenen Schweizer Lehren zu den "Schranken der Verfassungsrevision" verbinden Aussagen zum Typus Verfassungsstaat und Konkretes zur Schweiz (z.B. dem Föderalismus), sie können in dieses Bild integriert werden (ein Überblick bei Y. Hangartner, Staatsrecht I, 1980, S. 215 ff): so die Lehre von Ζ Giacometti, die Bestimmungen oder Revisionsvorschriften der BV seien unveränderlich, welche die notwendigen Organe der Verfassungsrevision, d.h. Bundesversammlung, Stimmberechtigte und Stände einsetzen (damit ist ein prozessuales Minimum gesichert!); daraus sei abzuleiten, daß die Existenz der Eidgenossenschaft, die Freiheitsrechte, das obligatorische Verfassungsreferendum(!) sowie die föderalistische Struktur ebenfalls unveränderbar seien. Nach Nef anerkennt die Lehre vom pouvoir constituant als wesentlichen Bestandteil, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes an die von der Verfassung gewährleisteten Menschenrechte gebunden ist (Y. Hangartner, aaO, S. 218); Y. Hangartner bezeichnet als Grenzen, an die der Verfassunggeber stößt, das Völkerrecht, das Verbot von Rechtssätzen mit unmöglichem Inhalt und den Grundsatz des ethischen Minimums der Rechtsordnung (aaO, S. 216); H. Haug, Die Schranken der Verfassungsrevision, 1947, S. 234, 239 ff., nennt neben Grundrechten Demokratie und Föderalismus; einen neuen Vorstoß unternimmt J.P. Müller, Materiale Schranken der Verfas-
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Gesamtänderung" in der österreichischen Bundesverfassung (1920) sowie in der Praxis der meisten Verfassungsstaaten andererseits zu erkennen, wie ernst der vorgefundene und dann in Normen umgesetzte bzw. aufgefangene und damit bejahte Pluralismus "des" Volkes ist. Als Konsequenz des bisher Gesagten ergeben sich aber auch Antworten auf die Frage Nr. 5 des obigen Problemkatalogs nach etwaigen geschriebenen und ungeschriebenen, vom Typus Verfassungsstaat bzw. kulturell vorgegebenen Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Sie folgen daraus, daß sich "Verfassunggebung" auf die Konstituierung eines konkreten Beispiels fur den abstrakteren Typus "Verfassungsstaat" beziehen muß: andernfalls wären Wort und Begriff "Verfassunggebung" irreführend und nichtssagend, ein bloßer Formalakt 195 . Aus bis heute überzeugenden Gründen formuliert und normiert Art. 16 der französischen Menschen- und Bürgerrechte-Erklärung von 1789 (die in die Verfassung von 1791 integriert wurde und über die Präambel der Verfassung von 1958 auch heute noch in Frankreich gilt): "Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung". Dies ist ein geltender Verfassungsrechtssatz im heutigen Frankreich und kulturgeschichtlich gesehen zugleich ein kultureller "Klassikertext" des Typus Verfassungsstaat. Völker, deren verfassunggebende Gewalt eine verfassungsstaatliche Verfassung einrichten konnten, haben sich damit - immanent - mindestens für diesen typusmitbestimmenden Basissatz von 1789 entschieden. So groß die Variationsbreite und Entwicklungsfähigkeit der Gewährleistung der "Rechte" und der "Gewaltentrennung" in der Zeitachse ist: Eine Verfassungsurkunde, die diese beiden Prinzipien nicht enthielte bzw. immanent mitdächte, verdient den Namen "Verfassung" nicht und sie ist auch in der Sache keine "Verfassung". Dieses inhaltliche Minimum bildet die eine "Mindestgrenze", besser Konkretisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes - heute oft in den Präambeln aktualisiert 196 ; die andere, prozessuale ist jenes oben umschriebene Minimum an verfahrensrechtlichen Wegen, auf denen bzw. in denen sich die
sungsrevision?, FS Haug, aaO, S. 195 (203) mit seiner Schranke "grundrechtliche Sicherung der Bedingungen optimaler Kommunikation zur Lösung gemeinsamer Anliegen". Diese Verknüpfung von Demokratie und Grundrechten ist zukunftsweisend. 195 S. auch E.-W. Böckenförde, aaO, S. 26: "Zum einen ist der pouvoir constituant, wie schon der Name sagt, durch den Willen zur Verfassung bestimmt." 196
Im Banne überpositiven Rechtsdenkens steht (nach 1945 verständlich) BVerfGE 1, 14 (61): Eine verfassunggebende Versammlung "ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze und ... an die Schranken, die die Bundesverfassung ... enthält (Art. 28 Abs. 1 GG). Im übrigen ist sie ihrem Wesen nach unabhängig. Sie kann sich nur selbst Schranken auferlegen."
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verfassunggebende Gewalt äußert . Es hatte sich zwar 1789/91 noch nicht entwickelt, vielmehr kommt es erst in einer historischen Gesamtsicht einschließlich der Schweizer, österreichischen und spanischen Verfassungstexte zur 'Totalrevision" bzw. "Gesamtrevision" zum Ausdruck. Aber das nimmt ihm auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates nicht die Überzeugungs- und Geltungskraft: die allgemeine Entwicklung des Verfahrensgedankens in der Gegenwart tut ein Übriges. Das Prinzip des Art. 16 der französischen Erklärung von 1789 gilt (flankiert vom erwähnten prozessualen Prinzip) auch in den Verfassungsstaaten, in deren formeller Verfassungsurkunde es keinen textlichen Ausdruck gefunden hat, 198
etwa in der Schweiz auf Bundes- wie Kantonsebene ; es gilt "ungeschrieben", weil es dem Typus Verfassungsstaat immanent ist. Die Beobachtung der prozessualen Art und Weise und der normativen Inhalte, in der und in bezug auf die sich seit 1789 Völker Verfassungen "gegeben" haben (in den USA schon seit 1776/1787), aber auch eine "wertende Verfassungsvergleichung" in bezug auf die immer wiederkehrenden, letztlich um einen Typus kreisenden Verfassungstexte verfassungsstaatlicher Verfassungen (vor allem in Gestalt von Präambeln und Schlußvorschriften), erlauben die Bejahung dieser typusbestimmenden Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des bzw. der Völker (als "Lehre" aus der Verfassungsgeschichte, deren normierende Kraft fur den Typus "Verfassungsstaat" sowohl textlich als auch praktisch nicht gering geachtet werden sollte). Es handelt sich um erfahrungswissenschaftlich aus der Praxis gewonnene Prinzipien, die fur eine sich als Kulturwissenschaft verstehende Verfassungslehre legitim sind 199 . Die umschriebenen "Grenzen" der verfassunggebenden Gewalt 200 sind Ausdruck verfassungsstaatlicher Kultur 2 0 1 : d.h. 197 Anders C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 83: "Der Wille des Volkes, sich eine Verfassung zu geben, kann nur durch die Tat bewiesen werden und nicht durch Beobachtung eines normativ geregelten Verfahrens." 198 Aus dem Schrifttum vgl. W. Kägi, Rechtsfragen der Volksinitiative auf Partialrevision, ZSR 75 (1956), S. 739 a ff. 199 Die anders arbeitende Lehre von C. Schmitt ist demgegenüber zutiefst ungeschichtlich. S. auch K. Stern, Staatsrecht, aaO, S. 149: "Übereinstimmung mit den überwiegend im Volk bestehenden Wert-, Gerechtigkeits- und Sicherheitsvorstellungen. Geschichte, Kultur und politische Entwicklung haben diese Legitimationsideen in der europäisch-atlantischen Verfassunggebung geformt." 200 Liegt die "verfassunggebende Versammlung" eines werdenden Gliedes des Bundesstaates vor, so ergeben sich aus der Bundesverfassung Schranken (so BVerfGE 1,14 (insbes. 61) im Blick auf Art. 28 Abs. 1 GG), so wie umgekehrt, bei der Verfassung des Bundesstaates eine Zustimmung der einzelnen Mitglieder des Bundes erforderlich werden kann (K. Stern, aaO., S. 148). 201 Angedeutet z.B. bei K. Stern, Totalrevision des Grundgesetzes?, in: Festgabe Maunz, 1971, S. 391 (396): keine Unbegrenztheit des pouvoir constituant, weder des 22 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
gewachsen, entwicklungsfähig und -bedürftig (fortgeschrieben z.T. in den Grundwerten in Präambeln deutscher Länderverfassungen nach 1945, jetzt seit 1990 in den neuen Bundesländern), aber auch gefährdet und gelegentlich verletzt (wie im Falle der Türkei 1982). Als kulturelle Errungenschaft des Typus Verfassungsstaat bilden sie keinen sicheren Besitz von Schriftgelehrten und Verfassungstextern: sie müssen immer neu erarbeitet und in der Praxis durchgesetzt werden. Aber auch dort, wo sie verlorengingen wie im Deutschland von 1933 und in Ostdeutschland vor 1989, können sie in späteren Generationen wiederkehren: dank einer vergleichend arbeitenden Wissenschaft und eines Verfassungsbewußtseins des seine Kompetenz einfordernden Volkes. Sie sind ein kulturelles Kontinuum in der Verfassungsgeschichte der Demokratie praktizierenden Völker geworden. (4) Die zwei Ebenen: Verfassunggebung im Typus Verfassungsstaat Verfassunggebung eines konkreten Volkes im Kontext seiner kulturellen Individualität und Identität Stets ist auf zwei - voneinander zu unterscheidenden (in der geschichtlichen Entwicklung sich aber wechselseitig beeinflussenden) - Ebenen zu arbeiten: auf der abstrakteren des Typus Verfassungsstaat und auf der konkreteren eines konkret verfaßten und sich individuell verfassenden Volkes. So ist das Bundesstaatsprinzip (noch?) nicht immanenter Bestandteil jedes typusgerechten Vorgangs der "Verfassunggebung des Volkes": Es gibt große bzw. traditionsreiche Verfassungsstaaten wie England oder Frankreich, die keine Bundesstaaten sind, allenfalls Vorformen entwickeln (Regionen!). Wohl aber finden sich individuelle Verfassungsstaaten wie die USA oder die Schweiz, in denen das Bundesstaatsprinzip ein Strukturelement jeder Art von Verfassunggebung bzw. Totalrevision des Volkes bildet, seitdem dieses Volk konstituiert ist: Was juristisch (wie in der Schweiz) als "Grenze" der Totalrevision bzw. Verfassunggebung erscheint, ist in der Sache freilich mehr: lebendiger, ohne Kulturrevolution und Kulturverlust nicht hinterschreitbarer Ausdruck der konkreten "Verfassung als Kulturzustand" 202 . Und die Nation bzw. das Volk befindet sich in diesem sich weiterentwickelnden Kulturzustand nicht im Natur- bzw. Aus-
gesamtdeutschen noch seines westlichen Teils: "jede Verfassunggebung bedarf zu ihrer Realisation des Konsenses mit den Rechts- und Wertvorstellungen derer, für die sie zu gelten beansprucht." Noch klarer ders., Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 150: Bindung der verfassunggebenden Gewalt an die "wichtigsten unserer Rechtskultur gemeinsamen Rechtsgrundsätze". 202 Zu diesem Verfassungsverständnis schon: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (Vorauflage), 1982.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
293
nahmezustand i.S. der Lehren von Sieyés bis C. Schmitt 203 . Entsprechendes gilt für die Alternative "parlamentarische Monarchie" (Spanien) oder "Republik" (Frankreich, das deutsche GG) insofern, als beide Verfassungsstaaten ihrer heutigen kulturellen bzw. verfassungsstaatlichen Entwicklungsstufe gemäß nur konstitutionelle Monarchien bzw. Republiken sein können. (5) Die Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Theorie und Praxis der hier verfochtenen Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 204 auf der Folie der sie kontextartig "umgebenden" Bekenntnisartikel in Sachen Grundwerte bzw. ihrer "Klassikertexte" von 1789 bzw. von 1776/1787 und der Schweizer Texte zu den prozessualen Maximen der "Totalrevision" können auch nicht mit dem Argument widerlegt werden, es handele sich dabei nur um eine "Selbstverpflichtung" (auf dem Hintergrund "grundsätzlich unbeschränkter Gewalt") 205 des jeweiligen konkreten Verfassunggebers, nicht um die Normalität und Normativität eines typusimmanenten Verfassungsprinzips des Verfassungsstaates. Nur formal und äußerlich betrachtet verpflichtet "sich" der Verfassunggeber bzw. das (pluralistische) Volk "selbst": in der Sache und kulturgeschichtlich gesehen votiert es für Inhalte und Verfahren, die weit "objektiver" gegeben und aufgegeben sind als ein ungeschichtlicher Dezisionismus wahrnehmen will 2 0 6 .
20 ' Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 79: "Die verfassunggebende Gewalt ist immer Naturzustand, wenn sie in dieser unveräußerlichen Eigenschaft auftritt". 204 M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, liefert einen eindrucksvollen Entwurf des demokratischen Verfassungsstaates. Doch eliminiert er letztlich Volkssouveränität und verfassunggebende Gewalt des Volkes in den Sätzen (S. 226): "Die Volkssouveränität tritt nur am Anfang oder am Ende des Verfassungsstaates auf, bei seiner Konstituierung und bei seiner Abschaffung", "Die demokratische Souveränität ruht, solange der Verfassungsstaat besteht". 205 Irreführend und einem fragwürdigen Schrankendenken in der Umkehrung verpflichtet daher der "Entwurf zur Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung" (Mitglieder der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament) vom 26. September 1983 (zit. nach J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 572 [581]): "Präambel: Die Völker Europas ... kraft ihrer unbeschränkten verfassunggebenden Gewalt, haben durch ihre Volksvertretung, das Europäische Parlament, die nachfolgende Verfassung am ... beschlossen." 206 S. auch K. Stern, Staatsrecht, aaO, S. 149: "Ein Grundbestand dieser Vorstellungen (sc. der europäisch-atlantischen Verfassunggebung) besitzt rational und historisch begründbare Objektivität: Menschenrechte, freiheitliche demokratische Grundordnung, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit".- Auch nach D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 126, sind für das GG die Begriffe "verfassunggebende Gewalt" und "freie Ent-
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die Eingebundenheit in einen bestimmten Entwicklungszustand einer Kultur schafft "Realien" und "Ideelles", dem die Theorie der bloß subjektiven "Selbstbindung" und voluntaristischen "Selbstbeschränkung" nicht gerecht werden kann. Die intensive "Verinnerlichung" bestimmter Grundwerte wie "Menschenrechte", "Friede" etc., die sich an textlichen Präambelelementen wie "Absicht", "Bewußtsein", "von dem Willen beseelt" zeigt, schlägt ins Objektive, in kulturelle Determinanten um. b) Verfassungspolitische
Erwägungen
Die bisherigen theoretischen Überlegungen und in sie integrierten vergleichenden Analysen der Verfassungstexte sowie der Praxis der verfassunggebenden Gewalt des Volkes blieben halbherzig, wenn sie nicht in verfassungspolitische Konsequenzen mündeten. Denn Verfassungslehre schließt die Dimension der Verfassungspolitik in einem "letzten Schritt" nicht aus, sondern ein 2 0 7 : Die Wissenschaft kann und soll künftigen Verfassunggebern praktische Handreichungen bieten bei der Ausgestaltung ihrer Texte, wo möglich auch im Sinne von Alternativen, wie sie in den Totalrevisionsvorhaben der Schweiz als "Varianten" üblich geworden sind 208 . Auf diesem Hintergrund sei folgendes empfohlen: (1.) Die nationalen (bundesstaatlichen, auch gliedstaatlichen bzw. kantonalen) Verfassunggeber sollten sowohl in den Präambeln ihrer Verfassungen als auch in den Schlußartikeln auf die verfassunggebende Kompetenz des Volkes als solche eingehen 209 : Sie "umrahmen" so gleichsam ihr Verfassungsscheidung des Volkes" ebenso wie die Begriffe in Art. 146 GG nach Maßgabe der liberal-demokratischen Verfassungstradition zu verstehen. "An irgendwelche 'verfahrensfreie' spontane Willenskundgaben des Volkes hat weder der Grundgesetzgeber gedacht...". Darum distanziert er sich auch zu Recht von C. Schmitts verfassunggebender Gewalt als "rein existentiellem Phänomen", während das GG in ihr eine "überpositive rechtliche Befugnis" sehe (aaO, S. 174, 176). 207 Mit Recht spricht Herb. Krüger von der "Kunst der Verfassunggebung", VRÜ 1974, S. 233 ff. Zuletzt mein Beitrag in bezug auf St. Gallen: Schweiz.ZBl. 1997, S. 97 ff. S. noch Fünfter Teil X. 208
Vgl. die "Varianten" im Totalrevisionsentwurf für eine Bundesverfassung (1977) und für eine Kantonsverfassung wie Solothurn (1985) und Glarus (1977), abgedruckt in 9 (1985), S. 536 ff. bzw. 497 ff. und 480 ff. JöR2 034 So heißt es in der Präambel der Verf. Frankreich von 1946: "...le peuple français proclame à nouveau ... Il réaffirme solennellement les droits et les libertés", am Schluß in Art. 106: "La présente Constitution, délibérée et adoptée par l'Assemblée nationale constituante, approuvée par le peuple français... (zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979, S. 389, 410).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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textwerk. Dabei ist der jeweils historisch-kulturelle Vorgang der Verfassunggebung i.S. des Postulats der Verfassungstextwahrheit und -klarheit so zu beschreiben wie er sich tatsächlich ereignet hat - dies selbst dann, wenn sich nach dem Ideal des Verfassungsstaates - eigentlich "inkompetente Instanzen" wie "Streitkräfte" und "Besatzungsmächte" in den Vorgang der Verfassunggebung gedrängt und ein Stück der allein beim Volk liegenden Kompetenz angeeignet haben (wie in Portugal 1976 oder in der Türkei 1982 bzw. in Westdeutschland nach 1945). (2.) Die verfassunggebende Gewalt des Volkes sollte dem Typus "Verfassungsstaat" konform von zwei Seiten verfassungstextlich angereichert werden: von der inhaltlichen Grundwerteseite aus einerseits (Beispiele liefern die Verfassungen deutscher Länder nach 1945, aber auch die Verfassungen von Portugal und Spanien von 1976 bzw. 1978), d.h. über "Bekenntnis-" bzw. "Bewußtseins-Artikel" bzw. -Elemente in Präambeln einerseits, von der prozessualen Seite andererseits (Beispiele geben die Schweizer, österreichischen und spanischen "Totalrevisions-" bzw. "Gesamtrevisions"-Regelungen). (3.) Empfehlenswert sind eigene Abschnitte über die Totalrevision bzw. Gesamtrevision der Verfassung (möglichst im prozessualen "Dreitakt": Einleitung durch das Volk, Abstimmung in den Parlamenten und Verabschiedung durch das Volk; das Volk muß mindestens in Form von Wahlen oder durch ein Plebiszit "danach" das letzte Wort haben). Sie können redaktionell gemeinsam mit der Totalrevision bzw. Verfassungs-Änderung unter dem "Dach" eines und desselben Verfassungsabschnitts piaziert sein (Beispiele gibt es in der Schweiz auf Bundes- und Kantonsebene). Damit ist "Totalrevision" auch textlich als möglicher und durchaus normaler Vorgang (der Verfassunggebung) neben der bloßen Teilrevision bzw. "Verfassungsänderung" ausgewiesen. Auch auf diese Weise kommt zum Ausdruck, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Typus Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe tendenziell normalisiert, normativiert und konstitutionalisiert worden ist 2 1 0 . (4.) Der Begriff "Verfassunggebung" bzw. verfassunggebende Gewalt bzw. Kompetenz des Volkes braucht weder in den Verfassungstexten noch in der Theorie gestrichen bzw. verabschiedet zu werden - zu suggestiv ist die Wirkung der ihn kulturell bis heute tragenden Klassikertexte seit 1776/1778 bzw. 1789/1791/1792. Doch müßte sich die Erkenntnis durchsetzen, daß "Verfas-
210
Vgl. auch Art. 196 Verf. Costa Rica von 1949 (zit. nach JöR 35 [1986], S. 481 [508]): "Eine allgemeine Änderung dieser Verfassung kann nur durch eine zu diesem Zweck einberufene verfassunggebende Versammlung durchgeführt werden."- S. jetzt Art. 115 Verfassung Brandenburg (1992) - zur "verfassunggebenden Versammlung" -, mit genauen Verfahrensvorschriften!
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sunggebung des Volkes" und "Totalrevision" bzw. "Gesamtrevision" durch das Volk im Typus "Verfassungsstaat" miteinander identisch sind. Verfassungen, die in Präambeln bzw. und/oder Schlußartikeln von "Verfassunggebung" sprechen, sollten terminologisch konsequent bleiben und auch in einem etwaigen Abschnitt über die "Gesamtrevision" diese dem Wortlaut nach als "Verfassunggebung" ausweisen. Zur Verdeutlichung der im Verfassungsstaat typischen Annäherung zwischen Verfassungsänderung (Teilrevision) und Verfassunggebung (Totalrevision) empfiehlt es sich, beide Arten von "Verfassungsreform" auch systematisch gemeinsam unter einem "Dach" bzw. Abschnitt zu vereinigen. c) Verfassunggebung als pluralistischer
Vorgang
Gerade im Feld der Verfassunggebung schließlich reicht der herkömmlich juristische Ansatz nicht aus. Denn hier liegt ja noch kein "geltender" positiver Text vor. Allein der tiefere und breite kulturwissenschaftliche Ansatz kann bestimmte Bewegungen, ihre "Promotoren" und Akteure thematisieren und auf den Begriff bringen. Die neueren Prozesse der Verfassunggebung in Portugal (1976) 211 , Griechenland (1975) 212 und Spanien (1978) 213 , auch in Kanada (1981), sowie die Schweizer Diskussion um die "Totalrevision" der Bundesverfassung (Entwurf 1977, 1995 "nachgefühlt") 214 lassen sich nicht allein wirt-
2,1
Ausführlich A. Thomashausen, Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Portugal, 1981; ders., Der Freiheitsbegriff, die Grundrechte und der Grundrechtsschutz in der neuen portugiesischen Verfassung vom 2. April 1976, EuGRZ 1981, S. 1 ff.; G. Schmid , Die portugiesische Verfassung von 1976, AöR 103 (1978), S. 203 ff. Das führende Lehrbuch in Portugal selbst ist: J.J. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, 6. Aufl., 1993. 212 Der Text der Verfassung von 1975 ist zitiert nach der Übersetzung von P. Dagtoglou, Athen 1976. Aus der Literatur: (eher kritisch) D. Tsatsos, Die neue griechische Verfassung, 1980; (eher positiv) mein Athener Gastvortrag, Menschenwürde und Verfassung, am Beispiel von Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland 1975, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 ff. 21J Dazu A. Randelzhofer (Hrsg.), Deutsch-spanisches VerfassungsrechtsKolloquium, 1982; s. auch A. Weber, Die Spanische Verfassung von 1978, JöR 29 (1980), S. 209 ff. Aus der spanischen Lit.: F. Fernandez Segado, El sistema constitucional espanol, 1992. Bemerkenswert A. Lopez Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993. 214 Vgl. den Verfassungsentwurf 1977, abgedruckt in: AöR 104 (1979), S. 475 ff.; vgl. dazu auch P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (358, 367, 374 f. u.ö.); K. Eichenberger, Der Entwurf von 1977 für eine neue Schweizerische Bundesverfassung, in: ZaöRV 40 (1980), S. 477 ff.; G. Müller, Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 83 ff.; jetzt Y. Hangartner/B. Ehrenzeller (Hrsg.), Reform der Bundesverfassung, 1995; zuletzt
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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schaftlich und politisch, d.h. ohne Beachtung der kulturellen Hintergründe beschreiben und erklären. Vor der textlichen Ausgestaltung liegen in Fülle unterschiedliche Bau-Elemente für die neue Verfassung "auf dem Platz". Sachlich ringen Klassikertexte, Partei- und Verbandsprogramme, Erkenntnisse der Wissenschaft, Bruchstücke alter Verfassungstexte, aber auch Lebensleistungen einzelner Persönlichkeiten (z.B. N. Mandela) miteinander. Politische Hoffnungen und Erfahrungen gehen ebenso in die Prozesse der Verfassunggebung ein wie Elemente auswärtiger Verfassungsstaaten als Beispiel des Typus Verfassungsstaat. So wirken sich die deutschen Leitbilder von Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, auch das Verhältnis von Staat und Kirche und der Grundrechtskatalog heute zunehmend in manchen neuen Verfassungen Europas aus. Kulturelle Rezeptionsprozesse etwa der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG lassen sich nicht nur im Blick auf die Schweizer Totalrevision, sondern auch und sogar bis in das südliche Afrika (früher bis nach Bophuthatswana, jetzt Südafrika) ver215
folgen . Bis all dies zu einem positiven Verfassungstext "gerinnt", gibt es viel Kampf, viel Parteinahme und Interessenwahrung. Funktionell und prozessual gesehen sind es die vielen an Verfassunggebung Beteiligten wie politische Parteien, Verbände, Kirchen, Gewerkschaften, Einzelpersönlichkeiten, die Wissenschaft, die Richterschaft, die Wirtschaft, in Spanien und Portugal auch das Militär, für das GG (begrenzt) die Alliierten, die Teilbeiträge leisten und sich dabei an kulturellen Objektivationen orientieren (müssen). Beides bedingt einander: Die an Verfassunggebung als komplexem pluralistischem Prozeß Beteiligten sind auf das Vorhandensein von Materialien
R.J. Schweizer, Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1872 und 1874, Etudes en l'honneur de J.-F. Aubert, 1996, S. 101 ff. Die innovationsreichen "neueren Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene" sind dokumentiert und kommentiert in JöR 34 (1985), S. 303 ff. Zur "verfassunggebenden Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat" i.S. einer vergleichenden Textstufenanalyse mein gleichnamiger Beitrag in: AöR 112 (1987), S. 54 ff., auch in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 139 ff. 215 Dazu meine Besprechung von JöR Band 29 (1980), in: AöR 107 (1982), S. 640 (649 ff.).- Wesensgehaltklauseln finden sich jetzt auch als "Kerngehaltsklauseln" in neuen Kantonsverfassungen der Schweiz (z.B. Art. 28 Abs. 4 Verf. Bern von 1993 und Art. 23 Abs. 4 Verf. Appenzell A. Rh. von 1995). Aus der Schweizer Lit.: J.P. Müller, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, 2. Aufl. 1991, S. 362 f.; U. Bolz/W. Kälirt, Die neue Verfassung des Kantons Bern, 1995.- Spuren des Substanzdenkens finden sich jetzt in Art. 30 Verf. Kwazulu Natal (1996): Art. 30 Abs. 1 lit. b: limitation "shall not negate the essential content of the right in question..."- S. auch die differenzierte Schrankenklausel in Art. 37 Verf. Südafrika von 1996/97 mit Elementen wie: "nature of rights", "importance of the purpose of the limitation", "nature and extent of the limitation" etc. Zuletzt Art. 31 Abs. 3 Verf. Polen (1997).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
als Bausteine für eine Verfassung angewiesen. Umgekehrt wirken diese Elemente erst über die Promotoren und Akteure der an Verfassunggebung als öffentlichem Prozeß Beteiligten. Bei näherem Zusehen ergibt sich freilich, daß dieselben sachlichen Objektivationen und kulturellen Kristallisationen mögliche und wirkliche grundierende Materialien sind für die unterschiedlichen Arbeiten bzw. Funktionen der Fortbildung von Verfassungen: für ihre Interpretation, Änderung und für Verfassunggebung. Sondervoten z.B. können normierende Kraft in den Text hinein oder für die Gesetzgebung entfalten, aber auch Anlaß für Verfassungsänderung sein. Parteiprogramme, auch in ihrem Kulturteil, wirken auf alle staatlichen bzw. öffentlichen Funktionen eines Verfassungsstaates. Auch "Klassikertexte" können sogar zu neuen Prozessen der Verfassunggebung führen. So liegen der Rückkehr Griechenlands und Spaniens zum Verfassungsstaat 1975 bzw. 1978 gewiß auch viele Klassikertexte unausgesprochen oder erklärtermaßen zugrunde! (Ebenso in Ostdeutschland seit 1990: I. Kant.) Nicht zuletzt erbringt die Wissenschaft, vor allem die Verfassungs(rechts)lehre, als Ratgeber viele Beiträge zur Fortbildung der Verfassung (besonders greifbar in Osteuropa und Südafrika). Eben diese Wissenschaft ist aber in ihren Inhalten und Prozessen ihrerseits ein wesentliches Stück Kultur. Diese Identität der inhaltlichen Einzugsbereiche ("Sachen"), d.h. der "kulturellen Kristallisationen" für die verschiedenen staatlichen und öffentlichen Funktionen kann letztlich nicht überraschen. Denn kulturelle Produktionen und Rezeptionen haben im politischen Gemeinwesen denselben "Gegenstand": Klassikertexte sind Klassikertexte, so unterschiedlich sie in die staatlichen und öffentlichen Funktionen wirken. Auch die anderen kulturellen Kristallisationen sind als "Material" identisch. Welche unterschiedliche Wirkung sie auf den verschiedenen staatlichen und öffentlichen Funktionsebenen haben, ist eine andere Frage. Der kulturelle Grund ist derselbe. d) Normierung des "politisch Wichtigen" Erste Funktion von Verfassunggebern ist es, das ihnen in der Zeitdimension, d.h. aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft "politisch Wichtige" formalisiert in die Verfassungstexte umzusetzen (Grundordnungscharakter der Verfassung). Das in historischer Erfahrung Bewährte ist mit dem "Geist der Zeit", insbesondere mit der Wirklichkeit, so zu verbinden, daß auch Hoffnungen für die Zukunft, Möglichkeiten, sie zu gestalten, und Maßstäbe (Ziele) hierfür verfassungstextlich zum Ausdruck kommen. Spezifikum ist dabei das Moment der Dauer, und es legitimiert, einen Rechtsgedanken, eine Institution oder ein Verfahren auf Verfassungsstufe zu normieren 216 . Mit anderen Worten: Dem Ver-
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fassunggeber muß ein Thema als dauerhaft genug erscheinen, um es zum Gegenstand einer textlichen Regelung in der neuen Verfassung zu machen. Nicht alles in der jeweiligen gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung ist wert, das Prädikat einer Verfassungs-Entw\c\Auxig zu erhalten. Diese Verbindung von Tradition und Offenheit für die Zukunft, von Stabilität und Dynamik, Abbildung des Vorhandenen mit entwurfhafter Steuerung des Zukünftigen, von Rezeption und Produktion sollte glücken. Der Entwurfcharakter von Verfassungen und ihre Öffnung für die Zukunft kann verfassungstextlich auf unterschiedliche und differenziert gestufte Weise erreicht werden. Dem Grundrechtsteil gelingt dies neben der Verwendung generalklauselartiger Begriffe vor allem durch Benutzung des "Beispiels-" oder "Insbesondere"-Stils. Dazu einige Beispiele aus der Schweiz: So ist Verf. Basel-Landschaft in seinem Katalog von Freiheitsrechten (§ 7 Abs. 2 "gewährleistet sind insbesondere", ebenso Verf. Jura: Art. 8) vorbildlich und besser als der sonst in vielem entsprechend gestaltete Text Uri, in dessen Art. 11 das Wort "insbesondere" fehlt. Bei den Staatszielen bzw. Staatsaufgabenkatalogen verdienen jene Verfassungen den Vorzug, bei denen das Instrument des Verfassungs- bzw. Gesetzgebungsauftrags differenziert eingesetzt wird: vom Impera917
tiv"
218
zum Indikativ
219
und bloßem Ermessen
bis zum Verweis auf ausfüh-
216 Treffend formuliert der Bericht der Schweizer Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, 1977, S. 8: "Alles, was nicht auf die Verfassungsstufe gehört, weil es nicht dauernd grundlegend und wichtig ist, soll entweder ersatzlos gestrichen oder auf die Gesetzesebene herabgestuft werden." Treffend schon U. Häfelin, Verfassunggebung in: 100 Jahre Bundesverfassung 1874 bis 1974, Probleme der Rechtssatzung, 1974, S. 75 (108 ff. bzw. 111 ff.: "Die Grundsätzlichkeit der Verfassung" bzw. die "Ausrichtung der Verfassung auf Dauerhaftigkeit"). Als Ziel der "formellen Totalrevision" formuliert Begleitbericht VE Uri 1984, S. 3, eine "systematische, in sich geschlossene und sprachlich verständliche rechtliche Grundordnung für den Kanton Uri zu schaffen, die auf Dauer angelegt ist und während langer Zeit Grundlage und Impulse für das staatliche und politische Handeln im Kanton bieten kann." 217 "Jeder Schüler hat Anspruch auf ... Bildung" (Art. 109 Abs. 1 VE Solothurn); "sind Luft und Wasser rein zu halten" (§ 42 Abs. 2 Aargau).- Alle Texte zit. nach JöR 34(1985), S. 424 ff. 2,8 "Der Staat unterstützt das Kulturschaffen" (Art. 42 Abs. 1 Jura); "Der Staat schützt ... die Familie" (Art. 17 Abs. 1 Jura); "Der Staat trifft ... Vorkehren, damit..." (§25 Aargau). 219 "Kanton und Gemeinden können den Wohnungsbau fördern" (§ 106 BaselLandschaft); sie "können Bestrebungen für eine sinnvolle Freizeitgestaltung unterstützen" (Art. 36 Uri); "Der Kanton kann die Erteilung unentgeltlicher Rechtsauskünfte unterstützen" (Art. 103 VE Solothurn); "Der Kanton kann anerkannte Privatschulen unterstützen" (Art. 22 Abs. 1 Aargau).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
rende Gesetze220. Die Regelungen zur Revision der Verfassung (z.B. V I I I Art. 135 bis 138 Jura, Art. 162 bis 165 VE Solothurn, § 143 bis 145 BaselLandschaft, Art. 126 bis 128 VE Glarus) dienen ebenfalls der Offenheit der Verfassung. Was der Verfassunggeber fur "politisch wichtig" hält und in sein Textwerk aufnimmt, variiert in Raum und Zeit, von Land zu Land. Doch stellt sich die Frage, welche Kriterien ihm die beratende Staatsrechtslehre zur Verfügung stellt, um das politisch Wichtige thematisch zu beschreiben und rechtstechnisch optimal umzusetzen. Solche Kriterien sind aus einem empirischen Überblick über die wichtigsten verfassungsstaatlichen Verfassungen der heutigen Zeit zu gewinnen {realtypischer Ist-Bestand), ergänzt um die "idealen" Anforderungen, die bisher de facto noch nicht zum typischen Inhalt gehören, aber verdienten, von möglichst vielen Verfassungen berücksichtigt zu werden {idealtypische Orientierungspunkt ist dabei die "gute" verfassungsstaatliche Sollforderung). Verfassung. Verfassungspolitik und Staatsrechtslehre 221 haben hier einander zuzuarbeiten, so unvermeidlich dezisionistische Elemente in der Entscheidung über das "politisch Wichtige" sind. Unterscheiden lassen sich eher inhaltliche, "thematische", und eher formale Anforderungen an "gute" Verfassungen, so sehr beides zusammenhängt. Im folgenden der Schritt von der Verfassungsstufe zum Gesetzgeber: 4. Bedeutungsgehalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat a) Problem, Methodenfragen Die Frage nach Bedeutung und Funktion des Gesetzes, genauer des "Parlamentsgesetzes" gehört zu den konventionellen Themen der Rechtswissenschaften. Sie kann gleichwohl nur im Kraftfeld der einschlägigen Klassikertexte von Piaton und Aristoteles über Dante, T. Hobbes und J. Locke, Montesquieu und J.-J. Rousseau bis zu Goethe, I. Kant und G. Radbruch abgehandelt werden, das heißt heute wäre ebenso breit wie tief anzusetzen. Vier Teildis-
220
Vgl. Art. 38 Uri: "Die Gesetzgebung führt die Grundsätze über das Schulwesen und die Kulturpflege näher aus"; Art. 108 Solothurn: "Der Kanton kann ein Gesetz über Medien erlassen, das der Förderung der kulturellen Eigenart des Kantons und der Vielfalt der Information dient". 221 Beispiele in der beratenden Tätigkeit des Verf. in Polen und Estland: JöR 43 (1995), S. 147 ff.- Zur "Verfassungspolitik" noch Fünfter Teil XI.
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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ziplinen der Jurisprudenz müßten integriert werden: die Rechts- und Staatsphilosophie, die Verfassungs- und Rechtsgeschichte, die vor allem vom Zivilrecht geschaffene Methodenlehre und die rechtsvergleichend arbeitende Verfassungslehre. Prima facie könnte man sich entmutigt sehen: Schon ein Gemeinplatz ist es, vom "Niedergang der Gesetzgebung", von ihren "Steuerungsdefiziten" usw. zu sprechen. Man beklagt das "Überwuchern des Richterrechts im Verhältnis zum Gesetzesrecht, die "Beliebigkeit" der Auslegung, fordert ein "Zurück zum Gesetz", zu seiner Autorität und Normativität. Der "motorisierte Gesetzgeber" ist ein weiteres - kritisches - Stichwort, und die Schweiz rang vor kurzem schmerzlich um ihre "Eurolex". Wie sonst helfen auch hier die beliebten "Verfalltheorien" nicht weiter. Was ihnen primär als "Krise" erscheint, ist im Lichte eines kulturanthropologisch gedämpft optimistisch gestimmten Menschen·, Staats- und Rechtsbildes Entwicklung, Fortbildung oder, in der Grammatik des Textstufenparadigmas des Verfassungsstaates gesprochen, eine neue Textstufe: So wie sich der Typus "Verfassungsstaat" in seinen Prinzipien und Verfahren dank heute weltweiter Produktions- und Rezeptionsprozesse unter Einbeziehung der Entwicklungsländer und Kleinstaaten fortbildet, so entwikkelt sich speziell der verfassungsstaatliche Gesetzesbegriff weiter. In der "Internationale" des Verfassungsstaates, in der "Familie" der Verfassungsstaaten hat das wissenschaftliche Ringen um das Parlamentsgesetz von vornherein in Zeit und Raum (kultur-)vergleichend anzusetzen, das heißt rechtsgeschichtlich und kontemporär rechtsvergleichend vorzugehen. So steht Goethes "Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben" aussagekräftig neben dem kongenialen Art. 53 Abs. 1 S. 2 der Verfassung des Königreichs Spanien ("Nur durch ein Gesetz, das in jedem Falle ihren [sc. der Rechte und Frei222
heiten] Wesensgehalt achten muß, kann ihre Ausübung[!] geregelt werden") So muß uns Montesquieus Diktum: "Oft ist es sogar angebracht, ein Gesetz zu probieren, bevor man es endgültig in Kraft setzt" (Vom Geist der Gesetze, 1748, II. Buch 2. Kap. a.E.) ebenso provozieren, wie Dantes Klage in bezug auf seine Vaterstadt Florenz (Divina Commedia, 1321, Purgatorio, Sechster Gesang): "Athen und Lakedämon, die die alten Gesetze schufen und voller Ordnung lebten, die machten kleine Schritte nur, verglichen mit dir, die du so feine Paragraphen erfindest, daß bis zu Novembers Mitte nicht reicht, was im Oktober du gesponnen. 222
Dazu mein Beitrag in dem von A. Lopez Pina herausgegebenen Band: La Garantia Constitucional de los Derechos Fundamentales, 1991, S. 99 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Wie oft hast du, seit wir uns denken können, Gesetze, Münzenschlag und Amt und Sitten geändert und die Menschen ausgewechselt..." Dante und Montesquieu, auf eine Weise Klassiker 223 und "Gegenklassiker", haben hier ein Problem namhaft gemacht, das wir Juristen mühsam genug auf die Formel von "Experimentiergesetzgebung" und allgemeiner auf die Frage nach "Zeit und Verfassung", "Zeit und Verfassungskultur" bringen 224 . Angesichts der weltweiten Verarbeitung von Verfassungstexten und Verfassungswirklichkeit durch Verfassunggeber, Verfassungsgeschichte und die je nationalen Staatsrechtslehren kommt der vergleichenden Textstufenanalyse, zu praktizieren etwa am Rechtsquellenkatalog des Verfassungsentwurfs des polnischen Senats von 1991 oder der alten Verfassung von Peru (1979), besondere Bedeutung zu. b) Inhalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat Von verschiedenen Horizonten aus sei im folgenden das Parlamentsgesetz auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates betrachtet, wobei die "Lücken" - in der juristischen Methodenlehre seit E. Zitelmann ein verhätscheltes Lieblingskind - nur allzu auffällig sind; in der Methodenlehre verdienen sie meines Erachtens demgegenüber nur den Platz einer "alte Geschichte" berichtenden Fußnote, da es sich in Wirklichkeit um Interpretationsfragen handelt 225 . (1) Das Parlamentsgesetz im Kraftfeld der sog. "Rechts-Quellen", die Relativierung des "Stufenbaus" der Rechtsordnung Das Bild der "Rechts-Quelle" ist ebenso beliebt wie fragwürdig. Das Parlamentsgesetz nimmt in ihm direkt unter der "Ebene" der Verfassung den zweiten "Rang" ein. Die Lehre vom "Stufenbau" der Rechtsordnung, von Adolf Merkl 22j
Vgl. auch Traditionslinien wie: "Omne jus a Jove" (Cicero) und "La Loi est la raison du grand Jupiter" {Montesquieu). Zur Methode: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981 sowie Fünfter Teil VIII. 224 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung (1974), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 (85 ff.); ders., Zeit und Verfassungskultur, in: H. Gumin/H. Meier (Hrsg.), Die Zeit, 3. Aufl. 1992, S. 289 ff.; H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. S. auch Vierter Teil IV. 225 Aus der Literatur: S. Hutter, Die Gesetzeslücke im Verwaltungsrecht, 1989, und meine Besprechung in: DVB1. 1990, S. 1007 f.; aus der neueren Rechtsprechung s. BVerfGE 82, 6 ff. (12).
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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und Hans Kelsen im Verhältnis zu Thomas von Aquin eher glossatorisch denn klassisch auf den Begriff gebracht, wird jedem Jurastudenten im ersten Semester gelehrt, und sie läßt sich auch relativ leicht vermitteln. Meines Erachtens ist jedoch sehr die Frage, ob die herkömmliche Rechtsquellenlehre nicht in entscheidenden Punkten zu differenzieren bzw. zu relativieren ist; dabei kommt dem - lebenden, das heißt interpretierten - "Parlamentsgesetz" eine besondere Rolle zu. Schon der Begriff "Rechts-Quelle" ist als Bild fragwürdig. Es suggeriert die Vorstellung, das Gesetz oder die Verfassung sei "fertig" vorhanden, fließe sozusagen von selbst - in Wahrheit weiß man spätestens seit Josef Essers "Grundsatz und Norm" (1956, 4. Aufl. 1990) sowie seinem Werk "Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung" (1972), wie sehr das Gesetz erst "in der Auslegung wird", "law in action " ist. Die schöpferische Kraft der Interpreten der offenen Gesellschaft spiegelt sich im alten Bild der "RechtsQuelle" nicht wider, und man kann es auch nicht mit der These retten, der Rhein werde - die Interpretation - erst zum reißenden Strom, der Guadalquivir entwickle sich zum breiten Fluß kurz vor der Mündung in die Meere! Hinzu kommt die Fragwürdigkeit des "Hierarchie"-Bildes: Die Unterscheidung zwischen der hochrangigen Verfassung und dem niederrangigen Parlamentsgesetz mag als Ausgangspunkt richtig sein, nähere Betrachtung zeigt aber, wie notwendig eine Differenzierung, ja Relativierung ist: Im Grundrechtsbereich etwa gibt es "Wechselwirkungen" zwischen Verfassung und Gesetz. Im "Laufe der Zeit" strahlt die Vorbehaltsgesetzgebung "nach oben" aus: die Grundrechtsgehalte wandeln sich 226 . Umgekehrt bedarf die Verfassung insgesamt, nicht nur im Grundrechtsbereich, der konkretisierenden Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Weitere Stichworte für die Infragestellung der bisher meist undifferenziert fortgeschleppten Tradierung des Paradigmas der "Hierarchie der Rechtsquellen" sind: Das Richterrecht durchdringt das Gesetz auf Verfassungsund Gesetzesstufe, die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" z.B., aber nicht nur im Sinne der Judikatur des EuGH in Luxemburg, stehen quer zur "Normenhierarchie"; die Möglichkeit und Wirklichkeit von Naturrechtssätzen im Sinn der "Radbruchschen Formel" von 1946, seit 1990 in Deutschland aktuell, entzieht sich ebenfalls der etatistischen Rechtsquellenlehre; für die verfassungskonforme Auslegung der Gesetze sowie die gesetzeskonforme Auslegung
226 Zum Verständnis der Gesetzgebung in dieser Hinsicht: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 180 ff., 213 ff., 3. Aufl. 1983, S. 180 ff., 213 ff. und S. 340 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen 227
der Verfassung und inskünftig die im EG-Europarecht fällige "richtlinienkonforme Auslegung" des Rechts der Mitgliedsländer gilt dasselbe. Es ist oft das prätorische (Verfassungs-)Richterrecht, das die Rechtsquellenhierarchie verändert: so gewinnt die EMRK von 1950 in der Schweiz dank der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts in Lausanne Verfassungsrang 228 , während sie in Deutschland (noch) Gesetzesrang hat, freilich zunehmend als verfassungsrichterlicher Auslegungs-Topos höheres Gewicht erlangt. Ein letzter Blick gelte der Textstufenentwicklung des Verfassungsstaates: Hier läuft die Entwicklung in Richtung auf eine Öffnung der innerstaatlichen Rechtsquellen zu den supranationalen Menschenrechten hin. Repräsentativ ist Art. 10 Abs. 2 der Verfassung von Spanien (1978): "Die Normen, die sich auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten beziehen, sind in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen über diese Materien auszulegen". Die traditionell impermeable "Staatlichkeit" wird zur "offenen Staatlichkeit", der "kooperative Verfassungsstaat" "relativiert" und "universalisiert" sich im Zeichen der Menschenrechte 229. Die bisher "introvertierte" staatliche Rechtsquellenlehre weicht dem "extrovertierten" Rechtsfortbildungs- und Interpretationszusammenhang im Namen der Menschenrechte! Ein anderes Ergebnis des Textstufenvergleichs mag zunächst stutzig machen: Neuere Verfassungen, etwa Art. 87 Abs. 1 der (alten) Verfassung von Peru (1979) bekennen sich schon textlich zur Normenhierarchie 230: "Die Verfassung geht jeder anderen Rechtsnorm vor. Das Gesetz geht jeder anderen Norm niedrigeren Ranges vor, und so weiter, je nach Stellung in der Normenhierarchie". Dieselbe Verfassung normierte aber auch eine vorbildliche "Grundrechtsentwicklungsklausel" (in Art. 4 ) 2 3 1 und sie öffnet sich in Art. 101 nach außen, 227
Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 33. 228 Vgl. J.P. Müller, Elemente einer Schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 177 ff. 229 Dazu aus der Literatur: K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391 ff. S. auch Präambel Abs. 7 Verf. Benin (1990), Art. 50 Verf. Togo (1992). 230 Vgl. auch Art. 4 Satz 1 der Verfassung vom Kolumbien (1991): "La Constitucion es norma de normas". 231 "Die Aufzählung der in diesem Kapitel anerkannten Rechte schließt nicht die sonstigen von der Verfassung garantierten Rechte und auch nicht andere, die vergleichbarer Natur sind oder aus der Würde des Menschen, dem Prinzip der Volkssouveränität,
III. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
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insofern im Falle eines Konflikts zwischen mit anderen Staaten abgeschlossenen Verträgen und Gesetzen erstere vorgehen. Insofern wird der klassische "Stufenbau" selbst hier modifiziert. Auch die auffälligen RechtsquellenArtikel in den sich konstituierenden Verfassungsstaaten Osteuropas bilden kein Gegenargument gegen die hier favorisierte "Erschütterung" der Rechtsquellenlehre: Zwar bestimmt z.B. der Verfassungsentwurf des polnischen Senats von 1991 232 in Art. 48 Abs. 1: "Les sources de la Loi de la République Polonaise sont: La Constitution de la République Polonaise, les lois organiques, les lois, les décrets et arrêtés du pouvoir exécutif, les normes du droit local... ", auch präzisiert Art. 48 Abs. 3: "Aucune disposition légale de niveau inférieur ne peut pas être contradictoire à la norme hiérachiequement supérieure". Doch ist es die spezifische Notwendigkeit einer sich zum Verfassungsstaat entwickelnden post-kommunistischen Gesellschaft: Sie muß selbstverständliche Bestandteile der Rechtskultur des klassischen Verfassungsstaates "al fresco" und grob normieren, da sie nicht auf gewachsene Rechtsprinzipien wie die westlichen Demokratien mit ihrem Primat des Rechts und der Verfassung zurückgreifen kann. Darum ist die Konstitutionalisierung eines Rechtsquellenartikels in Osteuropa kein Gegenbeweis für die hier skizzierte, weiter fortgeschrittene Verfassungsentwicklung in Westeuropa. Sichtbar werden die Umrisse eines pluralistischen Rechtsbildungsprozesses, der den nationalen Verfassungsstaat transzendiert, - so daß auch das herkömmliche Parlamentsgesetz neu 233
zu konzipieren ist
. Das Weitere muß in Stichworten fortschreiten:
(2) Die Komplexität des Interpretationsprozesses, die offene Gesellschaft der Gesetzesinterpreten, der bereichsspezifische Ansatz Das Parlamentsgesetz behält im Verfassungsstaat zwar seinen besonderen Rang als Ausdruck der demokratisch legitimierten Legislative bzw. als deren
dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat und der republikanischen Regierungsform folgen, aus". Vgl. auch Art. 94 der Verfassung von Kolumbien ("... siendo infierente a la persona humana... "). 2,2 Zitiert und interpretiert in meinem Tübinger Vortrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, AöR 117 (1992), S. 169 (195 ff.). 23 ' S. auch die Öffnung der Rechtsquellen-Lehre im Internationalen Recht bzw. die Neu interpretation von Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut, dazu etwa E. Riedel, Standards and Sources. Farewell to the Exclusivity of the Sources' Triad in International Law?, in: European Journal of International Law, Vol. 2 No. 2, 1991, S. 58 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Mehrheitsentscheidung (die in öffentlichen Verfahren bei effektivem Minderheitenschutz zustande kommt); indes beginnt das eigentliche Leben und Wirken dieses Gesetzes erst im Interpretationsprozeß, und dieser ist ebenso offen wie "vielseitig". Wer die Norm lebt, interpretiert sie in einem weiteren und vielleicht sogar tieferen Sinne mit - das Stichwort der "offenen Gesellschaft der Gesetzesinterpreten", das der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" nahe, aber nicht mit dieser identisch ist 2 3 4 . Denn das Parlamentsgesetz, einmal von der Legislative verabschiedet, wird zum Gegenstand der von der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre angeleiteten, mindestens aber angeregten "Auslegung". Es ist ein seit dem römischen Recht entwickelter Kanon von Auslegungsregeln, in dessen Kraftfeld das Gesetz gerät. Man denke an die Analogie, an den Größen-Schluß (z.B. "de minore ad majus"), an Verfeinerungen, wie sie in Art. 1 Schweizer ZGB von 191 1 2 3 5 von Eugen Huber geglückt sind (Art. 1 hat in der Schweiz meines Erachtens sogar Verfassungsrang), an Gustav Radbruchs Klassikertext, das Gesetz sei "klüger als der Gesetzgeber", aber auch an die moderne Diskussion um die folgen- bzw. gemeinwohlorientierte Auslegung. Mit anderen Worten: Eine heutige Theorie des verfassungsstaatlichen Parlamentsgesetzes muß den Schulterschluß suchen mit der vor allem von der Privatrechtswissenschaft beforderten Methodenlehre 236. Man hat mit der Fiktion (?) zu arbeiten, daß der Parlamentsgesetzgeber sein "Werk", das Gesetz, stets a priori in das Kraftfeld des (pluralistischen) Methodenkanons gerückt sieht. Die "Kombination" der Auslegungsmethoden ist je und je offen, aber nicht beliebig und unbegrenzt. Der am Zivilrecht geschärfte und auch vom Strafrecht nicht erschütterte Schatz an rund 2000 Jahren Auslegungspraxis und -lehre dient der Disziplinierung und Rationalisierung der Vorgänge, in denen das Gesetz interpretiert wird. Dies ist umso wichtiger, als ja das "Vorverständnis" und die Lehre vom relevanten "kulturellen Kontext" ihr bekanntes Werk tun.
234
Dazu mein Entwurf: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975), später in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 155 ff. Vgl. auch oben Inkurs A. 235 Art. 1 ZGB lautet: "Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut und Auslegung eine Bestimmung enthält.- Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde.Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung". Allgemeiner gesagt: Das Gesetz ist immanent eine Bezugnahme auf das immer schon mitgedachte Corpus klassischer Auslegungsregeln (z.B. die Maxime von Celsus: "Scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem"). 236 Vgl. etwa H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983 (6. Aufl. 1991).
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Desiderat ist ein bereichsspezifischer Ansatz: Die juristische Methodenlehre - und Arm in Arm mit ihr die Gesetzgebungslehre 237 - mag allgemeine Regeln kennen, doch sind sie bereichsspezifisch zu modifizieren. Im Strafrecht liegt dies dank des Analogieverbots auf der Hand. Das Zivilrecht setzt sich, im Ergebnis zu Recht, oft vom öffentlichen Recht ab. Doch muß überlegt und ohne wechselseitige Animositäten verfahren werden: Das Verwaltungsrecht etwa kann wegen seiner "Propria" eine eigene Bündelung der Auslegungsmethoden verlangen. Der parlamentarische Gesetzgeber tut gut daran, sich dessen bewußt zu sein. Die Lehre vom Parlamentsgesetz und seiner Interpretation muß also stärker "stoffnah" und bereichsspezifisch arbeiten. (3) Insbesondere: "Gesetz und Recht", "ius et lex" Die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes von 1949 haben angesichts der Erfahrungen im NS-Staat in Art. 20 Abs. 3 bewußt die Formel von der Bindung an "Gesetz und Recht" gewagt. Damit ist ein altes Thema auf Begriff und Text gebracht: die Spannung von "ius et lex", wie sie schon einen T. 238
Hobbes beschäftigt hat . Auch andere Texte gehen diesen Weg, so wenn neuere Verfassungsentwürfe in Osteuropa den "Rechtsstaat" nennen oder Spanien schon in seiner Verfassungspräambel sagt: "Rechtsstaat zu festigen, der die Herrschaft des Gesetzes als Ausdruck des Volkswillens sicherstellt" und in Art. 1 Abs. 2 sich auf den "Rechtsstaat" beruft, auch auf die "Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und den politischen Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung". Solche Bekenntnisse zu Rechtsstaat und Gerechtigkeit wirken als schöpferischer Stachel im "Fleische des Gesetzes". Sie stellen Appelle an den Gesetzgeber und die Interpreten dar. Möglich wird "Naturrecht", jedenfalls vorstaatliches Recht im Sinn "allgemeiner Rechtsgrundsätze", die Brücken zu Gerechtigkeitsmaximen seit der Aristotelischen/Ciceronischen Tradition schlagen. Möglich - und notwendig - wird aber auch eine Begrenzung, um nicht zu sagen "Verabschiedung" der Volkssouveränität: "Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" (Dolf Sternberger). Der Verfassungsstaat beruht auf Gerechtigkeitsprinzipien, z.B. auf der "Gerechtigkeit als Fairness" (John Rawls), auf den angloamerikanischen "due process"-Garantien, die das Gesetzesrecht dirigieren, einbinden und gegebenenfalls relativieren. So wie die ver-
2 ,7
Dazu grundlegend P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973. T. Hobbes' "auctoritas non Veritas facit legem" bleibt eine Provokation für den Verfassungsstaat, dessen Theorie sich aber durch V. Havels 1989 formulierten Worte zur "Wahrheit" ermutigt fühlen darf; vgl. auch P. Häberle, Jus et lex im Verfassungsstaat, Festschrift Adamovich, 1992, S. 137 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 14. 2,8
23 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
fassunggebende Gewalt des Volkes zu normativieren ist 2 3 9 , so muß auch das Parlamentsgesetz in den kulturellen Kontext der Gerechtigkeitsideen gerückt werden. Vokabeln wie "Souveränität des Gesetzgebers oder des Parlaments" erweisen sich dabei als hinderlich. Die Einbindung der nationalen Parlamente in die Rechtsbildungsprozesse der EG gehören ins Bild. (4) Insbesondere: Das Parlamentsgesetz "im Laufe der Zeit", zeitoffene Interpretation ("law in action") Das Bewußtsein für die "Zeit" hat sich nicht nur in der deutschen Verfassungstheorie geschärft, es sollte jetzt auch die Theorie des Parlamentsgesetzes einbeziehen. So wenig wir spätestens seit dem Bekenntnis des Heiligen Augustinus wissen, was die "Zeit" eigentlich ist, so ergiebig wird eine Analyse des modernen Gesetzgebungsmaterials: Wir beobachten zukunftsoffene Gesetzgebung und zeitoffene Interpretation, z.B. im Verwaltungsrecht in Gestalt von befristeten Normen, Zeitgesetzen, von Evaluations- und Revisionsklauseln, von Experimentiergesetzen mit Erfahrungsklauseln, von Nachbesserungspflichten, die das deutsche Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auferlegt, "offene" Formulierungen von Gesetzestatbeständen, viele Generalklauseln, Übergangsregelungen u. dgl. 2 4 0 . Der "Richter als Gesetzgeber" - ein Bild, das auf Aristoteles zurückführt, Eugen Huber in Art. 1 ZGB aktualisiert und Arthur Meier-Hayoz in der berühmten Kommentierung im Berner Kommentar fortgeführt haben -, hat an Aktualität nichts eingebüßt 241 ; im Verwaltungsrecht frei-
2,9 Dazu mein Beitrag: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat (1987), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 139 ff., sowie oben Ziff. 3. 240 Aufschlußreich zum Gesetzgebungsprozeß: H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988; s. auch Κ EichenbergerlR. Novak/M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 ff. Eine Typologie von Gesetzen in: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 445 ff. Zuletzt: H. Schulze-Fielitz, Zeitoffene Gesetzgebung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 139 ff. 241 Ein "locus classicus" ist BVerfGE 34, 269 (286 f): "Damit (sc. mit Art. 20 Abs. 3 GG: Bindung an "Gesetz und Recht") wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch, gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung". Ebd. S. 288: "Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei
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lieh agiert die Verwaltung als "Erstinterpret", auf manchen Feldern des Verfassungsrechts tut dies die Staatspraxis. A l l dies ist Ausdruck des viel zitierten Werte- und Technikwandels, der Schnellebigkeit der Zeit, der Offenheit der Geschichte, die durch den Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus eindrucksvoll bestätigt wurde. Philosophischer Hintergrund ist das "social piece meal engineering" von Sir Karl Popper bzw. seine Philosophie des Kritischen Rationalismus. Die Reformfähigkeit und Reformbedürftigkeit der offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates muß sich in einem "kongenialen" Verständnis des Parlamentsgesetzes, seiner Strukturen und Funktionen fortsetzen. Das Parlamentsgesetz kann und soll durch "offene Normen" gestuft einfangen, was der seinerseits offene Interpretationsprozeß im Sinn des "law in action" täglich vor Augen führt 242 . (5) Gesetz und grundrechtliche Freiheit "Gesetz und grundrechtliche Freiheit" ist ein vorletztes Stichwort zum Thema. Das Parlamentsgesetz hat wesentlich auch die Aufgabe der Grundrechtsausgestaltung. Diese Einsicht mußte in Deutschland mühsam genug seit 1962 erkämpft werden 243 . Sie ist heute selbstverständlich. Wesentliches "zur Verwirklichung der Grundrechte" kann und muß der parlamentarische Gesetzgeber leisten, so sehr er die Freiheit auch gefährden kann. Neuere Verfassungstexte sprechen in vielen differenzierten Formen von dieser Ausgestaltungsaufgabe 244, die klassische "Einschränkung", der viel zitierte "Eingriff' ist nur ein Aspekt dessen, was der parlamentarische Gesetzgeber in Sachen Grundrechte vollbringt. Spaniens Verfassung von 1978 läßt sich von diesem Denken leiten, wenn sie in Art. 53 Abs. 1 von Regelung der "Ausübung" spricht, und auch in Art. 33 Abs. 2 ist für Privateigentum und das Erbrecht eine gute Formulierung geglückt ("Die soziale Funktion dieser Rechte begrenzt ihren Inhalt in Überein-
dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse ... ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln".- Siehe aber auch E 34, 118 (130 f.): "...kann ein Wandel der sozialen Verhältnisse und Anschauungen für den Gesetzgeber Anlaß zur Prüfung sein, ob eine Bestimmung, die in einem großen Gesetzgebungssystem enthalten ist und ursprünglich systemgerecht war, aufrechterhalten werden kann und soll". 242 Aus der Literatur: R. Geitmann, Bundesverfassungsgericht und "offene" Normen, 1971. 243 Dazu meine Freiburger Dissertation: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 180 ff., 3. Aufl. 1983, S. 180 ff., 340 ff. 244 Vgl. die Analyse in meinem in Madrid gehaltenen Vortrag: Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat, in: AöR 114 (1989), S. 301 ff.
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Stimmung mit den Gesetzen"). Das demokratische Gesetz als Garantie von Freiheit, als Effektivierung von Grundrechten zu deuten, fällt heute, im sozialen Rechtsstaat, nicht mehr so schwer wie im "alten" liberalen Verfassungsstaat. So sehr die Grundrechte einerseits den Gesetzgeber begrenzen, so sehr ist dieser "wesentlich" und unverzichtbar für die Verwirklichung eben dieser Grundrechte. (6) Das Parlamentsgesetz als "Zwischenschritt" der Rechtsfortbildung in der pluralistischen Demokratie: zukunftsoffene Gesetzgebung Es mag provozieren, daß erst als letztes Stichwort der Demokratiebezug des Gesetzes ins Bild kommt. Denn das "Parlamentsgesetz" ist ja gerade durch seinen Schöpfer, die parlamentarische Legislative geadelt, auch und gerade in der pluralistischen Demokratie. Diese "späte" Plazierung bedeutet keine Geringschätzung der politischen Bedeutung des Gesetzes. Alle hier behandelten Facetten einer Betrachtung des Parlamentsgesetzes sind im Grunde gleichzeitig zu denken, können aber nur nacheinander aufgezählt werden. Der einheitliche demokratische Gesetzesbegriff, den die deutsche Lehre von A. Haenel über H. Ehmke bis zu K. Hesse erarbeitet hat 2 4 5 , kann auch hier der allein maßgebliche sein. Die demokratische Legitimität, das demokratische Verfahren, insbesondere die Öffentlichkeit machen das Ergebnis dessen, was die gesetzgebenden Körperschaften in die Form des Gesetzes gießen, zum "Parlamentsgesetz" 246. Im Kräfteparallelogramm der Gruppeninteressen, die um das Gemeinwohl ringen 247 , das nicht a priori, sondern a posteriori "gefunden" wird, entsteht das Parlamentsgesetz - die Schweizer Tradition des "Vernehmlassungsverfahrens" ist besonders glücklich. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es jenseits des Grundkonsenses der als "immer neuen Sich-Vertragens und Sich-Ertragens" verstandenen "Verfassung" kein "fertiges" Gemeinwohl und keine "ideale" Gerechtigkeit. Das Parlamentsgesetz, das meist mühsam genug zustandekommt, ist nur eine Art "Zwischensumme", die sich ihrerseits "in" den geschilderten Auslegungsprozessen auf den weiteren Weg macht. Aber sie verdient als solche Respekt. Legalität und Legitimität im Verfassungsstaat dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das Parlamentsgesetz ist oft ein Kom-
245
Dazu K. Hesse , Grundzüge..., 20. Aufl. 1995, S. 216 ff. Den Begriff "Parlamentsvorbehalt" hat der Verf. erstmals 1965 bzw. 1972 vorgeschlagen, dazu die Nachweise in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 138 ff., 151 f. Er hat sich seitdem durchgesetzt. 247 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, sowie Sechster Teil VIII Ziff. 6. 246
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promiß, mitunter auch die bloße Mehrheitsentscheidung, in der pluralistischen Demokratie verdient es aber als solches Respekt - und alle "Auslegungsmühen" des späteren Interpreten! Denn der Minderheitenschutz, die freien Wahlen und die Grundrechtsgarantien schaffen jene vorläufige Gerechtigkeits- und Gemeinwohlvermutung, die das Parlamentsgesetz beanspruchen darf - all dies im Rahmen der oben skizzierten Maximen von den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" über den Kanon der Auslegungsregeln bis zur Relevanz des Zeitfak248
249
tors . Auch wenn das Richterrecht in Europa je national und auf der europäischen Ebene so viel Terrain gewinnt - das Gesetzesrecht bleibt eine Respekt erheischende Variante und zeitgebundene Ausdrucksform von "Recht" und ein Stück seiner Fortbildung. Gelegentlich gelingen dem demokratischen Gesetzgeber auch heute noch relativ gute Gesetze: bei uns etwa in Gestalt des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes von 1976. Dennoch: Im Grunde besteht Gesetzgebung schon ab initio in Form einer gesamthänderischen, arbeitsteiligen Verantwortung von vielen 250 : dem parlamentarischen Gesetzgeber und 248
Vgl. besonders BVerfGE 75, 223 (243): "...ebensowenig aber können Zweifel daran bestehen, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich 'la bouche qui prononce les paroles de la loi'; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtsschöpfungen ebenso wie in jüngerer Zeit etwa in Frankreich die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts... ". 249 Dazu: J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975; F. Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, S. 149 ff; H. Sendler, Richterrecht - rechtstheoretisch und rechtspraktisch, NJW 1987, S. 3240 ff.; G. Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1992. 250 Ein Sonderproblem ist die Bindung des demokratischen Gesetzgebers an die überkommene wissenschaftliche Dogmatik oder die Herrschaft des demokratischen Gesetzgebers über wissenschaftliche Dogmatik. Hier geht es um die arbeitsteilige Rolle von Wissenschaft und Gesetzgeber: Wie sehr hat der Gesetzgeber sich an theoretische Vorgaben zu halten, wie sie von der Wissenschaft womöglich aufgrund jahrhundertelanger Erfahrungen erarbeitet worden sind? Muß der Gesetzgeber nicht auch einmal etwas gegen eine herkömmliche Dogmatik riskieren? Ist nicht durch die Fortentwicklung des BGB durch Rechtsprechung und Wissenschaft ein ganz "anderes" BGB entstanden, unabhängig vom Gesetzgeber? Gesetzgebung kann dabei auch den Charakter eines dogmatischen Experimentes annehmen. Wahrscheinlich ist zu unterscheiden nach der Art der wissenschaftlichen Theorien sowie nach der Art der Gesetze und dabei auch die "Übersetzungsfunktion" der Rechtsprechung als Scharnier zwischen Wissenschaft und Gesetzgeber mit zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber darf sich z.B. jedenfalls nicht gegen gesicherte empirische Theorien durchsetzen wollen. Anders ist das bei juristischdogmatischen Theorien i.e.S. Hierbei kommt es auf die höchst vielfältige Art heutiger Gesetze an. Die Fülle der Änderungsgesetze, die lediglich einzelne Bausteine eines schon länger existierenden Gesetzes ändern, sollten unter dem Gesichtspunkt dogmatischer Konsistenz bestehen. Die Änderungen sollten sich im Interesse der eingespielten Rechtspraxis dogmatisch-theoretisch in das bestehende Gesetz einfügen. Ein dogmati-
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seinen "Zuträgern", dem richterlichen Interpreten, der Rechtswissenschaft in allen ihren Zweigen (vereinzelt ist die wissenschaftliche Lehre "book of authority", so Karl Oftinger im Schweizer Haftpflichtrecht) und nicht zuletzt dem Bürger, der das Gesetz "akzeptiert", lebt, im weiteren Sinn auch "interpretiert". Bei all dem tun die nationalen Rechtskulturen in der Vielfalt der europäischen Rechtskultur ihr unterschiedliches Werk 2 5 1 .
IV. Kulturelle Verfassungsvergleichung - Verfassungsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode Kulturelle Verfassungsvergleichung bedarf im Rahmen dieser Verfassungslehre einer eigenen Darstellung. Sie kann auf allen Ebenen zum Einsatz kommen: bei Verfassunggebung und -änderung, bei Verfassungsinterpretation und parlamentarischer Gesetzgebung. Verfassungsvergleichung erweist sich als für kulturwissenschaftliches Denken besonders geeignet: auf der Ebene der europäischen Rechtsvergleichung, insonderheit im Rahmen einer Österreich, die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland umschließenden deutschsprachigen Verfassungslehre, sowie auf der Ebene "innerer" Verfassungsvergleichung in Bundesstaaten zwischen den Verfassungen der Gliedstaaten untereinander und zwischen ihnen und dem Bundesverfassungsrecht (dem die Gliedverfassungen als "andere" Ebene von vornherein zuzurechnen sind). Da die drei deutschsprachigen Länder Bundesstaaten sind, ist kulturwissenschaftlich betriebene Rechtsvergleichung 252 hier
scher Neuentwurf ist praktisch möglich bei neuen, "kodifikatorischen" Gesetzen. Aus Gründen der gesetzgeberischen Problemverarbeitungskapazität wird der Neuerungscharakter auch solcher Gesetze indes nur begrenzt sein und weitgehend an ältere "Modelle" anknüpfen, seien sie derzeit kodifiziert oder nicht. "Dogmatisches Experimentieren", also Entscheidungen des Gesetzgebers im Zug von bislang vorherrschenden juristisch-dogmatischen Theoremen, kann sich der Gesetzgeber deshalb nur partiell im Rahmen bestehender Kodifikationen "leisten". Der Gesetzgeber hat dabei das Risiko dogmatischer Experimente politisch zu verantworten. 251 Zur "europäischen Rechtskultur" vgl. den Einleitungsbeitrag in meinem gleichnamigen Werk von 1994 (Taschenbuch 1997). 252 Hierzu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 80; ferner der Besprechungsaufsatz "Kulturverwaltungsrecht im Wandel", 1981, AöR 107 (1982), S. 301 (306 f.) sowie allgemein der Band: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992.- Der Ansatz, Bundesstaat und Kultur von vornherein zusammenzusehen, hat manche Literatur hervorgebracht, z.B. F. Hufen, Kulturstaatlichkeit und Bundesstaat, in: Probleme des Föderalismus, Deutsch-Jugoslawisches Symposium, Belgrad 1984, 1985, S. 199 ff; ders., Gegenwartsfragen des Kulturföderalismus,
IV. Verfassungsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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besonders ergiebig, denn der Bundesstaat lebt wesentlich aus kultureller Vielfalt. Funktionell kann Verfassungsvergleichung dabei auf allen drei Ebenen der Verfassungsentwicklung (Verfassungsinterpretation, Gesetzgebung, Verfassungsänderung, Verfassunggebung) und in deren Rahmen fruchtbar gemacht werden. Vorgänge, Inhalte und Verfahren kultureller Produktion und Rezeption lassen sich innerhalb der Bundesstaaten belegen, aber auch zwischen den Bundesstaaten untereinander: So hat die deutsche Bundesstaatswissenschaft gerade auf einem kulturverfassungsrechtlichen Gebiet (Stichwort: "Kulturförderungsgesetze" Österreichs) rechtspolitische Impulse aus Österreich aufgegriffen, die Schweiz lehnt sich in ihren Arbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung auch an Werke der deutschen Staatsrechtslehre an (1977 und 1995). Auch das Gegenteil, das Verweigern von Rezeptionen, die Differenz läßt sich oft kulturell erklären, weil die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen und ihrer kulturellen Ambiance zu verschieden sind und "Importe" nur bedingt empfohlen werden können 253 . Nicht nur im Felde der Verfassungs- und Rechtspolitik, auch bei der "bloßen" Interpretation von geltendem (Verfassungs-)Recht erweist sich kulturwissenschaftliche Rechtsvergleichung als hilfreich. Nur sie vermag etwa zu erklären, warum gleichlautende Texte im Laufe der Zeit oder von Anfang an einer unterschiedlichen Interpretation zugänglich und bedürftig sind. Der Gleichheitssatz etwa wird in der Rechtskultur einer Schweiz immer auch andere Ergebnisse zeitigen als in der Bundesrepublik Deutschland 254 . Ebenso
BayVBl. 1985, S. 1 ff. und S. 37 ff.; M.-E. Geis, Die "Kulturhoheit der Länder", DÖV 1992, S. 522 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 4. 253 Der rechtspolitische Vorschlag etwa, das richterliche Beratungsgeheimnis für Revisionsgerichte und das BVerfG nach Schweizer Vorbildern durch öffentliche Beratungen der Richter aufzugeben (so J. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit als Medienöffentlichkeit, 1979, S. 155 ff.), findet seine Grenzen an der bundesdeutschen politischen bzw. Verfassungskultur: Sind bei uns nicht in mehrfacher Weise die Bürgeröffentlichkeit, die Medienöffentlichkeit und auch die Justiz selber erst noch auf jene Bahnen gewachsener kultureller Verfassungstraditionen zu bringen, die Bedingung für das Funktionieren öffentlicher Urteilsberatungen in der Schweiz sind? Zur Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff. Zum Problem auch mein Diskussionsbeitrag in VVDStRL 39 (1981), S. 407 ff. 254 Zu dieser "kulturspezifischen Varianz" vgl. meine Diskussionsbemerkungen in C. Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 83 ff., 104 f.; zum "Kulturverwaltungsrecht im Wandel" vgl. den gleichnamigen Besprechungsaufsatz in AöR 107 (1982), S. 301 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
können gleiche Institutionen in unterschiedlichen Nationen ganz unterschiedliche Aufgaben haben 255 . So kann das kulturwissenschaftliche Denken in der (Verfassungs-) Rechtsvergleichung teils Unterschiede erklären und rechtfertigen 256 , teils zu Gemeinsamkeiten fuhren. Zugleich erweisen sich so die konkreten Verfassungen (z.B. der Schweiz, Österreichs oder der Bundesrepublik Deutschland) als kulturbedingte Variationen des Grundtypus demokratischer Verfassungsstaat westlicher Prägung. Es ist durchaus kein Privileg gerade der Verfassungslehre, für den kulturwissenschaftlichen Ansatz besonders geeignet zu sein. Die Zivilrechtslehre kann nicht minder fruchtbar kulturwissenschaftliche Fragen aufgreifen und sie 257
hat dabei, vor allem im Felde der Rechtsvergleichung, Tradition 255
. Auch im
Grundlegend A Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 96. Ist z.B. im Mitbestimmungsurteil des BVerfG (E 50, 290 ff.) nicht ein prinzipiell kooperatives Verhältnis von Arbeitnehmern (bzw. Betriebsrat und/oder Gewerkschaft) und Arbeitgeber eine vorrechtliche Grundbedingung, die ihrerseits Ausdruck einer spezifisch deutschen politischen (Arbeiter-) Kultur und -Tradition ist?- "Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Verfassungsgerichtsbarkeit" (am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs) gleichnamig: A. Weber, FS Zeidler, 1987, S. 371 ff. 257 Die Rechtsvergleichung als Wissenschaft hat den kulturwissenschaftlich zu erschließenden Hintergrund des Rechts seit langem im Auge, ohne daß sie ihn jedoch genügend tief ausgeleuchtet und strukturiert hätte. Fast ein Klassikerzitat ist schon das Wort von J. Kohler, das Recht sei eine Kulturerscheinung, vgl. etwa Ernst Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1924), jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. III (1967), S. 4, mit einem Verweis auf die Rechtstatsachenforschung als bloßem Ausschnitt und mit Bezugnahme auf den Zusammenhang des Rechts mit Vergangenem und Heutigem, mit geschichtlichen Schicksalen der Völker, der schöpferischen Kraft von Einzelpersönlichkeiten, Interessen von Schichten, Parteien und Klassen und dem Wirken von "Geistesströmungen aller Art" (ebd. S. 5). Zum "Recht als Ganzem", als Kulturerscheinung: H. Coing, Aufgaben der Rechtsvergleichung in unserer Zeit, JuS 1981, S. 601 (603).- J. Kohler selbst präzisiert seinen Ansatz z.B. in der Arbeit über die Methoden der Rechtsvergleichung (1901), jetzt in: K. Zweigert/H.-J. Puttfarken (Hrsg.), Rechtsvergleichung, 1978, S. 18 ff, in Sätzen wie: "Es handelt sich darum, jedes nationale Recht als ein adäquates Glied der Menschenkultur aufzufassen und in seiner Stellung zur Bildung der Menschheit zu beleuchten". Mag sein Ansatz auch zu stark vom Fortschrittsdenken geprägt sein (z.B. S. 25), er bleibt im übrigen aktuell, etwa in Sachen Rezeption (S. 26): "Die Rezeption soll nicht bloß eine äußerliche sein, sondern das Aufgenommene in die Rechts- und Kultursphäre organisch einfügen und dem bisherigen Kulturleben assimilieren." "Die Rezeption soll in Verbindung stehen mit der ganzen Kulturordnung." Auch der Stil-Begriff der Rechtsvergleichung (z.B. M. Rheinstein, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1979), S. 74; K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I (1971), S. 73 (jetzt 3. Aufl. 1996, S. 62 ff.), deutet auf kulturwissenschaftliches Denken. Die alte Idee von "Kultur- und Rechtskreisen" findet sich wieder bei J.J. van der Ven, Sozialrecht und Menschenbild, VSSR 9 (1981), S. 1 (4 ff.). Vgl. jetzt B. Grossfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996, S. 10 f.: "Kultur und Ordnung". 256
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Strafrecht lassen sich kulturelle Hintergründe erarbeiten 258. Indes scheint die Verfassungslehre in besonderem Maße fähig und bedürftig, um die Dimension der Kulturwissenschaften bereichert zu werden, zielt sie doch auf das übergreifende Ganze einer Rechtsordnung 259.
258 Die Strafrechtswissenschaft betont seit langem die Einbettung ihres Gegenstandes in die Kultur. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts {Graf Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemein gültiges Merkmal im Tatbestand strafbarer Handlungen, 1905) bezieht sich die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit im Gegensatz zur rein positivistischformellen Sicht auf "den ganzen Kulturzusammenhang" des Rechts, "den gesamten Zusammenhang der Kultur, aus der das Recht erwächst und auf die es regelnd sich bezieht", als "Grundlage" der Gesetze {E. Mezger, Strafrecht, 3. unveränd. Aufl. 1949, S. 203 f.). Anstoß war u.a. M.E. Mayers Werk Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903 (s. auch ders., Rechtsphilosophie, 1922, S. 36 ff; Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. unveränd. Aufl. 1923, S. 37 ff.) und die darauf bezogene Diskussion (etwa Graf Dohna, in: Der Gerichtssaal 63 (1904), S. 355 ff). Seitdem {F. v. Liszt/E. Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 24. Aufl., 1922, S. 4: "Das Recht ist eine Kulturerscheinung und unlöslich mit der Gesamtkultur verbunden"; E. Heinitz, aaO., S. 91 ff., 93: "... wie der einzelne Rechtssatz, ist das gesamte Rechtssystem kulturell bedingt... kann das Rechtssystem ... nur dann verstanden werden, wenn die gesamte Kulturlage ... in Betracht gezogen wird") bis heute {W. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 135: Das Strafverfahrensrecht "ist ein Ausdruck dieser Kultur, es spiegelt sie".) Die Beachtung des Spezifischen der jeweiligen Kultur wird ebenso gefordert in der Strafrechtsvergleichung bzw. der vergleichenden Kriminologie: E. Mezger/A. Schönke/H.-H. Jescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, 1955, S. 7; G. Kaiser, in: ders.IT. Vogler, Strafrecht, Strafrechtsvergleich, 1975, S. 79 ff, 87 ff, 88: "interkultureller Vergleich"; ders., in: H.-H. Jescheck, Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum X. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, 1978, S. 129 ff., 135 f.: "Rechtsnormen in einem gegebenen kulturellen Zusammenhang", "Besonderheiten ... und kulturelle Gemeinsamkeiten") ist von der "Verteidigung gemeinsamer Kulturinteressen im Wege des Strafrechts" die Rede {H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1988, S. 152 (jetzt auch H.-H. JescheckJTh. Weigend, ebenso, 5. Aufl. 1996, S. 170).- Auch die Strafgerichtsbarkeit zieht kulturelle Momente heran, etwa BGHSt 23, 40, 42: "auf den Wertvorstellungen unserer Kultur beruhende sittliche Grundanschauungen der Gemeinschaft". 259 Die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht hat, soweit ersichtlich, bislang noch nicht das Kulturspezifische methodologisch thematisiert (vgl. dazu J.H. Kaiser, H. Strebet, R. Bernhardt und K. Zemanek, in: ZaöRV 24 (1964), S. 391 ff., 404 f., 431 ff. bzw. 452 ff; J.M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 99 (1974), S. 193 ff; s. aber auch P. Häberle, in: K. Vogel (Hrsg.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 1979, S. 65 f. (Diskussion). Das überrascht, da bei der Menschenrechtsdiskussion unschwer zu erkennen ist, daß die juristischen Texte verschieden verstanden werden und auch - ohne "schlechtes Gewissen" - begrenzt verschieden verstanden werden dürfen (vgl. dazu auch W. v. Simson, Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: FS B. Aubin, 1979, S. 217 ff.).- Der Verf. hat erstmals 1989 vorgeschlagen, die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode nach den klassischen vier von F. C. von Savigny (1840) zu inthronisieren (Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.); dazu auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 117.
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Als "Argument" zur "Eingemeindung" der Rechtsvergleichung in den Auslegungskanon des Typus Verfassungsstaat, zumal seiner Grundrechte, sind Hinweise auf das Schrifttum dienlich. Bekanntlich besitzt die Privatrechtswissenschaft in Sachen Rechtsvergleichung einen großen, nicht nur zeitlichen Vorsprung: in den Handwerks- wie in den Kunstregeln 260 . Zur Vergegenwärtigung dieses "Vorsprungs" hier einige Stichworte, die zugleich helfen können, die Rechtsvergleichung entschlossen in den Interpretationskanon des Verfassungsstaates aufzunehmen: als längst fälliger Schritt von F.C. v. Savigny her zu dem in seine nationalen, regionalen und universalen Grund- und Menschenrechtstexte eingebetteten (und diese zugleich hervorbringenden) Typus Verfassungsstaat. (An)Leitender Klassikertext sei, sozusagen vor die "Klammer" aller engeren fachspezifischen Überlegungen gezogen, die schöne Wendung von G. Radbruch 261 , Rechtsvergleichung sei "Zu-Ende-Denken eines weltüberall Gedachten", dem K. Zweigert 262 als Herausgeber einen Hinweis auf seinen heute wohl ebenfalls klassischen Aufsatz "Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode" hinzufügte. Der Verfassungsstaat ist auf dem Weg, als Typus bzw. in seinen Elementen "weltüberall gedacht" zu sein bzw. zu werden, vor allem im Grundrechtsbereich. Was liegt also näher, als bei der Auslegung der textlich ohnedies nie "vollständigen" (meist fragmentarischen) Grundrechtsgarantien auf die Entwicklung der Grundrechtsideen in anderen Beispielsländern des Verfassungsstaates zu schauen - seien diese nun schon zu Texten geronnen oder noch in Gestalt von Verfassungsjudikatur oder bloßer "Grundrechtspolitik" präsent? Der (ζ. B. gemeineuropäischeGrundrechtsvergleich ist für den Verfassungsinterpreten so ein "Transportmittel" seiner eigenen Auslegung, wobei das Vergleichen seinerseits andere Auslegungsmittel wie die historische, Wortlaut- und systematische Interpretation, selbst die teleologische, je nach Problemlage mit integrieren kann.
260 Dazu M Moriok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet der politischen Parteien, in: D.Th. Tsatsos u.a. (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990, S. 695 (707 ff. m.w.N.).- S. im übrigen F. Kübler, Rechtsvergleichung als Grundlagenprinzip der Rechtswissenschaft (Besprechungsaufsatz), JZ 1977, S. 113 ff; H. Roggemann, Von der innerdeutschen Rechtsvergleichung zur innerdeutschen Rechtsangleichung, JZ 1990, S. 363 ff, der u.a. die Idee des Verf. von der Rechtsvergleichung als "fünfter Auslegungsmethode" aufgreift (ebd. S. 367). Zuletzt H. Jung, Grundfragen der Strafrechtsvergleichung, in: JuS 1998, S. 1 ff. 261 Einführung in die Rechtswissenschaft, 13. Aufl. 1980, S. 284. 262 Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), S. 5 ff. Die vorbildhaften Werke europäischer Verfassungsvergleichung kommen aus Italien bzw. Frankreich: G. de Vergottini, Diritto Costituzionale Comparato, 4. Aufl. 1993, und C Grewe/H. Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995, sowie Spanien: M. Garcia-Pelayo, Derecho constitucional comparado, 7. Aufl. 1961 (1984).
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Ein Blick auf die Schweizer Privatrechts- bzw. Methodènlehre ist forderlich. Sie nimmt Art. 1 Abs. 2 ZGB zu Hilfe: "Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht, und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Oberlieferung". Dieser Text "inspirierte" einen A. Meier-Hayoz zu der schon klassischen Folgerung 263 bzw. dem als Zwischenstation auf dem hier verfolgten Weg einzuordnenden Satz: "Da der Bundesgesetzgeber die komparative Methode anwendet, muß auch der Richter, welcher bei der Lückenfüllung ja nach Art. 1 Abs. 2 ZGB wie der Gesetzgeber voranzugehen hat, bei der Gesetzesergänzung die Rechtsvergleichung pflegen". Als ähnlichen zu Rechtsvergleichung "anregenden" positivrechtlichen Privatrechtstext darf man, E.A. Kramer folgend 264 , § 7 des österreichischen ABGB werten, der als letztes Mittel zur Lückenfüllung die "natürlichen Rechtsgrundsätze" nennt. Mag das "gemeindeutschsprachige" Privatrecht sich an positiven Texten gleichsam als "Trägerrakete" zum Wagnis des rechtsvergleichenden Flugs orientieren müssen und zurecht zur Vorsicht mahnen 265 : das Verfassungsrecht kann, wie schon 1985 vorgeschlagen, seinerseits den Gedanken von Art. 1 ZGB für sich aufgreifen 266 . Es darf, anknüpfend an die neueren Verfassungs- und EG- und EU-Texte, die europäische Gerichtspraxis zu "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" und methodologischen Äußerungen im Schrifttum, die Grundrechtsgehalte vergleichend erarbeiten und sie als zwar "ausländische", aber dem Typus Verfassungsstaat immanente "Rechtsgedanken" bewerten 267 . Die Rechtsvergleichung wird so in Sachen Grundrechte zu einer "normalen", "natürlichen" Auslegungsmethode; ihre "Universalität" entspricht der Universalität des Verfassungsstaates 268. Positivrechtlicher AbStützungen nach Art von Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien, 16 Abs. 2 Verf. Portugal, 4 Verf. Peru, 46 Verf. Guatemala, 215 Abs. 2 EGV bzw. Art. 1 Abs. 2 ZGB, § 7 ABGB bedarf es nicht mehr, so hilfreich sie als Wegweiser bleiben. 263
A. Meier-Hayoz, in: Berner Kommentar zum schweizerischen Zivilrecht, Art. 1 Rdnr. 368. S. auch B. Grossfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, 1984, S. 34. 264 E.A. Kramer, Topik und Rechtsvergleichung, RabelsZ 33 (1969), S. 1 (7). 265 Vgl. etwa Β. Grossfeld,, aaO., S. 35 f. 266 P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34(1985), S. 303 (350 f.). 267 In Anlehnung an die Wendung von Kramer, aaO., S. 7: "rechtsvergleichend gewonnener Topoikatalog ausländischer Rechtsgedanken". 268 Dazu meine Beiträge in: JZ 1989, S. 913 (917); JöR 37 (1988), S. 35 (63 f.).
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Eine "Relativierung", genauer Präzisierung, ist freilich notwendig: Im Rahmen der als juristische Text- und Kulturwissenschaft betriebenen Verfassungslehre sind bei allem Vergleichen die kulturellen Kontexte immer mitzubedenken. Die kulturell faßbare Individualität des einzelnen Verfassungsstaates darf nicht über das "Medium" bzw. Vehikel der Verfassungs- bzw. Grundrechtsvergleichung interpretatorisch eingeebnet werden. Vielfalt drohte sonst zur Uniformität zu verarmen. Äußere Textähnlichkeiten dürfen nicht über Unterschiede, die sich aus dem kulturellen Kontext der Beispielsverfassungen ergeben, hinwegtäuschen. Auch müssen die via Rechtsvergleichung rezipierten (Grundrechts-)Gehalte in den "eigenen" Kontext des aufnehmenden Verfassungsstaates umgedacht werden. Dies ist ein aktiver (Rezeptions-)Vorgang - so wie der herkömmliche Interpretationsprozeß höchst produktiv ist 2 6 9 . Insgesamt ist die Erkenntnis Goethes wegleitend: Wer keine fremden Sprachen kennt, kenne nicht die eigene. Hier und heute: Wer keine fremden Verfassungen bzw. Rechtsordnungen kennt, kennt auch nicht seine eigene!
V . Der Zusammenhang von sachlich-gegenständlicher und personaler Vielfalt im Prozeß der Verfassungsentwicklung Der Versuch einer systematisierenden Zusammenstellung der sachlichgegenständlichen "Mitbestimmungsfaktoren" der Verfassungsentwicklung ergänzt die personale Vielfalt der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (und ist mit ihr zusammenzusehen, so wie personale Freiheit und sachliche Orientierung zusammengehören). Diese Offenheit der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten manifestiert sich auch darin, daß jene sachlichen Faktoren, die die Auslegung von Verfassungsnormen mitbestimmen, nicht ein für alle Male festlegbar sind (so wie es auch keine feststehende Methodenhierarchie gibt). Auch gibt es keine "feste" Zuordnung von bestimmten sachlichen Faktoren zu bestimmten Personen: So wird der Faktor "Sondervotum" des BVerfG nicht nur vom wissenschaftlichen und politischen Prozeß bzw. seinen personalen Beteiligten aufgegriffen, er kann in der Folgezeit selbst in der Interpretation der alten Senatsmehrheit Gewicht erlangen. Andere Funktionen und Instanzen wie
269 Die Gefahren und Schwierigkeiten aus der "Kanonisierung" der Vergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode seien nicht verkannt: Das Vergleichen darf nicht zu Beliebigkeiten des Interpreten führen, es muß die kulturelle Nähe beachten, auch die systematischen Zusammenhänge, in der die Texte stehen. Dennoch sollte das Tor zur Welt der Rechtsvergleichung in der beschriebenen Weise geöffnet werden. Disziplinierende "Anwendungsregeln" werden sich im Laufe der Zeit im typischen Verfahren ebenso herausbilden können wie sonst.
V. Vielfalt im Prozeß der Verfassungsentwicklung
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Untergerichte oder die Verwaltungspraxis können das Sondervotum für sich aufgreifen. So gewinnt es als "Alternativjudikatur" allmählich so viel Gewicht, daß es herrschende Meinungen modifizieren oder vielleicht ersetzen kann 270 . Auch ist die Berufung auf Klassikertexte nicht nur "Privileg" der "gebildeten Stände" oder der Pädagogen, sie ist nachweisbar bei den Juristen selbst. Ihr Rückgriff auf Klassikertexte zur Interpretation von Verfassungsnormen verbindet sie mit den sachlichen Anliegen und Traditionen anderer Wissenschaften und Disziplinen, ja selbst der Kunst, und fügt· sie bzw. den von ihnen interpretierten Rechtstext in den übergreifenden Zusammenhang der (Rechts-)Kultur ein. (Vgl. unten VIII.) Verfassungstexte und -Interpreten im engeren und weiteren Sinne sind dabei einander flexibel zugeordnet. Die Bindung an "Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG) für die staatlichen Funktionen schließt nicht aus, daß diese auch zu Verfassungstexten im weiteren Sinne greifen. Die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne sind zwar vornehmlich auf nicht-juristische Verfassungstexte in nicht-juristisch trainierter Weise fixiert: auf Texte der klassischen Literatur, auf Minderheitenpositionen etc., sie wagen auch einmal Thesen, die so noch nicht konsensfähig sind, oder sie schließen sich alternativen Positionen von Sondervoten im wissenschaftlichen oder gerichtlichen Interpretationsprozeß an. Dennoch orientieren sie sich auch an Verfassungstexten im engeren Sinne, wenngleich nicht in "zunftmäßiger" Manier. Insofern darf hier das Prinzip gegenseitigen Respekts der in Arbeitsteilung gewonnenen Interpretationsergebnisse formuliert werden.
270
Sondervoten können innerhalb und außerhalb des BVerfG als "Alternativjudikatur" vielfältige Dynamik entfalten. So nimmt ein Senat des BVerfG auf ein Sondervotum Bezug z.B. in E 56, 146 (169) sowie in E 56, 216 (236). Das SV Dr. Benda und Dr. Katzenstein (BVerfGE 58, 129 [133]) verweist auf ein älteres SV v. Schlabrendorff (E 37, 414 [418]), das SV Hirsch (E 57, 182 [189]) zitiert das SV Dr. Böhmer (E 56, 266 [278]). Besonders spektakulär ist der Durchbruch des SV Rupp-von Brünneck (E 32, 129 [142]) in BVerfGE 53, 257 (289f.). Er kündigte sich schon in E 40, 65 (83f.) an. Eine "Mehrheitshälfte" des 2. Senats verweist auf ein SV von Frau Rupp-von Brünneck in E 52, 131 (156), s. auch das Rechtsgespräch in E 52, 155 f. mit dem SV Dr. Böhmer (E 49, 228 ff). Vieles deutet darauf hin, daß sich das Wirken von Sondervoten innerhalb der Senate erst in den letzten Jahren greifbar intensiviert hat, der Zeitfaktor spielt hier eine eigene Rolle. In der Literatur zitiert z.B. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, S. 165 Anm. 38 und 19. Aufl., 1993, S. 165 Anm. 38, auch 20. Aufl. 1995, S. 175 Anm. 38, sowohl BVerfGE 35, 79 (120 ff.) als auch die abweichende Meinung ebd. S. 149 ff. als "grundlegend". Zum Problem normierender Kraft von Sondervoten meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 24 ff. Diese Vorgänge sind feinsinnig registriert bei J. Luther, L'esperienza del voto dissenziente nei paesi di lingua tedesca, in: Politica del Diritto 1994, S. 241 ff.; vorbildliches Beispiel für die "Institution" des Sondervotums auch BVerfGE 80, 137 (165 ff.).
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Insgesamt verwirklicht sich in der Offenheit der möglichen (Verfassungs-)Interpretationsfaktoren und der Offenheit des Kreises der Verfassungsinterpreten ein Stück der Offenheit der Gesellschaft. Gerade die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne sind eine Kraftquelle für in das Verfassungsrecht hinein vermittelte Innovation. Das kulturelle Innovationspotential ist auf lange Sicht - und vielgliedrig vermittelt - auch das kulturelle Innovationspotential für die Staatsrechtswissenschaft (gewesen). Das kann mit persönlichen Tragödien verbunden sein und ins Biographische reichen: Das persönliche Drama von Thomas Morus 2 7 1 war ein sachlicher Gewinn in der Entwicklung des westlichen Verfassungsstaates, weil die Glaubwürdigkeit seiner Person und Sache identisch wurde. Der skizzierte Zusammenhang von sachlicher und personeller Vielfalt im Interpretationsprozeß sei später konkretisiert am Beispiel der Schönen Literatur und der Literaten als Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne (IX.) sowie der Staatsrechtslehre und der Staatsrechtslehrer als Verfassungsinterpreten im engeren Sinne (X.). Zuvor aber werden die Rechtsquellenprobleme unausweichlich.
V I . Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat: ein Pluralismus von Geschriebenem und Ungeschriebenem vieler Stufen und Räume, von Staatlichem und Transstaatlichem 1. Einleitung, Problem Die Rechtsquellenlehre ist ein klassischer Bestandteil der Grundlagenfächer und Teildisziplinen der Jurisprudenz. Lehrbücher und Handbücher behandeln sie ebenso wie einzelne Monographien und Aufsätze, Lexikonartikel und Festschriftenbeiträge 272. Die Präsenz in fast allen Literaturgattungen der Rechtswis271 Vgl. etwa T. Nipperdey, Thomas Morus, in: H. Maier/H. Rausch/H. Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Band 1, 5. Aufl. 1979, S. 222 (238 ff.); 6. Aufl. 1986, S. 181 ff. bzw. 193 ff. 272 Vgl. etwa P. Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: BVerfG und Grundgesetz, Bd. II 1976, S. 50 ff.; F. Ossenbühl, Gesetz und Recht, Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: HdbStR Bd. III, 1988, S. 281 ff.; KH. Friauf Art. Gewohnheitsrecht, Ev. Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 1150 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1997, S. 58 ff.; R. Streinz, Europarecht, 3. Aufl. 1996, S. 105 ff.; W. Fikentscher, Schuldrecht, 7. Aufl., 1985, S. 9 ff.; J. Baumann, Strafrecht, 9. Aufl., 1985, S. 50 ff.; Κ Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., 1989, S. 7 ff.; E. Meyer, Der Begriff der Rechtsquelle, AcP 1931, S. 19 ff.- Das in vielen Literaturlisten angeführte Grundlagenwerk von A. Ross, Theorie der
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
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senschaften, nicht nur im deutschen bzw. deutschsprachigen Raum 273 , sondern auch im ausländischen fremdsprachigen Schrifttum 274 , lassen vermuten, daß sich die geschriebenen Verfassungen dieses Grundsatzthemas jedenfalls zum Teil annehmen. Denn in den Verfassungen spiegelt sich vieles von dem, was einem politischen Gemeinwesen jeweils "wichtig" ist. Da sich die Bewertungsmaßstäbe dessen, was "wichtig" ist, im Laufe der Zeit wandeln und in den einzelnen nationalen Verfassungsstaaten verändern, kann von einem raumzeitlichen Rechtsvergleich der Verfassungstexte manche Aussage über "alte und neue Rechtsquellen" erwartet werden. Der auf anderen Feldern einer Verfassungslehre erprobte "Textstufenvergleich" 275 beruht auf der Beobachtung, daß heute alle nationalen Beispiele des Typus "Verfassungsstaat" weltweit einander in Produktions- und Rezeptionsprozessen verbunden sind und daß in die neuen Textgestaltungen jüngerer nationaler Verfassunggeber Entwicklungen der Verfassungswirklichkeit älterer Verfassungsstaaten, vor allem die Leistungen der Verfassungsgerichtsbarkeit und Wissenschaft Eingang finden. So ist zu vermuten, daß sich auch beim Thema "Rechtsquellen" neuere Entwicklungen in den jüngeren Texten niederschlagen. Die vergleichende Textstufenanalyse "in weltbürgerlicher Absicht" wird damit zum sensiblen Indikator schöpferischer Entwicklungen in Sachen Verfassungsstaat, und in dem Maße, wie die Verfassungslehre Grundsatzfragen der "alten" Rechts- und Staatsphilosophie übernimmt, weil eine "Philosophie der Verfassung" heute übergreifende Grundsatzwissenschaft wird ("Rechtsphilosophie als Verfassungslehre" und
Rechtsquellen, 1929, sollte nicht nur "zitiert", sondern auch in seinen Aussagen diskutiert werden, etwa in der These, das "System" sei die "letzte Rechtsquelle" (S. 309), oder in der Aussage, in letzter Instanz sei alles Recht "Gewohnheitsrecht" (S. 311). 273 Vgl. aus der Schweiz etwa: U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl., 1988, S. 3 ff; T. Büchler, Rechtsquellenlehre, Bd. 1, 2 und 3, 1977, 1980, 1985; aus Österreich: L.K. Adamovich/B.-C. Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 1984, S. 39 ff.; zu Frankreich: HJ. Sonnenberger, Auf dem Weg zu einer europäischen Rechtsquellenordnung, Das französische Verständnis, FS Lerche, 1995, S. 545 ff. 274 Aus der italienischen Lit. etwa: T. Martines, Diritto Costituzionale, 6. Aufl., 1990, S. 49 ff.; G. Zagrebelsky, Il sistema costituzionale delle fonti del diritto, 1984; F. Sorrentino, Le fonti del diritto, 1985; A. Pizzorusso, Sistema costituzionale del diritto pubblico italiano, 2. Aufl., 1992, S. 483 ff.; L. Paladin, Le fonti del diritto italiano, 1996; aus Portugal: J.J. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, 4. Aufl., 1993, S. 136 ff; aus Frankreich: J. Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 11. Aufl., 1991, S. 12 f.; aus Spanien: E. Gar eia de Enterria, Der normative Wert der spanischen Verfassung, in: A. López Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993, S. 63 ff.; F. Balaguer Callejon, Fuentes del Derecho, Bd. I. 1991, Bd. II, 1992. 275 Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, bes. S. 3 ff. u.ö.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen 276
vice versa ), muß sie sich die Rechtsquellenlehre in ihre Koordinaten integrieren. Der Vorsprung des Zivilrechts in Methodenfragen ist bekannt und seitens des öffentlichen Rechts gewiß erst allmählich einzuholen 277 . Der "Selbststand" des Zivilrechts darf und soll ihm auch im entwickelten Verfassungsstaat nicht genommen werden: aus seinem "Schatzhaus" ist viel zu lernen. Dennoch ist 278
angesichts des "Primats des Rechts" zu erwarten, daß gerade neuere Verfassungen auf "höchster Ebene" Aussagen zur Rechtsquellen-Problematik wagen. Ihnen soll im folgenden nachgespürt werden. Dabei ist das behandelte Problemfeld weit gehalten: Untersucht werden die Nennung von Art und Anzahl von Rechtsquellen, Aussagen zu ihrem Verhältnis untereinander, ggf. auch die Andeutung einer etwaigen Rangordnung sowie Hinweise auf Auslegungsmethoden bzw. Interpretationsprinzipien 279. 2. Neuere Textstufen verfassungsstaatlicher Verfassungen zum Thema "Rechtsquellen" (Elemente einer Bestandsaufnahme) Im folgenden können nur prägnante Textgruppen - und dies auch nur in Auswahl - typologisch vorgeführt werden. Vergleichsgrößen sind dabei so klassische Verfassungen wie das GG oder die Schweizer BV (1 a). Obwohl vieles, vor allem der wechselseitige Austausch, für eine historische, entwicklungsgeschichtliche Bestandsaufnahme spricht - beginnend mit Schweden (1974), Griechenland (1975) setzt ja in Europa eine eindrucksvolle nationale Verfassunggebung ein (Portugal [1976], Spanien [1978], die Niederlande [1983], Belgien [1993], die auf eine Weise innerbundesstaatlich von den neuen, sehr schöpferischen Schweizer Kantonsverfassungen (seit den 60er Jahren) und den neuen Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfen ostdeutscher Bundesländer (seit 1990) teils angeregt, teils begleitet, teils nachvollzogen wurde 280 ) -, 276 Dazu mein Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), S. 169 ff. 277 Grundlegend: J. Esser, Grundsatz und Norm, 1. Aufl., 1956, 4. Aufl., 1990. 278 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 87. 279 Zur Verfassungsinterpretation als "Konkretisierung" und ihren "Prinzipien" und "Verfahren": K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 24 ff. 280 Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff; ders., (in Gestalt der fortlaufenden Publizierung und Kommentierung der ostdeutschen Verfassunggebung, beginnend mit) JöR 39 (1990), S. 319 ff., 40 (1991/1992), S. 291 ff.; 41 (1993), S. 69 ff., 42 (1994), S. 149 ff., zuletzt JöR 43 (1995), S. 355 ff.
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
323
sei hier systematisch nach "Familien" und Staats- bzw. Verfassungstypen (Entwicklungsländer, Kleinstaaten) unterschieden (b). Sowohl historisch als auch typologisch können die Verfassungen und Verfassungsentwürfe postkommunistischer Staaten vor allem in Osteuropa, daneben Südafrika dargestellt werden (c, d). Ein Inkurs gilt den "Allgemeinen Rechtsgrundsätzen" (e), ein Exkurs den Rechtsquellenaussagen in nicht verfassungsrechtlichen Texten bzw. Kodifikationen (f). a) Altere und neuere Verfassungen
in (West)Europa
Die älteren Verfassungen begnügen sich mit Vorrangregelungen, etwa den Anordnungen des Vorrangs der Verfassung (z.B. Art. 1 Abs. 3 GG: Bindung aller drei Staatsgewalten an die Grundrechte, Art. 19 Abs. 2 GG: Garantie des "Wesensgehalts" der Grundrechte, Art. 20 Abs. 3 GG: Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an "Gesetz und Recht", Art. 79 Abs. 1 GG: Verbot von Verfassungsdurchbrechungen). Das ist im Rückblick auf Weimar bereits ein gewaltiger "Textschub", war die WRV von 1919 doch weder gegen einen "Leerlauf' der Grundrechte noch gegen "Verfassungsdurchbrechungen" gefeit. Freilich kennt das GG keine den neueren Textstufen vergleichbaren Aussagen zu seinen Rechtsquellen. Immerhin findet sich versteckt ein einziger Hinweis auf "allgemeine Rechtsgrundsätze" (in Art. 123 Abs. 2). Noch magerer sind die Aussagen der Schweizer BV (1874), die alles voraussetzt, obwohl oder gerade weil Art. 1 ZGB von 1911 meisterliche Anordnungen zu Rechtsquellen- und Methodenfragen trifft 2 8 1 . Während in Frankreichs Verfassung von 1958 nur von der Kontrolle der "Verfassungsmäßigkeit" von Organgesetzen die Rede ist (Art. 61 Abs. 1), die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 56 bis 63) aber den Vorrang der Verfassung garantiert und im übrigen die Rechtsquellenlehre im Schrifttum ihren Platz hat bis hin zur "hiérarchie des normes" und "super-légalité" der Verfassung 282 , während in Italien (Verfassung von 1947) dank der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 134 bis 137) ebenfalls der Vorrang der Verfassung gesichert und so diese als oberste Rechtsquelle garantiert ist, bietet sich in jüngeren Verfassungen ein deutlich verändertes Bild 2 8 3 . In ihnen findet sich vieles in Sachen Rechtsquellen geschrieben,
281
Dazu A. Meier-Hayoz im Berner Kommentar, Art. 1 (1962). Zum Verfassungsrang von Art. 1 ZGB (für die Schweiz): P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (350). 282 Dazu Jean Gicquel, aaO., S. 12, 205, 801 f. 283 Ewigkeitsklauseln in neueren Verfassungen, etwa in Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 110 Abs. 1 Verf. Griechenland, sind implizite Aussagen zu Rechtsquellenfragen. Dazu der 24 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
was die "alten" Verfassungsstaaten (ungeschrieben) voraussetzen. Überdies setzen sie neue Entwicklungen des Typus Verfassungsstaat in Texte um ("Textverarbeitung"). Das gilt vor allem für die beiden iberischen Länder, die sich vieles textlich integrieren, was ältere Verfassungen erst in ihrer Wirklichkeit durch Wissenschaft und Praxis bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit erarbeitet haben. Aus der Verfassung Portugals (1976/92) gehören folgende Textaussagen in dieses Bild: die Sicherung des "Vorrangs der Rechtsstaatlichkeit" (Präambel), die Bindung des Staates, des Gesetzgebers und der Gerichte an die Verfassung (Art. 3 Abs. 2, Art. 207 2 8 4 ), die Unterwerfung der Gesetze und der "übrigen Maßnahmen" unter die Verfassung (Art. 3 Abs. 3) ebd. und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 18 Abs. 2), die Wesensgehaltgarantie (Art. 18 Abs. 3), die Überwachung der Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht (Art. 277) und vor allem (neu) das Prinzip (Art. 16 Abs. 2): "Die Auslegung und Anwendung der die Grundrechte betreffenden Verfassungs- und Rechtsvorschriften erfolgt in Ubereinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung". Damit wird die allgemeine Menschenrechtserklärung vom portugiesischen Verfassungsstaat "verinnerlicht" bzw. in die Auslegungsprozeduren der innerstaatlichen Grundrechte mit einbezogen. Es kommt zu einem "Zusammenspiel" von internationalen Grundrechtsgarantien; im Bild der Rechtsquellenlehre gesprochen: Die allgemeine Menschenrechtserklärung wird zu einer (weiteren) Rechtsquelle. Spanien baut diesen Weg in seiner Verfassung von 1978 weiter aus. Sie gewährleistet nicht nur "den Grundsatz der Gesetzlichkeit, die Hierarchie der Normen, die Publizität der Normen" (Art. 9 Abs. 3) und sie rezipiert nicht nur den Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte (Art. 53 Abs. 1), sondern sie pluralisiert auch die Rechtsquellen in Sachen Grundrechte bereichsbezogen, indem sie in Art. 10 Abs. 2 bestimmt: "Die Normen, die sich auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten beziehen, sind in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung
Textstufenvergleich in P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, aaO., S. 597 ff. Vgl. im übrigen oben Inkurs Β II 2. 284 S. auch Art. 11 Abs. 1 Verf. Türkei von 1982 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff): "Die Bestimmungen der Verfassung sind rechtliche Grundnormen mit bindender Kraft für die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalten, für die Verwaltungsbehörden, die anderen Organisationen und die Einzelpersonen."
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
325
der Menschenrechte und (!) der von Spanien ratifizierten internationalen Verträge und Abkommen über diese Materien auszulegen."285 Auch in einigen Schweizer Kantonsverfassungen und in ostdeutschen Landesverfassungen finden sich innovative Aussagen zur Rechtsquellenlehre: So verlangt § 14 Abs. 1 K V Basel-Landschaft (1984) 286 und Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen". So normiert § 2 S. 1 K V Aargau (1980): "Volk und Behörden richten ihr Handeln am Rechte aus und verhalten sich nach Treu und Glauben". Und so bekennt sich gemäß Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg (1992) das "Volk von Brandenburg" zu "den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der Europäischen Sozialcharta und (!) in den internationalen Menschenrechtspakten niedergelegten Grundrechten". b) Entwicklungsländer
und Kleinstaaten
Neuere Verfassungen von Entwicklungsländern und Kleinstaaten "schreiben" diese Textstufen bzw. Innovationen in Sachen Rechtsquellen (Anzahl, Rangordnung, Auslegungsprinzipien) buchstäblich "fort". Hier einige Beispiele. Die alte Verf. von Peru (1979) 287 formuliert als "Glaubensbekenntnis" schon in der Präambel den Satz, "daß alle Menschen die gleiche Würde und Rechte universeller Gültigkeit besitzen, die vor dem Staat bestanden und diesem übergeordnet sind" - damit wird das Naturrecht als oberste und vorstaatliche Rechtsquelle beschworen. In dieser "Tonlage" normiert Art. 4 eine vorbildliche "Grundrechtsentwicklungsklausel" 288, die als solche eine "Mischung" darstellt: Geschrieben wird auf Ungeschriebenes als Quelle von Rechten verwiesen 289 . Art. 87 Abs. 1 bringt den "Vorrang der Verfassung" und die "Normenhierarchie" auf einen bemerkenswerten Text: 285
Im Titel IX über das Verfassungsgericht findet sich nicht nur der Begriff der "Normenkontrolle" (Art. 161), der Stufenbau der Rechtsordnung schimmert auch in dem Textelement durch (Art. 161 Abs. 1 lit. a): "Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm mit Gesetzesrang." 286 Zit. nach JöR 34 (1985), S. 451 ff. 287 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. 288 Zu dieser Kategorie meine Ausführungen in: AöR 117 (1992), S. 169 (197 ff.) sowie Sechster Teil VIII Ziff. 1 d. 289 "Die Aufzählung der in diesem Kapitel anerkannten Rechte schließt nicht die sonstigen von der Verfassung garantierten Rechte und auch nicht andere, die vergleichbarer Natur sind oder aus der Würde des Menschen, dem Prinzip der Volkssouveränität, dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat und der republikanischen Regierungsform folgen, aus". Dazu noch unten unter IV.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Die Verfassung geht jeder anderen Rechtsnorm vor. Das Gesetz geht jeder anderen Norm niedrigeren Ranges vor, und so weiter, je nach Stellung in der Normenhierarchie." Neuland betritt Art. 105, insofern er den "Vorschriften, die in den Verträgen über Menschenrechte" enthalten sind, "Verfassungsrang" beilegt. Das verdient als Pioniertat um so mehr Aufmerksamkeit, als etwa bei vielen Mitgliedern des Europarates noch umstritten ist, ob z.B. die EMRK Verfassungsrang hat 2 9 0 , und in der Schweiz Wissenschaft und Praxis, nicht aber die "Texter" den Verfassungsrang bejaht haben 291 . M.a.W.: Peru bringt vorausschauend auf eine neue Textstufe, was in Alteuropa erst noch diskutiert wird und umstritten ist. Die These von den Textstufen als "Entwicklungswegen des Verfassungsstaates" illustriert schließlich Art. 233, der als "Garantien der Rechtspflege" u.a. nennt (Ziff. 6): Garantien der Rechtspflege sind:... "Die Ausübung der Gerichtsbarkeit nicht wegen eines Mangels oder einer Lücke des Gesetzes zu unterlassen. In diesem Falle sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze anzuwenden, in erster Linie die das peruanische Recht prägenden." Damit werden die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" als subsidiäre Rechtsquelle verfassungsstaatlich hoffähig gemacht. Überdies ist ein Vorrangverhältnis zwischen den nationalen (peruanischen) und den sonstigen begründet. Die letzteren können nur transnationaler, etwa regionaler (südamerikanisches "Gemeinrecht"?) oder universaler Natur sein. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" dürfte ein Gewinn sein, den die Lehre von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen noch auszuschöpfen hat 292 . Die später ergangene Verfassung von Guatemala (1985) 293 baut teils auf diesem schöpferischen Textschub Perus auf, teils setzt sie andere Akzente. Art. 44 Abs. 1 spricht sich für "Naturrechte der Person" in Gestalt einer Grundrechtsentwicklungsklausel aus 294 . Art. 46 dekretiert "auf dem Gebiete der Menschen-
290 Dazu A. Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, S. 149 ff. 291 Dazu aus der Lit.: J.P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 177 ff. 292 Die neue Verfassung Perus (1993) wiederholt zwar die Grundrechtsentwicklungsklausel (Art. 3), sie bleibt aber hinter dem hohen Standard der Rechtsquellenaussagen der alten Verf. von 1979 zurück. 293 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. 294 "Die in dieser Verfassung garantierten Menschenrechte schließen andere nicht aus, die, obwohl in dieser Verfassung nicht ausdrücklich genannt, der menschlichen Person von Natur aus innewohnen".- Ein Vorläufer-Text ist das 9. Amendment der USBundesverfassung ("The Enumeration in the Constitution of certain rights, shall not be
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
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rechte" den "Vorrang" des internationalen Rechts vor dem nationalen Recht ein weiterer Beleg für die Menschenrechtsfreundlichkeit der lateinamerikanischen Verfassungsstaaten und die Öffnung ihrer staatlichen Rechtsquellenpyramide. Art. 175 normiert weniger eindrucksvoll als Peru den "Vorrang der Verfassung", Art. 179 den "Vorrang der gesetzgebenden Gewalt". In Titel V I ("Verfassungsrechtliche Garantien und Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung") kommt allenthalben der Vorrang der Verfassung zum Ausdruck (z.B. im Amparo-Verfahren von Art. 265, in der abstrakten und konkreten Normenkontrolle der Art. 266 und 267). Im folgenden seien nur noch einige "Fundstellen" der Rechtsquellenprobleme erwähnt: Die Verfassung von Nicaragua (1986) 295 verdient insofern Aufmerksamkeit als sie den "Vorrang der Verfassung" dadurch konkretisiert, daß sie in Art. 182 den Stufenbau der Rechtsordnung buchstäblich "durchgeht": "Die Verfassung ist das Grundgesetz der Republik, die übrigen Gesetze sind dieser untergeordnet. Gesetze, Verträge, Verordnungen, Satzungen, Anordnungen oder Bestimmungen, die im Gegensatz zur Verfassung stehen oder deren Bestimmungen verfälschen, sind nichtig." Die neue Verfassung Kolumbiens (1993) wagt den aus der Wissenschaft bekannten Satz: "Die Verfassung ist die Norm der Normen"(Art. 4 Abs. 1 S. 1). Überraschendes fordert ein Blick auf zwei kleinere Staaten zutage. Art. 139 Verf. Äquatorial Guinea (1982), Totalrevision 1991 296 , könnte und sollte als Beispielsmaterial jede Methodenlehre von heute schmücken und verdient im ganzen wie im einzelnen große Beachtung: Sein Rechtsquellenkatalog sei hier wiederholt:
construed to deny or disparage others retained by the people"). Dazu S. Hutter , Die Gesetzeslücke im Verwaltungsrecht, 1989, S. 224 ff. 295 Zit. nach JöR 37 (1988), S. 720 ff- Bemerkenswert ist auch die Rechtsquellenaussage in Art. 129 Abs. 5 S. 2 Verf. Costa Rica (1949), zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff: "Bei Nichteinhaltung eines Gesetzes schützt einen weder dessen Nichtanwendung noch ein ihm nicht entsprechendes Gewohnheitsrecht oder eine dem Gesetz entgegenstehende Praxis."- Die Verf. Brasiliens von 1988 (zit. nach L. Lopez Guerra/L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992, S. 73 ff.) verdient wegen ihrer Postulierung des "Vorrangs der Menschenrechte" (Art. 4 Abs. II) und der Aussage in Art. 5 Abs. LXXVII § 1 Beachtung ("Die definitorischen Grundrechtsnormen und -garantien werden unmittelbar angewandt"). In § 2 ebd. findet sich eine Variante der Grundrechtsentwicklungsklausel. 296 Zum folgenden P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, aaO., S. 739 (758).- Ebd. S. 155 f. insbes. zu Art. 8 Verf. des Kleinstaates der Seychellen (1979), mit beachtlichen Interpretationsmaximen in Sachen Präambel sowie i.S. einer ganzheitlichen Auslegung der Verfassung. Vgl. auch oben Vierter Teil I Inkurs B.
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"The following constitute sources of the law: a) The written norms b) The unwritten norms The unwritten norms serve to make up, delimit or interpret the written norms and have rank of the norm which they delimit or interpret. When it tries to make up for the absence of a written norm, the unwritten norm has rank of law. c) Written sources of Law by their order are: First, the Fundamental Law, Second, the International Treaties, Third, the laws and the decree-laws Fourth, the by-laws. d) Unwritten sources are: First, the customs or the traditional practices, Second, the general principles of law, and Third, the Jurisprudence." Wenn es eines Beweises bedürfte, wie erfindungsreich sowohl Entwicklungsländer· als auch Kleinstaaten-Verfassungen sein können und wie sie den Typus Verfassungsstaat in Einzelfeldern pionierhaft voranbringen, so wäre dieser Art. 139 zu nennen. Jede eurozentrische Selbstgefälligkeit in Sachen Verfassungslehre wird durch solche Textleistungen Lügen gestraft, und einmal mehr bestätigt sich die weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat. Was bei uns Lehrbücher zur Methodenlehre mühsam genug über die Rechtsquellen erarbeiten, wurde in Äquatorial Guinea 1982 auf den Begriff und Text gebracht (anders aber jetzt Verf. von 1991). Daß es in jenem afrikanischen Land "Vollzugsdefizite" geben mag, insofern etwa Art. 139 nicht sogleich zur Verfassungswirklichkeit wird, ist eine andere Frage. Hier steht zur Diskussion, daß ein Art. 139 die Textstufenentwicklung als weltweiten Vorgang beweist und den kleineren Staaten insgesamt zur Zierde gereicht. Sie können in ihren Verfassungen in Teilbereichen modellhaft am Typus des Verfassungsstaates weiterarbeiten, so sehr sie vielleicht in anderen Problembereichen Nachholbedarf haben bzw. Defizite aufweisen. Von hoher Originalität zeugt Art. 4 Verf. des Kleinstaates Tuvalu (1986) zur Interpretation der Verfassung. Er verweist auf Interpretationsregeln im Anhang und er verlangt für jede Verfassungsinterpretation die Übereinstimmung mit den Prinzipien der Präambel. Diese ausführlichen "Rules for the Interpretation of the Constitution" wiederholen in Ziff. 3 die fundamentale Bedeutung der Präambel für die Verfassung, ihre Ziff. 4 enthält aber eine fast sensationelle Aussage: "4. Meaning of language used (1) This Constitution is intended to be read as a whole. (2) All provisions of this Constitution, and all words, expressions and statements in this Constitution, shall be given their fair and liberal meaning, without unnecessary technicality."
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Was in Deutschland als "ganzheitliche Verfassungsinterpretation", als Auslegung der Verfassung als "Einheit" und unter dem Stichwort "praktische Konkordanz" 297 diskutiert und praktiziert wird, ist hier in einen Verfassungstext eingegangen - scheinbar am "Ende der Welt". Gerade dieses Beispiel zeigt die Innovationskraft von kleinstaatlichen Verfassungen und den weltweiten Rezeptions- und Produktionszusammenhang, in dem sie entstehen, sich entwikkeln und weiterwirken. c) Verfassungen und Verfassungsentwürfe postkommunistischer Staaten vor allem in Osteuropa Die Konstitutionalisierung der Rechtsquellen ist eine Leistung der osteuropäischen Verfassungstexte. Gewiß, einige Kleinstaaten und manche Entwicklungsländer machen das Rechtsquellen-Problem jüngst zum Thema ihrer Texte 2 9 8 , insofern rezipiert Osteuropa hier nur eine Entwicklung in bzw. aus Übersee. Was in den alten bzw. klassischen Verfassungsstaaten ein Stück selbstverständlicher "ungeschriebener" Rechtskultur und unbezweifelbarer Praxis ist, wird jetzt auf Texte gebracht. Das mag seine Gründe haben: Der demokratische Zentralismus der sozialistischen Staaten schob wie jeder totalitäre Staat (man denke an den NS-Führerbefehl als oberste Rechtsquelle!) den gemeineuropäisch praktizierten "Stufenbau" der Rechtsordnung beiseite. Er ist aber für den Verfassungsstaat mit seinen Elementen des Vorrangs der Verfassung und des Vorbehalts des demokratischen Gesetzes, auch der kontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit konstitutiv. Das muß erst wieder "gelernt" und "trainiert" werden, daher die Thematisierung der Rechtsquellenhierarchie. Besonders ausführlich geht hier der Verfassungsentwurf des polnischen Senats (1991) vor. Er rückt ein eigenes Kapitel "Les Sources de la Loi" in die Verfassung ein (mit 10 Artikeln: Art. 48 bis 58) und bestimmt eingangs in Art. 48 Abs. 1 : "Les sources de la Loi de la République Polonaise sont: La Constitution de la République Polonaise, les lois organiques, les lois, les décrets et arrêtés du pouvoir exécutif, les normes du droit local ainsi que les accords internationaux et les normes coutumières du droit international dans les limites indiquées par la Constitution."
297 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 28, 142; BVerfGE 93, 1 (21, 23). 298 Nachweise in P. Häberle, in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 739 (755 ff.).- Polnische Texte zit. nach JöR 43 (1995), S. 184 ff. Zum ganzen schon oben Vierter Teil I Inkurs A.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Art. 48 Abs. 3 präzisiert dann sogar: "Aucune disposition légale de niveau inférieure ne peut pas être contradictoire à la norme hiérarchiquement supérieure." Art. 3 und 4 Verfassungsentwurf Polen/Sejm (1991) enthalten kein Rechtsquellen-Kapitel, aber doch Rechtsquellen-Aussagen: Art. 3: "The law of the Republic of Poland is formed'by the Constitution, statutes, ratified international agreements and executive orders." Art. 4: " 1. Laws of the Republic of Poland shall accord with ratified international agreements and generally recognized principles of international law. 2. Ratified international agreements shall have priority over laws in cases they are not compatible with the laws." Verf. Polen von 1997 normiert ein eigenes Rechtsquellen-Kapitel III. Art. 5 Verf. Bulgarien (1991) bestimmt: "( 1 ) La Constitution est la loi suprême et les autres lois ne peuvent la contredire. (2) Les dispositions de la Constitution ont une action directe. (3) (4) Les accords internationaux, ratifiés par ordre constitutionnel, publiés et entrés en vigeur à l'égard de la République de Bulgarie, font partie du droit interne de l'Etat. Ils ont la priorité sur les normes de la législation interne qui sont en contradiction avec eux." Der Verfassungsentwurf Estland (Dez. 1991) sieht in Art. 3 vor: "State authority in Estonia shall be exercised solely on the basis of the Constitution and legislation which is in agreement with the Constitution. No one can plead ignorance of the law as an excuse... Generally recognized norms and principles of international law shall be an inseparable part of the Estonian legal system." Dieser Verfassungsentwurf hat einen Artikel 42 geschaffen, der für sein Problemfeld die, im weltweiten Vergleich gesehen, derzeit wohl beste Lösung darstellt. Art. 42 lautet: "The rights, liberties and duties listed in the present Chapter shall not preclude other rights, liberties and duties which are in the spirit of the Constitution, or are in concordance with it." Damit ist eine vorbildliche "Grundrechtsentwicklungsklausel" gelungen, d.h. der Verfassunggeber hält die weitere Entwicklung von Grundrechten über den geschriebenen Text hinaus offen, er nimmt sie vorweg i.S. einer Art "constitutional law in action". Was in anderen Verfassungen oft mühsam und künstlich genug einem Grundrechtstext unterlegt wird, in Wahrheit Grundrechtsschöpfung ist, kann sich nach Art. 42 Verfassungsentwurf Estland freier,
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
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offener und ehrlicher entwickeln. Dabei ist die Berufung auf den "Geist der Verfassung" besonders geglückt, um der späteren Entwicklung von Grundrechten in die Zukunft hinein Kraft und Raum zu geben. Adressaten sind alle drei Staatsftinktionen. Diese Formel vom "Geist der Verfassung" - die Erinnerung an Montesquieus "Geist der Gesetze" liegt nahe - schafft eine feine Verbindung von Elementen der Bewahrung und Offenheit, der Statik und Dynamik. Der "Geist der Verfassung" meint zunächst den Geist der je geltenden Verfassung, aber dieser hängt eben nicht am Buchstaben und "weht" zwar nicht, "wo er will", ist aber doch im Sinne Goethes bzw. Hellers "geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Dabei baut der Passus "or are in concordance with it" ein zusätzliches Moment von Flexibilität ein. Estland hat sich mit dieser Klausel in einem Zug an die Spitze einer verfassungsstaatlichen Textstufenentwicklung gestellt, die in der deutschen Staatsrechtslehre bislang kaum beachtet wurde. Formal ist Art. 42 Verfassungsentwurf Estland eine "Auslegungsregel", der Sache nach wächst er in eine dem Verfassungsstaat von heute gemäße Grundrechtsentwicklungsklausel für alle drei Staatsftinktionen hinein 299 . Während die Verf. Sloweniens (1991) 300 mit der Völkerrechtsfreundlichkeit Ernst macht (Art. 8: "Gesetze und andere Vorschriften müssen mit den allgemeinen gültigen Grundsätzen des Völkerrechts ... in Einklang stehen") und dabei eine Rechtsquellenaussage trifft und während sie in Art. 15 Abs. 1 und 2 die Menschenrechte und Grundfreiheiten in neuer Textform zu optimieren sucht ("... werden unmittelbar aufgrund der Verfassung ausgeübt..."), treibt die Verf. der Tschechischen Republik (1992) in mehreren Kontexten die Textstufenentwicklung in Sachen Rechtsquellen und Auslegungsregeln voran. Art. 3 integriert die EMRK zum Bestandteil der Verfassung (vgl. auch Art. 112) mit den Worten: "Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bildet einen Bestandteil der Verfassungsordnung...". Art. 10 räumt ratifizierten und verkündeten Abkommen zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten "Vorrang vor dem Gesetz" ein, und Art. 9 Abs. 3 schafft eine
299 Die Verf. Estlands von 1992 verbessert sich in Art. 10 wie folgt: "The rights, liberties and duties enumerated in the present Chapter shall not preclude other rights, liberties or duties which ensue from the spirit of the Constitution or are compatible with human dignity and the principles of a society based on social justice, democracy and the rule of law" (zit. nach JöR 43 (1995), S. 306 (307)). Der Verf. Georgiens (1995) gelingt eine beachtliche Variante in Art. 39: "The Constitution of Georgia does not reject other universally recognized rights, freedoms and guarantees of the person and citizen, which are not spezified in it, but arise from the principles of the present Constitution".- Auslegungsvorschriften finden sich auch sonst schon in universalen und regionalen Menschenrechtspakten, vgl. Art. 30 Allg. Erklärung der Menschenrechte der UN (1948), Art. 46 IP BürgR (1966), Art. 25 IP WirtR (1966), Art. 16 bis 18 EMRK (1950). 300 Zit. nach JöR 42 (1994), S. 88 ff.
332
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
neue Auslegungsregel ("Keine Auslegung von Rechtsnormen kann als Ermächtigung zur Abschaffung oder Gefährdung der Grundlagen des demokratischen Staates dienen"). Die Verfassung der Russischen Föderation (1993) 301 statuiert den Vorrang der Verfassung (Art. 4 Abs. 2), auch erklärt sie (vorsichtiger) die "allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts" zu Bestandteilen des Rechtssystems der Föderation (Art. 15 Abs. 4). In Art. 17 Abs. 1 findet sich eine bemerkenswerte Verklammerung der "Rechte und Freiheiten des Menschen" mit den "allgemeingültigen Prinzipien und Normen des Völkerrechts", und Art. 18 erläutert die unmittelbare Geltung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers mit den Worten: "Sie bestimmen den Sinn, Inhalt und Anwendung der Gesetze... und werden durch die Rechtsprechung garantiert". Damit sind die verfassungsstaatlichen Regeln von der "grundrechtskonformen Auslegung" auf einen Text gebracht 302 . d) Verfassungen
im südlichen Afrika
Jüngst hat Südafrika höchst kreativ eine neue Textstufenentwicklung in Sachen Grundrechts- bzw. Verfassungsinterpretation eingeleitet. Art. 36 der Übergangsverfassung von 1993 nimmt in Abs. 1 auf die einer offenen und demokratischen Gesellschaft zugrundeliegenden "Werte" Bezug, die auf Freiheit und Gleichheit beruhen, nimmt auf Wirklichkeit Bezug und überdies auf "vergleichbares ausländisches Fallrecht" 303 , und Abs. 2 ebd. befaßt sich mit einer den Wortlaut hinter sich lassenden verfassungskonformen Grundrechtsauslegung mit dem Vernünftigkeits-Argument 304 . Abs. 3 normiert eine neue "Geist-Klausel" in Sachen Grundrechte 305.
301 Zit. nach J.C. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 381 ff. 302 S. auch Art. 5 Abs. 1 Verf. Turkmenistan (1992), zit. nach JöR 42 (1994), S. 674 ff.: "Der Staat, all seine Organe und Amtspersonen sind an Recht und Verfassung (!) gebunden." Abs. 2: "Die Verfassung Turkmenistans ist höchstes Staatsgesetz. Die verfassungsimmanenten Regeln und Leitsätze gelten unmittelbar...". 303 Vgl. den Text im Abschnitt Übergangs- und Schlußbestimmungen: Sechster Teil VIII Ziff. 15.- S. auch die Interpretationsregel in Verf. Malawi (1994): Art. 10 Abs. 2 lit. c "... have regard to current norms of Public international law and comparable foreign case law...".
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
333
Der Mai Verfassung Südafrikas von 1996 gelingt ein zusätzlicher Reifungsprozeß in Gestalt ihres Art. 39, wobei das Problem textlich noch klarer gefaßt ist und eine Grundrechtsentwicklungsklausel hinzugefügt wird. "Interpretation of Bill of the Rights... ( 1 ) When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum (a) must promote the values that underlie an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom; (b) must consider international law; and (c) may consider foreign law. (2) When interpreting any legislation, and when developing the common law or customary law, every court, tribunal or forum must promote the spirit, purport, and objects of the Bill of Rights. (3)The Bill of Rights does not deny the existence of any other rights or freedoms that are recognized or conferred by common law, customary law or legislation, to the extent that they are consistent with the Bill." Bemerkenswert ist hier nicht nur die behutsame Anknüpfung an die Common law Tradition, auch die Unterscheidung zwischen Völkerrecht und ausländischem Recht sowie die kluge Geistklausel sollten beachtet werden, vor allem aber, die Positivierung der Rechtsvergleichung als Auslegungsmethode. Die Krone gebührt freilich der Provinzverfassung von Kwazulu Natal vom 15. März 1996. Ihr in die Übergangsbestimmungen (Kapitel 14) "verbannter" Interpretations-Artikel befindet sich auf dem höchsten Standard moderner Kunst der ganzheitlichen, textorientierten und kontextsensiblen, wertgebundenen Verfassungsinterpretation (Artikel 3 Abs. 1): "The language of this Constitution shall be interpreted as a whole, on the basis of the meaning of its text, and, when necessary or appropriate, in the context of the principles and values expressed by this Constitution as well as domestic and broadly recognized principles of constitutionalism in democratic countries in which a constitution is the supreme law of the land".
,04
"No law which limits any of the rights entrenched in this Chapter, shall be constitutionally invalid solely by reason of the fact that the wording used prima facie exceeds the limits imposed in this chapter, provided such a law is reasonabl capable of a more restricted Interpretation which does not exceed such limits, in which event the law shall be construed as having the said more restricted meaning". ,05 "In the Interpretation of any law and the application and development of the common law and customary law, a court shall have due regard to the spirit, purport and objects of this Chapter".
334
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Der moderne "Konstitutionalismus" und seine Interpretationsregeln einschließlich des Vorrangs der Verfassung sind wohl bislang kaum besser auf den Punkt bzw. einen Verfassungstext gebracht worden. e) Insbesondere: "Allgemeine Rechtsgrundsätze" als ausdrückliche Rechtsquelle Große Beispieltexte in Sachen "allgemeine Rechtsgrundsätze" 306 finden sich in vielen Zeiten und Räumen und sie belegen, wie sehr diese Figur Bestandteil der europäischen Rechtskultur ist. So sagt § 7 des österreichischen ABGB (1811), in zweifelhaften Rechtsfällen solle "mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden". Der italienische Codice civile (1865) nannte in Art. 3 die "principi generali di diritto", und Art. 12 des neuen Codice civile (1942) spricht von "principi generali dell'odinamento giuridico dello Stato". Im Katalog der vom IGH anzuwendenden Rechtssätze findet sich in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut (1945) unter lit. c die Formel: "die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" 307. An den oben analysierten Art. 233 Ziff. 6 Verf. Peru (1979) sei erinnert, auch an Art. 139 lit. d der (alten) Verf. Äquatorial Guineas. Jüngst spricht can. 19 CIC (1983) von "allgemeinen Rechtsprinzipien unter Wahrung der kanonischen Billigkeit". f) Exkurs: Rechtsquellenaussagen in nicht-verfassungsrechtlichen Texten bzw. Kodifikationen Ein Blick auf außerverfassungsrechtliche Rechtstexte sehr unterschiedlicher Rechtsgebiete könnte hilfreich sein, bietet sich hier doch ein buntes Bild von Aussagen. Gerade die Heterogenität der Rechtsgebiete könnte darüber Aufschluß geben, wie "allgemein" die Rechtsquellen sind und welche Besonderheiten verfassungsstaatliche Verfassungen auszeichnen. Unter den nichtstaatlichen Rechtstexten zu Rechtsquellen ragen die Aussagen des CIC (1983) heraus. Im Titel I finden sich Klauseln zur "authentischen" Interpretation (can. 16 § 1) 306 Dazu aus der Lit.: P. Liver , Der Begriff der Rechtsquelle (1955), in: ders., Privatrechtliche Abhandlungen, 1972, S. 31 (55 ff.).- Bemerkenswert §§ 47/48 Einleitung ALR (1794), wonach bei Lücken der Richter nach den im Landrecht angenommenen allgemeinen Grundsätzen entscheiden soll, dazu H. Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1993, S. 230. 307 P. Pescatore spricht von "Einfallstor" für eine ungeschriebene Rechtsquelle, zit. nach T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 159.- In der Schweiz findet sich in § 7 BinnenschiffahrtsG die Figur der "allgemeinen Rechtsgrundsätze".
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
335
oder zur Auslegungskunst wie can. 17: "Kirchliche Gesetze sind zu verstehen gemäß der eigenen Bedeutung ihrer Worte, die im Text und Kontext zu betrachten sind; wenn sie zweifelhaft und dunkel bleibt, ist zurückzugreifen auf Parallelstellen, wenn es solche gibt, auf Zweck und Umstände des Gesetzes und auf die Absicht des Gesetzgebers." In can. 19 findet sich sogar eine Bezugnahme auf Rechtsquellenprobleme. Bei Fehlen ausdrücklicher Vorschriften ist die Sache zu entscheiden "unter Berücksichtigung von Gesetzen, die für ähnlich gelagerte Fälle erlassen worden sind, von allgemeinen Rechtsprinzipien unter Wahrung der kanonischen Billigkeit sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung und Rechtspraxis der Römischen Kurie und der gemeinsamen und ständigen Ansicht der Fachgelehrten." Die Hierarchie der Rechtsquellen 3 0 8 zeigt sich in can. 24 § 1 : "Keine Gewohnheit kann die Kraft eines Gesetzes erlangen, die dem göttlichen Recht zuwiderläuft". An die Prägnanz römischer Juristen erinnert can. 27: "Die Gewohnheit ist die beste Auslegerin der Gesetze". Aus dem Europarecht sei neben dem "Rechtsquellen-Artikel" 189 EGVertrag (zu Verordnungen, Richtlinien etc.) und dem Auftrag des EuGH zur "Wahrung des Rechts" (Art. 164) 309 vor allem an den Textpassus in Art. 215 Abs. 2 (1957) erinnert, wonach die außervertragliche Haftung sich bestimmt "nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind" (ebenso Art. 188 Abs. 2 Euratom von 1957). In der Literatur wird darin eine Ermächtigung an den EuGH zur "richterlichen Rechtsfortbildung" gesehen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze werden dabei "auf den Rang einer nur hilfsweisen Rechtsquelle" verwiesen 310 , und wenn der EuGH in ständiger Praxis höchst schöpferisch viele Grundrechte und Prinzipien als "allgemeine Rechtsgrundsätze" qualifiziert, "die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind" 311 , so zeigt sich hier die Vehikel-Funktion und Schöpferkraft dieser gemeineuropäischen Rechtsfigur.
,08
Die Rechtsquellen und ihre Hierarchie kommen auch in anderen Canones des CIC prägnant zum Ausdruck, etwa in can. 1075 § 1 ("göttliches Recht"), in can. 1163 § 2 ("Naturrecht oder positives göttliches Recht"), can. 1290 ("göttliches Recht"), can. 1315 § 1 ("göttliches Gesetz").- Bemerkenswert sind auch die Auslegungsregeln in der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969: neben Art. 26 ("Treu und Glauben") vor allem die "allgemeinen Auslegungsregeln" des Art. 31 (Einbeziehung von Präambel und Anlage eines Vertrags, auch der "späteren Übung") sowie die ergänzende Auslegung zur Vermeidung eines "offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnisses" (Art. 32 lit. b). 309 Dazu I. Pernice , Art. 164, in: E. Grabitz (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag (Stand 1992). 3,0 So E. Grabitz, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 215, Rn. 12. ,M Dazu T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 158 ff.
336
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen 3. Verfassungstheoretische Überlegungen
Der hier unternommene Textstufenvergleich veranlaßt zu bestimmten verfassungstheoretischen Aussagen über die "Rechtsquellen", so wie die neueren Verfassungstexte ihrerseits im Lichte der Theorie des Typus Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe zu "lesen" sind. a) Die Fragwürdigkeit
des Sprachbildes "Quelle"
So sicher es ist, daß die Rechtsquellenlehre - heute schon wegen der positiven Verfassungstexte - ein zentrales Kapitel jeder vergleichenden Verfassungslehre bilden muß, so fragwürdig erscheint das Sprachbild "Rechtsquelle". Denn es suggeriert, das Recht folge mehr oder wenig "fertig", "vorhanden" und vorgegeben aus "einer" Ursache. Zu wenig ist dabei berücksichtigt, daß das Recht "law in action" (J. Esser) ist bzw. erst durch und in der Interpretation "wird" 312. Auch kann das "Quellenbild" schwerlich die konstitutive Bedeutung der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" zum Ausdruck bringen 313 . Das Sprachbild "Rechtsquelle" wird im Schrifttum zwar da und dort durchaus kritisiert oder korrigiert, aber nicht eigentlich radikal in Frage gestellt 314 . M.E. läßt sich der Begriff "Rechtsquelle" heute, wenn überhaupt, so nur noch mit vielen Frage- und Anführungszeichen gebrauchen: zu produktiv wirken die Interpreten, zu vieldeutig sind die auszulegenden Rechtsbegriffe und zu offen ist der Kanon denkbarer "Rechtsquellen" im Verfassungsstaat 315.
312
Schon klassisch: BVerfGE 75, 223 (243 f.): "...ebensowenig aber können Zweifel daran bestehen, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich "la bouche qui prononce les paroles de la loi"; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtschöpfungen... Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen." - Treffend auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 7: "Gesetze, dogmatische Theorien und Präjudizien (Rechtsprechung) wirken aufeinander ein und bedingen sich gegenseitig". 313 Dazu mein Beitrag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff, auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 155 ff. sowie oben III Ziff. 1 Inkurs A. 314 Vgl. etwa F. Ossenbühl, aaO., S. 282; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: HdbStR Bd. I (1987), S. 775 (778). 315 M.a.W.: Der "Konkretisierungs- und Positivierungsvorgang" von Recht hat im Verfassungsstaat, zumal im europäischen, keinen präzise zu bestimmenden Anfang und kein absolutes Ende!
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
337
Das schließt nicht aus, daß gewiße hier systematisierte Aussagen über "Rechtsquellen" sich schon in den Verfassungstexten finden. Ihre "gute Ordnung" gehört sogar in eine (geschriebene) verfassungsstaatliche Verfassung 316. Doch kann und will das nicht die Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat in Frage stellen. Es gibt im Verfassungsstaat keinen numerus clausus an "Rechtsquellen". Ihre Aufzählung kann nur exemplarisch sein. Im übrigen ist mehr als fraglich, ob die übliche Unterscheidung zwischen "formalen Rechtsquellen" und "Rechtserkenntnisquellen" aufrecht erhalten werden kann 3 1 7 . Das "Richterrecht" hat sich längst "zwischen" diesen Kategorien etabliert 318 . Im Typus Verfassungsstaat wird die alte Alternative Gesetzes· oder Richterrecht immer mehr zu einem Sowohl-Als-auch von beiden "Rechtsquellen". b) Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat Schon der Verfassungsvergleich legt es nahe, das Wort von der Pluralität und Offenheit der "Rechtsquellen" zu wagen. Kein geringerer als J. Esser hat dem vorgearbeitet, wenn er von dem "pluralistischen Charakter (nicht dem bloßen 'Stufenbau') unserer Rechtsquellen" spricht 319 und wenn er nach einer "realistischen", den Etatismus überwindenden Rechtsquellenlehre Ausschau hält 3 2 0 . Die Verfassungen nennen zwar heute zunehmend bestimmte Rechtsquellen, sie legen sich aber kaum auf einen abgeschlossenen Kanon fest, sie bauen vielmehr immer lieber denkbar offene Rechtsquellen ein, wie (internationale) Menschenrechte, allgemeine Rechtsgrundsätze, sogar pauscha-
316 Überzeugend J. Esser, aaO., S. 121, für den die Rechtsfindungsregeln zum "Verfassungsrecht judizieller Normsetzung" gehören, wie die Regeln der politischen Verfassung über den Gang der Legislative. 317 Zuletzt etwa wieder bei E. Schmidt-Aßmann, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerechtigkeit in der EG weiterzuentwickeln?, JZ 1994, S. 832 (insbes. 839). 318 Zum Streit, ob das Richterrecht "Rechtsquelle" sei, etwa W. Fikentscher, Die Bedeutung von Präjudizien im heutigen deutschen Privatrecht, in: U. Blaurock (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 11 ff; J. Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht (1967), in: ders., Wege der Rechtsgewinnung, hrsgg. von P. Häberle und Hans G. Leser, 1990, S. 160 ff. 319 AaO., S. 14, 291. S. auch N. Luhmann, Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht, in: FS R. König, 1973, S. 387 (191): "Die zentrale Frage des jurisprudentiellen Umgangs mit "Rechtsquellen" dürfte heute darin liegen, ob man weiterhin von einer Mehrheit von verschiedenartigen Rechtsquellen ausgehen solle oder nicht...". 320 Ebd. S. 120 ff., 241 ff., 287 ff. u.ö.
338
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
le Verweise auf "das Recht". Das ist nicht nur ein Befund, sondern läßt sich auch philosophisch rechtfertigen. Das Stichwort "Zeit und Verfassung" bzw. "Zeit und Verfassungskultur" 321 deutet auf die Hintergründe: Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen sind eines unter anderen Instrumenten und Verfahren (von der Total- und der Teilrevision von Verfassungen über gesetzliche Experimentierklauseln bis zu Sondervoten von Verfassungsgerichten), die dem Verfassungsstaat ermöglichen, Kontinuität und Wandel, Stabilität und Flexibilität in der Zeit in Balance zu halten. Gerade die flexiblen "Mischungen" sowohl der Auslegungsmethoden wie der "Rechtsquellen" erlauben die Bewährung des Verfassungsstaates "im Laufe der Zeit". c) Insbesondere: "neue"Rechtsquellen Die neueren Verfassunggeber zeichnen sich u.a. dadurch aus, daß sie sich gegenüber neuen Rechtsquellen buchstäblich "aufgeschlossen" zeigen. Teils normieren sie "alte" in neuer Gestalt: etwa in Form der klar ausgesprochenen Vorrangklauseln zugunsten der Verfassung, teils nennen sie genauer alte oder ganz neue Rechtsquellen: nämlich allgemeine Rechtsgrundsätze, international anerkannte Menschenrechte, andere als die schon geschrieben "vorhandenen" Grundrechte (Grundrechtsentwicklungsklauseln), gelegentlich auch Naturrecht. Diese "neuen" Rechtsquellen stellen eine Bereicherung der Rechtsfindungsprozesse dar; freilich machen sie diese auch "komplizierter". Sie betten den Verfassungsstaat nach außen in übergreifende regionale und universale Zusammenhänge einer "Weltgesellschaft" bzw. Menschheit ein und sie erlauben nach innen eine Verfeinerung der Rechtsbildungsprozesse und damit ein Mehr an Gerechtigkeit. Überdies ermöglichen sie, Rechtserfahrungen anderer Rechtsgemeinschaften, insbesondere (benachbarter) Verfassungsstaaten nutzbar zu machen - so wie das (Rechts-)Vergleichen ein Gewinn sein kann. Die nationalen Verfassunggeber sind dafür zu rühmen, daß sie es gewagt haben, die Palette möglicher Rechtsquellen beim Namen zu nennen und zu integrieren, womit sie "klassische" Souveränitätslehren ebenso aufgebrochen haben wie das simple Stufenbau-Denken.
321
Im Sinne meiner einschlägigen Arbeiten von 1974 bzw. 1984 in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 ff. bzw. in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 627 ff. Vgl. auch oben Vierter Teil IV.
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
339
d) Wechselseitige Einflüsse statt einseitiger Über- und Unterordnung der Rechtsquellen Ein weiterer Aspekt der hier vorgeschlagenen "Revision" der klassischen Rechtsquellenlehre läßt sich weniger aus der Textstufenentwicklung ablesen als in der Praxis beobachten. Er sei wenigstens angedeutet. Die neueren Verfassunggeber normieren zwar, wie gezeigt, sehr häufig den "Vorrang der Verfassung" 322 . Sie wollen und können aber dadurch nicht ausschließen, daß der vielzitierte "Stufenbau der Rechtsordnung" der Wiener Schule nur die eine Seite des Wirkens der "Rechtsquellen" ist. In der Praxis der Rechtsanwendung, im "hermeneutischen Geschäft der Auslegung" kommt es oft zu einem schöpferischen Zusammenwirken und vielgliedrigem Zusammenspiel der verschiedenen "Ebenen", das sich nicht auf das Bild der "Hierarchie" bringen läßt. So wirken Verfassungsprinzipien und gesetzgeberische Ausgestaltungen im Grundrechtsbereich vielfältig zusammen 323 , so findet neben der verfassungskonformen Auslegung der Gesetze eine "gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung" statt 324 . Auch der Einfluß der den nationalen Verfassungsstaat transzendierenden "allgemeinen Rechtsgrundsätze", z.B. im Sinne des Europa325 rechts , läßt sich nicht mehr mit dem Bild der "Hierarchie" einfangen. Gleiches gilt für die innerstaatlich angeordnete oder sich sonst durchsetzende Wirkung der Menschenrechte: Ihr "Universalismus" relativiert den Nationalismus 326 . 322
Dazu dogmatisch: R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff; zuletzt zum Stufenbau der Rechtsordnung: T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, insbes. S. 174 ff.- Für die englischsprachige Welt typisch sind Sätze wie "Constitution to be supreme law" (vgl. Art. 6 Verf. Malta von 1964/92, zit. nach JöR 41 (1993), S. 444 ff.) oder "This Constitution shall be the Supreme Law of Namibia" (Art. 1 Abs. 6 Verf. Namibia von 1990, zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff.). Die neue Verf. von Kanada (1981, zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.) "textet" schon im Vorspruch vor Art. 1: "Whereas Canada is founded upon principles that recognize the supremacy of God and the rule of law". 323 Zu diesen "Wechselwirkungen": P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl., 1962, S. 210 ff., 3. Aufl., 1983, S. 210 ff., 342 ff. 324 Dazu K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 33. 325 Vgl. T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 158 ff.- Die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" sind hier als spezifisch verfassungsstaatliche Rechtsquelle verstanden. Sie überschneiden sich nur z.T. mit den in der Literatur diskutierten "allgemeinen Rechtsgedanken", dazu überzeugend H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 82 ff. 326 Zur Menschenrechtsfreundlichen Auslegung: K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung ..., AöR 114(1989), S. 391 ff. 25 Häberle
340
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Im ganzen entwickelt sich das Recht durch Interpretation von Geschriebenem und Ungeschriebenem und durch pluralistisches Zusammenwirken von vielen "Stufen" und "Räumen". e) Abschied vom nationalstaatlichen Etatismus der Rechtsquellenlehre, die "Europäisierung" der Rechtsquellen Die bisherigen Ausführungen legen es im Zusammenhang mit Textaussagen der neueren Verfassungen nahe, erklärtermaßen vom nationalstaatlichen Etatismus herkömmlicher Rechtsquellenlehren Abschied zu nehmen. Dieser Gedanke durchzieht bahnbrechend das Werk "Grundsatz und Norm" von J. Esser für das Zivilrecht; er müßte und kann auch der Verfassungslehre zum Vorbild dienen. Hier nur einige Stichworte: Das Vordringen der Kategorie "allgemeine Rechtsgrundsätze" bricht die Staatlichkeit der Rechtsquellen ebenso auf, wie dies die mehr oder weniger klar ausgesprochenen Bezugnahmen auf vorstaatliche, "vorpositive" Rechtsgrundsätze, in welcher Form auch immer tun: als "universale Menschenrechte", als "Recht", im Wege von "Grundrechtsentwicklungsklauseln" etc. Vor allem sind hier die Vorgänge einschlägig, die z.B. in Europa an die Entstehung eines "Gemeinrechts" denken lassen 32 . In dem Maße, wie sich nationale Verfassungslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit "europäisieren", bereichert sich der nationalstaatliche "corpus juris", pluralisieren sich die nationalstaatlichen Rechtsquellen, öffnet sich der innerstaatliche Kanon nach "außen". Insbesondere sind alle Entwicklungen, die es erlauben, die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode - nach den klassischen vier von F.C. von Savigny - zu qualifizieren 3 8 , ein Abschied von, mindestens aber eine entscheidende Relativierung des nationalstaatlichen Etatismus in der Rechtsquellenlehre. Diese Entwicklung kennzeichnet den Verfassungsstaat auf seiner heutigen Textstufe, die nicht "Papier" geblieben ist, sondern auch die Verfassungswirklichkeit prägt.
327 Dazu für das Verfassungsrecht mein Beitrag: Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff., auch in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff.Aus der Lit. zum gemeineuropäischen Zivilrecht (H. Kötz) nur: R. Zimmermann, Das römisch-kanonische ius commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit, JZ 1992, S. 8 ff.; P. Ulmer, Vom deutschen zum europäischen Privatrecht, JZ 1992, S. 1 ff. 328 Dazu P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.; s. auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl., 1991, S. 117.
VI. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat
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4. Verfassungspolitischer Ausblick Aufgabe einer Verfassungslehre ist es auch, behutsam verfassungspolitische Maximen, am besten in Gestalt von Alternativen, vorzuschlagen 329. Sie leistet damit ein Stück "wissenschaftliche Vorratspolitik". Welche Prinzipien in Sachen Rechtsquellen können den künftigen nationalen Verfassunggebern empfohlen werden? Auf keinen Fall sollten umfassende detaillierte Rechtsquellenkataloge nach dem Muster des Entwurfs des polnischen Senats (1991) normiert werden. Denn sie suggerieren die Idee eines numerus clausus der Rechtsquellen. Der Verfassungsstaat der offenen Gesellschaft tut indes gut daran, sich zu Pluralität, Offenheit und Flexibilität seiner "Rechtsquellen" zu bekennen damit z.B. auch inskünftig neue Rechtsquellen entstehen können! Sodann: Das Prinzip des Vorrangs der Verfassung sollte schon wegen der ihm entsprechenden Verfassungsgerichtsbarkeit beim Namen genannt werden - gerade jüngere Entwicklungsländer ohne traditionsreiche Rechtskultur und die postkommunistischen Verfassungsstaaten Osteuropas tun gut daran, weil sie die "Rechtsanwender" erst noch "trainieren" müssen. Im übrigen sollten die Verfassunggeber i.S. der pluralistischen Rechtsquellenlehre sehr gezielt in dem jeweils systematisch einschlägigen Zusammenhang die Vielfalt der "neuen" Rechtsquellen zum Ausdruck bringen: im Kontext von Völkerrechts-Artikeln als Verweis auf "allgemeine Rechtsgrundsätze", ebenso im Kontext von Europa-Artikeln 330 . Die in den Verfassungsstaat hineinwirkenden universalen (oder regionalen) Menschenrechte sollten als "dynamische Verweise" und "eigene" Rechtsquelle so kenntlich gemacht werden, wie dies manche Verfassungen bereits wagen. Überdies sind "Grundrechtsentwicklungsklauseln" nachdrücklich zu empfehlen. Das entspricht der Einsicht, daß die Menschenrechte eine kulturanthropologische Basis des Verfassungsstaates bilden und die Menschheit ein Zurechnungspunkt der Verfassung der Völkergemeinschaft wird 3 3 1 . Nachdem bisher Interpretation und Rechtsquellen im Vordergrund standen, muß im folgenden der Schritt zu den Verfassungstexten selbst getan werden: ihr "Verständnis" und ihre raum/zeitlich betrachtet stupende Vielfalt ist mehr
,29
Vgl. in diesem Sinne, an Beispielen wie Staatsaufgaben, Ewigkeitsklauseln illustriert, meine Vorschläge in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 583 ff., 621 ff., u.ö.- S. auch den Beitrag des Verf.: "Jus et Lex" als Problem des Verfassungsstaates, in: FS L. Adamovich, 1992, S. 137 (141 f.). 3j0 Dazu mein Beitrag: Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe, in: FS Everling, 1995, S. 355 ff. 331 Dazu mein Aufsatz: Nationaler und internationaler Kulturgüterschutz, in: F. Fechner/T. Oppermann (Hrsg.), Kulturgüterschutz, 1996, S. 91 ff. S. noch unten Sechster Teil XII.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
als Material. Die Verfassungstexte "machen" im Rahmen der programmatisch als Text- und Kulturwissenschaft gewagten vergleichenden Verfassungslehre diese recht eigentlich erst möglich. Anders gesagt: Die Verfassungslehre wird aus den Verfassungstexten gearbeitet und erarbeitet: speichern sie doch in besonderer Weise Wirklichkeit und Praxis, aber auch Wissenschaft und Theorie, sofern man sie buchstäblich "zusammen-liest".
VII. Die verfassungstextliche Vielfalt und das "gemischte Verfassungsverständnis" 1. Das Textstufenparadigma a) Problem und Ausgangsthese Die historische und kontemporäre Textstufen-Analyse wurde bislang für mehrere Einzelfelder erprobt: etwa für Eigentum und Arbeit, Wissenschaftsund Kunstfreiheit, Familie und die Staatsaufgaben sowie die verfassunggebende Gewalt und die "Wirtschaft" als "Verfassungsthema" 332. Indes fehlt bis heute eine allgemeine Grundsatzuntersuchung 333. Das überrascht schon deshalb, weil sich an den Verfassungstexten bereits im ersten Zugriff juristisch sehr vieles von der Gestalt des Verfassungsstaates ablesen läßt und weil der Wandel des Verfassungsstaates und seines Rechts bereits prima facie an und in den Texten plastisch wird; schließlich gibt es eine mit hochrangigen Werken besetzte Teildisziplin "Verfassungsgeschichte" 334 und schließlich ist doch Jurisprudenz bzw. Verfassungsrechtslehre zunächst einmal Arbeit an Texten. 332
P. Häberle, Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.) und die weiteren Arbeiten in AöR 109 (1984), S. 630 (635 ff.); 110 (1985), S. 578 ff., 111 (1986), S. 595 (601 ff.); Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 18 ff.; Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff; "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 ff. 33j Weder die gängigen Staatsrechtslehrbücher noch Allgemeine Staatslehren, weder Grundrisse zum Wirtschaftsverfassungsrecht noch sonstige Literatur bedienen sich (soweit ersichtlich) dieser Methode. Einige Texthinweise für die Schweiz finden sich bei P. Richli, Zur Leitung der Wirtschaftspolitik durch Verfassungsgrundsätze, 1983. Speziell das Thema "Arbeit", "Umwelt" und "Kultur" wird streckenweise textvergleichend von der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, 1983 (S. 69 ff, 74 ff., 86 ff., 110 ff.) behandelt, doch ohne die erforderlichen methodischen bzw. verfassungstheoretischen Vorüberlegungen. 334 Vor allem KR. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I bis VII, 1957-1984; Ο. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1987; D. Grimm,
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
343
Die Ausgangsthese lautet: Die Textstufenanalyse erweist sich im Rahmen der Verfassungslehre als juristischer Disziplin ganz allgemein als ergiebig und von der Sache gefordert, sofern sie konsequent typologisch arbeitet und in der "Zeitachse" denkt. Sie sucht im ganzen das - sich wandelnde - "Textbild" der einzelnen Problemfelder verfassungsstaatlicher Verfassungen, soweit diese "geschrieben" sind, zum "Königsweg" (sit venia verbo) einer inhaltlichen, auch 335
wirklichkeitswissenschaftlichen Erarbeitung ihres Gegenstandes zu machen. Das für das jeweilige Sachgebiet Typische kann dank einer sensiblen Textanalyse (in der mittelfristig und mittelbar "Wirklichkeit" greifbar ist) sehr präzise erfaßt werden. Ja, Verfassungslehre vermag erst mit Hilfe solcher Arbeit an Texten "juristische Text- und Kulturwissenschaft" zu sein und den - entwicklungsoffenen - Typus "Verfassungsstaat" auf "vorläufige" Begriffe und Prinzipien zu bringen. Dieses in der Vergangenheit wie in der Gegenwart vergleichende Ausgehen von den und immer wieder neue Zurückkehren zu den positiven Verfassungstexten verbindet unverlierbare Einsichten eines "aufgeklärten Positivismus", d.h. das Ernstnehmen der Rechtstexte mit der historischen Tiefendimension, in die eine komparatistisch und geschichtlich arbeitende Verfassungslehre als "Kulturwissenschaft" vorzudringen vermag. Die Verfassungsvergleichung, genauer die Verfassungstextvergleichung ist "Vehikel" bei der Entwicklung des Verfassungsstaates und bei deren Beobachtung. Zwar darf sich die Verfassungsvergleichung nicht im Textlichen erschöpfen, das "constitutional law in the books " muß zur "law in public action " durchstoßen. Da aber dank der Vergleichung oftmals älteres "law in action " zur Textform der jüngeren "law in the books " gerinnt, sind die Texte, in der historischen Entwicklungsperspektive erfaßt, nicht nur "Oberfläche", sondern auch ein Stück Tiefendimension des gelebten Verfassungsrechts. Alle Bemühungen etwa um "Grundrechtsreform", z.B. in Österreich 336 , oder um "Totalrevision" in der Schweiz 337 , bauen mehr oder weniger erkennbar auf Textvergleichen auf.
Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, 1988; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2 Bde. 1989 bzw. 1992. 335 Insofern bleibt sie H. Heller, Staatslehre, 1934 verpflichtet (Staatslehre als "Kultur-" und "Wirklichkeitswissenschaft", S. 32 ff., 37 ff.). 336 Vgl. R. Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, 1985, passim, bes. Anhang, S. 242 ff.; s. auch R. Wahl, ebd., S. 223 (224 ff.); G. Holzinger, Grundrechtsreform in Österreich, JöR 38 (1989), S. 325 ff. ,37 Dazu: Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, 1977; jetzt Y. Hangartner/B. Ehrenzeller (Hrsg.), Reform der Bundesverfassung, 1995.
344
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Vergleichend arbeiten heute alle staatlichen Funktionen (vom Verfassunggeber bis zum punktuellen oder "totalen" Verfassungsänderer), freilich mehr oder weniger intensiv und offen. Zulieferfunktion hat für sie alle insonderheit die Wissenschaft vom Verfassungsstaat, d.h. die Verfassungslehre. Eine staatliche Funktion sollte im Verfassungsstaat in ihren rechtsvergleichenden Aufgaben und Leistungen für die Fortbildung des Verfassungsstaates indes nicht unterschätzt werden: die Verfassungsrechtsprechung bis hin zu etwaigen Sondervoten. Ihre Arbeit am konkreten Verfassungstext eines nationalen Verfassungsstaates bringt es mit sich, daß sie dort, wo der Text ihres Landes nicht ausreicht, rechtsvergleichend "Umschau" hält. In der Judikatur des BVerfG 3 3 8 gibt es Belege für diesen Vorgang textvergleichenden Arbeitens gerade in Grundsatzentscheidungen! Die arbeitsteilige Fortentwicklung des Verfassungsstaates in solchen Prozessen des Gebens und Nehmens innerhalb des einzelnen Landes, aber auch über dessen Grenzen hinaus im Blick auf andere Verfassungsstaaten hat es so gesehen immer mit einem Ensemble von Verfassungstexten zu tun. Mag auch nicht alles etwa von einem nationalen Verfassungsgericht oder von der Wissenschaft als materielles Verfassungsrecht ausgewiesenes Ideen- und Wirklichkeitsgut zu Verfassungstexten "gerinnen": Potentiell kann es im Kreise der "Familie" der Verfassungsstaaten zu solchen werden, bald früher, bald später. So betrachtet ist Verfassungsinterpretation oft eine Vorform zu Entwicklungsstufen von fortgeschriebenen "Verfassungstexten" bzw. Textstufen. Auch kann sich ungeschriebenes Verfassungsgewohnheitsrecht hier an geschriebenen Texten dort orientieren 339 . Selbst
338 Vgl. BVerfGE 7, 198 (208); 19, 342 (348); 39, 68 (71, 73 f.): SV Rupp-v. Brünneck/Simon; E 69, 315 (343 f.). 339 Die im Schweizerischen Bundesstaatsrecht unter Führung des Bundesgerichts in Lausanne entwickelte Kategorie "ungeschriebener Grundrechte" (wie Meinungsäußerungs-, persönliche, Sprachen- und Versammlungsfreiheit, aus der Lit.: J.P. Müller/S. Müller, Grundrechte, Besonderer Teil, 1985, S. 97 f.; J.P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 23 ff.) ist materielles Verfassungsrecht, das in anderen Verfassungsstaaten längst Textgestalt besitzt. Es ist nur konsequent, daß im Rahmen von Teil- oder Totalrevisionen ihre geschriebene Gewährleistung gefordert wird (z.B. VE Totalrevision 1977: Art. 14 (Wissenschafts- und Kunstfreiheit), Art. 13 (Versammlungsfreiheit), zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.) bzw. daß neue Verfassungen sie auch textlich sichern (z.B. für die Wissenschafts- und Kunstfreiheit: § 14 e Verf. Aargau (1980), § 6 Abs. 2 e Verf. Basel-Landschaft (1974), beide zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.; KV Uri (1984), Art. 12 (u.a. Schutz der Privatsphäre, Versammlungs-, Forschungs- und Kunstfreiheit), VE Solothurn (1984), Art. 14 (Versammlungsfreiheit), Art. 15 (Wissenschafts- und Kunstfreiheit)). Ein Verfassungsgericht ist gut beraten, wenn es in offener, notfalls verdeckter Rechtsvergleichung Grundrechtskataloge anderer Verfassungsstaaten ungeschrieben via Richterrecht zum Vorbild nimmt, so behutsam das nur geschehen kann. Letztlich baut das Verfassungsgericht so
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
345
Texte von Programmen politischer Parteien kommen mittelfristig als "Lieferant" für neue vom Verfassunggeber oder Verfassungsänderer normierte Verfassungstexte in Frage. Man denke nur an zunächst parteipolitisch formulierte Sozialstaats- oder Umweltthemen sowie kulturpolitische Forderungen und medienpolitische Wünsche. Die "Pointe" des Textstufenvergleichs liegt darin, daß sie mittelbar auch Verfassungswirklichkeit erfaßt: weil die aus anderen Ländern rezipierten bzw. überarbeiteten Texte jetzt das auf Begriffe bringen, was anderwärts von Praxis (z.B. Verfassungsrechtsprechung), Wissenschaft und Lehre fortentwickelt wurde. Die ungeschriebene - fremde - Verfassungsentwicklung - konkret in westlichen Verfassungsstaaten - wird buchstäblich fortgeschrieben z.B. in den neuen Verfassungen Osteuropas 340. Das bedeutet nicht, daß die neuen bzw. revidierten Verfassungstexte Osteuropas sofort greifen und sogleich eine verfassungskonforme Verfassungswirklichkeit schaffen. Wohl aber spiegeln die neuen Texte den Entwicklungsstand der Verfassungsstaaten im Westen wider. Konkret: nicht das GG von 1949 oder die De Gaulle-Verfassung von 1958 wirken als Vorbilder auf so manchen neuen Verfassungsstaat in Osteuropa, sondern das in Rechtsprechung des BVerfG in Wissenschaft und Praxis gelebte GG von 1997 und die durch Conseil Constitutionnel, Conseil d' Etat und französische Doktrin ausgebaute Verfassung der 5. Republik von heute bzw. 1997 wirken als Vorbilder auf die jungen Verfassunggeber in Osteuropa. Gewiß, auf längere Sicht genügt der einfache Textvergleich nicht, er bildet nur eine erste Phase wissenschaftlicher Aufbereitung. Ihm muß eine weitere
eine Brücke zu anderen Verfassungsstaaten bzw. es macht mit der Zugehörigkeit zur "Familie" der Verfassungsstaaten ernst. ",4° Die Literatur zu Osteuropa wächst stürmisch. Hier sei nur auf Grundsatzarbeiten verwiesen wie: O. Luchterhandt, Künftige Aufgaben der Ostrechtsforschung, WGO 1996, S. 159 ff.; U'. Häfelin, Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung in den osteuropäischen Staaten, Études en l'honneur de J.-F. Aubert, 1996, S. 29 ff; W. Kahl, Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassungen Europas, 1994; H. Roggemann, Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung in Osteuropa, ROW 1996, S. 177 ff.; L. Fadé , Impulse einer europäischen Rechtspolitik für Osteuropa?, DRiZ 1996, S. 315 ff; aus Italien: S. Bartole, Riforme Costituzionali nell· Europa Centro-Orientale, 1993.- Teilbereiche bzw. einzelne Verfassungen sind beschrieben von Z. CzeszejkoSochacki/R. Machacek, Der Weg zu einer neuen polnischen Verfassung, EuGRZ 1992, S. 93 ff.; M. Hoskovä, Zur Wiederherstellung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei, ZaöRV 52 (1992), S. 334 ff.; G. Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, ZaöRV 53 (1993), S. 819 ff.; S. Kofmel, Rechtsentwicklung im Baltikum, Die neue Verfassung der Republik Estland (1992), ZaöRV 53 (1993), S. 135 ff.; Κ Merz, Die Mongolei auf dem Weg zur pluralistischen Demokratie und Marktwirtschaft, VRÜ 26 (1993), S. 82 ff.; M.K Wiegandt, Grundzüge der estnischen Verfassung von 1992, JöR 45 (1997), S. 151 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Phase substantieller Verfassungsvergleichung folgen, die nach den Methoden, der Systematik und den Funktionen vorgeht, die die mitbestimmenden Kräfte des Kon-Textes der Texte einbezieht. Gerade bei neuen Verfassungen aber ist die Wissenschaft zunächst auf den Textvergleich angewiesen, das übrige wächst erst "im Laufe der Zeit" nach. b) Die Ausarbeitung an Beispielen Grundlage bildet die Beobachtung, daß die Entwicklung der Texte verfassungsstaatlicher Verfassungen und "in" ihnen der Typus Verfassungsstaat 341 in einer "gestuften Evolution" verläuft. Gewiß: weder die einzelnen nationalen Verfassungsstaaten noch der Verfassungsstaat als Typus entwickeln sich gleichförmig i. S. eines kontinuierlichen Prozesses mit gleicher "Geschwindigkeit": es gibt Verzögerungen und Übereilungen, Sprünge nach vorwärts und zurück, variierend je nach Mentalität und "Temperament" eines Volkes, und das ist auch gut so. Man erinnere sich der erhitzten Experimente der Franzosen in Sachen Menschenrechte bzw. Verfassungen seit 1789 342 oder der kontinuierlichen Entwicklungen in der Schweiz seit 1848 343 . Im ganzen und auf einen größeren Zeitraum hin betrachtet, lassen sich aber doch parallele Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates als Typus erkennen 344 , umso mehr als längst ein intensives "Werkstattgespräch" zwischen den einzelnen Ländern bzw. Nationen in Sachen Verfassungsstaat gefuhrt wird 3 4 5 . In (nicht nur kurzatmiger) historischer und kontemporärer Verfassungstextvergleichung werden Stufen sichtbar: z.B. beim Auftauchen neuer Themen wie der Sache "Arbeit", "Umwelt" und "Datenschutz" oder bei der Ausdifferenzierung klassischer Problem-
341
Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982. Dazu mein Augsburger Vortrag: 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff. S. auch Vierter Teil VI. 343 Zur Verfassungsgeschichte der Schweiz: E. His, Geschichte des neueren Schweizerischen Staatsrechts, 3 Bände, 1920-1938 (Nachdruck 1968); A. Kölz (Hrsg.), Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte, 1996. 344 Aufschlußreich ist die Frage, ob sich im Vergleich zwischen mehreren Verfassungsstaaten untereinander "zeitlich faßbare" Kodifikations"we//eft" bzw. Verfassungsänderungen z.B. in Sachen Wirtschaft belegen lassen - etwa weil sie alle eine Wirtschaftskrise (z.B. in den 20er und 30er Jahren) bzw. Konjunkturkrisen (in den 70er Jahren) zu bewältigen hatten (vgl. die Wirtschaftsartikel der Schweiz, dazu U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 442 ff., 446 ff.; 3. Aufl. 1993, S. 463 ff.). 345 Dazu für die Schweiz und neuere Verfassungen in Europa: mein Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1986), S. 303 ff., 370 ff. 342
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
347
felder wie der "Staatsaufgaben" 346 und der "Wirtschaft" oder der Konstitutionalisierung der "Opposition" 347 . Verfassungsthemen, die erst in jüngerer Zeit zu solchen wurden und sich daher erst neuerdings in den Verfassungstexten finden, sind etwa die Demonstrationsfreiheit 348, das Recht auf bzw. die Staatsaufgabe Gesundheit 349 , der Sport 350 und die Umwelt 3 5 1 . 346 Dazu meine Studie Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 (600 ff.). S. noch unten Sechster Teil VIII Ziff. 6. 347 Vgl. Art. 23 a Abs. 1 Verf. Hamburg (1952 bzw. 1972): "Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der politischen Demokratie" (zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1988). Vorarbeit für den "OppositionsArtikel" in Verf. Hamburg (Art. 23 a) haben (auch hier) viele geleistet, vor allem Verfassungsrechtsprechung (vgl. BVerfGE 2, 1 (13): "Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition"; E 5, 85 (199): "Kritik der oppositionellen Minderheit") und Staatsrechtslehre (aus der Lit.: H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1974; S. Haberland, Die verfassungsrechtliche Stellung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995; R. Poscher, Die Opposition als Rechtsbegriff, AöR 122 (1997), S. 444 ff.). Die wohl früheste Konstitutionalisierung der Opposition auf Textebene findet sich (für die Parteien) in Verf. Baden von 1947 (zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, 1948, S. 123 ff.): Art. 120 Abs. 3 S. 1: "Stehen sie (sc. die politischen Parteien) in Opposition zur Regierung, so obliegt es ihnen, die Tätigkeit der Regierung und der an der Regierung beteiligten Parteien zu verfolgen und nötigenfalls Kritik zu üben". Im Verfassungsstaat als Typus bzw. in der Bundesrepublik Deutschland ist die Opposition gewiß Teil des materiellen Verfassungsrechts, unabhängig von der formellen Verfassungsurkunde. Doch ist sie dies wohl erst dank eines Zusammenwirkens vieler geworden: von einer "vorpreschenden" gliedstaatlichen Verfassung (Baden) über Rechtsprechung und Lehre bis zum "nachziehenden" gliedstaatlichen verfassungsändernden Gesetzgeber (Hamburg: Art. 23 a). Vgl. zuletzt Art. 26 Verf. Mecklenburg»^Vorpommern (1993). 348 Vgl. Art. 33 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.); Art. 8 g. KV Jura (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.); Kap. 2 § 1 Ziff. 4 und § 18 Verf. Schweden von 1974 (zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff.). 349 Z.B. Art. 93 Verf. Guatemala (1985); Art. 43 Verf. Spanien (1978, zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.); Art. 22 Abs. 1 Verf. Niederlande (1983); Art. 39 Verf. Mazedonien (1991); Art. 58 Verf. Kroatien (1991); Art. 37 Verf. Georgien (1995); Art. 68 Verf. Polen (1997). 350 Z.B. Art. 91 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.): Förderung des Sports als Aufgabe des Staates - und Art. 92 ebenda - "Autonomie des Sports". "Sport-Artikel" finden sich auch in neueren Schweizer Kantons Verfassungen (z.B. § 41 Abs. 6 Verf. Aargau von 1980, zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff.); s. ferner Art. 38 Verf. Peru von 1979, zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. S. auch Art. 35 Verf. Brandenburg (1992), Art. 30 Abs. 5 Verf. Thüringen (1993). 351 Z.B. Art. 97 Verf. Guatemala; s. auch Art. 24 Abs. 1 Verf. Griechenland von 1975 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.): "Der Schutz der natürlichen und der kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates". Femer Art. 12 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993); Art. 74 Verf. Polen (1997); Art. 10 Verf. Armenien (1995).
348
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Neue Verfassungen können sich mitunter textlich (fast) alleine pionierhaft als "Vorhut" "schon" eines Themas annehmen, das in anderen Verfassungsstaaten "noch nicht" formellen bzw. materiellen Verfassungsrang hat, so etwa des Schutzes der Behinderten 352 . Zuweilen bringt eine neue Verfassung im Text das zum Ausdruck, was in anderen Verfassungsstaaten, etwa im deutschen, "klassischer" Leitsatz der staatsrechtlichen Dogmatik ist 3 5 3 . Die Vielfalt der Ausdrucksformen und formalen Geltungsebenen, in bzw. auf denen ein Prinzip des Typus Verfassungsstaat in den verschiedenen Beispielen der Verfassungen einzelner Völker zum Ausdruck gelangen kann, ist groß: sie reicht vom ex ante geschriebenen Verfassungstext über die spätere Verfassungsänderung bis zum Leitsatz der Verfassungsrechtsprechung, zur Lehrmeinung in der Dogmatik und zum "nur" einfachgesetzlichen Text. Nicht selten variieren die Formen, in denen bestimmte Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen der heutigen Entwicklungsstufe abgehandelt werden, während die Inhalte sich weitgehend entsprechen. Das gilt etwa für Rundfunk und Fernsehen. Was das deutsche BVerfG im 1. Fernsehurteil (E 12, 205 (262 f.)) erarbeitet hat (in Stichworten wie "Sachlichkeit", "gegenseitige Achtung", "Ausgewogenheit"), findet sich bald in formellen Verfassungstexten, in die es über Verfassungsänderungen gelangt ist (so die Verf. Bayern Art. l i l a von 1973: "Ausgewogenheit des Gesamtprogramms", angemessene Beteiligung der bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen), bald in neuen Verfassungen 354, bald in einem "Nebenverfassungsgesetz" (wie in Österreich) 355 . Ein "neues" Verfassungsthema bildet - nach dem schon
352
Art. 53 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.): "Der Staat garantiert den Schutz der Behinderten...".- Art. 19 Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Wer wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung unfähig ist, für sich selbst zu sorgen, hat ein Recht auf Achtung seiner Würde und auf ein gesetzlich geregeltes System des Schutzes, der Fürsorge, der Wiedereingliederung und der Sicherheit".- Vgl. auch Art. 17 Abs. 2 Verf. Guinea von 1991 sowie Art. 57 Verf. Kroatien (1991). 353 Vgl. etwa Art. 87 Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): Abs. 1 : "Die Verfassung geht jeder anderen Rechtsnorm vor. Das Gesetz geht jeder anderen Norm niedrigeren Ranges vor, und so weiter, je nach Stellung in der Normenhierarchie". Abs. 2: "Die Publizität ist wesentlich für die Existenz jeder Norm des Staates". 354 Vgl. Art. 39 Verf. Portugal. 355 B-VG von 1974, zit. nach H. R. Klecatsky/S. Morscher (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz, 7. Aufl. 1995, S. 275 f.: "Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung", "MeinungsVielfalt", "Ausgewogenheit der Programme".
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
349
klassischen Vorbild Schwedens356 - der Ombudsmann. Die von hier ausgehende "Rezeptionswelle" hat nicht wenige Verfassungsstaaten erreicht 357 . Kühne Text-Neuerungen einzelner Verfassungsstaaten, deren "Entwicklungswert" für den Verfassungsstaat als Typus wohl erst im Rückblick aus größerer zeitlicher Distanz bewertet werden kann, sind wegen des Experimentiercharakters von Verfassungstexten und -ideen i. S. des trial-and-errorParadigmas zu begrüßen. Ein Beispiel findet sich etwa in Gestalt der in der Verf. Schweden von 1974 vorgesehenen "konsultativen Volksbefragung" 358 . Eine neue Entwicklungsstufe erreichten die verfassungsstaatlichen Verfassungstexte in Form von Artikeln, die den traditionellen "Souveränitätspanzer" des Nationalstaates durchbrachen, den Weg zu einer internationalen Zusammenarbeit öffneten und dabei neue Rechtsinstrumente und -verfahren schufen. Gemeint ist die Artikelgruppe, die sich speziell im GG unter dem Stichwort "offene Staatlichkeit" (K. Vogel) und "kooperativer Verfassungsstaat" 359 zusammenfassen läßt (Art. 24 bis 26). Vor allem Art. 24 Abs. 2 GG hat in anderen verfassungsstaatlichen Beispielländern "Verwandte". Repräsentativ sind etwa Art. 25 b i s Verf. Belgien (1970): "Die Ausübung bestimmter Gewalten kann durch einen Vertrag oder ein Gesetz Einrichtungen des internationalen öffentlichen Rechts übertragen werden" 360 oder Art. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland 361 . Manche Texte, die von einzelnen Verfassungsstaaten entwickelt worden sind, kommen auf "Umwegen" über universale und regionale Menschenrechtspakte - geändert bzw. fortentwickelt - zu ihnen und anderen Verfassungsstaaten zurück. Das läßt sich für die Menschenrechtserklärung der U N (1948), ihre beiden Menschenrechtspakte (1966) bzw. die EMRK (1950) samt Zusatzproto356
Vgl. Verf. von 1975, Kap. 12 § 6, zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff. Vgl. z.B. Art. 23 Verf. Portugal von 1976/92; Art. 45 b GG; Art. 54 Verf. Spanien von 1978; Art. 148 a B-VG Österreich (zit. nach H. R. Klecatsky/S. Morscher, aaO. Art. 70 Verf. Burgenland von 1981; Art. 142-144 Verf. Angola (1992). 358 Kap. 8 § 4, zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff- Die speziell deutsche (Bundesstaats-)Problematik (vgl. BVerfGE 8, 104) sollte nicht grundsätzlich entmutigen! 359 Vgl. P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 407 ff. Vgl. schon Vierter Teil VII. 360 Zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S.43. Jetzt Art. 34 Verf. von 1994 361 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.: "Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern, ist durch Verträge oder Abkommen die Zuerkennung von verfassungsgemäßen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen zulässig". S. auch Art. 93 Verf. Spanien (1978), zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff., ferner Art. 92 Verf. Niederlande von 1983 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff); ihr Art. 90 wagt überdies eine neue Formulierung in dem Satz: "Die Regierung fördert die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit". 357
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
kollen belegen 362 . Solche Entwicklungen bzw. "Bewegungen" haben in doppelter Hinsicht positive Effekte: zum einen wird der einzelne Verfassungsstaat, der Mitglied des Menschenrechtspaktes ist, in seinen Grundrechtsgehalten bereichert, zumal die Menschenrechtspakte ihrerseits "Konzentrat" aus vielen TextVorbildern und -dementen sind. Zum anderen beginnen die Menschenrechte ein Stück weit die Völkergemeinschaft zu "verfassen" - auch das ist ein regionaler oder gar universaler Erfolg des Typus Verfassungsstaat. Er, der eine angloamerikanisch/europäische Gemeinschaftsleistung von Rang darstellt - an den großen (Text-)Daten 1776, 1787, 1789 greifbar - sendet eine "kulturelle Botschaft" in Sachen Menschenrechte aus, die zum kulturellen Erbe und zur kulturellen Zukunft der Menschheit gehört. Die weitgehend übereinstimmenden Menschenwürdeklauseln innerverfassungsstaatlichen Verfassungsrechts und des Völkervertragsrechts sind dabei der Basistext mit schon klassischer Ausstrahlung 363 . Die Tendenz, die Menschenwürde zur "anthropologischen Prämisse des Verfassungsstaates" werden zu lassen 364 , kann sich auf neuere Verfassungstextstellen berufen. In ihnen zeigt sich ein Prozeß der Normativierung der Volkssouveränität im Blick auf Würde und Freiheit des Menschen, ein Vorgang, der eine "höhere" Text-Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates re,365
präsentiert Eine " Verfassungsänderungswelle" läßt sich innerhalb desselben Bundesstaates etwa für die deutschen Länder nachweisen, und zwar auf dem Felde des 362
Texte zit. nach Beck-Texte Völkerrechtliche Verträge, 2. Aufl. 1979. Einzelheiten in meinem Vortrag: 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff, sowie im Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, S. 815 (816 ff.). 364 Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, aaO., S. 815 (818 ff, 846 ff.). S. noch unten Sechster Teil VIII Ziff. 1. 365 Textbeispiele sind: Kap. 1 § 1 S. 2 Verf. Schweden von 1974: "Die schwedische Volksherrschaft gründet sich auf freie Meinungsbildung und allgemeines und gleiches Stimmrecht". - Art. 1 Verf. Portugal von 1976/82: "Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und deren Ziel die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft ist". - Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien (1978): "Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung".- Die Volkssouveränität findet sich erst in Art. 1 Abs. 2, die Menschenwürdeklausel ist als Grundlagenbestimmung in Art. 10 Abs. 1 formuliert.S. auch Verf. Burgenland von 1981 (zit. nach: Die burgenländische Verfassung, o. J. (1981)), Art. 1 Abs. 2: "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft". - Art. 2 S. 2 ebd.: "Die Staatsgewalt geht vom Volk aus". j63
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Parlamentsrechts: so in bezug auf den Petitionsausschuß "analog" Art. 45 c GG 3 6 6 . "Textbewegungen" gab es in den Länderverfassungen z.B. in Sachen Datenschutz 367 sowie im Umweltschutzrecht 368 . Sichtbar werden aber auch Konstanten und "klassische" Formen und Inhalte von bestimmten Themen des Verfassungsstaates, so in den Ländern, die sich z.B. für eine Präambel entscheiden, bei diesem klassischen Basiselement des Verfassungsstaates 369. Freilich: das "Raster" des historischen und kontemporären Textstufenvergleichs im Dienste der Erkenntnis der Entwicklungen des Verfassungsstaates als Typus ist nur grober Natur. Was die Interpretation bzw. Praxis aus den Verfassungstexten im einzelnen macht, läßt sich zunächst nicht direkt einfangen. Man mag insofern von einer Makroperspektive der Texte und einer Mikroperspektive der sie umsetzenden - oder auch verfehlenden - Praxis sprechen. Dennoch bringen die Textstufen in der längerfristigen Zeitdimension letztlich und mittelbar ein Stück dieser Praxis bzw. "Verfassungswirklichkeit" zum Vorschein: 370 Teil- oder Totalrevisionen, neue "Verfassunggebung" oder punk-
366
Vgl. Art. 35 a Verf. Baden-Württemberg; Art. 25 a Verf. Hamburg; Art. 41 a Verf. NRW; Art. 90 a Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 15 a Verf. Schleswig-Holstein; Art. 61 Verf. Sachsen-Anhalt. 367 Vgl. Art. 4 Abs. 2, 77 a Verf. NRW; Art. 2 S. 2 Verf. Saarland; Art. 11 Verf. Brandenburg. 368 Vgl. Art. 3 Abs. 2, 131 Abs. 2, 141 Verf. Bayern; Art. 7 Abs. 2, 29 a Verf. NRW; Art. 33, 73 a Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 65 Verf. Bremen; Vorspruch Abs. 5 Verf. Hamburg (Verfassungsänderung als Präambeländerung!); Art. 11 Verf. Sachsen. Die Phantasie in Sachen Textgestaltung und systematischer Plazierung ist dabei teils größer, teils geringer. Die Länder sollten indes den Ehrgeiz zu "eigenen" Lösungen haben, so sehr sie den heutigen Textstufen in Sachen Umweltschutz verpflichtet bleiben. (Alle Texte zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995, mit Einleitung von C. Pestalozza.) 369 Struktur und Inhalte der Präambeln neuerer Verfassungen entsprechen der Typologie meines Beitrags in FS Broermann, 1981, S. 211 ff, d.h. der "hohen Form" (Feiertagssprache), der geschichtlichen Dimension (als Umschreibung der nationalen Identität des jeweiligen Verfassungsstaates) und der Postulierung der betreffenden Grundprinzipien der Verfassung ("Verfassung in der Verfassung"); vgl. die Beispielstexte Präambel Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555) oder Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641), auch Verf. Benin von 1990. Mögen diese drei Aspekte in Quantität und Umfang sowie in den Inhalten variieren, der Grundtypus ist identisch. Offenbar hat sich ein "Standard" verfassungsstaatlicher Präambelinhalte und formen herausgebildet. Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 8. 370 Grundsätzlich zum Problem "Verwirklichung der Verfassung": K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 16 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
tuelle Verfassungsänderungen 371 im je konkreten Verfassungsstaat orientieren sich ja auch an ihrer gewandelten eigenen Praxis (Wirklichkeit), und die individuellen nationalen Verfassungsstaaten bzw. westlichen Demokratien stehen heute - nachweisbar - beim "Texten" in denkbar intensiven Austausch- und Wechselverhältnissen bzw. Rezeptionszusammenhängen, so daß in einem jüngeren Verfassungstext des einen Landes auch positiv-formal zum Ausdruck kommen kann, was im älteren Verfassungstext des anderen (z.B. Nachbar-) Landes noch nicht sichtbar war, aber von der lebendigen Praxis der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 372 nach und nach materiell "hinzugetan" worden ist, also " Verfassungswirklichkeit" wurde. Insofern gibt es im "kooperativen Verfassungsstaat" eine spezifische Form normierender Kraft der Praxis, die zu Texten führt. Die Textwissenschaft wird zur Wirklichkeitswissenschaft! Was im einen Verfassungsstaat "noch" als Verfassungspolitik diskutiert wird und vielleicht Textgestalt annehmen will, ist im anderen "schon" textlich oder doch in der Wirklichkeit ("ungeschrieben") vorweggenommen, wobei freilich an die große Bandbreite möglicher Verfassungstexte ("TextVarianten") im Rahmen des Typus Verfassungsstaat zu erinnern ist 3 7 3 , auch daran, daß nicht alles lebende materielle Verfassungsrecht formalisierte Textgestalt annimmt, annehmen kann und annehmen soll. Beispiele finden sich in Gestalt des Siegeszuges der grundrechtlichen "Wesensgehaltgarantie" des Art. 19 Abs. 2 GG als Verfassun|stext 374 , in Gestalt eines Parteienartikels wie Art. 49 Verf. Italien von 1947 3 7 , im Wachstum 371 Zur Verfassungsänderung: A. Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes, 1981; S. Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber 1949-1980, 1984. U. Hufeid, Die Verfassungsdurchbrechung, 1997.Zum Ganzen Fünfter Teil III Ziff. 2. 372 P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. S. auch Fünfter Teil III Ziff. 1, Inkurs A. 373 Zum Problem der "Ungleichzeitigkeit" speziell in Schweizer Kantonsverfassungen mein Beitrag Neuere Verfassungen.., in: JöR 34 (1986), S. 303 (339). 374 Dazu die Belege bei P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 258 f , 279 f , 284; s. auch den Text der Kwazulu Natal Indaba Bill of Rights (1986), zit. nach JöR 35 (1986), S. 695 (698), Art. 14 Abs. 3: "A fundamental right and freedom protected in this Bill of Rights may not be abolished or in its essence be encroached upon by a law of the Province". Ähnlich Art. 30 Abs. 1 lit. b: "essential content" Verf. Kwazulu Natal (1996); Art. 31 Abs. 3 Verf. Polen (1997). 375 Zit. nach P.C. Mayer-Tasch (aaO.).- S. auch Art. 21 GG; Art. 4 De Gaulle Verf. von 1958; Art. 25 Verf. Griechenland von 1975.- Was im einen Verfassungsstaat "informal" ist, neben oder sich sogar einmal gegen die positiven Verfassungstexte entwickelt hat (dazu H Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984), das kann im benachbarten Verfassungsstaat via Verfassungsänderung oder Verfassunggebung formalisiert und positiviert werden. Beispiel ist die verfassungsstaatliche Entwicklung des Parteienartikels i.S. von Art. 21 GG. Im Rahmen einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft behalten die Texte ihr relatives Recht, sie bilden einen "Sammelplatz"
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
353
der Staatsaufgabenkataloge 376 oder in der Aufnahme neuer Grundrechte, z.B. der Medienfreiheit 377 . Umgekehrt wirken solche neu geschriebenen Verfassungstexte des einen Verfassungsstaates auf die ungeschriebene Praxis des anderen (nicht notwendig direkt benachbarten). Wo es z.B. wie derzeit in Österreich zu keinem ausdrücklichen grundrechtlichen "Wesensgehalt-Text" kommt, entwickelt sich in der Praxis (vor allem der Gerichte) eine ungeschriebene Wesensgehaltsklausel378. Eine positiv zu beurteilende Entwicklung zeigt sich ferner im zunehmend "sicheren" und durchgängigen Ausbau des Schutzes der Privatsphäre: während das deutsche GG von 1949 textlich keinen ausdrücklichen und umfassenden Schutz der Privatsphäre kennt und Dogmatik und Judikatur hier ihr schöpferi379 sches Werk tun (müssen) , hat schon die EMRK von 1950 ein verfas380 sungsstaatliches Textelement geliefert , das auch auf neue Verfassungstexte ausstrahlt. Die Verfassung Spanien von 1978 arbeitete sich auf diesem Weg • 381 weiter vor . (nicht "Tummelplatz") für die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und -geber. Sie sind freilich in ihren kulturwissenschaftlich erschließbaren Kontext zu stellen. Auf dem Forum des Typus "Verfassungsstaat" können so "Textpositivismus" und kulturelles Kontextverständnis zusammengebunden werden. Wagt man einen weltweiten Blick auf den Typus Verfassungsstaat, vermag die Verfassungswirklichkeit von heute sich in einem späteren Verfassungstext von morgen zu spiegeln bzw. Gestalt anzunehmen. S. Parteien-Art. 159 e Verf. Angola: "parteienpluralistische Demokratie". 376 Belege in meinem Beitrag Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 (601 ff.). S. auch unten Sechster Teil VIII Ziff. 6. 377 Vgl. Art. 20 Verf. Spanien (1978), Art. 38 Verf. Portugal (1976/82).- Diese Texte sind zitiert nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. bzw. JöR 32 (1983), S. 446 ff.- Art. 11 Verf. Thüringen (1993). Zuletzt Art. 56 Verf. Guinea-Bissau. 378 Nachweise in meiner Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 264 ff; zur Wesensgehaltjudikatur des EuGH als "gemeineuropäischem Grundrechtsrecht" ebd., S. 266 ff. 379 Vgl. BVerfGE 4, 7 (15); 6, 32 (41); 27, 344 (351); 32, 373 (378 ff.); 34, 238 (245 f.); 34, 269 (281 ff.) bis zu E 65, 1 (45) oder in den 90er Jahren etwa E 84, 192 (insbes. 194), 90, 255 (260). 380 Vgl. Art. 8: "Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens ...". S. noch Sechster Teil VII. 381 Art. 18 Abs. 1: "Jeder hat das Recht ... auf die persönliche und familiäre Intimsphäre und das Recht am eigenen Bild"; Abs. 4 ebd.: "Das Gesetz beschränkt die Verwendung von Daten, um die Ehre sowie die persönliche und familiäre Intimsphäre der Bürger ... zu garantieren". - S. auch Art. 10 Abs. 3 Verfassungsentwurf Totalrevision Schweiz von 1977 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.): "Die Privatsphäre und die Wohnung sind geschützt". - § 6 Abs. 2 lit. f. Verf. Basel-Landschaft von 1984: "Schutz der Privatsphäre" (zit. nach JöR, ebd., S. 451 ff.). Ferner Art. 10 Abs. 2 Verf. Niederlande (1983): "Der Schutz der Privatsphäre wird im Zusammenhang mit der Speicherung und Weitergabe persönlicher Daten durch Gesetz geregelt" (zit. nach JöR 32
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Ein besonders prägnantes Beispiel für Textstufenvorgänge findet sich in der Umkehrung von Bewertungen "im Laufe der Zeit". Der Verfassunggeber der Weimarer Reichsverfassung (1919) hat bekanntlich die politischen Parteien nur vom Negativen her zur Kenntnis genommen (Art. 130 Abs. 1 WRV: "Die Beamten sind Diener einer Gesamtheit, nicht einer Partei"). Das deutsche GG • 382
(1949) integriert demgegenüber die politischen Parteien (nach dem "Vorgang" von Art. 118 bis 121 Verf. Baden von 1947) 383 positiv in den Verfassungsstaat und gibt ihnen schon textlich bestimmte Aufträge 384 . So gesehen verschränken sich Makro- und Mikroperspektive des Verfassungsstaates als Typus, und dies wird auch in zunächst bloß formal erscheinenden Texten greifbar. Es kommt zu einem "Hin und Her(-Wandern)" des (Blicks vom) Idealtypischen (und Möglichen) und des (bzw. zum) Realtypi-
(1983), S. 277 ff.).- Art. 18 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Jede Person hat das Recht, die über sie bearbeiteten Daten einzusehen...". 382 Die Aufnahme von Parteien-Artikeln in die Verfassungstexte setzt sich weltweit durch, vgl. etwa (alte) Verf. Peru (1979) (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.), Art. 68: "Die politischen Parteien sind Ausdruck des demokratischen Pluralismus. Sie wirken an der Bildung und Äußerung des Volkswillens mit. Sie sind das Hauptinstrument der politischen Beteiligung der Staatsbürger".- Dieser Text enthält gegenüber Art. 21 GG eine greifbare Verfeinerung, er liest sich wie §§ des deutschen Parteiengesetzes bzw. wie Judikatur und Lehre zu Art. 21 GG! - Entsprechendes gilt für den Parteien-Artikel der Verfassung der Republik Liberia (1983) (zit. nach JöR 35 (1986), S. 663 ff.): Art. 77 a): "Since the essence of democracy is free competition of ideas expressed by political parties and political groups as well as by individuals, parties may freely be established to advocate the political opinions of the people". Art. 80 enthält überdies die Möglichkeit des Verbots politischer Parteien! - Die Essenz heutiger verfassungsstaatlicher Ideen zum Problem "politische Parteien" kann sich sogar in einfachen Parlamentsgesetzen finden, vgl. etwa Österreichisches Bundesgesetz (1975) über die politischen Parteien (zit. nach H. R. Klecatsky/S. Morscher (Hrsg.) BV-G, 7. Aufl. 1995, S. 369: "§ 1 (1) Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung der Republik Österreich (Art. 1 B-VG). (2) Zu den Aufgaben der politischen Parteien gehört die Mitwirkung an der politischen Willensbildung. (3) Die Gründung politischer Parteien ist frei...". Denselben Gedanken normiert die neue Verf. Burgenland von 1981 auf Verfassungsstufe (zit. nach: Die Burgenländische Verfassung, 1981): Art. 3: "Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung des Landes. Die politischen Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit". Die "Lernprozesse" auf allen Stufen und quer zu allen Arbeitsfeldern (Verfassungsänderung, -gebung, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft) sind unübersehbar! - Ein offenkundiger Rezeptionsprozeß in bezug auf Art. 19 Abs. 3 GG etwa in Gestalt des Art. 3 (alte) Verf. Peru (1979) (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Die Grundrechte gelten auch für die peruanischen juristischen Personen, soweit sie auf diese anwendbar sind". 383 Zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), aaO, S. 123 ff. 384 Zu Art. 21 GG: K. Hesse, Grundzüge, aaO, S. 74 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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sehen (und Wirklichen) im historischen Prozeß kultureller Evolution des Verfassungsstaates, und es ist Chance und Auftrag der Verfassungslehre, den Verfassunggebern oder -änderern ein Arsenal von "einschlägigen" bzw. möglichen Textvarianten zu vermitteln. Verfassungslehre erfüllt hier ihren Auftrag der Verfassungspolitik i. S. von Vorschlägen zur Normierung des jeweils "typischen" und "wichtigen" Verhältnisses (z.B. von Wirtschaft und Verfassungsstaat im allgemeinen, von konkreter, individueller Wirtschaft und nationalem Verfassungsstaat im besonderen). Aus diesen Gründen kommt der Analyse der Verfassungstexte ein relativ hoher Aussagewert zu. Die Textstufen sind "Antworten" auf bisherige Entwicklungen, Herausforderungen und Probleme, aber auch Hinweise auf "neue Ufer" bzw. Fragenkreise, zu denen der Verfassungsstaat als Typus aufbricht. Sie bilden insoweit verläßliche, aussagekräftige "Materialien" der gestuften kulturellen Evolution des Verfassungsstaates, dessen Faszinationskraft weltweit - obwohl zunächst oft "nur" textlich ("semantisch") - im ganzen eher zunimmt als nachläßt. Man denke an seine klassischen Strukturelemente wie "Menschenrechte" und "Demokratie" (Herrschaft bzw. Wahl "auf Zeit"), die selbst die "Reformer" in der (damaligen) UdSSR unter M. Gorbatschow, in der Volksrepublik Polen unter General Jaruszelski und in China unter Deng beschäftigt haben (charakteristischerweise zunächst im Felde der Wirtschaft: als "Wirtschaftsreform"!). c) Vorbehalte: Die Relativierung des Fortschrittsdenkens Wenn hier historisch bzw. rechtsvergleichend in bezug auf den Typus "Verfassungsstaat" von "Textstufen" 386 , wenn von "Wachstumsprozessen" dieses
,85
Zum Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken in der Verfassungstheorie mein Beitrag in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 17 ff. Dazu auch Fünfter Teil XI Ziff. 3. 386 So für die Garantien des Eigentums (AöR 109 (1984) S. 36 (51 ff.)), für die Familie (Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 18 ff.), fur die Wissenschafts- und Kunstfreiheit (AöR 110 (1985) S. 329 (333), bzw. 577 (580 ff.)), für die verfassunggebende Gewalt (AöR 112 (1987) S. 54 ff.).- Trotz "Wiener Schule" und "Wiener Zentralismus" wagte Tirol eine im Wege der Verfassungsänderung normierte Präambel u.a. mit folgenden Textelementen (LGB1. 1980/48) "...im Bewußtsein, daß die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe, die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes, die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und Vollziehung des Landes sein muß ...". Diese Präambel ist ganz offensichtlich am Vorbild des verfassungsstaatlichen Präambel-Standards geschult, durch Rechtsvergleichung 26 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen 387
Typus bzw. von "Verfassungsentwicklung" die Rede ist, so nicht im Sinne eines naiven Fortschrittsglaubens 388. Es wird nicht behauptet, "am Ende" stünde irgendwann der "ideale Typus" des Verfassungsstaates mit perfekten Texten und einer ihnen optimal entsprechenden Wirklichkeit. Leitbild ist also nicht ein "umgekehrtes" Verfalldenken. Weder ein naiver Fortschrittsoptimismus noch ein pessimistischer Verfallglaube können den gedanklichen Rahmen einer Verfassungslehre liefern. Genausowenig wie die Begriffe "Öffentlichkeit" 389 , "Repräsentation" 390, "Demokratie" 391 zunächst "ideal postuliert" und dann i. S. des Verfalldenkens mit einer defizient gewordenen Wirklichkeit verglichen werden dürfen, genausowenig kann angenommen werden, daß in der Zukunft verfassungsstaatliche Verfassungen schon in ihren Texten die "für alle Zeit" besten Formen und Inhalte gefunden haben: etwa im Blick auf Grundrechte und ihre verschiedenen Schutzbereiche und -dimensionen 392 , im Blick auf Staatsaufgabenkataloge 393, im Blick auf verfassungsrechtliche "Identitätsgarantien" wie Art. 79 Abs. 3 G G 3 9 4 oder im Blick auf Präambeln 395 einerseits,
erarbeitet und zugleich fortentwickelt worden (Grundlagen-Aspekt bzw. Schutzpflichtendimension!). 387 So unter Hinweis auf H. Ehmke (Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 64): B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 22, und meine Studie Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Voraufl. 1982, bes. S. 22 ff. 388 Ganz entsprechend der These von Sir Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 152, für den es in der politischen Weltgeschichte keine in ihr verborgenen und auffindbaren Entwicklungstendenzen gibt und der sich damit erklärtermaßen in Gegensatz stellt zu den Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts {Hegel, Marx) oder zur Untergangstheorie eines O. Spengler (ebd. S. 153).- Behutsam in bezug auf den "Fortschrittsgedanken im Privatrecht" jetzt der gleichnamige Beitrag von H.-P Westermann, NJW 1997, S. 1 ff. 389 Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 3. Aufl. 1968 und meine Rezensionsabhandlung Öffentlichkeit und Verfassung (1969), jetzt in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 225 ff. (ebd. S. 230: "Verfalldenken"). S. noch Sechster Teil VII. 390 Gründl. H. Hofmann, Repräsentation, 1974 (3. Aufl. 1998). 391 Dazu eindringlich: Κ Hesse, aaO, S. 58 ff. 392 Vergleichend hierzu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 356 ff, 369 ff. 393 Dazu der Vergleich in dem Beitrag Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 (606 ff.). S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 6. 394 Siehe meinen Beitrag Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien in: FS Haug, 1986, S. 81 ff.- Ein neueres Beispiel für Ewigkeitsklauseln: Art. 281 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.), Art. 225 Verf. Tschad (1995). Zum Ganzen oben Fünfter Teil III Ziff. 2. 395 Vgl. meine Bayreuther Antrittsvorlesung Präambeln im Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1981, S. 211 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 8.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Übergangs- und Schlußvorschriften 396 andererseits. Jeder verfassungsstaatliche Verfassunggeber trifft als "Textgeber" in einer bestimmten Epoche immer nur höchst fragmentarisch das "relativ Beste"; andere (nationale) Verfassunggeber mögen ihm teils "voraus" sein, teils "hinterher" hinken. Das einer bestimmten Epoche der Verfassungsgeschichte entsprechende relativ beste Modell einer verfassungsstaatlichen Normierung im ganzen dürfte es in der Wirklichkeit kaum je geben: es ist ein gedankliches Abstractum der Wissenschaft, ein "Idealtypus" aus vielen mehr oder weniger gelungenen Beispielen bzw. Beispielselementen. Die verschiedenen (nationalen) Beispiele von Verfassungsstaaten können immer nur einzelne Elemente einer "guten" Normierung entwickeln. (Auch wäre der Text der Verfassung im ganzen überfordert: die "Urkunde" würde überladen.) Überdies schafft die je eigene nationale Verfassungskultur 397 einen kaum wiederholbaren individuellen "Kon-Text" - und damit auch Text. Darum ist in der Kategorie der (irealen) Textvarianten (bzw. -alternativen) zu denken, bei aller (idealen) "Typologie". Selbst und gerade innerhalb ein und desselben Bundesstaates gibt es große (Text-)Varianten und damit Pluralität: während im GG die plebiszitäre Komponente der Demokratie verkümmert ist (vgl. nur Art. 29, 118 a) und dies ganz im deutschen "Jargon der Eigentlichkeit" sogar Beifall findet 398 , haben einzelne (west)deutsche Länder Verfassungen mit ausgebauten Elementen unmittelbarer Demokratie 399 , ohne freilich die Schweizer "Referendumsdemokratie" (auf Bundes- wie Kantonsebene) zu erreichen 400 .
396 Dazu die Überlegungen in JöR 34 (1985), S. 303 (408 ff.), sowie Sechster Teil VIII Ziff. 15. 397 Wohl niemand hat diese Seite der Verfassungen bzw. ihr "Wachstum" klarer erkannt und schöner formuliert als Gottfried Keller: "Die sogenannten logischen, schönen, philosophischen Verfassungen haben sich nie eines langen Lebens erfreut. Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen ohne Rücksicht auf Stil und Symmetrie ein Konkretum, ein errungenes Recht neben dem anderen liegt, wie die harten glänzenden Körper im Granit, und welche zugleich die klarste Geschichte ihrer selbst sind" (zit. nach G. Radbruch, Kleines Rechts-Brevier, 1954, S. 20).- Ganz auf Kanada zugeschnitten ist seine kulturelles Erbe-Klausel in Art. 27 Canadian Constitution 1981 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.): "This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians". 398 Z.B. E.-W. Böckenförde, Mittelbare/Repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, FS Eichenberger, 1982, S. 301 ff; s. aber auch C. Pestalozza, Der Popularvorbehalt, 1981. 399 Vgl. Art. 74, 75 Abs. 2 S. 2 Verf. Bayern, Art. 68, 69 Abs. 2 und 3 Verf. Nordrhein-Westfalen, Art. 59 und 60 Verf. Baden-Württemberg, alle zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995.- Anders und dem Volk mehr
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Hinzu kommt folgendes: Ein Forum, von dem aus sich behaupten ließe, der Verfassungsstaat des 20. Jahrhunderts sei "höher" entwickelt als der des 19. Jahrhunderts (etwa der USA, Englands oder Frankreichs), läßt sich wissenschaftlich nicht etablieren. Wohl könnte i. S. des "Kritischen Rationalismus" gesagt werden, daß nach der "trial-and-error-Methode" eine bestimmte Textgestalt, zu der einzelne Problemlösungen "geronnen" sind oder sich kulturell kristallisiert haben, eher geglückt ist als früher. So darf die Ergänzung des Rechtsstaatspostulats um die soziale Dimension (Art. 20, 28 GG) 4 0 1 , der liberalen Grundrechte um die teilhaberechtliche Seite (Verfassung Portugal 1976/92) 402 , die Erfindung neuer kultureller Freiheiten 403 , überhaupt die Entwicklung differenzierten Kulturverfassungsrechts 404, die Plazierung spezieller Menschenwürde- und Gemeinwohl- bzw. Gerechtigkeitsklauseln im Verfasvertrauend jetzt die Verfassungen der fünf neuen Bundesländer mit Neuerungen wie der "Volksinitiative" (z.B. Art. 76 Verf. Brandenburg 1992). 400 Dazu etwa U. HäfelinW. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 44 f., 56 f. u.ö.; 3. Aufl. 1993, S. 183 f., 185 f. 401 Dank H. Heller und Carlo Schmid.- Neue Beispiele für "Sozialer Rechtsstaat"Klauseln: Verf. Burgenland von 1981, Art. 1 Abs.l (zit. wie Anm. 50): "Burgenland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat".- Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlberg i.d.F. von 1984, LGB1. 1984, 12. Stück Nr. 30: Vorarlberg "bekennt sich zu den Grundsätzen der freiheitlichen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung". 402 Dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO, S. 388 ff- Ausdruck der oder Antwort auf neuere grundrechtspolitische und -wissenschaftliche Fragestellungen ist der Textpassus in Art. 18 Abs. 1 (alte) Verf. Peru von 1979: "Der Staat sorgt vorrangig für die Grundbedürfnisse (!) des einzelnen und seiner Familie auf dem Gebiet der Ernährung, Wohnung und Erholung".- Eine eigene Textvariante von der Staatsaufgaben- bzw. Grundrechtsaufgabenseite her ist Art. 4 Niederösterreichische Landesverfassung von 1979: "Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet sind". 403 Eine gelungene Weiterentwicklung des Themas "kulturelle Teilhaberechte" findet sich in Art. 21 (alte) Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Das Recht auf Bildung und Kultur ist der menschlichen Person inhärent". 404 An der Spitze der neueren Entwicklung der Texte zum Kulturverfassungsrecht steht (neben den ostdeutschen Bundesländern) etwa Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.): in Gestalt eines kulturellen Teilhaberechts für jedermann (Art. 57), einer kulturellen Identitätsgarantie (Art. 57), zweier "kulturelles Erbe-Klauseln" (Art. 60 und 61), einer "natürliches Erbes-Klausel" (Art. 64) und einer Norm zu den Erziehungszielen (Art. 72 Abs. 1: "Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur". Abs. 2 ebd. ist eine geglückte Weiterentwicklung von Art. 148 Abs. 3 S. 2 WRV oder Art. 188 Verf. Bayern (Verfassungstext für Schüler) in den Worten: "Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte". S. im übrigen oben Dritter Teil.
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sungsrecht der Wirtschaft (vgl. Art. 151 Abs. 1 WRV, Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern) 405 wohl auf der Haben-, sogar "Fortschritt-Seite" verbucht werden. Doch wären demgegenüber auch neue Text- und Wirklichkeitsdefizite zu bilanzieren 406 : der Verfassungsstaat bleibt textlich wie in seiner Wirklichkeit immer nur "auf dem Weg" zu Gerechtigkeit und Gemeinwohl bzw. einem menschenwürdigen Kulturzustand 407 . Teilfortschritte seien damit gewiß nicht bestritten (ihre Möglichkeit schafft ein Stück des Ethos "wissenschaftlicher Vorratspolitik" in Sachen Verfassungsstaat): mehr als ein "Wandel", nämlich eine "gute Entwicklung" hat m.E. in der Art und Weise stattgefunden, wie das Privateigentum schon auf Verfassungstextebene differenzierter geworden ist: durch Normierung der Sozialpflichtigkeit wie in Art. 14 Abs. 2 GG, durch Erinnerung an seine "soziale Funktion" wie in Art. 42 Abs. 2 Verf. Italien (1947), auch Art. 33 Abs. 2 Verf. Spanien (1978) 408 , durch eigentums- und damit grundrechtspolitische Ziele wie in Art. 30 Schweizer Verfassungsentwurf für die Vorbereitung einer Total405 Gerade im Bereich des Verfassungsrechts der Wirtschaft bemühen sich jüngere Verfassungen um ein Mehr an normierenden Texten. Dabei fallen Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsklauseln auf (vgl. Art. 50 Verf. Costa Rica von 1949, zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff.: "Der Staat trägt Sorge für größeren Wohlstand der Einwohner des Landes, indem er die Produktion und die ausgeglichenere Verteilung des Reichtums organisiert und anregt".- Art. 110 Abs. 1 Verf. Peru von 1979, zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, welche auf eine menschenwürdige Arbeit als Hauptquelle des Reichtums und als Mittel der Verwirklichung der menschlichen Person gerichtet ist".- Art. 20 Abs. 1 Verf. Niederlande von 1983, zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.: "Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstandes sind Gegenstand der Sorge des Staates und der anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften".). S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 7. 406 Dies ist nur Konsequenz der "Tatsache, daß wir gleichzeitig Fortschritte und Rückschritte machen" (Sir Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1994, S. 154). Die Verfassungs(text)geschichte ist davon nicht ausgenommen. Denn sie ist Teil der allgemeinen (politischen) Geschichte, weil die Verfassungstexte nur ein besonderer Ausschnitt und besonderer "Aggregatzustand" dieser Geschichte sind. Von Popper her gedacht erweist sich aber der von der abendländischen Zivilisation geleistete Weg zur Demokratie als einer "Gesellschaftsform, die durch Worte verändert werden kann und hie und da - wenn auch selten - sogar durch vernünftige Argumente" (ebd., S. 130), dann doch als "Fortschritt". Die abendländische Zivilisation ist nach Popper "trotz allem... die freieste, die gerechteste, die menschlichste, die beste, von der wir aus der Geschichte der Menschheit Kenntnis haben. Sie ist die beste, weil sie die verbesserungsfähigste ist" (ebd., S. 128). Ihre juristische Gestalt hat diese Zivilisation aber im Typus Verfassungsstaat! 407 Zu diesem Verfassungsverständnis: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Voraufl. 1982. 408 Texte zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO., (Italien) bzw. JöR 29 (1980), S. 252 ff. (Spanien).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
revision der Bundesverfassung (1977) 409 . Als Teilfortschritt darf ferner die Entwicklung gelten, die die Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche in den neueren Schweizer Kantonsverfassungen nimmt: i. S. eines Weges vom klassischen Staatskirchenmodell hin zum von Toleranz und Parität, Offenheit und "Neutralität" des Staates bestimmten "Religionsverfassungsrecht . Doch was sich für das Heute als Teilfortschritt erweist, macht die verfassungsrechtliche Lösung (im "Staatskirchenrecht") von "gestern" nicht eo ipso zum "Irrtum" oder gar zum Unrecht: in vielem waren die (z.B. demographischen) Verhältnisse früher anders, z.B. gehörte die überwiegende Mehrheit eines Schweizer Kantons in der Vergangenheit der katholischen oder protestantischen Konfession an, darum erscheint die heute "überholte" Lösung als die damals angemessene. Gewiß, eine "Entwicklung" hat insofern stattgefunden, als jetzt für alle religiösen Minderheiten ein Mehr an Freiheit und Toleranz (insgesamt an Pluralismus) schon verfassungstextlich garantiert ist, und hier mag jener Fortschrittsprozeß gelingen, den Popper beobachtet, wenn er im Blick auf England und die Schweiz an die ethisch-politischen Ziele (wie die Toleranz) erinnert, die diese Länder im Wege der demokratischen Reform durchgesetzt haben 411 . Dennoch sollte eine Verfassungslehre immer zugleich die "Gegenrechnung" aufmachen und fragen können, welches die etwaigen "Kosten" solcher Entwicklungen sind, auf welchen anderen Feldern Defizite auftreten und wo der Typus "Verfassungsstaat" weiter verbesserungsfähig bleibt 412 (etwa im Umweltschutzrecht als Folge des Wirtschaftswachstums). 409
Diese Textstufenentwicklung ist interpretiert in dem Beitrag: Vielfalt der Property Rights..., AöR 109 (1984), S. 36 (38, 71 f.). 410 Dazu mein Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (385 ff.).- Zum "Religionsverfassungsrecht" P. Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft (1976), später in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, (2. Aufl. 1996) S. 325 ff.- Ganz offenbar hat Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953), zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995 (Ihre "Bedeutung [sc. der Kirchen und anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften] für die Bewahrung und Festigkeit der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt") den verfassungsändernden Gesetzgeber von Vorarlberg "inspiriert" (Art. 1 Abs. 1 S. 2: "Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt" [zit. nach LGB1. 1984, 12. Stück, Nr. 30]). Doch steht dieser Artikel an der Grenze dazu, was der religiös "neutrale" Verfassungsstaat hier normieren sollte. Fast identisch mit Vorarlberg jetzt Art. 109 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992). Zum Ganzen auch: Sechster Teil VIII Ziff. 10. 411 Sir Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 160 f. 412 So ist zu vermuten, daß die Aktualisierung des Verfahrensgedankens vor allem im Grundrechtsbereich vom Hamburger Deichurteil des BVerfG (E 24, 367 (401 f.)) über den "status activus processualis" (i.S. meines Regensburger Ko-Referates: Grundrechte
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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So gesehen sind die Begriffe "Textstufen", "Wachstumsprozesse" und "Verfassungsentwicklung" weit bescheidener und mit Vorbehalten zu verwenden, in dieser Bescheidenheit aber brauchbar. Sie wollen zum Ausdruck bringen, daß, mittelfristig betrachtet, dem Typus "Verfassungsstaat" eine relative Verbesserung seiner Problemlösungen inhaltlich und textlich möglich ist: i. S. eines "gedämpft optimistischen" Menschenbildes413 und eines ihm entsprechenden Wissenschaftsverständnisses 414. Damit ist keine pauschale Abwertung früherer Perioden oder Wachstumsstufen des Verfassungsstaates verbunden - ihre verfassungsgestaltenden Kräfte waren der Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsaufgabe institutionell nicht ohne weiteres "ferner" als die heutige Zeit: alles andere wäre Selbstüberschätzung der Nachgeborenen, also von uns jetzt Lebenden. Doch wird der Weg frei fur den einer offenen Gesellschaft zukommenden "bescheidenen" Optimismus: die Verfassungslehre kann und muß darum ringen, im Wege "guter" Verfassungspolitik auch "klassische" Problemlösungen fortzuschreiben, neue Probleme ggf. "neu" zu lösen und all dies in "verbesserter", meist differenzierterer Text-Form zu tun: im Sinne des Geschriebenheitspostulats 415 verfassungsstaatlicher Verfassungen, im Dienste der Menschenwürde 416 als "Sinn" und "Ziel" der (Verfassungs-)Geschichte 417.
im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.)) bis zur Mülheim-Kärlich-Entscheidung (BVerfGE 53, 30 bzw. 69) einerseits Ausdruck und Folge des Umstandes ist, daß der Leistungsstaat für die individuelle Freiheit neue Gefahrenzonen geschaffen hat, die früher (d.h. im klassischen Rechtsstaat) so nicht bestanden haben, andererseits sich der Verfassungsstaat deshalb verstärkt auf Verfahren "einlassen" muß, weil der fortschreitende Pluralismus immer weniger Bereiche kennt, in denen von vornherein inhaltlicher Konsens besteht. 413 Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 38 f., 42 f. 4,4 Vgl. K. R. Poppers "Optimismus" (Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 160), der darin besteht, daß er die "von ethischen regulativen Prinzipien inspirierte Gesellschaftskritik mancherorts" für erfolgreich hält. Ebd. zu den westlichen Demokratien als Formen offener Gesellschaft, "die unsere Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert" (S. 162) und als "pluralistische Gesellschaft" den Rahmen bildet für ethische, der Geschichte einen Sinn gebende Zielsetzungen (S. 160 ff.).- Zur Rolle der Wissenschaftsfreiheit in diesen Prozessen mein Beitrag: Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 330 (360 ff.). 415 Zur Verfassung als "geschriebener Verfassung": Κ Hesse, aaO., S. 14 f. 416 Zur "Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft" mein gleichnamiger Beitrag HdbStR Bd. I (1987), S. 815 ff. Zum Ganzen Sechster Teil VIII Ziff. 1. 417 So meint Karl Popper (Auf der Suche..., aaO., S. 157), daß "wir selbst" der politischen Geschichte einen Sinn geben und ein Ziel setzen können, und zwar einen menschenwürdigen Sinn und ein menschenwürdiges Ziel.- Auch J. Habermas, Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, 1973, S. 196, beruft sich letztlich (und endlich) auf die "alteuropäische Menschenwürde".- Eine geglückte allgemeine Menschenwürdeklausel in Art. 1 Abs. 2 Verf. Burgenland von 1981 (zit. nach: Die Burgenländische Verfassung, 1981): "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Bei einer Gesamtwürdigung der Schöpfungs- und Rezeptionsprozesse der westlichen Demokratien in den Jahren von 1776/1789 bis 1997 in Sachen verfassungsstaatliche Verfassungstexte läßt sich "schon" jetzt sagen, daß wohl alle Nationen nach und nach ihre spezifischen Textbeiträge zur Stufenentwicklung des Verfassungsstaates als Typus geleistet haben 418 . Vielleicht darf man an Goethes Dictum erinnern: "die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen jetzt auf den Typus "Verfassungsstaat" und die "Stimmen" bzw. "Notentexte" der einzelnen Beispielländer bezogen!
2. Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten a) Problem Neuere Verfassungen in der westlichen Welt, vor allem in Europa seit 1975 haben zahlreiche neue Texte geschaffen oder alte modifiziert, und die vergleichende Textstufenanalyse ist z.B. bei der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, den Präambeln, der Eigentumsgarantie, der Wissenschafts- und Kunstfreiheit, beim Thema "Staatsaufgaben" sowie "Arbeit" erprobt worden: mit dem Ergebnis der Beobachtung mannigfacher Differenzierungen 419.
schützt die Entfaltung der Bürger in einer gerechten Gesellschaft" und jetzt in Art. 30 Verf. Polen von 1997.- Ein Element des Menschenwürdebegriffs greift etwa Art. 26 Abs. 1 Verf. Portugal von 1976/92 eindruckvoll in den Worten heraus: "Das Recht eines Jeden auf die Identität der Person ... wird anerkannt". 41K In Stichworten formuliert: die USA steuerten Verfassungstexte zu Grundrechten, Gewaltenteilung und Föderalismus bei (seit 1776), Frankreich zu Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Demokratie, Grundrechten (in den Etappen: 1789/1791/1793/1848), Belgien zu den Grundrechten (1831), Deutschland zu Grundrechten (1848/1919/1949), Föderalismus (seit 1848), Verfassungsgerichtsbarkeit (1949) und (nach dem Vorbild von Art. 148 WRV) in den Ländern nach 1945 zu Erziehungszielen, Italien zu den sozialen Grundrechten (1947), die Schweiz zur Referendumsdemokratie (1874 ff.), Großbritannien zur parlamentarischen Demokratie (meist ungeschrieben), die iberischen Länder Portugal und Spanien (seit 1976 bzw. 1978) zum Wirtschafts- und Kulturverfassungsrecht, zur Präambelkultur sowie Pluralismus-Artikeln, die Niederlande zu Staatsaufgaben (1983); andere Länder wie Schweden oder Österreich leisteten Beiträge zur Textentwicklung des Typus Verfassungsstaat auf spezielleren Feldern (wie "Ombudsmann" und Volksanwaltschaft), Griechenland zur Verfassungsänderung (Art. 110 Abs. 2 bis 6 Verf. von 1975, zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.). 4,9 P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 1 12 (1987), S. 54 ff; Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS J. Broermann, 1982, S. 211 ff; Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 ff; Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 329 ff; Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR
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Da gerade die als Kulturwissenschaft verstandene Verfassungslehre die verfassungsstaatlichen Texte ernst nehmen muß 4 2 0 , ist eine Bestandsaufnahme des Formenreichtums dieser Texte, ihrer bereits sprachlich greifbaren Vielschichtigkeit und Funktionen Vielfalt 421 erforderlich; überdies haben Handwerk und Kunst der Verfassungsinterpretation in den letzten eineinhalb Jahrzehnten Bibliotheken hervorgebracht 422. Die Verfassungslehre muß ihren Gegenstand, die Vielfalt der Texte, in ihre Fragen einbeziehen. Schon ein flüchtiger Blick auf die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen zeigt, wie sehr diese "gewachsen" sind und sich - gegenüber der Typik des älteren Verfassungsstaates formal und inhaltlich ausdifferenziert haben. b) Bestandsaufnahme in Auswahl, die Beispielsvielfalt Die Bestandsaufnahme ringt um eine Aufbereitung der Verfassungstexte unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen, der rechtstechnisch-dogmatischen und der Funktionen-Vielfalt. Diese Aspekte gehören zusammen, müssen aber zunächst getrennt aufgeschlüsselt werden. Auszugehen ist von der Kongruenz der Text-Formen und Text-Inhalte. Verfassungslehre als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" knüpft präzise an die Texte an, greift aber auf ihre auch im Entstehungsprozeß präsenten (!) kulturellen "Kontexte" zurück, um den ganzen vielschichtigen Inhalt der Texte zu gewinnen. Das ist keine Relativierung der Texte, sondern ihre Fundierung. Es wird sich zeigen, daß die Text-Formen höchst differenziert verwendete und entsprechend zu interpretierende Textinhalte indizieren. Der "Mikrokosmos" der einzelnen Textstellen ist ein Element im "Makrokosmos" des Ensembles des Verfassungsganzen. Das führt zur Forderung nach einem differenzierten Einsatz der Methoden der Verfassungsinterpretation. Die Vielfalt des scheinbar nur äußeren Text-"Gewandes"
110 (1985), S. 577 ff; Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.; Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff. 420 Dazu mein Beitrag Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS K. J. Partsch, 1989, S. 555 ff. 421 Einzelheiten in meinem Beitrag: Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte, in: FS D. Schindler, 1989, S. 701 ff. S. auch P. Badura, Arten der Verfassungssätze, HdbStR Bd. VII, 1992, S. 33 ff.; G.F. Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht..., AöR 120 (1995), S. 33 ff. Vgl. noch unten 3). 422 Z.T. dokumentiert in dem von R. Dreier/F. Schwegmann herausgegebenen Band Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; s. im übrigen: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 19 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 123 ff.; C. Starck, Die Verfassungsauslegung, HdbStR Bd. VII, 1992, S. 189 ff.
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der Verfassungsinhalte deutet auf eine Vielfalt der Inhalte und Funktionen der Verfassungssätze hin. (1) Die sprachliche Vielfalt Viele Verfassungstexte unterscheiden sich schon sprachlich von Texten einfachen Rechts. Sie bieten außerdem in sich ein höchst differenziertes Bild. Man denke an die "Feiertagssprache" (vor allem in den Präambeln) und die eher rechtstechnisch-rational gehaltenen Organisations- und Kompetenznormen (etwa in Bundesstaatsverfassungen). Die spezifischen Präambelinhalte und funktionen ("Einstimmung" der Bürger und Gruppen bzw. des pluralistischen Volkes auf die Verfassung, "Verarbeitung" der Geschichte, Fundamentierung der nachfolgenden Verfassungstexte als "Konzentrat" 423 fordern eine "eigene" Sprache mit spezifischen "Klangfarben". Weite und Unbestimmtheit, auch "Offenheit" der Verfassungssätze 424 sind fast schon ein Gemeinplatz; bei näherem Zusehen zeigt sich aber, wie unterschiedlich dieser "Generalklausel-Charakter" der Verfassungssätze 425 ist (bis hin zur technisch wirkenden Spezialnorm) und wie gezielt der Wortlaut in Sachen Bestimmtheit variiert. In sprachlicher Hinsicht lassen sich Verfassungstexte eher symbolischrhetorischen, edukatorischen, ja sogar irrationalen ("Glaubens-")Inhalts unterscheiden von den stärker "positivistischen" juristisch-dogmatisch rationalen: bei vielen Übergängen und Mischformen. Felder, in denen der Verfassunggeber symbolisch-rhetorisch, ja mitunter theatralisch und "suggestiv" arbeitet, sind neben den Präambeln andere Partien der Verfassung: vor allem die Artikel zu Flaggen, Nationalfarben, Hymnen, Sprachen, Erziehungszielen, auch Feiertagen 426 als "irrationalen Konsensquellen" (K. Eichenberger). Beispiele sind: Art. 131 Verf. Bayern von 1946/1984 ("Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden"... "Oberste Bildungsziele sind Ehrfücht vor Gott ... Aufgeschlossenheit für alles 42 ' Dazu meine Bayreuther Antrittsvorlesung Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS J. Broermann, 1982, S. 211 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 8. 424 M Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 197: Grundrechte als "lapidare Generalklauseln". 425 Z.B. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 102, 168, 186,214,218. 426 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1982; dersFeiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 2 und 11.
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Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt ..."), Art. 32 Verf. Hessen von 1946 ("Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag aller arbeitenden Menschen. Er versinnbildlicht das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung"), Art. 139 der Weimarer-Reichsverfassung (WRV) bzw. Art. 140 GG ("Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt") und Art. 56 Verf. Spanien von 1978 ("Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer. Er wacht als Schiedsrichter und Lenker über das regelmäßige Funktionieren der Institutionen ..."). Ein "rethorisches" Element läßt sich sogar in manchen Partien der heute so verfeinerten Artikel zu den (wachsenden) Staatsaufgaben entdecken 427 . Schließlich greift dieser "Geist" und diese Sprache sogar in Grundrechtsgarantien hinüber 428 . Den Prototyp einer sprachlich "kultivierten" und inhaltsreichen Präambel hat die Verfassung Spaniens von 1978 geschaffen 429. Verf. Portugal (von 1976/92) beginnt ihre Präambel mit den großen Sätzen: "Am 25. April 1974 krönte die Bewegung der Streitkräfte den langjährigen Widerstand des portugiesischen Volkes mit dem Sturz des faschistischen Regimes und gab damit dem größten Wunsch des Volkes Ausdruck. Portugal von Diktatur, Unter427
Art. 81 Verf. Portugal von 1976/92: "Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat der Staat vorrangig die folgenden Aufgaben: a) das Anwachsen des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens und der Lebensqualität des Volkes, insbesondere der am wenigsten begünstigten Schichten, zu fördern..." (zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.).Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg (1992): "Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens ist Pflicht des Landes und aller Menschen". 428 Beispiele: Art. 22 Abs. 3 Verf. Niederlande von 1983 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff: "Der Staat und die anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften schaffen Voraussetzungen für die soziale und kulturelle Entfaltung und für die Freizeitgestaltung".- Art. 19 Abs. 1 Verf. Kanton Jura von 1977: "Le droit au travail est reconnu".§ 25 Abs. 2 Verf. Kanton Aargau von 1980: "In Beachtung der Verantwortung des Einzelnen trifft er (sc. der Staat)... Vorkehren, damit jedermann... c) eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden kann ..." (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff).- Art. 25 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975: "Die Anerkennung und der Schutz der grundlegenden und immerwährenden Menschenrechte durch den Staat ist auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet" (zit. nach JöR 32 (1983), S. 355 ff). 429 Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.: "Die spanische Nation, von dem Wunsche beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und dem Wohl aller ihrer Bürger förderlich zu sein, verkündet in Ausübung ihrer Souveränität ihren Willen: das demokratische Zusammenleben zum Schutz der Verfassung und der Gesetze und im Rahmen einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung zu gewährleisten; einen Rechtsstaat zu konsolidieren, der die Herrschaft der Gesetze als Ausdruck des Willens des Volkes sichert; alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte und bei der Pflege ihrer Kultur und Traditionen, Sprachen und Institutionen zu schützen ...".
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drückung und Kolonialismus zu befreien, bedeutete einen revolutionären Wandel und den Beginn einer historischen Wende für die portugiesische Gesellschaft. Die Revolution gab den Portugiesen die Grundrechte und Grundfreiheiten zurück...". Pathos und Ethos sind hier schon sprachlich greifbar. Die Ausstrahlung der spanischen und portugiesischen Präambel auf neue lateinamerikanische Verfassungen ist evident: man vergleiche etwa Präambel der Verf. Guatemala von 1985 430 : "... wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an ...", auch Perus von 1979 431 . Eine in Rhythmus, Inhalt, Sprache und Form besonders "ansprechende", den Bürger "einstimmende" Präambel ist der Verf. Kanton Basel-Landschäft von 1984 gelungen 432 : "Das Baselbieter Volk, eingedenk seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt, im Willen, Freiheit und Recht im Rahmen seiner demokratischen Tradition und Ordnung zu schützen, gewiß, daß die Stärke des Volks sich misst am Wohle der Schwachen, in der Absicht, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern, entschlossen, den Kanton als souveränen Stand in der Eidgenossenschaft zu festigen und ihn in seiner Vielfalt zu erhalten ,.." 433 . Diese Feiertagssprache und -kultur der Präambeln hat ihre lange Tradition, sie repräsentiert nicht etwa eine neue Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Das zeigen ältere Präambeln in der Schweiz (z.B. BV: "Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die schweizerische Eidgenossenschaft, in der Absicht, den Bund der Eidgenossen zu festigen, die Einheit, Kraft und Ehre der
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Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. Die Präambel (alte) Verf. Peru von 1979 beginnt: "Wir, Abgeordnete der Verfassunggebenden Versammlung, Gottes Schutz anbefohlen und in Ausübung der souveränen Gewalt, die uns das Volk Perus übertragen hat; im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person und daran, daß alle Menschen die Würde und Rechte universeller Gültigkeit besitzen, die vor dem Staat bestanden und diesem übergeordnet sind ...". 432 Zit. nach JöR 34 (1985), S. 451 ff. 433 Préambule Verf. Kanton Jura von 1977 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff., lautet: "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des droits de l'homme de 1798, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l'homme de 1950 ...". Präambel Verf. Bern (1993): "In der Absicht, Freiheit und Recht zu schützen und ein Gemeinwesen zu gestalten, in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammenleben". 431
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern..." 434). Doch erlebt die Präambelkultur heute einen starken "Wachstumsschub": vor allem im Blick auf werthafte Anreicherungen ganz im Sinne des die Grundrechte einbeziehenden "Aufgabendenkens" 435 . Das zeigt sich jetzt sogar in Österreich 436 - trotz des Hintergrundes seiner präambelfeindlichen, betont "formalen" Verfassungsstaatstradition (vgl. BV-G 1920). Repräsentativ für die drei Charakteristika verfassungsstaatlicher werteorientierter Präambeln (Feiertagssprache, " Verarbeitung" der Geschichte und Vorwegnahme der substantiellen Gehalte der Verfassung vor allem nach der Grundrechts- und Staatsaufgabenseite hin) ist die Präambel Verf. Bremen von 1947: "Erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Mißachtung der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen verursacht hat, sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird" 43 . Überaus geglückt sind jetzt auch die Verfassungen bzw. Präambeln der fünf neuen Bundesländer von 1992/93, die Verfassungspräambel Polens (1997) sowie Madagaskars (1995) und Togos (1992).
434 Vgl. auch Präambel Verf. Irland von 1937 (zit. nach P.C. Mayer-Tasch, (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975): "Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt.., in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus... In dankbarer Erinnerung an ihren heldenhaften und unermüdlichen Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit unserer Nation und in dem Bestreben, unter gebührender Beachtung von Klugheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das allgemeine Wohl zu fördern, auf daß die Würde und Freiheit...". 435 Dazu unten sub 2 (b) (bbb). 436 Vgl. die 1980 in die Verf. Tirol von 1953 eingefügte Präambel: "... im Bewußtsein, daß die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe, die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes, die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und Vollziehung des Landes sein muß ...".- Damit ist sprachlich eine Variante der verfassungsstaatlichen Präambeltradition und -kultur geglückt und inhaltlich die "Essenz" der Verfassung Tirols in Sachen Grundrechte und Staatsaufgaben erkennbar (dazu Art. 7, 9, 10, 11, 13 ebd.). 437 Zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen (2) Die rechtstechnisch-dogmatische Vielfalt
Die sprachlichen Differenzierungen bzw. die "Figuren-Vielfalt" der Verfassungssätze - sie nehmen im Verlauf der Wachstumsprozesse des Typus Verfassungsstaat vor allem seit 1975 zu - sind kein Selbstzweck. Die Verfassunggeber haben sie um bestimmter Inhalte und Funktionen willen geschaffen. Freilich "entwickelt" die Dogmatik im Rahmen ihrer Kunstlehren aus groben, ggf. noch zu undifferenzierten Texten inhaltliche Vielfalt über den Text hinweg und hinaus. Doch dürfte es kaum eine Figur der Dogmatik geben, die heute nicht in irgendeinem verfassungsstaatlichen positiven Verfassungstext schon Gestalt angenommen hätte - so intensiv ist die internationale Zusammenarbeit in Sachen Verfassungsstaat 438. Unterscheiden 439 läßt sich eine reiche Skala von der formalen Kompetenznorm über das "objektive" Verfassungsprinzip und den Verfassungsauftrag bis hin zum subjektiven (öffentlichen) Grund-Recht. Oft sind mehrere dieser Dimensionen in denselben Verfassungssätzen bzw. konstitutionellen Normenkomplexen enthalten bzw. von Lehre und Rechtsprechung entwickelt worden. Man denke an die viel zitierte "Mehrdimensionalität" von Grundrechten als objektiven Normen, "Prinzipien", subjektiven öffentlichen Rechten, Verfassungsaufträgen, Schutzgehalten, Teilhaberechten oder an die Mehrschichtigkeit des Sozialstaatsprinzips vom Programmsatz bis zum Auslegungstopos, vom subjektiven Mindestrecht (auf Sozialhilfe) bis zum Gesetzgebungsauftrag. Offenbar besteht heute eine Tendenz, Verfassungsnormen möglichst vielschichtig abzulegen und abzulegen, in ihnen nicht nur eine Geltungsdimension zu erschließen 440 ("Optimierung"). Diese Verfeinerung ist zu begrüßen, sie ist vor allem in der Schweiz und in Deutschland 441 nachweisbar. Auch "die Zeit" wird textlich unterschiedlich verarbeitet: von den bewahrenden Rezeptionsklauseln bis zum dynamischen Verfassungsauftrag. Insgesamt erweist sich die Rechts"quellen"-Lehre schon begrifflich-bildlich als fragwürdig. 438
Dazu die Belege in meinem Beitrag Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS K. J. Partsch, 1989, S. 555 ff. 439 K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 117 ff. schlägt folgende Typisierung der Verfassungsrechtssätze vor: Organisationsrechtliche und materiellrechtliche, Kompetenznormen, Kreationsnormen, Verfahrensnormen, Revisionsnormen, Normativbestimmungen, Grundrechtsnormen, Staatsstruktur- und Staatszielnormen, Verfassungsauftragsnormen, sonstige materiell-rechtliche und Organisationsrechtliche Normen. Auch er beobachtet aber viele "Übergänge". 440 Repräsentativ ist BVerfGE 6, 55 (72); 7, 198 (203 ff.); 39, 1 (38); 95, 193 (209). 441 Vgl. z.B. J.P. Müllers Lehre von den "Teilgehalten" der Grundrechte (Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 46 ff); K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 28 ("Optimierung"). Vgl. auch BVerfGE 81, 278 (292): "Optimierung".
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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"Idealtypisch" sind zwei Grundmodelle nachweisbar: (a) Das Ermächtigungs- und Grenzziehungsmodell Gemeint sind die - klassischen - Organisations- und materiellrechtlichen Normen, bei denen der Ermächtigungs- und Grenzziehungscharakter im Vordergrund steht. Einerseits werden staatliche Organe geschaffen ("Kreationsnormen"), Kompetenzen eingerichtet und Funktionen verteilt ("Kompetenznormen"), Befugnisse zuerkannt, Verfahren festgelegt und Zuständigkeitsbereiche abgegrenzt (z.B. zwischen Bund und Ländern, einzelnen Staatsorganen, Staat und Kirche); andererseits wird in Gestalt der Grundrechte materiellrechtlich der gesellschaftlich-private Bereich des Bürgers bzw. der Gruppen von den staatlichen geschieden ("Einschränkungen" und "Eingriffe" als Ausnahmen). Diese Form- und Texttypik ist am reinsten in der Bismarck-Verfassung von 1871 durchgeführt: fast die ganze Verfassung gleicht einem "Organisationsstatut". Die Grundrechtskataloge im Stil der Erklärung Frankreichs von 1789 442 oder Belgiens (1831) repräsentieren das klassische Modell für den materiellrechtlichen bzw. Grundrechtsteil. Der "Dualismus" zwischen organisatorischem und Grundrechts-Teil war ein dogmatischer Ausdruck dieses Normierungs-Stils, ebenso das "Eingriffs- und Schrankendenken" 443 bzw. die Überbetonung des Formalen und Technischen. Aufgaben-Normen fehlen oder sind nur vereinzelt anzutreffen, so in der Präambel der Bismarck-Verfassung von 1871 ("ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes") und in Gestalt der Bundeszwecke in Art. 2 Schweizer BV von 1874 ("Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt" 444 ). Mit Ver442
Anders die Präambel von 1789 ("feierliche Erklärung", "geheiligte Menschenrechte"). 443 Dazu kritisch P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO, S. VII f , 136 ff.- S. auch Bericht der Schweizer Expertenkommission, 1977, S. 14: "Der bloß auf Staatsabwehr eingestellte Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts mochte mit reinen Ermächtigungsund Schrankennormen auskommen". 444 Vgl. aber auch die Feiertagsform, Bekenntnisstruktur und Inhaltsfülle der Bill of Rights von Virginia (1776): "I. Daß alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind und bestimmte angeborene Rechte besitzen, die sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen; nämlich das Recht auf den Genuß des Lebens und der Freiheit...". US-Bundesverf. (1787): "Wir... in der Absicht, ... Gerechtigkeit zu befestigen, innere Ruhe zu gewährleisten, für die gemeinsame Verteidigung zu sorgen, die allgemeine Wohlfahrt zufördern und die Segnungen der Freiheit uns und unseren Nachbarn
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
fassung als "Ermächtigung und Schranke" läßt sich stichwortartig der organisatorische und Grundrechtsteil dieses Typus kennzeichnen: Schranke im Verhältnis Staat/Bürger, Einschränkung aber auch im Verhältnis Bürger/Staat, wo dieser die grundrechtliche Freiheit begrenzt (im Interesse der anderen), sowie Grenzziehung zwischen Zentralstaat und Gliedstaat (in Bundesstaaten)445. (b) Das Grundwerte-Modell Das zweite "Modell" ist der Verfassungstypus, der textlich neben den Ermächtigungen und Grenzziehungen Inhaltliches, Werthaftes, Grundsätzliches, vor allem "Aufgaben" zum Ausdruck bringt. R. Smends Verständnis der Verfassung als "Anregung und Schranke" faßt beide Aspekte zusammen, wobei die "Anregung" in den unterschiedlichsten Formen, Intensitäts- und Abstraktionsstufen bzw. "Dichtegraden" bis hin zur normativen Verpflichtung auftreten kann. Gingen schon die französischen Verfassungen nach 1791 diesen Weg der inhaltlichen Anreicherung 446 , so verfolgen die neuen Verfassungen in Europa und Amerika seit 1975 verstärkt die Tendenz materieller "Aufladung". Das hat (partei)politische Hintergründe - jeder am pluralistischen Prozeß und Kompromiß der Verfassunggebung Beteiligte möchte "seinen" Teil, seine "Politik" einbringen -, aber wohl auch wissenschaftliche. Das "materiale Verfassungsverständnis" beginnt den Textgeber zu beeinflussen. U. Scheuners Formel von der Verfassung als "Norm und Aufgabe" 447 liefert ein prägnantes Stichwort für diese Entwicklungstendenz. Die Steuerung bzw. Verarbeitung, auch "Beanzu sichern ..." (zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, I. Bd. 1947). 445 Auch die Verfassung Österreichs von 1920 bleibt im Kontext des staatsrechtlichen Positivismus von H. Kelsen in der Tradition des Verfassungstypus, der eher formal-technisch i.S. des Grenzziehungs- und Kompetenzverteilungsdenkens steht. Dieser "Stil" hat in den Verfassungen der Bundesländer nach 1945 zunächst "Schule" gemacht. Erst neuerdings finden sich inhaltliche Anreicherungen: Z.B. in Gestalt des neuen Staatsaufgaben-Artikels in Art. 4 Verf. Niederösterreich (1979), des StaatszielArtikels 1 Abs. 1 Verf. Burgenland (1981) ("Burgenland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat", "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft"), vor allem aber in den Bekenntnis- und Staatsaufgaben- bzw. Grundrechtsaufgaben-Artikeln der neuen Verfassung von Vorarlberg von 1984 (Art. 7, auch 8 (Ehe und Familie), 9 (Bildung und Kultur)).- Auch die Verfassungen der Deutschen Länder in der Weimarer Zeit (zit. nach O. Ruthenberg, 1926) waren denkbar karg, anders die nach 1945 ergangenen. 446 Man vergleiche ihre Texte, zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les constitutions de la France depuis 1789, 1979. Stationen sind: Verf. von 1848 (z.B. Präambel und Art. 13), Art. 22 bis 39 Verf. 1946. 447 U. Scheuner, Art. Verfassung (1963), jetzt in: Staatstheorie und Staatsrecht, Ges. Schriften, 1978, S. 171 (172).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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spruchung" der Wirklichkeit ist eine schon textlich ablesbare Eigenheit der modernen Verfassunggeber (pionierhaft: Form und "Geist" des Zweiten Hauptteils der WRV von 1919, besonders Art. 119 - 122, 139, 148, 151, 155 448 , vgl. jetzt für "Natur und Umwelt" Art. 39 - 40 Verf. Brandenburg, 1992). Auffallig ist die materielle Anreicherung der Verfassung auf allen Problemfeldern und in allen Arten von Verfassungsnormen - wenngleich national und in der Zeitachse unterschiedlich: teils wird schon die Präambel um Aufgaben angereichert 449, teils wird der (nicht nur bundesstaatlich bedingte) Kompetenzteil in die Aufgaben-Form gebracht, teils begegnen Grundrechte auch als Staatsaufgaben oder im Verfahrensgewand, teils werden ganz neue Normtypen geschaffen (etwa "Im Geiste-" oder "kulturelles Erbe-Klauseln", Bekenntnisartikel oder Grundsatznormen) 450. Überdies gibt es Mischformen. Diese "Modell-Lehre" bedarf der Relativierung: Je nach "Kodifikationsstil" und das heißt auch "Alter" einer Verfassungsurkunde bzw. ihrer Änderungen steht (in Europa) das Formale und Technische unterschiedlich stark im Vordergrund, neuere Verfassungen arbeiten gerne material und (wort)"reich", ohne auf ältere Texte zu verzichten. Doch gibt es selbst heute Unterschiede. So ist etwa die Verfassung der Niederlande von 1983 451 mit "großen" Gehalten und Programmen eher sparsam und zurückhaltend, während die neuen Verfassungen der beiden iberischen Länder Portugal und Spanien 452 barocke, materiale, viele Differenzierungen andeutende Sätze bevorzugen. Und: Kaum ein inhaltliches Verfassungsthema ist auf nur eine Textgestalt fixiert. Im organisatorischen Teil der Verfassungen können sich starke materiale Elemente finden, im Grundrechtsteil auch formal-organisatorische. Die Teile wachsen zusammen. Schliesslich: Es gibt viele "Mischformen": etwa kasuistische Aufgaben-Normen, Grundrechtsaufgaben-Normen ("soziale und kulturelle Grundrechte"), spezielle Schrankenklauseln, nur an den Gesetzgeber gerichtete Aufträge (Programm-Artikel).
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Dazu A. Hensel, Grundrechte und politische Weltanschauung, 1931.- "Klassisch" gewordene Systematisierungen bei C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931), jetzt in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140 ff., ders., Grundrechte und Grundpflichten, ebd. S. 181 ff. 449 Klassisch Präambel US-Bundesverfassung von 1787. 450 Dazu unten, aaO. Ein "Textreservoir" für kulturelles Erbe-Klauseln ist das Dokument des Krakauer Symposiums über das kulturelle Erbe der KSZE-Staaten von 1991, EuGRZ 1991, S. 250 ff; dazu H. Tretter, Anmerkungen zum Dokument über das Krakauer Symposium, ebd. S. 253 ff. 451 Text in JöR 32 (1983), S. 277 ff.- Karg ist auch der Grundrechtskatalog der Verfassung von Island (1944/68), zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO., (§§ 62 - 74). 452 Texte in JöR 32 (1983), S. 446 ff. bzw. 29 (1980), S. 209 ff. 27 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die Texte können insofern verschieden "gearbeitet" sein, als der Verfassunggeber sie teils generalklauselartig offen, teils speziell und kasuistisch faßt; eine Mischform bilden die im Insbesondere- oder Beispielsstil "getexteten" Verfassungssätze (bei Grundrechten und ihren Schranken, bei allgemeinen oder detaillierten Staatsaufgaben-Normen). Der Formenreichtum manifestiert sich in der wechselnden Verwendung des "Katalogs" bestimmter Grundrechte bzw. Verfassungsgüter. Die Aufzählung kann "komprimierend" wirken, sie kann aber auch in Überfrachtung der Verfassungstexte umschlagen. Bald finden sich offene, d.h. nicht abschließend gemeinte Kataloge, bald "geschlossene", erschöpfend gemeinte Kataloge 453 . Konstitutionelle Legaldefinitionen, d.h. Begriffsbestimmungen auf Verfassungsebene bilden ein häufig eingesetztes Instrument. Die Verfassung ist hier um ein Höchstmaß an Präzision bemüht, die Prozesse der Verfassungskonkretisierung vereinfachen sich. Beispiele finden sich in Verfassungen sehr unterschiedlicher Entwicklungsstufen und in sehr verschiedenen Problemfeidem 4 5 4 . (aa) Bekenntnis-Normen, Symbol- und Grundwerte-Klauseln, "Im Geiste"- und "kulturelles Erbe"-Artikel, Identitäts-, Grundsätze-, Vorrang-Klauseln Diese Gruppe faßt Verfassungsnormen zusammen, die als ganzes oder in Teilen Identitätselemente des jeweiligen Verfassungsstaates zum Ausdruck bringen, in Gestalt von: 453
Hier einige Beispiele: Art. 40 Abs. 6 Nr. 1 Verf. Irland von 1937 zählt Rechte des Bürgers auf (Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit), Art. 45 Abs. 2 ebd.: Politische Ziele ("insbesondere").- Vgl. auch Kap. 2 § 1 Verf. Schweden von 1974 (zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff).- Besonders häufig setzt Verf. Portugal den Katalog als Stilmittel ein. Art. 9 Verf. Portugal (1976/82) zählt "wesentliche Aufgaben des Staates" auf (von der Gewährleistung der nationalen Unabhängigkeit und der Grundrechte bis zur Verteidigung des Kulturgutes oder den Schutz von Umwelt und Natur). Art. 81 normiert einen langen Katalog der "vorrangigen" Aufgaben im Bereich der Wirtschaftsund Sozialpolitik (lit. a bis η!). Art. 122 zählt auf, was im Amtsblatt zu veröffentlichen ist. S. auch die langen Kataloge in Sachen Zuständigkeiten und Kompetenzen (Art. 164 bis 168, 200 bis 204), in Sachen nicht abänderbare Verfassungsprinzipien (Art. 290).- S. auch den Grundrechts-Katalog in Art. 2 Verf. Peru von 1979 (Ziff. 1 bis 20), zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff, und in § 6 Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 451 ff). 454 Art. 81 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978: "Organgesetze sind jene Gesetze, die sich auf die Entwicklung der Grundrechte und der öffentlichen Freiheiten beziehen ...".- S. auch Art. 121 GG (Begriff der Mehrheit).- Art. 22 Abs. 1 Verf. Irland von 1937 (Definition der "Finanzgesetzvorlage").- Art. 154 Verf. Hessen von 1946 ("Inländer").Art. 51 Verf. Schleswig-Holstein von 1949 ("Mehrheit").
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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- Bekenntnisnormen, Symbol- und Grundwerte-Klauseln, - "Im Geiste-Artikeln" oder "kulturelles Erbe"-Klauseln, -sonstigen "pauschalen" Bezugnahmen der Verfassung auf sich selbst ("Schutz" der Verfassung), - Grundsätze- und Vorrang-Klauseln. Diese Klauseln sind Ausdrucksformen und Vehikel einer inhaltlichen werteorientierten Anreicherung, ja "Aufladung" der Verfassungen. Sie kommen an vielen Stellen vor, potentiell in allen Teilen der Verfassungsurkunde, sie sind in sich differenziert, auch zu Mischformen, und sie prägen die Verfassungen der einzelnen Länder verschieden stark. Im ganzen nehmen sie heute eher zu als ab. Sie spielen in die Gruppe der Aufgaben-Normen hinüber (z.B. in Art. 3 Abs. 1 und 2 Verf. Bayern oder in der GG-Formel vom "sozialen Rechtsstaat"), bleiben aber von dieser unterscheidbar. In älteren Verfassungen finden sie sich nur bruchstückhaft oder ansatzweise, erst in neueren, etwa in denen der iberischen Länder, sind sie oft gleichzeitig und "massenhaft" nachweisbar. Treten sie mit der Gruppe (bb) (Aufgabennormen) und (cc) (mehrschichtig gewordene Grundrechtsnormen) gleichzeitig auf, liegt der Prototyp einer "materialen" Verfassung vor. "Bekenntnis-Normen" finden sich in vielen Bereichen. Sie dringen in neueren Verfassungstexten stärker nach vorn: etwa in Präambeln 455, in GrundlagenArtikeln 4 5 6 , in Feiertagsgarantien 457, aber auch in anderen Partien der Verfas-
455 Vgl. Vorspruch Verf. Baden-Württemberg von 1953 ("in feierlichem Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen ...").- S. auch Präambel Verf. Frankreich von 1958: "Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten und mit den Grundsätzen der nationalen Souveränität...". Ähnl. Präambel Verf. Benin (1990). 456 Verf. Spanien von 1978, Vortitel, Art. 1 Abs. 1; Art. 1 Abs. 2 GG von 1949: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt".- S. den Bekenntnis-Artikel in der neuen Verfassung von Vorarlberg von 1984: Art. 1(1) "Vorarlberg... bekennt sich zu den Grundsätzen der freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung. Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt" (zit. nach LGB1. 1984, S. 99 ff). 457 Z.B. Art. 3 Abs. 2 S. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953: "Er (sc. der 1. Mai) gilt dem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung"; ähnlich schon Art. 25 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950, Art. 55 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947; Art. 32 Satz 2 Verf. Hessen von 1946: "Er (sc. der 1. Mai) versinnbildlicht das Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden und Völkerverständigung" (zit. nach C. Pestalozza, (Hrsg.), aaO.). Zu ihrer verfassungs-
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Fünfer Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sung 458 . Die "Bekenntnisform" ist ein Hinweis auf die große Bedeutung der Inhalte, auf ihre Qualifizierung als Grundwerte. Sie sucht objektiv vorhanden Gedachtes mit der höchsten Stufe der Identifizierung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt, des Volkes bzw. des einzelnen, zu verbinden (fast i. S. von "Glaubens"-Artikeln). Rationalität und subjektiv-irrationale Inhalte gehen eine denkbar enge Verbindung ein. Der Verfassunggeber schafft hier im Grunde eine Identitätsklausel; er trifft eine Aussage über sein Selbstverständnis 459. Symbol-Artikel 460 sind den Bekenntnisnormen eng verwandt. Ein gutes Beispiel ist Art. 2 Abs. 2 Verf. Frankreich von 1958 461 (ähnl. Art. 1 Verf. Benin): "L'Emblème national est le drapeau tricolore, bleu, blanc, rouge. L'hymne national est "la Marseillaise". La devise de la République est: "Liberté, Egalité, Fraternité". Son principe est: gouvernement du peuple, par le peuple et pour de peuple.", aber auch der Amtseid des Präsidenten der Republik Irland 462 . Nicht zufällig figurieren sie meist in den Grundlagen-Artikeln der Verfassung 463. Spanien theoretischen Einordnung: P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 458 Z.B. Art. 69 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 im Abschnitt "Völkerrechtliche Bindungen": "Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung". Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg (1992): Bekenntnis zu den Grundrechten der EMRK, der ESC etc. S. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Thüringen (1993). 459 Solche Bekenntnisnormen schließen die gleichzeitige Garantie der Bekenntnisfreiheit als Grundrechte (z.B. in Art. 4 GG oder Art. 8 Abs. 1 S. 1 Verf. Italien: "Alle religiösen Bekenntnisse sind vor dem Gesetz gleichermaßen frei") nicht aus. Vgl. auch Art. 5 Verf. Schleswig-Holstein von 1949: "Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei, es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten". 460 Zu den "Symbolen", z.B. den Reichsfarben (Art. 3 WRV): R. Smend,, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 162 f., 260 ff. 461 Zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979. 462 Art. 12 Abs. 8 Verf. Irland, zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Verfassungen, 2. Aufl. 1975: "In der Gegenwart des Allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig...". 463 So in Verf. Italien (1947), Grundprinzipien, Art. 12: "Die Flagge der Republik ist die italienische Trikolore ...".- Art. 11 Verf. Portugal (Flagge und Hymne); Art. 5 Verf. Berlin von 1950: Landessymbole: "Berlin führt Flagge, Wappen und Siegel mit dem Bären...".- Die Verfassung Burgenland (LGB1. Burgenland vom 22.12.1981) enthält einen Sprachenartikel in Art. 6 und einen Art. 8 über "Landessymbole" (Farben, Wappen, Siegel, Hymne). Beide figurieren in dem 1. Abschnitt "Allgemeine Bestimmungen".· Ähnlich ist Verf. Tirol von 1953/80 strukturiert: Allgemeine Grundsätze: § 4 (Deutsche Sprache als Landessprache), § 5 (Wappen und Farben). Gleiches gilt für Verf. Kärnten von 1974 (§§ 4, 5) oder Verf. Vorarlberg von 1984 (§§ 5, 6).- Vgl. noch den auf die "Symbole" bezüglichen Art. 68 Verf. Bremen von 1947: "Die Freie Hansestadt Bremen führt ihre bisherigen Wappen und Flaggen"; zuletzt Art. 161 ff. Verf. Angola von 1992. Zum Ganzen unten Sechster Teil Inkurs.
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(Verf. 1978) fixiert seinen Sprachen- und Flaggen-Artikel ebenfalls im "Vortitel" (Art. 3 und 4). Und es verwendet (für den König) sogar ausdrücklich den Begriff "Symbol" 4 6 4 . Den Bekenntnis- und Symbol-Artikeln nahe kommen Grundwerte-Klauseln. Prägnantes Beispiel ist Art. 12 Abs. 6 Verf. Nordrhein-Westfalen: "In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungsund Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse... Überzeugungen gemeinsam unterrichtet ..." 465 . Sie überschneiden sich mit den auf die Grundsätze der Verfassung verweisenden Normen wie Art. 36 Verf. Rheinland-Pfalz 466 . Den wohl prägnantesten Grundwerte-Artikel hat der Verfassunggeber Spaniens (1978) in den Worten des Art. 1 Abs. 1 geschaffen 467: "Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als obersten Werten seiner Rechtsordnung". Einen heute nicht seltenen Typus von Verfassungstexten bilden die "Im Geiste-Artikel". Sie finden sich in vielerlei Regelungsfeldern, so in Präambeln 468 , in Erziehungszielen 469, in Eidesklauseln 470 und im Dienst der Umschreibung 464
Art. 56 Abs. 1 : "Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer". Ähnlich arbeitet Art. 1 Verf. Japan (zit. nach R. Neumann, Änderung und Wandlung der Japanischen Verfassung, 1982, S. 185 ff): "Der Tenno ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes".- Art. 4 Verf. Luxemburg von 1868 (zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO.): "Die Person des Großherzogs ist heilig und unverletzlich".· § 5 Verf. Norwegen: "Die Person des Königs ist heilig".- Art. 85 Verf. Peru von 1979: Flaggen, Wappen und Nationalhymne als "Symbole des Vaterlandes".Art. 11 Verf. Georgien (1995): "The State Symbols of Georgia are determined by organic law." Art. 34 Verf. Burkina Faso (1997): "Die Symbole der Nation". 465 S. auch Art. 16 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg von 1953 ("Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte"). 466 "Lehrer kann nur werden, wer die Gewähr dafür bietet, sein Amt als Volkserzieher im Sinne der Grundsätze der Verfassung auszuüben. Vgl. auch Art. 8 Verf. Mazedonien (1991): "fundamental values"; Art. 3 Verf. Kroatien (1991): "valeurs suprêmes"; Art. 1 Abs. 1 Verf. Äquatorial-Guinea (1991): "höchste Werte". 467 Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. 468 Präambel Verf. Hamburg von 1952 ("Die Freie und Hansestadt Hamburg... will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein... In diesem Geiste gibt sich die Freie und Hansestadt... durch ihre Bürgerschaft diese Verfassung").- Präambel Verf. Berlin von 1950 ("In dem Willen..., dem Geiste des sozialen Fortschritts und des Friedens zu dienen..."). Präambel Verf. Brandenburg (1992): "Im Geiste der Traditionen von Recht, Toleranz und Solidarität...". 469 Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947 ("... und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen").- Art. 7 Abs. 2 Verf. Nordrhein-
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des Rechtsprechungsauftrags 471. Die "Im Geiste-Klauseln" 472 spiegeln den Versuch des Verfassunggebers, das Grundsätzliche seiner Inhalte, seiner Bewußtseinslage einzufangen und festzuhalten. Der Grundwerte-Bezug ist ebenso evident wie die juristische Positivität oder gar die Justitiabilität solcher Normen schwer erfaßbar bzw. durchsetzbar sind. Doch darf diese Normierungs- und (tendenziell auch) Positivierungstechnik als wichtiges Instrument im Arsenal des neueren Verfassunggebers gelten: an die Adresse aller drei Staatsftinktionen gerichtet und ggf. auch die Bürger verpflichtend. Die "kulturelles Erbe-Klauseln" sind aus demselben "Stoff und Geist". Sie finden sich in neuen Verfassungen, etwa in der Präambel Verf. Guatemala von 1985: "... wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an ... 1,473 . Auf weitere TextBeispiele sei verwiesen 474 (vgl. nur Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg: "Das
Westfalen von 1950: "Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit...". Allgemein zu den Erziehungszielen meine Studie: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 470 Z.B. Art. 111 Verf. Hessen von 1946 ("... sowie Verfassung und Gesetze im demokratischen Geiste befolgen und verteidigen werde"). 471 Z.B. Art. 134 Verf. Bremen von 1947 ("Die Rechtspflege ist nach Reichs- und Landesrecht im Geiste der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit auszuüben").Art. 110 S. 2 Verf. Saar von 1947: "In der Bindung an das Gesetz üben sie (sc. die Richter) ihr Amt im Geiste des demokratischen und sozialen Rechtsstaates aus".- Art. 62 Verf. Berlin (1950/94): "Die Rechtspflege ist im Geist dieser Verfassung und des sozialen Verständnisses auszuüben". 472 Das BVerfG verwandte sie im Lüth-Urteil: E 7, 198 (205): "jede ... Vorschrift muß in seinem (sc. des Wertsystems) Geiste ausgelegt werden". - "Klassikertext" ist § 112 Abs. 1 Verf. Norwegen von 1814: "Geist dieser Verfassung". 473 S.auch Präambel (alte) Verf. Peru von 1979: "... ebenso des berühmten Erbes von Sânchez Carrion, Gründer der Republik..." (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.). Femer Präambel Verf. Tirol von 1980 ("geschichtliches Erbe"); Verf. Niger (1996). 474 Z.B. Art. 46 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten garantieren die Erhaltung und fördern die Bereicherung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens und der darin enthaltenen Werte ...".- Art. 78 Abs. 2c Verf. Portugal: "Das Kulturgut zu fördern und zu schützen, damit es zu einem erneuernden Element der gemeinschaftlichen kulturellen Identität werde".- Art. 36 Verf. Peru: "Die zum Kulturbesitz der Nation erklärten archäologischen Fundorte und Überreste, Bauten, Monumente, Kunstgegenstände und Zeugnisse von historischem Wert stehen unter dem Schutz des Staates".- Art. 61 Verf. Guatemala: "Schutz des kulturellen Erbes". S. auch Art. 60 ebd. (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.).- Vgl. Präambel Verf. Hamburg: "Als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene Aufgabe...".- Präambel Verf. Bayern: "Mehr als tausendjährige Geschichte".- Die vielleicht umfassendste, über das Juristische hinausführende Umschreibung des - kulturellen - Erbes findet sich in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950: "... entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung
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kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert", Präambel Verf. Polen von 1997: "verpflichtet, alles Wertvolle aus dem über tausendjährigen Erbe an kommende Generationen weiterzugeben"). Diese Klauseln stehen wohl in einer Verwandtschaft zu der berühmten Wortschöpfung des Maltesers A. Pardo (1967) vom "Gemeinsamen Erbe der Menschheit" 475 . Sie sind eine Bereicherung des Textbildes verfassungsstaatlicher Verfassungen. Man darf von "kulturellem Patrimonium" sprechen. Prinzipien-Normen bilden eine Parallelform 476 . So stellt Verf. Guatemala von 1983 dem Abschnitt "Arbeit" den Satz vorweg: "Das Arbeitsleben des Landes muß in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit organisiert werden" (Art. - 101 S. 2) 4 7 7 . Im Textbild ähnlich arbeitet (alte) Verf. Peru (1979): Art. 110: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit ..." 478 . Und ganz im Sinne des "Schutzes" der Verfassung heißt es in Art. 277 Abs. 1 Verf. Portugal: "Verfassungswidrig sind alle Rechtsnormen, die die Bestimmungen der Verfassung oder die in ihr verankerten Grundsätze verletzen".
der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen...". Schon die vorangegangene Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949 hatte in ihrer Präambel ebenfalls zwischen dem Geistigen und den Rechtsprinzipien Brücken geschlagen: "... in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht".- Die Europäische Sozialcharta (ESC) von 1961 beschwört schon in ihrer Präambel die Ideale und Grundsätze, die der Mitglieder des Europarates "gemeinsames Erbe sind"; zugleich will sie aber auch "Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO.). 475 Dazu T. Oppermann, in: Lüneburger Symposion für H. P. Ipsen, 1988, S. 87; E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, S. 9 (15 f.). S. noch Sechster Teil XIII. 476 Vgl. Art. 101 Abs. 2 Verf. Saarland: "Die Änderung (sc. der Verfassung) darf den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nicht widersprechen".- S. auch Art. 129 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 56 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern. 477 Art. 118 Abs. 1 ebd. lautet: "Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Republik Guatemala basiert auf den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit". 478 S. auch ebd. Art. 30 S. 3: "Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht, ...unter Achtung der Verfassungsgrundsätze Bildungseinrichtungen zu gründen".
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Im Bereich der Erziehungsziele bedient sich Verf. Spanien von 1978 der Grundsätze-Figur 479. Die allgemeinste Form schuf Art. 1 Verf. Portugal (1976/92) 480 : "Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet ..." 481 . H. Hellers Theorie der MRechtsgrundsätze" das Verständnis dieses Artikel-Typus.
482
ist der klassische Rahmen für
Bezugnahmen der Verfassung auf sich selbst sind eine charakteristische neue Artikel-Form. Sie findet sich z.B. in "Ewigkeitsklauseln" 483 sowie in anderen Problemfeldern, etwa bei der Umschreibung der Treuepflicht der Lehrer 4 8 4 . Sehr oft handelt es sich um Artikelgruppen zum "Verfassungsschutz" im tieferen und weiteren Sinne. Besonders klar wird dies in der Verf. Hessen von 1946 485 . Ausländische Verfassungen wenden diese Artikel-Form auf weitere Bereiche an: etwa Art. 30 Abs. 3 (alte) Verf. Peru von 1979 486 , Art. 39 Verf. Georgien von 1995 auf die Grundrechtsentwicklungsklausel.
479 Art. 27 Abs. 2 lautet: "Ziel der Erziehung ist die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Achtung der demokratischen Grundsätze des Zusammenlebens sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten". 480 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff. 481 S. auch ihren Prinzipienkatalog in Sachen Wirtschafts- und Sozialordnung: Art. 80 Abs. 1 : "Die Wirtschafts- und Sozialordnung beruht auf den folgenden Prinzipien: a) Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt; b) Koexistenz der verschiedenen, staatlichen, privaten und genossenschaftlichen Eigentumsbereiche... ".- Spaniens Verf. von 1978 formuliert schon in einer Überschrift "Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik" (Tit. 1, Kap. 3). 482 H Heller, Staatslehre, 1934, S. 191 f., 222 ff., 255 ff. 483 Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern von 1946: "Anträge auf Verfassungsänderungen, die den demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, sind unzulässig".- Art. 20 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947: "Verfassungsänderungen, die die ... Grundgedanken der allgemeinen Menschenrechte verletzen, sind unzulässig".- Ähnlich Art. 150 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 ("demokratischen Grundgedanken der Verfassung"); Art. 64 Verf. Kamerun (1996).- Allgemeiner Textvergleich bei P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: FS H. Haug, 1986, S. 81 ff. Zum Ganzen schon Fünfter Teil III Ziff. 2. 484 Art. 36 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Lehrer kann nur werden, wer die Gewähr dafür bietet, sein Amt als Volkserzieher im Sinne der Grundsätze der Verfassung auszuüben". 485 S. Art. 146 Abs. 2 und 150 Abs. 1 im Rahmen des Abschnitts "Der Schutz der Verfassung". 486 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.: "Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht, ohne das Ziel der Gewinnerzielung unter Achtung der Verfassungsgrundsätze Bildungseinrichtungen zu gründen".- S. auch Art. 277 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/82): "Verfassungswidrig sind alle Rechtsnormen, die die Bestimmungen der Ver-
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Häufiger werden "Vorrang-Artikel", d.h. Verfassungsnormen, die ein bestimmtes Rechtsgut besonders herausstellen und damit als hochrangig bewerten; die Verwandtschaft zu Schutzklauseln487 liegt auf der Hand. Auch die Verfassungsrechtsprechung postuliert oft einen "Vorrang" 488 , eine gewiß nicht zufällige Parallelität. Ältere Beispiele sind etwa Art. 125 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946 ("Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes".), auch Art. 12 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947 ("Der Mensch steht höher als Technik und Maschine") oder Art. 24 Abs. 1 S. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950 ("Der Schutz seiner (sc. des Menschen) Arbeitskraft hat Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes") 489 . Vor allem die neueren Umweltschutzklauseln wagen diesen Kodifikationsstil. Er ist einerseits ein Beleg für die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit von Abwägungsvorgängen bei der Konkretisierung von Verfassungsnormen, andererseits verrät er Unsicherheiten bzw. er führt zu solchen. Charakteristisch ist Art. 141 Verf. Bayern: "Es gehört auch zu den vorrangigen Aufgaben von Staat, Gemeinden und Körperschaften des öffentlichen Rechts, Boden, Wasser und Luft als natürliche Lebensgrundlagen zu schützen..."490. Im Ausland fällt die einseitige Vorrangklausel in Art. 44 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985) auf 4 9 1 : "Sozialinteresse geht vor Individualinteresse" - freilich im
fassung oder die in ihr verankerten Grundsätze verletzen".- Art. 290 ebd.: "Die Verfassungsrevisionsgesetze haben folgendes unberührt zu lassen: a) die nationale Unabhängigkeit und die Einheitlichkeit des Staates; b) die republikanische Regierungsform; c) die Trennung von Kirche und Staat; d) die Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger;...". Ähnl. Art. 159 Verf. Angola (1992). 487 Z.B. Art. 166 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946: "Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter dem besonderen Schutz des Staates". Art. 40 Abs. 2 S. 2 Verf. Brandenburg: "Daher ist dem öffentlichen Interesse an der schonenden Nutzung des Bodens besonderes Gewicht beizumessen". Vgl. auch Art. 30 Verf. Angola. 488 Z.B. BVerfGE 39, 1 (42): "Das menschliche Leben stellt... innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar".- E 33, 23 (29): Menschenwürde als "oberster Wert". Ebenso E 54, 341 (357). S. auch E 89, 28 (35); 95, 220 (241). 489 Art. 53 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Die menschliche Arbeitskraft ist als persönliche Leistung und wertvollstes Wirtschaftsgut des Volkes gegen Ausbeutung... zu schützen". 490 Ähnlich Art. 11 a Abs. 1 S. 2 Verf. Bremen.- Art. 29a Abs. 2 Verf. NordrheinWestfalen hat eine Ausgleichsklausel gefunden ("Die notwendigen Bindungen und Pflichten bestimmen sich unter Ausgleich der betroffenen öffentlichen und privaten Belange").- Art. 59a Abs. 1 S. 2 Verf. Saarland: "Es gehört deshalb zu den erstrangigen Aufgaben des Staates - Boden, Wasser und Luft als natürliche Lebensgrundlagen zu schützen ...". 491 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Kontext eines Artikels "Naturrechte der Person". Und schon in ihrer Präambel heißt es vorweg (in gewissem Gegensatz hierzu): "Wir, die Vertreter des guatemaltekischen Volkes..., bekräftigen den Vorrang der menschlichen Person als Träger und Ziel der sozialen Ordnung" 492 . Die Problematik solcher Vorrangklauseln liegt auf der Hand: Sie drohen sich gegenseitig zu relativieren oder gar aufzuheben oder doch in Widerspruch miteinander zu treten. Besonders Guatemala ist ein Beispiel dafür 493 . Die (alte) Verfassung von Peru (1979) formuliert in ihrer Präambel: "... Im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person ...", und sie wiederholt diese Wertung in einem Grundlagenartikel (Art. 1 Satz 1) in den Worten: "Die menschliche Person ist der höchste Zweck der Gesellschaft und des Staates". Die Verf. Portugal (1976/92) 494 bedient sich mehrfach der Vorrang-Figur: in Gestalt des Art. 68 Abs. 2 ("Die Mutterschaft und die Vaterschaft sind soziale Werte von überragendem Rang") - eine Klausel, die Unsicherheiten mit sich bringt, da sie nicht die rivalisierenden anderen Werte nennt, wohl auch nicht nennen kann; Präferenzregeln können sich nur allmählich im Prozeß der Interpretation entwickeln 495 . Verfassungspolitisch sollten Vorrang-Klauseln nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden. (bb) Die Aufgaben-Normen Die Aufgaben-Normen bilden heute das wohl reichste Feld verfassunggeberischer Innovation und Phantasie, Wortvielfalt und Differenzierungskunst, auch Ambivalenz. Sie erobern sich alle Teilbereiche und Problemfelder der Verfassung: von der Präambel über den Grundrechts- bis zum organisatorischen Teil. Sie wenden sich an die unterschiedlichsten Adressaten (Staatsftinktionen, Teilbereiche der Gesellschaft wie die Wirtschaft), und sie reichen von der bloßen "Sorge"-Klausel über "Schutz"- und "Förderungs"-Artikel bis zum erzwingbaren Verfassungsauftrag oder Gesetzgebungsbefehl. Sie sind in der Dogmatik
492
S. auch Art. 1 ebd.: die Verwirklichung des Gemeinwohls als "oberstes Ziel". Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. 494 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff. 495 Etwas präziser, aber ebenfalls noch allzu unbestimmt sagt Art. 64 Abs. 3 Verf. Portugal: "Zur Sicherung des Rechts auf den Schutz der Gesundheit obliegt es dem Staat vorrangig: a) Allen Bürgern unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage...". - Art. 70 Abs. 2 ebd. bestimmt: "Vorrangige Ziele der Jugendpolitik müssen die Entfaltung der Persönlichkeit des Jugendlichen, die Freude an freiem Schaffen und das Gefühl für den Dienst an der Gemeinschaft sein". 493
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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z.T. als "Staatszielbestimmungen" (U. Scheuner) 496 oder "Staatsstrukturnor497
men" bekannt. Ihr normativer Bindungsgrad variiert. An der untersten Schwelle steht die bloß formale Kompetenz bzw. "Kann"-Ermächtigung, auch die rezipierende Status-Quo-Garantie. Ihre stärkste Form ist der "Verfassungsmacht sie den Identitäts- und befehl". Ihr häufiger Leitgrundsätze-CharakXer Grundsätze-Artikeln verwandt. Inhaltlich sind sie weit gefächert: vom umfassenden Staatsziel "Gemeinwohl" bis zum speziellen Teilziel (z.B. der Familienförderung, dem Umweltschutz). Im einzelnen: Die zunehmende Verwendung von Aufgaben-Normen ist ein Charakteristikum der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Ausdruck des gewandelten Staats- bzw. Verfassungsverständnisses ("Staat und Verfassung als Aufgabe", auch als "Prozeß"), geben sie diesem ihrerseits Nahrung. Die Figur des "Verfassungsauftrags" 498 ist nur eine Beispielsform, wenn auch die häufigste. Freilich begegnet sie in vielen Varianten: sie kann den Staat bzw. einzelne Funktionen und andere (etwa die "Wirtschaft" oder Einzelne) zum jeweiligen Adressaten haben 499 . Auffällig ist die wachsende Verschränkung bzw. Austauschbarkeit der Grundrechte und der Staatsaufgaben 500: Grundrechte treten als solche auf, aber auch im "Gewand" von Staatsaufgaben 501. Umgekehrt erweisen sich Staatsaufgaben als objektivierte Grundrechtsgehalte 502.
496
U. Scheuner, Staatszielbestimmungen (1972), später in ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 223 ff. 497 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 551 ff. 498 Aus der Literatur: P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 241 ff.; E. Wienholtz, Normative Verfassung und Gesetzgebung, 1968. Weiteres unten Sechster Teil VIII Ziff. 6. 499 Als „Grundpflichten" (z.B. Art. 120 Abs. 2 und 4 Verf. Griechenland von 1975). Ähnlich Art. 10 Abs. 1 S. 1 Verf. Sachsen (1992): „Der Schutz der Umwelt ... Verpflichtung aller im Land". Ähnl. Art. 86 Verf. Polen (1997); Art. 50 Verf. Usbekistan. 500 Weitere Textbelege bis 1985 in: P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. 501 Z.B. Art. 9 Verf. Portugal: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: ... b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten und die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates zu achten ...".- Eine enge Verschmelzung von Grundrechten und Staatsaufgaben findet sich in der neuen Verfassung von Vorarlberg von 1984: "Art. 7 Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns (1) Das Land hat die Aufgabe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen sowie die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Solidarität aller gesellschaftlichen Gruppen zu sichern. Selbstverwaltung und Selbsthilfe der Landesbürger sind zu fördern. (2) Jedes staatliche Handeln des Landes hat die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel und die Grundsätze
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Freilich gibt es zwischen den einzelnen Nationen in Sachen AufgabenDenken große Unterschiede: vgl. die eher zurückhaltenden "Sorge"-Artikel der Verf. der Niederlande (1983) einerseits 503, die vielen Aufgabennormen in Portugal und Spanien andererseits 504. Die Schweiz verfolgt eine mittlere Linie, auch in ihren totalrevidierten Kantonsverfassungen 505. Vielleicht kehrt heute der Verfassunggeber zur klassischen Konzeption zurück, wonach der Staat und damit all seine Kompetenzen instrumental in den Dienst der Grundrechte gestellt werden, so in Art. 2 Französische Menschenrechtserklärung von 1789: "Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung". Der Staat besitzt keinerlei "Grundrechtsaufgaben" 506.
Eigenwert;
Staatsaufgaben
sind
letztlich
Eine für Österreich kühne Staatszielnorm wagt Art. 4 der neuen Verfassung Niederösterreichs von 1979 (ähnlich später Art. 7 Verf. Tirol): "Lebensbedingungen: Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet sind".
von Treu und Glauben zu achten" (es folgen Schutzaufträge für Umwelt, Natur, Landschaft etc.) (zit. nach LGB1. 1984, S. 99 ff.). 502 Vgl. Kap. 1 § 2 Abs. 2 Verf. Schweden von 1974 (zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff.): "Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grundsätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen. Es obliegt besonders dem Gemeinwesen, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern und für soziale Fürsorge und Sicherheit und für einen guten Lebensstandard zu sorgen". 503 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff. S. auch Art. 20 Verf. Burkina Faso (1997). 504 Z.B. Art. 9 (Grundlegende Staatsziele), 60 Abs. 2, 63 Abs. 2, 66 Abs. 2, 81 Verf. Portugal. Art. 9 ebd.: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: ... d)... die tatsächliche Gleichheit zwischen den Portugiesen und die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu fördern ...".- Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien, zit. nach JöR 29(1980), S. 252 ff. 505 Z.B. Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984, zit. nach JöR 34 (1985), S. 451 ff. (6. Abschnitt: "Öffentliche Aufgaben", § 121 "Ziele der kantonalen Wirtschaftspolitik", aber zugleich häufige Verwendung von Formen wie "Der Kanton sorgt", "fördert" etc. (§§ 94, 102, 121)); s. auch Verf. Kanton Aargau von 1980 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff.): "§ 25 Staatsziele I Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit..."; Art. 41 Abs. 1 S. 1 Verf. Bern von 1993: "Kanton und Gemeinden schützen und fördern die Gesundheit". 506 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (insbes. 103 ff).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Staatsaufgaben finden sich in höchst konzentrierter Form schon in den Präambeln - dies selbst in traditionell organisationsrechtlich und eher formal konzipierten wie der der Bismarck-Verf. von 1871 und der Schweizer Bundesverfassung von 1874 507 , erst recht aber in neueren Verfassungen, sei es in Deutschland 508 , sei es im Ausland 509 . Manche Verfassungen wählen die Grundlagenartikel zum systematischen Ort der Staats- bzw. Grundrechtsaufgaben, so Art. 1 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953: "Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei (sc. bei der Freiheitsentfaltung) zu dienen. Er faßt die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen, gewährt ihnen Schutz und Förderung und bewirkt durch Gesetz und Gebot einen Ausgleich der wechselseitigen Rechte und Pflichten" 510. Ein weiteres prägnantes Beispiel liefert Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland von 1975 511 :
507
Dazu auch oben unter (aa). Präambel Verf. Baden-Württemberg von 1953 ("von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern").- Präambel Verf. Hamburg: "Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates...".- Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950: "Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen...". Präambel Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern, das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen".- Präambel Verf. Sachsen-Anhalt (1992): "die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern ... das Wohl der Menschen zu fördern...". 509 Präambel-Beispiele: Verf. Irland von 1937: "... in dem Bestreben, ...das allgemeine Wohl zu fördern, auf daß die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet, eine gerechte soziale Ordnung erreicht ...".- Verf. Portugal von 1976/82: "...Entschlossenheit..., die nationale Unabhängigkeit zu verteidigen, die Grundrechte der Staatsbürger zu garantieren, den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit zu sichern ...".- Verf. Spanien von 1978: "... von dem Wunsche beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und das Wohl aller ihrer Bürger zu fördern...; den Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse für alle zu sichern".- Verf. Kanton Aargau: "... Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen, die Wohlfahrt aller zu fördern, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern ...".- Verf. Guatemala von 1985: "... wir erkennen den Staat als Verantwortlichen für die Förderung des Allgemeinwohls, als den Verantwortlichen für die Befestigung der Herrschaft des Rechts, der Sicherheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Freiheit und des Friedens an; ...".- Verf. Bern von 1993: "In der Absicht, Freiheit und Recht zu schützen...". 510 S. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen ... durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern". 511 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff. Vgl. meinen Athener Gastvortrag Menschenwürde und Verfassung am Beispiel von Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 ff. 508
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen". (Die "Patenschaft" von Art. 1 Abs. 1 GG ist unübersehbar, auch die für Art. 30 Verf. Polen von 1997.) Das Aufgaben-Denken erobert verfassungstextlich sogar klassische Grundrechte wie die Pressefreiheit 512, auch Ehe und Familie 513 , den Gleichheitssatz514 oder neue kulturelle Teilhaberechte 515. Es kommt den "Grundpflichten" nahe , und es findet sich in Erziehungszielen 517. Auf dem (Um-)Weg über diese bricht das Aufgabendenken sogar in bezug auf den einzelnen Menschen durch 518 . Adressat kann der Staat, aber auch die Wirtschaft 519 sein. Die Förde-
512
Vgl. Art. 111 Verf. Bayern von 1946: "Die Presse hat die Aufgabe, im Dienst des demokratischen Gedankens über Vorgänge... des öffentlichen Lebens wahrheitsgemäß zu berichten". Art. 67 Verf. Usbekistan (1992): "responsibility for trustworthiness". 513 Art. 41 Abs. 3 Nr. 1 Verf. Irland von 1937: "Der Staat verpflichtet sich, die Institution der Ehe, auf die sich die Familie gründet, mit besonderer Sorgfalt zu bewahren und sie vor Angriffen zu schützen".- Art. 67 Abs. 1 Verf. Portugal: "Die Familie hat... ein Recht... auf die Verwirklichung aller Bedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung aller Familienangehörigen". 514 Vgl. z.B. Präambel Verf. Guatemala von 1985, zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. 515 Vgl. Art. 34 Abs. 2 S. 2 Verf. Saarland: "Die Teilnahme an den Kulturgütern ist allen Schichten des Volkes zu ermöglichen". Art. 36 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt (1992): Unterhaltung "öffentlich zugänglicher Museen" etc. 516 Z.B. Art. 59a Abs. 1 S. 1 Verf. Saarland: "Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist der besonderen Fürsorge des Staates und jedes einzelnen anvertraut". Art. 12 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern: "Jeder ist gehalten, zur Verwirklichung der Ziele der Absätze 1 und 2 beizutragen". Art. 82 Verf. Polen (1997): "Die Pflicht jedes polnischen Staatsbürgers ist die Treue zur Republik Polen und die Sorge um das gemeinsame Wohl." 517 Vgl. Art. 26 Verf. Bremen: "Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im wesentlichen folgende Aufgaben: 1. Die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung... 2. ... zu einem Arbeitswillen... 3 zum eigenen Denken... 4. ... zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker. 5. Die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt".- Art. 101 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): "Die Jugend ist... zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe ... zu erziehen". 518 Vgl. Art. 26 Verf. Saarland: "Unterricht und Erziehung haben das Ziel, den jungen Menschen so heranzubilden, daß er seine Aufgabe in Familie und Gesellschaft erfüllen kann". 519 Z.B. Art. 51 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz: "Die Wirtschaft hat die Aufgabe", Abs. 2: "Der Staat hat die Aufgabe...".- Art. 43 Abs. 1 Verf. Saarland:. "Die Wirtschaft hat die Aufgabe, dem Wohle des Volkes und der Befriedigung seines Bedarfes zu dienen".· Art. 41 Abs. 3 Verf. Italien: "Das Gesetz bestimmt die Programme und die zweckmäßigen Kontrollen, um die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit auf soziale Ziele auszurichten...".
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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rungs-Artikel sind eine Variante in der Entwicklung von der bloß formalen Kompetenz zur (Staats)Aufgabe 520. Parallel zu diesem Terraingewinn der Verfassungsaufträge verläuft das Vordringen der (oft grundrechtsbezogenen) Schutzklauseln. Sie erobern sich immer mehr Themen und Problemfelder, vor allem im Bereich der Umwelt 5 2 1 und Kultur 5 2 2 , Arbeit 5 2 3 und Wirtschaft 524 . Der Staat wird immer stärker für detaillierte Ziele in Dienst genommen. Auf die beliebte Indikativ- bzw. Gegenwartsform ("steht unter staatlichem Schutz") sei verwiesen 525 . 520
Aus der Fülle der Beispiele: Art. 18 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950: "Kultur, Kunst und Wissenschaft sind durch Land und Gemeinden zufördern".- Art. 44 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewaltenfördern und schützen den Zugang zur Kultur, auf die alle Anspruch haben".- Art. 124 Abs. 1 S. 2 Verf. Peru: "Der Staatfördert den Zugang zum Eigentum in allen seinen Erscheinungsformen".- Art. 91 Verf. Guatemala: "Die Förderung der physischen Erziehung und des Sports ist Aufgabe des Staates".§ 101 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Kanton und Gemeinden fördern das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen sowie kulturelle Bestrebungen und Tätigkeiten".- Art. 41 Abs. 3 S. 1 Verf. Bern (1993): "Kanton und Gemeinden fördern die Hilfe und die Pflege zu Hause".- Art. 34 Abs. 1 Verf. Georgien (1995): "The State promotes the development of culture...". 521 Z.B. Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien von 1947: "Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation". - Art. 86 Verf. Baden-Württemberg: "Die natürlichen Lebensgrundlagen, die Landschaft sowie die Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Natur genießen öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden". - Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern: "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung". Art. 29a Verf. Nordrhein-Westfalen: "Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem Schutz des Landes ...".- Art. 22 Abs. 1 Verf. Saar von 1947: "Ehe und Familie gemessen als die natürliche Grundlage des Gesellschaftslebens den besonderen Schutz und die Förderung des Staates".- Art. 39 Abs. 3 Verf. Brandenburg von 1992: "Tier und Pflanze werden als Lebewesen geachtet. Art und artgerechter Lebensraum sind zu erhalten und zu schützen". 522 Art. 9 Verf. Vorarlberg von 1984: "Bildung und Kultur. Das Land bekennt sich zur Pflege von Wissenschaft, Bildung und Kunst sowie zur Heimatpflege. Es achtet die Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt des kulturellen Lebens und das Recht eines jeden, am kulturellen Leben teilzunehmen".- Art. 108 Abs. 1 Verf. Sachsen von 1992: "Die Erwachsenenbildung ist zufördern." S. auch Art. 10 Verf. Benin (1990). 523 Art. 49 Abs. 1 Verf. Bremen (1947): "Die menschliche Arbeitskraft genießt den besonderen Schutz des Staates".- Art. 40 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Schutz der geistigen Arbeit". Ähnl. Art. 28 Verf. Burkina Faso (1997). 524 Art. 45 Abs. 4 Nr. 1 Verf. Irland: "Der Staat gelobt, die wirtschaftlichen Interessen der wirtschaftlich schwächeren Gruppen der Gemeinschaft mit besonderer Sorgfalt zu fördern ...". 525 Art. 20 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter stehen unter dem Schutz des Staates".- Art. 24 Abs. 1 ebd.: "Der Schutz der natürlichen und der kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates". Abs. 6 ebd.: "Die Denkmäler und historischen Stätten und Gegenstände stehen unter dem Schutz des Staates". - Art. 40
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Eine eigene (ebenfalls schwächere) Kategorie des Aufgaben-Denkens bilden die "Sorge"-Klauseln, etwa Art. 21 Abs. 3 Verf. Griechenland von 1975 ("Der Staat sorgt für die Gesundheit der Bürger"; s. auch Abs. 4 ebd: "Die Verschaffung von Wohnungen für Obdachlose... ist Gegenstand der besonderen 526
Sorge des Staates" ). Sie sind ein wesentliches Bauelement in den Texten der Verf. der Niederlande von 1983 527 . Vor allem "soziale Grundrechte" (Teilhaberechte) treten in dieser Form auf - sie sind damit gegenüber der subjektiv öffentlich-rechtlichen Gestalt abgeschwächt und auf das Objektive, bloß Programmatische zurückgenommen. Eine Parallelform bilden die in der Schweiz entwickelten Wendungen: "Der Staat trifft Vorkehrungen" (z.B. zur Förderung der Familie 528 oder sozialer Rechte). Der Wandel im Normierungsstil bzw. die Tendenz zum "Aufgaben-Denken" ist mitunter in derselben - geänderten - Verfassungsurkunde ablesbar, besonders prägnant in der Schweiz, auch wenn sich Mischformen zwischen bloßen Kompetenz- und Aufgaben-Normen (gelegentlich im gleichen Artikel (!)) feststellen lassen 529 . Es war ein Kennzeichen des Entwurfs einer totalrevidierten Bundesverfassung von 1977 530 , daß hier das Aufgabendenken (zu?)
Abs. 3 Nr. 2 Verf. Irland (zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO.): "Insbesondere schützt der Staat... das Leben, die Person, den guten Namen und die Vermögensrechte eines jeden Bürgers...".- Art. 30 Abs. 3 Verf. Thüringen von 1993: "Der Sport genießt Schutz und Förderung durch das Land und seine Gebietskörperschaften". 526 S. auch Verf. Luxemburg (zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO.): Art. 11 Abs. 5: "Das Gesetz trifft Vorsorge für die soziale Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Ruhe der Arbeiter und gewährleistet die gewerkschaftlichen Freiheiten". 527 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff., Art. 19 Abs. 1: "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates ...".- Art. 20 Abs. 1 ebd.: "Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstandes ...". - Art. 21: "Die Sorge des Staates... gilt der Bewohnbarkeit des Landes sowie dem Schutz und der Verbesserung der Umwelt".- Art. 22 Abs. 2: "Die Schaffung von genügend Wohnraum ist Gegenstand der Sorge des Staates...". 528 Vgl. § 38 Verf. Kanton Aargau von 1980 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff.) bzw. § 25 Abs. 2 ebd. Ähnlich für preisgünstige Wohnungen: Art. 40 Verf. Bern aus dem Jahre 1993. 529 Vgl. Art. 22 q u a t e r Abs. 3 BV: "Er (sc. der Bund) berücksichtigt in Erfüllung seiner Aufgaben die Erfordernisse der Landes-, Regional- und Ortsplanung". In Abs. 2 ebd. heißt es: "Er fördert und koordiniert die Bestrebungen der Kantone...".- Art. 24 q u i n q u i e s bestimmt in Abs. 1: "Der Natur- und Heimatschutz ist Sache der Kantone", in Abs. 2: "Der Bund hat in Erfüllung seiner Aufgaben...".- Vgl. auch die Technik der BefugnisNormen, z.B. in Art. 27, 27 ter , 27 q u , n q u l s , in die dann doch Förderungsaufgaben eingestreut sind: Z.B. Art. 27 ter Abs. 1 a ("filmkulturelle Bestrebungen zu fördern"), Art. 27 qu.nqu.es
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Zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.
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VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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stark im Vordergrund stand 531 . Der neue Entwurf von 1995 sucht dies zu korrigieren. Viele Themen, die in der älteren Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates als bloße Kompetenz normiert sind, werden heute in die Gestalt von AufgabenKlauseln gebracht. Für die ältere Textstufe ist typisch das BV-G Österreichs von 1920 532 . Ein neues Terrain für Aufgabendenken erfindet Verf. Portugal bei der Umschreibung des Auftrags der Rechtsprechung 533. (cc) Mehrschichtig gewordene Grundrechtsnormen Aus der klassischen Programmatik und (im Rückblick) "eindimensionalen" Normativität der Menschenrechtserklärung von 1789 ist die Mehr-, ja Vielschichtigkeit der Grundrechtsgehalte in neueren Verfassungen geworden. Schon textlich präsentieren sich die Grundrechte nicht nur als subjektive öffentliche Rechte i. S. des "status negativus", sondern als mehrdimensionales Ensemble mit vielerlei "Teilgehalten" (ganz abgesehen davon, daß ihre "Themen" zahlenmäßig zugenommen haben 534 ). Grundrechtspolitik ist das Ziel der Verfassunggeber. In Wechselwirkung mit der gemeineuropäisch differenzierter gewordenen Grundrechtsdogmatik sind die Verfassungstexte selbst vielgestaltig geworden. Umgekehrt regen die neueren Verfassungstexte bewußt oder unbewußt den Grundrechtsdogmatiker zu weiteren Verfeinerungen an. Die verschiedenen Schichten, Dimensionen und Funktionen (auch "Themen") der Grundrechte erscheinen im Text der Verfassungen nach wie vor oft fragmentarisch, ist die Entwicklung der Rechtsprechung, Dogmatik und Grund-
531 Vgl. Art. 2 ("Ziele"), Art. 3 ("Teilung der Aufgaben"), Art. 30 ("Eigentumspolitik"), Art. 36 ("Kulturpolitik") und vor allem beim Thema "Verantwortung von Bund und Kantonen" (Art. 48 ff., z.B. Art. 48 Abs. 1: "Die Staatsaufgaben stehen in der Verantwortung des Bundes oder der Kantone"). 532 Zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO. Vgl. etwa Art. 10, 11, 12, 14: "Bundessache ist...". Auch das Staatsgrundgesetz von 1867 über die Allgemeinen Rechte der Staatsbürger ist im Geiste der klassischen Grundrechtskataloge (Grenzziehungen, Verbote, Gebote) konzipiert. 533 Art. 206: "... haben die Gerichte die Wahrung der gesetzlich geschützten Rechte und Interessen der Bürger zu gewährleisten, die Verletzung der demokratischen Legalität zu ahnden und Konflikte öffentlicher und privater Interessen zu lösen". 534 Ein "neues" Grundrecht war bzw. ist z.B. die Demonstrationsfreiheit, vgl. Art. 8 lit. g. Verf. Kanton Jura, Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal, Art. 33 Verf. Guatemala, Art. 29 Abs. 1 lit. d Verf. Uganda (1995), Art. 32 Verf. Paraguay (1992), auch das Recht "to practice journalism" (Art. 29 Abs. 1 bis 3 Verf. Paraguay von 1992). 28 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
rechtswirklichkeit erst einmal über Jahre hin "in Gang" gekommen. Gleichwohl ist das Textbild vielfältig genug. Die Grundrechte oder doch einzelne Momente von ihnen durchziehen alle Textteile der Verfassungsurkunde: von ihren Präambeln über den organisatorischen Teil bis zum Grundrechtsteil - wobei dieser in der Sache, z.T. auch textlich, den Staatsaufgaben "entgegenwächst" bzw. vice versa. Nach wie vor gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern, je nach ihrer nationalen Verfassungskultur. Tendenziell läßt sich indes eine starke Zunahme und Verfeinerung der Grundrechtsgehalte beobachten. Das sprachliche Gewand reicht von der eher symbolischen Verbürgung der Grundrechte in der Präambel bis zur normativ präzisen Garantie als subjektives Recht, als "Prinzip", Institution und als "Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren". Selten kommen alle denkbaren Schichten und Dimensionen beim einzelnen Grundrecht schon textlich zugleich zum Ausdruck. Doch sind oft interpretatorische Anleihen beim Nachbar-Grundrecht möglich. Zunächst zum systematischen Ort. Die Idee der Grundrechte hat sich in einigen neueren Verfassungen in deren "Herz" vorgeschoben, in die Präambeln, und dadurch aufgewertet. Beispiele begegneten bei den "Aufgaben-Texten" 535 . Oft sind die Grundrechte als Prinzipien in der Präambel vorweggenommen (sowohl im Ausland 536 als auch im deutschen Inland 537 ), obwohl oder gerade 535
Dazu unter (bb). Präambeln: Verf. Frankreich von 1958: "Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten..., wie sie in der Erklärung von 1789 niedergelegt wurden...".- Verf. Portugal von 1976/82: "... Entschlossenheit..., die Grundrechte der Staatsbürger zu garantieren..., den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit zu sichern...".- Verf. Spanien von 1978: "... alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte ... zu schützen; den Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse ftir alle zu sichern...".- Verf. Kanton Jura von 1977: "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des Droits de l'homme de 1789...".- Verf. Kanton Aargau von 1980: "Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen...". Ähnlich Präambel Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984 und Präambel Verf. Kanton Solothurn von 1985.- Verf. Peru von 1979: "... einen demokratischen Staat zu begründen,... durch stabile und legitime Institutionen die volle Geltung der Menschenrechte gewährleistet...".- Verf. Guatemala von 1985: "... wir sind entschlossen, die ganze Kraft der Menschenrechte für eine stabile institutionelle Ordnung auszuschöpfen...".- Verf. Polen von 1997: "im Willen, Bürgerrechte stets zu gewährleisten...". Verf. Elfenbeinküste (1995): "Bekenntnis zu den Menschenrechten". 537 Präambeln: Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950: "... Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen...".- Verf. Rheinland-Pfalz: "... die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern".- Verf. Berlin: "In dem Willen, Freiheit und Recht jedes einzelnen zu schützen...".- Verf. Baden-Württemberg: "feierliches Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen".- Verf. Thüringen von 1993: "Freiheit und Würde des einzelnen zu achten...". 536
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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weil ein ausgefeilter Grundrechtskatalog folgt; oft sind sie direkt oder der Sache nach im Kompetenz- bzw. Staatsaufgabenteil formuliert. Mitunter sind die Grundrechte einzeln oder im ganzen schon in den Grundlagenteil der Verfassung vorgezogen 538 . Ein Wort zur wachsenden Vielfalt der Schichten, Zielrichtungen und Dimensionen: Die Form des klassischen Abwehrrechts behält ihren Platz auch in neuen Texten 539 . Der objektivrechtlich-institutionelle Normierungsstil 540 begegnet ebenfalls häufig, wobei bald das individualrechtliche Element angedeutet ist, bald beide Aspekte verschränkt sind 541 . Die werthafte, prinzipien5.8 Z.B. Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen".- Art. 1 Verf. Portugal: "Grundsätze der Menschenwürde"; ebd. Art. 2: "Gewährleistung der Grundrechte und Grundfreiheiten, des Meinungspluralismus...".- Art. 1 Verf. Spanien ("Vortitel"): "Bekenntnis zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus". Art. 9 Abs. 2 ebd.: "Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind...".- Verf. Kanton Uri: Art. 2 (Staatsziele): "Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an... b) Rechte und Freiheiten des einzelnen und der Familie zu schützen und Grundlagen für deren Verwirklichung bereitzustellen...". 5.9 Z.B. Art. 5 Abs. 3 Verf. Griechenland: "Die Freiheit der Person ist unverletzlich".- Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal: "Das Recht der Demonstration ist für alle Bürger anerkannt".- Art. 38 Verf. Spanien: "Die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt".- Art. 2 Verf. Peru: "Jeder hat ein Recht 1. Auf Leben,... 9. Auf freie Wahl des Wohnorts,... 20. Auf persönliche Freiheit und Sicherheit" (Katalogform!).- Art. 4 Verf. Guatemala: "In Guatemala sind alle Menschen frei und gleich in ihrer Würde und in ihren Rechten".- § 6 Abs. 1 Verf. Kanton BaselLandschaft: "Der Staat schützt die Freiheitsrechte".- Art. 10 Abs. 1 Verf. Niederlande: "Jeder hat... das Recht auf Wahrung seiner Privatsphäre".- Art. 33 Verf. Paraguay von 1992: "Right to privacy". 540 Zur Dogmatik: Κ. Hesse, aaO., S. 112 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 70 ff., 332 ff. Zu den "Dimensionen der Grundrechte" zuletzt H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1 (1996), Vorb. Rn. 43 ff. 541 Z.B. Art. 9 Abs. 1 S. 1 Verf. Griechenland: "Die Wohnung eines jeden ist eine Freistatt". Art. 16 Abs. 1 S. 1: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei; deren Entwicklung und Förderung sind Verpflichtung des Staates".- Art. 42 Abs. 1 Verf. Portugal: "Die geistige, künstlerische und wissenschaftliche Entfaltung sind frei".Art. 43 Abs. 2 ebd.: "Der Staat darf sich nicht das Recht zusprechen, Bildung und Kultur nach den Maßstäben irgendwelcher philosophischer, ideologischer oder religiöser Richtlinien programmatisch festzulegen".- Art. 76 Abs. 2 Verf. Portugal: "Die Universitäten genießen, nach Maßgabe des Gesetzes, wissenschaftliche, pädagogische, verwaltungsmäßige und finanzielle Autonomie".- Art. 39 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten sichern den sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Schutz der Familie".Ähnlich Art. 5 Abs. 1 Verf. Peru.- Art. 47 Verf. Guatemala: "Der Staat garantiert den sozialen, wirtschaftlichen und juristischen Schutz der Familie". Art. 39 Abs. 1 ebd.: "Privateigentum wird als ein natürliches Recht des Menschen anerkannt. Jede Person kann über ihr Eigentum in Übereinstimmung mit dem Gesetz verfügen".- § 14e Verf.
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artige Gestalt ist dem Verfassunggeber ebenfalls geläufig 542 . Die sozialstaatliche Version von Grundrechtsgehalten 543 dringt sichtbar vor: in Gestalt von sozialen und kulturellen Grundrechten bzw. Teilhaberechten 544. Die Garantie von Grundrechten im "Gewand" von Staatsaufgaben ist fast schon Legion 545 .
Kanton Aargau: "Die wissenschaftliche Lehre und Forschung sowie die künstlerische Betätigung sind frei".- § 6 Abs. 3 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Das Eigentum und Vermögenswerte Rechte sind geschützt. Kanton und Gemeinden fördern die Bildung von Privateigentum zur Selbstnutzung". § 36 Abs. 3 ebd.: Der Kanton "unterhält Einrichtungen für die Pflege der Wissenschaften, der Künste und der Volkskunst".- Art. 29 Abs. 2 Verf. Bern (1993): "Jedes Kind hat Anspruch auf Schutz, Fürsorge und Betreuung sowie auf eine seinen Fähigkeiten entsprechende, unentgeltliche Schulbildung". 542 Z.B. Art. 21 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter stehen unter dem Schutz des Staates".- Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien: "Spanien bekennt sich zu Freiheit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung". Art. 10 Abs. 1 ebd.: "Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Menschenrechte, die freie Entfaltung der Persönlichkeit... sind die Grundlagen der politischen Ordnung und des sozialen Friedens".- Art. 110 Verf. Peru: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, welche auf eine menschenwürdige Arbeit als Hauptquelle des Reichtums und als Mittel der Verwirklichung der menschlichen Person gerichtet sind". - Art. 58 Verf. Guatemala: "Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche an". 543 Zur Dogmatik: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, aaO., S. 69 ff., 76 ff. und 97. 544 Z.B. Art. 16 Abs. 4 Verf. Griechenland: "Alle Griechen haben das Recht auf kostenlose Bildung ...". Art. 22 Abs. 1: "Die Arbeit ist ein Recht und steht unter dem Schutz des Staates, der für die Sicherung... der Vollbeschäftigung... sorgt".- Art. 65 Verf. Portugal: "Um das Recht auf Wohnung sicherzustellen, obliegt es dem Staat ...". Art. 73 Abs. 1 ebd.: "Jeder hat das Recht auf Bildung und Kultur ...".- Art. 44 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten fördern und schützen den Zugang zur Kultur, auf die alle Anspruch haben".- Art. 12 Verf. Peru. "Der Staat garantiert das Recht aller auf soziale Sicherheit. Das Gesetz regelt die fortschreitende Teilhabe an ihr ...".- Art. 21 ebd.: "Das Recht auf Bildung und auf Kultur ist der menschlichen Person inhärent. Die Bildung hat die vollständige Entwicklung der Persönlichkeit zum Ziel".- Art. 57 Verf. Guatemala: "Jede Person hat das Recht, frei am kulturellen und künstlerischen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen ...".- § 16 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Jeder hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung in Notlagen und auf die für ein menschenwürdiges Leben erforderlichen Mittel".- Art. 19 Abs. 1 Verf. Niederlande: "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates ...". 545 Z.B. Art. 9 Verf. Portugal: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: ...b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten... d)... die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu fördern". Art. 66 ebd.: "Jeder hat das Recht auf eine menschenwürdige, gesunde und ökologisch ausgewogene Umwelt... Es ist Aufgabe des Staates ...".- Art. 47 Verf. Spanien: "Alle Spanier haben das Recht auf den Genuß einer würdigen und angemessenen Wohnung. Die Staatsgewalten fördern die notwendigen Voraussetzungen und legen die entsprechenden Normen fest, um dieses Recht wirksam zu machen ...".- Art. 18 Abs. 1 Verf. Peru: "Der Staat sorgt vorran-
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Sogar die Dogmatik der Grundrechtsverwirklichung "durch Organisation und Verfahren" 546 besitzt schon ihre Textspuren 547 . Vereinzelt greifen die Grundrechte bereits textlich in den Kanon der Bildungsziele hinüber 548 . Der Übergang zum Thema "Schutzpflichten 549 des Staates" ist fließend 550 .
gig für die Grundbedürfnisse des einzelnen und seiner Familie auf dem Gebiet der Ernährung, Wohnung und Erholung". Art. 124 Abs. 1 S. 2 ebd.: "Der Staat fördert den Zugang zum Eigentum in allen seinen Erscheinungsformen".- Art. 2 Verf. Guatemala: "Es ist die Pflicht des Staates, für seine Einwohner das Leben, die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Sicherheit, den Frieden und die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit zu garantieren".- § 25 Verf. Kanton Aargau ("Staatsziele"), Abs. 2: Der Staat trifft "Vorkehren, damit jedermann... c. eine angemessene Wohnung... finden kann, d. die für seine Existenz unerläßlichen Mittel hat".- Verf. Kanton Uri: Art. 2 ("Staatsziele"): "Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an, c) die Voraussetzungen für ein menschengerechtes Dasein herzustellen".- Art. 20 Abs. 2 Verf. Niederlande: "Vorschriften über den Anspruch auf soziale Sicherheit werden durch Gesetz erlassen".- Art. 72 Abs. 1 S. 1 Verf. Polen (1997): "Die Republik Polen gewährleistet den Schutz der Rechte der Kinder". 546 Zur Dogmatik: K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 160 f.; P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, aaO., S. 86 ff, 121 ff.; Dreier, aaO., Rn. 66 f. 547 Z.B. Art. 38 Abs. 6 Verf. Portugal: "Die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Informationsorgane der staatlichen und wirtschaftlichen Macht ..., wobei der Staat diese Freiheit und Unabhängigkeit zu gewährleisten, die Konzentration von Presseunternehmen... zu verhindern hat und verpflichtet ist, nicht diskriminierende Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung der Presse zu ergreifen".- Art. 20 Abs. 2 Verf. Spanien: "Das Gesetz regelt die Organisation und parlamentarische Kontrolle der vom Staat oder irgendeiner öffentlichen Einrichtung abhängigen sozialen Kommunikationsmedien und garantiert den bedeutenden sozialen und politischen Gruppen den Zugang zu genannten Medien, unter Achtung des Pluralismus der Gesellschaft".- Art. 43 Verf. Spanien: "Das Recht auf Schutz der Gesundheit wird anerkannt. Die Staatsgewalten sind zuständig für Organisation und Schutz der öffentlichen Gesundheit...".- Art. 101 Verf. Guatemala: "Arbeit ist ein Individualrecht und eine soziale Verpflichtung. Das Arbeitsleben muß in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit organisiert werden".- § 14 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen" (ebenso Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern von 1993).- Art. 24 Entwurf Bundesverfassung Schweiz (1977): "Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen". 548 Z.B. Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru: "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen,... Bildungseinrichtungen... obligatorisch".- Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala: "Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung ... und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte". 549 Zur Dogmatik: K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 155 f.; Dreier, aaO., Rn. 62 ff.Vgl. zuletzt BVerfGE 89, 276; 90, 145 (195); 92, 26 (46); 95, 193 (209). 550 Z.B. Art. 43 Abs. 1 Verf. Spanien: "Das Recht auf Schutz der Gesundheit wird anerkannt".- Art. 49 Verf. Kanton Uri: "Der Kanton und die Gemeinden sorgen bei ihrer Tätigkeit für den Schutz des Menschen, seiner Umwelt und seines Lebensraumes".- Art. 7 Verf. Peru: "Die Mutter hat ein Recht auf Schutz durch den Staat ...".- Art. 3 Verf.
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Offenkundig ist dem modernen Verfassunggeber das reiche Tableau der in Dogmatik und Rechtsprechung entwickelten Grundrechtsgehalte präsent. Meist normiert er nur einzelne Dimensionen eines Grundrechts (etwa im Grundrechts· und Staatsaufgaben-Teil), oft nur eine einzige. Das schließt nicht aus, daß die weitere "Entwicklung" in der Zukunft noch andere Dimensionen entfaltet: sei es im Wege innerstaatlicher Rechtsvergleichung (Analogien zu Nachbargrundrechten), sei es im Wege der die Beispielsvielfalt anderer Verfassungsstaaten umgreifenden Rechtsvergleichung. So wie das BVerfG aus Art. 6 GG mindestens drei Dimensionen entwickelt hat (E 6, 55; auch 80, 81 (93): Institutsgarantie), kann auch bei anderen textlich "nur" objektivrechtlich garantierten Grundrechten mehrdimensional und mehrfunktional gearbeitet werden. Jedenfalls ist die nur eindimensionale "punktuelle" Textgestalt einer Grundrechtsgarantie (etwa nur als Abwehrrecht oder als objektivrechtliche Garantie oder Schutzauftrag) nicht das "letzte Wort" oder gar ein Verbot, die sonst bekannten Schichten bzw. Dimensionen des Grundrechts zusätzlich zu erschließen. Es mag jeweils bestimmte nationale Traditionen geben, die den Verfassunggeber "grundrechtspolitisch" zu der einen oder anderen Textgestalt veranlaßt haben, darum ist auf der Basis dieses Textes behutsam zu arbeiten. Da aber den neueren Verfassungen alle Grundrechtsdimensionen bekannt sind, ihre textliche Kumulation die Verfassung indes überfrachtete, darf der "Entwicklung" anderer Dimensionen durch die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten das Wort geredet werden: im Dienste des jedem heutigen Ver551 fassungstaat eigenen Prinzips der "Grundrechtseffektivierung" . (dd) Insbesondere: Grundrechtsverwirklichungs- und Entwicklungsklauseln Die Wirklichkeit, genauer die Umsetzung der normativen Inhalte in entsprechende Wirklichkeit, ist ein die Verfassungen seit dem 2. Weltkrieg faszinierendes Thema. In dem Maße, wie die Staatslehre ihre eigene "wirklichkeitswissenschaftliche" Dimension entdeckt hat, vor allem dank H. Heller 552 , bringt der Verfassunggeber in seinen Texten zum Ausdruck, daß ihm deren "ideale" Normativität nicht genügt, daß er verfassungskonforme "gesellschaftliche Nor-
Guatemala: "Der Staat garantiert und schützt das Leben von der Empfängnis an und ebenso die Unantastbarkeit und Sicherheit der Person". 551 Zu diesem Ansatz: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 69 ff: "grundrechtssichernde Geltungsfortbildung"; ders., Wesensgehaltgarantie, aaO., S. 280 u.ö. Andere sprechen von "Optimierung", vgl. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 71 ff. (2. Aufl. 1994); Einwände jetzt bei P. Lerche, Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten?, FS Stern, 1997, S. 197 ff. 552 H. Heller, aaO., S. 37 ff.
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malität", reale Grundrechtswirklichkeit will. Zwei Normierungstechniken kristallisieren sich in den Textbildern heute heraus: Zum einen die Grundrechtsverwirklichungsklauseln 553 , zum anderen die Artikel, in denen der Verfassunggeber sonst seine normativen Direktiven in der Wirklichkeit "wiederfmden" will, vor allem bei den Staatsaufgaben: als Entwicklungsklauseln. Pionierhaft wirkte Art. 3 Abs. 2 Verf. Italien von 1947: "Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich begrenzen und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern" 554. Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien 555 (1978) normiert: "Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind, die Hindernisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung unmöglich machen oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen"556. Eine frühe Vorform der Grundrechtsverwirklichungsklauseln ist Art. 42 Abs. 3 Nr. 2 Verf. Irland von 193 7 5 5 7 . Entwicklungsklauseln finden sich in Art. 15 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975 ("Hörfunk und Fernsehen haben in ihren Sendungen einen ihrer sozialen Aufgabe entsprechenden Qualitätsstand zu wahren, um die kulturelle Entwicklung des Landes zu fördern") 558 und verallgemeinert in Art. 25 Abs. 2 ebd.
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Dazu C. Starck, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, FS H. Huber, 1981, S. 467 (481 f.) und unten Sechster Teil VIII Ziff. 1. 554 Zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO.- S. auch Art. 4 Abs. 1 ebd.: "Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts". 555 Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. 556 Der Entwurf einer totalrevidierten Schweizer Bundesverfassung (1977) (zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.) läßt sich von diesem auf Verwirklichung gerichteten Denkund Normierungsstil leiten. Art. 24: "Verwirklichung der Grundrechte. Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen". Ihm folgt z.B. Art. 15 Verf. Kanton Uri (1984), zit. nach JöR 34 (1985), S. 467 ff: Art. 15 "Verwirklichung der Grundrechte". 557 Zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO.: "Der Staat muß jedoch als Hüter des gemeinen Wohles im Hinblick auf die tatsächlichen Bedingungen fordern, daß die Kinder ein gewisses Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhalten". 558 Art. 16 Abs. 2 ebd.: "Die Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates und hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen sowie die Entwick-
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("Die Anerkennung und der Schutz der grundlegenden und immerwährenden Menschenrechte durch den Staat ist auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet") 559 . Auf weitere Beispiele sei verwiesen 560 . (3) Differenzierungs- und Wandlungsprozesse Der Formenreichtum der Verfassungstexte und die ihm "entsprechende" dogmatische Vielfalt der Inhalte ist groß: wenn man wie hier vergleichend über die jeweils einzelstaatliche Verfassung eines Volkes hinausgreift und die Beispielsvielfalt aus möglichst vielen westlichen Demokratien anreichert. Beobachten läßt sich eine fortschreitende Differenzierung. Darauf deutet schon die zunehmende Quantität der Artikel einzelner Verfassungen hin; erst recht ergibt sie sich aus einer inhaltlichen Analyse. Die "Wachstumsprozesse" und "Entwicklungsstufen" des Typus Verfassungsstaat zeigen sich in einer Verfeinerung der textlichen Mittel und Möglichkeiten. Wo der Text ungenügend bzw. bruchstückhaft ist, tut überdies die spätere Verfassungsinterpretation ihr Werk, um aus anderen Textbeispielen eine Differenzierung zu "nehmen". Hier ein Beleg: Obwohl der Text von Art. 6 Abs. 1 GG objektivrechtlich gefaßt ist, werden ihm drei Schutzdimensionen entnommen (BVerfGE 6, 55) 5 6 1 : "Klassisches Grundrecht", "Institutsgarantie", "wertentscheidende Grundsatznorm". Diese sind z.T. bei anderen Grundrechten textlich zum Ausdruck gelangt. Insofern wirkt das textliche Differenzierungsmaterial des Verfassung-
lung ihres nationalen und religiösen Bewußtseins und ihre Ausbildung zu freien und Verantwortungsbewußten Staatsbürgern zum Ziel". 559 Ähnlich schon Art. 1 Verf. Irland von 1937: "Die irische Nation bekräftigt hiermit ihr unveräußerliches... Recht auf... die Entwicklung ihres politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens...". 560 Art. 9 Abs. 1 Verf. Italien von 1947: "Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung ...". Art. 22 Abs. 3 Verf. Niederlande von 1983: "Der Staat und die anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften schaffen Voraussetzungen für soziale und kulturelle Entfaltung ...". Ebd. Art. 90: "Die Regierung fördert die Entwicklung der internationalen Rechtsordnung".- Art. 81 Abs. 1 Verf. Spanien: "Organgesetze sind jene Gesetze, die sich auf die Entwicklung der Grundrechte und der öffentlichen Freiheiten beziehen...".- Art. 6 Abs. 1 Verf. Berlin: "Alle Männer und Frauen sind vor dem Gesetz gleich. Sie haben das Recht auf gleiche wirtschaftliche, soziale und geistige Entwicklungsmöglichkeiten". 561 Dazu P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 28 ff. Aus der Lit. allgemein: A. v. Campenhausen/H. Steiger, Verfassungsgarantien und sozialer Wandel, das Beispiel von Ehe und Familie, VVDStRL 45 (1987), S. 7 ff. bzw. 55 ff.; R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 6 Rn. 18 ff.
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gebers potentiell universal: es ist dem Interpreten selbst dort gegenwärtig, wo es der Verfassunggeber (noch) nicht eingesetzt hat. Die Idee der Effektivierung der Grundrechte hat eine solche Dynamik entfaltet, daß nahezu alle nur denkbaren Dimensionen bzw. "Schichten" entwickelt werden! Charakteristisch ist, daß sich die grundrechts- und (staats)organisatorischen Teile in ihren "typischen" Elementen bei aller äußeren Trennung ("Zweiteilung der Verfassung") immer stärker miteinander verflechten: Formal-Organisatorisches findet sich auch im Grundrechtsteil ("Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren"). Subjektive öffentliche Rechte verbergen sich auch in Staatszielnormen (Sozialansprüche aus Sozialstaatsklauseln)562. Verfassungsaufträge und Programmatisches begegnen auch im Grundrechtsteil, eminent Materielles auch im scheinbar bloß formalen Organisationsrecht. Die "Einheit der Verfassung" tut auch hier ihr Werk: beide Verfassungsteile dienen letztlich der einen Res Publica. Die wachsende Verrechtlichung kommt hinzu. Die Staatsaufgaben werden (wieder) letztlich auf die Grundrechte hin gedacht. Versucht man, den wachsenden Formenreichtum der neueren Verfassungstext-Entwicklung auf Stichworte zu bringen und Tendenzen namhaft zu machen, so ergibt sich folgendes Bild: - die Entwicklung von der bloß formalen Kompetenz zur inhaltlichen Aufgabe -die gezielte Verwendung von Bekenntnis-Normen, Grundwerte- und Strukturnormen, insgesamt von Identitätsgarantien in vielerlei Bereichen und Varianten (z.B. die "Im Geiste-Klauseln") - die Zunahme von Schutzklauseln in mannigfachen Varianten (einschließlich der "kulturelles Erbe"-Klauseln und der VerfassungsschutzNormen) - der Einbau von Abwägungs-, Rang- und Ausgleichsklauseln - die Anreicherung der Verfassung in all ihren Teilen mit vielfältigen Aufgaben-Normen (auch und schon in der Präambel) - die Erweiterung vor allem der Grundrechte um Grundrechtsaufgaben-Normen. Im Ergebnis führt dies zu einer großen, gelegentlich übergroßen Norm-, Wert- und Stoffülle der neueren Verfassungstexte (Beispiele: Portugal von 1976/92, auch Guatemala von 1983) - was sich schon an der Zahl der Artikel
562
Vgl. § 16 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft, Art. 102 Verf. Guatemala ("Soziale Minimalrechte").
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
ablesen läßt (in Portugal 298). Die Verfassungen laden sich mit immer mehr Inhalten und immer differenzierter auf und drohen, sich mitunter zu überladen und programmatisch (auch politisch) zu übernehmen. (" Verfassungsrhetorik", die, maßvoll eingesetzt, aber ihren guten Sinn hat.) Sie "versprechen" (zu) viel. Es kommt zu zahlreichen Zielkonflikten. Hier ist dann auf die drohenden Defizite an Normativität wegen inhaltlicher Überfrachtungen hinzuweisen: nicht i. S. eines "Zurück" zum rein instrumentalen, formalen, allein die SchrankenFunktion betonenden Verfassungs- und Staatsverständnis, sondern i. S. einer mittleren Linie des Sowohl-Als-Auch von inhaltlichen Direktiven und eher formalen Grenzziehungen (Verfassung als "Anregung und Schranke" i. S. von R. Smend), von Status-Quo bezogenen und "Entwurfs"-Normen ("kleinen Utopien"), von werthaltigen Prinzipien und "positivistischen" Eingrenzungen, von Appellen des Verfassunggebers an Vernunft und Gefühlswelt, ratio und emotio, und damit an den ganzen Menschen und Bürger. Evident ist, wie die verschiedenen Funktionen der Verfassung auf ihre "äußere" Form zurückwirken und wie bereichsspezifisch zu arbeiten ist. c) Folgerungen (1) Auf der Ebene der Verfassungsinterpretation Können die Methoden der Verfassungsinterpretation noch so "allgemein" wie bisher verstanden werden? Ist nicht weit stärker je nach Gegenstand bereichsspezifisch zu differenzieren? Präambeln sind zwar gewiß voll gültiges Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 36, 1 (16 f.)). Aber damit beginnen erst die Probleme. Ihre "Auslegung" muß spezifisch sein, kulturelle Tiefendimensionen erschließen, sie haben sich von anderen, stärker formalen Normenkomplexen zu unterscheiden, man denke an Kompetenznormen und das Organisationsrecht. Oder: Die "konstitutionelle Programmatik" etwa der Grundpflichten 563 oder Verfassungsaufträge z.B. des Art. 6 Abs. 5 GG verlangen höchst "produktive" Auslegungsmethoden; anders als bei bloßen Rezeptionsklauseln, die Vorhandenes aufnehmen, etwa gemäß Art. 68 Verf. Bremen ("Die Freie Hansestadt Bremen führt ihre bisherigen Wappen und Flaggen") oder auch Art. 140 GG. Ihre klassische Form, die Status-Quo-Garantien 564, sind zwar gewiß nicht i. S. der "Versteinerungstheorie" Österreichs auszulegen, doch 563 Vgl. H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 (79 f.); O. Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, 1988. 564 Z.B. Art. 150 Abs. 2 Verf. Bayern: "Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten".
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dürfte der subjektiv historischen Auslegungsmethode hier besonderes Gewicht zukommen. M.E. ist stärker nach den "stofflichen Gegenständen" zu differenzieren, die ihrerseits meist ein unterschiedliches sprachliches Gewand haben. Die dem Interpreten abverlangte Konkretisierungsleistung ist - je nach dem Abstraktionsgrad der Normen - von großer Unterschiedlichkeit 565 . (2) Auf der Ebene der Verfassungstheorie Die Erkenntnis der Differenziertheit der Verfassungstexte in sprachlicher, inhaltlicher und funktioneller Hinsicht 566 könnte manchen Streit entschärfen: etwa den zwischen einem "instrumentalen" und "materialen" Verfassungsverständnis, zwischen der Deutung der Verfassung als "formelles Grundbuch", "instrument of government" (W. Hennis ) und ihrem Verständnis als "normativer Strukturplan" für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens (A. Hollerbach) 567 , zwischen ihrer Qualifizierung als bloßer "Rahmenordnung" und ihrer stärkeren Ausfüllung und Auffüllung, zwischen den Positionen des Dezisionismus und des Normativen, der "Schranke" und der "Aufgabe". Die Lösung ist in einem differenzierten Sowohl-Als-Auch zu suchen. Es gibt Normen und Bereiche der Verfassung, die eher "instrumental", und solche, die eher " material " zu deuten sind, Felder, in denen die Verfassung mehr auf Organisation und Verfahren, andere, in denen sie auf inhaltliche Ziele setzt und setzen muß, Themen und Bereiche, die sie "ausgrenzt" (z.B. Art. 137 Abs. 3 WRV/140 GG), und solche, die sie gezielt integriert. Im herkömmlichen Streit handelt es sich oft um die Verabsolutierung von Teilgesichtspunkten. Und es ist kein Zufall, daß die Schweiz, die auf kantonaler Ebene seit den 60er und erneut in den 90er Jahren so viele geglückte Beispiele gut "getexteter" Verfassungen schafft 568 , in ihrem oft berufenen "Pragmatismus" viele "gemischte" Text-Typen gewählt und sich darin nicht auf ein Verfassungsverständnis festgelegt hat. So ist die Schweiz wieder einmal Vorbild in Sachen "Kompromiß".
565
Dazu schon H. Huber, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts..., ZBJV 107 (1971), S. 172 (186 ff.). 566 Dazu mein Beitrag: Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS Schindler, 1989, S. 701 ff. sowie unten 3). 567 A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsgg. von W. Maihofer (1968), S. 37 (46). 568 Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff. Zuletzt der St. Galler Vortrag in: SchweizZBl. 1997, S. 97 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen (3) Auf der Ebene der Verfassungspolitik
Die Verfassungspolitik darf sich ermutigt sehen: Haben doch die vielen nationalen (bzw. gliedstaatlichen, z.B. kantonalen) Verfassunggeber einen grossen Schatz, ja ein reiches Zeughaus unterschiedlicher Gestaltungsformen erarbeitet. Manches mag in politischen Kompromissen in dem Maße verwischt werden, wie Verfassunggebung in pluralistischen Demokratien stets ein kompromißhafter Vorgang ist und sein muß. Als Maxime sei aber den Verfassunggebern empfohlen, die Unterscheidung, aber auch den Zusammenhang zwischen der sprachlichen Vielfalt ihrer Texte, ebenso ihrer rechtstheoretisch-dogmatischen und Funktionenvielfalt bewußt einzusetzen. Das Rechtstechnisch-Formale, etwa im Parlamentsrecht, hat ganz bestimmte inhaltliche Hintergründe. Auch die irrationalen Sprachmöglichkeiten dürfen nur dosiert (aber sehr bewußt) eingesetzt werden. Schließlich muß der Verfassungspolitiker bei Verfassungsänderungen diese in ihrer Textgestalt sehr gezielt verwenden 569 . d) Ausblick So vielschichtig, gelegentlich "diffus", so formen- und inhaltsreich nicht nur jede Verfassung im ganzen, vielmehr der einzelne Verfassungssatz oft ist: Die Verfassung offenbart in dieser wachsenden Vielfalt ihre Vitalität, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Aktualität und unverminderte Lebenskraft, d.h. auch ihre Normativität und Wirklichkeitsnähe. Georges Burdeaus' Kassandra-Ruf (von 1956) "Une survivance: la Notion de constitution" 570 hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat und das heißt auch die Res Publica geschriebener Verfassungstexte nimmt an Anziehungskraft weltweit eher zu. Er hat auf neue Entwicklungen in Gestalt sensibler Fortschreibung und Differenzierung seiner Texte reagiert, und es gelingt ihm sogar zu agieren, d.h. die
569
Das Thema "Umweltschutz" wurde jüngst teils in die Präambel (so Verf. Hamburg), teils in die Staatszielbestimmung (Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern), teils in die Erziehungsziele (Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 30 Verf. Saar) aufgenommen. Ähnliches gilt für die Verfassungen der neuen Bundesländer (z.B. Verf. Brandenburg: Präambel bzw. Art. 28). Dies hat noch nicht geklärte "Fernwirkungen" auf andere Teile der Verfassung, z.B. die Grundrechtskataloge.- Ein Beispiel für die Herabstufung eines Verfassungsauftrags zur Kompetenznorm ist die Änderung von Art. 29 Abs. 1 GG (vom "Das Bundesgebiet ist... neu zu gliedern" zu "... kann neu gegliedert werden... ") im Jahre 1976. 570 In: L'Evolution du Droit public, Etudes en l'honneur d'Achille Mestre, 1956, auch in: Der Staat 1 (1962), S. 389 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Wirklichkeit zu steuern. Die Staatsaufgabennormen jedweder Art zeigen das, auch die Grundrechtskataloge. Der Verfassungsstaat hat die gesellschaftliche "Wirklichkeit" (auch die Gesetzgebung) verarbeitet - in neuen oder modifizierten Texten. So sehr in jeder pluralistischen Demokratie mancher Verfassungstext z.T. noch "unerfüllt" ist, aufs Ganze des atlantisch/gemeineuropäischen Typus des Verfassungsstaates gesehen, spiegelt sich in den Verfassungstexten viel - gestaltende und gestaltete - Wirklichkeit. Diese "denunziert" die Texte nicht, vielmehr indizieren die Texte viel (Verfassungs-)Wirklichkeit. Bei allen Defiziten im einzelnen: Die Erfindungsgabe der Verfassunggeber in Sachen Formenvielfalt und Funktionenreichtum, Sprachvariabilität und Vielschichtigkeit ihrer Texte sowie die Herausbildung vieler Mischformen kann in ihrer Bedeutung für die Legitimation des Verfassungsstaates kaum überschätzt werden. Von den Verfassungen wird heute eher zu viel erwartet als zu wenig, wobei es nationale Unterschiede gibt: Verfassung ist in der Bundesrepublik Deutschland fast "Religionsersatz", England hat andere Identifikationsmöglichkeiten, Österreich gibt der Verfassung eher weniger, die Schweiz hält die glückliche Mitte, nicht zuletzt dank ihrer Staatsrechtslehre! Aber auch die Unterschiede sind ein Beweis der Vitalität der Verfassung und ihrer Texte.
3. Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses a) Problem Alle älteren und neueren Erörterungen über das "richtige" Verfassungs-, Staats- und Grundrechtsverständnis treffen im Grunde Aussagen über die Funktion der Verfassungssätze, so pauschal sie oft bleiben: sei es in H. Ehmkes Verständnis der Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht 571 und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses , in W. Kägis Deutung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Staates572 oder in H. Hellers Betonung des Prozesses des bewußten, planmäßigen, organisierten Zusammenwirkens 573 . So wie K. Hesse einzelne Aspekte dieser Diskussion zu einem ausgewogenen Theorie-Ensemble zusammengefügt hat 5 7 4 , seien im folgenden stichwortartig die unterschiedlichen Arten bzw. Normgruppen von Ver57 1
H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 88 ff. W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 40 ff 57 3 H Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff. (Neudruck 1963). 57 4 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 3 ff. 57 2
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
fassungstexten den verschiedenen Verfassungsverständnissen zugeordnet. Umgekehrt sollte der Wandlungsprozeß der im Vergleich erarbeiteten Text-Typologie zu Annäherungen im Disput um das "richtige" Verfassungsverständnis führen, etwa im Blick auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz 575 . Die Vielfalt der Texte liefert m.E. genügend Beleg-Material für ein diesem entsprechendes "gemischtes" Verfassungsverständnis, das traditionelle Frontstellungen hinter sich läßt. b) Die einzelnen Funktionen der Texte im Rahmen eines anthropozentrischen Verfassungsverständnisses (1) Das anthropozentrische Verfassungsverständnis Klassische und neuere Texte legen ein anthropozentrisches Verfassungsverständnis nahe. Es findet Ausdruck sowohl in der wichtig bleibenden Funktion der Grenzziehung, vor allem in den traditionellen Grundrechtstexten, als auch in der Fülle der dem Aufgabendenken verpflichteten neueren Verfassungstexte 576 . Denn diese Aufgaben stehen letztlich durchweg im Dienste des Menschen, seiner Würde und Freiheit, auch Gleichheit. Der neue Schutzauftrag in Sachen Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, § 5 K V Basel-Landschaft, Art. 31 Verf. Polen) und der Klassikertext aus der Französischen Erklärung von 1789 (Art. 2: "Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte" 577) ordnen alle Verfassungstexte, alle von ihnen konstituierte und begrenzte Staatlichkeit, alle Arten von Organisation und Verfahren sowie alle Staatsaufgaben letztlich auf den 578
Menschen hin. Die neuen "Grundrechtsverwirklichungsklauseln"
575
haben
Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982. Einzelbelege in meinem Beitrag, Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, in: Festschrift für Ulrich Häfelin, 1989, S. 225 ff. sowie in: Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 (601 ff.). 577 Siehe auch Art. 1 Abs. 1 Verfassungsentwurf Herrenchiemsee (1948): "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR 1 (1951), S. 48). 578 Textbeispiel: Art. 3 Abs. 2 Verfassung Italien (1947), zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975: "Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich begrenzen, und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern". Ähnlich Art. 9 Abs. 2 Verfassung Spanien (1978), zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. Aus der Literatur: C. 576
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis ebenso diese Intention wie die Erziehungsziele (Art. 26 Nr. 1 Verf. Bremen: "Achtung vor der Würde jedes Menschen") sowie alle neuen Dimensionen und Funktionen der Grundrechte, einschließlich ihrer sich im Gewand von (Staats-)Aufgaben entwickelnden (z.B. Teilhabe-)Strukturen. Das von der klassischen Grenzziehungsfunktion der Grundrechtstexte, ihrer neueren Aufgabenstruktur und den staatlichen Kompetenzen gebildete Ganze steht im Dienste des Menschen, auch Strukturnormen wie die "freiheitliche Demokratie" und der "soziale Rechts- und Kulturstaat". Dies gilt selbst und gerade auch für die neuen vielgestaltigen Umweltschutztexte: Sie entwickeln die Menschenwürde, die Prämisse des Verfassungsstaates, zu einem "gemäßigten Anthropozentrismus"; im Interesse einer menschenwürdigen Nachwelt wollen sie die heutige Umwelt schützen 579 . Die Menschenwürde wird im Blick auf spätere Generationen im Zeithorizont gesehen (vgl. Art. 141 Abs. 1 S. 1 n. F. Verf. Bayern: "auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen" 580 ). Angesichts des Vordringens der Idee des Umweltschutzes mag man (vermittelt über "Natur als Kultur" bzw. "Naturschutz als Kulturaufgabe") zu einem "gemäßigten" Anthropozentrismus vordringen. Ein "grüner Kant" ist freilich noch nicht gefunden. (2) Ratio und Emotio Erfüllen die Verfassungstexte je unterschiedliche Funktionen im Dienste am Menschen, so liegt es nahe, daß sie in einer Verfassung der Freiheit und des Pluralismus diesen Menschen zwar nicht "total" erfassen dürfen, indes in seinen für das politische Gemeinwesen wichtigen Aspekten "ansprechen" wollen, so kontrastreich diese sein mögen 581 . Dieses Eingehen auf den Menschen geschieht, verfassungstextlich nachweisbar, vor allem auf zwei Feldern: auf dem der ratio und dem der emotio. Stare k, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 467 (481). Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 1. 579 Vgl. Präambel KV Aargau von 1980: "Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt"; KV Basel-Landschaft von 1984 und KV Solothurn von 1985 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.); Präambel Verf. Bern von 1993: "in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammenleben..."; Art. 74 Abs. 1 Verf. Polen von 1997: "Politik, die den gegenwärtigen und den künftigen Generationen ökologische Sicherheit gewährleistet". 580 Zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995. 581 Einzelheiten in meiner Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Daß der Verfassungsstaat auf den Menschen als "Vernunftwesen" setzt, ist ein Gemeinplatz und in vielen seiner älteren und neueren Texte erkennbar: im Prinzip der Gewaltenteilung 582 , im Verweis auf die gleichen Grundrechte anderer ("Goldene Regel" bzw. I. Kants "Kategorischer Imperativ"), schon in der "Konstruktion" von "Verfassung" überhaupt, in der Organisation ihrer Verfahren, der "Fiktion" des Gesellschaftsvertrages (von I. Kant bis J. Rawls) und in der Schaffung und Garantie von Verfassungsrecht sowie Rechtsstaatlichkeit (vgl. Präambel Verf. Portugal: "Vorrang der Rechtsstaatlichkeit", Präambel Verf. Spanien: "Rechtsstaat zu festigen", Art. 2 Verf. Polen: "demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht"). Die Seite der "emotio" ist verfassungstheoretisch bisher vernachlässigt worden, jedenfalls wurde sie nicht präzise den klassischen und neueren Verfassungstexten "entlang" vergleichend erarbeitet. An die auch emotionale Struktur des Menschen "rührt" z.B. die Gruppe von Verfassungsnormen, die sich als Bekenntnis-, Symbol- und Grundwerte-Klauseln klassifizieren lassen583. Ihre spezifische Funktion ist es, die "conditio humana" vom Emotionalen her zu erfassen und damit die res publica von dieser Seite aus ein Stück weit zu verfassen. Ob in Präambeln (Verf. Frankreich von 1958: "gemeinsames Ideal von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit") oder Erziehungszielen ("Aufgeschlossensein für alles Wahre, Gute und Schöne": Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern), ob in Feiertagsgarantien ("seelische Erhebung": Art. 139 WRV/140 GG) oder in Sprachen-, Flaggen- oder sonstigen Symbol-Artikeln: die Verfassunggeber gestalten ihre Texte sprachlich und inhaltlich im Blick auf diese Funktion: den Menschen auch vom Irrationalen, die Vernunft "übersteigenden" Emotionalen her für das Wichtige (der Verfassung) anzusprechen, sie "einzustimmen", ja zu "gewinnen" (z.B. Präambel Verf. Brandenburg von 1992).
582
Vgl. Art. 16 französische Menschenrechtserklärung von 1789: "Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung".- Dieser Mindestinhalt des Typus "verfassungsstaatliche Verfassung" ist eine ungeschriebene "kulturelles Erbe-Klausel". 583 Textbeispiele: Art. 1 Abs. 2 GG (1949): "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft"; Präambel Verfassung Frankreich (1946): "Es (sc. das französische Volk) verkündet überdies als für unsere Zeit besonders notwendig die nachstehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundsätze".; Art. 11 Verfassung Portugal (1976/82), zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.: "1. Die Flagge des Landes ist diejenige der durch die Revolution vom 5. 10. 1910 errichteten Republik".; Art. 1 Verfassung Japan (1946), zit. nach R. Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, 1982: "Der Tenno ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes".; Art. 1 Abs. 1 Verfassung Spanien: "Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung"; weitere Beispiele in meinem erwähnten Beitrag in: Festschrift für Ulrich Häfelin, 1989, S. 225 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Selbst in den "Im-Geiste"-Artikeln 584 und "kulturelles-Erbe"-Klauseln 585 , überhaupt in den kulturverfassungsrechtlichen Texten schimmert diese Funktion durch. Die hier gemeinte Emotio steht nicht nur in einem - oft fruchtbaren Spannungsverhältnis zur Rationalität des Verfassungsstaates. Sie kann diesen auf eine Weise sogar tiefer gründen: im Bürger als Menschen. Darum die an "Glaubens-Artikel" gemahnenden Texte mancher Verfassungen und Men586
schenrechtserklärungen (vor allem in den Präambeln) . Der demokratische Verfassungsstaat lebt auch aus dem Konsens im Irrationalen, nicht nur aus dem Diskurs, Dissens und Konsens im Rationalen. (3) Die "Verarbeitung" der Zeit Die Textgestalt der verfassungsstaatlichen Verfassungsrechtssätze ist u.a. deshalb so vielfältig, weil sie die Zeit in unterschiedlicher Weise verarbeiten wollen und sollen 587 . Sie richten sich je spezifisch auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Funktionenvielfalt der Verfassung im ganzen hat hierin einen Grund. Gewisse Verfassungstexte bringen die Vergangenheit spezifisch ein bzw. zur Sprache: die von der klassischen Dogmatik eines C. Schmitt entdeckten "Instituts· und institutionellen Garantien" 588 , die sonstigen Rezeptions- (z.B. Statusquo-)Klauseln alter Art, aber auch die neuen kulturelles Erbe-Klauseln 589 und
584 Präambel Verfassung Hamburg (1952): "... Sie (sc. die Freie und Hansestadt Hamburg) will im Geiste des Friedens ... "; ebenda: "in diesem Geiste gibt sich ... Hamburg ... diese Verfassung."; weitere Textbeispiele in meinem genannten Beitrag in: Festschrift für Ulrich Häfelin, 1989, S. 225 ff. 585 Art. 9 Abs. 2 Verfassung Italien (1947): (Die Republik) "schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation."; ferner Art. 60 bis 62 Verfassung Guatemala (1985), zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.- Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg: "Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert".- Art. 34 Abs. 2 S. 2 Verf. Georgien (1995): "The cultural heritage is protected by Law". Ähnl. Art. 6 Verf. Äquatorial- Guinea (1991). 586 Dazu mein Beitrag: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 8. 587 Textbelege in meinem Beitrag: Zeit und Verfassungskultur, in: A. Möhler u.a. (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 289 ff. und oben Vierter Teil IV. 588 C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, 1931. 589 Z.B. Art. 3 Abs. 2 Verfassung Bayern: "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung" sowie Art. 9 Abs. 2 Verfassung Italien (1947). Dramatisch war das Ringen Ungarns um verfassungsstaatliche Elemente wie Gewaltenteilung und Mehrparteiensystem. Es spiegelt sich auch im neuen Staatswappen, vgl. FAZ vom 6. Febr. 1989, S. 6: "Das neue ungarische Emblem soll ein Traditionswappen sein". Das verfassungsrechtlich festgelegte Staatswappen, Beispiel 29 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
manche "Identitäts"-Artikel 590 wie Prinzipien-, Ewigkeitssungsschutzklauseln, auch Wesensgehaltgarantien aller Art 5 9 1 .
und Verfas-
Das fuhrt zu Gegenwart und Zukunft als nächsten "Phasen" in der Zeitachse: Die mannigfachen neuen Textformen und -typen, die Ausdruck von programmatischem Aufgaben-Denken sind, wollen die Zukunft für den jeweiligen Verfassungsstaat gewinnen. Überall dort, wo Texte die Verfassung als "öffentlichen Prozeß" 592 sichern, wo die "Offenheit der Verfassung" organisiert wird und Ziele, Entwürfe, Appelle, Hoffnungen, Aufgaben (vor)formuliert sind, tritt diese Seite bzw. Funktion zutage. Das geschieht höchst differenziert: vom Gestaltungsauftrag in Sachen Grundrechte oder Staatsaufgaben über die Verfahren der Verfassungsänderung (Teil- und Totalrevision) bis zur Verfassunggebung im Rahmen des Typus Verfassungsstaat 593. Die oft berufene unverzichtbare "Mitte" der Verfassung zwischen Dauer und Wandel, Statik und Dynamik, Steuerung und Anpassung, schöpferischer Gestaltung und kraftvoller Bewahrung wird so erreicht. Das Sowohl-Als-Auch von "Prozeßabläufen und Inhalten" 594 verteilt sich auf die verschiedenen Arten von Verfassungssätzen mit unterschiedlichen Akzenten; mitunter findet sie sich sogar in einem einzigen Normenkomplex (so bei den Präambeln oder in mehrschichtigen Grundrechtsgarantien 595). Die Gegenwart holt sich "Anregungen" und Verpflichtungen aus der Vergangenheit; sie formuliert Hoffhungen für die offen gedachte Zukunft. Es gibt "kulturelle Status-quo-Garantien" des Verfassungsstaates wie Menschenwürde und Demokratie, (klassische) Grundrechte und Gewaltenteilung seit 1776/1789 sowie Klassikertexte von I. Kant bzw. die
für einen Symbolartikel, ist Ausdruck des kulturellen Selbstverständnisses eines politischen Gemeinwesens - parallel den Feiertagen. Wenn Ungarn jetzt drei Wappen zusammenfügen will - das "Kossuth-Wappen" (1848/49), das sozialistische Emblem (1948) und das "Kronen-Wappen" (Königreich Ungarn bis 1945) -, so ringt es offenbar um Aussöhnung mit sich und seinen verfassungsgeschichtlichen Perioden: im Wege einer "produktiven Rezeption", die an das kulturelle Erbe anknüpft. 590 Dazu mein Beitrag: Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: Festschrift für Hans Haug, 1986, S. 81 ff. sowie Fünfter Teil III Ziff. 2. 591 Neue Textformen in P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, S. 258 f., 278 ff., 286 f. Siehe Art. 31 Abs. 3 Verf. Polen (1997). 592 P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, 2. Aufl. 1996. 593 Dazu meine vergleichende Textstufenanalyse: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 51 ff. sowie Fünfter Teil III Ziff. 3. 594 Vgl. Schweizer Bericht 1977, aaO., S. 15. 595 Z.B. Art. 6 GG im Sinne von BVerfGE 6, 55. S. auch E 68, 256 (267 f.).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis hier textlich gespeicherten Erfahrungen 596 ; es gibt aber auch ein verfassungsstaatliches "Utopiequantum" 597 . So bleibt es bei der Einsicht, daß die Verfassung im ganzen "Anregung und Schranke" (R. Smend), öffentlicher Prozeß und material, instrumental und werthaft, grundsätzlich und offen ist. Doch unterscheiden sich die einzelnen Verfassungstexte bzw. Normtypen dadurch, daß sie eher das eine oder das andere sind. Erst ihr Zusammenspiel, ihre gleichzeitige Garantie in ein und derselben Verfassungsurkunde eines Volkes, m.a.W. ihre verfassungsstaatliche "Mischung" ermöglicht, daß sie im ganzen stabilisierende Ordnungs- und Freiheitsfunktion erfüllen, Einheitsbildung und plurale Vielfalt schaffen, machtkonstituierend und machtbegrenzend wirken können. Diese komplexe, durch unterschiedlich gestaltete Texte vermittelte, angeregte, ja geforderte Vielfalt führt zur kulturwissenschaftlichen Konzeption: Verfassung ist auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen 598 . (4) Grundkonsens und Pluralität Die einzelnen Verfassungstexte haben die je unterschiedliche Funktion der Schaffung, Garantie und Weiterentwicklung von Grundkonsens und Pluralität im Verfassungsstaat im ganzen. Die Bekenntnis-, Grundwerte- und Identitäts(z.B. "Ewigkeits"-)Klauseln (etwa in Sachen "soziale Gerechtigkeit", menschenwürdige Wirtschaftsordnung, Demokratie) legen die Verfassung auf ihre vom Grundkonsens getragenen Prinzipien fest. Sie beanspruchen, unter der Idee des "Richtigen" 599 zu stehen, d.h. Gerechtigkeits- und Gemeinwohlaspekte zu verwirklichen 600 . 596 Dazu mein Beitrag: 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff. 597 Dazu P. Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 73 (82).- Ein Textbeispiel ist Irlands Staatsziel der "Wiedervereinigung" (vgl. Präambel, Art. 2 und 3 der Verfassung von 1937, zit. nach P.C. Mayer-Tasch, aaO). Zum Ganzen Fünfter Teil VIII. 598 Im Sinne meiner Deutung: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982, insbesondere S. 19. 599 R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 24. 600 Vgl. Art. 110 Abs. 1 Verfassung Peru (1979), zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, welche auf eine menschenwürdige Arbeit als Hauptquelle des Reichtums und als Mittel der Verwirklichung der menschlichen Person gerichtet sind."- Ähnlich schon Art. 151 WRV (1919) und Art. 151 Verfassung Bayern (1946).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Diese Aufgabe der verfassungsstaatlichen Verfassungen läßt sich gerade an und in neueren Verfassungstexten bzw. ihren Funktionen präzise ablesen. Die wachsenden, sich ausdifferenzierenden Staatsaufgaben (jüngst in Sachen Umweltschutz) sind konstitutionelles Gemeinwohlrecht 601 mit diesem Ziel. Und die Gerechtigkeitselemente sucht der Typus "Verfassungsstaat" immer neu von der Verfahrens- und materiell-rechtlichen Seite her i. S. H. Hellers zu organisieren: in Aufgabennormen wie in klassischen und neuen Grundrechtsgehalten (z.B. des "due process" oder der Teilhabestrukturen). Pluralität, die "andere" Garantiefunktion einzelner Verfassungsprinzipien wie der Verfassung im ganzen, steht hinter den verschiedenen "Seiten" der Grundrechte: ihrer Schrankenfunktion (Sicherung eines offenen politischen Lebensprozesses), aber auch ihrer Aufgaben-Struktur ("Grundrechtsaufgaben" im Interesse optimaler Grundrechtswirklichkeit möglichst aller). Die neuerdings allgemein (so in Spanien) oder speziell (z.B. bei der Medienfreiheit) entwickelten "Pluralismus-Artikel" 602 , aber auch der Minderheitenschutz erfüllen diese Funktion der Garantie der Offenheit der Verfassung und d.h. auch Entwicklungsfähigkeit ihrer Texte. Speziell im Bundesstaat ist das Sowohl-Als-Auch von Pluralität und Grundkonsens optimal gelöst (politische, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt bzw. Homogenitätsklauseln)603. Mag das Verhältnis von Grundkonsens und Pluralität in Raum und Zeit spannungsreich variieren: Der Typus "Verfassungsstaat" braucht eine Vielzahl von Texten, die beides "gemischt" sichern - als Rahmen für das immer neue "Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller Bürger".
601 Einen Überblick über die verfassungsrechtlichen Gemeinwohlklauseln in meiner Schrift: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 39 ff; fortgeschrieben in: Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff. S. auch Sechster Teil VIII Ziff. 6. 602 Textbeispiele: Art. 1 Abs. 1 Verfassung Spanien (1978), zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff: "Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung"; ebenda: Art. 20 Abs. 3: "Zugang zu genannten Medien, unter Achtung des Pluralismus in der Gesellschaft ... ".- S. auch Art. 2 Verfassung Portugal (1976/82), zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.: "Meinungspluralismus sowie Pluralismus der demokratischen, politischen Ordnung". Die Anti-StaatsideologieKlauseln in Osteuropa (z.B. Art. 15 Abs. 2 Verf. Ukraine von 1996) gehören ebenfalls hierher. S. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Paraguay (1992): "pluralistic democracy, which is founded on the recognition of human dignity". Ahnl. Präambel Verf. Gabun (1997). 603 Zum Versuch einer kulturellen Bundesstaatstheorie: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; ders., VVDStRL 46 (1988), S. 148 f. (Diskussion). S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 4.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis (5) Die schrankenziehende Funktion Die Funktion der Schrankenziehung (auch unter den Bürgern, z.B. in Gestalt der Drittwirkung der Grundrechte) 604 , Beschränkung von Macht (im Verhältnis Staat/Bürger), Verhinderung von Machtmißbrauch (seitens Staat und Gesellschaft) bleibt vielen alten und neuen Verfassungssätzen eigen und im ganzen unverzichtbar. Daran ändert alles Aufgabendenken, ändern alle aufgabenorientierten Verfassungstexte der jüngeren Textstufenentwicklung nichts. Der Kanon der klassischen Grundrechte, die Gewaltenteilung, Demokratie als begrenztes Vertrauen und (bzw. in) "Herrschaft auf Zeit", die präzise Organisation der Verfahren, in denen um das Gemeinwohl gerungen und nach Gerechtigkeit gestrebt wird - all dies läßt sich einzelnen Text-Typen dem Wortlaut und der Sache nach sehr genau entnehmen (z.B. den Normen zum Minderheitenschutz). Mag da und dort programmatisches Aufgaben-Denken die Texte überwuchern: Die Lehre vom Verfassungsstaat muß an dieser Funktion einzelner Verfassungstexte wie der Verfassung im ganzen als einer unter anderen Funktionen festhalten. Die Aufgaben bleiben begrenzt. Recht verstanden steht sogar hinter den vordringenden Aufgaben-Normen (z.B. bei grundrechtsbezogenen Staatsaufgaben) die Sorge um reale grundrechtliche Freiheit in ihrer "klassischen" Abwehrdimension. Das Aufgabendenken ist nur ein Element "grundrechtssichernder Geltungsfortbildung" 605 , z.B. in Gestalt des "status activus processualis" 606. Art. 1 Abs. 1 GG und der Klassikertext in Art. 2 der französischen Erklärung von 1789 "erinnern" immer wieder an diese Funktion der Schrankenziehung bzw. ihre zeitgerechte Fortschreibung. (6) Wirklichkeitsbezug, Wirklichkeitsgestaltung Sie sind eine letzte, vor allem jüngst in den Vordergrund tretende Funktion von verfassungsstaatlichen Verfassungen bzw. einzelnen ihrer Textgruppen und Texttypen. Die Wirklichkeit ist heute nicht nur ein Hauptthema der Rechtswissenschaft (F. Wieacker), sie ist auch im Kraftfeld der Lehre vom
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Vgl. § 14 Abs. 2 und 3 KV Basel-Landschaft (1984): "Wer Grundrechte ausübt, hat die Grundrechte anderer zu achten.- Niemand darf Grundrechte durch Mißbrauch seiner Machtstellung beeinträchtigen." Vgl. auch Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen." 605 Dazu mein Regensburger Koreferat: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30(1972), S. 43 (69). 606 Ebenda, S. 86 ff., 121 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Verfassungsstaat zentral geworden. Das zeigt sich vielfältig: allgemein an Staatszielbestimmungen bzw. Grundsatznormen zum sozialen Rechtsstaat, zur "sozialen Gerechtigkeit", an Texten zu speziellen Staatsaufgaben 607, die einzelne oder alle Grundrechte effektivieren wollen (im Sinne "realer Freiheit"); es zeigt sich aber auch in den neuen Dimensionen der komplex gewordenen Grundrechtsgehalte selbst, sei es dank der Technik von Förderungs- und Schutzaufträgen (z.B. Art. 6 Abs. 5 GG, § 25 K V Aargau, Art. 42 Abs. 2 Verf. Bern), über die Dynamisierung des Gleichheitssatzes ("Chancengleichheit") oder über andere Verfassungstexte, die im Dienste der "Grundrechtsoptimierung" stehen, etwa die Grundrechtsverwirklichungs- und -entwicklungsklauseln oder der "Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren" 608 . Der Verfassungsstaat will seine Texte verwirklicht, "sozial" erfüllt sehen, er "beansprucht" die Wirklichkeit für sich; seine "Normativität" soll "Normalität" werden. Er möchte die Wirklichkeit im Sinne seiner Texte steuern und gestalten, sich aber auch an ihr ausrichten. Den einzelnen verfassungsrechtlichen Artikelgruppen und Texttypen ist diese Funktion unterschiedlich intensiv eigen, doch geht die Tendenz der Verfassungen insgesamt in Richtung auf ein "Mehr an Wirklichkeit".
4. Die Offenheit der verfassungsstaatlichen Themenliste eine Momentaufnahme Gewiß, es gibt ein "verfassungsstaatliches Minimum" an Verfassungstexten bzw. der in ihnen zu behandelnden Themen einer Zeit (ebenso wie es einen Grundbestand an notwendigen Staatsaufgaben geben muß). So wie wir im Anschluß an M. Hauriou von einem "bloc des idées incontestables" sprechen, können wir insofern von einem "bloc des textes incontestables" ausgehen, zu denen Klassikertexte etwa von Montesquieu zur Gewaltenteilung für jedes Beispiel des "Typus Verfassungsstaat" gehören, aber auch das Rechtsstaats-
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Belege in meinem Beitrag: Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 555 ff. S. auch Sechster Teil VIII Ziff. 6. 608 Textbeispiel: § 14 KV Basel-Landschaft: "1. Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. 2. Wer Grundrechte ausübt, hat die Grundrechte anderer zu achten. 3. Niemand darf Grundrechte durch Mißbrauch seiner Machtstellung beeinträchtigen." Siehe auch Bundesverfassungsentwurf Schweiz (1977), Art. 24: "Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations· und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen." Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen".
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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prinzip 609 . Eine raum-zeitlich angelegte Bestandsaufnahme, aber auch das entwicklungsgeschichtliche Verständnis des Verfassungsstaates als Typus wie als individuelles Beispiel wird jedoch zu der Erkenntnis gelangen, daß im übrigen die Themenliste offen ist. Immer wieder kommen neue Themen hinzu: aus dem staatsorganisatorischen Teil etwa die "konsultative Volksbefragung" (Schweden, Finnland), die "Öffentlichkeit des Verwaltungshandelns" (Art. 30 Verf. Guatemala), die "Beziehungen zu verwandten Staaten" (Art. 151 ebd.), die Agenden eines "Cooperative Government" (Art. 40 Verf. Südafrika von 1996/97). Die Schweiz hat auf Kantonsebene ausgefeilte Maximen für die Verfassunggebung geschaffen 610. Im Vordringen sind neuerdings fast weltweit Pluralismus-Artikel (z.B. Spanien, Afrika, auch einige Reformländer in Osteuropa: Anti-Ideologie-Klauseln z.B. Art. 6 Verf. Rußland), während der Generationenschutz eine ähnliche Themenkarriere durchlebt (vgl. früh Art. 11 Verf. Japan von 1946: werden dieser und künftigen Generationen "Grundmenschenrechte" als "unverletztliche ewige Rechte übertragen"). Wahrheitsklauseln finden sich vor allem dort, wo die vorangegangene Lebensphase von Völkern durch staatlich verkündete Unwahrheiten gekennzeichnet war (so in den neuen deutschen Bundesländern: z.B. Art. 22 Abs. 2 Verf. Thüringen). Im Grundrechtsbereich garantiert Art. 39 Abs. 2 Verf. Aserbeidschan (1995) ein Informationsrecht "sur l'état véritable de rienvironnement". Auch die Berufung auf Menschheitswerte ("Humanität", Humanismus: z.B. Präambel Verf. Bulgarien von 1991, Art. 8 Abs. 1 Verf. Mazedonien von 1991, Präambel Verf. Aserbeidschan von 1995) ist im Vordringen. Die "offene Gesellschaft" wird vereinzelt schon zum Verfassungstext: von Peru (alte Prä609
Das Rechtsstaatsprinzip hat weltweit teils verfassungstextlich, teils der Sache nach Karriere gemacht, auch in den neuen Verfassungen in Osteuropa und im südlichen Afrika. Dies geschah auch im Verbund mit oder doch in Entsprechung zu der angloamerikanischen "rule of law". (Die deutsche Literatur ist unüberschaubar geworden, vgl. etwa E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HdbStR Bd I, 1987, S. 987 ff.; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986; Κ . Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997.) Im GG begegnet es in einer Fülle von einzelnen Elementen, das BVerfG entwickelt solche aber auch "ungeschrieben" (Nachweise bei M. Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 20 Rn. 52 und 53). Jedem Verfassunggeber ist zu raten, nur einige, nicht alle Teilaspekte des Rechtsstaatsprinzips ausdrücklich zu regeln, um künftigen Entwicklungen Raum zu lassen. Das Prinzip als solches gehört jedoch heute zum "bloc des textes incontestables". Die Einzelausformungen dürfen von Land zu Land variieren. S. auch R. Hofmann/F. Merli/J. Marko u.a. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996. In der Türkei ist dem türkischen Verfassungsgericht eine bemerkenswerte Effektivierung des Rechtsstaatsprinzips in Richtung auf die einstweilige Anordnung geglückt, dazu Ζ Gören, Die einstweilige Anordnung in der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts, EuGRZ 1994, S. 597 ff.- S. auch die hohe Rechtsstaatlichkeit in Art. 141 Abs. 3 Verf. Türkei (1982): "Begründungszwang für alle gerichtlichen Entscheidungen". 610 Maximen, die in anderen Ländern allenfalls ungeschrieben anerkannt sein mögen.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
ambel, 1979) bis Südafrika (Präambel, 1996). Die "civil society" in manchen neuen Verfassungen (z.B. Präambel Verf. Litauen von 1992, Präambel Verf. Aserbeidschan von 1995, Präambel Verf. Kasachstan von 1995) hat erst jüngst eine textliche Verfassungskarriere begonnen, nachdem die Wissenschaft den Begriff vorweg zum Thema gemacht hatte 611 . Das Stichwort "Markt" oder "Marktwirtschaft" schafft sich erst nach und nach Eingang in die Verfassungstexte: z.B. als "soziale Marktwirtschaft" in Art. 115 Abs. 1 S. 2 Verf. Peru von 1979 und Art. 20 Verf. Polen, als "dem Schutz der natürlichen Umwelt verpflichtete marktwirtschaftliche Ordnung" (so Art. 42 Abs. 2 Verf. Brandenburg von 1992) oder als einer "sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft" (so Art. 36 Verf. Thüringen), als Verbot einer "monopolistischen Position im Markt" (so Art. 42 Abs. 3 Verf. Ukraine von 1996, ähnlich Art. 20 Abs. 5 Verf. Kwazulu Natal von 1996: "free market competition" und Art. 46 Abs. 4 Verf. Litauen von 1992). Die "State-policy-Artikel" (im südlichen Afrika) setzen einen eigenen Akzent im Vergleich mit den herkömmlichen Staatszielbestimmungen bzw. Staatsaufgaben-Katalogen 612. Das Ökologie-Thema hat heute wohl alle neuen Verfassungen erobert und zwar in den unterschiedlichen Kontexten und Texten: in der Präambel, als Grundwerte-Klausel, als Staatsziel, als Grundrecht oder sogar als Grundpflicht. Auch die sich verbessernden Minderheiten-Schutzklauseln werden dem Verfassunggeber immer wichtiger. Geschrieben und ungeschrieben hat der Gesundheitsschutz (z.B. Art. 28 Verf. Estland von 1992, Art. 64 Verf. Portugal von 1976, Art. 37 Verf. Georgien von 1995) eine besonders große Karriere im Verfassungsstaat erlebt 613 . Die Formen zur Effektivierung der Demokratie: etwa durch Ombudsmänner bzw. -frauen 614 (von Skandinavien bis Südamerika) oder "Landesbeauftragte" (vgl. Art. 74 Verf. Brandenburg) oder durch Verstärkung der Parlamentsrechte gegenüber den Regierungen (z.B. Art. 50 und 51 Verf. Sachsen), eigene Op611 Im Blick auf die USA: vgl. H. Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, FS Smend, 1962, S. 23 ff. 612 Dazu Sechster Teil VIII Ziff. 6 c. 613 Aus der deutschen Lit. hier nur O. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987. 614 W. Haller, Der Ombudsmann im Gefuge der Staatsfunktionen, FS Eichenberger, 1982, S. 705 ff.; F. Matscher (Hrsg.), Ombudsmann in Europa - ein institutioneller Vergleich, 1994.- Neuartig ist die "Transparenzklausel" in der Präambel Verf. Madagaskar (1992): "la transparence dans la conduite des affaires publiques comme garantie de la participation des citoyens...". S. auch Verf. Costa Rica (1949): Art. 30 Abs. 1: freier Zugang zu den Abteilungen der Verwaltung "zum Zwecke der Informationsbeschaffung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse".- Die Klausel zur Afrikanischen Einheit in Art. 117 Verf. Mali (1992) ist wohl ebenso utopisch wie einzigartig: partieller oder totaler(!) Souveränitätsverzicht zugunsten der afrikanischen Einheit (zit. nach JöR 45 (1997), S. 714 ff.); ähnl. Art. 146 Verf. Burkina Faso (1997).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis positions-Artikel (z.B. Art. 19 Verf. Niedersachsen von 1993) 615 oder durch neue Formen der "Volksinitiativen" (z.B. Art. 59 Verf. MecklenburgVorpommern), neue Europa- bzw. Regionalismus-Artikel (vgl. pionierhaft: Art. 60 Verf. Saarland) bezeichnen ebenfalls neue Themen und Textfelder. Ein Blick auf die Grundrechte i.V. mit grundrechtsbezogenen Staatsaufgaben ergänze dieses "bewegte" Bild: Neue Themen wie der Behinderten- und Altenschutz (für jenen z.B. Art. 3 Abs. 3 GG (1994), zuvor Art. 17 Abs. 2 Verf. Guinea von 1991!) springen ebenso ins Auge wie das Grundrecht auf (kulturelle) Identität (Art. 58 Verf. Guatemala von 1985). Überhaupt expandiert das Thema "Kultur in der Verfassung": vom Kulturgüterschutz bis zu kulturellen Minderheitenrechten. Das schon bekannte Grundrecht auf Rechtsschutz (z.B. Art. 19 Abs. 4 GG) wird in Rußland (1993) zum "Recht auf den Erhalt qualifizierter juristischer Hilfe" 6 1 6 . Ein zunehmend erfolgreiches Verfassungsthema werden die Kinder-(Grund)-Rechte (vgl. nur Art. 27 Verf. Brandenburg, Art. 14 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 28 Verf. Südafrika mit einem ausgebauten Katalog in der Bill of Rights), wobei die UN-Konventionen unterstützend gewirkt haben dürften - ein weiterer Beleg für die Permeabilität bzw. den Wirkungszusammenhang von Völkerrechts- und Verfassungsthemen. Oft ist in einem Land schon geschrieben, was anderwärts prätorisch entwickelt wird 6 1 7 . (Bemerkenswert Art. 57 Abs. 3 Verf. Kroatien von 1991: die Annahme humanitärer Hilfe aus dem Ausland darf nicht verboten werden.) Diesen offenkundigen Trends stehen aber auch Ungleichzeitigkeiten und Eigenprofile gegenüber. So ist Japans Kriegsverzichts-Artikel 9 textlich wohl ein Unikat, auch die Qualifizierungen und Stilisierungen des "Tenno" als "Symbol Japans" (Art. 1). Das Fehlen jeden Sozialisierungs-Artikels in der Schweizer Verfassungslandschaft zeichnet diese ebenso aus, wie das Fehlen von Privatisierungs-Artikeln in den Reform-Verfassungen Osteuropas nachdenkenswert ist. Auffällig bleibt auch das vereinzelte Ordens-Thema. Nach republikanischhanseatischer Tradition verboten, nehmen sich z.T. die deutschen Länder-Ver-
615 S. auch die "Enquete-Kommissionen" (z.B. Art. 73 Verf. Brandenburg, Art. 63 Verf. Thüringen). Aus der Lit.: P. Häberle, Das Grundgesetz und die Herausforderung der Zukunft - Wer gestaltet unsere Verfassungsordnung?, FS Dürig, 1990, S. 1 (19 ff); C. Metzger, Enquete-Komissionen des deutschen Bundestages, 1995. Neu ist die Pflicht zur Vollbeschäftigung (Art. 1 Ziff. 15 Verf. Gabun von 1994). 616 Bislang haben nur einige Länder die Möglichkeit zu verfassungsrichterlichen Sondervoten konstitutionalisiert (Art. 164 Abs. 1 S. 1 Verf. Spanien von 1978, Art. 93 Abs. 3 S. 2 Verf. Griechenland von 1975). 617 So hat das Schweizer BG jüngst ein Recht auf Existenzsicherung als ungeschriebenes Verfassungsrecht des Bundes anerkannt, vgl. EuGRZ 1996, S. 207 ff, was in anderen Verfassungstexten geschrieben garantiert wird.
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen fassungen Bayern (Art. 118) und Rheinland-Pfalz (Art. 18) einschränkend des Themas an 6 1 8 . Die Verfassunggeber können auch heute noch ermutigt werden, auf ihre "Eigenheiten" zu bestehen. Eine Allerwelts- oder Einheits-Verfassung aus der Retorte widerspricht gerade dem kulturwissenschaftlichen Ansatz: zu verschieden bleiben Geschichte, Mentalitäten, "Wunden" und Hoffnungen der Völker. Manche Themen werden so selbstverständlich oder so "unwichtig", daß sie nicht mehr zum "Regelungsoptimum" (statt -maximum) gehören (z.B. die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichte in Deutschland, vgl. z.B. noch Art. X § 178 Paulskirche von 1849). Im Ganzen: In einer sich wandelnden Welt ändern sich auch die Verfassungsthemen. Je älter Verfassungen sind, desto mehr ergänzen Wissenschaft und Praxis die geschriebenen Texte um Ungeschriebenes, was dann fur andere - ferne oder nahe - Verfassunggeber später Grund sein mag, deren "Quintessenz" auf neue Texte zu bringen: die Verfassungslehre kann diese Prozesse begleiten und die Wirkungszusammenhänge aufdecken, auch (begrenzt) verstärken. So gelesen, ist das Textstufenparadigma weder Übernoch Unterschätzung der Verfassungstexte.
5. Inkurs Α.: Die hohe Relevanz von Verfassungsentwürfen Schon ein "empirischer Doppelbefund" bzw. zwei Beispiele im Europa unserer Tage belegen, wie ergiebig für die vergleichende Verfassungslehre Entwürfe deshalb sind, weil sie früher oder später "wirksam" geworden sind und auf spätere Texte bzw. ihre "Übersetzung" in die Verfassungswirklichkeit ausstrahlen: Das eine Beispiel stammt aus der Schweiz. Dort haben der Entwurf des Baslers Max Imboden von 1959 "Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte" und der Verfassungsentwurf 1977 der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung impulsgebend gewirkt 6 1 9 . Bei aller Kritik im einzelnen darf heute gesagt werden, daß diese Ent-
618 Ein immer stärker "kommendes" Verfassungsthema ist auch der "Tierschutz", gelegentlich unter der Devise "Tierschutz ist Menschenschutz" propagiert. Dazu etwa die Nachweise in P. Häberle, Die Kontroverse um die Reform des GG, ZfP 1992, S. 233 (252) sowie aus der Lit.: J. Leimbacher, Die Rechte der Natur, 1988; U. Wolf Das Tier in der Moral, 1990; G.M. Teutsch, Die Würde der Kreatur. Erläuterungen zu einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, 1995; W. Vossenkuhl, Moralische Ansprüche der Natur, FS H. Maier, 1996, S. 501 ff. 619 M Imboden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in: ders., Staat und Recht, 1971, S. 219 ff.; Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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würfe sogar weit über die deutschsprachige Wissenschaftlergemeinschaft hinaus gewirkt haben: in Problemformulierung und Textvarianten. Damit vermögen sie, auch den nationalen Verfassunggebern in Osteuropa (zusammen mit den neuen Kantonsverfassungen von Nidwaiden bis Solothurn, Bern und Appenzell A.Rh.) praktische Hilfestellung zu leisten 620 . Gewiß, auf der Bundesebene in der Schweiz ist es letztlich bis heute zu keiner Totalrevision gekommen, doch wirken die Entwürfe auf Wissenschaft und Rechtsprechung und vor allem auf die neuen Kantonsverfassungen 621. Und dies gerade auch in jüngster Zeit. Das gilt etwa für die Verfassung des Kantons Bern (1993), die sich derzeit als wohl beste Kantonsverfassung präsentiert und ihrerseits die Totalrevision im Kanton Appenzell-Ausserrhoden beeinflußt hat (1995) und jetzt auch die Totalrevision in St. Gallen (1996/97). Eine besonders große Ausstrahlungswirkung kommt in der Schweiz dem Privatentwurf Kölz/Müller (1983, 2. Aufl. 1990, 3. Aufl. 1995) zu 6 2 2 . Dieser "Privatentwurf ' ist längst kein "privates" Dokument mehr, er ist rasch ein Stück Öffentlichkeit geworden, jener konstitutionellen Öffentlichkeit, aus der sich in offenen Gesellschaften wie der Schweiz Verfassungsentwicklungen kristallisieren können. Ein zweites Beispiel liefern die Prozesse der Verfassunggebung in Ostdeutschland. Der Verfassungsentwurf des "Runden Tisches" der DDR (1990) wirkte und wirkt noch auf die späteren Entwürfe der werdenden neuen Bundesländer: von Brandenburg als erstes (1992) bis Thüringen als letztes (1993) 623 . Auch der - einzige - Privatentwurf G. Riege (1990) behält einen nicht nur historischen "Stellenwert" - dies um so mehr, als sonst in Deutschland auf Lan-
Totalrevision der Bundesverfassung, 1977; dazu etwa P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff.; L. Wildhaber, Das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. JöR 26 (1977), S. 239 ff.; B. Ehrenzeller, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, Der gegenwärtige Stand des Vorhabens, ZaöRV 47 (1987), S. 699 f.; K. Eichenberger, Wiederbelebte Totalrevision der Bundesverfassung, in: Liberalismus als Verjüngungskur, hrsgg. von H. Buhofer, 1987, S. 196 ff. Jüngst: Y. Hangartner, Der Entwurf einer nachgeführten Bundesverfassung, AJP/PJA 1997, S. 139 ff. 620 All dies ist (bis 1985) dokumentiert in meinem Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff. 621 Dazu ebd., JöR 34 (1985), S. 303 (354 ff.). 622 Vgl. die Nachweise zum ersten Echo in JöR 34 (1985), S. 303 (423 f.). S. auch die Besprechung der 2. Auflage durch P. Häberle, in: AöR 117 (1992), S. 310 ff. 623 Alle Entwürfe und zum Teil auch die Wirkungen sind dokumentiert von JöR 39 (1990) bis JöR 43 (1995), S. 355 ff.
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen des- oder Bundesebene bezeichnenderweise keine Privatentwürfe erarbeitet worden sind. Die Schweiz bleibt insofern unerreichtes Vorbild 6 2 4 . Man wundert sich, warum es bis heute in Deutschland zu keinem privaten Verfassungsentwurf gekommen ist. So viel Verfassungspolitik punktuell und in allen Literaturgattungen 1990 von Artikeln in Tages- und Wochenzeitungen bis hin zu Zeitschriftenaufsätzen diskutiert wurden, ein privater Verfassungsentwurf blieb und bleibt bislang aus. Die Gründe dafür können nicht allein darin zu suchen sein, daß das GG sich im ganzen unbestreitbar bewährt hat; denn jede geschriebene Verfassung bedarf mindestens punktueller Fortentwicklung und "Fortschreibung", die nicht allein von Wissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit sowie in zufälliger, mitunter kompromißhafter "Paketform" vom verfassungsändernden Gesetzgeber zu vollbringen ist (Schleswig-Holstein hat 1990 eine mustergültige "ganze" Verfassungsreform vollbracht!). Selbst die Schweizer Bundesverfassung von 1874, die sich wahrlich bewährt hat und die in Wachstumsschüben bislang nur teilrevidiert wurde, sieht sich nach wie vor der Frage einer "Totalrevision" gegenüber (letzter Entwurf: 1995), ganz abgesehen davon, daß viele Kantonsverfassungen mit großer Kraft und in reicher Phantasie teil- oder totalrevidiert wurden bzw. werden (zuletzt etwa in Bern, 1993, sowie in Appenzell A.Rh., 1995). So muß es sehr "deutsche Gründe" haben, daß Privatentwürfe bisher ausgeblieben sind: sei es, daß namhafte Staatsrechtslehrer stark in Gutachtenpraxis und/oder in politischen Parteien (jetzt in den neuen Bundesländern und ihre neuen Verfassungsentwürfe) eingebunden sind oder daß sie die entbehrungsvolle Arbeit an einem gediegenen Text scheuen, was viel Handwerk und Kunst verlangt. Vielleicht fehlt aber auch nur die wissenschaftliche Tradition von Privatentwürfen. Sie muß wie jede Kulturleistung einmal gewagt und begonnen werden, sie könnte sich aber lohnen. Denn die Faszinationskraft, die nun einmal von einem geschriebenen Verfassurigstext bzw. Gesamtentwurf ausgeht, ist nach wie vor groß - die Verfassungsbewegungen in Osteuropa beweisen es -, und mancher Staatsrechtslehrer könnte seine Monographie, seinen großen Handbuch-Aufsatz, sein Gutachten oder seinen Kommentar "krönen" durch Mitarbeit an einem privaten Verfassungsentwurf. Vielleicht fehlt es aber auch (wie dem Verfasser) an der "Universalität", ein Defizit, das auch sonst verhindert oder erschwert, daß heute z.B. 624
Der Verf. hat im "Vormärz 1990" niemanden finden können, der zusammen mit ihm einen Privatentwurf für ein vereintes Deutschland erarbeitet hätte.- Der Entwurf "Eine Verfassung für Deutschland", hrsgg. von B. Guggenberger, U. K. Preuß, W. Ullmann, 1991, ist wohl kein "Privatentwurf' mehr, da nicht allein wenige Professoren beteiligt waren, sondern Parteirepräsentanten mitwirkten. Eine "Wirkung" bleibt ihm bisher weitgehend versagt. Vereinzelt führt er zu kritischen oder zustimmenden Reaktionen: vgl. vom Verf. zwei Beiträge, in: B. Guggenberger/A. Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994, S. 131 ff. bzw. 213 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis Kommentare zum GG, ja selbst größere Lehrbücher aus einer Hand geschrieben werden - wie einst der Kommentar zur WRV von G. Anschütz (14. Aufl. 1933) oder das große Lehrbuch zum Verwaltungsrecht Allgemeiner Teil von E. Forsthoff (10. Aufl. 1973). Die verfassungsgeschichtliche Forschung hat sich jüngst um die Dokumentation von ausgearbeiteten Verfassungsentwürfen aus der Distanz von mehr als einem Jahrhundert verdient gemacht 625 , und vielleicht wird auch die Diskussion um eine "Verfassung für Europa" dereinst die Wissenschaft gegenüber Verfassungsentwürfen "neugieriger" und sensibler machen 626 . Jedenfalls sollte das hier erwähnte ältere Beispielsmaterial und die Veröffentlichung der Verfassungsentwürfe in Osteuropa dazu beitragen, der Wissenschaft ein weiteres Betätigungsfeld zu erschließen. Dies um so mehr, als es sich um jeweils kraftvolle, sehr unterschiedliche Entwürfe handelt, die oft auch im gleichen Land heftig "konkurrieren" 627 . Auch die Darstellung vieler Verfassungsentwürfe aus Osteuropas jüngster "Verfassungs"-Geschichte rechtfertigt sich, und Verfassungsentwürfe sollten als solche selbst dann beachtet werden, wenn sie (zunächst oder überhaupt) keinen "Erfolg" hatten. Sie können nach langer Inkubationszeit ja später immer noch (überschaubar) wirken. Eigener Begründung bedarf die intensive Beachtung von Verfassungsentwürfen, selbst dann, wenn sie keinen "Erfolg" hatten, indem sie nicht oder nicht unverändert zu geltenden Verfassungen wurden. Zum einen sind redigierte Verfassungsentwürfe ja oft Durchgangsstadien im langen Geburtsvorgang zum "endgültigen" Verfassungstext hin; auch wirken sie im Kräfteparallelogramm konkurrierender Entwürfe, selbst wenn dies nicht immer direkt meßbar ist. Vor allem aber gilt für Verfassungsentwürfe auch das, was für positive Verfassungstexte spricht: Sie spiegeln oft eine Entwicklung in Rechtsprechung und Literatur national wie international plastisch wider. Da die Verfas-
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Vgl. H. Dippel (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland, Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, 1991. S. auch H. Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/1919, AöR 121 (1996), S. 24 ff. 626 Vgl. immerhin den Entwurf von R. Luster, Bundesstaat Europäische Union, 1988 und meine Anzeige in: AöR 114 (1989), S. 523 ff.; s. auch die Dokumentation in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, bes. S. 571 ff. Zum VE des Europäischen Parlaments (1993): H. Lecheler, in: Ged.-Schrift für E. Grabitz, 1995, S. 493 ff. Material auch in G. Brüggemeier (Hrsg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994. 627 Vgl. die Verfassungsentwürfe des polnischen Sejm, auch den Entwurf Schuchocka/Zakrzewska einerseits, des polnischen Senats andererseits, abgedruckt in: JöR 43 (1995), S. 194 ff. bzw. S. 231 ff.
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen sungsentwürfe prägnant auf "ansprechende" Begriffe bringen müssen, was alles offen diskutiert wird, gewinnen sie eine spezifische Aussagekraft, selbst als "Momentaufnahme" in einem längeren Entwicklungsprozeß. Das Gegen- und Miteinander von Verfassungsentwürfen, zumal im gemeineuropäischen Verbund heute, läßt viel erkennen: Die Texte gleichen in manchem den Spitzen von Eisbergen: vieles, wenngleich nicht alles, was den Typus Verfassungsstaat bewegt und was sich "in ihm" bewegt, ist in Entwürfen auf den Stand gebracht. Darum wird hier vorläufigen und endgültigen Texten so viel Aussagekraft beigelegt - selbst dort, wo sie als Provokation wirkten und dann die endgültigen, positiven Verfassungstexte polemische beeinflußten bzw. zu Reaktionen zwangen. Die Verfassungsgeschichte ist zwar nicht allein die Geschichte von Verfassungstexten, aber sie wird doch in spezifischer Weise von ihnen mitgeprägt. Der besondere Aggregatzustand von Verfassungsentwürfen und -texten verdient es, stärker als bisher als Seismograph, Vehikel, "Kristallisationsform" beachtet zu werden - auch wenn hier "Versuch und Irrtum" wie in allem kulturellen Menschenwerk dicht beieinander liegen. Der Text (auch Entwurf) ist ein Gefäß für Wirklichkeit im Verfassungsleben ganz eigener Art 6 2 8 . Eine weitere Bemerkung zur bleibenden Aussagekraft selbst von scheinbar "überholten" Verfassungsentwürfen einzelner politischer Parteien: Legen sie einen kompletten Verfassungsentwurf vor, der im Prozeß der Verfassunggebung eine Rolle spielte (wie in Tschechien z.B. der Entwurf des CSFRBürgerforums von 1990), so vermag er auch später noch Relevanz zu gewinnen. Die "Anstrengung" derer, die einen solchen Verfassungstext formuliert haben, k^nn sich mittel- und langfristig doch noch lohnen. Zwar hat die Partei im demokratischen Kräfteparallelogramm naturgemäß nicht ihren ganzen Text einfach durchgesetzt, aber ihre Verfassungstexte sind nun einmal als solche "in der Welt", sie können im Rahmen der sog. historischen Verfassungsauslegung wirken, sie können aber auch als Elemente des Parteiprogramms auf eigene Weise weiterwirken: bei künftiger Gesetzgebungspolitik oder in Auslegungsvorgängen. In einem weiteren Sinne sind sie Baustücke im Ganzen des verfassungsstaatlichen "Steinbruchs". Verfassungsentwürfe verdienen also wissenschaftliches Interesse, ganz unabhängig davon, wie "erfolgreich" sie sind. Ja, selbst dann, wenn sie politisch als "gescheitert" gelten und dies auch sind, sollten sie von der Staatsrechtslehre 628 Dabei schlagen nicht selten traditionelle "Länderfreundschaften" bzw. "Sonderbeziehungen" durch, mögen sie auf Nachbarschaft oder Tradition beruhen. So orientiert sich z.B. die Verf. Rumänien (1991) in manchem am Verfassungsrecht Italiens ("Conseil Supérier de la Magistrature", Art. 132 f., Wahl der Verfassungsrichter zu einem Drittel durch den Präsidenten nach Art. 140 Abs. 2) sowie an Frankreich (Präsidialsystem, Art. 80 bis 100).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis wissenschaftlich nachgearbeitet werden, nicht nur von der (sonstigen) Verfassungsgeschichtsschreibung. Denn in ihren Texten objektivieren und kristallisieren sich Inhalte und Verfahren, Ideen und Wirklichkeit, Hoffnungen, Wünsche und verarbeitete Vergangenheit in einzigartiger Weise: Der Zwang, normativ verbindlich Gedachtes in Textform zu gießen, veranlaßt zu einer Verdichtungsarbeit, die das diffuse Material, aus dem es gerinnt, konturenschärfer macht. Verfassungsentwürfe rezipieren und kombinieren - bei aller im einzelnen ganz unterschiedlichen schöpferischen Kraft ihrer Autoren - vor allem weit Verstreutes und recht Heterogenes: etwa Verfassungsgerichtsurteile und Staatspraxis, Dogmatiken der Wissenschaft und Gerichtsurteile, aber auch schon anderwärts zu Texten Gewordenes wie regionale und universale Menschenrechtspakte, mitunter sogar Programme politischer Parteien, ganz abgesehen von den Textvorbildern in Verfassungen anderer Länder bzw. Staaten oder in Verfassungen aus der eigenen Geschichte. Texte, vor allem Verfassungstexte, üben nun einmal eine - den Buchreligionen verwandte - spezifische Faszination aus - selbst dann, wenn sie von der Geschichte "überholt" worden sind oder wenn sie die Geschichte erst gar nicht "eingeholt" haben. Im folgenden sei dieser Entwicklungsvorgang an einem konkreten Beispiel kulturwissenschaftlich nachgezeichnet: am Beispiel der "Subsidiarität".
6. Inkurs B.: Die kulturelle Entwicklungsgeschichte des Prinzips Subsidiarität (1) Einleitung, Problem Spätestens seit "Maastricht" (1992) hat der Begriff "Subsidiarität" Konjunktur. Für die einen polemisch ein "Zauber"- oder "Modewort", für die anderen ein Schlüsselbegriff, von manchem als "Leerformel" kritisiert, ringen viele darum, ihn juristisch zu konkretisieren, nachdem er nun einmal zur Textgestalt eines Vertragsentwurfs geronnen ist 6 2 9 (Präambel, Artikel Β und Art. 3 b EGVertrag 1957/1992). Es wäre ja nicht das erste Mal, daß ein als "Blankettfor629
Zum folgenden die Nachweise in P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität, AöR 119 (1994), S. 169 ff. Zuletzt etwa T. Würtenberger, Das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 4 (1993), S. 621 ff; R. Hrbek (Hrsg.), Europäische Bildungspolitik und die Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips, 1994; A. Riklin/G. Batliner (Hrsg.), Subsidiarität, 1994; P. Pescatore , Mit der Subsidiarität leben, FS Everling, 1995, S. 1971 ff.; C Callies, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art. 3 b EGV) als "Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen", AöR 121 (1996), S. 509 ff- Als Stimme aus Österreich: B. Gutknecht, Das Subsidiaritätsprinzip als Grundsatz des Europarechts, FS Schambeck, 1994, S. 921 ff.- S. auch BVerfGE 89, 155 (210 ff.).
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen mei" (vor-)verurteilter Begriff, im "Laufe der Zeit" normative Kraft gewinnt und in langen Wachstumsprozessen dank der offenen Gesellschaft der Interpreten mehrere Schichten entwickelt - das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip etwa ging diesen Weg seit 1949 (trotz W. Grewes entmutigendem KassandraRuf "substanzloser Blankettbegriff 1 von 1949). Ist die Subsidiarität Ausdruck "europäischer Theologie" und damit dem Reich des europäischen Verfassungsrechts entzogen oder entfaltet sie "als List der Vernunft" "europäische Teleologie " - wie etwa das Wort vom "Europa der Regionen", vom "gemeinsamen Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes" (Präambel EMRK von 1950), vom "gemeinsamen kulturellen Erbe Europas" (Europäisches Kulturabkommen von 1954) oder der "Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, insbesondere durch die Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (ESC von 1961), um auf der hohen Ebene zu beginnen, oder, um ein Stück tiefer bzw. dogmatischer fortzufahren, wie das Verbot der "Diskriminierung" oder der Begriff "der allgemeinen Rechtsgrundsätze", die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art. 7 bzw. 215 Abs. 2 EWG-Vertrag von 1957). Die Positivierung eines "neuen" Begriffs in einem Rechtstext setzt dank der Kontexte bereits ausgeformter Prinzipien oft spezifische Wachstumskräfte frei. Sie schafft ein Forum für die Anwendung des "juristischen Handwerkszeugs" und ein Kraftfeld juristischer (hier europäischer) Öffentlichkeit, das auf längere Sicht die heute rasch zur Hand genommene Leerformel-These widerlegt - das mußte sich etwa ein N. Luhmann in bezug auf das "Gemeinwohl" gefallen lassen 630 . Entgegen seiner Befürchtung, man stürze bei dessen Auslegung wie in der Eigernordwand ab, hat sich der Gemeinwohlbegriff in schöpferischer Prätorik und mit Hilfe juristischer Phantasie handhabbar machen lassen: inhaltlich und prozessual, materiell und funktional, durch Typenbildung und sensible Kasuistik, in geduldiger Kleinarbeit und pluralistischer Offenheit sowie in Ausleuchtung der verfassungsrechtlichen Direktiven. Könnte, sollte nicht Ähnliches auch in Sachen "Subsidiarität" gelingen? Dieser Begriff ist ja nicht vom "Himmel" (europäischer Gipfelstürmer wie H. Kohl und F. Mitterrand) gefallen, sondern eher das vorläufige Endergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte oder gar "Inkubationszeit". Vergegenwärtigen wir uns auch, wie mühsam der Weg von der Einordnung der Präambelinhalte von Verfassungen als "Rhetorik", "Lyrik" oder "politischem Kompromiß" war bis zur Normativi630 Vgl. dazu N. Luhmann, Besprechung von G. Schubert, The Public Interest, in: Der Staat 1 (1962), S. 375; dagegen P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim bes. S. 240 ff. und M. Stolleis, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, in: VerwArch 65 (1974), S. 1 ff. S. Sechster Teil VII Ziff. 6.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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tät, die ihnen heute nicht nur vom BVerfG für das GG, sondern auch vom Conseil Constitutionnel in Paris für die Französische Verfassung von 1958 zuerkannt wird 6 3 1 . So mag denn eine Vermutung dafür sprechen, daß die "Subsidiarität" ein entwicklungsoffener Begriff ist, dem sich ein "sinnvolles Potential" abgewinnen läßt, das vielleicht ein Reservoir für Neues bildet und das heute und jetzt noch eine Provokation darstellt. Es könnte die beispielhafte Illustration für ein "werdendes" Rechtsprinzip sein, das viel Arbeit nach Maßgabe juristischer Handwerks- und Kunstregeln erfordert, das aber auch besondere Chancen gemeineuropäischer Kooperation eröffnet. Jedenfalls sollten - und müssen - wir schon wegen der Positivität des Begriffs "Subsidiarität" und des heftigen politischen und fachwissenschaftlichen Streits um seine Inhalte und Funktionen die Herausforderung annehmen: Der europäische Jurist hat eine Bewährungsprobe zu bestehen. Die erst noch entstehende europäische Öffentlichkeit könnte nicht zuletzt dank dieses Prinzips spezifisch strukturiert werden. Was manchen Kritikern als "Frühgeburt", "Kopfgeburt" oder gar "Fehlgeburt" erscheinen mag, könnte sich dank interdisziplinärer Anstrengung als reife Frucht europäischer Kultur- und Rechtsgeschichte, als Akzent in der europäischen Wirklichkeit von heute und als Basiselement und Ferment europäischer Verfassungsgeschichte von morgen erweisen. Gearbeitet wird hier im Sinne des kulturwissenschaftlichen Ansatzes 632 , d.h. Rechtsprobleme werden aus ihrem kulturellen Kontext erfaßt, vor allem unbestimmte Begriffe werden aus ihrem kulturellen Umfeld und Kraftfeld erschlossen: gerade in Europa, das durchgängig sowohl in seiner kulturellen Gemeinsamkeit als auch in seiner kulturellen Vielfalt beschworen wird: Von der Satzung des Europarates von 1949 (Präambel und Art. 1) über das Europäische Kulturabkommen von 1954 (Präambel Art. 1 und 5) bis zu "Maastricht" (Art. 128) stellen sich Menschenrechte und Grundfreiheiten, Demokratie und Vorherrschaft des Gesetzes als kulturelle Errungenschaften par excellence dar und so werden sie weiterentwickelt. (Wo sie vergessen oder verletzt werden wie im heutigen Balkan oder auf dem Kaukasus, ist die Rebarbarisierung evident.)
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Dazu meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen (1982), jetzt in Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 176 ff.; zum Conseil Constitutionnel 1 die Nachweise in P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 280 ff.; ferner C. Lerche, Ein Sieg für Europa? - Anmerkung zum Urteil des Conseil d'Etat vom 20. Okt. 1989, Fall Nicolo, in: ZaöRV 50 (1990), S. 600 (606 f.); G. Ress, Der Conseil Constitutionnel und der Schutz der Grundfreiheiten in Frankreich, in: JöR 23 (1974), S. 121 ff. 632 Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982; fortgeführt in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. 30 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Europas Kultur lebt nicht nur aus ihren Höhepunkten und Gipfeln, die uns den aufrechten Gang ermöglichen und "Transzendenz" schaffen: von Dante bis Cervantes, von Michelangelo bis Max Ernst, von Shakespeare bis zur "Weimarer Klassik", von C. Monteverdi bis J. S. Bach und W. A. Mozart, man darf gewiß von einem "europäischen Hauskonzerf sprechen, an dem die Wissenschaften und Künste aller Nationen und Regionen von Friedrich II. Sizilien bis zum Baltikum beteiligt sind. Europas Kultur lebt auch aus seiner spezifischen Rechtskultur, die die Normalität und Banalität seines Alltags mit prägt. Zu ihren Elementen gehört die Geschichtlichkeit seit Roms Juristenkunst, die Wissenschaftlichkeit als juristische Dogmatik, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, die weltanschaulich/konfessionelle Neutralität des Staates (Religionsfreiheit) und die Dimension der Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität der europäischen Rechtskultur. Klassikertexte von Aristoteles (Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit), J. Locke und Montesquieu (Grundrechte bzw. Gewaltenteilung), von I. Kant (Menschenwürde) bis hin zu B. Brechts genialer Provokation: "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?" entfalten immer neue Wirkung in Legitimation und Kritik: man denke an die Fortentwicklung der Lehre vom (fiktiven) Gesellschaftsvertrag auf die Nachgeborenen (Umweltschutz) oder die manchen ostdeutschen Verfassungsentwürfen wichtige Sorge um die Menschenwürde der Alten und Sterbenden (vgl. Art. 8 Abs. 1, 45 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992). Diese europäische Rechtskultur, die den nationalen Varianten der Grundrechtskultur oder des Wissenschaftsstils genug Raum läßt und sie auch als Stimuli braucht, sieht sich nun "plötzlich" dem Maastricht-Text "Subsidiarität" gegenüber, besser: er wurde vielleicht aus der Tiefe ihrer Geschichte geschaffen und kann nur aus ihr erforscht werden: er präsentiert sich ja auch auf der europäischen Ebene! So darf vermutet werden, daß es Vorformen oder Korrelatbegriffe zum anscheinend oder wirklich neuen Begriff der Subsidiarität gibt. Auch kann erfahrungswissenschaftlich benachbartes Problemlösungs- und Textmaterial befragt werden. Neben diesen kulturgeschichtlichen Ansatz als Vergleichen in der Zeit tritt der gegenwartsorientierte, komparatistische als Vergleichen im Raum: Verfassungslehre kann heute nur als vergleichende gewagt werden. Der kulturwissenschaftlich unterfütterte, soweit möglich interdisziplinär geführte Rechtsvergleich, vermag Rechtsprinzipien wie Regionalismus und als seinen "großen Bruder" Föderalismus, Willkürverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Schritt für Schritt aufzuschlüsseln. Die vom EuGH praktizierte wertende, dynamische und damit schöpferische Rechtsvergleichung empfiehlt sich heute nicht nur auf der EG/EU-Ebene, sie ist auch innerverfassungsstaatlich fruchtbar: Rechtsvergleichung wird zur "fünften" Auslegungsmethode nach F.C. v.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis Savignys klassischem Viererkanon von 1840 und sie präsentiert sich als Kulturvergleich 633 . Ein letztes Wort zum hier gebrauchten "Textstufenparadigma": Verfassungslehre - und sie kann heute ohne das Europarecht im engeren (auf die EU bezogenen) Sinne und im weiteren (d.h. auf Europarat und OSZE bezogenen) Sinne nicht mehr arbeiten 634 - wird hier als juristische Text- und Kulturwissenschaft verstanden; als Textwissenschaft, insofern Verfassungstexte im engeren d.h. juristischen Sinne und die Klassikertexte als Verfassungstexte im weiteren Sinne als Ausgangspunkte für die juristische Arbeit gewählt werden: Die Verfassungstexte stehen heute in einem weltweiten Produktions- und Rezeptionszusammenhang, in den die Entwicklungsländer und Kleinstaaten ebenso einbezogen sind wie die neuen Verfassungsstaaten in Osteuropa. Entscheidend ist, daß in den Prozeß des "Fortschreibens" mittelbar auch jüngere Verfassungswirklichkeit einfließt: weil der spätere jüngere Verfassunggeber im einen Land die Entwicklungen der Dogmatik und Rechtsprechung, der politischen und übrigen Kultur des anderen, benachbarten oder gar freieren älteren Landes aufgreift und in Texte faßt - so kommt es zu Entwicklungslinien. Darum müssen auch viele Beispielsnationen, jüngere und ältere Verfassungen in Europa auf Vorformen, Verwandtschaftsverhältnisse oder Materialien zum Prinzip "Subsidiarität" befragt werden. Subsidiarität könnte sich aus der Tiefe der europäischen Rechts- bzw. Kulturgeschichte erschließen und aus der Breite der heutigen Verfassungsstaaten Europas erwachsen. Das eröffnet den folgenden Teil: Elemente einer Bestandsaufnahme.
633
Zu all dem meine Vorarbeiten in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, bes. S. 3 ff., 27 ff., 627 ff. 634 Das zeigt sich schon positivrechtlich, z.B. in Gestalt neuer "Europa-Artikel", nicht nur im GG (neben der Präambel und Art. 24 sowie Art. 23 Abs. 1 n. F.), sondern auf einer neuen Textstufe in ostdeutschen Verfassungen und Verfassungsentwürfen: Art. 12 Verf. Sachsen von 1992 ("Das Land strebt grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit an, die auf den Ausbau nachbarschaftlicher Beziehungen, auf das Zusammenwachsen Europas... gerichtet ist"), Präambel Verf. Brandenburg von 1992 ("Brandenburg als lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland in einem sich einigenden Europa"), Art. 2 Abs. 3 (Bekenntnis zu den Grundrechten der EMRK) und Verf. Saarland 1992, Art. 60. 635 Zu diesen Unterscheidungen meine Studie: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. Vgl. noch VIII.
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen (2) Elemente einer Bestandsaufnahme: Erscheinungsformen Literatur- und Textgeschichte in Sachen Subsidiarität
der
(a) Vorbemerkung Rechtsbegriffe haben ihre - oft langatmige und verschlungene - Vorgeschichte. Vor ihrer Positivierung begegnen sie als (partei-)politische Maxime, als "Erfindung" oder Entdeckung durch Wissenschaftler und Künstler oder als Praxis, die noch nicht auf prägnante, juristisch greifbare und justifiable Texte gebracht sind. Gewiß, zuweilen wagen die Verfassunggeber oder völkerrechtlichen Vertragspartner fast ohne greifbare Vorarbeit ganz "neue Texte", doch wird sich auch hier meist nachweisen lassen, daß eine zunächst verdeckte Vorbereitungsphase vorausging und erst dann und später die diffuse, komplexe Wirklichkeit von Geistigem und Sozialem sich zu einem juristischen Begriff bzw. Prinzip "geläutert" hat. Menschliche Kultur - und das meint das von Menschen Geschaffene, eben nicht natürlich Vorhandene - braucht längere Wachstumsprozesse in Zeit und Raum, und die Länge der kulturellen Entwicklungsgeschichte von verfassungsstaatlichen Prinzipien wie der Menschenwürde, der Demokratie, der Gewaltenteilung oder inskünftig etwa des Regionalismus bzw. des Bundesstaates legen davon Zeugnis ab. Man erinnere sich der Entwicklungsprozesse, die erst nach und nach Prinzipien des Völkerrechts hervorgebracht haben, etwa den Satz "pacta sunt servanda", oder der jüngsten Themen wie "humanitäre Intervention" oder "Minderheitenschutz", die erst im Werden begriffen sind. Beteiligt sind viele Zeiten und Räume, Personen und Gruppen. Der Vorgang der juristischen Positivierung ist noch nicht das Ende dieser Entwicklungen, er markiert eher eine Metamorphose, einen Wechsel des "Aggregatzustandes" - Analogien zu Goethes Metamorphose-Denken wären nicht zufällig! Denn auch das in einem Rechtstext Positivierte bedarf der Interpretation, der schöpferischen Aneignung und Weiterentwicklung: greifbar in den sich ständig fortschreibenden nationalen, regionalen und universalen Menschenrechtstexten. Im folgenden seien zur Vorbereitung des theoretischen Teils in Sachen Subsidiarität und der Nutzbarmachung im Blick auf "Maastricht" drei Schritte skizziert - und zwar in grundsätzlich umgekehrter Richtung: Zuerst wird nach textlich ausdrücklichen Bezugnahmen auf das Prinzip Subsidiarität gefragt, sodann wird nach "immanenten", ungeschriebenen Verweisen auf sie "im juristischen Material" gesucht, schließlich werden "Quellen" befragt, die nicht direkt juristischer Natur sind, sondern als politisch, sozialethisch, geistesgeschichtlich gelten. Entgegen dem "Uhrzeigersinn" bzw. dem Gang der kulturellen Entwicklungsgeschichte juristischer Ideen, d.h. von der Positivierung aus, wird (nach der Subsidiarität) zurück gefragt - um gelingendenfalls desto sichereren Boden für die Erschließung des nun positivierten Prinzips der Subsidiarität zu gewin-
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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nen; ein Wagnis, das aber m.E. begründet erscheint: jedenfalls wenn man sich auf die vergleichende Verfassungslehre als juristische Text- und Kulturwissenschaft einläßt.
(b) Ausdrückliche juristisch positivierte Bezugnahmen auf das Prinzip der Subsidiarität Wo ist die Subsidiarität bereits zu einem rechtlichen Textstück mit welchen Inhalten und Funktionen "gereift"? Beginnen wir innerverfassungsstaatlich, so springen zwei Artikel des österreichischen Landes Verfassungsrechts ins Auge: Art. 7 Abs. 1 Landesverfassung Vorarlberg (LGB1. 1984, 12. Stück Nr. 30 vom 31. Mai 1984) lautet: "Das Land hat die Aufgabe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen sowie die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Solidarität aller gesellschaftlichen Gruppen zu sichern. Selbstverwaltung und Selbsthilfe der Landesbürger sind zu fördern". Art. 7 trägt die Überschrift "Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns" und er figuriert in den "Allgemeinen Bestimmungen". Nicht ganz so prägnant, aber ebenfalls beachtlich normiert Art. 7 Abs. 1 Tiroler Landesordnung von 1989 (LGB1. 28. Stück 1988, vom 9. Dezember 1988), ebenfalls wie in Vorarlberg überschrieben: "Das Land Tirol hat unter Wahrung des Gemeinwohles die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu sichern, die Selbsthilfe der Landesbewohner und den Zusammenhalt derer gesellschaftlicher Gruppen zu fördern und den kleineren Gemeinschaften jene Angelegenheiten zur Besorgung zu überlassen, die in ihrem ausschließlichen oder überwiegenden Interesse gelegen und geeignet sind, von ihnen mit eigenen Kräften besorgt zu werden". Dem Wort nach ist der Begriff "Subsidiarität" zwischen Vorarlberg und Tirol offenbar in 4 Jahren "verloren" gegangen, der Sache nach aber bleibt der Text höchst aussagekräftig. Was die Literatur mühsam umschreibt, ist hier in klugem Zugriff auf knappe Worte gebracht. Damit sind, soweit ersichtlich, die innerverfassungsstaatlichen Subsidiaritäts-Texte erschöpft (s. aber jetzt Art. 27 Abs. 3 K V Appenzell A.Rh, von 1995). Eine große Erfolgsgeschichte spielt sich aber auf anderer Ebene ab: auf
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen überstaatlicher, grenzüberschreitender Ebene 636 . Man darf vermuten, daß Vorarlberg schon wegen seiner benachbarten Lage auf das erste einschlägige Dokument ausstrahlte: Im Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom 21. bis 23. Oktober 1987 in München 637 heißt es unter "2. Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips": "Die Europäische Gemeinschaft soll neue Aufgaben nur übernehmen, wenn ihre Erfüllung auf europäischer Ebene im Interesse der Bürger unabweisbar notwendig ist und ihre volle Wirksamkeit nur auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann. Den Ländern der Bundesrepublik Deutschland muß neben dem Verwaltungsvollzug ein Kern eigener Aufgaben verbleiben* wie beispielsweise die Kultur-, Erziehungs- und Bildungspolitik, die regionale Strukturpolitik, die Gesundheitspolitik. Auch künftig sollen die Länder alle Fragen regeln, die von ihnen sachgerechter, bürgernäher und besser geleistet werden können". Hier ist also eine auf das Verhältnis EG bzw. EU/deutsche Länder bezogene und auch innerstaatlich wirksame spezifische Umschreibung der Subsidiarität geleistet. Das erweiterte Gremium der Teilnehmer der "Konferenz Europa der Regionen" faßte am 18./19. Oktober 1989 in München eine Entschließung, in der es u.a. heißt 638 : sub 3: "Subsidiarität und Föderalismus müssen die Architekturprinzipien Europas sein". Die Arbeitsgruppe "Europa der Regionen" legte am 27. Mai 1990 einen Bericht vor, in dem sie die Verankerung folgenden Textes in den Gemeinschafitsverträgen vorgeschlagen hat 6 3 9 : " Subsidiaritätsprinzip Die Gemeinschaft übt die nach diesem Vertrag zustehenden Befugnisse nur aus, wenn und soweit das Handeln der Gemeinschaft notwendig ist, um die in diesem Vertrag genannten Ziele wirksam zu erreichen und hierzu Maßnahmen der einzelnen
636 Schon 1984 hatA. Spinelli den Begriff Subsidiarität im Entwurf des Europäischen Parlaments für eine politische Union erwähnt (Präambel, letzter Absatz: "In der Absicht, gemeinsamen Institutionen nach dem Grundsatz der Subsidiarität nur die Zuständigkeiten zu übertragen..."); s. auch Art. 12 Abs. 2, zit. nach J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 325, 329.- Zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985) s. F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989. 6,7 Zit. nach J. Bauer (Hrsg.), Europa der Regionen, 1991, S. 14. 638 Zit. nach F.-L. Knemeyer, Subsidiarität - Föderalismus, Dezentralisation, DVB1. 1990, S. 449 ff., 453 f. 639 Zit. nach Bauer, aaO., S. 48 f.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis Mitgliedstaaten bzw. der Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften nicht ausreichen". Dieser "Textfunke" springt von hier aus weiter in den Beschluß der (deutschen) Ministerpräsidentenkonferenz vom 10./21. Dezember 1990 640 , wo es heißt (unter I.): "Föderalismus und Subsidiarität haben sich als prägendes Strukturelement deutscher Politik seit Jahrzehnten bewährt... Föderalismus und Subsidiarität müssen die Architekturprinzipien des einigen Europas werden". Ferner (unter II.): "Föderalismus ist unverzichtbar, denn er bedeutet eine Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips auf staatlicher Ebene...". Schließlich findet sich (unter III.) die These: "Das Subsidiaritätsprinzip muß grundlegendes Strukturelement der Politischen Union sowohl bei der Verteilung von Kompetenzen als auch bei der Ausübung von Befugnissen sein. Es ist als justitiabler Grundsatzartikel im EWG-Vertrag zu verankern". Es fällt auf, daß die Subsidiarität hier vor allem als Konnexbegriff zum Föderalismus figuriert, daß er aber auch schon "zur Aufgabenabgrenzung zwischen den verschiedenen Ebenen" eingesetzt wird (unter III. 4). Sachlich und zeitlich ist hier der Brückenschlag zum Maastricht-Text nicht weit 6 4 1 . Er lautet (1992): Präambel, "...Entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen". "Art. Β (Ziele der Union) Die Union setzt sich folgende Ziele: ... Die Ziele der Union werden nach Maßgabe dieses Vertrags entsprechend den darin enthaltenen Bedingungen und der darin vorgesehenen Zeitfolge unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Artikel 3 b des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bestimmt ist, verwirklicht".
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Zit. nach Bauer, aaO., S. 118 ff. Bisher war das Subsidiaritätsprinzip nur punktuell erwähnt: in einer Norm über die Umweltpolitik (Art. 130 r Abs. 4 EWGV) und dies seit der Mitte 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäischen Akte: "Die Gemeinschaft wird im Bereich der Umwelt insoweit tätig, als die in Abs. 1 genannten Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten" (dazu aus der Lit.: I. Pernice , Kompetenzordnung und Handlungsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet des Umwelt- und Technikrechts, in: Die Verwaltung 22 (1989), S. 1 (34 f.)). 641
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen Art. 3 b EG-Vertrag 1957/1992 (Einzelermächtigung, Subsidiarität): "Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus"642. Die "Versammlung der Regionen Europas" hat 1992 eine Entschließung "über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips" ausgearbeitet, die konkrete Folgerungen aus Art. Β und 3 b von "Maastricht" zieht. Hier einige Stichworte: Bekräftigung der Auffassung, "daß das Subsidiaritätsprinzip ein unverzichtbares Element zur Garantie nationaler und regionaler Frei- und Gestaltungsräume, zur Erhaltung der regionalen Vielfalt und zur Schaffung von mehr Transparenz und Bürgernähe in einer Europäischen Union ist", Betonung der Überzeugung, "daß es als notwendiger Bestandteil einer regionalen und föderalen Ordnung sowohl als Richtschnur für die Verteilung der Befugnisse auf die Gemeinschaft, die Mitgliedstaaten und die Regionen dient, als auch ein Handlungsgrundsatz bei der Ausübung einheitlicher Kompetenzen ist". Die Entschließung qualifiziert das in Art. Β und in Art. 3 b aufgenommene Subsidiaritätsprinzip als "rechtsverbindlichen und justitiablen Grundsatz", und sie entfaltet einen konkreten Katalog von zu prüfenden Fragen, "damit das Subsidiaritätsprinzip unverzüglich seine vollen Schutz- und Garantiefunktionen für die Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften entfalten kann" (sog. "Subsidiaritätsbogen"). Er entwickelt sich in einem Fünfschritt: 1. Kompetenzgrundlage im EG-Vertrag, 2. Verfolgte Ziele des EG-Vertrags, 3. Erforderlichkeit der Gemeinschaftsaktion, 4. Form der Gemeinschaftsaktion, 5. Erstreckung der Gemeinschaftsaktion. In der Schlußerklärung der IV. Generalversammlung der Regionen Europas vom 4. Februar 1992°^ heißt es:
642
S. noch FAZ vom 9. Dezember 1991, S. 11: "Die Bundesländer beharren auf dem Subsidiaritäts-Prinzip. Im Ausschuß der Regionen sollen die "subnationalen Ebenen" zu Wort kommen".- Der ursprüngliche Vorschlag der niederländischen EG-Präsidentschaft, (so die 16 deutschen Länder), habe die Subsidiarität ins Gegenteil verkehrt (Die EG sollte Zuständigkeiten in all jenen Politikfeldern haben, "sofern und soweit diese Ziele ... besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können").- Die Bundesrepublik Deutschland gilt als "Urheber" des Subsidiaritätsprinzips in Maastricht (vgl. G. Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrages von Maastricht, DÖV 1993, S. 405 (406)).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis "Die IV. Generalversammlung der Regionen Europas... 1. ... 2. stellt dazu (sc. zu "Maastricht") fest, daß das im Vertrag verankerte Subsidiaritätsprinzip nicht nur zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, sondern auch im Verhältnis zur regionalen Ebene gilt und eine Anwendung erfordert, die vom Vorrang der jeweils näheren Ebene ausgeht und es im übrigen jeder Ebene (Gemeinschaft-Mitgliedstaat-Region) erlaubt, entsprechend ihrer Zuständigkeiten die gegebenen Aufgaben zu erfüllen" 644. Auf der Hauptversammlung der VRE vom 22. Januar 1993 wurde die sog. "Schlußerklärung" verabschiedet, in der es u.a. heißt: "Die Versammlung ... begrüßt... die Tatsache, daß der Europäische Rat die besondere Bedeutung hervorgehoben hat, die er dem Subsidiaritätsprinzip als Basis der europäischen Union beimißt; bedauert jedoch, daß für die Anwendung dieses Subsidiaritätsprinzips und des Art. 3 b des Unionsvertrags die regionale Ebene nicht erwähnt und damit der Eindruck erweckt wird, als ob das Subsidiaritätsprinzip ausschließlich auf das Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der nationalen Ebene anzuwenden wäre...; fordert, daß das Subsidiaritätsprinzip klar definiert wird, so daß bei dessen Verletzung Rechtsmittel beim Europäischen Gerichtshof eingelegt werden können". Im Entwurfsstadium befindet sich päische Verfassung 645 . Im Rahmen ordneten, der Spanier Oreja und der von Grundrechten und Prinzipien der
ein Vorstoß aus Straßburg für eine Euroder EVP-Fraktion schlagen die EP-AbgeDeutsche Sälzer, einen knappen Katalog Gemeinschaft vor. Art. 4 soll lauten:
"Die Union gründet sich auf die Mitgliedstaaten, achtet ihre Identität sowie ihre verfassungsrechtliche Struktur und trägt ihrem gemeinsamen historischen Erbe Rechnung. Die Union und die Mitgliedstaaten arbeiten solidarisch zusammen, um die Ziele der Union zu erreichen. Die Union achtet das Subsidiaritätsprinzip". Der Abgeordnete Sälzer will die Regel festschreiben, daß alle Aufgaben und Zuständigkeiten, die nicht ausdrücklich der Union übertragen werden, bei den Mitgliedstaaten liegen 646 .
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Zit. nach Landtag Baden-Württemberg, 10. Wahlperiode Drs. 10/6695, S. 1 ff. Bekannt geworden ist der Einsatz von J. Delors , dem EG-KommissionsPräsidenten, zugunsten des Subsidiaritätsprinzips in der Gemeinschaft: Die jeweiligen Aufgaben sollten so bürgernah wie möglich entschieden und bewältigt werden (zit. nach FAZ vom 29. Mai 1992, S. 4 anläßlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises in Aachen (1992)). 645 Dazu FAZ vom 18. Februar 1993, S. 6.- Auch verlangt z.B. die Europäische Volkspartei, daß die Verfassung der Europäischen Union "demokratisch, subsidiär, sozial und föderal" sein müsse (FAZ vom 14. November 1992, S. 6). 646 FAZ vom 18. Febr. 1993, S. 6. 644
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen Es zeugt von der Verschränkung der innerverfassungsstaatlichen und Europa-Ebene, wenn der neue Art. 23 Abs. 1 GG vom 22. Dez. 1992 (BGBl. I, 2086) nun seinerseits das Subsidiaritätsprinzip wie folgt positiviert: "Zur Verwirklichung eines vereinten Europa wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet". Im Bericht des Bundestags-Sonderausschusses647 heißt es dazu: Der Ausschuß sei sich mit der Gemeinsamen Verfassungskommission darüber einig, daß der Begriff der Subsidiarität in der Bundesrepublik Deutschland auch die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung einschließt. Die Bundesrepublik Deutschland könne nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 nicht an der Entwicklung jeder Europäischen Union, sondern nur an einer solchen teilnehmen, die den Kriterien des Satzes 1 entspreche ("Struktursicherungsklausel"). So problematisch vieles am neuen Art. 23 GG ist, z.B. seine Überlänge und Kompliziertheit, die jeder "Öffentlichkeit der Verfassung" 648 widerspricht: Das Prinzip Subsidiarität entfaltet m.E. nicht nur Wirkung "nach außen", d.h. im Blick auf Europa, es strahlt auch "nach innen" aus, insofern es den Zusammenhang mit dem Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung vergegenwärtigt und Länder wie Kommunen stärkt. Im übrigen liefern die Absätze 2 bis 5 Problemlösungsmaterial: Der verfassungsändernde Gesetzgeber erhofft sich viel von den komplizierten - Verfahrensregelungen. Und: Selbst wenn "Maastricht" aus welchen Gründen auch immer gescheitert wäre, in Art. 23 Abs. 1 GG, der in "vorauseilendem Gehorsam" erging, ist eine "Positivierung" des Subsidiaritätsprinzips erfolgt, die noch heute kaum überschaubar Nah- und Fernwirkungen entfalten dürfte 649 . Zuletzt hat Portugal (1992) in seinem Europa-Artikel 7 das "Subsidiaritätsprinzip" positiviert (Abs. 6). 647
Zit. nach Juristenzeitung, Gesetzgebungsdienst 1993/5, S. 19. Dazu P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung (1969), auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 225 ff. 649 Die Lit. zum neuen Art. 23 GG ist schon jetzt kaum mehr übersehbar: R. Scholz, Grundgesetz und Europäische Einigung, NJW 1992, S. 2593 ff.; ders., Europäische Union und Verfassungsreform, NJW 1993, S. 1690 ff.; F. Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz - eine verfassungsrechtliche Wende?, DVB1. 1993, S. 629 ff.; U. Kalbfleisch-Kottsieper, Fortentwicklung des Föderalismus in Europa..., DÖV 1993, S. 541 ff.; J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, S. 585 (587 ff.); C.D. Classen, Maastricht und die Verfassung: Kritische Bemerkungen zum neuen "Europa-Artikel" 23 GG, ZRP 1993, S.191 ff.; U. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1993), S. 191 ff.; U. Everling, Zurück zum Staatenverein?, FAZ vom 15. Okt. 1992, S. 7; P. Wilhelm, Europa und Grundgesetz: Der neue Artikel 23, BayVBl. 1992, S. 705 ff.; R. Streinz, in: M. Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 23. 648
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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(c) Immanente - "ungeschriebene" - Bezugnahmen auf das Subsidiaritätsprinzip War in den bisher analysierten Texten das Subsidiaritätsprinzip zu einem juristischen Text kristallisiert oder "geronnen", und dies in den Jahren 1984 bis 1992, so gilt der Blick jetzt den Kontexten, denen oder in denen die Subsidiarität "nahe" liegt oder "hinter" denen sie als "Tendenzbegriff ' oder heuristische Maxime zu vermuten ist. Es sind ganz bestimmte verfassungsstaatliche Prinzipien bzw. Institutionen, hinter oder in denen sie sich verbergen könnte. So unbestimmt und "vagabundierend" es erscheint: die Subsidiarität dürfte in nicht wenigen juristischen Problemzusammenhängen des Typus Verfassungsstaat potentiell präsent oder latent verborgen sein (auch wenn man sie nicht aktuell braucht). Die viel beklagte "Unbestimmtheit" bildet vielleicht gerade einen Grund dafür, daß der Verfassungsstaat in konkreten Materien ohne ausdrücklichen Rückgriff auf das abstrakte Subsidiaritätsprinzip sachnähere Problemlösungen entwickelt hat. Sollte der Nachweis hierfür gelingen, ließen sich aus den folgenden Materialien vielleicht auch konkretisierende Fingerzeige und Hilfen für das zum Text positivierte Subsidiaritätsprinzip auf der innerverfassungsrechtlichen und Europa-Ebene gewinnen. "Mitzulesen" ist das Subsidiaritätsdenken in Politik, Sozialethik, Geistes- und Sozialgeschichte, die den inspirierenden Kontext für die "subsidiaritätsnahen" Prinzipien des Typus Verfassungsstaat darstellen. Ideelle Vor- und Begleitgeschichte, Vorformen und spezielle Ausprägungen bis hin zum Juristischen bilden in Sachen Subsidiarität ein komplexes Ganzes, das hier freilich fragmentarisch genug präsentiert wird. Das "Lehrmaterial" zum Problem Subsidiarität läßt sich wie folgt typisieren: (1.) Grundrechtsgarantien Abgesehen von den erwähnten österreichischen Texten gibt es wohl keine Grundrechtsgarantie, die ausdrücklich ihr Korrelat- oder "Verwandtschaftsverhältnis" zur Subsidiarität zu erkennen gäbe. Der Sache nach aber liegt der verfassungsstaatlichen Garantie individueller und korporativer Freiheit ein Stück Subsidiaritätsdenken zugrunde 650 . Die Literatur macht darauf unter Hinweis auf Familie (Art. 6 GG) und Zusammenschlüsse (Art. 9 GG) aufmerksam 651 . Auch das "instrumentale Staatsverständnis", klassisch in Art. 1 Abs. 1 650
Κ Stern spricht allgemein sogar von einem "subsidiären Grundzug des Grundgesetzes" (K. Stern, Süchtig nach Wachstum, Der Staat greift immer weiter aus: nicht jede einmal übernommene Aufgabe ist irreversibel, FAZ vom 25. November 1992, S. 12). 651 Vgl. O. Kimminich, Das Subsidiaritätsprinzip und seine Auswirkungen im geltenden Verfassungsrecht, Politische Studien, Heft 296 (1987), S. 587 (592 f., 595 f.); H.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Verfassungsentwurf Herrenchiemsee (1948) formuliert ("Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht umgekehrt") und z.B. in Art. 1 Abs. 2 Verfassung Baden-Württemberg (1953) bekräftigt ("Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei (sc. bei der Entfaltung seiner Freiheit) zu dienen"), führt sich wohl auf das Subsidiaritätsdenken im Verhältnis Staat/Gesellschaft bzw. Individuum und Gruppen zurück. Schon Art. 2 der Französischen Erklärung von 1789 sagte: "Der Endzweck aller politischen Gesellschaft ist die Erhaltung der natürlichen und unveränderbaren Menschenrechte". Und die Staatslehre des Liberalismus, etwa W. von Humboldts "Versuch, Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (1792), zielt in dieselbe Richtung 652 . Die Formel O. v. Neil-Breunings "So viel Freiheit wie möglich, so viel Staat wie nötig", das umstrittene "in dubio pro libertate" (P. Schneider) oder die "Präponderanz der Freiheit" (G. Dürig) sind Tendenzformeln, deren Geist der Subsidiaritätsidee, angewandt auf der Grundrechtsebene, nahesteht. Das Übermaßverbot 653 ist hier ein Konkretisierungselement neben vielen anderen. Freilich besteht die Leistung des Verfassungsstaates gerade darin, in langer Entwicklungsgeschichte eine Fülle von materiellen und prozessualen Prinzipien herausgebildet zu haben, die den Staat im Verhältnis zur Freiheit der Individuen und Gruppen als subsidär erscheinen lassen. Nicht zuletzt der detaillierte Grundrechtskatalog, der ständig fortgeschrieben wird (jüngst e t w a in* Zeichen des Datenschutzes, vgl. BVerfGE 65, 1 und Art. 11 Verf. Brandenburg von 1992, Art. 6 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992, Art. 4 Abs. 2 Verf. NRW) ist ein Ausdruck dessen. Das kann auch zu Pflichten führen (vgl. Art. 6 Abs. 2 GG: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen (!) obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft"). Allerdings ist damit nicht die fragwürdige Konzeption einer vorrechtlichen "natürlichen Freiheit", einer Freiheit diesseits der Kultur, eines status naturalis ohne Kultur verbunden. Alle Freiheit ist kulturelle Freiheit, Freiheit jenseits des Naturzustandes und Freiheit dank und in der Kultur. Als Fiktion darf, ja muß man an Art. 1 AllgErkl MenschenR der UN (1948) festhalten ("Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren"), so wie der Gesellschaftsvertrag i.S. I. Kants als Fiktion unverzichtbar ist. Aber das entbindet nicht von
Kalkbrenner, Die rechtliche Verbindlichkeit des Subsidiaritätsprinzips, FS Küchenhoff, Bd. 2 (1972), S. 515 (529 f.). 652 Dazu S. Battisti , Freiheit und Bindung, W. v. Humboldts "Idee zu einem Versuch" und das Subsidiaritätsprinzip, 1987. 653 P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Vorb. Rn. 91 ff.; Κ Stern, Zur Entstehung und Ableitung des Übermaßverbotes, FS Lerche, 1993, S. 165 ff. BVerfGE 95, 96 (140).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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der Einsicht, daß Freiheit erst im Kulturzustand "wird". M.a.W.: Subsidiarität ist nicht eine Maxime im luftleeren, kulturfreien Raum, die eine staats- und rechtsfreie Sphäre von der Rechtsordnung des Verfassungsstaates ab- und ausgrenzt. Sie reguliert vielmehr das Verhältnis von institutionalisierter Staatlichkeit und verfaßter Freiheit. Auch ist schon hier der Einwand gegen das Oben/Unten-Denken i.S. von höherer und niederer Einheit zu formulieren, welches das verbreitete Vorverständnis von "Subsidiarität" suggeriert. Im Verfassungsstaat ist die Würde des Menschen, seine personale Freiheit die kulturanthropologische Prämisse, die staatliche Organisation eine Konsequenz 654 . Im Verfassungsstaat jedenfalls sind weder Staat und Recht "oben", noch Individuum und Volk "unten". Offenes und verstecktes Hierarchiedenken ist dem Menschenwürde-Konzept zutiefst unangemessen. Besser sollte statt von "nieder" und "höher" von bürgernäher und -ferner gesprochen werden. "Bürgernähe" ist denn auch in der europarechtlichen Debatte um die Subsidiarität allenthalben das "kongeniale" Schlüsselwort. In dem weiten Feld der "Gesellschaft" bildet die Tarifautonomie eine autonome Ausformung von Subsidiaritätsdenken. Juristisch in der Gestalt differenzierter Grundrechte geschützt, ist sie nicht selten genannt 655 . Die (soziale) Marktwirtschaft, in vielen verfassungsstaatlichen Verfassungen nur der Sache nach via einzelne Grundrechte, z.B. Vertrags- und Eigentumsfreiheit, Koalitions- und Berufsfreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit verbürgt, kristallisiert sich in der jüngsten Textstufenentwicklung zum eigenen Prinzip: in Verfassungen Spaniens (Art. 38 von 1978), mancher Entwicklungsländer (Art. 115 Verf. Peru von 1979) und jüngst in osteuropäischen Ländern wie Ungarn (Präambel Verf. 1989) oder Polen (Art. 20 Verf. von 1997) und in ostdeutschen Texten (z.B. Art. 42 Abs. 2 Verf. Brandenburg von 1992: "sozialgerechte und marktwirtschaftliche Ordnung"). Auch hier liegt der Gedanke an 654 Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdbStR Bd. I (1987), S. 815 (846 ff.). S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 1. 655 Vgl. etwa K.H. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 201 ff: "Subsidiarität und verfassungsrechtliche Koalitionsgarantie", die "Subsidiarität gesetzlicher Regelung im Kernbereich"; A. Hueck/H.C. Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., 1957, S. 263: "Es handelt sich um eine Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates, dessen eines Charakteristikum in der Förderung des Selbstgesetzgebungsund -Verwaltungsgedankens und im Aufbau des sozialen Staates von unten nach oben liegt. Man kann diese Art der Aufgabenerfüllung durch die Berufsverbände unter dem Begriff "Soziale Selbstverwaltung" zusammenfassen". £>. Barton, Art. Tarifautonomie, in: Arbeitsrechtslexikon, Beck'sches Personalhandbuch Bd. 1, Stand Oktober 1991, S. 332: "Insoweit stellt die Tarifautonomie eine Realisierung des Subsidiaritätsprinzips im Bereich des Arbeitslebens dar". Anders aber W. Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Aufl. 1983, S. 106: "Staatliche Gesetzgebung ist weder gegenüber der Tarifautonomie subsidiär, noch läßt sich von einer "Normsetzungsprärogative" der Tarifpartner sprechen".
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
ein Subsidiaritätsverhältnis Staat/Wirtschaft nahe; zumal die "soziale Selbstverwaltung" der Wirtschaft liefert Beispielsfelder. (2.) Der Föderalismus In der gemeineuropäisch/atlantischen Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates stellt der Föderalismus eine subsidiaritätsnahe Organisationsform dar. Er wird hier vor der kommunalen Selbstverwaltung behandelt, weil er in den USA dank der Federalist Papers "erfunden" wurde (1787), lange vor der Freiherr von Stein/Hardenbergschen Reform in Preußen (1808). Systematisch wäre freilich zuerst die kommunale Selbstverwaltung als bürgernähere oder nächsthöhere "staatliche" Einheit zu behandeln. Die Literatur pflegt den Föderalismus gerne zu zitieren, wenn heute von Subsidiarität die Rede ist 6 5 6 , und in der Tat finden sich bei genauerem Zusehen Problemlösungsvorschläge in Sachen Subsidiarität/Föderalismus in den hoch differenzierten Ausprägungen des Föderalismus als einem Stück "vertikaler Gewaltenteilung". Das beginnt bei Art. 30 GG (Ausgangsvermutung zugunsten der Länder) und 72 Abs. 2 a. F. GG ("Bedürfnis") und endet beim länderfreundlichen Verhältnis des Bundes bzw. beim Gegenprinzip "Bundestreue" (vgl. BVerfGE 12, 205 (255 ff.); 81, 310 (337); 86, 148 (211 f.); 92, 203 (230 f.)). Auch ideengeschichtlich führen Klassiker wie von C. Frantz aus dem 19. Jahrhundert, viel berufen, den Föderalismus auf die Subsidiarität zurück 657 , und wie die erwähnten Regionalismus-Texte gezeigt haben, kommen heute in der aktuellen Diskussion um "Maastricht" und seine "Vorgeschichte" Föderalismus und Subsidiarität buchstäblich "Arm in Arm" des Weges. Freilich gibt es viele Varianten des Föderalismus: vom "dual federalism" 658 über "kooperativen Föderalismus" und "unitarischen Bundesstaat" . Das zeigt, daß es keine einfache "Gleichung" Föderalismus = Subsidiarität gibt, zu unterschiedlich sind die Grade der Bürgernähe der gliedstaatlichen und gesamtstaat656 Z.B. O. Kimminich, Das Subsidiaritätsprinzip, aaO., S. 588 ff., 595 ff; vgl. jetzt P. Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat, 1992, S. 18 ff.: "Das Subsidiaritätsprinzip als Ansatz des funktionalen Föderalismus". Von "Sinnzusammenhang von Bundesstaat und Subsidiaritätsprinzip" spricht J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, HdbStR Bd. IV (1990), S. 517 (653 i.V.m. 652) m.w.N. 657 Nachweise bei O. Kimminich, Das Subsidiaritätsprinzip, aaO., S. 587 (589). 658 Dazu aus der Lit.: Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 663; G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; Κ Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; P. Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (172 ff).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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liehen Ebene. Dennoch darf die Maxime der Subsidiarität als Tendenzform für den Föderalismus gelten bzw. können einzelne bundesstaatliche Rechtsprinzipien wie Ausgangsverantwortung für die Länder, Ländertreue, Bedürfnis für einheitliche Regelungen als "Lehrmaterial" für das "neue" bzw. in neuen Kontexten sich geltend machende Prinzip Subsidiarität ausgewertet werden. (3.) Regionalismus Eine verfassungsstaatliche Organisationsform bildet der heutige Regionalismus. Er ist nicht nur bloße "Vorform" des Föderalismus, da ein Verfassungsstaat es durchaus beim Regionalismus belassen kann. Zwar ist er der "kleine Bruder" des Föderalismus, aber er verlangt eine selbständige Betrachtung. Sowohl auf der innerverfassungsstaatlichen wie auf der selbständigen Europaebene machen sich Regionalismus-Forderungen geltend 659 , und auf beiden Feldern liegt das Prinzip der Subsidiarität nahe. Man nehme Formulierungen wie Art. 137 Verf. Spanien (1978) ("Das Staatsgebiet ist in Gemeinden, Provinzen und die sich konstituierenden Autonomen Gemeinschaften gegliedert. Sie alle genießen Autonomie bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen") oder man höre auf regionalismuspolitische Forderungen aus den Kreisen bzw. Gremien der Regionen 660 . Schon die Tatsache, daß es den Regionalismus neben dem Föderalismus hier und Einheitsstaat dort in der Familie der Verfassungsstaaten gibt, sollte hellhörig machen. Der Regionalismus (und seine Problemlösungen) ist (sind) dem "Geiste" der Subsidiarität nahe, soweit er die Alternative zum Einheitsstaat bildet. Er ist ihm ferne, insoweit er noch nicht Föderalismus ist. Die Bürgernähe der staatlichen Verwaltungs- bzw. Zwischenebene ist unterschiedlich. Es gibt keine einfache Gleichung Subsidiarität und daher Regionalismus. Wohl aber verbirgt sich hinter Regionalismuslösungen der Versuch, subsidiaritätsgerechter zu sein - als im Einheitsstaat. Der Regionalismus bildet im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ein weiteres "Strukturelement", soweit er im jeweiligen Staat nicht durch den Föderalismus "konsumiert" worj · 4.661 den ist . 659 Dazu mein Beitrag: Der Regionalismus als Strukturelement des Verfassungsstaates und europarechtspolitische Maxime, AöR 118 (1993), S. 1 ff. m.w.N., sowie unten Sechster Teil VIII Ziff. 5. 660 Pionierhaft dokumentiert und kommentiert in: F. Esterbauer, (Hrsg.), Regionalismus, 1978. Zum Ganzen Sechster Teil VIII Ziff. 5. 661 Eine gewisse Nähe hat die Subsidiarität im Blick auf jüngste Wiederbesinnungen auf "Heimat" (vgl. dazu die Rede des tschechischen Staatspräsidenten V. Havel im Deutschen Bundestag am 24. April 1997, in: Politische Studien, Heft 353, 48. Jahrg.,
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
(4.) Kommunale Selbstverwaltung Die kommunale Selbstverwaltung wird in Deutschland oft als Ausdruck der Subsidiarität angesehen662. Die ihr zu Recht zugeschriebene Bürgernähe legt es gerade in der Kontroverse um "Maastricht" nahe, Problemlösungsmaterial in den hochentwickelten Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung zu suchen. So gibt es einen Art. 89 Abs. 1 S. 3 Bayerische Gemeindeordnung, der den Vorrang der wirtschaftlichen Betätigung vor demjenigen der öffentlichen Hand statuiert - damit ist die Subsidiarität im Verhältnis Bürger/Gemeinde normiert. Aber im Verhältnis Kommunen/Staat sind jene vorrangig und dieser subsidiär, insofern Verwaltung "vor Ort" ("Selbst") geschieht. Art. 11 Abs. 4 Verf. Bayern (1946) sagt plastisch: "Die Selbstverwaltung dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben". Zum Greifen nahe ist das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985) 663 . Ihr Art. 4 Abs. 3 lautet: "Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben obliegt im allgemeinen vorzugsweise den Behörden, die den Bürgern am nächsten sind. Bei der Aufgabenzuweisung an andere Stellen sollte Umfang und Art der Aufgabe sowie den Erfordernissen der Wirksamkeit Rechnung getragen werden". Die Präambel stimmt sich auf diesen Absatz schon in ihrem Passus ein: "... überzeugt, daß das Bestehen kommunaler Gebietskörperschaften mit echten Zuständigkeiten eine zugleich wirkungsvolle und bürgernahe Verwaltung ermöglicht; in dem Bewußtsein, daß der Schutz und die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in den verschiedenen europäischen Staaten einen wichtigen Beitrag zum Aufbau eines Europa darstellen, das sich auf die Grundsätze der Demokratie und der Dezentralisierung der Macht gründet...". Gewiß, in dieser Charta des Europarates sind nur Elemente des Subsidiaritätsprinzips genannt, nicht der Begriff selbst. Doch die wissenschaftliche Lite-
Mai/Juni 1997, S. 13, insbes. 14 ff.), auf das Kleine, auf das Überschaubare, auf das Wort, man müsse die "Kirche im Dorf lassen". Das gilt gerade im Blick auf Europa und das feme "Brüssel" und seine Bürokratie. Das kann sich bis auf das Sprachliche erstrecken: der "technokratische Jargon Brüssels" wird zu recht viel kritisiert. (Subsidiarität als "Nähe-Prinzip".) 662 Z.B. J. Listi , Art. Staat, (katholisch), in: Ev. Staatslexikon, Bd II, 3. Aufl. 1987, Sp. 3367 (3374); H. Kalkbrenner, aaO., S. 528 ff.; für Österreich: P. Pernthaler, aaO., S. 18. Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 1 Inkurs B. 663 Zit. nach F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989, S. 259 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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ratur, die Art. 4 Abs. 3 begleitet, arbeitet immer wieder mit dem Begriff der Subsidiarität 664 . Vor allem aber hat ein vom Präsidenten des Rates der Gemeinden und Regionen Europas, Josef Hofmann, erarbeiteter, dann auch von den Fraktionen der EVP und der Sozialisten in Straßburg unterstützter Verfassungs· Artikel (1984) das Subsidiaritätsprinzip selbst zum Text gerinnen lassen in den Worten 665 des Entwurfs: "Grundsatz der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung (1) Den kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften der Unionsstaaten wird das Recht auf Selbstverwaltung und Finanzautonomie im Rahmen der Gesetze nach Maßgabe des Prinzips der Subsidiarität gewährleistet. (2) Den Gebietskörperschaften steht bei allen sie betreffenden Entscheidungen der Union und der Unionsstaaten ein Informations- und Beratungsrecht zu. Dieses wird durch von den Gebietskörperschaften zu bildende Ausschüsse wahrgenommen"666. Selten läßt sich der "Inkubationsprozeß" des Subsidiaritätsprinzips in einem speziellen Problemzusammenhang so deutlich nachzeichnen wie hier. Daß gerade dem Europäisierungsprozeß "Textschübe" zu verdanken sind, verdient festgehalten zu werden. Im übrigen zeigt sich erneut, wie intensiv die EuropaVerfassungs- und innerverfassungsstaatliche Ebene miteinander verschränkt sind. Die Genese des Subsidiaritätsprinzips auf dem Felde der kommunalen Selbstverwaltung läßt die "immanente" Relevanz und die textlich ausdrückliche Erscheinungsform des Subsidiaritätsprinzips fast ununterscheidbar ineinander fließen. Das dürfte paradigmatische Bedeutung haben. Latenz, Immanenz und Potentialität dieses allgemeinen Rechtsgedankens sowie seine Potenz, Virulenz, Evidenz sind augenfällig 667 .
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Vgl. die Referate in dem von Knemeyer herausgegebenen Band, Die Europäische Chartader kommunalen Selbstverwaltung, 1989: P.M. Schmidhuber, ebd. S. 25 (26); M. Frontoni , ebd. S. 97 (101 f.); P. Spyropoulos, ebd. S. 137 (139); T. Modeen, ebd. S. 174 (176 f.). 665 Zit. nach J. Hofmann, in: Knemeyer, aaO., S. 209 ff. 666 S. auch J. Hofmann, ebd. S. 219: "Eine entsprechende Verankerung der Selbstverwaltungsgarantie in den europäischen Statuten sollte auch als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips verstanden werden". 667 Aus der allgemeinen Lit.: H.-J. Blanke, Die kommunale Selbstverwaltung im Zuge fortschreitender Integration, DVB1. 1993, S. 819 ff; K. Stern, Europäische Union und kommunale Selbstverwaltung, FS Friauf, 1996, S. 75 ff. 31 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
(5.) Demokratie als bürgernahe Staatsform Als vorläufig letzter verfassungsrechtlicher bzw. verfassungsstaatlicher Problembereich, in bzw. hinter dem Subsidiaritätsideen vermutet werden könnten, bietet sich die Demokratie an, jedenfalls Formen der unmittelbaren Demokratie - "im Kleinen", "vor Ort." Freilich eignet ihr auch ein höchst zentralistisches Moment. (d) Sozialethische, philosophische, geistesgeschichtliche Aussagen und Entwicklungslinien in Sachen Subsidiarität Die geistesgeschichtlichen Materialien, in denen Spurenelemente des Subsidiaritätsdenkens "stecken", lassen sich kaum überblicken. Im folgenden kann nur eine prägnante Auswahl präsentiert werden. Zum Teil wurden sie ja schon unter (c) der Bestandsaufnahme in der Auflistung der "ungeschriebenen" Verweise auf das Subsidiaritätsprinzip sichtbar, etwa in Gestalt des politischen Liberalismus. Rechts-Texte werden ja oft erst im Kontext bestimmter Theorien "lesbar", umgekehrt bedeutet die Positivierung zu juristischen Texten einen besonderen Reifegrad der zugrundeliegenden Theorien: die Verbindlichkeit des juristischen Textes setzt ein spezifisches Kraftfeld, besondere "Energiezufuhr" voraus. Positivierte, mit dem Anspruch auf rechtliche Verbindlichkeit geschaffene Texte und das Kraftfeld der Theorien, aus denen sie erwachsen, bilden ein ebenso zentrales wie schwer erklärbares Thema. Insonderheit verfassungs- und europarechtliche Texte und ihr Verhältnis zu Theorien, Vorverständnissen, das praktisch/soziale Umfeld, aus dem sie entstehen, sind wohl ein kaum lösbares "Rätsel" aller Verfassungsentwicklung im heutigen Europa. (1.) Die katholische Soziallehre Der viel zitierte Klassikertext, der auf eine Weise am "Anfang" der heutigen Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip steht, ist die Enzyklika Quadragesimo anno Pius XI. (1931). Dort heißt es (Nr. 79): "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" 668.
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Eine ältere Textstufe begegnet in der Enzyklika Rerum Novarum von Leo XIII. (1891). Danach soll die Gemeinschaft dem einzelnen hilfreichen Beistand leisten, weil der einzelne prinzipiell Vorrang vor der Gemeinschaft besitzt. Deshalb ist "jedwede Gesellschaftstätigkeit danach zu befragen und daraufhin zu prüfen, ob sie letztlich die Einzelmenschen fordert oder behindert bzw. benachteiligt". Eine Verfeinerung zur internationalen Ordnung hin und damit nächste Textstufe ist in dem Passus von "Pacem in Terris" von Johannes XXIII. (1963) zu erkennen (Nr. 140): 669 . "Wie in den Einzelstaaten die Beziehungen zwischen der öffentlichen Gewalt und den einzelnen Menschen, den Familien und den Verbänden durch das Subsidiaritätsprinzip gelenkt und geordnet werden müssen, so müssen durch dieses Prinzip natürlich auch jene Beziehungen geregelt werden, welche zwischen der Weltgemeinschaft und der öffentlichen Autorität der einzelnen Nationen bestehen". Weitere Phasen der Entwicklungsgeschichte dokumentieren die Aussagen von O. von Nell-Breuning 670 . Bemerkenswert an den Texten der katholischen Soziallehren von 1931 und 1891 ist der - oft übersehene - Gerechtigkeitsbezug. Subsidiarität erweist sich als Gerechtigkeitspostulat, als Konnexbegriff zur Gerechtigkeit. Im übrigen ist das hinter den beiden Enzykliken liegende Staatsverständnis freizulegen: Der Einzelmensch, seine eigene "Initiative", seine "eigenen Kräfte" und das heißt seine Freiheiten haben den Vorrang vor der Gemeinschaft, und das meint hier "Staat". Im Grunde besteht hier insoweit eine Parallele zum politischen Liberalismus, zur Trust-Lehre eines J. Locke 67 1 , auch wenn "Quadragesimo anno" den Liberalismus sonst ablehnt. Bemerkenswert ist die Reihung: einzelner Mensch,
668 Zit. nach G. Gundlach, Die sozialen Rundschreiben Leos XIII. und Pius' XI., 3. Aufl. 1960, S. 113. Vgl. zuletzt J. Schasching, Subsidiarität, FS Schambeck, 1994, S. 107 ff. 669 Zit. nach Texte zur katholischen Soziallehre, 5. Aufl. 1982, S. 309. 670 Ein "Klassikertext" zur Subsidiarität ist der Satz von O. von Nell-Breuning (Artikel Subsidiaritätsprinzip, Staatslexikon, Bd. 7 (1962), S. 832): "Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Zuständigkeits-, kein Strukturprinzip. Zuständigkeiten erwachsen aus der sachgerechten Struktur, nicht umgekehrt aus vorgegebener Verteilung der Zuständigkeiten. Welches die jeweils richtige, den tatsächlichen Verhältnissen und Bedürfnissen gerecht werdende Struktur eines Sachbereiches ist, muß in jedem Fall durch sorgfältige Sachanalyse ermittelt werden; die der sachgemäßen Struktur gemäße Zuständigkeitsordnung wird von selbst auch dem Subsidiaritätsprinzip Genüge tun"; s. auch ders., Baugesetze der Gesellschaft, Solidarität und Subsidiarität, 1968. 671 Dazu auch O. Kimminich, Das Subsidiaritätsprinzip und seine Auswirkungen im geltenden Verfassungsrecht, Politische Studien, Heft 296 (1987), S. 587 (590).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Familie, Verbände, Staat (Nation) und Weltgemeinschaft. Dieses Stufendenken wird sich als fruchtbar erweisen. Festzuhalten bleibt, daß Rechte und Freiheiten des einzelnen Menschen, der Familie und der Verbände, sich nicht von der staatlichen Gemeinschaft "herleiten" bzw. ihr zu verdanken sind - so sehr sie vom Verfassungsstaat garantiert werden müssen. Die "dienende" Rolle des (Verfassungs-)Staates, ganz im Gegensatz zum Staatsdenken eines Hegel 672 , ist nach all dem eine Konsequenz des katholischen SubsidiaritätsVerständnisses 673. Daraus darf nicht gefolgert werden, "das" Subsidiaritätsprinzip sei im Grundgesetz oder in anderen Verfassungsstaaten "positiviert", es gelte verfassungsrechtlich, (Art. 23 Abs. 1 n. F. stellt eigene Fragen). Dies wäre allzu "kurzschlüssig". Denn geistesgeschichtlich relevante sozialethische Texte beeinflussen zwar die positivierten Verfassungstexte, aber sie sind nicht mit diesen identisch. Vor einfachen "Ableitungszusammenhängen" sei gewarnt. Verfassunggebung ist ein komplizierter Kompromiß vieler Ideen und Interessen, Kräfte und Gruppen, Individuen und Verbänden. Als Tendenzregel oder heuristisch sei aber die Subsidiarität in das Kraftfeld von Grundrechtskatalogen gerückt. Und die Allgemeinheit, auch Bestimmtheit und Prägnanz der beiden Soziallehre-Texte befähigen sie auch in Zukunft, die detailjuristische Arbeit an konkreten Subsidiaritätsfragen zu inspirieren. (2.) Andere ideengeschichtliche
Texte und Zeugnisse
Andere einschlägige ideengeschichtliche Texte, mögen sie nun schon Klassikertexte sein oder nicht 6 7 4 , sind in der Sekundärliteratur vielfach behandelt. Darauf sei hier nur verwiesen 675 . Die Namen reichen von G. Gundlach bis G. Küchenhoff, von H. Nawiasky bis R. Marcie, von J. Messner bis A. Süsterhenn. Ein besonderes Wort verdienen die Programme deutscher politischer Parteien nach 1945; denn Parteiprogramme sind nicht selten die Vorform späterer Verfassungs- und Rechtstexte, jedenfalls bilden sie sensible Seismographen für 672
Dazu auch O. Kimminich, aaO., S. 590 ff. Bemerkenswert die Forderung des Berliner Bischofs Kardinal Sterzinsky, das "europäische Modewort" Subsidiarität müsse auch in der Kirche gelten (FAZ vom 24. November 1992, S. 14). 674 Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, sowie unten Fünfter Teil VIII. 675 Dazu die Arbeiten von G. Küchenhoff und vielen anderen: zit. bei H. Kalkbrenner, Die rechtliche Verbindlichkeit des Subsidiaritätsprinzips, FS Küchenhoff, Bd. 2, 1972, S. 515 ff; S Battista , Freiheit und Bindung, 1987, bes. S. 201 ff.; L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft, 1983; J. Münder/D. Kreft (Hrsg.), Subsidiarität heute, 1990. 673
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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künftige Entwicklungen. In der Mannheimer Erklärung der CDU (1975) 676 heißt es: "Unsere Politik sichert den notwendigen Freiraum für Initiative und verschafft den Grundsätzen der Subsidiarität, Selbstverwaltung und Selbsthilfe auch in der nachindustriellen Gesellschaft Geltung. Diese Politik steht im Gegensatz zur sozialistischen Strategie...". Im CDU-Grundsatzprogramm von 1978 heißt es unter Ziff. 24 6 7 7 : "Solidiarität und Subsidiarität gehören zusammen. Der Staat soll dem Bürger eigene Initiative und verantwortliche Selbsthilfe im Rahmen des Möglichen erleichtem und zumuten". Eine spätere Stelle lautet (Ziff. 52): "Im Sinne der Subsidiarität liegt es, wenn Tarifpartner über die Lohnfindung hinaus mehr Verantwortung für die Gestaltung der Arbeitswelt übernehmen. Was die Tarifpartner in eigener Zuständigkeit, orientiert am Gemeinwohl, selbstverantwortlich regeln können, darf der Staat nicht an sich ziehen". Und (Ziff. 96 am Ende): "Unsere Politik verschafft den Grundsätzen der Subsidiarität, Selbstverwaltung und Selbsthilfe auch in der industriellen Gesellschaft Geltung und sichert den notwendigen Freiraum für Initiative". Unter dem Stichwort "Föderalismus als Leitbild für Europa" (ebd. Ziff. 139) heißt es - erstaunlich "modern": "Wir bekennen uns zum Föderalismus als Leitbild für Europa. Er beruht auf dem gegenseitigen Respekt der Völker. Er erleichtert es, Einheit zu erreichen und in ihr Vielfalt zu bewahren. Er sichert die Verteilung der Kontrolle von Macht nach dem Grundsatz der Subsidiarität, das heißt: Was besser durch die Gemeinden, die Regionen und die Staaten entschieden, ausgeführt und kontrolliert werden kann, soll der jeweiligen Ebene vorbehalten bleiben". Die CSU ringt in ihrem Grundsatzprogramm von 1976 678 wie folgt um das Thema 679 : 676 Zit. nach R. Kunz///. MaierlT. Stammen (Hrsg.), Programme der politischen Parteien in der BR Deutschland, Bd. I, 3. Aufl. 1979, S. 110 ff. 677 Zit. ebd. S. 130; die folg. Zitate im Text auf S. 137 bzw. S. 146 und S. 157.- Unter Ziff. 17 (aaO., S. 129) heißt es: "Die Verwirklichung der Freiheit bedarf der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung nach dem Prinzip der Subsidiarität.- Deshalb muß der Staat auf die Übernahme von Aufgaben verzichten, die der einzelne oder jeweils kleinere Gemeinschaften erfüllen können. Was der Bürger allein, in der Familie und im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen ebensogut leisten kann, soll ihm vorbehalten bleiben.- Der Grundsatz der Subsidiarität gilt auch zwischen kleineren und größeren Gemeinschaften sowie zwischen freien Verbänden und staatlichen Einrichtungen". 678 aaO., S. 228 ff. Zit. nach Kunz/Maier/Stammen,
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Der Grundsatz der Subsidiarität besagt, daß umfassendere und weitergreifende Organisationsformen staatlicher und gesellschaftlicher Art jeweils nur zur Bewältigung solcher Aufgaben herangezogen werden sollen und dürfen, mit deren Lösung die Initiative der einzelnen oder freier Vereinigungen überfordert ist. Der föderalistische Aufbau unseres Staates, eine dezentralisierte und bürgernahe Organisation der Verwaltung, die Achtung vor dem gesellschaftlichen Pluralismus und der Widerstand gegen die Politisierung aller Lebensbereiche sind weitere Konsequenzen des Prinzips Subsidiarität. Der Grundsatz der Subsidiarität meistert die Spannung zwischen individuellen und sozialen Bedürfnissen und ist die Grundlage der Organisation der gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der Formen und Bedingungen politischer Willensbildung". Noch griffiger heißt es im Wahlprogramm der CDU/CSU von 1983 680 (unter Ziffer 5): "Wir wollen mehr Eigeninitiative und weniger Staat. Der Staat soll auf die Übernahme von Aufgaben verzichten, die der einzelne, Vereine, die Familie oder freiwillige Zusammenschlüsse von Bürgern erfüllen können. Subsidiarität bedeutet Vorfahrt für die jeweils kleinere Einheit, bedeutet aber auch, daß der Staat die kleineren Einheiten in die Lage versetzt, ihre Aufgabe aus eigener Kraft zu erfüllen". Damit ist die "Hilfe zur Selbsthilfe", das "subsidium referre" thematisiert. Es ist kein Zufall, daß in bezug auf die Programme der anderen Parteien Fehlanzeige zu vermelden ist. Die SPD setzt bekanntlich vor allem auf "Solidarität" (vgl. ihr "Godesberger Programm" von 1959: "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" als "Grundwerte des sozialistischen Wollens" 681 ), und auch in den "Freiburger Thesen" der Liberalen von 1971 682 spielt die Subsidiarität keine Rolle, obwohl Staat, Recht, Wirtschaft oder Gesellschaft in den Dienst des Menschen als "ihrem letzten und höchsten Zweck" gestellt werden. Vielleicht gaben der emanzipatorische Ansatz und die "Freiraum"-Theorie den Blick auf die Subsidiarität nicht frei.
679 Vorweg ist der Satz formuliert (aaO., S. 234): "Freiheit, Solidarität und Subsidiarität sind die Ordnungsprinzipien für den demokratischen Rechts- und Sozialstaat genauso wie für eine offene Gesellschaft". 680 Zit. nach H. Heppel/G. Hirscher/R. Kunz/T. Stammen, (Hrsg.), Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Ergänzungsband, 3. Aufl., 1983, S. 64 ff. 681 Zit. nach Kunz/Maier/Stammen, aaO., Bd. II, 3. Aufl. 1979, S. 325 ff. Vgl. aber das Grundsatzprogramm der SPD von 1989: "Das Prinzip der Subsidiarität ... kann ... Macht begrenzen". 682 Zit. ebd. S. 419 ff. Zuletzt fordert der sog. "Karlsruher Programmentwurf' der F.D.P. (1996) in Teil III: "Die höhere Entscheidungsebene darf nur regeln, was die untere Ebene nicht besser regeln kann. Subsidiarität heißt für Liberale: Vorrang für die kleinere Einheit".
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis (e) Eine vorläufige "Bilanz" Halten wir am Ende der Bestandsaufnahme inne: Die Literatur- und Textgeschichte, die Literatur- als Textgeschichte (und umgekehrt) in Sachen Subsidiarität hat gezeigt, wie "vagabundierend" dieser Begriff in der Geistes- und Sozialgeschichte ist, in wie viele Bereiche er ausgreift, ja ausstrahlt, wie "nahe" er vielen Teilbereichen des Verfassungsstaates ist, wie relativ selten er jedoch bislang zu einem "bündigen" Verfassungstext gereift ist. Abgesehen vom österreichischen Landesverfassungsrecht und den heutigen von den Regionen aus vorangetriebenen und jetzt EG/EU-rechtlich beglaubigten "Stellen" sowie Art. 23 Abs. 1 n.F. GG und Art. 7 Abs. 6 Verf. Portugal ist er nicht direkt textlich positiviert worden. Er wirkt eher als Kontext, aus dem sich verfassungsrechtliche Einrichtungen entwickelt haben. Seine Abstraktionshöhe und Allgemeinheit rufen offenbar nach Konkretisierung. Andererseits bildet er aber auch eine fruchtbare "Inspirationsquelle", schafft er ein Kraftfeld, in dem sich subsidiaritätsnahe Prinzipien verdichten und zu geltendem Recht "werden". Insoweit erinnert die Subsidiarität an die Kraft eines Topos wie die Teilelemente der Rechtsidee, nämlich Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit (G. Radbruch). Besonders nahe steht sie den Grundfreiheiten der einzelnen und Gruppen sowie dem Föderalismus. Jene sind essentielle Elemente des Verfassungsstaates, dieser ist eine mögliche Form dieses Typus. Ihre rechtlich betrachtet im allgemeinen nur "ungeschriebene Präsenz" und "Latenz" nimmt ihr keineswegs die "Potenz" im besonderen: in manchem gleicht sie dem allgemeinen Gemeinwohlprinzip und seinen differenzierten Erscheinungsformen und Geltungsweisen. Die lange Entwicklungsgeschichte und das vielfältige Erscheinungsbild der "Subsidiarität" legen es nahe, sie als "Geburtshelfer" für Teilproblemlösungen des Verfassungsstaates zu qualifizieren, ihre "Metamorphose" zu Surrogatformen wie Grundrechte und Föderalismus, auch Selbstverwaltung zu verfolgen. Seine eher "indirekte", vermittelte Wirkung schwächt den Begriff der Subsidiarität aber nicht. Im übrigen ist zu vermuten, * daß die (verfassungsrechtlichen Lösungen, die er mit hervorbringt, viele "Lehren" und Hinweise für analoge Probleme im europäischen Verfassungsstaat geben. Sein oft verdecktes, "oberhalb" der rechtlichen Positivierung bleibendes Auftreten, macht seine Wirkkraft nicht geringer. Bleibt die Frage, ob und wie die hier analysierten Ein- und Ansichten seiner "Materialien" theoretisch umgesetzt werden können. (3) Perspektiven einer auf den Verfassungsstaat und Europa hin gearbeiteten Theorie des Prinzips Subsidiarität Die Verfassungslehre - und gehe sie noch so materialgesättigt und sachnah vor - kann immer nur Theorievorschläge unterbreiten. Die Praxis der Verfas-
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen sungsgerichte einschließlich der Europäischen Gerichte wie EGMR und EuGH mag dann in "pragmatischer Integration von Theorieelementen" diese kompromißhaft zusammenfügen und ihnen ihre "Reinheit", Abstraktionshöhe, auch Absolutheit nehmen: Das ist eine Konsequenz allen Denkens und Handelns in pluralistischen Systemen. Dies gilt auch für das Problem der Subsidiarität 683 . Im folgenden seien einige aus der Anschauung der Materialien gearbeiteten Perspektiven einer Theorie des "Prinzips Subsidiarität" angedeutet. (a) Der grundrechts- und gesellschafitsvertragstheoretische Ansatz Subsidiarität, nicht als fertiger Begriff, sondern als immer neu werdendes Prinzip verstanden, bildet zuvörderst eine Maxime für die Verhältnisbestimmung Bürger bzw. Menschen und Verfassungsstaat bzw. überstaatliche Gebilde (wie EU und Weltgemeinschaft bzw. UNO). Sie ist auf die Freiheit der Bürger und Gruppen bezogen, die sich in immer weiter auszudifferenzierenden Grundrechtskatalogen manifestiert. Subsidiaritätsdenken streitet für den Vorrang der Einzelmenschen und Gruppen gegenüber allem staatlich oder überstaatlich Organisierten. Die Würde des Menschen, als kulturell "vorgegebener Wert" verstanden, macht alle staatlich oder staatsnah konstituierten Einheiten bzw. Gebilde zum Nachgeordneten, Dienenden. Dieses bleibt unverzichtbar, aber es hat keinen Selbstzweck, ist nur Mittel zum Zweck ("Hilfe zur Selbsthilfe"). Man sollte die Chance nutzen, das der 1789-Tradition, der katholischen Soziallehre wie dem politischen Liberalismus Gemeinsame zu verbinden und auf den einen "Nenner" des Subsidiaritätsdenkens zu bringen. Dabei bleiben noch genug Probleme für die Konkretisierung und bereichsbezogene Abwägung Individuum/Gemeinschaft, von Einzelwohl und Gemeinwohl. Aber ein Akzent ist gesetzt. Dieser Ansatz ist in die Lehre vom Gesellschaftsvertrag hinüberzuführen. Nach der Maxime des Kategorischen Imperatives I. Kants wird der immer neue Abschluß des Gesellschaftsvertrages, jetzt auch in die Zeit- bzw. die Generationenperspektive projiziert, fingiert. Verfassung, als immer neues sich Vertragen aller mit allen, auch in der Zukunft, verstanden, als "rechtliche Grundordnung" von Staat und Gesellschaft begriffen, als öffentlicher Prozeß im Rahmen 683 Konimissionspräsident J. Delors wird die ironische Auslobung zugeschrieben: Wer glaube, er könne das Problem der Subsidiarität auf einer Seite Papier lösen, dem biete er einen Beratervertrag mit einem Jahresgehalt von 400 000,- DM an (zit. nach FAZ vom 26. Nov. 1992, S. 15).- Die Briten sprechen der Einfachheit halber von "sword".- Mitunter wird die Subsidiarität auch mit einer "magischen Formel" verglichen (so F. Heinemann, Delors II - kein europäisches Wertpaket, FAZ vom 5. Dezember 1992, S. 15).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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eines gemeinsamen Kulturzusammenhangs betrachtet, schafft ihre Institutionen und Verfahren im Geiste des differenzierten Subsidiaritätsdenkens. Die Kraft einer Kompetenzverteilungsregel Individuum bzw. Gruppen und staatliche bzw. überstaatliche Gemeinschaft ist dem Subsidiaritätsdenken eigen. (b) Der Gerechtigkeitsgehalt des Subsidiaritätsdenkens Ihn hat, soweit ersichtlich, erstmals die katholische Soziallehre entwickelt, in den Worten von 1931: "...so verstößt es gegen die Gerechtigkeit...". Gewiß, die Wege und Verfahren, aber auch Inhalte der Gerechtigkeit stehen seit der Antike im abendländischen und jetzt auch weltweiten Diskurs. Aber gerade der Verfassungsstaat hat vornehmlich in Gestalt seiner Menschenrechte und Grundfreiheiten, seiner Staatsaufgaben (sozialer Rechtsstaat und Kulturstaat) und seiner formalen Prinzipien wie der Gewaltenteilung viele Beiträge zum offenen - Kanon von Gerechtigkeitselementen geleistet. Die Chance des "Anschlusses" der verfassungsstaatlichen Prinzipien an die klassische Gerechtigkeitsdiskussion sollte nicht vertan werden. Die Einbeziehung des Subsidiaritätsdenkens bietet eine Möglichkeit dazu. Es ringt um Gerechtigkeit im Verhältnis staatlicher bzw. überstaatlicher Gemeinschaft und Bürger bzw. Gruppen. So wie der Vorrang der Freiheit ein Gerechtigkeitspostulat bildet, ist die Maxime der Subsidiarität eine Umschreibung dieser Gerechtigkeit nach einer bestimmten Seite hin. (c) Der Prinzipiencharakter der "Subsidiarität" Subsidiarität ist weniger ein Begriff denn eine Maxime; absichtsvoll wurde zuletzt von "Subsidiaritätsdenken" gesprochen, um alle Erinnerungen an "Fertiges" zu beseitigen. Rechtstheoretisch bietet es sich an, Subsidiarität als "Prinzip" einzustufen: um all die Erkenntnisse fruchtbar zu machen, die H. Heller zu den "Rechtsgrundsätzen" 684 und J. Esser zu "Grundsatz und Norm" 6 8 5 entwickelt haben. Damit sind der Wachstumscharakter der Subsidiarität, ihre Unbestimmtheit, das Experimentelle und Offene, die heuristische Qualität und die Konkretisierungsfähigkeit und -bedürftigkeit beim Namen genannt. Die Subsidiarität ist nicht einfach "anwendbar", sie ist im jeweiligen Problem- und Sachzusammenhang und in der je besonderen Funktion zu konkretisieren - ein Vorgang, an dem meist viele beteiligt sind, oft in kooperativen offenen Verfah684
H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 222 ff., 255 ff. 1 Esser, Grundsatz und Norm, 1. Aufl. 1956, (4. Aufl. 1991), S. 39 ff., 93 ff. sowie 192 ff. 685
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen ren. Jüngst erprobte sich dieses Prinzipiendenken etwa an der Idee eines "Gemeineuropäischen Verfassungsrechts" 686, und vielleicht reift die Subsidiarität in der Zukunft zu einem gemeineuropäischen Prinzip heran. Dieser Weg ist indes schwieriger. (d) Subsidiarität - eine Korrelatmaxime, ihr "Relationscharakter", die kulturell bedingte Sinnvariabilität Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, wie selten bislang die Subsidiarität als solche "für sich" juristisch getextet ist. Dies ist kein Zufall. Denn seine wahre Kraft vermag das Subsidiaritätsdenken vor allem im Kontext mit konkreteren Prinzipien zu entfalten. Es ist nicht autonom, aus sich selbst heraus verständlich. Es entfaltet seine Aussagekraft im Konkreten, "in Verbindung" mit anderen Prinzipien; es ist ein "Brücken-" oder "Korrelatbegriff'. Eben dies ermöglicht seine vielseitige Verwendbarkeit, die oft zitierte Unbestimmtheit, seinen angeblichen "Leerformelcharakter". Das Prinzip Subsidiarität wird erst bereichs- und funktionsspezifisch gehaltvoll. Von den Grundrechten bis zum Föderalismus, von der kommunalen Selbstverwaltung bis zum Regionalismus, künftig bis hin zum EG/EU-Recht - überall ist das Prinzip Subsidiarität in seiner "Lesbarkeit" erst aus den Kontexten zu verstehen. So bietet es sich etwa auf dem Feld der Wirtschaft anders dar als auf dem der Kultur. Die Einordnung der Subsidiarität als "Relationsbegriff ' macht aber auch ihre Variabilität erklärlich: Je nach dem kulturellen Kontext wirkt sie sich verschieden aus: Im Kontext der positi vierten föderalistischen Verfassungsordnung Deutschlands (im "kooperativen Föderalismus" verstärkt) hat sie andere Inhalte und Funktionen (Stichwort: "deutsche Freiheit ist föderative Freiheit") als in Frankreich, das durch seine Kulturgeschichte der einheitsstaatlich "nationalen Größe" einen hohen Stellenwert einräumt 687 ; erst in jüngerer Zeit machen sich hier Dezentralisierungstendenzen geltend. Ein Ausbau des Subsidiaritätsprinzips in Spanien kann von seinem heutigen Regionalismus bis zur Schwelle eines Föderalismus führen. Vermutlich setzen spanische Regionalpolitiker das Subsidiaritätsdenken im Kampf um immer mehr Autonomie ihrer Regionen ein, und manchen Texten der geltenden Verfassung von 1978 liegt ja schon 686
P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff, jetzt auch ders., in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 71 ff; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), Der Europäische Verfassungsraum, 1995, S. 361 ff. 687 Vgl. U. Everling, Zurück zum Staatenverein?, FAZ vom 15. Oktober 1992, S. 7: "An föderative Grundsätze und das Prinzip der Subsidiarität müssen sich unsere Partner erst noch gewöhnen".
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis Subsidiaritätsdenken zugrunde (z.B. Art. 3 Abs. 2 und 143, 147, 148, 149 Abs. 3, 156) 688 . So ist Subsidiarität "sinnvariabel" zu lesen, und jedes Land in Europa wird es im jeweiligen Kontext noch verschieden lesen - bis sich eines Tages vom EuGH aus ein EG/EU-rechtlich einheitliches (Durchschnitts-)Prinzip "Subsidiarität", noch später vielleicht "gemeineuropäischer" Art, entwickelt. Damit hängt zusammen, daß Subsidiarität immer rivalisierende, konkurrierende Gegenbegriffe hat: das deutsche Staatsdenken Hegelscher Provenienz etwa, das französische "une et indivisible", bislang den "Zentralismus Roms" in Italien, aber auch das Prinzip "Solidarität", wie es sich in Art. 2, 138, 156 Abs. 1, 158 Abs. 2 Verf. Spanien (1978) findet. In der praktischen Politik, aber auch in Literatur und Rechtsprechung, ist dann "praktische Konkordanz" (K. Hesse) herzustellen. (e) Das Stufen- und Aufgabendenken, die Relevanz des Verfahrens Ebenfalls eher formaler Natur ist die Qualifizierung des Prinzips Subsidiarität vom Stufen- und Aufgabendenken her. Gemeint ist folgendes: Individuum und staatliche oder überstaatliche Gemeinschaft können einander in der Weise des Stufendenkens bzw. vertikaler Gewaltengliederung zugeordnet werden, ohne daß dies mit dem Preis von Hierarchiebildern erkauft werden darf. Die Stufung verläuft vom Einzelmenschen als Individuum im "status negativus" 689
und rechtlich ausgestaltet im "status corporativus" , d.h. in Familie und Koalitionen, Versammlungen oder Vereinen Lebenden, hin zur Organisationsform "Kommune", ggf. Region oder Einzelstaat bis hin zum (dezentralisierten) Einheitsstaat bzw. Bundesstaat und zu überstaatlichen Organisationen (wie der EU als Vorform eines Bundesstaates oder der Völkerrechtsgemeinschaft). Und diese Stufung beruht auf dem Hintergrund bestimmter zu erfüllender Aufgaben (Aufgabendenken). Der Verfassungsstaat erfüllt sie in der Wahrnehmung von Staatsaufgaben. Die katholische Soziallehre spricht von dem, was die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können", und auch die Grundrechte im Verfassungsstaat haben ja den Aspekt der "sozialen Funktion", nicht nur das Eigentum 690 . Die gemeinschafts688 Aus der Lit. auch: J. Solé Tura , Das politische Modell des Staates Autonomer Gebietskörperschaften, in: A. López Pina, (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993, S. 249 ff. 689 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, S. 376 ff. sowie Sechster Teil VII 5. 690 Dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO., S. 8 ff.
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen rechtlichen Erscheinungsformen der Subsidiarität setzen dieses Aufgabendenken voraus - so schwierig zu bestimmen ist, wann eine "Gemeinschaftsaktion" (vgl. den "Subsidiaritätsbogen" der Regionen von 1992) erforderlich wird. Stufen- und Aufgabendenken sind eng miteinander verknüpft, jedenfalls aus der Perspektive des Subsidiaritätsdenkens 691. Hinzu tritt der Verfahrensgedanke 692 : in arbeitsteiligen fairen Verfahren entwickeln sich die Aufgaben. (f) Die Mehrschichtigkeit des Prinzips Subsidiarität: programmatisch-politisch oder normativ-justitiabel, materiell oder prozessual, der variable Adressatenkreis Die Qualifizierung der Subsidiarität als Prinzip, die hier bevorzugte Sprechweise vom "Subsidiaritätsdenken", die Deutung seiner Korrelat- und BrückenFunktion verlangen, sich über die Mehrschichtigkeit klar zu werden 693 . Die Subsidiarität kann auf sehr verschiedene Weise wirken und den Adressatenkreis variieren 694 : programmatisch-politisch oder juristisch-normativ (wie dank der eindeutigen spezifischen Positivierung in Vorarlberg und Tirol (1984 bzw. 1988)); es kann materiell Gehalte entwickeln, aber auch prozessual, d.h. in Form von gestuften Beteiligungsverfahren wirken (so wohl im EU-Europa). Es kann unterschiedlich justitiabel sein und verschiedene Adressaten haben: so hat es sich bei Art. 72 Abs. 2 a.F. GG als wenig justitiabel erwiesen 695 (das braucht aber nicht zwingend so zu sein), als "Ländertreue" des Bundes hat es aber Fallmaterial hervorgebracht (BVerfGE 12, 205; 61, 149 (205); 86, 148 (211 f.)). Im Bereich der verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre und bei der gerichtlichen Überprüfung auch der "unbestimmten Rechtsbegriffe" 696 wurde viel Problemlösungsmaterial geschaffen, das als Lehrmaterial für "Maastricht" zu die691 P. Pernthaler, Der differenzierter Bundesstaat, 1992, S. 19, spricht von "Aufgabenstruktur" des Subsidiaritätsprinzips. 692 Vgl. auch P. Pernthaler, aaO., S. 19 ff. 693 Das Entweder-Oder zwischen Subsidiarität als "sozialphilosophischem Prinzip" oder "juristischer Norm" (z.B. G. Nonnenmacher, Frankreichs Lehren für Europa, FAZ vom 22. Sept. 1992, S. 1) entpuppt sich als fragwürdig: es gibt verschiedene Schichten und Konkretisierungsstufen. 694 Diese differenzierten Schichtungen aufzudecken, ist etwa in der Grundrechtslehre schon geglückt (vgl. die Lehre von der doppelten und mehrfachen GrundrechtsDimension, P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO., S. 70 ff., 332 ff., 335 ff. und für die Schweiz die Schichtenlehre von J.P. Müller, Elemente einer Schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 46 ff.). 695 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts..., 20. Aufl. 1995, S. 107 unter Hinweis auf BVerfGE 2, 213 (224 f.). 696 Vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1997, S. 129 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis nen vermag. Das scharfe "quis judicabit" kann und sollte - mitunter durch kooperative Verfahren - vermieden werden. Die sog. Justitiabilität ist funktionellrechtlich zu sehen, wie dies in der Lehre des Verhältnisses von deutscher Verwaltung und deutscher Gerichtsbarkeit erprobt ist 6 9 7 . Hier kann das Europarecht vom innerverfassungsstaatlichen Recht lernen, so wie die Impermeabilität des klassischen "Außen" und "Innen" längst in Frage gestellt wird. (g) Die zwei Hauptanwendungsfelder der Subsidiarität: das innerverfassungsstaatliche und europarechtliche Schon das Bisherige hat gezeigt, daß das Subsidiaritätsdenken heute zwei aktuelle Problemfelder besitzt: das innerverfassungsstaatliche (z.B. im Regionalismus und Föderalismus, auch der kommunalen Selbstverwaltung greifbar) und das überstaatlich-europarechtliche. Innerhalb des Verfassungsstaates hat sich die Subsidiarität seit langem eindrucksvoll ausgewirkt - "Subsidiarität" ist eine kulturelle Leistung des Verfassungsstaates par excellence. Dramatisch gestaltet sich heute die überstaatlich-europarechtliche Ebene. Bei allen Wechselwirkungen, die hier bestehen: das Europarecht kann vom innerstaatlichen Subsidiaritätsdenken lernen, umgekehrt kann sich die innerstaatliche Diskussion vom Europarecht anregen lassen; so möchten ja die Regionen von außen her mächtig auf die innere Struktur der einzelnen Verfassungsstaaten wirken; die Bewährungsprobe für das Subsidiaritätsdenken ist heute die EU, auf dem Prüfstand steht es seit "Maastricht" hier: im Verhältnis Mitgliedstaat/EU, aber auch innerstaatlich. Dem gilt der letzte Abschnitt: "Insbesondere Maastricht". (h) Insbesondere "Maastricht" Das Vertragswerk von "Maastricht" (1992) stellt jedem der beteiligten europäischen Verfassungsstaaten (auch heute noch) eigene "Hausaufgaben". Vereinzelt haben sich nationale Verfassungsgerichte damit beschäftigt, so etwa in Spanien 698 , in Deutschland das Bundesverfassungsgericht (E 89, 55). In Deutschland wurde und wird die Verfassungskontroverse um "Maastricht" seither - sehr bezeichnend für uns - vor allem rechtlich und nicht primär poli-
697 Dazu im Anschluß an H. Ehmke: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 595 ff. 698 Dazu A. Lopez Castillo/ J. Polakiewicz, Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht in Spanien, EuGRZ 1993, S. 277 ff. mit dem Urteil des Verfassungsgerichts Madrid, ebd., S. 285 ff.
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen tisch geführt, und die (auch im Hinblick auf "Maastricht II" bzw. "Amsterdam") anschwellende Literatur ist kaum mehr zu überblicken 699 . Hier seien nur die Stichworte genannt, die sich m.E. aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre ergeben: zur arbeitsteiligen Vorbereitung der Diskussion einerseits, aber auch als Beleg dafür, daß und wie sich der Versuch des hier unternommenen text- und kulturwissenschaftlichen Vergleichs praktisch auszahlen kann. (1) Das Prinzip Subsidiarität nach Maßgabe von Maastricht ist spezifisch europarechtlich 700 , auf der europarechtlichen Ebene und insofern "autonom" auszulegen. Das schließt aber nicht aus, daß die jeweils innerverfassungsstaatliche bzw. -rechtliche Diskussion um dieses "allgemeine Rechtsprinzip" mit herangezogen wird. Hier ist in "wertender Rechtsvergleichung" zu verfahren, wobei die nationalen Rechtskulturen zusammenzuführen sind. Zwar können die deutschen, vor allem föderalistischen Vorarbeiten oder die spanischen, vor allem regionalen mit berücksichtigt werden; doch sollte diese Rezeption und Adaption nicht antinationalstaatlich überzogen werden: Frankreich, das in Sachen Regionalismus weiter zurückliegt als etwa Spanien, darf von Europa bzw. der EG/EU her nicht zu viel zugemutet werden. Das gilt auch für kleinere Staaten wie Dänemark. Gefordert ist der Balance-Akt einer gemeineuropäisch-
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Neben der spezielleren auf die Subsidiarität bezogenen Literatur vor allem: W. von Simson/J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992; M. Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, S. 589 ff; G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, S. 985 ff; P. Häberle, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, EuGRZ 1992, S. 429 ff.; HH Rupp, Maastricht - eine neue Verfassung?, ZRP 1993, S. 21 ff.; D. Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, Der Staat 32 (1993), S. 161 ff.; C.O. Lenz, Der Vertrag von Maastricht - Ende demokratischer Staatlichkeit?, NJW 1993, S. 1962 ff.; K.-A. Schachtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 28/93, S. 3 ff; T. Oppermann/CD. Classen , Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, ebd. S. 11 ff; K.A. Schachtschneider u.a., Der Vertrag über die Europäische Union und das GG, JZ 1993, S. 751 ff.; I. Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 449 ff; K. Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, S. 98 ff; H.-J. Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, S. 412 ff.; P.M. Huber, Maastricht - Ein Staatsstreich?, 1993; A. Weber, Der Vertrag von Maastricht, FS Benda, 1995, S. 421 ff S. noch Sechster Teil XI. 700 Anders P. Pescatore, Europataugliches Subsidiaritätsprinzip?, NZZ vom 14./15. Sept. 1991: er hält das Prinzip nicht für vereinbar mit dem System der Gemeinschaftsverfassung.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
9
nationalen Hermeneutik in Sachen Subsidiarität. Sie wird zu einem "allgemeinen Rechtsgrundsatz" des Gemeinschaftsrechts 701. (2) Das die Rechtstexte von "Maastricht" subsidiaritätsgerecht aufschlüsselnde Denken muß bereichsspezifisch vorgehen, etwa den Umwelt-, Wirtschafts- und Kulturbereich unterscheiden. Vor allem den nationalen Rechtskulturen kommt ein hoher Stellenwert bei den Abwägungs- und Zuordnungsverfahren zu, die die Subsidiarität aufgibt. Der neue Kultur-Artikel 128 von "Maastricht" spricht vom "Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt", freilich auch von "gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes". Kultur 7 0 2 ist der sensibelste Bereich im "nach Maastricht" zusammenwachsenden Europa, und aus ihr speist sich langfristig Europa als Ganzes wie als Einzelnes. Darum ist hier das Subsidiaritätsdenken besonders gefordert: im Sinne mitgliedstaatsfreundlicher Auslegung. (3) Das an drei Stellen von "Maastricht" positivierte Subsidiaritätsprinzip 703 ist ganzheitlich harmonisierend zu interpretieren. Das heißt, daß die bisher gel701
Dagegen etwa M. Heintzen, Subsidiaritätsprinzip und Europäische Gemeinschaft, JZ 1991, S. 317(322). 702 Aus der allgemeinen Lit.: P. Häberle, Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff.; Europäische Kultur: das Zukunftsgut des Kontinents, 1990 (mit Beiträgen von W. Weidenfeld u.a.); G. Ress, Kultur und Europäischer Binnenmarkt, 1991; ders., Die neue Kulturkompetenz der EG, DÖV 1992, S. 944 ff.; J. Sparr, Kulturhoheit und EWG-Vertrag, 1991 ; A. Dittmann/C. Fehrenbacher, Die bildungsrechtlichen Harmonisierungsverbote (Art. 126 Abs. 4, 127 Abs. 4 EGV) und ihre Bedeutung für die nationale "Bildungshoheit", RdJB 1992, S. 478 ff.; I.E. Schwartz, Subsidiarität und EG-Kompetenzen, Der neue Titel Kultur..., AfP 1993, S. 409 ff., A. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, S. 972 ff. 703 Das Memorandum der deutschen Bundesregierung über das Subsidiaritätsprinzip (1992, hier zit. nach H. Schambeck, Europäische Integration und österreichischer Föderalismus, 1993, S. 36 ff.), enthält wissenschaftlich bemerkenswerte Stichworte: Das Subsidiaritätsprinzip "als Rechtsprinzip und als politische Idee", es ist "geeignet, die Akzeptanz des Integrationsprozesses bei den Bürgern entscheidend zu erhöhen", "nach dem Verständnis der Bundesregierung schließt der Begriff der Subsidiarität auch die Wahrung der Rechte und Zuständigkeiten der Sozialpartner sowie der Rechte von Gemeinden und Gemeindeverbänden zur Regelung der örtlichen Gemeinschaft mit ein", "das Subsidiaritätsprinzip ist ein bewährtes Handlungsprinzip jeder gegliederten staatlichen Ordnung", "das Subsidiaritätsprinzip liegt den EG-Verträgen bereits in ihrer bisherigen Fassung zugrunde", "diese Begründungspflicht der Gemeinschaft betrifft nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie" ihres Tätigwerdens", "dieses Subsidiaritätsprinzip wird auch ftir die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der Kompetenzbestimmungen innerhalb der EG von Bedeutung sein können". (Ebd. S. 46 ff. ist auch der oben erwähnte "Subsidiaritätsbogen" der Versammlung der Regionen Europas abgedruckt.)- Die Beratergruppe "Binnenmarkt" (Vorsitz der Ire Peter Sutherland) suchte folgenden Beitrag zur Subsidiarität zu leisten: Jede Gemeinschaftsinitiative müsse fünf Kriterien des gesunden Menschenverstandes genügen: der Notwendigkeit,
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
tenden und neuen Vertragstexte "zusammen zu lesen" sind. Konkret: Die alten geschriebenen und ungeschriebenen Grundrechte (insbesondere kulturelle Freiheiten) der EG/-Bürger (Stichwort "Bürgernähe" und Gesellschaftsvertrag) sind als Aktivposten in die Konkretisierungsorgane des "Verfassungs-Prinzips Subsidiarität" ebenso einzubringen wie der - neue - "Ausschuß der Regionen" (Art. 198 a) 7 0 4 zu berücksichtigen ist: Seine Willensbildung liefert Topoi in den Verfahren der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips. Gefordert ist allenthalben ein "Nähe-Denken". (4) Da Subsidiaritätsdenken sich weniger an Forgegebenem als an /iw/gegebenem entfalten kann, kommt dem bzw. den (internen) Verfahren höchste Bedeutung zu - der "Subsidiaritätsbogen" der Regionen ist ein guter Versuch. Das, was die vielen Beteiligten arbeitsteilig in kooperativen Verfahren vor- und einbringen, kann zu subsidiaritätsgerechten Lösungen gerinnen. Das ex ante verfahrensmäßig unter Begründungspflichten 705 Zustandegebrachte liefert mehr als bloßes "Spielmaterial" des gewiß auch notwendigen gerichtlichen Rechtsschutzes ex post seitens des EuGH. Erinnert sei an den 1971 entwickelten "status activus processualis", an die Überlegungen zur "salus publica e processu" 7 0 6 . So werden regionale und lokale Interessen via Auschuß der Regionen von "unten her" bei den Verfahren der Rechtsetzung (durch Rechte der Anhö-
der Wirksamkeit, der Verhältnismäßigkeit, der Kohärenz und der Kommunikation (vgl. FAZ vom 26. Nov. 1992, S. 15). 704 Aus der neueren Lit.: U. Bullmann/D. Eissel, Europa der Regionen, Entwicklung und Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 20 - 21/93 S. 3 ff.; S. Huber/P. Pernthaler, Föderalismus und Regionalismus in europäischer Perspektive, 1988 (darin bes. F. Esterbauer, Die "Regionalistischen Leitsätze", S. 69 ff); A. Benz, Regionen als Machtfaktor in Europa?, VerwArch 84, 1993, S. 328 ff.; R.W. Strohmeier, Die Auswirkungen des Maastrichter Vertrags auf die Regionen, BayVBl. 1993, S. 417 ff; F.-L. Knemeyer, Subsidiarität, Föderalismus, Dezentralisation, DVB1. 1990, S. 449 ff.; D. Thürer, Föderalismus und Regionalismus, Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 1992, S. 49 ff; H. Schambeck, Regionalismus - Föderalismus - Vergleich der Verfassung Italien und Österreich, FS Strasser, 1993, S. 325 ff. 705 Vgl. etwa G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu der EG, JuS 1992, S. 985 (990): "Die Neufassung legt den Schluß nahe, daß eine Vermutung für die Kompetenz der Mitgliedstaaten und nicht der Gemeinschaft spricht. Der Union fallt - ebenso wie der EG - die Argumentationslast zu". S. auch SU; Pieper, Subsidiaritätsprinzip..., DVB1. 1993, S. 705 (711): Ablösung der Regel "in dubio pro communitate", "Begründungszwang". S. auch das Wort vom "Handlungsprimat der Mitgliedstaaten bzw. ihrer Regionen" (Europaministerkonferenz in Wildbad Kreuth, FAZ vom 6. Oktober 1992, S. 2). 706 P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff., 125 ff.) bzw. ders., Öffentliches Interesse, aaO., S. 87 ff., S. 499 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis rung und Stellungnahme) besser zu Gehör kommen als bisher. In diese Richtung wirkt auch der neue Art. 23 GG, so kompliziert er sich ausnimmt 707 . (5) Die EG/EU-rechtliche Subsidiarität hat "mehrstöckige Wirkkraft". Sie entfaltet die eine Stoßrichtung zugunsten der Mitgliedstaaten im Kompetenzwettbewerb mit den EG/EU-Organen. Die andere dringt "tiefer". Die Mitgliedstaaten ihrerseits sind gedrängt, subsidiaritätskonform zu agieren: d.h. ihren eigenen Föderalismus oder Regionalismus und ihre kommunale Selbstverwaltung nach innen hin ernst zu nehmen (z.B. den Ausschuß der Regionen als "dritte Ebene" zu beschicken) - der neue Art. 23 GG zeigt einen Weg zu all dem. M.a.W.: Der "Subsidiaritätsdruck" vom EU-Europa her zeitigt auch innerverfassungsstaatliche Auswirkungen, so wie ja geistes- bzw. text- und kulturgeschichtlich das gemeinmschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip eine Vorphase auf der nationalen Ebene durchlaufen hat: im Sinne einer Art "Metamorphose". Es handelt sich also nicht bloß um "Re-Nationalisierung". (6) Subsidiarität wirkt auch im Europarecht nicht "an und fur sich". Einsatzfähig wird sie als Korrelatmaxime. Erst in Verbindung mit anderen Prinzipien wie den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip 7 0 8 , den Lokal-, Regionaloder Föderativstrukturen gewinnt sie juristische Gestalt, auch i. V. mit den Normen über "ausschließliche" und "nicht ausschließliche" Zuständigkeiten der EU 7 0 9 . (7) Aus "schubweisem Stoffwechsel" zwischen erfahrungsgehärtetem, praktischem Fallmaterial und Ausbildung von theoretischen Teilprinzipien (wie dem Übermaßverbot) gewinnt das Subsidiaritätsdenken rechtliche Gestalt. Es hat viele Schichten, die sich nicht auf das Entweder-Oder der Programmatik oder Justitiabilität bringen lassen. Der EuGH ist gefordert, das Subsidiari-
707
Den Gedanken des Verfahrens betonen i. V. mit der Subsidiarität auch I. Pernice , aaO., in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 449 (458). S. auch G. Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrags von Maastricht, DÖV 1993, S. 405 (409 f.), der die notwendigen "Konsultationen" je nach für die verschiedenen Politikbereiche bestehenden Beratungsgremien (z.B. Bildungsausschuß, Kulturausschuß, Ratsgruppe Forschung) bzw. die Konsultationen mit den Mitgliedstaaten nennt. 708 Der in Art. 3 b Abs. 3 von "Maastricht" positi vierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann auf viel bekanntes, nationales und europarechtliches Problemlösungsmaterial zurückgreifen. Er wirkt zusammen mit der Subsidiarität, vgl. I.E. Schwartz , aaO., AfP 1993, S. 409 (416); s. auch dessen "Prüfungsraster", ebd. Von "Nachbarschaft" des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Subsidiaritätsprinzip spricht H.-J. Blanke, Die kommunale Selbstverwaltung im Zuge fortschreitender Integration, DVB1. 1993, S. 819 (insbes. 827). 709 Zur Schwierigkeit dieser Abgrenzung G. Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrags von Maastricht, DÖV 1993, S. 405 (407 f.). 32 Häberle
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen tätsprmzip zu "entwickeln" 710 : War er bisher viel gerühmter "Motor der Integration", so muß er jetzt dort, wo das Subsidiaritätsprinzip auszulegen ist, sozusagen "umgekehrt" wirken: durch mitgliedstaatsfreundliche, aufs korrekte Verfahren (z.B. Informations- und Begründungspflichten) achtende, der Selbstkoordination und Selbststeuerung der Beteiligten Raum gebenden Interpretation. Mittelbar bewirkt er auch und selbst hier ein Stück "Integration": Insofern er den Bürgern, Kommunen, Regionen bzw. Ländern und Mitgliedstaaten den nötigen Raum - "Atemluft" - läßt. Gegenüber dem viel gescholtenen "Zentralismus Brüssels" und der "Regelungswut" der Kommission leistet er Integration in der Tiefe und Breite: auf dem Weg zum Europa der Bürger. Der EuGH würde auf neue Weise zum "europäischen Bürgergericht". So kann es zu Präzisierungen des Subsidiaritätsprinzips kommen, das vom Europäischen Rat ausdrücklich als Verpflichtung aller Organe der Gemeinschaft bezeichnet wird 7 1 1 . Die Gemeinschaft hat die Begründungslast, daß ein Handeln auf der Ebene der Mitgliedstaaten "nicht ausreichend" und das der EU "besser" ist. Dies schließt nicht aus, daß man diskutiert, ob in einer späteren Vertragsergänzung statt des Subsidiaritätsprinzips besser "ein klarer und restriktiver Kompetenzkatalog" für die EU geschaffen werden sollte 712 . Dann hätte das Subsidiaritätsprinzip 713 wieder einmal als (diesmal offener und nicht wie so oft verdeckter) "Geburtshelfer" gewirkt. Auch dann bliebe es freilich ein fundamentales "Reserve-Prinzip". Im ganzen gesehen ist Subsidiarität "nach Maastricht" und unabhängig davon doch "mehr als ein Wort". Es ist zwar kein "Zauberwort" aber ein freiheitsund gerechtigkeitsorientiertes Prinzip, das den europäischen Juristen als solchen aufs höchste fordert. Die europäische Rechtskultur wurde durch das scheinbar neue, in Wahrheit unter- und hintergründig sehr alte "Prinzip Subsi-
710 Aus der Lit. zur Nachprüfung der Subsidiarität durch den EuGH: V.J. Pipkorn, Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über die Europäische Union - rechtliche Bedeutung und gerichtliche Überprüfbarkeit, EuZW 1992, S. 697 (700); R.W. Strohmeier, BayVBl. 1993, S, 417 (418); S.U.Pieper, aaO., DVB1. 1993, S. 705 (711); eher skeptisch G.C. Rodriguez Iglesias , Der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaft als Verfassungsgericht, 1992, S. 49: "Fraglich ist aber einerseits, inwieweit ein so formuliertes Subsidiaritätsprinzip (dessen Konkretisierung viel Raum für die politische Einschätzung läßt) justitiabel ist; andererseits, ob dieses Prinzip in der Zukunft eine große Rolle in gerichtlichen Streitigkeiten spielen wird". 711 Dazu /. Pernice , aaO., Die Verwaltung 26 (1993), S. 449 (459). 7,2 Dazu G. Konow, aaO., S. 411 f. 713 Die Subsidiarität hat auf der europäischen Ebene freilich auch eine "andere Seite": die kleineren Mitgliedsländer befürchten eine Aushöhlung der EG-Kommissionsbefugnisse, die sie als "Sachwalterin" ihrer Interessen im Konflikt mit den größeren Ländern ansehen.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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diarität" bzw. seine Positivierung in "Maastricht" bereichert. Alle Wissenschaften sind an seiner "Ergründung" beteiligt. Zurück zum "Verfassungsverständnis": Wurden oben (Vierter Teil Inkurs B) die Kleinstaaten berücksichtigt, so müssen im folgenden noch die Entwicklungsländer einbezogen werden.
7. Inkurs C.: Das eigene Verfassungsverständnis der Entwicklungsländer Während die verschiedenen Verfassungs- bzw. Staatsverständnisse in Deutschland herkömmlich meist unabhängig von einer präzisen Analyse der Verfassungstexte erarbeitet sind - das formale, schrankenorientierte, das material-werthafte, das dezisionistische etc. 714 -, sei hier der umgekehrte Weg gewählt: Auf dem Hintergrund des Materials der Verfassungstexte der Entwicklungsländer sei nach deren spezifischem Verfassungsverständnis, nach dem "Geist und Stil" ihrer Verfassungen gefragt. Stichwortartig läßt es sich wie folgt kennzeichnen: Die Entwicklungsländer wählen textlich gerne Klauseln, die einzeln und zusammengenommen ihre nationale Identität geschrieben absichern, um nicht zu sagen begründen - nach innen zur Überwindung von Stammes- oder anderen Gegensätzen, nach außen zur Selbstbehauptung gegenüber Nachbarn in nah und fern. Ihre Verfassungen sind insofern schon textlich intensivere kulturelle Identitätsdokumente als die klassischen Verfassungstexte, in denen das "Selbstverständliche", weil historisch geworden, vor und hinter, über oder unter den Texten ungeschrieben mitgedacht ist. A l l dies zeigt sich etwa in den meist überaus werthaltigen Präambeln, in anderen Grundwerte-Artikeln, in den Symbol-Normen - sie sprechen das Emotionale der Menschen an - und vor allem im Kulturverfassungs715
recht (kulturelles Erbe-Klauseln)
.
714 Dazu P. Häberle, Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, eine vergleichende Typologie, FS Häfelin, 1989, S. 225 ff.; ders., Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS Schindler, 1989, S. 701 ff. Zum Ganzen oben VII. 715 Beispiele: Art. 58 Verf. Guatemala: "Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche an".- Präambel Verf. Guatemala: "... wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an...".- Art. 61 Verf. Guatemala: "Schutz des kulturellen Erbes". S. auch ebd. Art. 60.- Art. 36 (alte) Verf. Peru: "Die zum Kulturbesitz der Nation erklärten archäologischen Fundorte und Überreste, Bauten und Monumente, Kunstgegenstände und Zeugnisse von historischem Wert stehen unter dem Schutz des Staates".- Art. 85 Verf. Peru: Flagge, Wappen und Nationalhymne als "Symbole des Vaterlandes".- Präambel Venezuela (1961): "...and preserving an in creasing the moral and historical
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die Häufung der Aufgaben-Normen (auch Schutz-) und Entwicklungsartikel ist eine weitere Eigenart. Sie läßt sich gut erklären: Da diese Länder eine große "Entwicklungsstrecke" vor sich wissen, da sie die Wirklichkeit intensiv gestalten müssen und wollen, normieren sie Verfassungsartikel, die eben diesen Funktionen dienen: in um Aufgabendenken erweiterten Grundrechtsgarantien, ausladenden Staatsaufgaben-Artikeln, differenzierten Schutznormen, Entwicklungs-Artikeln der unterschiedlichsten Art (z.B. grundrechtliche Teilhabe), Programm-Artikeln. Die Wirklichkeit soll buchstäblich "verbessert" werden, die Verfassung ist das wesentliche Instrument hierfür, ihre steuernde Kraft wird eher über- als unterschätzt. Sie ist als "normativer Strukturplan für die Rechtsgestalt des Gemeinwesens" (A. Hollerbach) konzipiert, wobei das Element des Planes mitunter zu stark, das der politischen Gestaltungsfreiheit zu wenig beleuchtet wird. Die Verfassung als politisches Gestaltungsinstrument zu verstehen, vielleicht auch ein zu großer Glaube an die Machbarkeit der Dinge prägen Geist und Stil, Formen und Inhalte der Entwicklungsländer-Verfassungen. Das erklärt sich gewiß auch aus dem Nachholbedarf, den sie im Wettbewerb und Vergleich mit entwicklten Staaten haben und vielleicht sogar noch überschätzen. Es sollte indes Aufgabe der Verfassungslehre sein, an die Kosten und Gefahren zu erinnern, die in der Überschätzung der Verfassungen und ihrer Texte (quantitative und qualitative Überladung) und in der Vernachlässigung ihrer auch grenzziehenden und beschränkenden Funktionen liegen. Verfassungen sind auch Schranke - bei aller Aufgabenstruktur, sie sollten auch im Formalen bleiben, bei allen werthaften Anreicherungen. Wenn manche Entwicklungsländer in neueren Verfassungsdokumenten den Weg fortsetzen, den etwa das entwickelte Portugal von 1976/92 geht, so ist daran zu erinnern, daß eben dieses Portugal in manchen Problembereichen (etwa bei den Staatsaufgaben) seiner Verfassung zu viel aufbürdet. Die Verfassung Brasilien (1988) etwa ist ein jüngeres extremes Beispiel, das insofern Kritik verdient. Der Nachahmungseffekt, die Vorbildwirkung der entwickelten Verfas..
sungsstaaten auf die Länder in Ubersee
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ist nur das eine. Die Verfassungs-
patrimony of the Nation...".- Art. 81 Verf. Paraguay (1992): "About the cultural Heritage".· Art. 63 Verf. Paraguay: "Ethnic identity"; Präambel Verf. Gabun (1994): "Erbe". 716 Fragestellungen und einige Antworten zur Rezeptionsproblematik speziell am Beispiel Afrikas bei W. Heidelberg, Die Dualität zwischen traditionellem afrikanischen Recht und rezipiertem Europäischen Recht, VRÜ 1 (1968), S.354 ff. Rezeptionstheoretische Überlegungen unter dem Stichwort "Dualismus der Wertordnung" (Übernahme europäischer Modelle, aber auch Gemeinsamkeiten aus französischer und afrikanischer Kultur) bei A. Bleckmann, Afrika und das Völkerrecht, Jahrbuch für Afrikanisches Recht 3 (1982), S. 29 (42 f.). S. auch D. Berg-Schlosser, Demokratisierung in Afrika, VRÜ 27 (1994), S. 287 ff.; M. Seck, Plädoyer für eine Erziehung auf dem Gebiet der
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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lehre sollte die Entwicklungsländer daran erinnern, daß die spezifische Lage (Herb. Krüger) 717 , in der sich diese Länder befinden, ein eigenes Verfassungsverständnis fordert. Hier wie dort sind "reine" und absolute Lösungen fragwürdig. Das kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis, bisher für die "alten" Verfassungsstaaten entwickelt, ist für die Entwicklungsländer fortzuschreiben. Es liefert auch die Instrumente und Verfahren, Methoden und Inhalte hierfür. So mag das rhetorisch-symbolische Element in EntwicklungsländerVerfassungen seinen guten Sinn haben: Da die Menschen in Übersee damit mehr zu "packen" sind als im "aufgeklärten Westen", in dessen Verfassungen das Juristisch-Dogmatische, Rationale stärker im Vordergrund stehen darf. So mögen Bekenntnis-Artikel in den Entwicklungsländern (noch) durchweg mehr Sinn haben und machen als in den Verfassungen der westlichen Demokratien, die sich in einem zeitlich "anderen" Kulturzustand befinden. So dürfen Erziehungsaufgaben und Ziele etwa im Blick auf die Menschenrechte (vgl. Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru, Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala) mehr betont werden als sonst. Da vieles noch nicht erreicht ist, darf die programmatische Seite und Funktion in den einzelnen Verfassungsnormen stärker ausgeprägt sein als in "entwickelten" Verfassungsstaaten, die aber ihrerseits auf das notwendige "Utopiequantum" nicht ganz verzichten sollten 718 . M.a.W.: Das kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis sollte den Entwicklungsländern Mut machen, sich zu ihrer "Ungleichzeitigkeit" im Verhältnis zu den "klassischen" Verfassungsstaaten zu bekennen 719 . Ihre Verfas-
Menschenrechte in Afrika, EuGRZ 1990, S. 311 ff.; I. Nguéma, Perspektiven der Menschenrechte in Afrika, EuGRZ 1990, S. 301 ff. 7.7 Zu den "Lagen": Herb. Krüger, Verfassung und Recht in Übersee, VRÜ 1 (1968), S. 3 (7); ders., Stand und Selbstverständnis der Verfassungsvergleichung heute, VRÜ 5 (1972), S. 5 (28); ders., Zur Bestimmung des geistesgeschichtlichen Standorts von Staatstheorien, VRÜ 7 (1974), S. 55 (56 f.); ders., Die Kunst der Verfassunggebung, VRÜ 7 (1974), S. 233 (244 f.).- Daß die die Staaten "in Übersee" vergleichend einbeziehende Verfassungslehre auch für neue Phänomene wie einen der Verfassung vorgeschalteten "constitutional contract" offen sein muß, läßt Herb. Krüger erkennen in seiner Besprechung eines Buches über Malaysia: VRÜ 11 (1978), S. 113 ff., bes. 115.Ein Grundsatzproblem der Entwicklungsländer vertieft: J.H. Wolff, Demokratie, Armut und Entwicklung: ein Überblick, VRÜ 24 (1991), S. 393 ff. S. auch M. Bohnert, Regierungsberatung in Entwicklungsländern, Der Staat 27 (1988), S. 57 ff. 7.8 Dazu P. Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, Ged.Schrift für W. Martens, 1987, S. 73 (82) sowie Fünfter Teil XI Ziff. 5. 719 Der Gedanke der "Ungleichzeitigkeit" ist nicht nur im Verhältnis der Entwicklungsländer zu "alten" Staaten sowie der Entwicklungsländer untereinander fruchtbar, er ist auch für das Nebeneinander von gliedstaatlichen Verfassungen in einzelnen Bundesstaaten einschlägig (dazu meine Überlegungen zu den Schweizer Kantonsverfassungen, in: JöR 34 (1985), S. 303 (339); aufgegriffen etwa von G. Schmid, Die Bedeutung
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sungstexte dürfen eigen, in vielem anders sein, weil ihre Kultur eine spezifische und andere ist! Eine egalisierende Einebnung in die westlichen Zivilisationen könnte sie um ihren Selbststand bringen - darum hat die Verfassung die spezifische Aufgabe individueller Profilierung. Das Verständnis der Verfassung als Kulturzustand erlaubt, ja fordert eine solche individualisierende Betrachtung des Typus "Entwicklungsländer-Verfassung" 720. Insbesondere: Entwicklungsstrukturen neuer verfassungsstaatlicher
und -funktionen im Textbild Entwicklungsländer
Die Entwicklungsländer, die in ihren Verfassungen an die klassischen Verfassungsstaaten anknüpfen (also den sozialistischen Staatstypus verwerfen), gehen in ihren Texten vielgestaltig auf ihre spezifische "Lage" (Herb. Krüger) ein, etwa in Form von Staatsaufgaben-Artikeln, ihrer vielerlei kulturellen Identitäts- bzw. -Erbe-Klauseln, ihrer verfassungs- und Menschenrechtsorientierten Erziehungsziele und in ihrem Arbeits- und Wirtschaftsverfassungsrecht. Sie haben aber einen Normaltypus geschaffen, der ihre Eigenart, bei aller Zugehörigkeit zum Typus Verfassungsstaat, besonders klar zum Ausdruck bringt: die Entwicklungs-Klauseln. In Stichworten sei eine "kleine Typologie" vorgeführt. Eine Normvariante spricht ausdrücklich von "Unterentwicklung", die beseitigt werden müsse (so Präambel alte Verf. Peru). Diese Umschreibung vom Negativen her findet sich aber, sozialpsychologisch verständlich, selten. Allgemeiner begegnet der Entwicklungsgedanke in der positiven Textwendung (des Art. 86 Verf. Peru) zur Anerkennung der katholischen Kirche als "bedeutendem Bestandteil in der historischen, kulturellen und moralischen Entwicklung Perus", und spezieller ist von der vom Staat voranzutreibenden "wirtschaftlichen Entwicklung" (Art. 119, s. auch Art. 120 Abs. 1 S. 1 Verf. Peru) die Rede. Eine neue Synthese gelingt dem Verfassunggeber in Art. 123 Abs. 1 Verf. Peru: "Alle haben das Recht, in einer gesunden, ökologisch ausgeglichenen und der Entwicklung des Lebens ... angemessenen Umwelt zu leben". Der staatliche Förderungsauftrag in bezug auf die "umfassende Entwicklung der Bauern- und Eingeborenengemeinschaften" (Art. 162 S. 1 Verf. Peru) verbindet Wirtschaftliches mit Kulturellem. Prägnant sind zwei Entwick-
gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 92 (insbes. 115)). 720 Zur "Aufdeckung von Familien" als legitimem Ziel überseeischer Verfassungsvergleichung: Herb. Krüger, Stand und Selbstverständnis der Verfassungsvergleichung heute, VRÜ 5 (1972), S. 5 (27).
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lungs-Artikel in Guatemala. Der eine steht im Kontext kultureller Staatsaufgaben: Art. 80 S. 1 Verf. Guatemala: "Der Staat anerkennt und fördert die Wissenschaft und die Technik als grundlegende Notwendigkeit der nationalen Entwicklung"; der andere findet sich im Gewand einer Bürgerpflicht (Art. 135 lit. c ebd.): "Für die Entwicklung des Volkes zu arbeiten, für die kulturelle, moralische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Guatemalteken"721. Solche Entwicklungs-Klauseln nehmen den Staatszweck der Entwicklungsländer, eben die "Entwicklung", in die Verfassungstexte hinein und damit auch eine große Dynamik, um nicht zu sagen "Druck" auf allen Feldern der Wirtschaft und Kultur. Klassisch formuliert bildet das Fortschreiten von der Unterentwicklung zum entwickelten Verfassungsstaat den "Gemeinwohlgrund' der Verfassungsstaaten etwa in Lateinamerika. So sehr auch die klassischen Verfassungsstaaten sich "in der Zeit unterwegs" wissen und Entwicklungsaspekte in ihren Textbildern kennen 722 , die Entwicklungsländer befinden sich in einer besonderen Dynamik. Der Verfassunggeber hat entsprechend "reagiert" und er "agiert" auch: Er erwartet viel von der Steuerungskraft seiner Normen, und er überschätzt sie wohl auch mitunter. Überdies besteht die Gefahr, durch zu viel "Entwicklungsverfassungsrecht" den Plancharakter von Verfassungen überzubetonen. In offenen Gesellschaften darf er jedoch nur ein Element im Rahmen eines "gemischten Verfassungsverständnisses" sein 723 7 2 4 . Die Einbeziehung (nicht Ausgrenzung) der lateinamerikanischen und francophonen Entwicklungsländer in die Verfassungslehre ist kein nur "platonischer" Versuch, das Ernstnehmen ihrer Verfassungstexte gleicht keiner "semantischen Spielerei". Mag die Realität in Übersee nicht selten hinter den Texten herhinken: Die Verfassungstexte der "fernen Länder" sind den unseren oft voraus - Konsequenz der weltumspannenden offenen Informationsgesellschaft, Ausdruck aber auch der spezifisch legitimierenden Kraft von Verfassungstexten des Typus Verfassungsstaat. Der Verfassungsstaat erweist sich als 721 Auch in Verf. Brasilien finden sich Entwicklungs-Artikel (z.B. Art. 3 Ziff. II: "Sicherung der nationalen Entwicklung", Art. 174 § 1: "Planung der ausgewogenen nationalen Entwicklung").- Vorbildlich Art. 74 Abs. 1 Verf. Paraguay (1992): "The right to leam and to have equal access opportunities to the benefits of humanistic culture..."; Art. 1 Verf. Gabun (1994): "Recht auf Entwicklung ...". 722 Dazu mein erwähnter Beitrag in: FS Häfelin, 1989, S. 225 (250 f.) sowie Vierter Teil VI und VII. 723 Dazu mein Beitrag: Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS Schindler, 1989, S. 701 ff. S. schon oben VII Ziff. 3. 724 Es ist eine von einem einzelnen Autor kaum zu leistende, im ganzen aber unverzichtbare Aufgabe in der Zukunft, den Besonderen Teil im Laufe der Zeit mit der konkreten Empirie der Entwicklungsländer anzureichern, auch zu überprüfen.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
universales Projekt der Menschheit 725, zumal angesichts der Reformen in Osteuropa füglich von einer "Weltstunde des Verfassungsstaates" gesprochen werden darf. In Umrissen wird eine "Weltfamilie der Verfassungsstaaten" sichtbar, Ausdruck der universalen Verantwortungs- und Legitimationszusammenhänge nicht nur in Sachen Umwelt und Wirtschaft. Die Idee eines "Menschenrechts auf allgemeine Wahlen" - Anfang Februar 1990 von den USA im Blick auf die KSZE (heute: OSZE)-Konferenz formuliert - ist ein Baustein in diesem Ganzen. So wie jede Nation ihre spezifischen Varianten im Rahmen des Typus Verfassungsstaat entwickelt, so dürften auch die Entwicklungsländer im ganzen, aber auch je für sich auf eigenen Wegen zu eigenen Formen der Verfassungsstaatlichkeit kommen - als Teil ihrer kulturellen Identität. Die Lehre vom Verfassungsstaat sollte insofern von jedem selbstgerechten offenen oder versteckten "Eurozentrismus" Abschied nehmen. A l l dies schließt nicht aus, Defizite und Abirrungen in der Verfassungsentwicklung der Länder in Übersee beim Namen zu nennen (etwa den Einparteienstaat), doch muß Raum bleiben für das Eigene der Entwicklungsländer als Verfassungsstaaten. Viele ihrer Elemente mögen zunächst einmal buchstäblich für uns "Export-Artikel" sein, sie können in produktiven Rezeptionsprozessen indes unversehens zur "Importware" für Europa werden. Die Verfassungslehre als juristische Textund Kulturwissenschaft bliebe jedenfalls verarmt, bezöge man ihre Bewährungschance und die Wirkungsmöglichkeiten ihres Gegenstandes, den Verfassungsstaat in Übersee, nicht in beide Richtungen ein: einem Herb. Krüger gebührt das letzte Wort 7 2 6 .
725 Daß man bei all diesen Prozessen einen langen Atem braucht, mag das Beispiel Deutschland zeigen: Die Paulskirche von 1849 hat vieles von Belgiens Verfassung von 1831 rezipiert, es dauerte aber noch lange, bis diese Verfassungsideen Verfassungswirklichkeit wurden: im Wege einfacher Reichs- und Landesgesetze in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der WRV von 1919 und schließlich im GG von 1949. Zunächst aber war es ein unbestreitbarer Fortschritt, daß bestimmte 1849-Texte in die "Welt Deutschlands" gesetzt waren, gleichsam in Texten objektiviert und vom kollektiven Gedächtnis aktualisierbar "aufgehoben" wurden. Geduldig muß man auch bei den Entwicklungsländern sein, so sehr sich die Geschichte beschleunigt hat. 726 Vgl. sein "erstes Wort": Das Programm "Verfassung und Recht in Übersee", in: VRÜ 1 (1968), S. 3 ff.- So hat bereits Herb. Krüger die Erkenntnis formuliert, daß "insbesondere auch Staats- und Rechtswissenschaft in eine weltweite Kommunikation treten" (in seinem Programm: Verfassung und Recht in Übersee, VRÜ 1 (1968), S. 3 (7). Den Klassikertext lieferte Herb. Krüger, Verfassung und Recht in Übersee, VRÜ 1 (1968), S. 3 (9): "Verfassungsvergleichung dient nicht zuletzt den Zwecken der Selbstkritik, und zwar auch der Selbstkritik der Anbieter von zu rezipierendem Geistesgut". S. auch ebd. S. 20 (im Blick auf "Übersee"): "Hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als eine kritische Sicht des klassischen westlichen Modells selbst, und zwar nicht nur um der neuen, sondern vor allem auch um der alten Staaten willen". Umrisse einer
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8. Rezeptionen als Vehikel der Entwicklung des Verfassungsstaates a) Rechtsrezeptionen als Ausschnitt aus allgemeinen kulturellen Rezeptionsvorgängen Rezeptionen wurden in den bisherigen Abschnitten immer wieder berührt, fällig wird jetzt eine Grundsatzbehandlung. Die Rezeption von Recht ist nur ein Teilvorgang in dem sehr viel allgemeineren Vorgang der Übernahme von Kultur. Erinnern wir uns der Beispiele bestimmter "Renaissancen" in der Geschichte Europas ganz allgemein, aber auch der Rezeption von Kunstwerken einzelner oder ganzer Schulen (etwa Michelangelos oder Rembrandts), auch der Aufführungspraxis und "Interpretationsgeschichte": z.B. der Mozartoper "Don Giovanni" oder der späten Quartette Beethovens, des Goethe'schen "Faust" oder der Werke von Thomas Mann, der Philosophie eines I. Kant oder aus unseren Tagen der von J. Rawls. Was sich in der Geschichte von "Weltkultur", "Weltliteratur" allgemein nachweisen läßt, besitzt auf dem Felde des Rechts nur ein besonderes Anwendungsfeld. Auch das Stichwort "Recht als Kulturerscheinung" 727 legt es nahe, den Vorgang der Rezeption von Recht auf der Ebene der Kultur zu verallgemeinern. Das schließt Besonderheiten der von der Rechtswissenschaft in bezug auf ihre autonomen Verfahren und Inhalte zu erarbeitenden Rezeptionsvorgänge nicht aus, bettet aber das Recht zugleich in übergreifende kulturelle Vorgänge ein, in die es je immer schon gehört. Die Rechtswissenschaften können ganz allgemein berühmte Beispiele für Rezeptionen nennen: die Rezeption des Römischen Rechts im Europa der beginnenden Neuzeit, der Siegeszug der US-Federalist Papers in Sachen Bundesstaat in Alteuropa (Schweiz: 1848, Deutschlands Paulskirche: 1849), zuvor die Erfolgsgeschichte geschriebener Menschenrechtskataloge von 1776 über 1789 und 1831 (Belgien) bis in unsere Tage, die Rezeption deutschen Rechts in
"Kunstlehre der Verfassunggebung", die auch die neuen Nationen in Ubersee einbezieht, finden sich bei Herb. Krüger, Die Kunst der Verfassunggebung, VRÜ 7 (1974), S. 233 ff., bes. S. 234, 238, 244 f.). Eine Theorie der (überseeischen Verfassungs-) Vergleichung umreißt Herb. Krüger in den drei Stichworten "Vergleichbarkeit, Gegenstände der Vergleichung, Ziel der Vergleichung" in seinem Aufsatz "Stand und Selbstverständnis der Verfassungsvergleichung heute": VRÜ 5 (1972), S. 5 (20 ff, 23 ff). 727 H. Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 131 ff.- Zu H. R. Jauß literaturwissenschaftlicher Rezeptionstheorie als Anregung für die Rechtswissenschaft: mein Beitrag, Staatsrechtslehre als universale Jurisprudenz, in: ZevKR 26 (1981), S. 105 (108 ff.).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Japan und Korea 728 . Die Ausstrahlungswirkung der französischen Code civil und code penal ist bekannt, und der heute fast weltweit zu beobachtende Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit vollzieht sich vor aller Augen. Aus der ganzen Breite der Rechtswissenschaften, deren Inhalte, Akteure und Verfahren in den einzelnen Rechtsgebieten sich immer wieder durch Rezeptionsvorgänge auszeichnen, sei hier nur die Verfassungslehre näher betrachtet. In der heutigen "Weltstunde" des Verfassungsstaates ist sie besonders gefordert, und ihr Verständnis als Kulturwissenschaft gibt ihr eine Breite und vielleicht auch Tiefe, die sie nur allzu konsequent auf die Vorgänge, Verfahren, Beteiligten und Inhalte von Rezeptionen - und die ihnen vorausgehenden "Produktionen" - verweist. b) Verfassungslehre
als Erfahrungswissenschaft
Die hier entfalteten Theorieelemente eines juristischen Rezeptionsmodells bringen an den Tag, daß nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern auch die Verfassungslehre die Dimension einer Erfahrungswissenschaft besitzt. Mögen Verfassungen noch so sehr Offenheit wollen, Zukunftsentwürfe umreißen, Neues wagen und Neuland erkunden wollen: mindestens gleichermaßen sind sie Verarbeitung von Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden, sei es in der eigenen nationalen Geschichte, sei es in der der benachbarten Verfassungsstaaten und besonders der in Europa gelegenen. Manche Verfassungen sind sich ihrer erfahrungswissenschaftlichen Dimension bewußt, indem sie ausdrücklich auf Erfahrungen bzw. das "kulturelle Erbe" Bezug nehmen 729 oder ausdrückliche Rezeptionen durchführen (z.B. Art. 140 GG) - sie können aber auch nur der Sache nach Erfahrungen vor allem negativer Art verarbeiten, z.B. "wegen Weimar" nicht das destruktive, sondern das "konstruktive Mißtrauensvotum" (Art. 67 GG) normieren. Für jeden Verfassunggeber liegt es nahe, seinen Erfahrungshorizont zu erweitern und von den Erfahrungen anderer Verfassungsstaaten aus Geschichte und Gegenwart zu "lernen": und darum und insoweit kommt es zu Rezeptionen. Verfassungslehre stellt sich damit als ein Stück Rezeptions- bzw. Erfahrungswissenschaft dar. Die Poppersche Theorie von der "Stückwerk-Reform" liefert den philosophischen Hintergrund. Die 728
Vgl. J.H. Seok, Die Rezeption des deutschen Verwaltungsrechts in Korea, 1991. Weiteres in dem von R. Pitschas hrsgg. Band (Deutsch-Koreanische Tagung in Speyer, 1995), 1997 i.E.- Zur Türkei: H. Scholler/S. Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei, 70 Jahre nach der Gründung, 1996. 729 Zu "kulturelles Erbe-Klauseln" mein Beitrag Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, eine vergleichende Typologie, in: FS Häfelin, 1989, S. 225 (237 f.) sowie oben VII Ziff2.
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Frage nach dem, was sich für den Typus Verfassungsstaat bewährt hat und darum bewahrt oder behutsam fortgeschrieben wird, läßt klar werden, wie sehr die Verfassungslehre sich selbst in dieser erfahrungswissenschaftlichen Dimension begreifen muß. Das Anknüpfen an positive oder negative Erfahrungen anderer mit ihren verfassungsstaatlichen Texten, Richtersprüchen, Wissenschaft und Staatspraxis, d.h. die Rezeption dieser Inhalte erweist sich damit als ebenso normaler wie unverzichtbarer Vorgang. Dies ist keine Überraschung für den, der an das Menschsein anknüpft. Der Mensch lebt auch aus Vergangenem, aus seinen Erfahrungen, auch "Wunden", er speichert sie in seinem Denken und Handeln. Der Typus Verfassungsstaat und seine Wissenschaft, die Verfassungslehre, knüpfen also nur an diese kulturanthropologische Vorgabe an, wenn sie Erfahrungen aufnehmen und im Rechtssystem verarbeiten. Recht als Kultur meint auch Recht als Ausdruck von geronnenen Erfahrungen (vgl. schon Vierter Teil V Ziff. 2 a). c) Ursachen, Hintergründe
und Bedingungen für Rezeptionen
Die Fülle des Beispielmaterials für Rezeptionen allein auf dem Gebiet des Verfassungsrechts legt die allgemeine Frage nach den Ursachen, Hintergründen und Bedingungen für Rezeptionen nahe. Hier eine vorläufige Antwort: In den Verfassungsstaaten von heute besteht ein großer Regelungsbedarf, der Problem· und Zeitdruck für Verfassunggeber, Verfassungsrichter, Staatsrechtslehre, aber auch die Staatspraxis ganz allgemein ist groß. Werden Defizite als solche empfunden, sucht man nach Problemlösungsmodellen. Hinzukommt, daß die eine Welt von heute immer mehr zusammenrückt, dank der intensivierten Kommunikationsmöglichkeiten, aber auch dank globaler Probleme, die für alle analog sind (z.B. Umwelt und Technik). So liegt es nahe, daß man sich bei "anderen" umsieht und aus Gründen der Ersparung von Zeit und Arbeit, allgemein wegen der Knappheit von Ressourcen sich deren frühere Leistungen nutzbar macht. So kommt es zur Übernahme von (zunächst) "Fremdem", eben zu Rezeptionen. Möglich ist die suggestive Vorbildwirkung des anderen; die Bewegungen des "Zeitgeistes", auch "Moden" sind nicht ausgeschlossen. Historisch läßt sich so etwas wie die "Stunde der Rezeptionen" nachweisen. Nicht immer sind die Bedingungen etwa für Reformen nach Maßgabe ausländischer Vorbilder gleichermaßen günstig. d) Rezeptionen als schöpferische Re-Produktionen Bisher wurde der im Deutschen geläufige Begriff der "Rezeption" verwendet, ohne zu fragen, ob er dem sich bei und nach der Übernahme eines Verfassungstextes, verfassungsrichterlichen Urteils, einer wissenschaftlichen Lehr-
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
meinung oder eines Vorgangs der Staatspraxis ablaufenden Vorgang ganz gerecht wird. "Rezeption" legt, jedenfalls sprachlich, prima facie nahe, daß der schöpferischen, aktiven - Produktion dort ein passiver, allenfalls "nachschöpferischer" Prozeß, eben die Rezeption hier nachfolgt. Das gibt indes den Integrations« und Assimilitationskräften des "nehmenden" Teils in der Familie der Verfassungsstaaten zu wenig. Sie müssen das Übernommene, "Fremde" ja buchstäblich in die eigene Rechtsordnung, in das Gesamtsystem der Verfassung einordnen, es zum eigenen "Besitz" machen, um es so zu "erwerben" - um ein Dichterwort zu variieren. Was oft als bloße passive Rezeption erscheint, ist näher und "im Laufe der Zeit" betrachtet ein sehr kreativer Vorgang - und er muß dies auch sein. Theoretisch läßt sich die Totalrezeption von der PartialRezeption unterscheiden. Praktisch wird es sich kaum je um die komplette "Kopie" eines Ganzen handeln, denn der einzelne Nehmer-Verfassungsstaat wird, um sein eigene Identität nicht zu verlieren, von vornherein nur Teilstücke rezipieren und auch diese primär "aus Eigenem" fortschreiben. Mehrere Gründe legen es nahe, die Rezeption von vornherein eher als schöpferische Re-Produktion zu verstehen. Einschlägig wird die These vom neuen kulturellen Kontext, in den das Fremde hineingenommen wird. Jeder einzelne Verfassungsstaat ist ein individuell geprägtes Ganzes, in das der rezipierte Gegenstand hineinwächst, d.h. in dem er sich anpaßt. So kann derselbe Verfassungstext, etwa ein einzelnes Grundrecht, von Verfassungsstaat zu Verfassungsstaat verschiedene Inhalte haben. Die Selbstachtung gebietet es jedem Verfassungsstaat, möglichst nur an Einzelheiten, nie an ein Ganzes des Geberlandes anzuknüpfen. Nach-"5/Ww«g", nicht sklavische Nach ahmung ist angezeigt. Schließlich: Schon beim Rezeptionsvorgang konkurrieren sehr oft verschiedene Vorbilder miteinander, oft kommt es dann zu Kompromissen. So lassen sich etwa bei der Ausarbeitung der spanischen Verfassung von 1978 teils deutsche, teils italienische Einflüsse nachweisen 730 . So hat die de GaulleVerfassung von 1958 nur punktuell an das deutsche GG angeknüpft, etwa bei ihrem Parteienartikel (Art. 4 7 3 1 ). Diese Konkurrenzsituation ist Ausdruck der offenen Gesellschaftsstruktur des heutigen Verfassungsstaates, der europa- und weltweit offenen Familie der Verfassungsstaaten. Das Angebot der Gebenden ist vielseitig, nicht monopolisiert; die verschiedenen Kräfte und Schulen, die etwa die nationale Verfassunggebung beeinflussen oder Ratgeber spielen, sind
730
Dazu P. Cruz Villalón , Landesbericht Spanien, in: C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1990, S. 193 (199 f.). 731 Dazu M. Fromont, Landesbericht Frankreich, in: C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1989, S. 101 (109 f.).- Eine Variante: Art. 5 Verf. Benin (1990).
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es auch ("pluralistische Rechtsquellentheorie"). Es kommt zu fruchtbaren Kompromissen. Es entwickeln sich Misch-Rechte. Auch darum sind aufs Ganze der Verfassung gesehen Rezeptionen immer Teilrezeptionen, was ihrerseits zu schöpferischen Reproduktionen zwingt. Zuletzt sei der Zeitfaktor erwähnt. Mag im Augenblick der Text-, Urteilsoder Wissenschaftsrezeption der "fremde" Inhalt vorherrschen: im Laufe der Zeit wächst der rezipierte Gegenstand in das eigene Koordinatensystem des nehmenden Verfassungsstaates hinein: dessen Verfassungskultur, dessen Interpreten beeinflussen das "Übernommene". Es wird zum integrierenden Bestandteil der neuen kulturellen Ambiance. Es entfernt sich vom "gebenden" Verfassungsstaat und gewinnt eigenes Profil, Selbststand. Die Aneignungsprozesse erweisen sich als schöpferisch. Der hier in die juristische Rezeptionstheorie integrierte Aspekt des Kontextes 732 ist zentral. Er meint das komplexe Ensemble, das mit dem Begriff "Verfassungskultur" umschrieben wird. Dazu gehören zunächst ihrerseits die Texte des rezipierenden Verfassungsstaates, die den fremden Text nach Maßgabe der "Einheit der (d.h. ihrer) Verfassung" umformen; hinzu gehört Ungeschriebenes, das sich aus geschichtlichen Erfahrungen, aus dem geistigen Umfeld, aus den spezifisch nationalen gesellschaftlichen Bedingungen ergibt. Die KontextThese erweist sich so als ein Schlüsselbegriff der Rezeptions- bzw. Reproduktionsvorgänge 733 . Anders formuliert: Über die Kontext-These läßt sich der aktive Vorgang einfangen, der auf den zunächst nur passiven Vorgang der Rezeption (von Texten, Lehre oder Rechtsprechung) folgt. Daher ist das Wort von der Re-Produktion zu bevorzugen. e) Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung Die erwähnten Prozesse vollziehen sich nicht von selbst. Erforderlich ist, daß die Rezipienten (besser: Akteure) in den Rezeptionsverfahren offen und
732
Dazu P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff: "Die Kontextthese". S. auch Vierter Teil III: "Verfassungskultur". 733 Von "Kontext" spricht auch C Starck, in: ders., (Hrsg.), Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungentwicklung, 1990, S. 14 ("Fragenkatalog"); H. Schäffer, ebd. Landesbericht Österreich, S. 41 (80 ff.), spricht treffend vom "historischen", "gesellschaftlich-politischen" und "normativen Umfeld"; Ρ Cruz Villalón , ebd. S. 193 (219 ff.), spricht anschaulich von "Verarbeitung und Umformung der übernommenen Institute" (historische Erfahrungen, Verfassungssystem, gesellschaftlich-politische Bedingungen). Eine Argumentation aus dem "historischen Kontext" auch bei A. Morita, Bericht Japan, in: U. Battis u.a. (Hrsg.), aaO., S. 189 ff. Zum Ganzen schon Fünfter Teil IV.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sensibel "Ausschau" halten: indem sie das Typisch und Individuell-Eigene des im engeren oder weiteren Sinne "benachbarten" Verfassungsstaates beobachten und verarbeiten - "erwerben, um es zu besitzen". Dabei entsteht dann oder bestätigt sich "gemeineuropäisches Verfassungsrecht" oder weiter ausgreifend gemeineuropäisch/atlantisches Verfassungsrecht, z.T. auch nur "verwandtes" Recht. Rezeptionsprozesse verlangen M.a.W. Rechtsvergleichung, die freilich nur als Kulturvergleichung gelingen kann. Die Rezipienten arbeiten - im Vergleichen - teils rechtspolitisch (etwa der Verfassunggeber, auch der Gesetzgeber), teils interpretatorisch, so fließend die Grenzen sein können: beim Auslegen durch die Verfassungsrichter oder die Verfassungsrechtslehre; darum kommt heute, im Kraftfeld des Verfassungsstaates der Rechtsvergleichung der Rang einer "fünften" Auslegungsmethode zu 7 3 4 . f) Theorieraster
eines juristischen Rezeptionsmodells
Das Theorieraster einer kulturwissenschaftlich ansetzenden juristischen Rezeptionstheorie sei im folgenden mit prägnantem Beispielsmaterial aus den europäischen Verfassungsstaaten angereichert, wobei da und dort sowohl die jüngst in Ostdeutschland entstandenen Länderverfassungen als auch die Verfassungsbewegungen in Osteuropa einbezogen werden: sie reifen im Kraftfeld des Typus Verfassungsstaat in ganz Europa heran, und sie entwickeln ihn i.S. des Textstufenparadigmas weiter 735 . Eine theoretische Zweiteilung ist jedoch vorweg geboten: der Unterschied zwischen den Rezeptionswegen und -verfahren, bzw. zwischen den Akteuren bzw. Rezipienten einerseits (sie reichen vom Verfassunggeber bis zum verfassungsrichterlichen Sondervotum und alten oder neuen wissenschaftlichen Klassikern) und den Rezeptionsgegenständen bzw. inhalten andererseits (sie beziehen sich auf alle wichtigen Themen und Inhalte des Typus Verfassungsstaat, auch auf einzelne nationale Varianten und erstrecken sich von den Präambeln bis hin zu Föderalismus bzw. Regionalismus Strukturen und Einzelelementen des "Staatskirchenrechts" als Kulturverfassungsrecht). Diese Inhalte können die Form von Texten, Theorien, Urteilen oder Staatspraxis haben.
734 Dazu erstmals mein Beitrag Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff, auch in: A. Lopez Pina , La garantia constitucional de los derechos fundamentales, 1991, S. 260 ff. 735 Dazu P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff. Zum Ganzen auch Fünfter Teil VI.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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(1) Rezeptionswege und -verfahren, die Unterscheidung von "Überkreuzrezeptionen" und Mehrfachrezeptionen Aufgeschlüsselt seien die verfassungsrechtlichen Wege und Verfahren, in denen das vom einen, dem gebenden Verfassungsstaat, Hervorgebrachte vom anderen (nicht notwendig direkt benachbarten) Verfassungsstaat rezipiert wird. Auf beiden Seiten der gemeineuropäischen Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat stehen sich grundsätzlich dieselben Akteure gegenüber: etwa die jeweiligen Verfassunggeber oder die jeweilige nationale Staatsrechtslehre oder Richterschaft. Im einzelnen lassen sich folgende Rezeptionswege und -verfahren kataloganig unterscheiden, in denen das andernorts (in Text- oder Interpretationsgestalt) Geschaffene aufgenommen wird: 1. Verfassunggebung (in der Schweiz "Totalrevision") 2. Verfassungsänderung bzw. Teilrevision 3. Gesetzgebung 4. VerfassungsRechtsprechung, einschließlich der europäischen Verfassungsgerichtshöfe EuGH und EGMR 5. Verfassungsrechtslehre 6. Sonstige "Praxis" (z.B. Vertragspraxis der Länder in Bundesstaaten). Doch gibt es nicht selten Modifikationen: zum einen die sog. "Überkreuzrezeption": d.h.: Der Verfassunggeber hier übernimmt, was anderwärts eine verfassungsrichterliche Pionierentscheidung erarbeitet hat. So hat z.B. der verfassungsändernde Gesetzgeber in Bayern ein Urteil des BVerfG in die Textform einer Teilrevision gebracht (Art. l i l a BayVerf.). So hat eine österreichische Verfassungsänderung sich 1974 an der Rechtsprechung des deutschen BVerfG orientiert (in Sachen Rundfünkfreiheit 736 ), auch an der deutschen Staatspraxis 737. So sind etwa wissenschaftliche Klassikertexte wie die grundrechtliche Statuslehre eines G. Jellinek in Europa allenthalben von anderen nationalen Staatsrechtslehren übernommen worden, sie prägen überdies das Urteil manchen Verfassungsgerichts. So hat etwa der EuGH in Luxemburg "ungeschrieben" eine Wesensgehaltgarantie für Grundrechte entwickelt, die dem Verfassungstext von Art. 19 Abs. 2 GG nachgebildet ist 7 3 8 . Ähnliches 736
Dazu H; Schäffer, aaO., in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 41 (49 f., 68 f.). Ders., ebd. S. 49. 738 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 266 ff. m.w.N. 737
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
zeichnet sich in der Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs ab 7 3 9 . So haben Schweizer Kantonsverfassungen im Rahmen ihrer Totalrevisionen den deutschen Wesensgehalttext samt Elementen der Rechtsprechung übernommen 740 , die die Schweizer Staatsrechtslehrer ihrerseits fruchtbar weiter entwickelt haben 741 . Einzelne Urteile des deutschen BVerfG haben in Europa Schule, vielleicht sogar Epoche gemacht: so im Bereich des Fernsehens 742. So ist zu vermuten, daß der französische Conseil Constitutionnel sich bei der Effektivierung der Präambel der Verf. von 1958 im Jahre 1971 von der Rechtsprechung des BVerfG zum Wiedervereinigungsauftrag in der Präambel des GG als normativem Verfassungsauftrag (E 5, 85 (126 ff.)) ermutigt oder doch bestätigt finden konnte (auch von seiner Grundrechtsjudikatur). So wird heute die EMRK als völkervertragsrechtliches Gesetzeswerk (samt der Judikatur des EGMR in Straßburg) in vielen ostdeutschen Landesverfassungsentwürfen und Verfassungen und auch in osteuropäischen Verfassungstexten zur Leitmaxime der Grundrechtskataloge: in Gestalt ausdrücklicher Rezeption oder der Sache nach. So hat die Weimarer Verfassung von 1919 zu einer Zeit, da sie in Deutschland nichts mehr galt, die italienische Verfassunggebung 1946/47 beeinflußt 743 . So hat die italienische Corte Costituzionale in ihrer Rechtsprechung zum Regionalismus schöpferisch an Formen des "kooperativen Föderalismus" angeknüpft, die in vielen Verfassungsstaaten von den USA bis Deutschland entwickelt worden sind, teils rechtstextlich, teils prätorisch und wissenschaftlich 744 . Besonders die jeweils nationalen Staatsrechtslehren produzieren und rezipieren in ihren großen Gestalten wissenschaftliche Paradigmen, sie bilden oft die Vorhut neuer Verfassungsentwicklungen und sie stellen sich in ihren "Klassikern" wie G. Jellinek, M. Hauriou, R. Smend, H. Heller, C. Schmitt 745 , C. Mortati längst als Exponenten der europäischen Rechtswissenschaft dar. 739 Ders., ebd., S. 264 ff; s. auch H. Schäffer, Landesbericht Österreich, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 41 (63). 740 P. Häberle, aaO., S. 258 ff. So jetzt Art. 31 Abs. 3 Verf. Polen (1997). 741 Vgl. etwa J.P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 141 ff, 148 ff, mit der Idee einzelner Fallgruppen zum absoluten Wesensgehaltschutz; s. jetzt die Berner Kantonsverfassung von 1993: Art. 28. 742 Vgl. die Nachweise bei M. Fromont, Landesbericht Frankreich, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 101 (113 f.). 743 Dazu D. Schefold, Bericht Italien, in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos, aaO., S. 69 (73 f.), und P. Ridola , ebd., S. 81 (85 ff.); G. Lombardi , Landesbericht Italien, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 85 (89). 744 Nachweise in P. Ridola , aaO., S. 81 (90), G. Lombardi, in: C. Starck (Hrsg.), aaO. S. 85 (98). 745 Zur Rezeption von H. Heller in Spanien: A. Lopez Pina, in: C. Müller/I. Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, S. 153 ff; zur C. Sc/z/w#-Rezeption in Italien: I.
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Halten wir nach diesen Beispielen kurz inne: Aus der Fülle des Vergleichsmaterials schälen sich zwei besondere Rezeptionsformen heraus: Zum einen läßt sich eine "Überkreuz-Rezeption" beobachten, will sagen: Die Verfahren der Produktion und Rezeptionen entsprechen sich auf beiden Seiten nicht notwendig: sehr unterschiedliche Verfahren und Akteure können beteiligt sein, etwa in Form eines Gebens zwischen Verfassungsrechtsprechung dort, Verfassungsänderung hier. Auch im "Klassiker-Gespräch" beziehen sich die Beteiligten nicht immer nur auf ihresgleichen. Der deutsche Klassiker, der deutsche Jurist als europäischer Jurist lernt nicht nur vom französischen, der spanische nicht nur vom italienischen, er greift naturgemäß auch das Beispielsmaterial und Vorbild des fremden Verfassunggebers oder Verfassungsgerichts auf. Zum anderen läßt sich die "Mehrfachrezeption" beobachten (und differenziert bejahen); das meint: ein späterer Verfassunggeber, etwa der spanische von 1978, knüpft zunächst an die deutsche Wesensgehaltklausel in Art. 19 Abs. 2 GG an (in verständlicher "Zeitverschiebung": "sukzessive Rezeption"); später greift der spanische Verfassungsgerichtshof auch die Judikatur des deutschen BVerfG auf 7 4 6 . Das muß aber nicht so sein. Sehr oft bleibt es bei der Textrezeption. Die spätere Interpretation neigt eher zum "Hausgemachten", Eigenwüchsigen - gemäß der Idee vom integrierenden, modifizierenden kulturellen Kontext 747 . (2) Rezeptionsgegenstände: Elemente des Typus Verfassungsstaat und einzelne nationale Varianten Die bisher aufgeschlüsselten Rezeptionswege und -verfahren sind in einem eher formalen Blickwinkel beim Namen genannt worden, auch wenn sie ihrerseits spezifisch dem Verfassungsstaat zu eigen sind und gerade die Unterschiede zwischen den an den verschiedenen Verfahren Beteiligten (z.B. in Gestalt der Gewaltenteilung) zur Essenz seines Typus gehören. Im folgenden seien indes primär die Inhalte bzw. Materien aufgeführt, die rezipiert werden.
Staff, Staatsdenken im Italien des 20. Jahrhunderts, 1991. R. Smends Verfassung und Verfassungsrecht (1928) wurde 1988 ins Italienische übersetzt (betreut von G. Zagrebeis ky). 746 Dazu: P. Cruz Villalón, Bericht Spanien, in: U. Battis/E.G. Mahrenholz/D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz..., aaO., S. 93 (98 ff.). 747 "Mehrfach-Rezeptionen" können aber auch mehr als zwei Länder verbinden. Sie können Dritt- oder Viertländer ergreifen (z.B. von Italien über Spanien nach Peru "springen") oder sie können regionale Staatenverbindungen als Mittler zwischen zwei oder mehr Verfassungsstaaten haben (z.B. in der EU). Auf die spätere "Rezeptionstypologie" sei verwiesen. 33 Häberle
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Es sind die Elemente des Typus Verfassungsstaat bzw. einzelner nationaler Varianten, und sie reichen von der klassischen Struktur der Präambel bis hin zu Technik und Gestalt von Übergangs- und Schlußvorschriften. Im einzelnen geht es ohne Anspruch auf Vollständigkeit um folgende Gegenstände: (a) Präambeln Präambeln bilden ein zwar nicht unverzichtbares, aber doch sehr charakteristisches Strukturelement des Verfassungsstaates. Ihre klassischen Merkmale sind gerade durch Rezeptionen zu solchen geworden; nämlich einstimmende Feiertagssprache, Verarbeitung von Geschichte und Ausblick in die Zukunft (z.B. Skizzierung großer Aufgaben) sowie Normierung der Grundwerte i. S. einer Art "Verfassung der Verfassung". Jüngst sind es vor allem die osteuropäischen Verfassungsentwürfe und Verfassungen, die diese klassische Präambelstruktur übernehmen und in ihrer der eigenen nationalen und Verfassungssprache entsprechenden Weise abschreiben und fortschreiben. Genannt seien etwa die Präambel des Verfassungsentwurfs Estland vom Dezember 1991, des polnischen Sejm von 1990 (jetzt der Verf. Polen von 1997) und der russischen Föderation vom Oktober 1991 748 . In ihr heißt es etwa: "We the multinational people of the Russian Federation, joined by historical fate and life on this land, fully resolved to affirm the liberty and rights of man and a worthy life". (Ebenso Verfassung von 1993.) Weitere Stichworte sind "faith of goodness and justice", "recognizing ourselves a part of the world community". Nicht minder plastisch heißt es in der Präambel des Verfassungsentwurfs der Ukraine vom Januar 1992 u.a.: "CONTINUING the thousand-Year history of Ukrainian statehood going back to the Kiewan State of Volodymyr the Great, REMEMBERING its countless victims and enormous sufferings of the times of loss of statehood and struggle for its restoration, RECOGNIZING freedom and the natural rights of man as the supreme social value, ...REALIZING its responsiblity to the present generations and those to come,...". Wie stark hier das gemeineuropäisch/atlantische Vorbild wirkte, auch der Vorspruch der EMRK von 1950, mancher KSZE-Erklärung, neuerer westlicher Verfassungen etwa Portugals und Spaniens, liegt auf der Hand. Vielleicht läßt sich sogar sagen, daß in der Präambelstruktur und -kultur wie in einem Konzentrat das Wesentliche des gemeineuropäisch/atlantischen Verfassungsstaats
748 Teilnachweise in meinem Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), S. 169 ff.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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als kulturelles Erbe und Projekt gespeichert ist; hinzugekommen ist, besonders seit der Totalrevision Schweizer Kantonsverfassungen (in den 80er und 90er Jahren), die Generationenperspektive. Ob mit der Rezeption des Präambeltextes auch die später hinzuwachsende Lehre und Rechtsprechung (z.B. von BVerfG und Conseil Constitutionnel) zu ihrer normativen Verbindlichkeit übernommen werden, ist offen: Es hängt von den weiteren Interpretationsprozessen in diesen osteuropäischen Ländern ab, auch davon, ob sie auf die "erste" Rezeption des Textes eine "zweite" der Wissenschaft und Rechtsprechung, auch Praxis und Öffentlichkeit folgen lassen - wenn ja, hätten wir ein gutes Beispiel für die sog. "Mehrfachrezeptionen". Selbst dann kann aber die nationale Verfassungskultur wegen der verschiedenen kulturellen Kontexte noch zu "eigenen" Ergebnissen führen: in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. (b) Grundrechte Auf dem Felde der Grundrechte finden derzeit in Europa besonders intensive Produktions- und Rezeptionsprozesse statt. Die Verfassunggeber messen ihnen große Bedeutung zu, die rechts- und linkstotalitäre Vergangenheit steht allen plastisch vor Augen (zuletzt in Osteuropa und Ostdeutschland), und die wachsenden Staatsaufgaben und -kompetenzen können dadurch erträglich gemacht werden, daß die Grundrechtskataloge ausgebaut, differenziert und fortentwickelt werden. Die wechselseitigen Lernprozesse sind groß, auch wenn die Kausalzusammenhänge eher vermutet als im einzelnen bewiesen werden können. Da die Interpreten des deutschen GG, vor allem Staatsrechtslehre und BVerfG, von Anfang an, d.h. seit 1949 auf dem Felde der Grundrechte besonders aktiv sind (in kräftiger Neuauflage von klassischen Lehren der Weimarer Zeit, vor allem von R. Smend und C. Schmitt), ist Deutschland im gemeineuropäischen Verbund hier in manchem eine "Geber-Rolle" zugewachsen. Es hat in Sachen Grundrechte im europäischen Konzert eine Art "Stimmführung" erlangt 749 . Unterscheiden lassen sich die "Erfolgsgeschichte" der MenschenwürdeKlausel und die Entwicklungsintensität in Sachen neuer Einzelgrundrechte wie 749 Zum Einfluß der deutschen Lehre und Judikatur in Sachen Grundrechte auf Portugal: M. de Sousa, in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos, aaO., S. 109 (114); vgl. auch A. Thomashausen, in: K. Stern (Hrsg.), aaO., S. 243 (256 ff.).- Für Griechenland vgl. J. Iliopoulos-Strangas, in: K. Stern (Hrsg.), ebd., S. 259 (265 ff.); G. Papadimitriou, in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos, aaO., S. 117 (127); P.-M.E. Efstratiou, Landesbericht Griechenland, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 119 (133 ff.).- Für Spanien vgl. P. Cruz Villalón, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 193 (202 ff.).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Medienfreiheit, zumal die Rechtsprechung des BVerfG zu Rundfunk- und Fernsehfreiheit, Datenschutz und Rechtschutzgarantie. Eigens genannt seien Fragen der allgemeinen Grundrechtslehren; vor allem die Rezeption von deutschen Erfahrungen beim textlich garantierten und wissenschaftlich sowie prätorisch ausgebildeten Schutz des grundrechtlichen Wesensgehalts750 springen ins Auge. Zu erwähnen sind Kodifikationen der "Drittwirkung" von Grundrechten (so in neueren Schweizer Kantonsverfassungen, z.B. § 7 Abs. 2 Verf. Aargau von 1980), der Geltung von Grundrechten in Sonderstatusverhältnissen (z.B. § 15 Abs. 3 K V Basel-Landschaft von 1984). (c) Staatsziele Auf dem Felde der Staatsziele spielt sich in Europa, im "europäischen Verfassungsstaat" ein höchst intensiver Prozeß des Abschreibens und Fortschreibens ab. Das Staatsbild wandelt sich in Entsprechung zum Menschenbild 7 5 1 . Thematisch wachsen dem überkommenen Staat neue Aufgabenfelder im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich zu. Expandierung und Differenzierung der Staatsziele sind die hervorstechenden Merkmale. Die erkennbare Grundrechtsorientierung einzelner Staatsziele (z.B. als "Recht" auf Wohnung bzw. Verfassungsauftrag zur Wohnungsförderung, Recht auf Arbeit bzw. Verfassungsauftrag gerichtet auf Vollbeschäftigung) fällt ebenso ins Auge. Dabei kommt es zu "Überkreuzrezeptionen". Wenn das deutsche BVerfG aus dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 GG ein "ungeschriebenes Staatsziel Kulturstaat" entwickelt (BVerfGE 36, 321 (331)), so hat es dabei denselben Gedanken gehabt wie ihn ausdrückliche Kulturstaatsklauseln in neueren Verfassungen normieren (z.B. Art. 16 Verf. Griechenland). Dies dürfte wiederum auf spätere Verfassunggeber in Europa bis in den Vertrag von Maastricht (1992) hinein wirken (vgl. Art. 128). Das Staatsziel "Umweltschutz" ist besonders stark auf dem Vormarsch und es könnte ein Element dessen werden, was man als fiktiven oder nach und nach abgeschlossenen "Welt-Gesellschaftsvertrag" gefordert hat 752 . 750 Dazu: P. Cruz Villalón , Bericht Spanien, in: U. Battis/E.G. Mahrenholz/D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz..., aaO., S. 93 (98 ff.). 751 Dazu meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; eine vergleichende Textanalyse hat der Verf. unternommen in dem Beitrag: Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. Zum Ganzen noch Sechster Teil VIII Ziff. 6. 75 2 P. Häberle, Podiumsdiskussion, in: U. Battis/E.G. Mahrenholz/D. Tsatsos (Hrsg.), Das GG im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, S. 264.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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(d) Erziehungsziele In die gedankliche Nähe zu den Staatszielen gehören Erziehungsziele. Hier finden in einigen Verfassungsstaaten Europas, aber auch darüber hinausgreifend in den Entwicklungsländern, aufschlußreiche Wachstums- und Entwicklungsprozesse über das Medium von Rezeptionen statt. Im Vordergrund steht Deutschland hier (auch Portugal und Spanien), Entwicklungsländer wie Peru und Guatemala dort. Ein gemeineuropäischer Bestand an verfassungstextlichen Erziehungszielen ist (noch?) nicht erkennbar - insoweit sei dieses Thema als Beispiel dafür behandelt, daß es Felder gibt, wo für den Typus Verfassungsstaat als solcher Fehlanzeige besteht, während einige Mitglieder seiner "Familie" sehr prägnante - und in sich konsequente - Strukturelemente entwikkelt haben. "Klassikertext" in Sachen Erziehungsziele ist (wie bereits erwähnt) Art. 148 Abs. 1 und 2 Weimarer RV von 1919: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden". Deutsche Landesverfassungen nach 1945 arbeiten zu diesem Thema besonders phantasievoll und erfinderisch: So finden sich "die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker" (Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen (1947)), die Erziehung zur "Achtung vor der Wahrheit" (Ziff. 3 ebd.) oder zur "freien demokratischen Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung" (Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947). Hatte Portugal 1976 in Art. 27 Abs. 2 normiert: "Ziel der Erziehung ist die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Achtung der demokratischen Grundsätze des Zusammenlebens sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten", so hat Verf. Spanien diesen Satz in Art. 27 Abs. 2 rezipiert und damit auf der iberischen Halbinsel ein Stück werdenden regionalen europäischen Verfassungsrechts geschaffen. Diese iberische Textrezeption in Portugal und Spanien ist ein Vorgang, der mit Entwicklungen in Peru und Guatemala einerseits, Deutschland andererseits in Zusammenhang zu bringen und verfassungstheoretisch von höchstem Interesse ist, stehen wir doch vor einer Kontinente überwindenden "Sprungrezeption", die nach Art eines "schubweisen Stoffwechsels" auf Europa zurückwirken kann. Die Internationale des Verfassungsstaates wird so beglaubigt, der "Familienzusammenhang" unter den Verfassungsstaaten intensiviert. Die (alte) Verf. Peru (1979) bestimmt in Art. 22 Abs. 2: "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch".
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Art. 72 Verf. Guatemala (1985) gelingt eine weitere Differenzierung, die unverkennbar aus den europäischen Ländern gelernt hat: "Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur. Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einfuhrung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte". 753 Die deutschen Länderverfassungen bleiben bei ihrem Kanon schon klassischer Erziehungsziele wie Toleranz, Achtung vor der Würde des Menschen, Hilfsbereitschaft etc. nicht stehen 754 . Sie schreiben die Themen der Erziehung fort in Entsprechung zu neuen Staatsaufgaben. Das zeigt sich besonders klar beim Umweltschutz. Einerseits wird er neues Staatsziel von Verfassung wegen, z.B. in Art. 29 a Verf. Nordrhein-Westfalen (1950/1985) und Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern (1946/84): "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen". Im gleichen Atemzug ergänzen diese Landesverfassungen ihre Erziehungsziele: Art. 7 Abs. 2 Verf. NRW nennt zusätzlich die "Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen"; Art. 121 Abs. 2 Verf. Bayern fügt den Passus hinzu: "Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt". (All dies übernehmen die neuen Bundesländer 1992/93.) Dies ist nur konsequent: Das "soft law" der Erziehungsziele und das "hard law" des rechtlichen Umweltschutzes sind zwei Seiten desselben Themas: Der junge Bürger muß zu dem Wert erzogen werden, den der Staat in seinem Verfassungs- und Verwaltungsrecht schützt, eben die Umwelt. Dieser Ansatz läßt sich verallgemeinern: "Hinter" Rechtsprinzipien der Verfassung verbergen sich als soft law mitunter bestimmte Erziehungsziele. Wenn etwa das GG in Art. 2 Abs. 1 die "Rechte anderer" als Grenze der Persönlichkeitsentfaltung nennt, so ist dies ein Votum für Toleranz als Erziehungsziel! (e) Rechtsquellenprobleme Rechtsquellenprobleme werden im hier skizzierten Beispielskatalog möglicher Rezeptionsinhalte in Europa und darüber hinaus aus mehreren Gründen eigens behandelt: Das vielberufene deutsche GG ist hier dem Text nach relativ 753
Dazu mein Beitrag: Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, VRÜ 23 (1990), S. 225 ff - Bemerkenswert jetzt die Erziehungsziele von Art. 73 Verf. Paraguay (1992): "social justice", "solidarity", "our commitment to the fatherland and our cultural identity". 754 Ein Textvergleich bei P. Häberle, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, FS H. Huber, 1981, S. 211 ff; ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, sowie Sechster Teil VIII Ziff. 2.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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zurückhaltend, es nennt der Sache nach den "Vorrang der Verfassung" bzw. der Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG 7 5 5 , auch Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 1 und 3 GG sind Ausdruck dieses Vorrangdenkens. Dem stehen andere geschriebene Verfassungen gegenüber, die den Vorrang der Verfassung ausdrücklich normieren, etwa Art. 87 Verf. Peru (1979): "Die Verfassung geht jeder anderen Rechtsnorm vor. Das Gesetz geht jeder anderen Norm niedrigeren Rangs vor, und so weiter, je nach der Stellung in der Normenhierarchie.Die Publizität ist wesentlich für die Existenz jeder Norm des Staates". Dieser Verfassungstext liest sich fast wie ein Kapitel zum Problem des Stufenbaus der Rechtsordnung im Verfassungsstaat und zur Rolle der Publizität. Der Verfassunggeber Perus hat hier Lehre und Rechtsprechung anderer Länder rezipiert. In zweifacher Hinsicht wird jetzt das Thema "Rechtsquellen" von neueren Verfassunggebern neu behandelt. Zum einen suchen osteuropäische Verfassungsentwürfe, z.B. der Entwurf des Senats von Polen (1991 756 ), ausführliche Rechtsquellenkataloge in Textform zu bringen, zum anderen ist eine Norm wie Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien (1978) im Vordringen: "Die Normen, die sich auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten beziehen, sind in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen über diese Materien auszulegen". Dieses Gebot der supranational konformen Auslegung der spanischen Grundrechte 757 ist der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen verwandt. Es läßt sich künftig verallgemeinern für alle Verfassungsstaaten und in bezug auf die universalen und regionalen Menschenrechtserklärungen. Gerade in Europa bestehen hier im Blick auf die EMRK besondere Chancen und Herausforderungen. Jede neue Verfassung sollte dem Vorbild Spaniens und Portugals (vgl. Art. 16 Abs. 2 seiner Verf. von 1976/92) folgen und tunlichst zugleich an die einschlägige Rechtsprechung in Spanien und Portugal anknüpfen. Und die Verfassungsgerichte und älteren Verfassungsstaaten in Europa wie das deutsche BVerfG und der italienische Corte Costituzionale sollten prätorischschöpferisch dieser Linie folgen, d.h. auf Verfassungshöhe die europäischen und universalen Menschenrechte interpretatorisch berücksichtigen; die "Fachgerichte" (vgl. BVerfGE 94, 1) hätten dem zu folgen. 755
Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 88. S. auch oben VI. 756 Dazu mein Beitrag Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, AöR 117 (1992), S. 169 ff. Zur Dokumentation der Texte: JöR 43 (1995), S. 184 ff., 231 ff.- Jetzt Kap. III Verf. Polen (1997). 757 So P. Cruz Vii lai ón, in: Κ. Stem (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 211 (212 f.); s. auch K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391 (402 f.).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die europäische "Erfolgsgeschichte" von Klauseln, die in der Gestalt von Art. 24 GG offene, kooperative Staatlichkeit begründen und damit auch Tore für Rezeptionen fremden Rechts(denkens) eröffnen, sei gerade in diesem Zusammenhang erwähnt. (f) Verfassungsgerichtsbarkeit Aus dem großen Themenfeld des Staatsorganisationsrechts sei hier nur die Verfassungsgerichtsbarkeit herausgegriffen. So viele Austauschprozesse es bei den anderen Staatsorganen gab und gibt, man denke an das Parlamentsrecht mit seinem derzeitigen Trend zu einer Verstärkung der Rechte der parlamentarischen Opposition 758 : im Rahmen dieses Überblicks kann nur die Verfassungsgerichtsbarkeit erwähnt werden. Diese besitzt aus zwei Gründen im Rahmen eines juristischen Rezeptionsmodells besondere Relevanz. Zum einen ist sie im Typus Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ein herausragender "Akteur" in den Austauschprozessen, Reformen und Rezeptionsvorgängen, zum anderen sind ihre Strukturen, Kompetenzen und Funktionen europa- und fast weltweit als Rezeptionsinhalt im Aufwind. Die Vorbildwirkung des deutschen BVerfG als Institution und in seinen Rechtsprechungsresultaten (ihm ging die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit 1920 voraus) ist bekannt und jetzt auch in Osteuropa, etwa Ungarn, Polen, Bulgarien, sogar Rußland greifbar 759 , jüngst auch in Georgien (Art. 88, 89 Verf. von 1996) sowie in Armenien (Art. 100 Verf. von 1995). (g) Föderalismus und Regionalismus Föderalismus und Regionalismus schließen diesen fragmentarischen Überblick ab. So wichtig noch andere Strukturelemente des Verfassungsstaates wären, etwa die sich verstärkende kommunale Selbstverwaltung (vgl. die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung 1985/88, die als "Ferment" wirken dürfte): Föderalismus und sein "kleiner Bruder", der Regionalismus, erweisen sich in der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates als besonders vitale Materien, die in intensiven Austauschprozessen zwischen den
758 Dazu für die ostdeutschen Verfassungsentwürfe mein Beitrag: Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Vereinigung, JöR 40 (1991/92), S. 291 (343). 759 Vgl. G. Brunner, Meilenstein auf dem Weg in die Rechtsstaatlichkeit, Die lange verhinderte, schließlich doch erfolgreiche Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, FAZ vom 30. Juni 1992, S. 12; T. Morschtschakowa, Das Verfassungsgericht in Rußland, DVB1. 1992, S. 818 ff. Vgl. schon Fünfter Teil III Inkurs B.
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Verfassungsstaaten untereinander weitergebildet werden: sowohl von Textgebern, Staatspraxis, Rechtsprechung und Lehre als auch in den einzelnen Inhalten. Die Vorbildwirkung des Föderalismus für Problemlösungen auf dem Gebiet des Regionalismus ("kooperativen Regionalismus") ist dabei ebenso einschlägig wie der weltweite Siegeszug des Föderalismus und das Vordringen des Regionalismus dort, wo der Föderalismus (noch) keine Chance hat (Frankreich, Italien) 760 . (3) Elemente einer Rezeptionstypologie Im Rückblick seien typologisch die speziellen Rezeptionsformen zusammengestellt, die sich bisher beobachten ließen: Zuvörderst ist der Zeitfaktor eine beherrschende Größe. Ihm sind z.B. in Europa markante Produktions- und Rezeptionsperioden oder -"wellen" in bezug auf Verfassungen zuzuordnen. So hat die erste Phase nach 1945 die Verf. Frankreichs (1946), Italiens (1947) und das deutsche GG (1949) hervorgebracht, wobei die westdeutschen Verfassungen (1946 bis 1953) nicht vergessen seien. Frankreich setzte dann mit der de Gaulle-Verfassung (1958) einen eigenwilligen Akzent. Die zweite Phase beginnt mit den Verfassungen der 70er Jahre: Schweden (1974), Griechenland (1975), Portugal und Spanien (1976 bzw. 78), wobei die Niederlande 1983 nachfolgten. In der Schweiz hatte 1965 eine lebhafte, seitdem anhaltende Produktions- und Rezeptionstätigkeit begonnen: auf Kantonsebene vor allem (Nidwaiden: 1965), aber auch auf Bundesebene: Teilrevisionen und Entwurf 1977, jetzt 1995. 1989 beginnt die heutige Phase dank dem Aufbruch in Osteuropa. Welche Kräfte letztlich solche "Wellen" steuern, der "Zeitgeist" bzw. ein Reformbedarf, ja -druck wird sich freilich schwer sagen lassen761. Erinnert sei an die "Mehrfach-" (oder sukzessiven) und "Überkreuzrezeptionen" - auch sie verlaufen in der Zeitachse. Eigenen Charakter besitzt in ihr die "Spätrezeption", die Fernwirkungen in zeitlicher Hinsicht hervorbringt 762 . 760 Gut informierende Länderberichte, die aber kaum die gegenseitigen Einflußnahmen darstellen, finden sich in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990. Vgl. auch Sechster Teil VIII Ziff. 4 und 5. 761 Daß die Jahre 1789, 1830, 1848 in Europa "Rezeptionswellen" auslösten, sei hier nur erwähnt. Verfassungsstaatliche Ideen sprangen wie "Funken" von Land zu Land. 762 Gemeint sind etwa die Fälle, in denen das andere Land einen Verfassungstext rezipiert, der im Ursprungsland schon gar nicht mehr gilt. Herausragendes Beispiel ist die Wirkung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 auf die italienische Verfassunggebung 1946/47 (dazu P. Ridola , in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos (Hrsg.), aaO., S. 81 (87 f.); vgl. allgemein Κ . Stern, in: ders. (Hrsg.), aaO., S. 298 (Diskussion)). Innerhalb Deutschlands gab es eine ähnlich verzögerte Rezeption in Form der Wirkung, die die Paulskirchenverfassung (1849) auf spätere Entwicklungen in Deutschland ausübte (dazu
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Dabei lassen sich Fernwirkungen zwischen verschiedenen Verfassungsstaaten und solche innerhalb derselben Nation unterscheiden. Die räumliche und sonstige Distanz kann hier eine "objektivere" oder unbefangenere Beurteilung zur Folge haben, die die Rezeption begünstigt. Z.B. beurteilt das Ausland (etwa Italien) die Weimarer Verfassung anders (vielleicht sogar gerechter) als dies die Väter und Mütter des GG von 1949 getan haben. Ferner sei die Möglichkeit bedacht, daß eine rezipierte Verfassungsidee in ihr Ursprungsland - gewandelt - zurückkehrt. Man könnte von "rezipierter Rezeption" sprechen: Das Reproduzierte beeinflußt später den Verfassungsstaat, in dem es zunächst entwickelt wurde (das "Geburtsland"). So wäre denkbar, daß die von Deutschland (1919) ausgehende Lehre von den Erziehungszielen heute die ostdeutschen Verfassungen insofern beeinflußt, als Portugal und Spanien (1976 bzw. 78), Peru und Guatemala (1979 bzw. 1985) die Idee der Grundrechte als Erziehungsziele entwickelt haben. Ein weiteres Beispiel bildet das oben erwähnte Rechtsquellenthema. Eigenen Charakter besitzt die Form der "Konkurrenz-Rezeption", d.h. das fremde Vorbild (sei es Text, Lehre oder Rechtsprechung oder all dies zusammen) muß sich seinen "Einfluß", seine Vorbildwirkung mit anderen Verfassungsstaaten teilen - angesichts der Offenheit der einen, pluralen Welt von heute dürfte diese Rezeptionsform zunehmen (es entsteht "Mischrecht") 763 . Man mag hoffen, daß das "aufnehmende" Mitglied der "Familie der Verfassungsstaaten" bemüht ist, sich das jeweils "Beste" anzueignen. Freilich können auch traditionelle, bewährte Verbindungslinien (etwa eines sehr verwandten Kulturraums) dazu fuhren, daß bestimmte Verfassungsstaaten bevorzugt werden (Beispiel: die romanischen Mittelmeerländer). So gesehen werden Rezeptionen von Anfang an meist fragmentarisch oder recht punktuell sein 764 . Das entspräche dem Stückwerk-Modell Poppers.
J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 144 ff.). Vielleicht kann man von "Sprung-Rezeption" sprechen, weil Zeiträume übersprungen werden. 763 Konkurrenzsituationen bzw. der Einfluß verschiedener miteinander rivalisierender Verfassungen bzw. ihrer - interpretierten - Inhalte sind behandelt bei P. Häberle, Diskussion, in: Battis u.a. (Hrsg.), aaO., S. 259 f.; P. Cruz Villalon, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 199 f. für Spanien; s. auch A. Truyol y Serra, in: Κ. Stern (Hrsg.), aaO., S. 235 ff.; J. Il iopoulos-Strangas, in: K. Stern (Hrsg.), aaO., S. 259 (262 f.) für Griechenland. 764 Stark betont bei J.M.M. Cardoso da Costa für Portugal, in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 171 (189 f.) und P. Cruz de Villalón für Spanien, ebd. S. 193 (219 ff.).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
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Eigenen Zuschnitt hat im Rahmen dieser kleinen Rezeptionstypologie die gescheiterte oder abgelehnte Rezeption. Hier kann das erfahrungswissenschaftliche Argument durchschlagen . Schließlich sei an eine weitere Vielfalt der Rezeptionsarten erinnert: neben den Textrezeptionen gibt es Beispiele für "Rechtsprechungsrezeptionen" 766, wobei die europäischen Verfassungsgerichte wie EuGH und EGMR heute vitaler "Umschlagplatz" für Rezeptionsvorgänge sind und die Rechtsver767
gleichung in eine zentrale Rolle hineinwächst . Rechtsprechungsrezeptionen sind eine Form der "Interpretations-Rezeption". "Theorie-Rezeptionen" stehen den Text- und Rechtsprechungs-Rezeptionen kaum nach - mit diesen sind sie ein Faktor der Interpretations-Rezeption. Gera768
de sie vermitteln intensiv zwischen den einzelnen Verfassungsstaaten . Sie leisten aber auch große Beiträge in der Ein- und Zuordnung der verschiedenen Rezeptions-Akteure und Rezeptionsinhalte. Und sie können in dem Maße in 769
Europa eine Schlüsselrolle spielen 765
, wie es ihnen gelingt, die Rezeptions-
Ein Beispiel für eine "gescheiterte Rezeption" bei P. Cruz Villaion, aaO., in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos, aaO., S. 93 (97) in bezug auf Art. 18 GG bzw. Spaniens Verfassung von 1978. Beispiele für abgelehnte Vorbilder aus der Schweiz in bezug auf das GG bei K. Eichenberger, in: K. Stem (Hrsg.), aaO., S. 71 ff- Die angeblichen oder wirklichen "schlechten Erfahrungen" mit bestimmten Verfassungsideen anderer sind oft das Hauptargument für die Ablehnung von Rezeptionen (z.B. im Verhältnis WRV/GG in bezug auf die plebiszitäre Demokratie). 766 Beispiele für konkrete "Rechtsprechungsrezeptionen" finden sich etwa im Felde der Judikatur des BVerfG zur Rundfunkfreiheit: für Italien (G. Lombardi , in: C. Starck (Hrsg.), aaO., S. 85 (98)), für Frankreich (M Fromont, in: C. Starck, ebd., S. 101 (113 f.)), für Österreich (//. Schäffer, aaO., in: C. Starck, ebd., S. 41 (49 f., 68)). 767 So hat der EuGH unbestritten Beiträge zur "europäischen Grundrechtsgemeinschaft" geliefert (dazu U. Everling, in: K. Stern (Hrsg.), aaO., S. 167 ff), die dann die nationale Rechtsprechung und Dogmatik befruchtet haben. Zum EuGH als "Rezeptionsvermittler" in bezug auf das bundesdeutsche Prinzip der Verhältnismäßigkeit P. Häberle, in: Battis u.a. (Hrsg.), Diskussion, S. 251, unter Hinweis auf M Zuleeg. 768 Vgl. für Namen und Wege deutscher Staatsrechtslehrer seit G. Jellinek in bezug auf Italien: P. Ridola , in: Battis u.a. (Hrsg.), S. 81 ff. 769 Es gibt große Beispiele dafür, daß einzelne Staatsrechtslehrer das fremde Verfassungsrecht in ihr eigenes Land vermittelten (der personale Aspekt). Das gilt etwa für C. Mortati in bezug auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919 und die italienische Verfassung von 1947 (dazu D. Schefold, in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos, aaO., S. 69 (73); heute mag so mancher osteuropäische Verfassungsentwurf nicht nur von Staatsrechtslehrern sondern auch von "Law firms" der USA beeinflußt werden. Vor "Rechtsimperialismus" warnt zu Recht: R. Knieper, Rechtsimperialismus?, ZRP 1996, S. 64 ffMitunter wirkt eine Verfassung als Vorbild sowohl als Text als auch als durch Lehre und Rechtsprechung interpretierter Text auf einen anderen Verfassunggeber und die spätere Interpretation seiner Texte (vgl. für das Verhältnis Deutschland/Portugal: M. de
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
prozesse typologisch und funktional zu systematisieren und die Rezeptionsarten zu gewichten. Hier steht die europäische Wissenschaftlergemeinschaft freilich erst in den Anfängen. Die aufgelisteten Rezeptionsarten können zum Teil auch gemeinsam auftreten: So wird die "Konkurrenz-Rezeption" oft mit Text-, Rechtsprechungs- und Theorie-Rezeptionen gepaart sein (z.B. Deutschlands (mit Italien konkurrierender) Einfluß auf Portugal und Spanien); auch kommen die drei letztgenannten Rezeptionsarten nicht selten gemeinsam vor (Weimars "klassische" Vorbildwirkung für Italien, Deutschlands Einfluß auf Griechenland 1975 und seither). Auf diese Weise entsteht ein enges "Rezeptionsgewebe", vor allem in Europa, das fast jeden Verfassungsvorgang zu einem "Gemeinschaftswerk" im besten Sinne des Wortes macht. Hält man sich den derzeitigen Transfer von Verfassungsideen von West- nach Osteuropa vor Augen, so verdichtet sich das Bild in eindrucksvoller Weise: Nationale Verfassungsentwicklung heute ist in der offenen Gesellschaft Europas zu einem viel- und allseitigen - vor allem internationalen - Vorgang geworden. Im Ganzen: Der Typus Verfassungsstaat, kulturelles Ergebnis einer in Jahrhunderten gereiften europäisch/atlantischen Gemeinschaftsleistung, wirkt in Texten und Kontexten, Inhalten und Verfahren als großes Vorbild und Ziel für die heutigen Transformationsprozesse in Osteuropa 7 0 . Obwohl diese Prozesse vor Ort, d.h. dort stattfinden: die unentbehrlichsten Anregungen, Materialien und Impulse erfahren sie aus der westeuropäisch-atlantischen Verfassungsgemeinschaft. So sehr die Verfassunggeber sich vor ihren eigenen Bürgern bzw. Völkern verantworten müssen und in deren Kultur zu arbeiten haben 771 , die verfassungsstaatliche Weltöffentlichkeit, konstitutiert vor allem dank der universalen Menschenrechte, redet - und handelt - in den Prozessen der nationalen Verfassunggebung mit. Die eine Welt des "blauen Planeten Erde" ist dank des Zerfalls des Ostblocks weitgehend eine Welt der Verfassungsstaaten geworden. Und
Sorna, in: Battis u.a. (Hrsg.), ebd., S. 109 (111 ff.), für das Verhältnis Deutschland/Griechenland: G. Papadimitriou, ebd., S. 117 (129). 770 Zu unterscheiden ist zwischen dem Transfer von Recht, von Kapital und Technologie (innerdeutsch auch von Personen, etwa Beamte, die auf Zeit in die neuen Bundesländer abgeordnet werden), auch die Beratertätigkeit gehört ins Blickfeld. Die Transferforschung hat sich bislang vor allem an Entwicklungsländern erprobt. Zum folgenden mein Beitrag: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Transformationsforschung, FS Mahrenholz, 1994, S. 133 ff. (auch in: Europ. Rechtskultur 1997, S. 149 ff.). 771 Hierzu gehört etwa die kluge Anknüpfung an halbverschüttete Abschnitte der "besseren" eigenen Geschichte (in Ungarn etwa an 1848; in der Mongolei an den (allzu verklärten) Dschingis Khan).
VII. Verfassungstextliche Vielfalt, "gemischtes" Verfassungsverständnis
479
doch bleibt es trotz aller Universalität vieler seiner Strukturen (wie Menschenrechte, Demokratie sowie Föderalismus bzw. Regionalismus und Marktwirtschaft) bei einer Partikularität der einzelnen Nationen und ihrer Kulturgeschichte. Die Frage ist, wie sich die idealtypischen, universalen Elemente des Verfassungsstaates mit seinen realtypischen nationalen Varianten verbinden lassen. Vielseitige Rezeptionsvorgänge und die kulturbezogene Kontextthese werden hier einschlägig. Osteuropa und seine Nationen können sich nach 1989 nur in der Weise konstituieren, daß sie Verfassungselemente aus dem Westen zunächst einmal übernehmen, d.h. rezipieren, ohne sich selbst zu verlieren. Darum wächst der Rezeptionsforschung - als Teil der Transformationswissenschaft - ein in dieser Größenordnung bisher kaum bekanntes Aufgabenfeld zu. Sie hat die Verfahrenswege (von der Verfassunggebung bis zur Wissenschaft) und Gegenstände (Texte, Rechtsprechung, Theorien) zu systematisieren, in denen rezipiert wird i. S. der Frage, "wer rezipiert was"?, und sie hat die hohe Relevanz der neuen kulturellen Kontexte zu erarbeiten, d.h. darzutun, daß der Rezipient nicht passiv bleibt, sondern höchst aktiv-schöpferisch das scheinbar bloß Übernommene in seinen Rahmen einschmelzt und weiterbildet 772 . In der ersten Periode der Transformation wird die Vorbildwirkung des Fremden groß sein, auch ist ein Pluralismus der "Quellen" zu empfehlen. Zu vermuten ist aber, daß im Verlauf des Wachstumsprozesses des jeweiligen osteuropäischen Verfassungsstaates dessen Selbststand stärker wird, das "Eigene" sich kräftiger ausbildet und das Rezipierte im neuen-eigenen kulturellen Kontext seine (westlichen) Ursprungsinhalte zurücktreten läßt. Es kommt zu einer "Umbildung". Die Transformationsforschung sollte diese Entwicklungsvorgänge positiv begleiten, d.h. nicht sklavischen Nachahmungen das Wort reden, sondern zum schöpferischen "Eigensinn" ermutigen. M.a.W.: Sie darf nicht bei der Rezeptionsforschung "stehen" bleiben, sie muß über etwaige Rezeptionen hinaus denken und ggf. auch handeln, z.B. in der Erkenntnis des Werdens eigener kultureller Identität des Nehmer-Landes sowie in dem Bewußtsein, daß Transformationen letztlich keine "Einbahnstraßen" sind, sollen sie konstitutionell auf Dauer greifen.
772
Dazu das "Tableau" bei P. Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff, zuvor ders., in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos (Hrsg.), Das GG im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1991, S. 17 ff. Aus der vor allem zivilrechtlichen Literatur zum Thema Rezeption: D. Giesen, Rezeption fremder Rechte, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, 1990, Sp. 995 ff.; W. Wiegand, Die Rezeption amerikanischen Rechts, in: Die Schweizerische Rechtsordnung in ihren internationalen Bezügen, 1988, S. 229 ff. Die Rolle der Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung (dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982, S. 33 ff.) liegt auf der Hand. Vgl. schon oben Fünfter Teil IV.
480
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen (4) Grenzen der Rezeptionen und der Rezeptionswissenschaft
Theorie und Praxis rechtlicher Rezeptionen, aber auch die Rezeptionsforschung haben ihre Grenzen. So ist es sehr schwer, die Kausalitätszusammenhänge mit letzter Sicherheit aufzudecken. Es läßt sich nicht immer beweisen, daß in Bezug auf ein bestimmtes Strukturelement des Typus Verfassungsstaat das eine Land der Produzent, der Erfinder bzw. Entdecker, das andere aber "nur" der Rezipient ist. Zuweilen ist der "Weltgeist" in Sachen Verfassungsstaat an mehreren Orten, in mehreren Köpfen gleichzeitig präsent! Auch gibt es parallele, analoge Verfassungsentwicklungen hier und dort, ohne daß ein Kausalzusammenhang nachweisbar ist. Schließlich kann es nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen einzelnen Verfassungsstaaten zu "Wahlverwandtschaften" kommen. Diese Grenzen der juristischen Rezeptionsforschung stehen Grenzen der Rezeptionen selbst zur Seite, sie seien hier nur kurz wiederholt: Das Rezipierte entwickelt sich im Koordinatensystem des nehmenden Landes. Es geht mit der Gesamtkultur dieses Verfassungsstaates buchstäblich neue, eigene "Verbindungen" ("Legierungen") ein, die es vom Geberland schrittweise entfernen (Stichwort: Reproduktion, Assimilitation und Integration, mag es auch Zweit- und Drittrezeptionen bzw. wiederholende "Schübe" geben). Gewiß: Im ganzen besteht nach wie vor die Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft innerhalb der Familie der Verfassungsstaaten ganz allgemein und innerhalb Europas und - besonders verdichtet - innerhalb seines Bestands von gemeineuropäischem Verfassungsrecht. Dennoch fuhrt die kulturelle Vielfalt Europas dazu, daß das Rezipierte stets nur in Grenzen allein rezipiert wird bzw. rezipiert bleibt. Es kann auch sein, daß dieselben Probleme der Verfassungsstaaten unabhängig von konkreten wechselseitigen Einflüssen analog gelöst werden, weil es übergreifende Gerechtigkeitsideen und eine klassische Juristenkunst gibt, die im Typus Verfassungsstaat heute ihr gemeinsames Forum haben ("präsumtio similitudinis") 773 . Vor allem die Schulung in gemeineuropäischer Rechtskultur kann hier konkrete Text- oder Rechtsprechungsrezeptionen überflüssig machen. Nach diesen theoretischen "Vorarbeiten" von positiven bzw. geschriebenen verfassungsrechtlichen Texten müssen andere Texte untersucht werden, die im Verfassungsstaat - kulturwissenschaftlich greifbar - gelten: die "Klassikertexte".
773
Dazu ß. Grossfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996, S. 283.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
481
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben Schon mehrfach wurde bisher auf "Klassikertexte" punktuell Bezug genommen, wurden einzelne Klassiker als solche zitiert. An dieser Stelle seien sie grundsätzlich behandelt.
1. Sieben Ausgangsthesen in kulturwissenschaftlicher Sicht Die sieben Ausgangsthesen lassen sich wie folgt formulieren: (1.) Klassikertexte, wie die Schriften von J. Locke und Montesquieu, Sieyès und I. Kant, aber auch "Gegen"-Klassiker wie T. Hobbes und J.-J. Rousseau oder K. Marx werden nicht zufällig "faktisch" im Entstehungs- und späteren Interpretationsprozeß verfassungsstaatlicher Verfassungen einflußreich, sie haben eine legitime - begrenzte - Geltungsweise normativer Art. Sie gelten im Kontext von Verfassungen kulturspezifisch und sind mit Hilfe kulturwissenschaftlicher Arbeitsmethoden zu erschließen 774. (2.) Während die großen Namen und Texte allzu selbstverständlich, ja "naiv" immer wieder zitiert werden, wurde bislang, soweit ersichtlich, nicht die Frage gestellt, was eigentlich dazu legitimiert, sie im Verfassungsleben zu verwenden: vom politischen Prozeß, z.B. einer Bundestagsdebatte über das "richtige" Verfassungs- oder Demokratieverständnis bis zum Richterspruch des BVerfG, von der Festrede des Bundespräsidenten bis zum Parteitagsbeschluß. Nur wenn man sich die Breite und Tiefe von Sache und Prozeß "Verfassungsleben" i.S. der Breite des Pluralismus der Verfassungsinterpreten und der Tiefe einer Kultur vor Augen hält, wird man die Vielfalt der Erscheinungsformen juristischer Klassiker(texte) unterscheiden können. Zum Verfassungsleben gehören Personen und Institutionen - hinter denen natürlich immer Personen stehen.
774 Speziell zum schon vor 1989 kulturwissenschaftlich erarbeiteten Deutschlandbegriff: P. Häberle, VVDStRL 38 (1980), S. 114-117 (Diskussion). Vgl. im übrigen meine Schrift: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, mit vielen Belegen.- Als Gegenklassikertext zu den "Wahrheitsproblemen im Verfassungsstaat" kann gelten: T. Hobbes, Leviathan, Ausgabe Reclam 1976, 2. Teil, 26. Kap. (S. 234 f.): "In einem Staate hängt die Auslegung der natürlichen Gesetze nicht von den Lehrern und Schriftsteilem der Moralphilosophie, sondern von dem Staat selbst ab. Jene Lehren sind vielleicht wahr; aber nicht durch Wahrheit, sondern durch öffentliche Bestätigung wird etwas zum "Gesetz".- Auch andere Kulturwissenschaften arbeiten geme mit dem Begriff der "Klassiker", zuletzt z.B.: "Klassiker der Kunstgeschichte", Einführung von A. Beyer, Zehn Bände, 1996; "Klassiker des Kanonischen Rechts", hrsgg. von P. Landau, 1997.
482
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
(3.) Klassikertexte sind "Verfassungstexte" im weiteren Sinne, d.h.: im Zusammenhang mit dem - Interpretationsbedürftigen - Verfassungstext wirken sie als "geschriebener Kontext", so wie es weiterer Hilfsmittel, etwa Interpretationsmethoden, Vorverständnisse, Zusatztheorien, anderer Kontexte bedarf. Klassikertexte sind insbesondere Stifter von Paradigmen i.S. T.S. Kuhns 775 . Sie benennen Probleme, liefern Teilaspekte für Problemlösungen 776. Eine inhaltliche Leitidee wie die Gewaltenteilung Montesquieus wirkt durch ihre Erweiterung und Erneuerung (z.B. durch W. Kägi 7 7 7 ). Klassiker helfen den "Verfassungsinterpreten im weiteren Sinn", d.h. dem Bürger im Umgang mit der Verfassung. Jede verfassungsstaatliche Verfassung hat ihre unverzichtbaren Klassikertexte. Das Bild des Gesellschaftsvertrags bzw. "Runden Tisches" gehört dazu. (4.) Angesichts der nicht seltenen Verabsolutierung von Teilwahrheiten in Klassikertexten und des Kompromißcharakters der verfassungsstaatlichen Verfassungen und angesichts ihres Wandels ist je neu nach "alternativen" Klassikerpositionen bzw. ihrer Neu-Interpretation zu fragen, ehe eine konkrete Problemlösung versucht wird; Klassiker haben ihre Gegenklassiker! (5.) Mit dieser Maßgabe sind Klassikertexte eine Bereicherung des Verfassungslebens und ein "Wachstumsbegriff (H.Kuhn 7 7 8 ); sie tragen und modifizieren einzelne positivrechtliche Institute und ihre höchst zeitgebundenen Dogmatiken. Klassikertexte im Verfassungsleben ermöglichen eine Rationalisierung des Verfassungslebens, sofern etwaige Gefahren benannt werden.
77 5
T.S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 3., mit der 2., rev. Aufl., identische Aufl., 1978. 776 Dies mag J. Habermas bei dem Dictum im Sinn gehabt haben, das Moderne behalte einen geheimen Bezug zum Klassischen: ders., Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, Die Zeit Nr. 39, 19. Sept. 1980, S. 47.- Das Bild vom "Runden Tisch" geht wohl auf die Pastoralinstruktion "Communio et Progressio" Papst Pauls VI. von 1971 zurück, die "Magna Charta" der kirchlichen Medienethik, Medienerziehung und Medienpolitik. In Polen hat es 1989 Weltgeschichte des Verfassungsstaates gemacht. Seitdem gab es immer wieder "Runde Tische", zuletzt etwa in Albanien (FAZ vom 12. Aug. 1996, S. 4). Umschrieben wird der Runde Tisch als Ort, wo die notwendige Kommunikation von den eingerichteten (demokratischen) Strukturen nicht mehr geleistet werden kann. Nach den "Informationen der Stiftung Mitarbeit" (1/95) gibt es in DeutschlandOst 33 aktive Runde Tische, 8 in den alten Bundesländern. Im Januar 1997 stand in Deutschland die Ereuerung des "Bündnisses für Arbeit" an. 77 7 W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur heutigen Gewaltenteilung (1961), später in: H. Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, 1969, S. 286 ff. 778 Klassisch als historischer Begriff, in: W. Jaeger (Hrsg.), Das Problem des Klassischen und die Antike, 1931, S. 112.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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(6.) Klassikertexte sind eine besonders bürgernahe Weise und Gestalt, in welcher der Bürger "seine" Verfassung kennenlernen kann. Ein Satz von Montesquieu oder J. Locke, aber auch von Friedrich Schiller zur Gewaltenteilung bzw. Freiheit oder von G.E. Lessing zur Toleranz 779 , vermittelt dem Bürger seine Verfassung besser und gründet sie tiefer als jedes noch so bedeutende Fachlehrbuch. Klassikertexte machen Verfassungen zum kulturellen Erbe und Auftrag für uns alle, zum "lebendigen Besitz". Sie sind Teil unseres Kulturbildes und gespeichert im "kollektiven Gedächtnis" unseres Volkes. In der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bestimmen wir letztlich alle auch in der Generationenfolge -, wer Klassiker ist und wird. Das Bezugssubjekt des Klassischen sind wir. (7.) Klassikertexte, d.h. staats- und rechtspolitische sowie verfassungstheoretische Werke großer Dichter, sind eine Form der Vermittlung von Erfahrung 780 , und anthropologisch begründet, sie sind aber auch in der Zeitdimension offen. Die Klassikerqualität ist nicht exklusiv-retrospektiv, sie hat auch Zukunft. Es gibt keine geschlossene Gesellschaft der Klassiker im Verfassungsstaat. 2. Erste Begriffsklärung Angesichts so vieler Klassiker, so vieler Klassik, stellt sich die Frage, was wir denn eigentlich meinen, wenn wir von Klassikern oder Klassik reden. Die Antwort ist in zwei Stufen zu geben: Zuerst sollte versucht werden, anhand der zweifelsfreien Apostrophierung deskriptiv einige Merkmale des "Klassischen" zu erfassen; sodann soll, mit diesen entwickelten Merkmalen, in Rechtstexten, d.h. Gesetzesberatungen, Gerichtsentscheidungen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen nach Klassikern und Klassischem geforscht werden: Aus den Zusammenhängen, in denen Klassiker erscheinen, aus der Art der Verwendung müßte dann ersichtlich werden, welches Leben die Klassiker im Verfassungsleben führen und vor allem, woher sie die Legitimation zu ihrer "Lebensführung" nehmen, bzw. welche Lebensführung ihnen eigentlich zukäme.
779
Zum Toleranzproblem unter Hinweis auf Lessing, Locke u.a.: F. Werner, Recht und Toleranz, in: ders., Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 420 (422 f.); ebd., S. 430 auch der Hinweis, Inhalt und Fassung des Art. 2 GG seien aus solchem Geist (sc. der Toleranz) geboren. Er sei im Grunde eine klassische Wiedergabe der Kant'sehen Lehre von der Politik. 780 Zum erfahrungswissenschaftlichen Ansatz vgl. meinen Freiburger Vortrag Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 125 f., 139, sowie oben Vierter Teil IV Ziff. 2 a. 34 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Beim Gebrauch des Klassikerbegriffs ist zwischen zwei unterschiedlichen Verwendungsweisen zu differenzieren: "Klassiker" einmal als Wertbegriff, zum anderen als Erfolgsbegriff 781 . Die Klassikereigenschaft meint im ersten Fall, daß bestimmten inhaltlichen Anforderungen Genüge getan ist. "Klassisch" wird zum Synonym für bestimmte überragende Qualitäten (in Intuition und Realisation). A u f der anderen Seite wird "klassisch" als beschreibender Begriff verwendet, der benennt, daß bestimmte Autoren (oder Künstler) weitgehende Anerkennung gefunden haben und die Maßstäbe, die sie ihren Werken zugrunde gelegt haben, von einer Gemeinschaft für verbindlich erachtet wurden. Beide Aspekte hängen zusammen. Allgemeiner Erfolg ist mit begründet in der faktischen Gültigkeit bestimmter inhaltlicher Maßstäbe. Die Verwendung des Klassikerbegriffs läßt sich in vielen Fällen deswegen nicht eindeutig der wertenden oder der rein deskriptiven Verwendungsweise zuschlagen; der oszillierende Sprachgebrauch ist aber durch das Bewußtsein von den beiden extremen Punkten zu rationalisieren 782 . Insgesamt: der "Klassiker" oder das "Klassische" scheint gekennzeichnet durch etwas Exemplarisches, Herausragendes, Weiterwirkendes, in gewissem Sinne Zeitloses. M.a.W.: Der Klassikerbegriff verlangt einen Kanon gesicherter
781
S. auch T.W. Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: ders., Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften Bd. 11, 1974, S. 495 ff, nach dem der Begriff des Klassischen "Authentizität des ästhetisch Verwirklichten" meint und insofern "mehr ausdrücken soll, als akkumulierten Erfolg". Adorno unterscheidet hier also einen inhaltlichen Begriff des Klassischen, klassisch als Ausdruck einer bestimmten Qualität, von einem formalen Begriff des Erfolg-Habens, S. 495. 782 Κ. HHalbach, Zu Begriff und Wesen der Klassik, in: FS Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, 1948, S. 166 bis 194, kommt immer wieder zurück auf das Oszillieren des Begriffs zwischen Wertbegriff und historischem "Wesensbegriff'; der Klassikbegriff habe immer an beiden Eigenschaften teil, dabei (S. 169) sei von Anbeginn der Begriff des Werthaften mit angelegt gewesen. Er selbst vertritt eine vermittelnde, beide Momente aufnehmende Position (S. 172 f.). Beispielhaft das Zitat auf S. 178: Hier zeigt sich nun doch eine prä-stabilisierte Harmonie zwischen wertmäßiger Klassizität und griechischer "Klassik". Halbachs Erörterungen an verschiedenen Klassiken auf ganz verschiedenen Gebieten bieten Ansatzpunkte für eine kulturgeschichtliche und/oder wissenssoziologische Arbeit, s. insbesondere S. 184 ff. Klassische Epochen wachsen unter - im einzelnen präzise herauszuarbeitenden - Bedingungen. A. Silbermann schreibt im Vorwort der von ihm herausgegebenen "Klassiker der Kunstsoziologie", 1979, S. 8 über "klassische Texte", daß es sich um historische Texte handele, welche eine relevante Basis für theoretische, praktische oder forschungstechnische Zwecke bieten, welche als faszinierend und auch als lohnend, für welche Zwecke des Forschers auch immer, anzusehen sind.- Klassiker sind in diesem Sprachgebrauch mithin Texte, respektive Autoren, die seit einiger Zeit als wichtig und nützlich sich erwiesen haben. S. auch H. Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1953, S. 241: Klassiker als "kritische" Wissenschaftler ihrer Zeit, die aber ihrerseits "systemschöpferisch" gewesen seien.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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Traditionen, die zumeist in (diese oder jene) Gegenwart hineinreichen. Dieses "Hineinreichen in die Gegenwart" gibt uns auch die beiden nächsten Stichworte. Zum einen: Zwar reichen die Klassiker in die Gegenwart hinein, sie sind aber nicht Teil der Gegenwart wie noch lebende, noch schreibende Autoren: ihre Wirkung ist abgeschwächt, ihre Spuren sind zwar nicht gänzlich vermischt, aber von der Zeit in ihren klaren Konturen aufgelöst, sie stehen mehr für Problembenennungen als für Problemlösungen. Zum anderen: Schon These (1.) qualifizierte Vertreter ganz gegensätzlicher Positionen als "Klassiker"; das wurde mit dem Terminus "Gegenklassiker" fortgeführt. Es gibt Klassiker und Gegenklassiker, nicht nur zwischen den weltanschaulichen Blöcken, sondern auch innerhalb der westlichen Demokratien, wie z.B. die Gegenüberstellung von Grundgesetz - geprägt vom (gewaltenteilenden) Demokratieverständnis von Montesquieu - und den west- und ostdeutschen Länderverfassungen, eher (auch) gestaltet von dem direktdemokratischen Demokratieverständnis J.-J. Rousseaus, zeigt. Dieser pluralen Geltung der Klassiker im vertikalen Schnitt durch das politische Gemeinwesen entsprechen auch Geltungsänderungen in der Zeitachse: Viele Klassiker erlebten Perioden des Vergessenwerdens und dann wieder der Renaissance, wie besonders das Wiederaufkommen marxistischen Gedankenguts Ende der 60er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, auch die Wiederbesinnung auf "Klassiker der Nationalökonomie" in den 80er Jahren, auf I. Kant in der politischen Philosophie in den 90er Jahren.
3. Die Begründung eines materiellen Klassikerbegriffs: "Verfassung" vor dem Hintergrund von Klassikertexten Ein materieller Klassikerbegriff verlangt einen Kanon gesicherter Traditionen, einen allgemeinen Konsens über den Vorbildcharakter (vielleicht auch im Persönlichen), das Exemplarische, Herausragende, Weiterwirkende, das in gewissem Sinne "Zeitlose". Für "Klassiker im Verfassungsleben" müßte ein spezifisch normativer Anspruch mit Bezug auf den Verfassungsstaat hinzukommen. Die Fragestellung verschärft sich angesichts der Bindung an "Gesetz und Recht" bzw. an die Verfassung "als oberstes Gesetz" (vgl. Art. 20 Abs. 3, 19 Abs. 2, 79 GG). Wo und wie, dank welcher Legitimation und in welchen Grenzen läßt diese positivrechtliche Bindung Raum für Klassikertexte? Können Klassikertexte im Verfassungsstaat "wie Rechtsquellen" wirken? Wie steht es mit ihrer demokratischen Legitimation? Was legitimiert uns, sie "zum GG" hinzuzunehmen? Etwa dessen Zugehörigkeit zum Typus "Verfassungsstaat"? Für wen sind Klassiker Klassiker? Auf der Suche nach Klassikern im Verfassungsleben fallen uns wegen der nur bedingt "deutschen" Tradition des demokratischen Verfassungsstaates nur wenige deutsche Namen ein: im Blick auf das Grundgesetz etwa H. Heller
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
("Sozialer Rechtsstaat") und R. Smend ("Bundestreue") 783 . Anderes gilt im Blick auf Montesquieu und Rousseau, Locke und Hobbes im europäischen Raum. Der unvergessene Berliner Gerichtspräsident Fritz Werner sagte einmal mit Recht, der "Geist der Gesetze" sei keine verwaltungsrechtliche Lektüre, sondern ein "kulturhistorisches und politisches Werk und als solches in die Reihe der großen Schöpfungen der abendländischen Geistesgeschichte eingegangen" 784 . Blicken wir auf die USA, so erweisen sich dort Texte eines Hamilton, Jay 785
und Madison als wichtige Elemente des (rechts-)kulturellen Erbes, auch Montesquieu, in England John Locke. Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen: Offenbar geht es bei juristischen Klassikertexten nicht (nur) um rechtliche Geltung: Die Geltungsweise reicht in das Kulturelle hinein. J. Locke und Mon786
tesquieu (oder auch Burke, Mill und Tocqueville ) sind unzweifelhaft Elemente des Typus "Verfassungsstaat" als Teil des kulturellen Erbes Europas. Freilich, sie stehen nicht allein. Sie haben ihre "Antipoden", die nicht minder "Klassikeranspruch" erheben: so etwa T. Hobbes und J.-J. Rousseau. Damit verschärft sich das Problem erneut: Klassiker haben ihre "Gegenklassiker". Sie durchleben Perioden des Vergessen-Werdens oder Veraltens (i.S. überholter Positionen!), aber auch der Renaissance (ähnlich wie in der Kunst): Der Wiederaufstieg der marxistischen Staats- und Rechtstheorie in der Bundesrepublik 787
Deutschland der 60er Jahre und weit darüber hinaus ist ein Beispiel
. Kurz:
783 S. auch die Vorarbeit von C. Schmitt fur Art. 79 Abs. 3 GG (Verfassungslehre, 1928, S. 103) oder für Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG (aaO., S. 138 f.); dazu: H Schneider, in: FS für C. Schmitt, 1959, S. 159 ff. (170) unter Hinweis auf G. Dürig, JZ 1954, S. 7 (Anm. 17: "ein später, aber klarer Sieg Carl Schmitts"). 784 F. Werner, Zum 200jährigen Gedenken von Montesquieus "Geist der Gesetze" (1948), in: ders., aaO., S.28 ff. (30).- S. aber auch die Meinung Werners (ebd. S.35), es sei verfehlt, "wollte man die Probleme des Verfassungs- und Verwaltungslebens unserer Tage mit einem 'Zurück zu Montesquieu' lösen".- Weitere Belege für Werners Ringen um Klassiker z.B. der Aufsatz "Georg Büchners Drama 'Dantons Tod' und das Problem der Revolution" (1952), aaO., S. 91 ff. 785 Im "Federalist", hrsgg. von F. Ermacora, 1958; vgl. dazu G. Dietze, The Federalist, 5. Aufl., 1966; G. Wills, Einführung, The Federalist Papers, 1980; s. auch P.E. Quint, The Federalist Papers and the Constitution of the United States, in: Kentucky Law Journal Vol 77 (1988-89), S. 369 ff. 786 Vgl. M. Imboden, Montesquieu und die Lehre von der Gewaltenteilung, 1959, S. 2: "Als einer der Letzten steht Montesquieu in der großen Reihe der dem klassischen Ursprung verpflichtet gebliebenen Staatsdenker". 787 Als anderes Beispiel sei Alexis de Tocqueville genannt. Die Theorien dieses schon zu Lebzeiten weltberühmten, 1841 im Alter von 36 Jahren in die Académie Française aufgenommenen Klassikers der Freiheit in Gleichheit fanden immer weniger Beachtung, ehe durch George W. Pierson, Tocqueville and Beaumont in America, New York 1938, eine bis heute andauernde weltweite Tocqueville-Renaissance eingeleitet wurde; vgl.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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Im Umgang mit Klassikertexten ist offenbar Vorsicht am Platze 788 . Auch hier drohen Einseitigkeiten. Klassikertexte sind oft nur Hinweise auf Probleme, also Problembenennung, weniger schon Problem/öswrtg. Sie variieren kulturspezifisch, sie haben ihre unterschiedliche Wirk- und Interpretationsgeschichte. Sie stehen nicht selten "gegeneinander": Man denke an das Demokratieverständnis des GG, das weniger Rousseau als vielmehr Montesquieu zugehört, während das plebiszitäre Moment in Länderverfassungen stärker ausgebaut ist 7 8 9 , zumal in den 5 neuen Bundesländern (besonders aber in der Schweizer "halbdirekten-Oemokratie"). Da in der Geschichte des Verfassungsstaates der neuzeitliche Staat zunächst einmal etabliert werden mußte, kommen aber auch Denker wie J. Bodin 7 9 0 und T. Hobbes ins Blickfeld. Ihre "Staatlichkeit" ist ein Stück unverzichtbarer 791 auch wissenschaftlicher - "Vorgeschichte" des demokratischen gewaltenteiligen Verfassungsstaates. Historisch wie sachlich können sie schon deshalb Klassikerrang beanspruchen, auch wenn sich "rechtsstaatlich" bis heute die vordringliche Aufgabe stellte, individuelle Freiheit zu sichern {Locke, Montesquieu) bzw. den mögli-
zur Wirkungsgeschichte J.P. Mayer, Tocqueville heute, und T. Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, in: Alexis de Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, Werke und Briefe, Band 1, Stuttgart 1959, S. XI ff. bzw. XVII ff.; S. Landshut, Einleitung, in: Alexis de Tocqueville, Auswahl aus Werken und Briefen, 2. Aufl. 1967, S. XIV f. 788 Vgl. W. Muschg, Die deutsche Klassik, tragisch gesehen (1952), in: H.O. Burger (Hrsg.), Begriffsbestimmung des Klassikers und der Klassik, 1972, S. 157 ff. (161): "Jede Klassik hat ihre Grenzen - sonst wäre sie keine". 789 Gegenklassiker sollten dabei nicht i.S. einer (antinomischen) Alternative verstanden werden: Kennzeichen klassischer Werke ist gerade ihre Unauslotbarkeit, ihre auch die Gegenposition reflektierende Tiefe, die oft gegenläufige, sich wandelnde Auslegung der Nachgeborenen erlaubt; Klassiker sind keine pietätvolle Harmonisierungsveranstaltung. So umstrittene Denker wie Rousseau, Hobbes oder Hegel haben ihre verschiedenen Linien, die im geistigen Epochenkampf gelegentlich nur verdeckt werden. Die Schwarz-Weiß-Zeichnung von T. Hobbes etwa bei M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 61 ff., 122 ff., 132 ff., scheint daher nicht immer "klassikergerecht" zu sein. 790 S. etwa M. Imboden, Johannes Bodinus und die Souveränitätslehre, 1963, S. 4 f. Bodinus, der "neben dem Niederländer Hugo Grotius von allen klassisch gewordenen Staatsdenkem unseres Kulturkreises vielleicht am stärksten zur Erhellung der rechtlichen Struktur des Staates beitrug". Ganz i.S. der Kategorie von "Klassikern" ist der Band von M. Stolleis (Hrsg.) komponiert: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 1995. 791 "Wissenschaften brauchen, ebenso wie andere Berufsstände, ihre Helden und bewahren sehr wohl deren Namen. Glücklicherweise aber konnten die Wissenschaftler, anstatt diese Helden zu vergessen, ihre Arbeiten vergessen oder revidieren." H. Kuhn, aaO., S. 150; dieses Dictum gilt auch hier.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
chen Gefahren der Perversion demokratischer Selbstbestimmung zu wehren CBurke). G.W.F. Hegel und K. Marx schließlich erkannten in der Folge der industriellen Revolution die bürgerliche Gesellschaft als Fundament der Staatlichkeit wie der individuellen Existenz und bezogen sie dementsprechend in ihr politisches Denken ein: mit positiven und negativen Konsequenzen bis heute. Das Sozialstaatsprinzip ist weder ohne sie, noch ohne die katholische Soziallehre zu denken. Auch die großen Staatsrechtslehrer der Weimarer Zeit haben das Gespräch mit den Klassikern ihres Fachs immer wieder gesucht, um zu ihrer Sicht der Probleme zu kommen 792 . Durch die Art der Auswahl unter den Klassikern, die sie selbst treffen, bestimmen sie letztlich ihr eigenes Werk mit 7 9 3 . Dieser kursorische Durchgang läßt "klassische" Elemente des demokratischen Verfassungsstaates erkennen. Verfassung ist Konstituierung des politischen Gemeinwesens, d.h. von Staat und Gesellschaft mit der Menschenwürde als kulturanthropologische "Prämisse"; sie ist "Beschränkung und Rationalisierung staatlicher Macht" (so H. Ehmke) 794 und - wie man m.E. hinzufugen muß - Beschränkung gesellschaftlicher Macht - darum erweitert sich die staatliche Gewaltenteilung auf den gesellschaftlichen Bereich 795 . Verfassung ist 792
Vgl. z.B. R. Smends "Gespräch" mit Montesquieu in: Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 206 ff., 216; mit dem "Federalist", ebd. S. 195, 199. Daneben handelt es sich z.T. um Verdeutlichungstechniken, sozusagen um Personalmetaphern; direkt metaphorisch: H. Quaritsch, Das Schiff als Gleichnis, in: FS Stödter, 1979, S. 251 ff., insofern er das Schiff in der politischen Philosophie und Staatslehre vieler Jahrhunderte untersucht und damit ein klassisches Modell oder eine Metapher offenlegt.- Auch die Utopie ist seit ihrem Klassiker Th. Morus (1516) ein Begriff für ein bleibendes Grundraster und für die Staatslehre tendenziell notwendig. Dazu unten IX Ziff. 5. 793 Charakteristisch etwa C. Schmitts Klassiker Sieyès: vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, z.B. S. 77 ff., 92, 203, 237, 243 und zu Montesquieu: ebd., S. 38, 76, 126, 140, 184 f., 203, 218, 229, 296, 315, 324, 376.- Zu Sieyès jetzt: T. Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von E.J. Sieyès, 1994. 794 Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 103 ff. 795 Am Beispiel der Gewaltenteilung zeigt sich, wie ein Klassikertext zahlreiche verfassungstextliche Varianten hervorbringt. Montesquieus Klassikertexte (Vom Geist der Gesetze, XI. Buch, 4. bis 6. Kap.: "Eine etwaige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen"..., "ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse", "Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht", "Sobald in ein und derselben Person... die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit") mischen sich heute mit Verfassungstexten, Dogmatik und Judikatur zu einem komplexen Ensemble. Deutsche Landesverfassungen bekennen sich an zentralen Stellen, oft vorweg zur Gewaltenteilung (z.B. Art. 5 Verf. Bayern von 1946, Art. 3 Verf. Berlin von 1950,
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
489
796
rechtliche Grundordnung des Staates (so W. Kägi) und der Gesellschaft. Sie ist i.S. R. Smends "Anregung und Schranke" 79 , aber m.E. auch öffentlicher Prozeß 798 . Manche derzeit im Kampf um das "richtige Verfassungsverständnis" gegeneinander ausgespielte Momente fügen sich in ein komplexes Gesamtbild: so U. Scheuners Verfassung als "Norm und Aufgabe" 799 ; A. Arndts Wort vom "nicht erfüllten Grundgesetz" 800 verweist auf die verbleibenden Aufgaben, G. Heinemanns Dictum vom GG "als großem Angebot" 801 auf die Chancen für den Bürger. Hinzuzunehmen ist der kulturelle Aspekt: Als Organisation des freiheitlichen Gesamtzustandes eines Volkes ist die "Verfassung des Pluralismus" mehr als bloß juristisches Regelwerk und Ensemble unverzichtbarer Dogmatiken, mehr als Elaborat hoher Juristenkunst. Sie ist auch und vor allem
Art. 2 Abs. 2 Verf. Schleswig-Holstein von 1949, Art. 3 Verf. Sachsen von 1992). In Europa hat Art. 12 Französische Menschenrechtserklärung (1789) in Art. 16 die "Gewaltenteilung" zum Verfassungselement gemacht; das Dreierschema prägt z.B. Art. 6 Verf. Irland von 1937/92. Art. 288 lit. j Verf. Portugal (1976/92) nimmt die "Teilung und Verschränkung der Gewalten der Hoheitsorgane" in ihre Ewigkeitsklausel auf. Verf. Costa Rica (1949) spricht in Art. 9 Abs. 1, S. 2 von "drei unterschiedlichen von einander unabhängigen Gewalten". Auch Osteuropa normiert die Gewaltentrias (z.B. Art. 8 Verf. Bulgarien von 1991). Die Verfassungsdogmatik in Deutschland kann zwischen Gewaltenteilung im engeren Sinne (staatsbezogen) und weiteren Sinne (gesellschaftsbezogen) unterscheiden (z.B. in den Medien: "publizistische Gewaltenteilung"), bei Föderalismus die "vertikale" Gewaltenteilung betonen und auf die Gewaltenteilung dank der Parität der Tarifpartner verweisen. Die Rspr. des BVerfG ist ebenso reich (z.B. E 34, 52 (59); 49, 89 (124 ff.); 68, 1 (87)) wie die Literatur (z.B. K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 210 ff.; D. Merten (Hrsg.), Gewaltenteilung im Rechtsstaat, 1989, 2. Aufl. 1997). Kulturwissenschaftlich wird der Bezug zum (skeptischen) Menschenbild sowie zur klassischen Lehre von der "gemischten Verfassung" relevant (dazu: I. Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung (1959, S. 14 ff). Die USA haben seit ihren "Federalist Papers" eine eigene Verfassungskultur der Gewaltentrennung. Im EG/EU-Recht entwickelt sich der Gewaltenteilungs- und Gleichgewichtsgrundsatz konsequent (dazu W. Bernhardt, Verfassungsprinzipien- Verfassungsrechtsfunktionen Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, S. 102 ff.)- ein Ausdruck der "werdenden Verfassung".- Art. 10 Abs. 1 Verf. Polen (1997) spricht jetzt von "Trennung und Gleichgewicht" der drei Gewalten, Art. 59 Verf. Guinea-Bissau (1993) von "Trennung". 796 Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945. 797 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 ff. (195). 798 P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung (1969), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß (1978), S. 225 ff. (2. Aufl. 1996). 799 U. Scheuner, Art. Verfassung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 171 (172 ff.). 800 Ä. Arndt, Das nichterfüllte Grundgesetz (1960), in: A. Arndt, Gesammelte Juristische Schriften, 1976, S. 141 ff. 801 G. Heinemann, Präsidiale Reden, 1975, S. 180.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Konzentrat und Rahmen für die kulturelle Identität und Vielfalt eines Volkes, für sein kulturelles Erbe und seine kulturellen Hoffnungen. Dementsprechend gewinnen Präambeln, Erziehungsziele, Symbolwerte an Aussagekraft und Geltung, werden Verfassungskultur und politische Kultur relevant, wächst das Kulturverfassungsrecht 802. Die Juristen müssen noch viel tun, um in dieser Weise zu lernen, die Verfassung mit den "Augen des Bürgers" zu sehen. Alte und neue Klassikertexte können dabei Hilfestellung geben: als eine Art "Katalysator". Der Jurist wird sich fragen müssen, welches die Geltungsweise von Klassikern im Verfassungsstaat ist, der Pädagoge, wie sie optimal zu vermitteln sind, der Politiker, ob er für seinen Alltag praktische Lehren ziehen kann, und alle zusammen, was eigentlich Klassiker zu Klassikern macht 803 . Wo von "Klassikern" die Rede ist, muß sich der Blick weiten und vertiefen durch Versuche einer Annäherung an "Schöne Literatur". In einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre liefert sie mehr als nur "Stoff zum Träumen". Sie ist ein unverzichtbarer Kontext zur VerfassungskvAüir, oft deren Text, sie hat greifbare Relevanz auch für den (Verfassungs-)Juristen. Doch zuvor ein konkretes Beispielsfeld: 4. Inkurs: Klassikertexte zu Familie und Staat: kulturelle Entsprechungsverhältnisse im Wandel a) Eine Auswahl neuerer Verfassungstexte Ein Testfall für die hier entwickelte Verfassungsphilosophie der Klassikertexte ist der Problembereich "Familie". Im Laufe der Verfassungsgeschichte hat ihr Schutz eine immer stärkere Ausdifferenzierung erfahren. Eine neue Textstufe stellt z.B. die Verf. Portugal (1976/92) dar. Einerseits sagt sie im Grundrechtsteil (Art. 36 Abs. 1): "Jedermann hat ein Recht auf Gründung einer Familie". Andererseits prägt sie im Art. 67 Abs. 1 den bemerkenswerten Satz:
802
Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, später für die Kommunen weitgehend übernommen von E. Pappermann, Grundzüge eines kommunalen Kulturverfassungsrechts, DVB1. 1980, S. 701 ff. Den Begriff "Kommunales Kulturverfassungsrecht" schlug der Verf. erstmals auf der Basier Staatsrechtslehrertagung von 1977 vor, vgl. VVDStRL 36 (1978), S. 356 f. (Diskussion). Vgl. oben Dritter Teil. 803 Vgl. schon meine Besprechung von R. Weber-Fas (Hrsg.), Der Staat, in: ZfP 26 (1979), S. 27.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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"Die Familie hat als grundlegendes Element der Gesellschaft ein Recht auf den Schutz durch die Gesellschaft und des Staates und auf die Verwirklichung aller Bedingungen fur die Persönlichkeitsentfaltung aller Familienangehörigen"804. Auch spätere Verfassungen haben an der Sache Familie und an dieser "sozialen Einheit" gearbeitet und neue Textstufen eingeleitet. Das mag die folgende knappe Auswahl zeigen: Art. 26 Abs. 1 S. 2 Verf. Brandenburg (1992) fügt dem klassischen Schutzauftrag in S. 1 hinzu: "Besondere Fürsorge wird Müttern, Alleinerziehenden und kinderreichen Familien sowie Familien mit behinderten Angehörigen zuteil". Art. 27 Abs. 1 spricht den "Kindern" als "eigenständigen Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde" zu. Als Provokation aber erscheint die Anerkennung der "Schutzbedürftigkeit anderer auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften" (Art. 26 Abs. 2 - noch im FamilienArtikel!). Ein Blick nach Übersee 805 zeigt Wandlungen im südlichen Afrika. Die Verfassung Südafrika (1996/97) rückt in ihrer "Bill of Rights" ganz die Kindergrundrechte und die Erziehung in den Vordergrund (Art. 28 und 29), während die Provinzverfassung von Kwazulu Natal (1996) in Art. 26 ("Family and Children") sich mit beiden Themen befaßt und den schon klassischen Satz vorwegstellt (Abs. 1): "The family, as the basic unit of society, shall be protected". In den Reformstaaten Osteuropas macht sich die Verf. Ukraine (1996) eigene Gedanken in Sätzen wie (Art. 51 bzw. 52): "Parents are obliged to support their children to majority. Adult children are obliged to care of their parents who are incapable of work" und "Family, childhood, motherhood, and fatherhood shall be protected by the State" sowie "Children shall have equal rights regardless of their origin, as well as whether they are born within marriage or without." Der Verfassungsentwurf der polnischen "Solidarität" (1994) sieht in Art. 14 Abs. 3 u.a. vor: "The Republic shall guarantee the right of the family, and in particular the right of parents to rear and instruct their children in 804 Dazu schon meine Studie Verfassungsschutz der Familie - Familienpolitik im Verfassungsstaat, 1984, S. 22 ff. 805 Die Verf. der Philippinen (1986) befaßt sich mit der Familie schon im Eingangsabschnitt "State policies". Sect. 12 beginnt mit den Worten: "The State recognizes the sanctity of family life and shall protect and strengthen the family as a basic autonomous social institution".- Art. 41 Abs. 1 Verf. Türkei (1982), zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff: "Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft".- S. auch Art. 61 Abs. 1 Verf. Kroatien (1991): "La famille jouit de la protection spéciale de Republique", (zit. nach JöR 45 (1997), S. 197 ff); ähnlich Art. 40 Verf. Mazedonien (1991, zit. wie ebd. S. 222 ff.).- Art. 36 Abs. 2 Verf. Georgien (1995): "The State supports the prosperity of the family".- Art. 49 S. 1 Verf. Paraguay (1992): "The family is the foundation of society."- Art. 31 Verf. Togo (1992): Schutz der Ehe und Familie.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
accordance with their own convictions". Schließlich ein Blick auf eine neuere Schweizer Kantonsverfassung, die sich in vielen Themenbereichen durch schöpferische Neubildungen auszeichnet: Bern (1993) befaßt sich an drei Stellen mit der Familie: Art. 13 sagt im Abschnitt "Grundrechte": "Das Recht auf Ehe und Familienleben ist geschützt", aber auch "Die freie Wahl einer anderen Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ist gewährleistet". Im Abschnitt "Sozialziele" findet sich das Ziel (Art. 30 Abs. 1 lit. d), daß "geeignete Bedingungen für die Betreuung von Kindern geschaffen und die Familien in der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt werden", wobei Abs. 2 das Subsidiaritätsprinzip andeutet; schließlich heißt es im Abschnitt "Wirtschaft" (Art. 51 Abs. 2: "Er (sc. der Kanton) unterstützt bäuerliche Familienbetriebe". Mit Absicht wurden hier (nur) die interessantesten neueren Verfassungstexte zur Familie aufgelistet, getreu der These dieser Verfassungslehre, daß in den positiven Texten, der Art ihrer systematischen Plazierung und in ihren vielen Varianten je nach der nationalen Verfassungskultur Wesentliches zum Ausdruck kommt. Die unüberschaubare wissenschaftliche Literatur zum Thema "Familie" erhält insofern "Konkurrenz" 806 . Umso wichtiger ist jetzt ein Blick auf die einschlägigen Klassikertexte. Dieser kulturwissenschaftliche Weg "ad fontes" wurde in dieser Verfassungslehre ja auch am Beispiel der Subsidiarität vorgeführt (dazu oben V I I Ziff. 6). b) Klassikertexte Das heutige Defizit an "Verfassungstheorie der Familie" überrascht aus einem besonderen Grund: In der Staatsphilosophie großer Denker hat die Familie seit jeher einen zentralen Platz eingenommen. Ja, man wird sagen dürfen, daß sich das Staatsverständnis im jeweiligen Familienverständnis und umgekehrt von Staats- und Familienverständnis ist ein spiegelt. Diese Verflochtenheit Ausdruck des allgemeinen kulturellen Zusammenhangs von Staat, Gesellschaft und Familie, der sich auch gemeinsam wandelt: bis heute. Im folgenden seien, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, einige grundlegende Klassikertexte angeführt. Die Untersuchung solcher Klassikertexte dürfte in manchem Parallelen zur Geschichte der Verfassungstexte zur Familie aufweisen.
806
In Deutschland etwa W. Zeidler, Ehe und Familie, HdbVerfR 1. Aufl. 1983, S. 555 ff.; H. Lecheler, Schutz von Ehe und Familie, HdbStR Bd. VI, 1989, S. 211 ff.; Ä. von Campenhausen/H. Steiger, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel - das Beispiel von Ehe und Familie, VVDStRL 45 (1987), S. 265 ff.; A. Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6, 1996.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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aa) Zunächst zur deutschen Staatstheorie: Die zentrale Verankerung der Familie im Denken über Staat und Gesellschaft in Hegels "Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821), 4. Aufl. 1956 (Dritter Teil Erster Abschnitt) geschieht mit dem bezeichnenden Satz "Übergang der Familie in die bürger807
liehe Gesellschaft" (§181) . Hegel provozierte damit K. Marx zu einer berühmten Kritik, auch Marx/Engels in ihrem "Kommunistischen Manifest" 808 und schließlich F. Engels zu nicht minder grundsätzlichen Überlegungen 809 . Die tiefe Verankerung des Zusammenhangs des Denkens über Familie und Staat zeigt sich auch bei W. von Humboldt 810 , C. von Rotteck 811 und F.C. von Savigny 812 (1840). 807
S. auch § 260 ebd.: "System der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft" sowie §261: "Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft... "- K. Marx sieht in diesen Passagen die zentrale Aussage Hegels (vgl. K. Marx, Kritik des Hegeischen Staatsrechts, 1843, S. 1 ff., zit. nach der Reclam-Ausgabe 1973) und er erläutert z.B.: "Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staats: sie sind die eigentlich Tätigen"; "Die Staatsbürger sind Familienmitglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft" (S. 7 f).- Zum Verständnis von Familie durch K. Marx, s. ders., Das Kapital, 1. Bd. 4. Aufl. 1890 (1982), S. 92, 372, 513 E, 528.- Sehr grundsätzlich geht später auch die Kritik von A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890, vor. Er sieht im Familienrecht des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich die Rechtsregeln "vom Standpunkt der Besitzenden aus gedacht" (S. 40), glaubt allenthalben auch hier seine These bestätigt, wonach das "wirkliche Leben der Völker" uns vielmehr "nur Machtverhältnisse zwischen den einzelnen Klassen und Gruppen der Gesellschaft" darbiete (S. 39) und beklagt die Mängel des Familienrechts, welche die "besitzlosen Volksklassen" betreffen (S. 41 ff., 108). 808 K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: dies., Ausgewählte Schriften, 29. Aufl. 1982, Bd. 1, S. 29: "Die Bourgeosie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt". Ebd. S. 41: "Worauf beruht die gegenwärtige, die bürgerliche Familie? Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb"; S. 42: "Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden umso ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden". 809 F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884), in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, II, 29. Aufl. 1982, S. 155 ff. insbes. S. 199 ff., 202 ff.; vgl. etwa S. 207: "So haben wir in der Einzelfamilie, in den Fällen, die ihrer geschichtlichen Entstehung treu bleiben ... ein Bild im kleinen derselben Grundsätze und Widersprüche, in denen sich die seit der Zivilisation in Klassen gespaltene Gesellschaft bewegt...". S. 213: "Er (sc. der Mann) ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat"; Forderung nach Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie "als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft"; S. 205 f.: Einzelehe als "Zellenform der zivilisierten Gesellschaft". 810 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenze der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), zit. nach der Reclam-Ausgabe von 1967, behandelt Ehe und Familie unter III. seiner Schrift. Er charakterisiert die Ehe als die "natürlichste" der
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
So bestätigt sich die, vor allem seit Beginn der Neuzeit bis heute beobachtete, variationenreiche, aber durchgehaltene Parallelisierung zwischen dem politischen Gemeinwesen und der Familie 813 ("Struktur- und Funktionsanalogie"), unbeschadet der jeweils unterschiedlichen, zeitabhängigen Bedeutungsgehalte des Familienbegriffs. bb) Ein Blick auf das englische Staatsdenken wird bei T. Hobbes und J. Locke besonders fundig. Vor allem die Konstruktion von Entsprechungsverhältnissen zwischen Staat und Familie findet sich in Texten dieser beiden großen Staatstheoretiker der Neuzeit, sowohl Thomas Hobbes* 114 als auch John Locke* 15. Der Abschnitt V I von dessen "Treatise" heißt: "Die väterliche Gewalt". In ihm finden sich einerseits Parallelisierungen zwischen Staat und Familie, insofern z.B. den Eltern "eine Art Herrschaft oder Recht-
Verbindungen des Menschen untereinander, die "für den einzelnen Menschen wie den Staat die wichtigste" sei (S. 38, aaO.). Er nimmt Bezug auf die "Art der Familienverhältnisse in einer Generation" (S. 39) und fordert vom Staat, "überhaupt von der Ehe seine ganze Wirksamkeit (zu) entfernen und dieselbe der freien Willkür der Individuen und der ... Verträge ... (zu) überlassen" (S. 42, aaO.). Damit bleibt sein Ehe- und Familienbild in Übereinstimmung mit seiner Staatstheorie. 811 In Staats-Lexikon (1837), zit. nach D. Schwab, in: FS Bosch, 1976, S. 893 (899 f.): "Die Anerkennung und Gewährleistung der natürlichen Familienrechte" ist "als ein Hauptartikel des bürgerlichen Vereinigungsvertrages zu betrachten". S. auch die Grundsatzäußerungen von FC. Dahlmann (1835): "Wie der Staat aus der Familie entspringt ...". 812 "Der ausgebildete Staat hat die Familien, nicht die Individuen zu Bestandteilen" (beide zit. nach D. Schwab, aaO., S. 900).- Zu "Familienrechtlichen Kodifikationen im Wandel der Anschauungen" s. den gleichnamigen Beitrag von W. Müller-Freienfels, FS Hinderling, 1976, S. 111 ff; s. auch H.-J. Hildebrandt, Der Evolutionismus in der Familienforschung des 19. Jahrhunderts (u.a. zu J. Bachofen), 1983. 813 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, 1960, S. 31: "... weil wir seit dem Beginn der Neuzeit jeden Volkskörper und jedes politische Gemeinwesen im Bild der Familie verstehen, dessen Angelegenheiten und täglichen Geschäfte wie ein ins Gigantische gewachsener Haushaltsapparat verwaltet und erledigt werden". S. aber auch S. 41 f.: "Was sich in der Massengesellschaft geändert hat, ist lediglich, daß jetzt die einzelnen sozialen Gruppen, die aus dem Zerfall der Familie entstanden waren, das Schicksal der ursprünglichsten gesellschaftlichen Gruppe, der Familie, teilen". 814 Vgl. T. Hobbes, Leviathan (1668, zit. nach der Reclam-Ausgabe 1976), der in seinem zentralen Kapitel 17 über "Grund, Entstehung und Definition des Staates" schreibt (S. 152, aaO.): "Was damals kleine Familien taten, das tun jetzt bürgerliche Gesellschaften als große Familien...". Im 20. Kapitel über "erbliche und despotische Herrschaft" findet sich der traditionsreiche Vergleich zwischen väterlicher und monarchischer Gewalt (S. 182, aaO.): "Hieraus folgt, daß jede große Familie, solange sie noch nicht zu einem bestimmten Staat gehört, hinsichtlich ihrer Rechte ein kleiner Staat ist". 815 Vgl. The Second Treatise of Government, Über die Regierung, 1690, zit. nach der Reclam-Ausgabe 1974.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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sprechung" über die Kinder zuerkannt wird 8 1 6 . Andererseits betont J. Locke™ daß sich die "Gesellschaft von Eltern und Kindern ... von einer politischen Gesellschaft weit unterscheidet". Im Abschnitt X V ("Die väterliche, politische und despotische Gewalt zusammen betrachtet") hebt er nochmals die Unterschiede hervor. Das hindert ihn nicht, unter V I I ("Die politische oder bürgerliche Gesellschaft") die Gesellschaft von Mann und Frau als "erste Gesellschaft" und den Kreis der Familie als Vorstufen der bürgerlichen Gesellschaft zu werten 818 . cc) Aus dem französischen Denken neben J.-J. Rousseau819 hier ein Beleg aus Montesquieus "Vom Geist der Gesetze" (1748) 820 : Montesquieu behandelt die Familie vor allem im Vierten Buch (Erstes Kapitel): "Daß die Gesetze der Erziehung den Regierungsprinzipien entsprechen müssen". Hier nimmt sie sogar einen zentralen Platz in seinem Staats- und Rechtsdenken ein: unter dem Aspekt der Erziehung. Diese ist der Grund der Entsprechung zwischen Familie und den "Regierungsprinzipien". Wegen des tiefen Aussagegehalts sei das Zitat wörtlich wiedergegeben. Gleich eingangs schreibt Montesquieu: "Die Gesetze der Erziehung wirken als erste auf uns ein. Sie bereiten uns auf unser Leben als Bürger vor. Daher muß jede einzelne Familie nach dem Leitbild der großen Familie, die sie alle in sich begreift, regiert werden.- Wenn dem Volk im ganzen ein Prinzip innewohnt, werden auch die Teile, aus denen es sich zusammensetzt, d.h. die Familien, es enthalten" (aaO., S. 30). Im Abschnitt über die "Erziehung unter der republikanischen Regierung" heißt es (aaO., S. 136): "Diese Liebe (sc. als Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterland) begeistert sich ausschließlich für die Demokratien. Bei diesen allein wird die Regierung jedem Bürger ans Herz gelegt... Mithin kommt in der Demokratie auf die Festigung dieser Liebe alles an. Die Erziehung muß darauf bedacht sein, sie zu wecken... die Väter müssen 816 S. 41 f., aaO.; s. auch S. 57: der Vater übt "als einziger in seiner Familie jene vollziehende Gewalt des Naturgesetzes" aus; ferner S. 58: "So wurden die natürlichen Väter der Familien durch einen unmerklichen Wandel auch zu ihren politischen Monarchen". 817 Unter VII, S. 63, aaO.; s. auch VI, S. 53 für Unterschiede von väterlicher und politischer Gewalt. Dazu W. Hennis , Demokratisierung..., 2. Aufl. 1972, S. 29 ff. 818 Sub. Ziff 77, vgl. auch die Anm. des Übersetzers, aaO., S. 59. 819 Vgl. J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1762, zit. nach der ReclamAusgabe 1977, S. 6: "Die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche ist die der Familie."- S. 7 ebd.: "Die Familie ist deshalb, wenn man so will, das Urbild der politischen Gesellschaften; das Oberhaupt ist das Vorbild des Vaters, das Volk das Abbild der Kinder, und da alle gleich und frei geboren sind, veräußern sie ihre Freiheit einzig zu ihrem Nutzen". 820 Hier zit. nach der Reclam-Ausgabe 1965/1976.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
selbst davon beseelt sein". Und S. 137: "Nicht die heranwachsende Generation entartet: sie gerät nur auf Abwege, sobald die Erwachsenen bereits verderbt sind". dd) Ein letzter Blick gelte den Klassikertexten der griechischen Antike, so sehr sie historisch "am Anfang" stehen. Schon hier finden sich analogieähnliche Parallelisierungen zwischen Familie und Staats- bzw. Verfassungsformen: vor allem in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles 821 . Im Buch heißt es unter Ziff. 12 (hier S. 231 f.): "Analogien zu den Verfassungsformen, sozusagen Musterfälle, kann man auch an den Hausgemeinschaften beobachten. So hat die Gemeinschaft des Vaters zu den Söhnen die Gestalt einer Königsherrschaft... Das Königtum will eben seinem Wesen nach ein väterliches Regiment sein... Das Verhältnis des Mannes zur Frau hat die Merkmale einer Aristokratie ... 'Demokratie' ist vor allem da zu finden, wo es ein Zusammenhausen ohne jedes Oberhaupt gibt...". Steht bei Aristoteles die Analogie zwischen den Staats- und Verfassungsformen bzw. der Familie in Sachen "Herrschaft" im Vordergrund, so läßt Piaton in seiner "Politeia" einen mindestens auch pädagogischen Aspekt anklingen, ganz in Übereinstimmung mit der Erkenntnis großer Autoren von J.-J. Rousseau bis W. von Humboldt 822, nämlich: dieses Buch sei "mehr eine Erziehungs- als eine Staatsschrift". Im Neunten Buch Piatons heißt es 823 : "Sie (sc. die Gesetze) nehmen sämtliche Staatsangehörige unter ihren Schutz. Ebenso zeigt es die Aufsicht, die wir unseren Kindern zuteil werden lassen. Wir lassen sie nicht eher los, als bis wir ihrer Seele eine Art Staatsverfassung gegeben und einen Wächter und Herrscher für sie ernannt haben, wie wir selber einen solchen in uns besitzen. Dann erst geben wir sie frei". c) Ein vorläufiger
Ertrag
Was ist der vorläufige Ertrag dieser hier (auch miteinander) ins Gespräch gebrachten "Klassikertexte" zu Familie und Staat? Zum einen: Das Denken über Staat, Gesellschaft, Verfassung und Recht bzw. die Familie steht in vielen Klassikertexten in einem engen inneren Zusammenhang (von T. Hobbes und J. Locke über J.-J Rousseau, W. von Humboldt bis Hegel und K. Marx 8 2 4 ).
821
Hier zit. nach der Reclam-Ausgabe von 1969. S. aber auch Hennis , aaO., S. 25 f. Vgl. W. von Humboldt, Ideen zu einem Versuch,..., aaO., I. Einleitung, S. 17. 823 Zit nach der von A. Horneffer besorgten Übersetzung, 1949, S. 325. 824 Treffend flicht D. Schwab, Art. Familie, in: O. Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 1979, S. 253 (280), den geglückten Begriff "Strukturanalogie von Staat und Familie" für die historischen Entwicklungen ein, die den Abbau des politischen Gottesgnaden822
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VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
Zum anderen: dieser Zusammenhang ist kulturgeschichtlich bedingt und er steht als solcher im Wandel, und: S t e h b i l d und Familienbild lassen sich nur in diesem kulturellen Zusammenhang und nur grundsätzlich diskutieren. Eine noch heute gültige kulturanthropologische Einsicht hat wohl am treffendsten Montesquieu formuliert: Familie und Staatsform stehen über die Erziehungsprinzipien in einem notwendigen "Entsprechungsverhältnis". Gerade in der freiheitlichen Demokratie des Verfassungsstaates von heute, der vom Bürger ausgeht, ist es besonders notwendig und gefordert. Familiäre Erziehung leistet vorweggenommen - ein Stück jener "pädagogischen Verfassungsinterpretation", die eine freiheitliche Demokratie für ihre Bürger braucht und die sie ihren Bürgern anvertrauen kann 825 . Umgekehrt muß jede Verfassungsinterpretation den spezifischen Menschenwürde-, Freiheits- und Kulturwert der Familie respektieren. Dies bildet eine ihrer Prämissen. "Abschreckendes" Gegenbeispiel war die Erziehungsdiktatur marxistischleninistischer Staaten826. Anders als sie vertrauen Verfassungsstaaten auf die freie Erziehungskompetenz und -potenz der Familien für ihren Bereich: aber mit gewollter "Fernwirkung" im politischen Gemeinwesen. Im staatlichschulischen Bereich hat der Staat "eigene" Erziehungsaufgaben, die sich aber 827
den familiären ergänzend einfügen und zu einem Gesamtbild formen allem Pluralismus, genauer: gerade um des Pluralismus willen.
- bei
turns bzw. seines Analogon, die gottgegebene Herrschaft des Hausvaters und die Umstellung von Staat und Familie auf vertragsrechtliche Grundlagen brachten. S. auch als klassischen Beleg etwa sein Zitat von Jean Bodin (1583): Modell der Familie als "Vorbild des Staates" (aaO., S. 268).- Neuere Literatur großer Autoren bedient sich auch im Rückblick der "Strukturanalogie", vgl. z.B. G. Radbruch, Die Familienauffassung des Sozialismus, in: ders., Kulturlehre des Sozialismus, 4. Aufl. 1970, S. 63 (65): "Die Familie war ein verkleinertes Bild der größeren Arbeitsgemeinschaft des Volkes, und das Kind wuchs, indem es in die engere Arbeitsgemeinschaft sich einfügte, unvermerkt in die weitere Arbeitsgemeinschaft hinein... Was früher die Verhältnisse von selbst lehrten und angewöhnten, muß jetzt in Kindergarten, Arbeitsschule, vor allem aber auch im Hause bewußte Erziehungsarbeit mühsam leisten". 825 Dazu mein Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele (zweite) FS H. Huber, 1981, S. 211 (228 ff). Ansätze zu einer Zusammenschau des Art. 6 GG mit dem "weltanschaulich nicht einheitlichen Staat wie der Bundesrepublik" in: BVerfGE 10, 59 (insbes. 84 f.). 826 S. die ideologische Indienststellung der Familie und der Erziehung der Kinder "im Geiste der Demokratie, des Sozialismus, des Patriotismus und der Völkerfreundschaft" im Entwurf eines Familiengesetzbuches der vormaligen DDR (§ 1) und die Kritik der Kirchlichen Ostkonferenz an diesem Entwurf vom 1. Sept. 1954 (beides abgedruckt in: Familienrechtsreform, Dokumente und Abhandlungen, hrsgg. von H. Dombois und F.K. Schumann, 1955, S. 72 bzw. S. 67 ff). 827 Vgl. auch BVerfGE 34, 165 (183): "sinnvoll aufeinander bezogenes Zusammenwirken".· So sehr der Verfassungsstaat die "elterlichen", d.h. familiären Erziehungsziele frei läßt, im ganzen gesehen "erwartet" er ein Zusammenwirken im Erfüllen des
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Das notwendige Mindestmaß an "praktischer Konkordanz" und Homogenität zwischen "verfaßter Familie" und pluralistisch verfaßtem politischen Gemeinwesen zeigt sich nicht nur in den - differenzierten - Erziehungszielen, es offenbart sich auch in der damit zusammenhängenden grundrechtlichen Fundierung und Strukturierung der Familie einerseits, des Verfassungsstaates und seiner freiheitlichen Demokratie andererseits. Die Familie ist gegen den und im Verfassungsstaat grundrechtlich über mehrere Schutzrichtungen, d.h. mehrdimensional gesichert (abwehrrechtlich, objektiv- und leistungsrechtlich, prozessual und korporativ) und die "natürlich" heranwachsenden Kinder wachsen "parallel" in juristische Grundrechtspositionen hinein: ihre "Kindesrechte" erstarken nach und nach grundrechtlich. Komplementarität der Erziehungsziele und die prinzipiell grundrechtliche Strukturierung der Familie "i.S. der Verfassung" sind die beiden heutigen verfassungsstaatlichen Entsprechungen zwischen demokratischer Staatsform und Familie! Beide sind Teile einer Verfassung, beide meinen den"Bürger" 828 . Nach einem viel zitierten Wort von Martin Wolff 8 2 9 ist die Geschichte der Familie "die Geschichte ihrer Zersetzung". Auf dem Hintergrund des Gesagten ist dies indes nur die eine Seite und vielleicht allzusehr von einem auch in der
elterlichen und schulischen Erziehungsauftrags. Insofern ist die Familie nicht nur negativ ausgegrenzt, sondern auch positiv eingebaut, was sich also nicht nur in der erklärten "Familienpolitik des Verfassungsstaates" zeigt. 828 Die Sozialwissenschaften, insbesondere die Familiensoziologie, haben im Rahmen ihrer Methoden den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Familienverfassung und den staatlich-gesellschaftlichen Verhältnissen durchaus im Auge: vgl. schon die Themenformulierung: "Rationale Familienpolitik in einem demokratischen Land" bei R. König, Materialien zur Soziologie der Familie, 1946, S. 165 ff, seine Behandlung der "Familie in der spätkapitalistischen Gesellschaft", dazu auch H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 3. Aufl. 1955, S. 15. Schelsky, ebd. S. 42, formuliert als vornehmste Aufgabe einer Familiensoziologie heute, "die Familie und ihren Bestand als Wert und Ziel, als sozial-moralische Leitidee einer Sozialpolitik und darüber hinaus einer Wirtschafts- und Staatsbürgergesinnung überhaupt zu erweisen". Wenn H. Schelsky, aaO., S. 166, von einer "auch von der Familienverfassung her sich anbahnenden klassenlosen Gesellschaft" spricht, so ist auch hier eine Entsprechung zwischen Familie bzw. Staats- und Gesellschaftsverfassung ins Auge gefaßt. Zur patriarchischen Macht des späten fürstlichen Absolutismus und der Industrie des Früh- und Hochkapitalismus als Vorbild der haus väterlichen Gewalt in der Familie: Schelsky, Wandlungen, aaO., S. 325 f.- Schließlich zeigt sich ein vergleichendes Arbeiten zwischen Familie und Staat (Gesellschaft) z.B. bei A.C.R. Skynner, Die Familie, 1981, S. 41: "Die Analogie zwischen totalitären Gesellschaftssystemen und restriktiven Familien sollte natürlich nicht zu weit geführt werden".- Die Familie-Staat-Analogie begegnet als Paradigma also offenbar in den unterschiedlichsten Wissenschaften.- Zu den verfassungsrechtlichen Dimensionen des Art. 6 Abs. 1 GG vgl. noch BVerfGE 80, 81 (insbes. 92 f.). 829 Vgl. z.B. G. Boehmer, Einführung in das bürgerliche Recht, 1953, S. 83.
VIII. Klassikertexte im Verfassungsleben
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Politischen Theorie nicht seltenen Verfalldenken aus formuliert 830 . Mehr oder weniger bewußt mögen hier überdies monarchische Leitbilder eine Rolle gespielt haben. In einer verfassungsstaatlichen freiheitlichen Demokratie ist die auf der Gleichberechtigung der Elternteile aufbauende (vgl. Art. 3 Abs. 2 und 117 GG), die Kindesgrundrechte "wachsen" lassende Familie "i.S. der Verfassung" kein bloßes "Zerfallsprodukt", sondern positive Konsequenz des einen "Menschenbildes", des einen "Bürgers". Dasselbe gilt für die differenzierten Inhalte von elterlichen und staatlich-schulischen Erziehungszielen. Sie sind nicht miteinander identisch und je eigen begründet, aber sie gehören letztlich gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen. Da die Familie " i.S. der Verfassung" die Kinder in die "größere" Gemeinschaft des politischen Gemeinwesens als Demokratie im Sinne eben derselben Verfassung hineinführt und zum Bürger werden läßt, kann es keinen strukturellen Antagonismus zwischen Familie und Verfassungsstaat geben. Umgekehrt muß die freiheitliche Demokratie auf das "Bild" der Familie abgestimmt sein. A l l dies bedeutet keine "Politisierung", "Instrumentalisierung" oder "Demokratisierung" der Familie" i.S. der Verfassung", auch keine naive oder "romantische" Gleichsetzung von staatlicher und familiärer Gemeinschaft, wohl aber die Herstellung eines letztlich kulturellen, teils grundrechtlichen, teils pädagogischen Entsprechungsverhältnisses, um das im Pädagogischen vor allem Montesquieu gewußt hat. So gesehen gibt es eine theoretisch zu begründende und praktisch zu lösende "Entsprechung" zwischen dem "Staatsbild" und dem "Familienbild" der verfassungsstaatlichen Verfassung 831 : so wie auch Staatsverständnis und Grund832
rechtsverständnis ganz allgemein korrelieren Lange Zeit schulte sich das philosophische und juristische Denken über den Staat an der Familie, heute ist auch eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten: Das Denken über die Familie orientiert sich auch am Staat. Im Verfassungsstaat ist dies insofern konsequent, als die grundrechtliche Fundierung und Strukturierung des Verfassungsstaates einerseits, der Familie andererseits, insbesondere die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die wachsende
830
In der Familiensoziologie erinnert G. Wurzbacher, Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens, 3. Aufl. 1958, S. 243, daran, daß im gesellschaftlichen Wandel immer Auflösungsprozesse zu beobachten sind, aber es auf der anderen Seite "immerwährend den Antrieb zu Neubildungen" gibt. So sind der Familie neue Aufgaben und Möglichkeiten zugewachsen.- Aus den übrigen Kulturwissenschaften aufschlußreich: A. Lorenz, Das deutsche Familienbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, 1985. 831 Vgl. den vorbildlichen Art. 26 Abs. 1 Verf. Saarland. 832 Dazu K. Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 (437 f.); P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 362 ff. 35 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
"Grundrechtsmündigkeit" 833 des Kindes, einander entsprechen. Solche strukturellen und letztlich kulturellen Analogien dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade im Verfassungsstaat das Analogieverfahren auch seine Grenzen hat: Familie läßt sich insbesondere nicht als "politische Einheit" begreifen, und: so wichtig die grundrechtlich fundierte und strukturierte Familie für die freiheitliche Demokratie ist, so wenig läßt sie sich einfach "analog" einer solchen Staatsform begreifen. Insbesondere kann nicht mit Leitbildern wie "innerfamiliäre Demokratie" etc. gearbeitet werden. Die gerade kulturwissenschaftlich erfaßbare Differenz zwischen der Familie und dem Staat, auch im Verfassungsstaat, setzt also den erwähnten Analogieverfahren Grenzen, so sehr Familie wie Verfassungsstaat Ausdrucksformen einer - komplexen - Kultur sind. Doch nun zu "Quellgebieten" des Verfassungsstaates:
IX. Schöne Literatur und Künste im Verfassungsstaat, insbesondere Utopien 1. Abwehr- und leistungsrechtliche Garantien der Kunstfreiheit und speziell von Literatur und Literaten entfalten spezifisch verfassungspolitischen Sinn insoweit als damit der Verfassungsstaat sich selbst, d.h. seine eigenen Voraussetzungen (mit-)zu garantieren sucht 834 : Literatur und Literaten sind Lebensbe833 U. Fehnemann, Die Innehabung und Wahrnehmung von Grundrechten im Kindesalter, 1983; M. Roell, Die Geltung der Grundrechte für Minderjährige, 1984; T. Ramm, Jugendrecht, 1990, S. 178 ff.; BVerfGE 59, 360 (387 f.). 834 Gerade eine kulturwissenschaftliche Verfassungslehre braucht deshalb nicht (ver-)fassungslos bei dem ebenso bekannten wie resignativen Dictum von E.-W. Bökenförde stehen zu bleiben, ohne der Gefahr eines Gesinnungsstaates zu erliegen, vgl. ders., FS E. Forsthoff, 1967, S. 72 (93): "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." (In der Durchsetzung der Erziehungsziele z.B. schafft er sehr wohl "Voraussetzungen"!) Dazu H. Lübbe, Staat und Zivilreligion, ein Aspekt politischer Legitimität, in: N. Achterberg/W. Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 40 (57 ff.).- Zum Folgenden schon: P. Häberle, Das Grundgesetz im (Zerr?)Spiegel der Schönen Literatur, 1983. Die Relevanz von Dichtung für die Jurisprudenz untersuchen auch P. Schneider, "... ein einzig Volk von Brüdern", Recht und Staat in der Literatur, 1987 (dazu meine Besprechung in AöR 115 (1990), S. 83 ff.); H. Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen, Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht, 1990; M. Kilian (Hrsg.), Dichter, Denker und der Staat, 1993; jetzt besonders konsequent: B. Grossfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996, S. 20 ff. und passim; Κ. Lüderssen, Produktive Spiegelungen, 1991; W. Jens/W. Graf Vitzthum, Über Geist und Macht in Deutschland, 1991; V. Ladenthin, Recht und Gerechtigkeit im Märchen, NJW 1994, S. 1928 ff.; U. Mölk (Hrsg.), Literatur und Recht, Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart, 1996; zuletzt: K.
IX. Schöne Literatur, Literaten, Utopien
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dingungen jeden Verfassungsstaats. Das Deutschland-Lied (3. Strophe) etwa ist heute eine der literarischen Grundlagen der Identität des deutschen Verfassungsstaates835, der "Wilhelm Teil" von Friedrich Schiller fundiert die Schweizer Eidgenossenschaft in Gestalt eines Klassikertextes mit, die von A. Muschg erdachte Präambel des Entwurfes für eine Schweizer Bundesverfassung (1977) ist das vielleicht schönste neuere Beispiel positiver Leistungen von Literatur und Literaten für den Verfassungsstaat 836. Negativbeispiele aus der deutschen Geschichte zeigen, wie sehr der Verfassungsstaat der Mitwirkung der Künstler bedarf und wie sehr er ohne sie leidet: Wenn man von Weimar sagen konnte, es sei eine "Republik ohne Republikaner" gewesen, so gilt auch dies: Es war z.T. eine Republik ohne Literaten! Verfassungsstaatliche Verfassungen müssen immer neu angenommen bzw. paktiert werden. Das berühmte "plébiscite de tous les jours", besser: das immer neue "Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller", schließt die Partizipation der Literaten ein. Damit wird keine irgendwie geartete "Verfassungstreue" - gar mit Sanktionen - verlangt, keine auch nur moralische Inpflichtnahme i.S. eines "Hof- oder Staatsdichters", auch keine "Linientreue" 837 und keine "Politi-
Lüderssen, Die Juristen und die schöne Literatur - Stufen der Rezeption, NJW 1997, S. 1106 ff.- Zum "fast unendlichen Thema Goethe" hier nur: P. Sina , Goethe als Jurist, in: NJW 1993, S. 1430 ff. 835 Zum Deutschlandlied als Nationalhymne gleichnamig G. Spendei , JZ 1988, S. 744 ff. Bekannt ist auch der Impuls zur Entstehung des eigenen Verfassungsstaates Belgien durch Aufführung der Oper "Die Stumme von Portici" (1830). Italiens "geheime Nationalhymne" ist seit der Einigung (1861) der Gefangenenchor Verdis in seiner Oper "Nabucco". Jüngst hat er seine integrierende Kraft unter Beweis gestellt: Als im Augut/September 1996 der "Sezessionist" U. Bossi im Vorfeld der Gründung von "Padanien" in Verona diese Musik für seine "Lega Nord" instrumentalisieren wollte, wurde er niedergepfiffen. Allgemein B. Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung, 1996. 836 Vgl. auch A. Muschg, Wohin mit der Kultur? (1977), in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 355 ff.- Der Text des Präambelentwurfs ist abgedruckt in AöR 104 (1979), S. 475. 837 Erich Kästner, Der trojanische Wallach, in: K. Wagenbach/W. Stephan/M. Krüger (Hrsg.), Vaterland, Muttersprache, Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, 1979, S. 91: "Die freien Künste dürfen nicht zum staatlich betriebenen Flohzirkus werden."- Das ebenso politische wie verfassungstheoretische Anliegen von R. Smend, die Grundrechte als "persönliches Berufsrecht des deutschen Staatsbürgers" und die Verfassung als "Form" zu sehen, "in der wir alle zusammen unseren gemeinsamen geschichtlich-sittlichen Beruf als Nation ergreifen" (Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933, jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 309 [318 f., 323 f.]), kam aber für die Weimarer Zeit zu spät, wirkt jedoch unter dem GG nach: ein Indiz ist die 3. Auflage von 1994 als solche!- Zu "Freiräumen und Grenzen politischer Karikatur" mit Material aus dem Deutschen Kaiserreich, Weimar und dem Grundgesetz gleichnamig: G. Gonnalakis, in: NJW 1995, S. 809 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sierung". Wohl aber läßt sich sagen, daß das politische Gemeinwesen mindestens auf einen Teil seiner Literaten muß rechnen können. "Kritische Sympathie" (W. Scheel) als Desiderat auch hier! Die kulturelle Ambiance der Verfassungstexte ist eine wesentliche Geltungsvoraussetzung. Eine Teil-Mitverantwortung in den den Verfassungsstaat gestaltenden kulturellen Prozessen trägt die Literatur 838 - wie immer sie sich äußert: durch ungeteilte Zustimmung oder Widerspruch, Kritik und Provokation, ja Ablehnung, durch Reflexion oder Stücke konkreter Utopie, all diese aber weniger oder doch nur zum Teil in Fundamentalopposition zum System, wenn dieses "System" eine freiheitliche Ordnung ist: Gerade weil der Verfassungsstaat keine Möglichkeiten zur Erzwingung von Zustimmung besitzt, ist er langfristig auf freie Zustimmung auch der "schönen" Literatur angewiesen. Die sehr deutsche Neigung zur Übertreibung, zu extremen Positionen (so G.E. Lessings Freund und Verleger Nicolai) bzw. zum Rückzug auf die Innerlichkeit dürfte ein Grund sein, warum Literaten der 70er und 80er Jahre mit dem GG als Verfassung des Maßes und der Mäßigung der Freiheit als Normalität zu wenig anzufangen wissen 839 . Zu Recht wird für Deutschland das Fehlen einer "politischen Kultur der schreibenden Zunft" konstatiert, im Gegensatz etwa zu Frankreich 840 und seinem "kulturellen Nationalismus". Bei aller Kritik an politischen Zuständen und Vorgängen im einzelnen: von Victor Hugo bis Jean Paul Sartre hat "Literatur" dort einen die Republik mitbe-
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Was von Literaten auch gesehen wird: "... Es gibt keinen Berufsstand, der in der Vergangenheit mehr für die deutsche Demokratie geleistet und mehr unter den Feinden der Freiheit gelitten hat als die deutschen Schriftsteller... Wir, die deutschen Schriftsteller, werden unsere Verantwortung nicht so vergessen, wie es viele Politiker jetzt tun ... Noch ist dies auch unsere Republik, mit all ihren Fehlem, die zu kritisieren wir als unsere Pflicht erachten, wobei sich für uns die Frage nicht stellt, wie sympathisch diese Kritik den anderen ist, sondern nur, ob sie berechtigt genannt werden darf." (Β. Engelmann auf der Pressekonferenz des Verbandes deutscher Schriftsteller während der Buchmesse 1977, abgedruckt in: K. Wagenbach u.a. (Hrsg.), Vaterland, Muttersprache, 1980, S. 309 f.); zur allgemeinen Rolle von Literatur auch: W. Iser, Das Literaturverständnis zwischen Geschichte und Zukunft, St. Gallen 1981. 839 Wie kann die Entfremdung zwischen Literatur und Verfassungsjuristen abgebaut werden? Denkbar wäre die vermehrte Einrichtung von Foren zur Begegnung. Hierher gehört z.B. die Tatsache, daß Bundespräsident Karl Carstens die Schriftsteller H. Boll, M. Walser und M Gregor-Dellin zu einem Abendessen mit Diskussionen bis Mitternacht empfing (Bonner GA vom 23. September 1981, S.5).- Ergiebig war z.B. das Bitburger Gespräch über Kunst und Recht im Januar 1978, in Jahrbuch 1977/1978, S. 109 ff. unter Beteiligung von Künstlern (wie J. Beuys), Literaten, Politikern und Staatsrechtslehrern.- Bemerkenswert: K-R. Körte, Über Deutschland schreiben, in: NJW 1993, S. 1456 ff. sowie die Einladung W. Biermanns nach "Kreuth" (1998). 840 So P.F. Reitzke, Das Buch ist eine Messe wert, Christ und Welt/Rheinischer Merkur vom 16. Okt. 1981, S. 1.
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gründenden Stellenwert. Das kommt nicht zuletzt in dem berühmten Satz von de Gaulle in Bezug auf Sartre zum Ausdruck: "Einen Voltaire verhaftet man nicht." Eine derartige "Verfassungs(sub)kultur" kann nicht von heute auf morgen begründet werden, sie läßt sich auch nicht einfach "kopieren". In Frankreich war und ist Literatur nun einmal kontinuierlich "politischer" als in Deutschland 841 . Dennoch zeigt sich die Zusammengehörigkeit von Verfassungsstaat und Literatur: Sie muß wachsen können. Der Verfassungsstaat als Individualität ist auf Kunst und Literatur als eine angewiesen. LiteHervorbringung der Freiheit als "kulturelle Kristallisation" rarische Texte wirken als "Ferment", sie sind "Stoff', aus dem das Recht und die Juristen einer offenen Gesellschaft kurz-, mittel- und langfristig viel Anregung und "Material" sowie (Orientierungs-)"Werte" gewinnen können. Auch die Äußerung des Nichtjuristen zu Verfassungsfragen ist ein Beitrag zum "Konzert" des Ganzen in den Prozessen der "Erfindung" von Orientierungswerten, wie auch der inhaltlichen Bestimmung der Grundbegriffe des Verfassungsstaates842. Ob und wie die Verfassung als Teil des Kulturzustandes eines Volkes auf Dauer "hält", ist nicht allein Sache der Juristen, nicht nur Sache aller Bürger im allgemeinen, sondern auch der Künstler und Literaten, jener also, die von Berufs, wenn man will: von "Amts wegen" mit dem Wort umgehen. Gerade in Not- und Krisenzeiten ist die rechtliche Verfassung nur begrenzt wirksam, wenn sie nicht durch kulturelle Strukturen (auch irrationale Inhalte) abgesichert und "gehalten" wird. Kritische Literatur ist ein Ferment in den
841 Zum Defizit der deutschen Literatur an Meisterreden und bedeutenden Rhetorikern, welche sich mit den Leistungen der Franzosen oder Engländer messen können: Hans Mayer, Politische Rhetorik und deutsche Gegenwartsliteratur, in: FS A. Arndt, 1969, S. 293 ff; erst seit 1964 entwickele sich ein "neues Verhältnis zur öffentlichen Rede" (S. 300 ebd.).- Vgl. das Diktum des französischen Publizisten A. Gorz in: Der Spiegel Nr. 4 vom 25. Januar 1982, S. 35: "Der deutschen Geschichte fehlt der kulturelle Bezug zur Freiheit." In Frankreich konstituieren Montesquieus "De l'ésprit des lois" oder Teile von Rousseaus Werk die Republik nicht nur deshalb mit, weil sie direkt in manchen juristischen Verfassungstexten (teil)rezipiert worden sind (vgl. die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: Art. 1 S. 1, Art. 6 S. 1, Art. 16; zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975). Diese Literatur ist gleichermaßen juristische wie sonstige "Literatur". Sie ist zugleich juristischer Text und kultureller Text der französischen Verfassungstradition. 842 So kann die Dominanz einiger (Juristen) verhindert werden, die H.M. Enzensberger (Deutschland, Deutschland unter anderem, 1967, S. 46) beklagt. Sie würde eine geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten etablieren, die nicht dem GG entspricht. Von ihr spricht ironisch: Ρ. Lerche, VVDStRL 54 (1995), S. 112 (Aussprache).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Gärungsprozessen der Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit 843 , sie dient auch der Formulierung des Selbstverständnisses eines pluralistisch verfaßten Volkes. Es dürfte jedenfalls nicht überraschen, wenn einmal ein Dichter den Satz wagen würde: "Der Verfassungsstaat ist zu wichtig, als daß man ihn nur den Juristen überlassen dürfte", denn: Wir alle sind Hüter der Verfassung 844 ! 2. Ein Rückblick erweist sich für alle Arten von "Kunst" als ergiebig. a) "Schöne Literatur" Das Thema "Literatur und Verfassungsstaat" erweist sich als ein weit gestecktes Terrain, das durch einen raschen Gang durch die Geschichte der (Welt)Literatur aber zumindest oberflächlich überblickt werden kann. Die erkennbaren, zum Teil höchst engen Verknüpfungen der "Dichtkunst" (i.w.S.) mit der Geschichte und der Entwicklung des Rechts (und letztlich auch des Verfassungsstaates) erstrecken sich auf alle Teilbereiche der "Poesie": Lyrik, Epik und Dramatik. Literatur, die zu politischen Themenstellungen und auch zu Problembereichen des Rechts und der Jurisprudenz Stellung bezieht, wird gemeinhin unter dem (allerdings umstrittenen) Begriff der "engagierten Literatur" (M. Reich-Ranicki) behandelt (der sich freilich 1997 davon distanziert hat). Dieser Terminus beschränkt sich indessen auf literarische Epochen der Neuzeit, die zeitlich in die Epoche nach der Aufklärung gegen Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einzuordnen und die eng mit der politischen Emanzipation des Bürgertums und infolgedessen mit der allmählichen
843 Empirische Nachweise für die politische Vorreiterrolle der Literatur (am Beispiel der Gruppe 47 für die politischen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland) bei H. M. Kepplinger, Realkultur und Medienkultur, 1975, zusammenfassend S. 193 ff. 844 Das hier gesuchte Verhältnis zwischen Literatur und politischem Gemeinwesen ist nicht etwa irgendeine Art von "Staatsdichtung" bzw. "Staatskunst" oder "positiver Kunst". Sie hat dem Staat meist wenig genutzt und dem Autor eher geschadet; Vergil mag eine Ausnahme sein. Zu Recht meint L. Kopelew in seiner Frankfurter Rede als Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 1981 (FAZ vom 19. Okt. 1981, S. 8): "Das wahre geistige Leben in allen Ländern, besonders in denen, die autoritär oder gar totalitär beherrscht werden, entwickelt sich unabhängig von der Staatsmacht. Staatspolitische Traditionen, administrative Routine und ideologische Überlieferungen bleiben entweder fremd oder stehen den geistigen, sittlichen Traditionen, den Überlieferungen nationaler Kultur direkt feindlich gegenüber." Zuletzt aber auch M. Vargas Llosa, "Dinosaurier in schwieriger Zeit", FAZ vom 7. Oktober 1996, S. 14 mit der These, die Literatur dürfe auf politisches Engagement nicht verzichten; es gelte, für die freien Länder, einen "befriedeten Planeten" zu schaffen, als "Förderung der demokratischen Kultur."
IX. Schöne Literatur, Literaten, Utopien
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Entstehung eines kritischen, aufgeklärten, politisch parteinehmenden freien Pressewesens verbunden sind. Hierauf ist die folgende knappe Darstellung jedoch nicht zu begrenzen. "Ewige Themen" des Rechts, Fragen nach Gerechtigkeit, nach angeborenen - unveräußerlichen und überpositiven - Rechten des Menschen, das Problem des Verhältnisses von Recht und Macht, Macht und Recht erweisen sich bereits als Gegenstände der Dichtkunst des klassischen antiken Griechenlands. In der Antike finden sich Zeugnisse und Äußerungen des politischen Denkens, das vornehmlich auch die Bereiche des Rechts und der Moral einschloß, in der dramatischen und epischen Dichtung (in Griechenland zudem in der Lyrik) 8 4 5 . Die antike politische Gedankenwelt und das griechische Staatsdenken lassen sich bis auf den ersten griechischen Dichter Homer zurückführen, der für die Abfassung der Ilias in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. und der ein wenig jüngeren Odyssee steht 846 . Selbst für die Folgezeit können schriftlich fixierte Zeugnisse über die Herrschaftswelt und die politischen Entwicklungen des Altertums nur in den Werken von Dichtern gewonnen werden; etwa bei Homer lassen sich die Umbrüche, in deren Folge der Adel das erbliche Königtum verdrängte und die Polis als vorherrschende staatliche Einheit Bedeutung erlangte, ablesen 847 . Als idealtypische Beispiele für eine Polisgemeinschaft sind die in der Ilias (18, 497 - 508) beschriebene Gerichtsszene auf dem Schild des Achill und der im 7. und 8. Buch der Odyssee wiedergegebene Bericht über den wohlgeordneten Phäakenstaaat anzusehen: hiernach zählt zu den höchsten Gütern der Polis das der Gerechtigkeit verpflichtete Rechtswesen 48. Homers Nachfolger griffen Themen der von den Göttern stammenden Rechtsordnung und der Gerechtigkeit (Themis, Dike) auf 849 . Der Dichter Hesiod verwendete erstmals den Begriff "Nomos" für das von Zeus gegebene Ge. 850
setz
.
845 K. Rosen, Griechenland und Rom, in: H. Fenske u.a., Geschichte der politischen Ideen, TB-Ausgabe, 1991, S. 19 (20). 846 K. Rosen, aaO., S. 22 (hier insgesamt S. 22 - 27: "die Anfänge des politischen Denkens im Epos"), vgl. auch M Grant , Mittelmeerkulturen in der Antike und E. Frieden, Kulturgeschichte Griechenlands (5. Auflage 1988 - TB-Ausgabe). 847 K. Rosen, aaO., S. 22 ff. 848 K. Rosen, aaO., S. 24. 849 K. Rosen, aaO., S. 24 und 25; s. auch P. Grimal (Hrsg.), Mythen der Völker Bd. I, 3. Aufl. 1977 (TB-Ausgabe). 850 K. Rosen, S. 26.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
In der Person des Staatsmannes und Dichters Solon trafen die poetischen Beschäftigungen mit der Praxis der Staatsführung und der theoretischen Durchdringung der Aufgaben im Staatswesen zusammen; auch Pindar und andere Dichter beteiligten sich in Hellas an den in der Welt des Geistes geführten Kontroversen um die gute Verfassung ("eunomia"). Die großen Dichter Aischylos (525 - 456 v. Chr.) und Euripides (480 - 406 v. Chr.) behandelten die Demokratie als zentrale Themen ihrer Tragödien; insbesondere das Drama "Die Schutzflehenden" von Euripides zeigt sich als ein "massives Lehrstück eines überzeugten Anhängers der demokratischen Verfas851 sung." "Die Orestie" des Aischylos handelt von der Verletzung der göttlichen Ordnung des Rechts 852 . Schließlich setzte sich schon vor Euripides der Dichter Sophokles (496 - 406 v. Chr.) in seinem bis auf den heutigen Tag hochaktuellen und berühmten Stück Antigone (Uraufführung in Athen um 441 v. Chr.) - der Stuttgarter Oberbürgermeister M. Rommel konnte sich auf ihn berufen, als er (1977) gegen die öffentliche Meinung die Bestattung eines Terroristen (A. Baader) auf dem normalen Friedhof durchsetzte! - mit den Fragen eines über dem geschriebenen Gesetz existierenden göttlichen Rechts des Menschen eindringlich auseinander. Von großer politischer und auch rechtlicher Bedeutung sind überdies die Dramen des Komödienschreibers Aristophanes (um 450 bis etwa 385 v. Chr.), der vor allem die Sophisten und zeitgenössische Demagogen scharf angriff ("Die Wolken", "Der Friede", "Die Vögel", "Die Frösche" u.a.). Die Bedeutung der klassischen antiken griechischen Dramenkunst zeigt sich nicht zuletzt an der Erstlingsschrift von Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (geschrieben 1869 - 1871), die unserer Gegenwart tiefreichende Aufschlüsse über den Rang, die Themen und die geistesgeschichtliche Entwicklung des Theaters auf dem europäischen Kontinent zu vermitteln vermag. Im Vergleich zur hellenischen Dramenkunst erweist sich das insgesamt gesehen nur zu einer geringeren Blüte gelangte Theater der römischen Antike auch in bezug auf die vorgegebene Themenstellung "Antike Literatur und Recht" nicht als sehr ergiebig; allenfalls Seneca (4 vor Chr. bis 65 nach Chr.) und Plautus (254 ν bis 184 v. Chr.) sind hier zu nennen. Die überblickartige Aufschlüsselung läßt aus nachfolgenden, historisch späteren Epochen - nach einem zeitweilig starken Zurückweichen der Poesie aus den Bereichen des politischen Lebens und des Rechtslebens - insbesondere W. Shakespeares Dramen um Recht und Macht (König Johann, Richard III., Der 851
So K. Rosen, aaO, S. 55. S. hierzu auch P. Simmhandl, Grundzüge der Theatergeschichte, 1980, S. 6; s. weiterhin A. Bueckling, Vergessene Rechtsthemen: Die Orestie, NJW 1988, S. 308 ff. 852
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Kaufmann von Venedig 853 ) in den Mittelpunkt treten. Aus der Zeit des sog. Elisabethanischen Theaters sind vor allem noch die Dramatiker Christopher Marlowe und Ben Johnson zu nennen. Die Bedeutung Christopher Marlowes für die Theatergeschichte erhellt daraus, daß manche seiner Dramen als Vorläufer für einige der bedeutendsten Theaterschöpfungen der neueren Literaturgeschichte angesehen werden können, die auch im Zusammenhang mit dem behandelten Thema von Interesse sind: so ist etwa "Der reiche Jude von Malta" eine wichtige Vorwegnahme des Shylock in Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"; und auch Goethes Faust ist beeinflußt worden durch die "Tragische Geschichte von Doktor Faustus", die Marlowe 1588 geschaffen hat. Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit werden allerdings in den genannten Stücken nicht aus einem spezifisch "juristischen" Blickwinkel problematisiert, sondern ergeben sich entweder aus Situationen und Konstellationen des - häufig parabelhaft dargestellten - "Alltagslebens" der Protagonisten oder knüpfen an schicksalhafte Verstrickungen an, die das "moralische Verhalten" auf die Probe stellen und so das Thema sittlich (und später auch rechtlich) "richtiger" Verhaltensweisen und Entscheidungen behandeln. Einen besonderen Raum nehmen darüber hinaus Fragestellungen ein, die sich mit der Ausübung der Macht, mit Machtgier des Menschen, mit der Behandlung der Untertanen durch die Herrschenden auseinandersetzen (s. etwa die oben genannten Tragödien Shakespeares; zu nennen ist etwa auch Christopher Marlowes "Tamerlan der Große" (1587) und sein Bartholomäus-Drama "Das Blutbad von Paris" (1592)). Aus dem Umfeld der spanischen Dramatik des Barock kann hier noch auf das 1643 in Madrid uraufgeführte Schauspiel "Der Richter von Zalamea" von Calder on de la Barca (1600 - 1681) und den von Tirso de Molina (1600 1681) erstmals dramatisch behandelten Stoff der Don Juan Fabel "Die Verführung von Sevilla" oder "Der Steinerne Gast" verwiesen werden. Mit dem weiter voranschreitenden Fortgang der Literaturgeschichte differenzieren sich die philosophisch-literarischen Themenstellungen mit Bezügen zum Recht näher aus; insbesondere der französischen Aufklärungsphilosophie kommt hier ein nachhaltiger Einfluß auf die Literatur zu. Überschneidungen zwischen Philosophie, Literatur und Recht in der Person einzelner Autoren lassen universalistische Tendenzen des Wissenserwerbs erkennen. Von den Vertretern der französischen Aufklärung sind an erster Stelle Voltaire (1694 1778) mit seinen Werken "Der Unbefangene" (1767) und "Candide" (1759) zu nennen sowie Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778) mit seinem "Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit" (1753, die Eigentumsproblematik betreffend)
853
Zum Letztgenannten R. Stettner, Gedanken zu Recht und Gnade in Shakespeares Komödien "Maß für Maß" und "Der Kaufmann von Venedig", DRiZ 1985, S. 457 ff.
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und dem "Emile" (1761 abgeschlossen: erster bedeutender Erziehungsroman). Rousseau hat mit seinem "Emile" großen Einfluß auf die Philosophie des deutschen Idealismus (vor allem auf Immanuel Kant) ausgeübt. Ergänzend soll an dieser Stelle noch auf die französischen Enzyklopädisten (d'Alembert und D. Diderot) hingewiesen werden. Themen, die nicht nur Menschen- sondern auch die Bürgerrechte betreffen, rücken zunehmend in den Mittelpunkt: Glaubens· und Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, der Kampf gegen die Zensur, Postulate der Menschenwürde, der Einsatz gegen die Folter und fur die Abschaffung der Todesstrafe (J.v. Sonnenfels) und endlich der sozialpolitische Einsatz gegen die bestehenden Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen brechen sich mit großer Macht Bahn (so etwa in Friedrich von Schillers (1759 1805) "Kabale und Liebe" (1783 beendet) oder "Wilhelm Teil" (1804 vollendet)): Die Weimarer Klassik bleibt in Sachen "Menschheit" bis heute aktuell (vgl. Sechster Teil X I I I Ziff. 2 Inkurs). Der Erziehungsgedanke gewinnt in dieser Zeit zunehmend an Bedeutung. Schiller entwickelt in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" 1793 an Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg seine Vorstellungen über die Hinfuhrung des Menschen zu einem in sich selbst innewohnenden Ideal ("Idealer Mensch"). Auch G.E. Lessing (1729 - 1781) widmete sich zuvor in einer Schrift von 1753 der "(Die) Erziehung des Menschengeschlechts". Vorrevolutionäre Literatur in Frankreich, die der Gedankenwelt der Aufklärung verpflichtet ist, erzeigt sich als antiklerikal (Voltaire, "Candide") und antifeudal (P.A.C, de Beaumarchais, (1732 - 1799), Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit, 1784). Die Dekadenz des Adels und das häufig vom Alltagselend geprägte Leben weiter Bevölkerungskreise wird in ersten sozialen Reportagen beschrieben (Louis Sebastian Mercier, Mein Bild von Paris, 1788, 1. Aufl. 1979). In Deutschland wird der Toleranzgedanke in seiner klassischen Formulierung durch Lessing (Nathan der Weise) ausgeformt, der in seinem Werk auch angriffslustig für die Geistesfreiheit eintritt. Nach der französischen Revolution von 1789 setzten sich jakobinisch geprägte Literaten für radikale demokratische und republikanische Entwicklungen ein (Georg Forster, Daniel Schubarth, Frhr. von Knigge 854 ). Journalisten und Publizisten treten mit literarischen Mitteln für die Volkssouveränität und den sich herausbildenden Nationalstaatsgedanken ein. Zu den herausragenden Werkformen, in denen soziale Neuerungen postuliert und scharfe Kritik an den bestehenden Gesellschaftszuständen geübt wurden, entwickelte sich die im 854 S. hierzu u.a. Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789 1806), 1976.
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letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts aufblühende Reiseliteratur 855. Literatur des Vormärz (an erster Stelle ist hier Georg Büchner (1813 - 1837) mit seinen Werken "Der Hessische Landbote" (1834) und "Dantons Tod" (Uraufführung 1910 (!) in Hamburg, geschrieben 1835) zu nennen), radikaldemokratische Publizistik (Ludwig Börne und Heinrich Heine sind ihre prominenten Vertreter, letzterer ist 1997 besonders präsent), gewinnen an Einfluß. Das Hambacher-Fest des Jahres 1832 bildet einen Höhepunkt dieser Bestrebungen, die ihren Ausgangspunkt von den Freiheitsbewegungen gegen Napoleon genommen hatten. Dichter wie Freiligrath, Theodor Körner, Herwegh, Ernst Moritz Arndt und Heinrich Hoffmann von Fallersleben fühlten sich dem aufkeimenden Nationalbewußsein und dem aufbrausenden Freiheitspathos wider den Französischen Usurpator verbunden. Auch Heinrich von Kleist (1777 - 1811) zeigte sich in seinen Dramen "Herrmannsschlacht" (1808) und "Prinz Friedrich von Homburg" (1810) von den national getönten Befreiungsideen nachhaltig beeinflußt. An die vorausgegangenen literarischen Werke mit Bezug zu den Themen Nation, Demokratie und Recht anknüpfende poetische Texte sind zum Beispiel mit dem Namen Ludwig Uhland, (der nicht nur Dichter und Jurist, sondern auch Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche gewesen ist), verbunden. An dieser Stelle ist allerdings auf zum Teil parallel auftretende gegenläufige Entwicklungen hinzuweisen. So kann etwa die Romantik als eine Gegenbewegung zur Aufklärung angesehen werden. Die Aufklärung und die vorangegangene Entdeckung moderner naturwissenschaftlicher Methoden hatten zum Entstehen frühindustrieller Tendenzen geführt. Den Antagonismus hierzu illustriert das in Gedichten ausgeführte romantische Naturgefühl etwa Joseph von Eichendorffs anschaulich. Die Epochen der der Rationalität verpflichteten Moderne und der eher antiintellektuell eingestellten Romantik fließen ineinander. Die Annahme einer völlig unpolitischen Haltung der Romantik würde aber in die Irre führen; ihre literarischen Vertreter waren nicht durchweg unpolitisch. In ganz besonderer Weise wird dies etwa an dem Dichter, Komponisten, Maler und Richter am Berliner Kammergericht E.T.A. Hoffmann ersichtlich, der, obgleich er sich selber eher als unpolitisch einschätzte, im Zuge der aufgrund der Karlsbader Beschlüsse (1819) einsetzenden Demagogen Verfolgungen eine rechtsstaatliche, liberale Haltung gegenüber obrigkeitsstaatlichen Willkürmaßnahmen einnahm 856 . Parallel zum erstarkenden politischen Selbstbewußt855
S. hierzu W. Griep, Reisen und deutsche Jakobiner, in: ders./H.-W. Jäger (Hrsg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, 1983. 856 Vgl. die Biographie von Rüdiger Safranski, E.T.A. Hoffmann - Das Leben eines skeptischen Phantasten, 1984, S. 455 ff; s. auch Arwed Blomeyer, E.T.A. Hoffmann als Jurist, 1978; A. Hoffmann, E.T.A. Hoffmann, 1990; R. Meier, Dialog zwischen Ju-
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sein des Bürgertums nahm die Emanzipation der Künste und Künstler, die sich allmählich aus den Fesseln subalterner Dienstbotenstellungen zu befreien vermochten, lebhaften Aufschwung. Der Gedanke der Kunstfreiheit gegen die Kunstzensur und der Gedanke der Meinungsfreiheit gegen die Pressezensur gewannen große Bedeutung. In einer beinahe tragisch zu nennenden Zwischenposition befand sich indessen Franz Grillparzer (1791 - 1872), der nicht nur als Dichter wirkte, sondern in seiner Eigenschaft als Beamter der habsburgischen Monarchie zeitweilig auch das Amt eines Zensors bekleidete. Eine entschieden kämpferische Position für die Meinungsfreiheit und gegen obrigkeitsstaatliche Willkür aller Art vertrat Heinrich Heine. Aber auch Fragen der Staatsräson, etwa Franz Grillparzer in "Die Jüdin von Toledo", wurden in der Literatur diskutiert. In Frankreich verspotteten die neuentstandenen Operetten Jaques Offenbachs das Lebensgefühl und den Lebenszuschnitt des "staatstragenden" Bürgertums 857 . Mit dem entstehenden Naturalismus entwickelte sich eine sozial engagierte Literatur (an herausragender Stelle anzuführen: Emile Zola). Das soziale Engagement des Naturalismus strahlte stark auf die gesamteuropäische Literatur aus. Sogar der große russische Dichter Fjodor M. Dostojewskij (1821 bis 1881) nahm sich in seinem Roman "Erniedrigte und Beleidigte" (1861) Themen des Naturalismus an. Zu den herausragenden Stilmitteln der naturalistischen Gesellschaftskritik, die zugleich auch eine politische Kritik und die Kritik an den bestehenden Rechtsverhältnissen einschloß, zählte die krasse Schilderung des sozialen Elendes und gesellschaftlicher Mißstände. In Deutschland verwoben sich von französischen Schriftstellern wie Emile Zola beeinflußte literarische Stilrichtungen des Naturalismus mit dem aufkeimenden Jugendstil (an Autorennamen sind hier Georg Hirth und Georg Michael Conrad zu nennen), die vornehmlich in eigens gegründeten Zeitschriften (Jugend, ab 1896; Die Gesellschaft, ab 1885) publizierten. Beeinflußt von der Gedankenwelt des Marxismus und der anarchistischen Theorie schrieben Autoren wie Erich Mühsam (1878 - 1934) und Franz Jung (1888 - 1963) gegen die sozialen Mißstände an und beschäftigten sich auch - bisweilen zumindest inzident - mit Rechtsthemen858.
risprudenz und Literatur, 1994. Allgemein: T. Ziolkowski, Das Amt der Poeten, Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, 1992, bes. S. 83 ff. 857 Vgl. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, 1983. 858 Z.B. E. Mühsam, Betrachtungen über den Staat (1911), abgedruckt in: W. Schmitz (Hrsg.), Die Münchner Moderne, 1990, S. 607 ff.; zu T. Fontane: H. MüllerDietz, Recht und Gesellschaft im Werk T. Fontanes, Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 547 ff.- Als Gestalt, die Weimar und das Grundgesetz durchlebt hat, kann E. Jünger gelten, dazu: R.-R. Henrich, Das beste Recht wird sinnlos ohne den Gerechten: Zum 100. Geburtstag Ernst Jüngers, in: NJW 1995, S. 841 ff.; J. Demmelbaum, Vom absterbenden zum totalen Staat, NJW 1994, S. 1916 ff.
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Da in dem vorliegenden Überblick die Literatur der Weimarer Zeit ausgespart bleiben kann, soll noch kurz auf die überragende Bedeutung der Literatur für die Reformvorgänge in Osteuropa eingegangen werden, zumal diese schon viele neue Verfassungstexte verdichten. Der Einfluß verschiedenster Autoren ist hier unmittelbar evident. Die Liste der zu nennenden Werke reicht von Stücken, offenen Briefen und Essays des derzeit amtierenden tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel (s. z.B.: Die Benachrichtigung (1965), Audienz (1976), Vernissage (1976), Protest (1979); Offener Brief an Gustâv Husâk vom 8. April 1975; Versuch, in der Wahrheit zu leben (1989) 859 ; s. auch: V Havel, Fernverhör (Gespräch mit Karel Hvizdala), 1987), über Dramen Pavel Kohouts (etwa: Krieg im dritten Stock, Brand im Souterrain und Pech unterm Dach - Drei Einakter, Deutsche Ausgabe 1981) bis hin zu polnischen Autoren wie Andrzej Szczypiorski (vor allem: Eine Messe für die Stadt Arras, 1971 (Roman), Deutsche Ausgabe 1988). Von den russischen Bürgerrechtlern und sogenannten Dissidenten, deren Wirkung auf das mutige und unbeirrte Festhalten an der Behauptung unveräußerlicher Menschenrechte nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, seien nur einige wenige besonders exponierte Autoren (samt beispielhafter Werke) genannt: Alexander Solschenizyn, Nobelpreis-Rede über die Literatur 1979, TB-Ausgabe 1974; Andrej D. Sacharow, Stellungnahme (Schriften aus den Jahren 1970 - 1974), Deutsche Ausgabe 1974; ders., Wie ich mir die Zukunft vorstelle, 1968 (Deutsche Übersetzung ediert im gleichen Jahr); Andrej Amalrik, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?, 1970 (Deutsche Edition); Lew Kopelew, Verbietet die Verbote, 1979; ders., Die Waffen des Wortes nie ruhen lassen, Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, 1981 860 . Ein herausragender Stellenwert war im Zuge der Entwicklung des "Prager Frühlings" schon dem berühmten, am 27. Juni 1968 veröffentlichten "Manifest der 2000 Worte" des kommunistischen Schriftstellers Ludwik Vaculik zugekommen, in dem er sich für eine durchgreifende Demokratisierung eingesetzt hatte und das von 70 Wissenschaftlern, Technikern, Arbeitern, Bauern und Künstlern unterzeichnet worden ist 8 6 1 .
859
Zum ganzen: P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 8 f., 33 ff- Von Havel vgl. zuletzt die Bonner Rede: Ein Sprungbrett menschlicher Entfaltung, Es ist nötig über den Begriff der Heimat von neuem nachzudenken, FAZ vom 25. April 1997, S. 12, Ausschnitte aus dieser Reihe vor dem Deutschen Bundestag am 24. April 1997 auch in: Politische Studien, Heft 353 (48. Jg.), Mai/Juni 1997, S. 13 ff. 860 S. auch die Dokumentation von W. Bukowskij, Opposition - Eine neue Geisteskrankheit in der Sowjetunion, 1971 (deutsche Edition 1973). 861 S. der Fall CSFR - Strafaktion gegen Bruderstaat - Eine Dokumentation, hrsgg. von der Redaktion der Fischer-Bücherei unter Mitarbeit des SWF, Baden-Baden, 1968 (TB-Ausgabe).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen b) Musik
Bei einer Betrachtung der Behandlung und Verarbeitung politischer, der Aufklärung verhafteter, revolutionär-republikanischer (staats-)philosophischer Ideen und der damit verbundenen - freilich erst in moderner Diktion so bezeichneten - staats- bzw. verfassungsrechtlichen Themenstellungen in der Musik, steht der "musikalische Jacobiner" Ludwig van Beethoven (1770 - 1827) dominierend im Mittelpunkt der Musikgeschichte. Vor allem in Werken wie seiner 3. Symphonie (1804/1805 - "Eroica"), der Musik zu Goethes "Egmont" (1810), der 9. Symphonie (1824; mit der "Ode an die Freude" Friedrich Schillers als Schlußchor, die ursprünglich sogar "die Freiheit" besungen haben soll) und ganz besonders in seiner einzigen Oper "Fidelio" (3 Fassungen 1805/06, 1814; Text von Sonnleithner und Treitschke nach N.J. Bouilly) bezog er Stellung gegen Machtmißbrauch und Willkürherrschaft und beschwor ein humanistisches Freiheits- und Befreiungspathos, welches ganz im Bann des (spät-)aufgeklärten Zeitgeistes der postrevolutionären Epoche nach der französischen Revolution stand 862 . Zuvor hatte schon W.A. Mozart (1756 - 1791) in seiner Opera buffa "Le nozze di Figaro" (Libretto: Lorenzo da Ponte nach Beaumarchais) die freche Kritik des Autors der Komödie "Le mariage de Figaro" an verkrusteten feudalen Gesellschaftsstrukturen aufgegriffen und mit dem Deutschen Singspiel "Die Zauberflöte" (Libretto: E. Schikaneder) die in den Dienst der Humanität gestellten Ideale der Freimaurer mit tiefer Anteilnahme verwendet und überhöht. In diesem Kontext ist zu unterstreichen, daß zahlreiche Geheimbünde (Illuminatenorden etc.) die zeitgenössische Dramatik des ausgehenden 18. Jahrhunderts und auch zumindest indirekt Komponisten wie Beethoven 863 durch ihren aufklärerisch-humanistischen Ansatz beeinflußt haben. (Es ist besonders erwähnenswert, daß Beethoven 1790 zwei Kantaten auf den Tod des Kaisers Joseph II. und auf die Erhebung Leopolds zur Kaiserwürde komponierte, deren Texte (Severin Anton Averdonk) nachhaltig diesen Geist atmeten.) Die politisch-sozialen Umwälzungen während des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts führten auch zu einer "ästhetischen Revolution" der Dramaturgie der Oper 864 , die neue "Subgattungen" hervorbrachte: Schreckens- und Ret-
862 Zu Beethovens politischer Prägung durch den "Josephinismus" und die reformerischen Gedanken der Aufklärung S. Kross, Beethoven und die rheinisch-katholische Aufklärung, in: ders. (Hrsg.), Beethoven - Mensch seiner Zeit, 1980, S. 9 - 36; zur Wirkung: D.B. Dennis, Beethoven in German Politics, 1870-1989, 1996. 863 Vgl. Kross, aaO. 864 W. Oehlmann, Oper in vier Jahrhunderten, 1984, S. 321 ff. (321).
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tungsopern 865 , die mit den Namen von Komponisten wie Luigi Cherubini (1760 - 1842), E.N. Méhul (1763 - 1817) und F. Paer (1771 - 1839) verbunden sind (auch Beethovens "Fidelio", möglicherweise von Paers Leonora (1804) angeregt, zählt zu diesem Genre). Heroisches und leidenschaftliches Freiheitspathos findet sich eine Generation später auch in G. Verdis (1813 - 1901) Oper "Nabucco", die die Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft schildert und die bis heute die "geheime Nationalhymne" Italiens bildet. Satire und Spott über, Kritik an den politischen Zuständen, vor allem im Blick auf das Regime Napoleons III. in Frankreich 866 , übte die sich in dieser Zeit entwickelnde Operette, die damals besonders unter dem Einfluß von Jaques Offenbach stehend, ein freches kritisches Genre war und mit dem die heutige Aufführungspraxis (nicht zuletzt wegen der grundlegend gewandelten politischen Rahmenbedingungen) nichts mehr gemein hat. Von den zeitgenössischen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts haben einige der berühmtesten entschiedene Bekenntnisse gegen den Krieg und die Mißachtung elementarster Menschenwürde-Grundsätze, gegen Gewaltstaat und Gewaltherrschaft abgelegt: Arnold Schönberg (1874 - 1951) schrieb im Jahr 1949 die Kantate "Ein Überlebender aus Warschau" über das dortige Ghetto; schon während des 2. Weltkrieges hatte Karl Amadeus Hartmann (1905 - 1963) in höchst expressiven Instrumentalwerken seine Verzweiflung über die Friedlosigkeit seiner Zeit zum Ausdruck gebracht (Violinkonzert "Musik der Trauer", 1939 (Uraufführung 1940 in St. Gallen); "Symphonia Tragica", 1941 (UA 1989 (!) in München)). Auch Arthur Honegger (1892 - 1955) setzte sich in seiner 3. Symphonie (1946) "Liturgique" (Dreisätzig: "Dies irae", "De profundis clamavi" und "Dona nobis pacem") mit den Schrecknissen des Krieges und der Friedenssehnsucht der Menschen auseinander. Der 1933 geborene polnische Komponist Krysztof Penderecki schließlich schuf 1959/61 "Threnos" in Angedenken der "Opfer von Hiroshima" (1945). Ein ergänzender Hinweis auf Ernst Bloch (1880 - 1959), "Shelomo" (1917), und Gustav Holst, "Mars" in der Orchestersuite "Die Planeten" (1914 (!)), muß genügen. In der Zeitspanne nach dem ersten Weltkrieg bis hin in unsere Tage waren es von den modernen Tonsetzern in erster Linie osteuropäische Komponisten, die in ihren Werken Spannungen zwischen dem Individuum und "kollektiven Instanzen" (i.S. von Staat und Gesellschaft) spiegelten. Große Bedeutung kommt hier Dimitri Schostakowitsch (1906 - 1975) zu, der nach Maßregelungen durch die stalinistische Kul-
865
W. Oehlmann, aaO., S. 322 ff. u. 330. Vgl. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, 1983.- Allgemein aufschlußreich: Κ Kastner, Die Kunst der Kritik - in der Literatur, auf der Bühne und in der Musik, NJW 1995, S. 822 ff.- Eine Trouvaille ist: M. Stolleis, Komponierende Staatsrechtslehrer, in: "Recht, Geist und Kunst", K. Reichert u.a. (Hrsg.), 1996, S. 373 ff. 866
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turbürokratie im Jahre 1936 (Der Vorwurf "Chaos statt Musik" wurde wegen der Oper "Lady Macbeth des Mzinsker Kreises" (nach N. Leskow) erhoben) in eine Art "innere Emigration" ging und in seinen Tonschöpfungen fortan verschlüsselt das Aufeinanderprallen kollektiver Anforderungen und der Interessen der einzelnen Menschen behandelte (vor allem 5. Symphonie (1937) 867 ). Um die Konfrontation zwischen Volk und Macht geht es auch in Schostakowitschs 11. Symphonie "Das Jahr 1905", die er unter dem Eindruck des ungarischen Aufstands von 1956 begonnen hat (Uraufführung 1957) und die "thematisch dem niedergeschlagenen Volksaufstand gegen den Zaren von 1905 gewidmet" ist 8 6 8 . Großen Mut bewies dieser große Symphoniker unseres Jahrhunderts auch in seiner 13. Symphonie "Babij Jar" (1962), in der Texte des verfehmten Dichters Jewgenij Jewtuschenko (geb. 1932) vertont wurden, die an die "Massenmorde an ukrainischen Juden zur Zeit der deutschen Besatzung" erinnern, zugleich aber auch eine Abrechnung mit dem russischen Antisemitismus enthalten 869 . Der nach Auffassung S. Volkows in der Tradition des in Rußland bekannten religiösen Phänomens des "Gottesnarrentums" zurückgezogen lebende Schostakowitsch870 schuf zunehmend zergrübelte Werke, die die Ausweglosigkeit der menschlichen Situation umkreisen (z.B. 8. Streichquartett op. 110 (1960) und eine Vielzahl der späteren noch folgenden Streichquartette 9 - 15). Die plakative Bezeichung "gefeierter Vasall" 871 wird ihm insgesamt betrachtet nicht gerecht 872 . Stockhausens "Weltparlament" bzw. Musik unserer Tage kann vom Verf. noch nicht beurteilt werden, H.W. Henzes Kritik-Arsenal ("Reiselieder", 1996) schon eher. c) Bildende Kunst Die darstellende bildende Kunst nahm sich Themen von Recht und Gerechtigkeit bereits im Zeitalter der klassischen Antike Griechenlands an. Die anthropomorphe Darstellung von Rechtsgottheiten, aber auch Tierfabeln in 867
Zum in diesem Zusammenhang erhobenen "Formalismus"-Vorwurf s. vor allem: Zeugenaussage - Die Memoiren des Dimitri Schostakowitsch, aufgezeichnet und herausgegeben von Solomon Volkow, 1979 (TB-Ausgabe 1981, S. 35 und 356). 868 Vgl. D. Gojowy, Dimitri Schostakowitsch, TB 1983, S. 92. 869 D. Gojiwy, aaO., S. 97. 870 Vgl. 5. Volkow, aaO., S. 23, 35, 38. 871 Nachruf in "Die Zeit" vom September 1975. 872 Der absolute deutsche "Tiefpunkt" im Nationalsozialismus sei hier nur Merkposten: die "entartete Kunst", die "verbotene Musik" (z.B. A. Schönberg) bzw. E. Noldes "ungemalte Bilder". Zu diesem vielbehandelten Thema unter einem neuen Aspekt S.A. Reich/H.J. Fischer, Wem gehören die als "entartete Kunst" verfemten, von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Werke?, NJW 1993, S. 1417 ff.
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bildlicher Gestaltung waren Formen, um die Suche nach Gerechtigkeit und die Welt des Rechts zu illustrieren 873 . Urbilder wie das des Totengerichts 874 durchziehen Kulturen und Epochen (sogar B. Brecht hat dieses Bild aufgenommen und literarisch verarbeitet, Das Verhör des Lukuli (Hörspiel)). Das Symbol der Rechtsgöttin Justitia trat ebenfalls vielgestaltig in den unterschiedlichsten Zeitläufen auf bis hin zum heutigen Tage 87 . Mit der allmählichen Verbreitung und Durchsetzung des Christentums schoben sich künstlerische Werke in den Mittelpunkt der bildlichen Gestaltung von Rechtsthemen, die Gott als Richter zeigten 876 . Im Mittelalter setzte sich die Tradition der antiken Darstellungen durch Tierfabeln und Tierphysionomik fort. Tief in die Zeit des Mittelalters reichen die Wurzeln einer Infragestellung des Rechts als solchem (oder einzelner Aspekte) durch Ausdrucksmittel der bildenden Kunst 877 . In der Folge der Ideen der Aufklärung nehmen die Formen der Kritik die Gestalt der Satire und der Karikatur an, die meist auf anonymen Flugblättern verbreitet wurden. Im Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution gesellten sich aber zu der in künstlerischen Gewandungen auftretenden Herrschaftskritik auch affirmative Darstellungen der Herrschaftsbestätigung 878 . Unmittelbare und zielgerichtete direkte (Zeit)Kritik an Justiz und Rechtspraxis übt bis hinein in jüngste Tage das Genre der karikativen Malund vor allem Zeichenkunst. Aber auch andere Techniken graphischer (z.B. Lithographie) und sonst bildnerischer Gestaltung (Collagen, Fotomontagen) fanden und finden ausgiebige Verwendung bei der Behandlung von Themen aus dem Bereich des Rechtslebens. Als bisher unübertroffener Hauptvertreter der Gattung graphischer Justizsatire kann bis heute Honoré Daumier gelten, der
873
S. hierzu W. Pleister, Rechtsgottheiten der klassischen Antike, in: ders./W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 9 ff. sowie ders., Menschenrecht, Tierfabel und Tierphysionomik, aaO., S. 172 ff. 874 S. etwa W. Pleister, Das ägyptische Totengericht, aaO., S. 33 f. und die Anm. 121 (S. 255 f.).- S. auch die Bezugnahme hierauf in Sachen "Abwägung": P. Häberle, in: Colloquium für W. Hoppe, hrsgg. von W. Erbguth u.a., 1996 (Diskussionsbeitrag), S. 43 (44). 875 Vgl. O.R. Kissel, Die Justitia-Reflexionen über ein Symbol und seine Darstellung in der bildenden Kunst, 1984.- Ganz allgemein wäre auch die Architektur mit einzubeziehen, dazu etwa: K. Klemmer, Gerichtshausarchitekten - ein Instrument der Rechtspolitik?, in: NJW 1992, S. 1294 ff.; K. Klemmer/R. Wassermann/Th.M. Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, 1993; U. Battis, Demokratie als Bauherrin, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 255 ff. 876 W. Schild, Gott als Richter, in: W. Pleister/ders. (Hrsg.), aaO., S. 44 ff. 877 K. Seelmann, Relativierung von Recht und Gerechtigkeit, in: W. Pleister/W. Schild (Hrsg.), aaO., S. 195 ff. 878 H. Latz, Die Thematisierung des Verhältnisses von Recht und Herrschaft in der Kunst der Neuzeit, in: W. Pleister/W. Schild (Hrsg.), aaO., S. 214 ff. (214 ff.). 36 Häberle
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mit scharfer Beobachtungsgabe die Schwächen, Schrullen, Falschheiten und Fragwürdigkeiten des Juristenstandes (an erster Stelle der Advokaten und Richter) aufgriff und bisweilen gnadenlos sarkastisch dem Gespött auslieferte 879 . Satirische Blätter wie der "Kladderadatsch", die "Fliegende(n) Blätter" oder der "Simplicissimus" nahmen sich der Karikatur von Juristen und Rechtsprechung und der karikativen Darstellung von Rechtsthemen und politischen Problemstellungen von Bürgerfreiheiten und Partizipationsrechten 880
ebenfalls an . Die in Periodika dieser oder ähnlicher Art publizierten Künstler standen ersichtlich in der Tradition des großen Briten William Hogarth (1697 1764), der in seinen Kupferstichen - freilich als "kritischer Realist" und nicht als Karikaturist - harte Kritik an den sittlichen Zuständen seiner Zeit geübt hat 881 . Auf die Lithographien G.-I. Grandvilles (1803 - 1847) und die Radierungen von Francisco de Goya (1746 - 1828) - z.B. Capricho Nr. 43, Der Traum von der Vernunft erzeugt Ungeheuer, 1797/98 882 - sei noch am Rande hingewiesen. Aus unserer Zeit ist von den Künstlern, die mit bissigen Justizkarikaturen hervortraten noch der Lithograph A. Paul Weeber (1893 - 1980) zu nennen und aus allerjüngster Gegenwart der Graphiker Klaus Staeck mit seiner provozierenden Plakatkunst (beeinflußt u.a. von John Heartfield) 883 anzuführen. Zudem sind auch und gerade in der Tagespresse immer wieder Justizkarikaturen zu finden, denen ein hoher künstlerischer Rang in ihrem Genre zugestanden werden muß. Im Deutschland von heute hat ein Ernst Maria Lang Anspruch auf Erwähnung.
879 S. hierzu: Honoré Daumier, Caricaturiana, 1979 (101 Lithographien; davon mit Bezug zur Justiz S. 14 f., 18 f., 22 f , 34 f., 38 f , 72 f. und zum Recht S. 80 f , 114 f , 158 f. Der Abdruck folgt der Buchausgabe von 1839, die Originalarbeiten für das Tagblatt "Le Charivari" (1833 - 1872) aus den Jahren 1836 - 1838 zusammengefaßt hat). S. weiterhin T. W. Gaethgens, Honoré Daumier, in: Honoré Daumier, Caricaturiana, aaO., S. 208 ff. und G. Radbruch, Justizkarikaturen Daumiers, 1953. 880 S. etwa: Kladderadatsch, Nachdruck des 1. Jahrgangs 1848 (Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 3), 140 S., 82 Abb.); Fliegende Blätter (1844 - 1854), eine Auswahl (Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 74), hrsgg. und mit einem Nachwort versehen von M. Bernhard, 213 f. Eine ergiebige Erkenntnisquelle sind Flugblätter, dazu jetzt H.-J. Lüsebrink/R. Reichardt, "Kauft schöne Bilder, Kupferstiche...", Illustrierte Flugblätter und französisch-deutscher Kulturtransfer 1600 - 1830, 1996. 881 S. hierzu William Hogarth , Der Kuperstich als moralische Schaubühne, hrsgg. v.H. Guratzsch, 1987; dieser Band enthält u.a. Georg Christoph Lichtenbergs Erklärungen, z.B. zum berühmten Zyklus "The Rake's Progress". 882 Vgl. W. Messerer, Francisco Goya - Form und Gehalt seiner Kunst, 1983, S. 38 (Abb. Nr. 21) und die Seiten 35, 43 f., 45, 46. 883 K. Staeck/D. Adelmann, Der Bonner Bildersturm oder Was die CDU von Demokratie hält, 1976.
IX. Schöne Literatur, Literaten, Utopien
517
d) Film Das verhältnismäßig junge Kunstmedium Film - als ein solches wurde der Film allgemein erst in den späten sechziger Jahren anerkannt - griff schon frühzeitig Themenbereiche aus dem Umfeld des Rechts und der gesellschaftlichen Relevanz rechtlicher Regeln auf. Doch "benutzten" eine Vielzahl von Regisseuren und (Drehbuch-)Autoren die Filmkunst in erster Linie als ein "Forum", um auf soziale Mißstände (z.B. Luis Bufiuel, Los Olividados (Die Vergessenen), Mexiko, 1950, ist als ein "Klassiker" dieses Genres zu erwähnen) und Fragwürdigkeiten des politischen Lebens hinzuweisen und sich mit diesen auseinanderzusetzen. In Werken dieser Art können auch Postulate oder Apelle an Gesellschaft und Staat erblickt werden, Recht und Rechtsregeln unter Berücksichtigung sozialer Gegebenheiten zu schaffen oder zu reformieren und auf diese Weise die beanstandeten Lebens Verhältnisse zu verbessern. Filme wie "Wer erschoß Salvatore G ?" (Francesco Rosi, Italien, 1961) oder "Wo Rauch ist, da ist auch Feuer" (André Cayatte, Frankreich, 1972) sind Beispiele, in denen Themen des Rechts zumindest indirekt und mittelbar behandelt und auch Kritik an dem Verwobensein zwischen Politik und Justiz zu Lasten der Gerechtigkeit umgesetzt wurden. Bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hatte der frühere Jurist (Rechtsanwalt) André Cayatte eine Justiztrilogie gedreht, die sich intensiv mit Fragen von Schuld und Sühne bei Verbrechen beschäftigte 884. Ein herausragendes Beispiel für die Verarbeitung unmittelbar auf das Recht bezogener Einzelthemen bildet der heftige Kampf gegen die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe, die Regisseure wiederholt mit den Mitteln ihrer Kunst führten (z.B. Robert Bresson, Ein zum Tode Verurteilter ist geflohen, Frankreich 1956 und Nagisa Oshima, Tod durch Erhängen, Japan 1967). Die Zweifelhaftigkeit der Wahrheitssuche durch ein Gericht - als Parabel auf die Zweifelhafitigkeit einer jeden Suche nach Wahrheit - rückte Akira Kurosawa in das Zentrum seines hochberühmt gewordenen Films "Rashomon" (Japan, 1950). Gleichwohl stellen sich "Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat", gibt es hoffnungsvolle Versuche, sie in neuen Verfahren zu finden: die "Wahrheits885
kommissionen" 884
.
Schwurgericht, Frankreich 1950; Wir sind alle Mörder, Frankreich, 1952; Die schwarze Akte, Frankreich, 1955. 885 Dazu P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 20 f.; s. auch H. Müller-Dietz, Der Richter und die Wahrheit, in: NJW 1994, S. 1921 ff.- Neue Verfassungstexte zur Wahrheit: Verf. der Philippinen von 1986: "... under the rule of law and a regime of truth, justice, freedom ..." (Präambel); Präambel Verf. Polen von 1997: "diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des
518
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen e) Insbesondere Utopien
Die Kunst schlägt die Brücke zu den "Utopien". Die "Utopiethesen" einer vergleichenden Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft 886 lauten: (1) Utopien bilden eine unentbehrliche Literaturgattung und Wissenschaftsbzw. Kunstform zur teils legitimierenden, teils kritischen Selbstvergewisserung. Sie bringen bald Erfahrungen, bald Hoffhungen des Menschen ein: sie sind anthropologisch begründet. (2) Da die Geschichte lehrt, daß speziell der demokratische Verfassungsstaat zur "kulturellen Errungenschaft" nicht zuletzt dank Utopien, "Phantasien", Visionen und "Träumen" seiner Klassiker geworden ist, muß in der Zukunft Offenheit bestehen für neue oder gewandelte klassische Utopien als "Katalysatoren" oder "Fermente". Man denke an Martin Luther Kings "Traum" der Rassenintegration in den USA, der in vielem Wirklichkeit geworden ist und in Form eines neuen Feiertages 1986 juristisch wie kulturell dort besondere verfassungsstaatliche Gestalt angenommen hat. Insofern zielt die These von einer Erschöpfung utopischer Energien, sollte sie richtig sein, auf ein Krisensymptom, das den demokratischen Verfassungsstaat nicht gleichgültig lassen kann. (3) Das schließt nicht aus, daß die Verfassungslehre bewußt wertet und zwischen "positiven" und "negativen Utopien" (z.B. "geschichtsphilosophischen" oder "totalitären") unterscheidet. Das schönste, bislang nur punktuell verwirklichte Beispiel einer "positiven Utopie" ist bis heute I. Kants philosophischer Entwurf "Zum ewigen Frieden" (1795), das einer "negativen" bildet Orwells " 1984" oder der Film "Fahrenheit 451 ". (4) Die Verfassungslehre sollte zwischen der unentbehrlichen Kritikfunktion von Utopien und ihrer Warnfünktion unterscheiden und die Gefahren klassischer wie neuerer Utopien unerschrocken beim Namen nennen: z.B. den Mar-
Schönen glauben".- Zu Südafrika: F. Venter , Die verfassungsmässige Überprüfung der Rechtsgrundlagen von Südafrikas „Truth and Reconciliation Commission", ZaöRV 57 (1997), S. 147 ff. 886 Zum folgenden (mit einer Bestandsaufnahme) schon mein Beitrag in: Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, Ged.-Schrift Martens, 1987, S. 73 ff, m.w.N. Aus der Lit. zuletzt: P. Nitschke, Staatsräson kontra Utopie?, 1995; M. NeugebauerWölk/R. Saage (Hrsg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert, 1996; R. Eikelpasch/A. Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, 1996; R. Saage, "Utopieforschung". Eine Bilanz, 1997.
IX. Schöne Literatur, Literaten, Utopien
519
xismus/Leninismus oder den Anarchismus, heute geschlossene "GottesStaaten" des Islams (Iran, Afghanistan). (5) Diese differenzierende Einordnung von Utopien bedeutet eine Korrektur am Denken von Popper in dem Maße, wie sein "Kritischer Rationalismus" 887 der inhaltlichen Ergänzung um die kulturwissenschaftliche Methode bedarf 888 . Utopien können antizipierend und sehr kreativ "Vermutungswissen" schaffen, das, im Wege der "Stückwerkreform" verwirklicht, die Entwicklungsprozesse des Verfassungsstaates bereichert. Selbst Utopien einer "geschlossenen Gesellschaft" wie die Piatons oder des Marxismus vermögen als Gegentypus zum Verfassungsstaatsmodell positive Wirkungen zu zeitigen. Diese differenzierende Einordnung baut aber insofern auf Popper auf, als sie mit ihm an die "Offenheit des Geschichtsverlaufs" und die Möglichkeit individueller Sinngebung glaubt und sich eben hierin gegen den Marxismus oder deterministische Systeme stellt. Alldem liegt freilich das "gedämpft optimistische Menschenbild" und der "wissenschaftliche Optimismus" zugrunde, wie er die Verfassungslehre in Einzelfragen (etwa bei den Erziehungszielen oder beim resozia889
lisierenden Strafrecht) sowie im ganzen kennzeichnen sollte. (6) Die Verfassungslehre bzw. der Typus "Verfassungsstaat" hat den Menschen Raum für ein "Utopiequantum" zu geben: dies nicht nur in Gestalt der Ausgrenzung und Förderung kultureller Freiheiten (auch der Religionen!), sondern sogar weit intensiver: indem Verfassungstexte Hoffnungen (z.B. früher auf die Einheit Deutschlands oder - heute - Irlands) 890 normieren, die mindestens konkrete "Utopiewünsche" sind. Das "Prinzip Hoffnung" (E. Bloch), das "Prinzip Verantwortung" (H. Jonas), z.B. im Umweltschutz, stimuliert fruchtbare Verfassungsentwicklungen, weil der Mensch Hoffnung wie das Atmen braucht und das Gemeinwesen von verantworteter Freiheit lebt. So weit Verfassungstexte in ihrer juristischen Dimension grundsätzlich von Utopien entfernt sind und ihrer Eigenart entsprechend entfernt bleiben müssen, in Teilbereichen
887 Zuletzt Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984; s. auch ders., Utopie und Gewalt (1948), dtsch. in: A. Neusüß (Hrsg.), Utopie, 1968, S. 313 ff.; ders., Vermutungen und Widerlegungen, I., 1994. 888 Dazu m.w.N. P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 (590 ff.). 889 Dazu mein Sammelband: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 398, 478 f., sowie Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, passim. 890 Dazu genauer mein Beitrag: Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, ZSR 105 (1986), S. 195 (227 f.).
520
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
können sie "noch" Utopie sein 891 - auch das Sozialstaatsprinzip war zur Zeit von H. Heller (1930) und dann 1949 unter dem GG zuerst ein Stück Utopie 892 ! (7) Kunst und Künstler nehmen nicht selten vorweg, was die politische Wirklichkeit später auf die "Tagesordnung" setzt: man denke an den "Krieg der Sterne" als Film in den 70er Jahren und als verteidigungspolitisches (oder gefährliches?) Konzept weltpolitischen Handelns in den 80er Jahren, oder an die tschechische Wahrheitsphilosophie von V. Havel mit Blick auf das Jahr 1989. (8) In dem Maße, wie Verfassungslehre als Wissenschaft insgesamt auf Kunst und Künstler "hören" sollte 893 , um Sensibilität für neue Probleme zu gewinnen, muß sie der Utopie in ihrem Rahmen einen erklärten hohen Stellenwert verschaffen, freilich auch bestimmte Grenzen ziehen: sie liegen vor allem dort, wo Gewalt und Unfreiheit zum Mittel erzwungener, "für später" versprochener Ideal-Zustände werden. Poppers Postulat der "Stückwerkreform" bleibt verfassungspolitische Maxime. Mit dieser Maßgabe können utopische Texte "Klassikertexte" sein und zu Verfassungstexten im "weiteren Sinne" werden 894 . (9) So gesehen sind Utopien ein Stück "kulturellen Erbes" des Verfassungsstaates als Typus, auch dort, wo sie ihm bis heute vorausgeeilt sind oder wo sie gegen ihn geschrieben wurden: er gewinnt aus ihnen und zum Teil gegen sie Konturen 895 . Er wird teils von ihnen "provoziert", teils muß er sich an ihnen
891
S.a. W. Maihofer, Ideologie und Naturrecht, in: ders. (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1968, S. 121 (141 f.), dort (S. 135 ff.) auch allg. zum "modernen Naturrecht als Utopie". Bemerkenswert U. Hommes, Brauchen wir die Utopie?, Plädoyer für einen in Mißkredit geratenen Begriff, Aus Politik und Zeitgeschichte Β 20/77 vom 21. Mai 1977. 892 Bahnbrechend für die Verwirklichung: HP. Ipsen, Über das GG, Hamburger Rektoratsrede, 1950. Eine wesentliche Etappe der Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips bildet das Staatsrechtslehrerreferat von O. Bachofi Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 37 ff. 893 Dazu allgemein (mit Beispielen aus der Schönen Literatur) meine Studie: Das Grundgesetz der Literaten, 1983, sowie IX Ziff. 1 und 2. 894 Dazu: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, sowie oben VIII.Während Popper Piaton einseitig verdammt (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, 1955), findet sich bei R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl. 1991, eine gerechtere Würdigung: "in manchem ein anregendes Modell" (S. 203). 895 Für die allgemeine Staatslehre formuliert treffend R. Zippelius, aaO., S. 7: "Vorstellungen über das Staatsideal, über die beste Form des Staates oder einzelner Institutionen, können machtvoll in die Staatswirklichkeit eingehen".- Zum "JesuitenStaat" in Paraguay (1609-1767) als "reale Utopie": H.-J. Fischer, FAZ-Beilage vom 30. Mai 1987.
X. Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur
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bewähren, z.B. im Umgang mit anderen Staaten im Völkerrecht i.S. von Kants "Ewigem Frieden": als "kooperativer Verfassungsstaat" 896. (10) Utopien dürfen, ja sollten den Menschen "beunruhigen", dasselbe gilt für den Verfassungsstaat. Sie können ihn aber auch "beruhigen": weil und insoweit sie von ihm vielfach eingelöst worden sind und ihm die Gedankenfreiheit bestätigen. Man vergegenwärtige sich das einst "utopische" Menschenwürde-Gebot und seine jahrhundertelange Kulturgeschichte 9 7 bzw. seine heutige Idealität und Realität im Verfassungsstaat. Von dem Innovationspotential dank Utopien, aber auch ihren Gefahrenherden zurück zum "Fachlichen", konkret jetzt zur Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur.
X. Staatsrechtslehre(r) als Wissenschaft und Literatur im kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption Verfassungslehre als Literatur und die Vielfalt ihrer Literaturgattungen 1. Verfassungslehre als Literatur Vor allem die (verfassungsrechts-)wissenschaftliche Interpretengemeinschaft thematisiert Intensität und Ausmaß des sachlichen Anteils der anderen Faktoren bzw. Momente, etwa das Zusammenwirken von "großer Literatur" und Philosophie bei der Ausdeutung und Einbringung von Klassikertexten in juristische Interpretationsvorgänge oder die Aktivierung von Verfassungsprinzipien "als" Erziehungsziele mit Hilfe der Pädagogik. Die Verfassungsrechtslehre ist selbst aber auch auf fast allen verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichem "Mischungsgrade" unmittelbar, jedenfalls aber mittelbar beteiligt; sie ist freilich keine Überwissenschaft und ihrerseits dem Wirken und den Werken der staatlichen Funktionen, der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne und den sonstigen Ausprägungen der pluralistischen Öffentlichkeit in Kunst, Wissenschaft und Religion ausgesetzt, auch der Kritik der "schönen"
896
Dazu mein gleichnamiger Beitrag in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 407 ff. sowie Vierter Teil VII. S. auch Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung. Hrsg. von M. Lutz-Bachmann und J. Bohmann, 1996. 897 Dazu P. Häberle: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I 1987, S. 815 ff. (2. Aufl. 1995).
522 •
Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen 898
Literatur . Teil der Verfassungsinterpretengemeinschaft im ganzen, ordnet sie doch die Aufgabe der anderen Mitwirkenden und ihre Leistungen einander zu: Sie hat dabei weitere Elemente der Verfassungskultur aufzuspüren, die - wie etwa Aspekte des Grundkonsenses in Präambeln oder Erziehungszielen, welche Hoffhungen und Wünsche für die Zukunft eines Volkes und leidvolle Erfahrungen in seiner Geschichte zum Ausdruck bringen - alle oder doch die meisten Objektivationen der Verfassungsinterpretengemeinschaft verbindet. Die Verfassungsrechtslehre wirkt als Wissenschaft und Literatur (a, b) in einem kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption (c und e), und all dies jetzt auch international (e). a) Verfassungsrechtslehre
als Wissenschaft und Literatur
Verfassungslehre als Wissenschaft und Literatur benennt eine doppelte Qualität, die die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten entsprechend doppelt grundiert. Als (Rechts-)Wissenschaft leistet Verfassungsrechtslehre die Verfassungsrechtsprechung kommentierende, aber auch sich selbst kommentierende Tätigkeit 899 . Jenes produktive Element der Rechtsprechung in Bezug auf das Gesetz 900 hat sein Pendant in den produktiven Beiträgen, die die Verfassungsrechtslehre selbst bei der Erarbeitung des Inhalts von (Verfassungs-)Gesetzen erbringt 901 . Verfassungsrechtslehre als Literatur wirkt in Ge-
898
Trotz aller Kulturstaatlichkeit dürfte die Staatsrechtslehre auf die Künstler zu wenig zugegangen sein. Nur gelegentlich finden sich - stets mehr als Schmuckzitat? Berufungen in unserer Fachliteratur auf "schöne Literatur" (z.B. E. Denninger, VVDStRL 37 [1979], S. 7 [48] in bezug auf Justinus Kerner; G. Roellecke, VVDStRL 34 [1976], S. 7 [19 f.] in bezug auf das Alte Testament [König Salomon]; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 190, 298 [ F : Schiller]; W. Hamel, Deutsches Staatsrecht I, Grundbegriffe, 1971, S. 67 [G. Büchner]; Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 33 [H. Heine]; U. Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 633 [F. Schiller]); J. Isensee, Staat im Wort, 1995, S. 22 [F. Hölderlin]).Dieses Defizit ist um so bedauerlicher, als auch Staatsrechtslehre ein Stück "Literatur" sein kann und, wo sie es ist, sich zusätzliche Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet. Große Stilisten wie Otto Mayer, Georg Jellinek oder Carl Schmitt haben darum wohl immer gewußt. 899 Ausführlich dazu P. Häberle, Recht aus Rezensionen, in: ders. (Hrsg.), Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 (18 ff); ders., Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 54 ff. 900 Grundlegend J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 4. Aufl., 1990. 901 Während das produktive "Zutun" der (Verfassungs-)Rechtsprechung im Verhältnis zum Gesetz vielfältig untersucht worden ist, fehlt es an vergleichbaren Arbeiten, die den Wirkungsebenen, Wirkungsformen, Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur im politischen Gemeinwesen entsprechend
X. Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur
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stalt prägnanter Thesen, auch Zuspitzungen, Doktrinen, Einzelausarbeitungen etc., die als solche zu den einzelnen Verfassungsrechtssätzen hinzugenommen und mitgelesen werden. Man denke z.B. an die Figur der "Bundestreue" (R. Smend), die heute in der Sache zum Bundesstaatsprinzip des GG einfach hinzugenommen wird, obwohl sie nicht ausdrücklich im GG normiert ist (vgl. BVerfGE 81, 310 (337)). Verfassungsrechtslehre als Literatur bildet - bei allen Dissensen und Kontroversen, bei aller Widersprüchlichkeit und Heterogenität letztlich ein (kulturelles) Ensemble, das als ein wesentliches Element unter anderen die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten grundiert. Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur ist einerseits ein Teilfaktor in interpretatorischen Insichprozessen - etwa wenn sich einzelne Wissenschaften und Richtungen bekämpfen, auch wenn sie letztlich eine Verfassungsinterpretengemeinschaft als Wissenschaftler- und Arbeitsgemeinschaft bilden (sollten) -, sie erbringt aber zugleich auf anderen Ebenen Beiträge und Eigenleistungen in den Prozessen der Verfassungsinterpretation: Sie begleitet Arbeiten des Gesetzgebers und/oder der Verwaltung, sie provoziert oder legitimiert solche und sie stellt "vermittelnde" Gesprächsebenen, ja sogar die Ausdrucksformen zwischen den verschiedenen staatlichen und öffentlichen Funktionen her: etwa zwischen Bürger und Staat oder Gruppen und Staat, in Gestalt der Begründung einer Verfassungsbeschwerde zwischen den staatlichen Funktionen, indem etwa eine Bundesstaatsstreitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 3 GG auf beiden Seiten unter dem "Beistand" von Staatsrechtslehrern vor dem BVerfG ausgefochten wird, in Gestalt der Partizipation als EnqueteKommission (z.B. zur "Verfassungsreform") oder in anderer Weise - indem sie etwa Stichworte für eine "Verfassungsdebatte" liefert, wie sie sich 1974 im Deutschen Bundestag entfaltet hat, oder indem sie in der "Gemeinsamen Verfassungskommission" (1991/93) mithilft. Verfassungsrechtslehre wirkt so als vermittelnde Instanz.
grundsätzlich nachgingen. Verfassungsprinzipien sind aber ein Ensemble von Traditionen von Staatsrechtslehrern und ihren Dogmatiken, politischen Erfahrungen, Staatspraxen und anderen politischen und kulturellen Kontexten "um" die geschriebenen Texte bzw. "zu" ihnen, also von Texten und Kontexten. Realistische Verfassungsinterpretation müßte diese den Verfassungstext mittragenden Elemente und Momente rechts- bzw. verfassungssoziologisch und verfassungstheoretisch in ihren Wirkebenen und Resultaten, in ihrem Vokabular und ihren Begriffen, in ihren Prozessen und Beteiligten strukturieren.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen b) Die Verfassungsrechtswissenschaft
als "informelles"
Medium
Sie ist im Vergleich mit den staatlichen Verfahren der Entwicklung des Verfassungsstaates das besonders "informelle" Medium. So öffentlich und "diffus" die Kommunikationsprozesse der Staatsrechtslehre sind, so schwer sind ihre Ergebnisse in ihrer Kausalität faßbar. Indes kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Wissenschaftlergemeinschaft bei allem Streit und Dissens (national wie international) ein durchaus wirkmächtiger "Beteiligter" an den Produktionsund Rezeptionsvorgängen ist, in denen und aus denen sich der Verfassungsstaat weiterentwickelt bzw. in denen er sich bewährt. Das Thema "Schutz künftiger Generationen" wurde von Staatsrechtslehrern vorbereitet 902 . In Schweizer Kantonsverfassungen gibt es mehr als bloße "Schützenhilfe", auch im privaten Verfassungsentwurf Kölz/Müller von 1984 903 (3. Aufl. 1995). Bei anderen Themen und Texten läßt sich ebenfalls zeigen, wie die jeweilige nationale Staatsrechtslehre Ideen und Textgestalten vermittelt, man denke an neue Grundrechtsthemen oder neue Grundrechtsdimensionen bei klassischen Grundrechten. Speziell die Schweiz knüpft in einzelnen Kantonen an Vorbilder der WRV in Sachen "Staatskirchenrecht" an 9 0 4 . Die Staatsrechtslehre dürfte auch hier als Vermittler und "nachschöpferischer Rezipient" agiert haben. Bekannt ist die Hilfe, die deutsche Staatskirchenrechtler bei den einschlägigen Artikeln der neuen Verfassung Spaniens von 1978 geleistet haben. So sehr der Verfassungswissenschaftler "Einzelkämpfer" ist: in den inhaltlich und personell pluralistischen Prozessen der Verfassunggebung, -änderung, auch informellen Verfassungswandlung dürfen bestimmte Foren und Gremien nicht unterschätzt werden: zu denken ist an die Konferenz der Mitglieder der europäischen Verfassungsgerichte, an rechtsvergleichende Vereinigungen, etwa die deutschitalienische oder deutsch-spanische Juristengruppe. Staatsrechtslehre "als Literatur" entfaltet im übrigen normierende Kraft, greifbar z.B. in der grund-
902 Vgl. H. Hofmann, Rechtsfragen atomarer Entsorgung, 1981, S. 258 ff.; P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, hrsgg. von A. Möhler u.a., 1983 (3. Aufl. in der Taschenbuchausgabe 1992), S. 289 ff; später mit einem Textvorschlag(î): P. Saladin/C. Α. Zenger , Rechte künftiger Generationen, 1988, bes. S. 118 ff. Zum ganzen Vierter Teil IV und VI. 903 Abgedruckt in JöR 34 (1985), S. 551 ff., vgl. den Präambel-Textpassus: "Im Bewußtsein der Verantwortung für die Bewahrung einer gesunden und lebenswerten Umwelt auch für kommende Generationen". S. auch meine beratende Mitwirkung in St. Gallen (1996): dokumentiert in: SchweizerZBl. 1997, S. 97 ff. 904 Dazu mein Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, in: JöR 34 (1985), S. 303 (390 ff.).
X. Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur
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rechtlichen Statuslehre eines G. Jellinek 905 , und der Verfassungsstaat lebt auch "als Literatur": heute das GG etwa in Gestalt der 20. Auflage von K. Hesses "Grundzüge" (1966 bis 1995) und der Pionierarbeiten eines G. Dürig zu Art. 1 und 2 GG 9 0 6 . c) Staatsrechtslehre im Spannungsfeld von kultureller Rezeption und Produktion Teil jeder Wissenschaftler-Gemeinschaft im Dienst an Wissenschaft und Verfassung ist die Gruppe der Verfassungsrechtslehrer, die nur z.T. institutionell in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer verbunden ist. Im Spannungsfeld von Motorik und Statik der Verfassung als "geprägter Form, die lebend sich entwickelt" (H. Heller 907 in Anlehnung an das bekannte GoetheWort), wirken gewiß eine Vielzahl von Kräften, die die Verfassung fortentwikkeln; keine hat ein "Fortschrittsmonopol". Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten - vom Politiker bis zum Juristen, vom Abgeordneten bis zum Verfassungsrichter, vom wählenden Bürger bis zum protestierenden Bürger besitzt gleichwohl im Staatsrechtslehrer eine Person, der eine besondere Aufgabe und Verantwortung zukommt: Staatsrechtslehrer fungieren auf den vielschichtigen Ebenen ihrer Wirkungsmöglichkeiten, zu denen auch die Rezensionen gehören, als verfassungsrechtliche Katalysatoren für den äußerst vielfältigen kulturellen Prozeß von Rezeption und Produktion, in den Verfassungsrechtswissenschaft eingebettet ist. Verfassungsinterpretation (und damit auch: ihre Kommentierung in Rezensionen) ist Teil eines umfassenden Prozesses kultureller Vergegenwärtigung eines Gemeinwesens908. Produktion (von Zukunftsmöglichkeiten) und Rezeption (von Tradition, kulturellem Erbe) sind Vorgänge, die das Kulturelle in seinem Werden, Wachsen 905
Zur "Verfassungslehre im Kraftfeld rechtswissenschaftlicher Literaturgattungen" mit Belegen bis 1988 mein gleichnamiger Beitrag in: FS O.K. Kaufmann, 1989, S. 15 ff- S. noch unter Ziff. 2. 906 Abgedruckt in: G. Dürig, Gesammelte Schriften 1952-1983, 1984. 907 H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 258. 908 Den hier zugrundegelegten und vorausgesetzten "kulturwissenschaftlichen Ansatz" hat der Verf. in Anknüpfung u.a. an H. Heller/G. Holstein an anderer Stelle näher zu begründen versucht, vgl. ausführlich meinen Einleitungsbeitrag in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 ff. m.w.N.; ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 40 ff; ders., Zeit und Verfassungskultur (Münchener Vortrag, 1981), in: Zeit, Schriften der Carl Friedrich v. Siemens Stiftung, 1982 (3. Aufl. 1992). Zu G. Holstein jetzt: O. von Campenhausen, Günther Holstein, Staatsrechtslehrer und Kirchenrechtler in der Weimarer Republik, 1996.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
und Vergehen überhaupt kennzeichnen. In der Literaturwissenschaft eines H.R. Jauß entfaltet 909 , bieten sie ein Raster auch für den Verfassungsjuristen. Kulturelle Werke etwa der Literatur oder der bildenden Kunst sind mehr als die Resultante gesellschaftlicher Entwicklungen, mehr als Produkt und Abbild vorgefundener Bedingungen. Ihr "produktiver" Charakter knüpft gewiß auch an Vorgefundenes vielfältig an, aber er erschöpft sich nicht darin. Das gilt auch für Staatsrechtslehre als Literatur. Einzelne große Leistungen, die etwa vom BVerfG aufgenommen werden, sind reicher als der vielzitierte "Gesellschaftsbezug des Rechts" vermuten läßt: Die Werke einzelner Staatsrechtslehrer und die Werke ihrer Wissenschaftler-Gemeinschaft im Ganzen können durchaus kulturbildende Kraft entfalten und - etwa als "Klassikertexte im Verfassungsleben" - künstlerisch-literarischen Werken nahekommen. Solche Vorgänge von Rezeption und Produktion treiben die Entwicklung des Verfassungsstaates voran, sie kennzeichnen alle Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne, also potentiell alle Bürger und Gruppen, und integrieren ihre fragmentarischen Beiträge: von Klassikertexten bis zu Erziehungszielen, von Gerichtsentscheidungen und Sondervoten, von "abwegigen" Dogmatiken bis zu herrschenden Meinungen. Erst die verfassungsinterpretatorischen Vorgänge von Produktion und Rezeption öffnen und grundieren die Verfassung des Pluralismus. Rezeption ohne potentielle latente und aktuelle Produktion bedeutet Stillstand und Rückschritt, Produktion ohne Rezeption bedeutet Auflösung, Beliebigkeit und letztlich Anarchie. Wie jede menschliche Teil-Gemeinschaft, so lebt auch und gerade die VerfassungsinterpretenGemeinschaft in und aus den Vorgängen der Produktion und Rezeption. Ob und wie die Beiträge kultureller Leistungen dieser Verfassungsinterpreten als solche rezipiert werden, kann allgemein nicht vorausgesagt werden. Wesentlich und unabdingbar ist nur, daß die Bedingungen für Produktion und Rezeption, für Werk und Wirken optimal ausgestaltet werden: Die offenen Gesellschaften setzen sie vor allem durch Menschenwürde, Pluralismus und Toleranz, durch sozialen Rechts- und Kulturstaat. In diesem Rahmen wirkt Staatsrechtslehre spezifisch in den Prozessen von Produktion und Rezeption und von Rezeption und wiederum Produktion, an denen tendenziell alle öffentlichen und staatlichen Funktionen 910 beteiligt sind, nicht bloß formal, sondern der Idee nach potentiell immer produktiv: Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt, ist dabei ebenso beteiligt wie das 909 H.R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 1967; ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1, 1977. 910 S. das Wort des damaligen DGB-Vorsitzenden HO. Vetter: "Auch in der parlamentarischen Demokratie, zu der wir uns ohne Einschränkung bekennen, geht nicht aller Fortschritt vom Parlament aus" (FAZ vom 28. Februar 1981, S. 2).
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BVerfG, das über sie entscheidet, der Staatsrechtslehrer, der die Entscheidung des BVerfG kommentiert, und die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit, die sie rezipiert. Ein zentrales Teilstück ist dabei die "wissenschaftliche Vorratspolitik" der "professionellen" Staatsrechtslehre, eine Art soweit möglich - vorausgreifender und "vorläufiger" Produktion. Sie enthält aber immer auch Elemente der Rezeption 911 . In dem Maße, wie Verfassungsrecht "law in public action" ist, kommt es nun auf vielen Ebenen und in vielerlei Gestalt zu immer neuen Formen der Produktion und Rezeption: Es braucht unterschiedlich viel Zeit, bis das Werk eines U. Scheuner oder eines zunächst unbekannten Doktoranden diskutiert und rezipiert wird. Oder: ein Sondervotum des BVerfG schlägt mitunter schon rascher auf die Untergerichte durch als das "Endurteil" eines obersten Bundesgerichts. Die Sach- und Person-Autorität bestimmter Persönlichkeiten oder Gremien kann zu einer Art Richtigkeitsvermutung führen, die nicht zuletzt ein Werk der Zeit insofern ist, als erst in Jahren Autorität entsteht, bei U. Scheuner etwa als Autorität eines Wissenschaftlers erst in Jahrzehnten, bei H. Heller erst lange nach seinem Tode im spanischen Exil. Wie die Jurisprudenz allgemein ist allerdings die Verfassungsrechtswissenschaft wohl wegen ihrer Praxisnähe dadurch gekennzeichnet, daß der Zeitunterschied zwischen wissenschaftlichtheoretischer Produktion und praktischer Rezeption meist nicht so groß ist wie in anderen Wissenschaften oder gar in der Kunst. Freilich gibt es tragische, van-Gogh-nahe Gegenbeispiele: Der größte "Zeitsprung" zwischen Werkentstehung und Werkwirkung dürfte in der deutschen Staatsrechtslehre bei H. Heller liegen; seine in der spanischen Emigration geschaffene Staatslehre von 1934 wirkte in Deutschland erst seit den späten 50er Jahren nach. Andere Staatsrechtslehrer "verbrauchen" sich zeitlich gesehen rasch, wirken aber in ihrer Zeit um so mehr - auch der juristische Alltag hat seine legitimen Forderungen 912 . So lebt etwa der Münchener bzw. St. Gallener Staatsrechtslehrer H. Nawiasky heute (fast nur) noch in seiner zusammen mit Wilhelm Hoegner geschaffenen Bayerischen Verfassung von 1946 - einer bekannt herausragenden Leistung-; auf der anderen Seite haben R. Smend langfristig ("Bundestreue"!) und U. Scheuner (sofort) wirksame juristische Vorleistungen erbracht, 911
Auch das Lebenswerk eines Staatsrechtslehrers wird nie in toto rezipiert; es ist schon viel, wenn es konstituierende Teilbeiträge leisten kann: Totalrezeptionen wären das Ende einer offenen Wissenschaftlergemeinschaft. Nw. für U. Scheuner in meinem Beitrag, in: ZevKR 26 (1981), S. 105 (117) in bezug auf das BVerfG, für G. Dürig in meinem Nachruf: NJW 1997, S. 305.- Zugleich Indikator von und Faktor in Rezeptionsprozessen sind Neudrucke (Reprints) älterer Werke, die so wiedergewonnen werden können (zuletzt z.B. G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, 1995). 912 Wissenschaft ist dabei keineswegs nur innovativ, Praxis nicht nur rezeptiv. Oft kommen gerade aus der Praxis die Impulse, die den Rechtswissenschaftler anregen!
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
die dann das BVerfG rezipiert hat - parallel dazu auch die WissenschaftlerGemeinschaft - und die nun Gemeingut aller in der Verfassung des Pluralismus sind. Eine juristische Leistung wurde hier zum kulturellen Gemeingut: Die Staatsrechtslehre als Ganzes ist offensichtlich in die komplexen Vorgänge von Produktion und Rezeption einer offenen Gesellschaft eingebettet, gestaltet sie bedingt mit und spielt so einen Part im kulturellen Ganzen, einmal stärker rezeptiv, einmal stärker zukunftsoffen. Als ein besonderes, sehr wesentliches Stück "kommentierte Verfassungsrechtswissenschaft" erweisen sich dabei Aussprachen zu den Staatsrechtslehrerreferaten der VDStRL. Ihre Besonderheit liegt in der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Mitgliederöffentlichkeit der Diskussionen, in der Vielfalt der Zusammensetzung des deutschsprachigen Forums, auf dem ein Großteil der Wissenschafitlergemeinschaft präsent ist, sowie in der Möglichkeit, sehen zu können, was von dieser Gemeinschaft sofort rezipiert, vielleicht sogar zu einem vorläufigen Konsens gesteigert wurde, was sofort verworfen wurde und zum Dissens führte. Eine Auswertung der Debatten wäre um so reizvoller, als es gelänge, die Sofort-Reaktion der Wissenschaftlergemeinschaft (soweit sie sich artikuliert) mit den längerfristigen kulturellen Prozessen der Rezeption und Produktion der Referate in der Staatsrechtslehre als Literatur und darüber hinaus zu vergleichen. Auch müßte erforscht werden, wo wichtige Themen dem politischen Prozeß gegenüber eher "zu spät" kamen und als "Nachhut" wirkten 9 1 3 , oder wo sie für ihn rechtzeitig Weichen stellen konnten 914 . Im ganzen dürften sich "trial and error" auf Schritt und Tritt manifestieren 915.
913
So vielleicht in VVDStRL 27 (1969), S. 113 ff. So wohl in VVDStRL 32 (1974), S. 7 ff. 9.5 Einige prägnante Beispiele seien herausgegriffen: Sofort und überwiegend kritisiert, ja zum Teil scharf negiert wurde H. Hellers (heute rezipierter) Gesetzesbegriff: VVDStRL 4 (1928), S. 98 ff. bzw. Aussprache, ebd., S. 176 ff.- R Smends Mitbericht über das Recht der freien Meinungsäußerung (VVDStRL 4 [1928], S. 44ff.) ist in seiner bahnbrechenden Bedeutung sogleich erkannt worden, und die Aussprache nahm den späteren literarischen Grundsatzstreit bereits in nuce vorweg. Die bis heute andauernde Grundsatzkontroverse wurde auch in VVDStRL 26 (1968), S. 107 ff.; 30 (1972), S. 142 ff. sofort manifest.- Ein Beispiel für wissenschaftliche Langzeitwirkung eines Referates, die sich in der Aussprache noch nicht in vollem Umfang spiegelte, ist wohl H. Ehmkes Mitbericht in VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff., der sich später als "Vorhut" erwies.· Im übrigen wäre es reizvoll zu untersuchen, wo und wie über mehrere Tagungen hinweg derselbe Dissens in Grundsatzfragen auftrat, ob es sozusagen ständige "Dissenter" gibt, und wann die Aussprache nachholen mußte, was der Referent versäumte (z.B. in: VVDStRL 10 [1952], S. 46 ff., zum Teil auch in VVDStRL 38 [1980], S. 148 ff.), oder wann die Literatur schon bald solches nachzuholen hatte. Ein "komplettes" Forschungsprogramm über "kommentierte Verfassungsrechtswissenschaft" hätte schließlich auch die Tragweite und Wirkungsgeschichte der Diskussionsbeiträge von Großen des Faches wie E. Kaufmann (VVDStRL 24 [1966], S. 219 ff.), E. Forst9.4
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Lohnend wäre es schließlich auch, die Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre im Spiegel von Glückwünschen zu "großen11 Geburtstagen sowie von Nachrufen und sonstigen Würdigungen (z.B. in Festschriften) zu untersuchen und zu dokumentieren 916 - als ein weiterer Weg, um den komplexen Prozessen kultureller Produktion und Rezeption im Verfassungsrecht nachzugehen. So sehr hier manches (Bekenntnishafte) insofern "abzuziehen" wäre, als vielleicht Glückwünsche und Nachrufe nicht der geeignete und übliche Ort zu "harter" wissenschaftlicher Kritik sind, so ergiebig könnte manche Arbeit dieser wissenschaftlichen Literaturgattung für die Geschichte der deutschen Staatsrechtslehre sein, nicht zuletzt deshalb, weil der Verfasser von Glückwünschen und Nachrufen bewußt oder unbewußt auch immer ein Stück seines eigenen Selbstverständnisses formuliert. Ein Forschungsvorhaben der gekennzeichneten Art könnte Grundlagen zu werk- und wirkgeschichtlichen Würdigungen erarbeiten, aber auch den Wandel im Selbstverständnis der Staats917
rechtslehre als Wissenschaft dokumentieren
.
hoff (z.B. VVDStRL 15 [1957], S. 83 ff.) oder U. Scheuner (z.B. VVDStRL 34 [1976], S. 95 ff.) zu erarbeiten. 916 Insofern bedarf der einseitig negativ-ideologiekritische Ansatz von H. Treiber, Juristische Lebensläufe, KJ 1979, S. 22 ff, einer "positiven" (wissenschaftssoziologisch reflektierten) Ergänzung. 917 Zu den "großen" Würdigungen dieser Art gehören aus neuerer Zeit z.B. folgende Arbeiten: E. Forsthoff Gerhard Anschütz, in: Der Staat 6 (1967), S. 139 ff.; P. Badura, Zum Tode von Rudolf Smend, in: Der Staat 16 (1977), S. 305 ff.; R. Stödter, Herbert Krüger siebzig Jahre, in: DÖV 1975, S. 761 f.; W. von Simson, Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, in: AöR 103 (1978), S. 70 ff.; K. Hesse, Werner von Simson zum 70. Geburtstag, in: AöR 103 (1978), S. 73 f.; K. Hesse, In memoriam Rudolf Smend, in: ZevKR 20 (1975), S. 337 ff.; G. Leibholz, Rudolf Smend, in: In memoriam Rudolf Smend, Gedenkfeier am 17. Januar 1976 in der Aula der Universität Göttingen, 1976, S. 15 ff.; U. Scheuner, Rudolf Smend zum 85. Geburtstag, in: DÖV 1967, S. 47; H.H. Klein, Zum Gedenken an E.R. Huber (1903 bis 1990), in: AöR 116 (1991), S. 112 ff.; K. Hesse, Horst Ehmke zum 65. Geburtstag, AöR 117 (1992), S. 1 ff.- Aus der Festschriftenliteratur: R. Smend, Zu Erich Kaufmanns wissenschaftlichem Werk, in: Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, S. 391 ff.; HF. Zacher, Hans Nawiasky, Ein Leben für Bundesstaat, Rechtsstaat und Demokratie, in: FS Maunz, 1971, S. 477 ff.; J. P. Müller, Hans Huber: Der Mensch im Recht, in: FS Hans Huber, 1981, S. 1 ff.; femer G.-C. v. Unruh, In memoriam Friedrich Poetzsch-Heffter, in: DVB1. 1981, S. 571 ff.- S. auch als eigene Versuche des Verfassers: Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung? Zum wissenschaftlichen Werk von E. Forsthoff, in: JZ 1975, S. 685 ff, und: Staatsrechtslehre als universale Rechtswissenschaft. Zum Tode von Ulrich Scheuner am 25. Februar 1981, in: ZevKR 26 (1981), S. 105 ff.- Herausragend: E. Friesenhahn, Nachruf auf H. Peters, in: GedS für H. Peters, 1967, S. 1 ff.- Aufschlußreich zuletzt W. Schmitt Glaeser/H. Schulze-Fielitz, Der öffentlich-rechtliche Habilitationsvertrag, Die Verwaltung 25 (1992), S. 273 ff; H. Schulze-Fielitz, Wissenschaftliche Publikationen ehrenhalber, Die Verwaltung 29 (1996), S. 565 ff.; B.v. Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkreigszeit (1945 - 1952), 1996; M. Friedrich, Geschichte der dt. Staatsrechtswissenschaft, 1997.
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Im ganzen dürfte gelten: Die Diskussion der Staatsrechtslehre spiegelt wie in Rezensionen auch in Diskussionsbeiträgen und Würdigungen ad personam den Prozeß kultureller Rezeption und Produktion, in den die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht eingebettet ist. d) Weitere Aspekte Wie bereits angesprochen: Verfassungsrechtslehre steht dabei in Prozessen von Produktion und Rezeption und Rezeption und wiederum Produktion 918 , in denen alle öffentlichen und staatlichen Funktionen in einem dauerhaften Prozeß beteiligt sind. "Beteiligung" ist der Idee nach potentiell immer produktiver Art: Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt, ist dabei ebenso beteiligt, wie das BVerfG, das über sie entscheidet, der Staatsrechtslehrer, der die Entscheidung des BVerfG kommentiert, und die wissenschaftliche, politische und kulturelle Öffentlichkeit, die sie rezipiert. Diese Vorgänge von Rezeption und Produktion treiben die Entwicklung des Verfassungsstaates voran und integrieren die fragmentarischen Beiträge aller Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne: von Klassikertexten bis zu Erziehungszielen, von Gerichtsentscheidungen und Sondervoten, von "abwegigen" Dogmatiken bis zu herrschenden Meinungen. Erst die verfassungsinterpretatorischen Vorgänge von Produktion und Rezeption öffnen und grundieren die Verfassung des Pluralismus. Rezeption ohne potentielle latente und aktuelle Produktion bedeutet Stillstand und Rückschritt; Produktion ohne Rezeption bedeutet Auflösung, Beliebigkeit und letztlich Anarchie. Mögen im einzelnen die Akzente wechseln, etwa stärker rezipierende auf stärker produzierende Phasen in einem politischen Gemeinwesen folgen: "Mittelfristig" muß das Verhältnis von Innovation und Rezeption ausgewogen sein: Nur so wird offene Gesellschaft, nur so bleibt sie bestehen.
918 P. Häberle, aaO., Einleitung, S. 58 ff.- Den international-rechtsvergleichenden Aspekt verarbeitet früh der Sammelband: U. Battis/E.G. Mahrenholz/D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990.Vgl. zur literaturtheoretischen Diskussion um Rezeptionsprozesse grundlegend H R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, 1970, S. 144 ff.; zur Kritik vgl. aber auch P. Bürger, Vermittlung, Rezeption, Funktion, 1979, bes. S. 133 ff. Zuletzt H R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 1982.- Grenzen des rezeptionswissenschaftlichen Ansatzes ergeben sich daraus, daß nicht nur zu fragen ist, welchen Einfluß die Wirkungsgeschichte eines Kunstwerkes tatsächlich auf die Werkinterpretation hat, sondern auch, welchen Einfluß sie haben darf. Andernfalls drohte eine versteckte bloße Erfolgsmetaphysik. Auch ist es schwer, das ganze "Rezeptionspanorama" zu erschließen.
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Der Gesichtspunkt von Produktion und Rezeption trennt und verbindet alle an Verfassungsinterpretationen Beteiligten. Kein grundierendes Moment der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wird nur von einer Funktion oder Person rezipiert. Die Gemeinschaftsaufgabe und -leistung ist im Zeithorizont letztlich auch hier das Entscheidende. Dazu einige Beispiele: Verfassungsrichterliche Sondervoten leben nicht aus sich. Ihnen hat der wissenschaftliche Prozeß vorgearbeitet, ihnen arbeitet er nach: Wissenschaftliche Vorratspolitik und die Alternativjudikatur der Sondervoten arbeiten zusammen und brauchen 919
einander. Auch die "herrschende Ansicht" konstituiert sich aus den Beiträgen vieler - jedenfalls ist sie nur so in pluralistischen Gesellschaften erträglich und tragbar, aber auch "tragend". Das Lebenswerk eines Staatsrechtslehrers wird nie total rezipiert - es wäre das Ende der offenen Wissenschaftlergemeinschaft -, und doch kann es produktiv konstitutive TW/beiträge für das politische Gemeinwesen leisten.- Um sachlich zu konkretisieren: Der das GG seit 1949 kennzeichnende Ausbauprozeß des "sozialen Rechtsstaates" ist ein exemplarisches Gemeinschaftswerk vieler staatlicher und öffentlicher Funktionen; (Leistungs-)Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung, aber auch die Verfassungsrechtsdogmatik, das öffentliche Bewußtsein und ganz allgemein der politische Prozeß haben dazu ihre Beiträge geleistet. Hier sei erwähnt: die Formel vom "sozialen Rechtsstaat" als eine frühe Leistung der wissenschaftlichen Dogmatik noch vor dem GG - H. Heller hat sie geprägt 920 . Die Fülle sozialer Gesetze beginnt mit Bismarcks Sozialversicherung, die deutsche Staatsrechtslehre unter dem GG hat einen bleibenden Beitrag in der Entdeckung der Sozialstaatsklausel (seit H.P. Ipsens Hamburger Rektoratsrede 1949) 921 geleistet, der politische Prozeß hat die "dynamische Rente" geschaffen (allerdings sei auf die gegenwärtige Rentendebatte hingewiesen), das BVerwG hat schon im 1. Band seiner Entscheidungen den Fürsorgeanspruch als solchen bejaht 922 . So
919 Dazu R. Schnur, Der Begriff der "herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: FS E. Forsthoff, 1969, S. 43 ff.; vgl. auch N. Luhmann, Öffentlich-rechtliche Entschädigung - rechtspolitisch betrachtet -, 1965, S. 195 ff.; T. Drosdeck, Die herrschende Meinung, Autorität als Rechtsquelle, 1989; R. Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, 1983. 920 H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1930), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 2, 1971, S. 443 ff. 921 H.P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950; ders., Fragwürdiges zur Sozialstaatlichkeit, in: Ansprachen aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundessozialgerichts, 1979, S. 39 ff. 922 BVerwGE 1, 159 (161 f.).- Zur Geschichte des Sozialstaatsprinzips bzw. der Diskussion seit 1949: H.H. Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, 1970, 2. Aufl. 1977, S. 17 ff., 281 ff.; s. auch HF. Zacher, Was können wir vom Sozi37 Häberle
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konstituiert sich die Wirklichkeit des sozialen Rechtsstaats aus einer Vielzahl von über den Verfassungstext im engeren Sinn hinausgehenden Elementen: tendenziell sind sie zu Verfassungstexten im weiteren Sinne geworden, auch wenn heute die "Grenzen des Sozialstaats" konturenschärfer werden (müssen). Schwer können die Faktoren vorausgesagt werden, die Art und Intensität von derartigen Produktionsprozessen und Rezeptionen (mit-)bestimmen. So läßt sich nicht vorhersehen, welches Staatsrechtslehrervotum, welches Sondervotum, welche Entscheidung des BVerfG im politischen Gemeinwesen so viel Gewicht erlangt, daß es (sie) aktuell zu einem Verfassungstext im weiteren Sinne wird. Bedingung von Rezeptionen dürften Konsensfähigkeit, Überzeugungskraft, Plausibilität und Gerechtigkeitswert einer mit Hilfe von Verfassungstexten im weiteren Sinne erarbeiteten "alternativen Interpretation" sein. Manche Staatsrechtslehrervoten oder Buchrezensionen mögen höchst "folgenlos" bleiben, andere haben "durchschlagende Wirkung". Daß sich die Formel H. Hellers vom "sozialen Rechtsstaat", R. Smends "Bundestreue", U. Scheuners "Vorformung des politischen Willens" als integrierende Elemente des GG durchsetzten, war schwer vorauszusehen. Welches Einzelurteil des BVerfG eine "ständige Rechtsprechung" konstituiert, kann regelmäßig erst nachträglich rekonstruiert werden. Das Forum für die Prozesse der Verfassungsinterpretation, wenn man will die "Bühne" für Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne ist gewiß das GG als Verfassung des Pluralismus. Das Gewicht der "Rollen" der Beteiligten und der Ablauf des "Stückes" bleiben so offen, wie der "Regisseur", so es einen gäbe, unbekannt bleibt. Entscheidend ist, daß die jeweils einschlägige Öffentlichkeit eine pluralistische Öffentlichkeit ist, d.h. daß sich der Interpretationsvorschlag einer Vielzahl von Gegenargumenten und Gegnern, die sie vertreten, stellen muß. So muß Offenheit bestehen für einander widersprechende Klassikertexte, Offenheit auch für Staatsrechtslehrervoten, die der Judikatur des BVerfG widersprechen, Aufmerksamkeit für Untergerichte, die mit den Auslegungsergebnissen der Obergerichte nicht übereinstimmen, Bereitschaft für ein Gespräch über die Revision von Erziehungszielen, Offenheit für wissenschaftliche Positionen oder für eine Neuformulierung alter Erkenntnisse innerhalb der Staatsrechtslehrer, aber auch über sie hinaus: in den übrigen Kreisen der Verfassungsinterpretengemeinschaft. Erst aus dem Pluralismus, d.h. der Vielfalt von Ideen und Interessen können die Beiträge vieler zu Verfassungstexten im weiteren Sinne gerinnen, kann Offenheit für alternative
alstaatsprinzip wissen?, in: FS H.P. Ipsen, 1977, S. 207 ff; ders., Das soziale Staatsziel, HdbStR Bd. I (1987), S. 1045 ff.; E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 719 ff.
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Interpretationen entstehen, die die schrittweise Fortentwicklung des politischen Gemeinwesens erlaubt. e) Die internationale Dimension Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber und -Interpreten ist heute international und universal (geworden). Verfassungsstaatliche Verfassungsentwicklung ist ein weltweiter Kreations-, Kommunikations-, Austausch- und Rezeptionsprozeß. Er hat sich gegenüber klassischen Austauschvorgängen, etwa in den Jahren 1776/1789/1848, beschleunigt und intensiviert (besonders seit 1989). Früher oder später werden alle "wichtigen" Themen und Entwicklungsvorgänge des Typus Verfassungsstaat auf einen Verfassungstext gebracht, zu ihm "verdichtet", so spät dies oft gegenüber den Verfassungswirklichkeiten (bzw. den Interpreten in Rechtsprechung, Wissenschaft, Politik und Praxis) geschehen mag. Die wertende Verfassungstextvergleichung, die typologisch arbeitet, setzt also nur scheinbar oberflächlich am Text an, sie dringt von ihm aus in die Tiefe vor, weil dieser Text letztlich aus der Tiefe kommt: Verfassungslehre als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" zu begreifen, findet so seine Rechtfertigung. Der Verfassungsstaat ist heute sowohl (vorläufiges) Ergebnis als auch entwicklungsfähiges Forum für weltweite Zusammenarbeit. Der "kooperative Verfassungsstaat" verdient sein Prädikat "kooperativ" 923 also noch in einem tieferen Sinne: Seine Wachstumsprozesse, in den Entwicklungsstufen seiner Texte bzw. Themen "objektiviert", "reifen" in weltweiter Gemeinschaftsarbeit, bei der das AfacAbilden und Forbilden, das //ervorbringen und AfacÄmachen fast ununterscheidbar ineinander übergehen. Der Verfassungsstaat ist - als offene Gesellschaft - denkbar "durchlässig" geworden. Die Wechselprozesse des Gebens und Nehmens sind heute so intensiv, daß die "Familie" der Verfassungsstaaten m.E. schon weit enger zusammengewachsen ist, als dies die klassische etwa Zivilrechtsvergleichung mit ihren Kategorien des romanischen, germanischen, nordischen, angloamerikanischen usw. Rechtskreises wahrnehmen kann. Die Wahlverwandtschaft der und in den Verfassungstexten ist groß, so viel Spielraum den sie tragenden, verlebendigenden kulturellen Kontexten der einzelnen Nationen bleibt und auch bleiben soll. Der Beteiligtenkreis der "Familie" oder "Internationale des Verfassungsstaates" ist pluralistisch und offen: nach innen wie nach außen: "Engagiert" sind auch internationale Gremien wie universale und regionale Menschenrechts"träger" der UN, der OSZE oder der EMRK, Ausschüsse bzw. Gerichtshöfe bis hin zum EuGH,
923 I.S. meines Entwurfs: Der kooperative Verfassungsstaat, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 407 ff. S. auch Vierter Teil VII.
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deren Rückwirkungen in die nationalen Verfassungsstaaten hinein (z.B. bei den kulturellen Teilhabegrundrechten) ebenso wenig überschätzt werden dürfen, wie ihre Abhängigkeit von nationalen Verfassungsstaatselementen gering geachtet werden sollte. Neuland öffnet sich etwa im Blick auf die Menschenrechte der sog. "dritten Generation" 924 . Vor allem gibt es eine - durchdringende - internationale öffentliche Meinung "in Sachen" Menschenrechte und Demokratie. So schwer es noch ist, beide Verfassungsstaatselemente "Menschenwürde" und "Demokratie" schon im theoretischen Ansatz miteinander zu verknüpfen (aus der Menschenwürde folgt ein "Maßgabegrundrecht auf Demokratie" 9 2 5 ), ihr Verständnis als kulturelle Status quo-Garantie, hinter die es im Verfassungsstaat kein Zurück gibt, könnte auf lange Sicht auch die internationale Gemeinschaft "verfassen". Das heute nachweisbare weltweite Forum in Sachen Verfassungsstaat fasziniert zunehmend auch andere Staaten: man denke an Osteuropa, während das Gespräch mit den islamischen Staaten schwierig bleibt 9 2 6 . Nach all dem wird der Weg frei zu den Literaturgattungen des Verfassungsstaates. 2. Verfassungslehre im Kraftfeld der Vielfalt von rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen a) Problem Die Wissenschaft vom Typus "Verfassungsstaat", d.h. die Verfassungslehre, lebt nicht nur aus den objektiven ("positiven") Rechtstexten der nationalen Ver927
fassunggeber (und diesen vorausgehend: der "Klassiker") sowie aus dem, was Rechtsprechung, sonstige Praxis und die Wissenschaftler inhaltlich "hinzugeben", sie lebt auch aus und in dem " Wie", d.h. dem, was die verschiedenen Arten von Literaturgattungen in spezifischer Form, also insoweit "formal", erarbeiten, vorschlagen, diskutieren und für gut heißen. Strukturen 924
Dazu etwa E.R. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 210 ff., S. 239 ff. 925 Dazu mein Handbuch-Artikel von 1987: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdbStR Bd. I (1987), S. 815 ff. sowie unten Sechster Teil VIII Ziff. 1. 926 Dazu der Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates, Liber amicorum J. Esser, 1994, S. 50 ff; s. dazu auch H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995. 927 Im Sinne meines Berliner Vortrags: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. S. auch Fünfter Teil VIII.
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und Funktionen der für die Verfassungslehre relevanten einzelnen (vor allem juristischen) Literaturgattungen bilden ein unverzichtbares eigenes "Thema" der Verfassungslehre. So relativ "schmal" diejenige wissenschaftliche Literatur im Deutschland von heute sein dürfte, die selbst, unmittelbar und bewußt im ganzen oder in wesentlichen Teilen "Verfassungslehre" darstellt und ausbaut, so groß, vielfältig und fruchtbar ist die rechtswissenschaftliche Literatur, die mittelbar dem Denken über Verfassungen und dem Handeln für Verfassungen "Zulieferarbeit" leistet und insoweit kein geringes Gewicht für die Verfassungslehre besitzt. Im folgenden kann keine "Phänomenologie" der Literaturgattungen präsentiert werden 928 . Es geht zunächst nur darum, die Verfassungslehre als wissenschaftliche Disziplin 9 2 9 für das Problem "Literaturgattung" zu sensibilisieren, diesem Problem eine sichere "Heimstatt" in ihrem Rahmen zu verschaffen und einige Aspekte zu erarbeiten, die die These von der Unentbehrlichkeit einer Vielfalt von in ganz bestimmter Weise strukturierten Literaturgattungen bekräftigen. (Auch der Autor der einzelnen Werksparten muß sich seinerseits für den "großen Zusammenhang" sensibilisieren.) Die Verfassungslehre darf sich also nicht damit begnügen, in "Literaturverzeichnissen", als "Vorspann" zu ihren Kapiteln oder in Fußnoten Literatur mehr oder weniger gesammelt, gleichsam im Kollektiv "mitzuführen" 930 . Sie muß sich darüber klar 928
Einige Elemente einer Bestandsaufnahme in meinem erwähnten Beitrag in FS Kaufmann, 1989, S. 15 ff., insbes. Anm. 7. 929 Sie unterscheidet sich meines Erachtens durch die Überwindung der für die (allgemeine) "Staatslehre" typischen Fixierung auf "Staat" und "Staatlichkeit". Da es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert (als Typus und in der jeweiligen Beispielsform), ist heute die Verfassungslehre der gebotene Sachgegenstand und die zugehörige Disziplin. Sie hat dann dem Staatlichen in ihrem Rahmen begrenzte Aufgaben zu vermitteln. Erste Ausarbeitungen dieses Ansatzes in meinen Besprechungsaufsätzen der (Allgemeinen) Staatslehren von R. Herzog (AöR 98 (1973), S. 119 ff.) und von M. Kriele (AöR 102 (1977), S. 284 ff.). Das schließt nicht aus, bedeutsame Werke der deutschen "Staatlichkeitstradition" (wie H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970; ders., (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977, und Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, bes. S. 178 ff: Prinzip der "Nichtidentifikation") in Teilergebnissen zu integrieren. Angesichts der charakteristischen "Konkretheit" der Verfassungslehre gibt es auch keine der Allgemeinen Staatslehre entsprechende Aufteilung in "Allgemeine Staatslehre und (besondere) Staatslehre der Bundesrepublik" (wie bei H.H.v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 1 f.). Eine Verfassungslehre, die diesen Namen methodisch wie inhaltlich verdient, hat jetzt G. Haverkate (1992) vorgelegt. "Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre" in einem zu sein, ist das geglückte Anliegen des gleichnamigen Werkes von P. Pernthaler, 2. Aufl. 1996. 930 Dies ist eine verbreitete Methode, vgl. z.B. für die Allgemeine Staatslehre: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl., 1991; T. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1980 (Neudruck 1995); P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfas-
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werden, daß sie sich auch aus der Fülle der jeweils "vor Ort" spezifisch verarbeiteten Literaturgattungen selbst mitkonstituiert. Die (strukturelle und funktionelle) Verschiedenheit der Literaturgattungen, ihre wachsende Ausdifferenzierung und (soweit möglich) spätere Zusammenführung ist eine Bedingung für die Entwicklung des Typus "Verfassungsstaat". Er lebt im Spektrum vieler "Literaturen". Sie bilden seinen kulturellen "Überbau" und "Unterbau", ohne daß mit diesem hierarchischen Bild Wertungen verbunden seien. Die Literaturformen dokumentieren seine Vitalität und sind Teil seiner Identität. Gemeint sind wissenschaftliche und hier besonders rechtswissenschaftliche Literaturgattungen. Das weite Feld der Literaturformen bzw. Werkgattungen der Kunst bleibe an dieser Stelle ausgeklammert: So unentbehrlich Kunst, besonders "schöne Literatur und Literaten", als Anregerin und Kritikerin des Verfassungsstaates 931 ist und so konstituierend sich die Kunstfreiheit als Grundrecht und in ihren Resultaten für Öffnung und Grundierung der einzelnen Ver932
fassungsstaaten erweist , so sehr künstlerische Elemente die wissenschaftlichen Spitzenwerke (z.B. eines H. Heller oder C. Schmitt) mitprägen: im folgenden sei allein das Themenfeld "Verfassungslehre im Spektrum der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen" abgesteckt und dies auch nur thesenartig. Die große inhaltliche Relevanz von Kunst und Kunstfreiheit für die Entwicklung des Verfassungsstaates muß sich hier mit globaleren Feststellungen und mit nicht nach Werkgattungen differenzierten allgemeinen Hinweisen begnügen. b) Unentbehrlichkeit, Offenheit und Differenziertheit, aber auch Integration der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen als "Bauteile"der Verfassungslehre (1) Die rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen und ihre einzelnen "Repräsentanten" sind unentbehrliche "Wachstumsfermente", aber auch "Wachssungslehre, 1986 (2. Aufl. 1996).- Anders Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl., 1964.- Eine Mischform, d.h. ein Sowohl-Als-Auch von vorweg bei den Einzelabschnitten zitierter Literatur einerseits und von in den Text integrierten Zitaten andererseits entwickelte H Heller, Staatslehre, 1934. Ähnlich arbeiten R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, und F. Ermacora, Grundriß einer Allgemeinen Staatslehre, 1979. Die Literatur in die Texte bzw. Fußnoten arbeiten M. Kriele, Einfuhrung in die Staatslehre, 1975, und K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., 1969, ein. 931 Dazu P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983. Zu "Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates"(!) mein gleichnamiger Beitrag in Ged.-Schrift für W. Martens, 1987, S. 73 ff. sowie oben IX. 932 Dazu meine Abhandlung: Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 (591 f.). S. auch Dritter Teil III.
X. Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur
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tumsringe" in der Entwicklung verfassungsstaatlicher Verfassungen. Verfassungslehre "als Literatur" und Verfassung als Kultur ist auf eine Vielzahl unterschiedlicher Literaturgattungen angewiesen: von der Monographie und dem Lehrbuch über den Aufsatz, den Rechtsprechungskommentar, die Entscheidungs-, Zeitschriften- und Buchrezension bis zum Gutachten, (langlebigen) Lexikonartikel sowie zum Handbuch, Festschriftenbeitrag und zur Festrede. Daß eine Verfassung "lebt", zeigt sich nicht zuletzt in der Vitalität, Dichte und Vielfalt ihrer "Literaturen", auch in deren Weiterentwicklung. (2) Der Kanon der in Frage kommenden Literaturgattungen ist offen - entsprechend der Offenheit der Verfassung und der Offenheit der "Gesellschaft" ihrer Interpreten 933 und er muß offen bleiben bzw. gehalten werden. So wie sich bewährte Prinzipien des Verfassungsstaates weiterentwickelt haben und ausdifferenzieren, so wirken alte und neue Literaturgattungen (z.B. der Rechtsprechungsbericht oder das "Case-Book") als Vehikel und Ausdruck dieser Entwicklungsprozesse zugleich. Was bloß "formal" zu sein scheint, die Literaturgattung, ist auch "material" zu begreifen. Ein Verfassungsstaat mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit wird auf "Kommentierte Verfassungsrechtsprechung" 934 mehr angewiesen sein als Verfassungsstaaten mit rudimentärer Verfassungsgerichtsbarkeit (wie bisher Frankreich) - ohne daß die Wissenschaft zur "Glossatorin" verarmen dürfte. "Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft" wird um so wichtiger, je mehr Bücher erscheinen 935. (3) Arten und "Gesetzmäßigkeiten" der einzelnen Literaturgattungen, d.h. ihre "Werkstruktur" variieren je nach der individuellen Verfassungskultur der einzelnen Länder. Hier wirkt sich auch die Eigenart der jeweiligen nationalen Wissenschaftskultur aus: So wird etwa das "systematische" Lehrbuch zum Staatsrecht auf dem europäischen Kontinent mit seinen geschriebenen Verfassungen eine andere Funktion und größere Bedeutung haben als in Ländern mit ungeschriebenen Verfassungen wie Großbritannien. So hatte der "Recht-
933
Dazu mein Vorschlag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. S. auch oben Fünfter Teil III Inkurs A. 934 Im Sinne meines gleichnamigen Buches von 1979. 935 Der Begriff wird später übernommen von A. Lopez Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993, S. 531 ff. ("Rezensierte Rechtswissenschaft zum Problem der Verfassung").· In Spanien belegen folgende Werke hohes Niveau: F. Fernandez Segado, El Sistema Constitucional Espafiol, 1992; A. López Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993; G. Péces-Barba Martinez , Curso de Derechos Fundamentales, Teoria General, 1995; R. Sànchez/Ferris Luis Jimena, La ensefianza de los derechos humanos, 1995; F. Balaguer Callejon, Fuentes del Derecho, Bd. I, 1991, Bd. II, 1992; A.E. Pérez Luno, Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitucion, 2. Aufl. 1986; J.J. Gonzälez Encinar, El Estado Unitario-Federal, 1985. S. noch K.-P. Sommermann, Rechtsphilosophie und Grundrechtstheorie in Spanien, Der Staat 28 (1989), S. 105 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
sprechungs-Reader" bzw. das "Fallbuch" in den USA dank ihrer Verfassungsgerichtsbarkeit lange eine Spitzenstellung im Vergleich zu "Lehrbüchern" inne 936 . (4) Arten und Formen der Literaturgattungen differieren auch je nach dem Alter der (geschriebenen) Verfassungen. Junge Verfassungen bedürfen der pionierhaften "Begleitung" der Wissenschaft 937, "alt" gewordene Verfassungen bzw. Verfassungstexte brauchen nach einer Phase der Stabilisierung und der sie begleitenden Exegese (wieder) die kühne Monographie, den programmatischen Aufbruch, wie sie etwa in Antrittsvorlesungen möglich sind 938 . Darum "altern" wohl noch so gute Lehrbücher nach etwa 15 Jahren. Auf Perioden der Exegese des (vermeintlich) in den Verfassungstexten geschrieben schon ganz "Vorhandenen" und der "Zwischensummierung" in Großkommentaren dürften Perioden größerer Bewegung folgen 939 , die sich nicht nur in einer Zunahme der Zahl und des Gewichts formalisierter Verfassungsänderungen, sondern auch im sie begleitenden oder ihnen vorausgehenden Paradigma-Wechsel zeigen können: als Befreiung von "Traditionen" und "Kästchen-Denken". Die "Richtungsoder Methodenstreite" suchen sich ihre eigenen Foren - wie mitunter das deutsche Staatsrechtslehrerreferat 940. Auch hier gibt es Phasen von "challenge and
936 Den Typus "Casebook" führen jetzt musterhaft im deutschen Verfassungsrecht vor: 1. Richter/G.F. Schuppert, Casebook Verfassungsrecht, 1987 (2. Aufl. 1991, 3. Aufl. 1996); auf diesem Weg auch M. Lepa, Das Grundgesetz in Fällen, 2. Aufl., 1987; in der Schweiz: J.P Müller, Praxis der Grundrechte, 3. Aufl., 1983. 937 Repräsentativ etwa H.P. Ipsens Hamburger Rektoratsrede: Über das Grundgesetz, 1950; siehe auch die Aufbau-Arbeiten "in Sachen Grundrechte" dank G. Dürigs Kommentierung der Art. 1 und 2 GG in: "Maunz / Dürig" sowie dank seiner bahnbrechenden Aufsätze in den fünfziger Jahren, zum Teil wiederabgedruckt in: G. Dürig, Gesammelte Schriften, 1952-1983, 1984, dort auch meine Nachzeichnungen des Rezeptionsprozesses: S. 9, bes. S. 16 ff. 938 Zum Beispiel: K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Freiburger Antrittsvorlesung, 1959; weitere Beispiele für Antrittsvorlesungen in meiner Besprechung des JöR 30 (1981) in AöR 108 (1983), S. 456 (457 f.). 939 Die Schweizer Diskussion um die "Totalrevision" der Bundesverfassung von 1874 hat zu tiefgehenden Grundsatzüberlegungen auf höchstem Niveau geführt, vgl. die 6 Bände Totalrevision der Bundesverfassung, 1973, femer den Bericht von 1977. Aus der überreichen Literatur etwa P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff.; L. Wildhaber, Das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, JöR 26 (1977), S. 239 ff. Weitere Lit. ist nachgewiesen in meinem Beitrag in JöR 34 (1985), S. 303 (357 Anm. 232), zuletzt auch Y. Hangartner, Der Entwurf einer nachgeführten Bundesverfassung, AJP/PJA 1997, S. 139 ff.; J. Schweizer/K.A. Vallender, in: Schweiz. ZB1. 1997, S. 481 ff. 940 Vgl. etwa R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928), S. 45 ff.; H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, ebd. S. 98 ff.- Im Rahmen des GG klingt dieser Grundsatzstreit z.B. nach in den beiden kon-
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response" im Sinne A. Toynbees in dem Maße, wie Verfassungsstaaten in übergreifenden Zusammenhängen kultureller Evolutionen stehen. Die Literaturgattungen sind in diese Prozesse eingebettet, und sie steuern sie begrenzt mit. So werden Jubiläumsaufsätze im Sinne von "20 Jahre Grundgesetz" oder "30" oder "40 Jahre Grund|esetz" - im Vergleich - aufschlußreich 941, auch Reden zu großen Feiertagen 4 2 und gewiß - viele Literaturgattungen integrierend und zugleich in Deutschland eine eigene bildend - das Staatsrechtslehrerreferat 943 . Je älter Verfassungen sind, desto stärker wird sich das Feld der Literaturgattungen ausdifferenziert haben: Am Beispiel des GG und "seiner" Literatur ließe sich dies gut studieren, wobei freilich Eigenheiten der deutschen Wissenschaftskultur mitwirken: die Gründlichkeit und Vielfalt ihrer Ausarbeitungen wird vom ausländischen Beobachter immer wieder registriert. Freilich: So wie Verfassungen und Kodifikationen "altern" 944 , so altern auch Literaturgattungen (wenngleich wohl unterschiedlich rasch). Von Zeit zu Zeit bedarf es hier der "Verjüngungsvorgänge" und d.h. der auch die Form betreffenden, diese gelegentlich "sprengenden" Kreativität der Wissenschaftler.
trastreichen Referaten über "Pressefreiheit" von U. Scheuner bzw. R. Schnur in: VVDStRL 22 (1965), S. 1 ff. bzw. 101 ff. 941 Aus der Literatur: U. Scheuner, Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, AöR 95 (1970), S. 353 ff.; KP. Ipsen, Uber das Grundgesetz nach 25 Jahren, DÖV 1974, S. 289 ff.; ders., 40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, JöR 38 (1989), S. 1 ff. 942 Zum Problem meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987, sowie Sechster Teil VIII Ziff. 11.- Aus der Weimarer Zeit ist repräsentativ: R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, Rede, gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1933, jetzt auch in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 309 ff. 943 Am Typus "Verfassungsstaat" arbeiten etwa C. Tomuschat/R. Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff. (auch dadurch angeregt ist mein Beitrag zur FS Schelsky: Der kooperative Verfassungsstaat, 1978, S. 141 ff.); Κ Steinberger/E. Klein/D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff. Zu ihrem Thema weitgreifend G. Leibholz/G. Winkler, Staat und Verbände, VVDStRL 24 (1966), S. 5 ff.- 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Verhandlungen der VVDStRL behandeln U. Scheuner und KP. Ipsen in: AöR 97 (1972), S. 349 ff. bzw. 375 ff.; siehe auch K.P. Ipsen, Weitere 10 Jahre Staatsrechtslehrer-Tagungen 19721981, AöR 109 (1984), S. 555 ff. Zuletzt K.P. Ipsen., Staatsrechtslehrer unter dem Grundgesetz, 1992. 944 Zum "Altern" von Kodifikationen F. Kübler, Kodifikation und Demokratie, JZ 1969, S. 645 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleichung sind in ihrer Eigenschaft als (zusammengehörende) "Methoden und Inhalte" der Verfassungslehre vom Gegenständlichen her mit den ihnen eigenen Literaturgattungen am "Aufbau" und "Ausbau" der Verfassungslehre als Wissenschaft besonders beteiligt. Die Dissertation hat im Felde der Verfassungsvergleichung speziell in Deutschland zunehmend "Kärrnerfunktion" übernommen 945 ; gleiches gilt für den (rechtsvergleichenden) Sammelband946 oder das mit rechtsvergleichenden Teilen angereicherte Sachverständigengutachten 947. Die (deutsche) Habilitationsschrift gehört ebenfalls hierher 948 , ebenso (zusammengenommen) die drei Staatsrechtslehrerreferate aus den drei deutschsprachigen Ländern 949 . In Verfassungsstaaten, die einen gemeinsamen (Verfassungs)Gerichtshof in Grundrechtsfragen haben, wie die Mitgliedsländer der EMRK in Gestalt des EGMR, oder die sich zu "präföderalen" Gebilden wie der EU zusammenschließen und "Integrationsmotoren" wie den EuGH besitzen, rücken wissenschaftliche Tagungen mit ihren eigenen "Gesetzmäßigkeiten" in den Vordergrund 950 . Auch das Zeitschriftenwesen differenziert sich spezifisch aus und übernimmt besondere rechtsvergleichende "Zubringerdienste" 951 .
945 Problemhinweis und einige Beispiele für das französische Recht in meiner Besprechung in AöR 101 (1976), S. 484.- Verdienstvoll: P.M. Heer, Deutsche Dissertationen zum ausländischen öffentlichen Recht (1970-1980), JöR 31 (1982), S. 367 ff. 946 Zum Beispiel: E.-W. Böckenförde/C. Tomuschat/D.C. Umbach (Hrsg.), Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981. C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband I, 1986; D. Tsatsos u.a. (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990. 947 Repräsentativ etwa: Bericht der (deutschen) Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge, 1983, mit rechtsvergleichenden Abschnitten, z.B. S. 26 f., S. 74 f., 88; erstaunlich wenig ergiebig sind hingegen die "Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform", z.B. Schlußbericht 3/1976, S. 236 f. (zum Modell "Wirtschafts- und Sozialrat"). 948 Vgl. die stark rechtsvergleichend und zugleich typisierend gearbeitete Habilitationsschrift von H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, und von H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974 (beide am Beispiel der USA vorgehend).- Für die Schweiz im guten Sinne "repräsentativ" die Zürcher Habilitationsschrift von D. Thürer, Bund und Gemeinden, 1986 (ein Rechtsvergleich in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland, die USA und die Schweiz). 949 Vgl. K. Korinek/J.P. Müller/K. Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff.; M. Stolleis/H. Schäffer/R.A. Rhinow, Parteienstaatlichkeit - Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates?, VVDStRL 44 (1986), S. 7 ff.; M. Hilf/T. Stein/M. Schweitzer/D. Schindler, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 7 ff. 950 Das gilt vor allem für den Bereich des Europarechts, vgl. etwa den Arbeitskreis "Europäische Integration e.V." mit seiner Schriftenreihe (z.B. M. Zuleeg, Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987).- Zu Tagungen und Tagungsbe-
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(5) Die einzelnen Beispiele von Verfassungsstaaten, die eine Verfassungslehre typisierend integrieren sollte, stehen heute nicht nur in bezug auf ihre Verfassungstexte in einer lebhaften Austauschbeziehung bzw. in einem "Werkstattgespräch" untereinander: Parallel zu den Prozessen von Rezeption und Produktion, die in Sachen "Verfassungstexte" weltweit stattfinden, besonders aber im europäischen Bereich nachweisbar sind 952 , verläuft ein Austauschprozeß in bezug auf die Literaturgattungen: So hat die wachsende Bedeutung der Rechtsprechungsrezension 953 und des "Readers" zum deutschen Grundgesetz 954 gewiß manche Impulse aus den USA und den Common-Law-Ländern erfahren; umgekehrt dürfte die kontinentale (vor allem wohl deutsche) Vorliebe für systematisierende Literatur aller Art vom Lehrbuch bis zum "Grundriß" nicht ohne Eindruck auf die angloamerikanischen Länder geblieben sein 955 . Die Parallelität im Verfassungstextlichen hat also ihre Entsprechung in den Literaturgattungen, so individuell nach wie vor die Prägekraft der Verschiedenheiten der jeweils nationalen Verfassungs- und Wissenschaftskultur sein dürfte. (6) Wenn einzelne Werke bzw. Autoren über verschiedene Verfassungsurkunden eines Volkes hinweg wiederaufgelegt werden oder im "reprint" erscheinen, so ist dies nicht nur ein "literarischer" Vorgang oder ein "Markt"Problem. Dahinter stehen tiefere Inhalte und Vorgänge: Prozesse der Kontinuität über das positive Verfassungsrecht hinweg, die Dynamik kultureller Produktion und Rezeption, Reproduktion und Rezeption, Reifeprozesse des "klassisch Werdens" von Literatur im Verfassungsleben. Das zeigt sich vor allem - unterschiedlich je nach Literaturgattungen - im Verhältnis zwischen der Weimarer Staats(rechts)-Lehre und "Bonn", d.h. der Literatur unter der Geltung
richten als Spiegel und Element im Wissenschaftsprozeß schon Hinweise in: P. Häberle (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 22; ders., Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 (595 ff.).- Für die "kleinen Staatsrechtslehrertagungen" schulbildend: H. Schulze-Fielitz, 25 Jahre Assistententagung, JöR 34 (1985), S. 35 ff. (vgl. D. Heckmann, Zwischen Spontaneität und Professionalität. Zehn weitere Jahre Assistententagung Öffentliches Recht (1986 - 1995), JöR 44(1996), S. 237 ff.). 951 So die verdienstvolle "Europäische Grundrechte Zeitschrift", die 1997 im 24. Jahrgang erscheint. 952 Dazu mein Beitrag Neuere Verfassungen ..., in: JöR 34 (1985), S. 303 ff. bes. S. 368 ff. 953 Den Versuch einer Bestandsaufnahme und rechts- bzw. wissenschaftstheoretischen Klärung ihrer Funktion unternimmt meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 ff. ("Recht aus Rezensionen"). 954 Vgl. jetzt I. Richter/ FG. Schuppert, Casebook Verfassungsrecht, 1987 (jetzt 3. Aufl. 1996). 955 Vgl. L. H. Tribe , American Constitutional Law, 1978 (dazu HG. Rupp, Der Staat 18(1979), S. 446 ff.).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
des Grundgesetzes. Beispielhaft genannt seien für die Werkgattung "Sammelband" die "Verfassungsrechtlichen Aufsätze aus den Jahren 1924-1954" eines C. Schmitt (1958), die Gesammelten Schriften eines E. Kaufmann (1960), die Staatsrechtlichen Abhandlungen von R. Smend (2. Aufl. 1968, 3. Aufl. 1994), die "Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte" ("Bewahrung und Wandlung") eines E.R. Huber (1975); repräsentativ für die Monographie ist die mehrfache Auflage von G. Leibholz, "Die Repräsentation in der Demokratie" (1. Aufl. 1929; 2. Aufl. 1960; 3. Aufl. 1966; Reprint 1973) 956 . Die einzelne Literaturgattung wird hier zum "Gefäß" eines Stücks lebendiger Verfassung: im weit, d.h. kulturell unter Einbeziehung der "Literatur" verstandenen Sinne. Auch der 6. Neudruck der 3. Auflage von G. Jellineks "Allgemeiner Staatslehre" (1959) oder der unveränderte Nachdruck der 1933 erschienenen 14. Auflage des Kommentars zur Weimarer Reichsverfassung von G. Anschütz (1960) ist mehr als "Verfassungsgeschichte" im Spiegel zweier Literaturgattungen: es bezeugt diese Autoren als "Klassiker" 957 im Verbund einer konkreten Verfassungskultur und ihre Literatur als Klassikertexte der Staats- bzw. Verfassungslehre 958. Gerade im Deutschland von heute schafft die Lebendigkeit der Weimarer Staatsrechtslehre in vielen Literaturgattungen eine Kontinuität, die über die Abgründe bzw. Diskontinuitäten der NS-Zeit Brücken baut 959 . Hinzukommen müßte eine "Literaturgeschichte" der Übersetzungen von Werken großer Staatsrechtslehrer in anderen Ländern, etwa von R. Smend, H. Kelsen, G. Leibholz sowie C. Schmitt in Italien (von manchen lebenden deutschen Autoren ebendort und im heutigen Korea und Japan), von H. Heller in Spanien.
956
Repräsentativ auch die 2. Aufl. von G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1959 (1. Aufl., 1924), wobei die Kontinuität dieses Klassikertextes als Verfassungstext i.w.S. auch der Rezeptionstätigkeit des BVerfG zu verdanken ist (Belege bei G. Leibholz, ebd., Vorwort zur 2. Aufl., S, 1 ff.). Auch der von C. Link besorgte Band Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982 (Symposion zum 80. Geburtstag von G. Leibholz) ist ein Beleg für die im Text formulierte These von Staatsrechtlicher Literatur (Weimars) als Klassikertext (zum Bonner GG). 957 Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, sowie oben VIII. 958 Wobei das inhaltlich tragende Zitiertwerden naturgemäß der Hauptindikator der Lebendigkeit eines wissenschaftlichen Werkes bleibt. Zu "Fußnoten als Instrumente der Rechtswissenschaft": P. Häberle/A. Blankenagel, Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff. 959 Für bzw. in der Schweiz ist die Kontinuität im Inhaltlichen in Auswertung aller einschlägigen Literaturgattungen eindrucksvoll dokumentiert bei D. Schindler, Die Staatslehre in der Schweiz, JöR 25 (1976), S. 255 ff.
X. Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur
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(7) Bei aller Vielfalt der direkten und nur vermittelten, der allgemeinen und 960
speziellen, kurz- und langatmigen Literaturformen zum Verfassungsstaat bleibt die Aufgabe, die Literaturvielfalt immer neu zusammenzuführen zur Sache "Verfassung" und im Rahmen der Wissenschaft "Verfassungslehre". Die in der Bundesrepublik Deutschland gelegentlich übergroße Fülle von Literaturgattungen kann allzu leicht dieses Ziel der inhaltlichen Integration aus dem Blickfeld verlieren: Spezialisierung schlägt in Desintegration um, Information wird zur Desinformation, Orientierung pervertiert zur Desorientierung. Jede spezielle Literaturgattung droht, sich selbst allzu absolut zu setzen und den großen allgemeinen Zusammenhang der kooperativen "Arbeit am Verfassungsstaat" zu vergessen. Die Zusammenführung der einzelnen Literaturgattungen muß nicht nur derjenige leisten, der etwa selbst eine "Verfassungslehre" wagt bzw. schreibt. Sie ist auch von dem zu verlangen, der "nur" einen Rechtsprechungskommentar oder einen Lexikonartikel zu einer Teilfrage verfaßt. Er sollte sich darüber klar werden, welche Inhalte er aus welchen Literaturgattungen wie verarbeitet und möglichst das Ganze im Auge behalten. So sind nicht alle wissenschaftlichen Erkenntnisse schon gleich "kommentarreifDoch sollte der Kommentator den Mut haben, gegebenenfalls über den "Tellerrand" anderer Kommentarliteratur hinaus zu blicken und einmal eine pionierhafte Dissertation zu verarbeiten. Mit andern Worten: Der Prozeß der "Kommentarreifung" ist offen zu halten: in den Inhalten wie in den Literaturformen, aber es gibt eine Art "Vermutung" für die Relevanz vorhandener Kommentarliteratur (in Ablehnung wie Zustimmung), was "alternativen Ehrgeiz" in erklärten oder verdeckten "Alternativ-Kommentaren" nicht ausschließt961. Umgekehrt muß gewiß nicht alle Kommentarliteratur im Rahmen einer wagemutigen Monogra-
960 Man denke an den Generationen prägenden Lexikonartikel, vielleicht auch an den Handbuch-Aufsatz und die oft "kurzatmigen", aber nicht weniger wichtigen Zeitschriftenrezensionen. 961 Vgl. die Diskussion um den AK GG von 1984, dazu W. Graf Vitzthum, DÖV 1984, S. 918 ff. (- eine 2. Aufl. erschien 1989).- Auch das jetzt auf neun Bände geplante "Handbuch des Staatsrechts" (Bd. 1 und 2, 1987, Bd. 8, 1995, Bd. 9, 1997) ist auf eine Weise eine "Antwort" auf das "Handbuch des Verfassungsrechts" (2 Bde. 1983/84 (1994 in 2. Aufl. einbändig), zu diesem M. Kloepfer, Durch pluralistische Verfassungswissenschaft zum einseitigen Medienrechtskonzept, Afp 1983, S. 447 ff; zur Literaturgattung des Handbuchs in Lateinamerika vgl. G. Belaunde/D.-F. Segado (Hrsg.), La Jurisdiccion Constitucional en Iberoamerica, 1997).- Neueste "Konkurrenzliteratur" dokumentiert sich methodisch und inhaltlich in den beiden 1996 erschienenen Kommentaren zum GG: hrsgg. von M. Sachs einerseits, hrsgg. von H. Dreier (Bd. I) andererseits. Es ist zu hoffen, daß die Macht des ökonomischen Marktes keinen einseitigen Sieg über den "geistigen Markt" davonträgt.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
phie sichtbar verarbeitet werden 962 . Das wissenschaftliche Lehrbuch sollte ein Mindestmaß an "Selbststand" sogar gegenüber einem so dominanten Gericht wie dem deutschen Bundesverfassungsgericht behalten: es würde sonst zur bloßen "Glosse". Kurz: Der Austausch zwischen den Literaturgattungen, die wechselseitigen Möglichkeiten und Grenzen hier sind ganz bewußt ins Auge zu fassen. Es gilt zwar der Grundsatz der Offenheit ("Durchlässigkeit") aller Literaturgattungen für alle anderen Literaturgattungen (sie sind in ihrem "Wirkbereich" potentiell "universal", so spezifisch ihr "Werkbereich" ist und sein soll), doch sind die angedeuteten Differenzierungen gleichfalls zu bedenken. c) Ausblick Aufgabe eines "Besonderen Teils" unseres Themas wäre es, die speziellen Strukturen und Funktionen der einzelnen rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen "werkspezifisch" an Beispielen zu erarbeiten. Dabei hätten als Grundsatzfragen im Hintergrund zu stehen: Was kann die einzelne Literaturgattung direkt oder indirekt einer Verfassungslehre vermitteln? Was vermag gerade das Lehrbuch, das Handbuch, der Lexikonartikel, die Monographie, die Buch-, Zeitschriften- und Urteils-Rezension usw. kurz-, mittel- und langfristig beizutragen, um Verfassungslehre zu betreiben und auszubauen? In dem Maße, wie diese von und in den Prozessen der (kulturellen) Rezeption und (Re)Produktion mit den Teilwissenschaften der Jurisprudenz lebt, insonderheit mit der Staatsrechtslehre, der Verfassungsgeschichte und der Verfassungs(rechts)vergleichung, muß sie sich für Fülle und Vielfalt der Literaturgattungen dieser Teildisziplinen offen halten. Da die Verfassungslehre als "Typus-Lehre" sich aus den (historischen und kontemporären) "Beispielen" der Einzelverfassungen "aufbaut" und da diese Einzelverfassungen nicht nur in und aus den "objektiven" Texten der Verfassungsurkunde, sondern auch in vielen "subjektiven" literarischen Äußerungen leben, ist sie auf eben diese Literaturformen angewiesen. Verfassungslehre wird zwar ihre "ideale" (Zwischen)Summe und ihr "reales" Konzentrat in einem Lehrbuch wie dem von C. Schmitt (1928, 7. unveränd. Aufl. 1989) oder H. Heller (1934, 6. Aufl. 1983), auch C.J. Friedrich (1951 bzw. 1953) sowie K. Loewenstein (Verfassungslehre, 1958, 2. Aufl. 1969) finden: Solche großen Würfe sind aber nicht jeder Epoche des Verfassungsstaates vergönnt. Verfassungslehre kann sich auch in Teilarbeiten äußern, etwa 963
in einem geglückten Lexikonartikel "Verfassung"
oder mehr oder weniger
962 Beispiele dazu im Blick auf die Schweiz in meiner Rezensionsabhandlung: Kommentierung statt Verfassunggebung?, DVB1. 1988, S. 262 (266). 963 Meines Erachtens beispielhaft gelungen bei P. Badura, Art. Verfassung, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., 1975, Sp. 2707 ff; ders., Art. Verfassung, Evangelisches
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versteckt in einzelnen bedeutsamen Monographien 964 , Abhandlungen 965 , in Kommentierungen 966 des GG oder sogar in Autobiographien eines seiner "Verfassungsväter" (hier von Carlo Schmid) 967 . Damit öffnet sich ein riesiges Arbeitsfeld fur "Wissenschaft über Wissenschaft": die einzelnen Literaturgattungen müßten in ihren theoretischen Ansprüchen und ihrem realen Erscheinungsbild, in ihren Traditionen und in ihrer Weiterentwicklung "aufgelistet" werden. Jeder einzelne Autor ist durch eine derartige Aufgabe heute bei weitem überfordert (was ihn aber nicht entmutigen sollte); nur die letztlich übernationale Wissenschaftlergemeinschaft im ganzen vermag Elemente dieses Gesamtbildes beizusteuern und zu "malen". Dabei kann die Hoffnung, auf diesen literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen "Wegen" einer großen Sache zu dienen, zusätzliche Schubkraft verleihen: das Bewußtsein, daß dem Typus "Verfassungsstaat" auch von der nur formal erscheinenden Seite der Literaturgattung her Bestand und Zukunft gesichert wird. Verfassungslehre wird hier ein Stück weit Literaturwissenschaft, diese ein Stück Verfassungslehre. Freilich: Alle "gute", noch so differenzierte Literatur
Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, Sp. 3737 ff. Hilfreich auch A. Dittmann, Art. Kulturverfassungs- und Verwaltungsrecht, Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd. 1987, S. 773 ff.; T. Würtenberger jun., Art. Pluralismus, Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1985, 5/550. 964 Zum Beispiel bei H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, bes. S. 1 - 87; B.O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1973, S. 46 ff. ; Κ Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, bes. S. 236 ff. ("Neutralität und Staatsverständnis"); E.H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986; K.G. Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979; R. Gröschner, Das Überwachungsverhältnis, 1992; S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995. 965 Zum Beispiel: U. Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen, in: FS Smend, 1962, S. 225 ff; A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsgg. von W. Maihofer, 1968, S. 37 ff; D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489 ff.; ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991. 966 Vor allem in den Kommentierungen von G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1, 2 und 3 GG; Elemente auch bei P. Badura, Staatsrecht, 1986 (z.B. zum Stichwort "Staatsaufgaben", S. 194 f., 2. Aufl. 1996, S. 254 f.); C. Starck, in: v. MangoldtKlein/Starck, GG Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., 1985, (zum Stichwort "Verfassunggebende Gewalt", ebd., S. 5 f.). 967 Vgl. Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, bes. S. 318 ff. ("Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz"). Aus der Sekundärliteratur: G. Hirscher, Carlo Schmid und die Gründung der Bundesrepublik, 1986; M. Beise, Ein geistreicher Jurist: Carlo Schmid, NJW 1992, S. 1288 ff.- S. jetzt die Feier zum 100. Geburtstag von Carlo Schmid in Perpignan: Französisches Mutterland, deutsches Vaterland, beständige Erde, wechselnder Himmel, FAZ vom 4. Dez. 1996, S. 3; P. Weber, Carlo Schmid 1896 1979, 1996.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
macht per se noch keinen Verfassungsstaat, aber sie bringt und hält ihn auf ihre Weise (mit) auf seinem Weg. Der Verfassungsstaat 968 muß letztlich von seinen Bürgern gelebt werden. Die "kleine" Schweiz bleibt hier für uns Deutsche, auch für andere Europäer, nach wie vor das ebenso große wie nur schwer erreichbare Vorbild 9 6 9 . Nach diesen "Ausflügen", die freilich in einer als Kulturwissenschaft gewagten Verfassungslehre keine sind, nun zurück zu primär praktischen Fragen des Verfassungsstaates: zu seiner "Verfassungspolitik" und zu den diese eröffnenden Theorien des "Möglichkeitsdenkens".
XI. Verfassungspolitik, der verfassungsstaatliche Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken" 1. Verfassungspolitik und der verfassungsstaatliche Reformbedarf a) Verfassungspolitik ist die bewußte Gestaltung und Fortentwicklung einer Verfassung, die dem Typus "Verfassungsstaat" angehört: Formal kann sie auf vielerlei Weise vorgehen bzw. arbeiten: als erstmaliger "Erlaß" einer Verfassung (wie 1787 in den USA oder 1791 in Frankreich), als "Totalrevision" vorhandener Verfassungen (wie seit den 60er Jahren bis heute in vielen Schweizer Kantonen), als "Teilrevision" (wie bis heute (1997) 43 mal beim deutschen GG, 968
1988.
Zu dessen Menschenbild meine Schrift: Das Menschenbild im Verfassungsstaat,
969 Repräsentativ für das hohe Niveau und die Literaturvielfalt in Italien: Neben dem "Klassiker" C Mortati (von ihm z.B. Doctrine generali e costituzione della Repubblica Italiana, 1962/1986, zu ihm: M. Galizia/P. Grossi, (Hrsg.), Il pensiero giuridico di C. Mortati, 1990) und dem heute zum Klassiker werdenden N. Bobbio (von ihm z.B.: L'età dei diritti, 1990, sowie Eguaglianza e libertà, 1995): als führender Kommentar: V Crisafulli/L. Paladin , Commentario breve alla costituzione, 1990; als Lehrbuchliteratur z.B. T. Martines, Diritto Costituzionale, 8. Aufl. 1994; P. Barile , Istituzioni di diritto Pubblico, 5. Aufl. 1987; A. Pizzorusso , Sistema istituzionale del Diritto Pubblico italiano, 2. Aufl. 1992; M. Dogliani , Introduzione al Diritto Costituzionale, 1994. Zu den verfassungstheoretischen Grundlagenarbeiten gehören u.a.: G. Zagrebelsky, Il diritto mite, 1992 und A. Pace, La Causa della Rigidità della Costituzionale, 2. Aufl. 1996; s. auch A. Spadaro, Contributo per una teoria della Costituzione, 1994. Die Grundrechtsliteratur sei mit folgenden Werken belegt: P. Barile, Diritto dell' uomo e libertà fondamentali, 1984; A. Pace, Problematica delle libertà costituzionali, 2 Teilbände 1992. Die - hohe - Monographien-Kultur zeigt sich z.B. an P. Ridola, Democrazia pluralistica e libertà associative, 1987, ders., Diritti di Libertà e Constituzionalismo, 1997, sowie L. Paladin, Le Fonti del Diritto Italiano, 1996; G. Zagrebelsky, La giustizia costituzionale, 1988. Die "Europäisierung" dokumentiert: F. Cocozza, Diritto comune delle Libertà in Europa, 1994.
XI. Verfassungspolitik, Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
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nur 28 mal seit 1787 in den USA: "amendments"), aber auch in den "feineren" Formen schöpferischer Verfassungsinterpretation der geltenden Verfassung bis hin zum kühnen Sondervotum (z.B. von Frau von Brünneck, E 32, 129). Inhaltlich richtet sich Verfassungspolitik auf das Ganze bzw. auf Ensembleteile einer verfassungsstaatlichen Verfassung, wobei sie sich an deren Typen orientiert, aber auch nationale (im Bundesstaat gliedstaatliche) Varianten gestaltet: je nach der individuellen historisch besonders gewachsenen Verfassungskultur (z.B. in der Schweiz als halbdirekte Demokratie, in den neuen deutschen Bundesländern via Rezeption und Fortentwicklung neuester Lehre und Rechtsprechung aus (West)Deutschland bzw. Übernahme europäischer oder weltweiter Standards). Während die staatlichen Funktionen wie der Verfassunggeber oder der "organische Gesetze" schaffende einfache Gesetzgeber (Beispiel Spanien), aber auch der formale Verfassungsänderer sich heute ihre "Materialien", Modelle, Vorbilder und Anregungen aus der ihnen zugänglichen ganzen Verfassungsgeschichte (Zeit) und Verfassungsvergleichung (Raum) in Sachen Verfassungsstaat "holen" können, um neue Verfassungen zu schaffen ("Verfassunggebung") oder bestehende in welchen Verfahren auch immer zu reformieren, ("Verfassungsreform") und sie dabei "politisch" vorgehen, d.h. mit den anderen Pluralgruppen der Konstituante einen Verfassungskompromiß suchen müssen, ist der als Wissenschaftler Beteiligte freier. Er dient direkt der (Verfassungs-) Gerechtigkeit und arbeitet unmittelbar im Dienste der Wahrheitssuche - eben als Wissenschaftler. Er hat unmittelbar das Ideal einer "guten" verfassungsstaatlichen Verfassung vor Augen, er geht in der "Werkstatt" aus Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleichung, die die zwei Seiten derselben Sache sind, frei umher, während der politische Verfassunggeber vielfältigen Bedingungen des "Bargaining", des Handelns mit allen Beteiligten bis hin zum "faulen", aber unvermeidbaren Kompromiß ausgesetzt ist. Diese unterschiedlichen Wege und Aufgaben in Sachen Verfassungspolitik, die direkt politischen und die primär wissenschaftlichen, müssen unterschieden werden, so viele Überschneidungen es gibt: etwa wenn der Staatsrechtslehrer einen konkreten Verfassungsentwurf begutachten soll, wie dies seit 1990 bis heute immer wieder in Polen geschieht 970 , in Südafrika 1996 unter starker deutscher Beteiligung stattfand 971 , oder auch im Entstehungsprozeß der Provinzverfassung Kwazulu
970 Dokumentation in JöR 43 (1995), S. 184 ff.; (ebd. S. 134 ff zur Mitwirkung des Verfassers). 971 Dazu U. Karpen, Südafrika auf dem Wege zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung, JöR 44 (1996), S. 609 ff.; H.-P. Schneider/! Kramer, Das Fundament des Regenbogens, FR vom 31.Oktober 1996, S. 20. 38 Häberle
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Natal 1996 zu beobachten war. Die Schweiz liefert ebenfalls Beispiele 972 . Sache der Wissenschaft ist, eine Palette von denkbaren Lösungen bzw. Normierungen vorzuschlagen oder die schon in Textform gegossenen zu kommentieren, ggf. durch Textvarianten zu verbessern. Dazu hat sie (zuvor) "wissen973
zu leisten , d.h. in Unabhängigkeit ein Spektrum schaftliche Vorratspolitik" vieler Alternativen bereitzulegen, die dem, der Verfassungspolitik "von Amts wegen" betreibt, also z.B. einem Verfassungsänderer, dienlich sein können. Einen Sonderfall bilden die wissenschaftlichen Privatentwürfe, die es nach 974
schon klassischer Tradition immer wieder in der Schweiz gibt , jüngst etwa auf Bundesebene dank Kölz/Müller (1984), in Zürich dank T. Jaag 975 . Sie gehen ohne Auftrag vor und können noch "idealer" arbeiten, indem sie aus sich heraus tätig werden und nicht an konkrete Instanzen, Gremien und Verfahren angebunden bzw. in sie eingebunden sind, auch nicht an politische Parteien. Verfassungspolitik, so begriffen, muß zur selbstverständlichen Aufgabe der Staatsrechtslehre werden. Zumal im Zeichen einer vergleichenden, als juristische Text- und Kulturwissenschaft arbeitenden Verfassungslehre ist sie nicht als zu "politiknah" auszugrenzen, sonderen als Bestandteil der Disziplin selbst zu begreifen. Sie hat Handwerks- und im Glücksfall "Kunstregeln", die sich in den langen Traditionen des Verfassungsstaates ausgebildet haben und die heute, im "Verfassungszeitalter" seit 1989, besonders gefragt sind. Dabei ist viel Bescheidenheit am Platz. Ein noch so guter Verfassunggeber hätte wohl in Südafrika das "Wunder" der Übergangsverfassung von 1993 und der endgültigen von 1996 ohne einen N. Mandela und den ihm den Weg freigebenden F. de Klerk nicht vollbracht. Umgekehrt hat man in Polen 1989/90 die "Stunde der Verfassung" wohl versäumt, obwohl es eine charismatische Persönlichkeit wie L. Walesa gab (Erst 1997 gelang die Verfassung.). Was sich der Staatsrechtslehrer am mehr oder weniger "grünen Tisch" in Sachen Verfassungsstaat ausdenkt, ist noch nicht per se geeignet, in die Tat praktischer Verfassungspolitik umgesetzt zu werden. Hierzu bedarf es der politischen Kräfte, einer aufnahmebereiten Öffentlichkeit, bestimmter ökonomischer Bedingungen und viel guten Willens. Gleichwohl bleibt der Verfassungsjurist um seiner Wissenschaft willen aufgerufen, nach seinen (bescheidenen) Möglichkeiten mitzuarbeiten.
972
P. Häberle 1996 für St. Gallen, dazu der Beitrag: SchweizerZBl. 1997, S. 97 ff.; J.P. Müller und P. Saladin 1992/93 für die Kantonsverfassung Bern (1993), E. Grisel 1996/97 für das Waadtland. 973 Dazu schon meine Ausführungen in Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 712 und Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 15, 18, 90, 390. 974 Dazu schon VII Ziff. 5. 975 Dokumentiert in JöR 47 (1999), i.E.
XI. Verfassungspolitik, Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
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b) Im folgenden seien nur die Stichworte für die praktische Einlösung dieses Zieles im Rahmen der Verfassungslehre skizziert: "Im kleinen" hat sich die Verfassungspolitik der Wissenschaftler bereichsspezifisch an konkreten Problemfeldern zu bewähren 976 . Der einzelne Wissenschaftler kann nicht das Ganze einer "guten Verfassung" entwerfen. Darum wird hier immer wieder an einzelnen konkreten "Stellen" ein Abschnitt angefügt, der der " Verfassungspolitik" gilt: so bei der Behandlung der Ewigkeitsklauseln (Fünfter Teil III Ziff. 2), bei den Präambeln (Sechster Teil VIII. Ziff. 8), aber auch bei den Übergangs- und Schlußbestimmungen (ebd. Ziff. 15) oder beim Thema "Staatsgebiet" (VI Inkurs). Diese konkreten Umsetzungen wissenschaftlicher Einsichten in die Praxis sind von gewissen allgemeineren Erkenntnissen bzw. Regeln getragen: etwa zum Dauer- und Rahmencharakter der Verfassung "im Laufe der Zeit", zu ihrer sich auf den Menschen als rationales und emotionales Kulturwesen einstellenden Textgestaltung (exemplarisch bei den Präambeln), zur Sprachkunst, in der Verfassungen geschrieben sein wollen (bürgernah im Präambel- und Grundrechtsteil, eher in technischer Fachsprache im Kompetenzteil, in feiertäglicher Hochsprache in der Präambel, darum sollten Dichter wie A. Muschg mit ihrer Sprachfassung beauftragt werden: wie in der Schweiz 1977). Ähnliche Handwerksregeln gelten in Fragen der Redaktionstechnik, etwa bei der Formulierung grundrechtlicher Schutzbereiche im Insbesondere-Stil, bei dem der Schranken der Grundrechte im Enumerativi Stil. Auch im Themenfeld der Staatsziele gibt es Vorgaben guter Verfassungspolitik, die vor einem barocken Zuviel (wie in Brasilien: 1988) ebenso warnen wie vor einem kargen Zuwenig (wie in der Verf. der Niederlande: 1983). Schließlich sind Fragen der systematischen Plazierung von einzelnen Verfassungsthemen zu bedenken: wohin gehören die "Staatssymbole" oder die Ewigkeitsklauseln (diese z.B. nicht in den Übergangs- und Schlußteil, vgl. aber Art. 115 Verf. Brandenburg)? Freilich ist dabei Flexibilität angezeigt. Je nach der Rechtskultur eines Landes können längere oder kürzere Verfassungstexte am Platz sein. Die romanischen Länder haben m.E. mehr Sinn für Symbolik und Rhetorik als germanisch geprägte. Speziell das Staat/Kirche-Verhältnis ist schließlich ein Feld, auf dem die wissenschaftliche Vorratspolitik sehr viele Lösungen anbieten kann, die 976
Aus der eher theoretischen Lit.: D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489 ff; P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff.; R. Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, S. 385 ff.; P. Häberle, Das GG und die Herausforderungen der Zukunft, FS Dürig, 1990, S. 3 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
aber "vor Ort" von den direkt Verantwortlichen sortiert und bewertet werden müssen 977 . Nicht minder "sensibel" und von der Verfassungslehre nur behutsam 978
aufzubereiten ist die Frage der Gottesbezüge im Verfassungsstaat . Je stärker eine Frage irrational-emotional besetzt ist, desto mehr muß wohl der rational arbeitende Wissenschaftler zurücktreten und das Wort dem verantwortlichen bzw. beteiligten Bürger bzw. seinen gewählten Gremien überlassen. c) Der Bedarf an wissenschaftlicher begleitender Verfassungspolitik ist heute wie schon früher groß. In den Epochen oder Stichjahren wie 1789, 1830 oder 1848 in Europa, jetzt seit 1989 in Europa und der Welt steigert er sich besonders. Mitunter haben aber die einzelnen Verfassungsstaaten auch ihren ganz "individuellen" Reformbedarf. So begannen die Schweizer Kantone Ende der 60er Jahre um "Totalrevisionen" zu ringen, obwohl es im übrigen Europa damals kein besonderes verfassungspolitisches Umbruchsjahr gab. Die Wissenschaft hat aber unabhängig von den "großen" Jahren ständig und ganz normal die Verfassungspolitik als Teildisziplin ihrer selbst zu pflegen und "Vorratspolitik" zu betreiben, um je und je gerüstet zu sein. Sie kommt leicht zu spät. 1989 war z.B. in Deutschland niemand in der Politik und auch nicht in der Wissenschaft auf den plötzlichen Handlungs- und Reformbedarf in Sachen Wiedervereinigung und gesamtdeutsche Verfassung vorbereitet 979 . Es gibt Beispiele dafür, wie eine in Angriff genommene Verfassungsreform "versandet" (z.B. die Enquete-Kommission des Bundestages in den 70er Jahren) 980 . Es gibt weitere Beispiele dafür, daß eine Verfassungsreformkommission "gut" gearbeitet hat, die Politik ihre Anregungen aber nicht aufgreifen will (so in Sachen Neugliederung in Deutschland) 981 . Auf die allenfalls punktuelle Erfolge erreichende "Gemeinsame Verfassungskommission" von Bund und Ländern sei verwiesen 982 . Schließlich finden sich Belege dafür, daß Arbeiten einer Reform-
977
Vgl. das Problemfeld in der Schweiz aus Anlaß der Totalrevision in den Kantonsverfassungen: JöR 34 (1985), S. 303 (390 ff), sowie in JöR 47 (1999), i.E. 978 Dazu P. Häberle, Gott im Verfassungsstaat? (1987), jetzt auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 213 ff; aus der Kommentarliteratur jüngst: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd 1, 1996, Präambel, Rd.Nr. 14 ff. Zum ganzen unten Sechster Teil VIII Ziff. 9. 979 Zu der späteren Diskussion z.B. B.Guggenberger/A. Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994; P. Häberle, Die Kontroverse um die Reform des deutschen Grundgesetzes, ZfP 39 (1992), S. 233 ff. 980 Dazu R. Wahl, Empfehlungen zur Verfassungsreform, AöR 103 (1978), S. 477 ff. 981 Dazu die Luther- und Ernst-Kommission 1955 bzw. 1973; W. Rutz, Die Gliederung der Bundesrepublik Deutschland in Länder, 1995. 982 Dazu U. Berlit, Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 44 (1996), S. 17 ff.; K. Borgmann u.a., Verfassungsreform und Grundgesetz, 1992; D. Heckmann, Verfassungsreform als Ideenwettbewerb zwischen
XI. Verfassungspolitik, Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
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Kommission erst nach langer "Inkubationszeit" beachtet und umgesetzt werden (das gilt etwa für die noch von Bundeskanzler H. Schmidt eingesetzte "Staats983
ziele-Kommission", 1980 ). Manche ihrer Anregungen wurden in den neuen Bundesländern beachtet 984 . In der Schweiz war die im Entwurf 1977 gipfelnde "Totalrevision" lange Jahre buchstäblich "stecken" geblieben, der Prozeß der "Nachführung" der Bundesverfassung (Entwurf 1995) 985 ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Im ganzen gibt es eine Typologie der Prozesse der Verfassungsreform und ihrer institutionellen Erscheinungsformen 986. Daß sich auch auf diesem Feld eine Textstufenentwicklung beobachten läßt, zeigt die neue Verfassung Brandenburg (1992). Sie hat wohl als erste (s. aber Art. 146 a.F. und n.F. GG) in deutschen Landen in den Übergangs- und Schlußbestimmungen eine "verfassunggebende Versammlung" komponiert (Art. 115) - hier wirken Vorbilder der Schweiz in Sachen "Totalrevision" 987 . Das GG von 1949 hatte noch nichts über das Verfahren im einzelnen zu einer neuen Verfassung gesagt (Art. 146 a.F.). Bezug genommen war allenfalls implizite auf einen ungeschriebenen Standard von gemeineuropäisch/atlantischen Verfahrensregeln in Sachen Verfassunggebung. Einzelheiten blieben streitig 988 . Der heutige Reformbedarf des Verfassungsstaates ist - trotz 1989 - auf überraschend vielen Feldern besonders groß. An anderer Stelle wurde er exempla989
risch zur Sprache gebracht nert.
. Daran sei hier aus systematischen Gründen erin-
Staat und Volk, DVB1. 1991, S. 847 ff.; R. Scholz, Die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, ZG 1994, S. 1 ff.; H.-L. Batt, Verfassungspolitik im vereinigten Deutschland, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 211 ff; H.-J. Vogel, Die Reform des Grundgesetzes nach der deutschen Einheit, DVB1. 1994, S. 497 ff.; M. Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 2. Aufl. 1996. 983 Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, 1983. 984 Zu den vielgliedrigen Prozessen der Verfassunggebung meine fünfteilige Dokumentation und Kommentierung in JöR (von Bd. 39 (1990) bis 43 (1995)). 985 Dazu Y. Hangartner/B. Ehrenzeller (Hrsg.), Reform der Bundesverfassung, 1995. 986 Dazu aus Anlaß des GG mein Beitrag: Das GG vor den Herausforderungen der Zukunft, in: FS Dürig, 1990, S. 3 ff; aus Anlaß Italiens mein Beitrag in Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 817 ff. 987 Vgl. z.B. § 123 - 125 Aargau (1980); Art. 144 Basel-Landschaft (1984); später Art. 129 Verf. Bern (1993); Art. 114 Appenzell-A.Rh. (1995). 988
Aus der Lit. mein Beitrag: Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, JZ 1990, S. 358 ff.; W. Fiedler, Die deutsche Revolution von 1989, Bd. VIII, 1995, S. 3 ff.; P. Lerche, Der Beitritt der DDR..., ebd., S. 403 ff. HdbStR 989 Vgl. oben Vierter Teil VI Ziff. 4.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
d) "Inspirationen" und Modelle holt sich die wissenschaftliche Verfassungspolitik aus dem gesamten ihr vorliegenden Material einer typologisch bzw. systematisch geordneten Verfassungsgeschichte bzw. Verfassungsvergleichung vieler Zeiten und Länder, was freilich jeden einzelnen Gelehrten überfordert, aber auch nicht über Computernetze gelingen kann. Nur bereichsspezifisch bzw. arbeitsteilig läßt sich heute noch vorgehen. Abschließend seien aber abstrakt die "Materialien" bezeichnet, die über die Verfassungstexte und die in hinaus "anregend" wirken: Es sind ihnen eingefangene Verfassungswirklichkeit Hervorbringungen der Künste, insbesondere der Literatur, (konkrete) Utopien und (bzw.) das, was hier als "Klassikertexte" bzw. "Verfassungstexte im weiteren Sinne" bezeichnet wurde (vgl. V I I I und IX). Darum sind sie in das Raster dieser Verfassungslehre integriert. Da viele Klassiker ihre "Gegenklassiker" haben, etwa in Gestalt der "ewigen" Kontroverse J.-J. Rousseau gegen Montesquieu greifbar, bleibt je konkret genügend Gestaltungs- und Interpretationsspielraum. M.a.W.: Sowohl der unmittelbar wissenschaftlich arbeitende Verfassungspolitiker als auch der in unmittelbarer politischer Verantwortung stehende Verfassungsreformer haben noch genug Mühe, von der höheren Abstraktionsebene in die tieferen Regionen der Alltagskontroversen "hinabzusteigen". Bei all dem wird eine Denkform relevant, die O. von Bismarck als Handlungsform bezeichnet hat: Politik als "Kunst des Möglichen". Damit ist das Stichwort gefallen, das die Verfassungslehre auf ihre Weise aufzubereiten hat: das "Möglichkeitsdenken", das mit dem Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken eine unverzichtbare Trias bildet (vgl. unten 3).
2. Insbesondere: Verfassungspolitik in Sachen Verfassungssprache (1) Die Sprache ist nicht nur insofern ein "Thema" des Verfassungsstaates, als auf seiner heutigen Entwicklungsstufe immer häufiger einerseits besondere individuelle oder korporative Bestimmungen für den Schutz sprachlicher Minderheiten anzutreffen sind 9 9 0 und andererseits an traditionellen Sprachen-Arti990
Zuletzt etwa Art. 37 Verf. Litauen von 1992.- Art. 37 Abs. 4 Verf. Estland von 1992 erlaubt Minderheitenschulen mit eigenen Sprachen.- Besonders tolerant Art. 30 Verf. Südafrika von 1996: "Everyone has the right to use the language and to participate in the cultural life of their choice, but no one exercising these rights may do so in an manner inconsistent with any provision of the Bill of Rights". Ähnlich schon Art. 19 Verf. Namibia von 1990.- Art. 35 Verf. Peru von 1979 verlangt vom Staat die Förderung der "Eingeborenensprachen".- Art. 50 Verf. Guatemala von 1985 bezieht in das Grundrecht auf "kulturelle Identität" auch die Sprache ein. Art. 5 Abs. 2 Verf. Sachsen von 1992 hat den Schutz der Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit durch eine reife Textfassung vorangetrieben: Recht auf Pflege ihrer Sprache. Bemerkenswert offen auch Art. 8 Abs. 2 Verf. Mongolei von 1992.- Aus der Lit.: Κ. Bott-Bodenhausen
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kein (Staats- oder Amtssprache) als "Staats-Artikeln" festgehalten wird 9 9 1 . Sprache ist darüber hinaus auch ein Problem des Verfassunggebers, insofern er für den jeweiligen Regelungsbereich seiner Normierungen die "richtige" Sprache, die "richtigen Worte" finden muß. Gewiß, hier gibt es große Unterschiede: je nach Individualität und Identität des jeweiligen Volkes und seines Verhältnisses zur Sprache (das rethorische Temperament der romanischen, auch südamerikanischen Länder hier, die eher nüchterne Art protestantischer Länder dort, belegbar etwa in der Verf. der Niederlande von 1983). Dennoch lassen sich allgemeine Maximen "guter Verfassungspolitik" und insofern auch "Sprachenpolitik" finden, die jeder Verfassunggeber als "Texter" beachten sollte. Im einzelnen: (2) Während es viel Literatur zum Thema "Sprache und Recht", zur Sprache als "Staatselement" gibt 9 9 2 und auch sonst viel sprachtheoretische Literatur entstanden ist und immer wieder neu entsteht 993 , fehlt es soweit ersichtlich an (Hrsg.), Unterdrückte Sprachen, Sprachverbote und das Recht auf Gebrauch der Minderheitensprachen, 1996; R. Hinderling/L.M. Eichinger (Hrsg.), Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten, 1996.- Schon klassisch Art. 6 Verf. Italien von 1947/93: "Die Republik schützt die sprachlichen Minderheiten durch besondere Bestimmungen". 991 Beispiel: Art. 6 Verf. Slovakische Republik von 1992, schon in den "allgemeinen Bestimmungen". Ebenso Art. 3 Verf. Bulgarien von 1991, Art. 14 Verf. Litauen von 1992, Art. 6 Verf. Estland von 1992, Art. 8 Verf. Georgien von 1995; s. auch Art. 6 Verf. Uganda von 1995, Art. 1 Verf. Benin von 1990.- Art. 148 Abs. 1 Verf. Rumänien von 1991 schreibt die Amtssprache (Art. 13) als Grenze der Verfassungsänderung fest. Einen originellen Staatssprachen-Artikel schafft Art. 10 Verf. Ukraine von 1996, insofern als er am "Ukrainisch als Staatssprache" festhält, aber dann doch in Abs. 5 den "Gebrauch von Sprachen in der Ukraine" nach Maßgabe von Verfassung und Gesetz erlaubt.- Auf die besonderen Sprachgebietsklauseln in Art. 4 und 5 Verf. Belgien von 1994 sei verwiesen.- Art. 9 lit. f Verf. Portugal von 1976/92 zählt "die Lehre und dauerhafte Wertschätzung der portugiesischen Sprache einschließlich der Förderung ihrer internationalen Verbreitung sogar zu den wesentlichen Aufgaben des Staates". Und Art. 3 Abs. 3 Verf. Spanien von 1978/92 hat eine neue Textstufe geschaffen in den Worten: "Der Reichtum der unterschiedlichen sprachlichen Gegebenheiten Spaniens ist eine Kulturgut, das besonders zu achten und zu schützen ist." 992 Vgl. etwa P. Kirchhof, Deutsche Sprache, in: HdbStR Bd. I, 1987, S. 745 ff.; ders., Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987; J. Isensee, Staat im Wort, 1996; B. Grossfeld, Unsere Sprache in der Sicht des Juristen, 1990; ders., Sprache und Recht, JZ 1984, S. 1 ff; H. Maier, Sprachenpolitik?, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1995, S. 118 ff.; M. Paroussis, Theorie des juristischen Diskurses, 1995, S. 53 ff: "Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs"; B. Rüthers, Sprache und Recht, in: H.-M.-Schleyer-Preis 1994 und 1995, Bd. 44 (1995), S. 57 ff.; T. Weir, Die Sprachen des europäischen Rechts, ZEuP 1995, S. 368 ff. Ergiebig M. Hilf, Die sprachliche Struktur der Verfassung, HdbStR Bd. VII, 1992, S. 79 ff. 993 Nachweise bis 1981 in meiner Bayreuther Antrittsvorlesung Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann (1982), jetzt auch in Rechtsver-
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spezifisch verfassungstheoretischen bzw. -politischen Überlegungen, wie der Verfassungsstaat auf seiner höchsten Normenstufe mit seiner Sprache umgehen soll, wie er also die Worte und Begriffe seines hohen Textes in der Verfassungsrunde faßt und sich dem Bürger "mitteilt". Dieser Frage muß sich nicht nur der (formelle) Verfassunggeber stellen, auch die Instanz bzw. das Gremium, das für Teilrevisionen zuständig ist und solche punktuell durchführt, ist in sprachpolitische Verantwortung gerufen, ja man darf sogar an denjenigen, der wie die Verfassungsgerichtsbarkeit die Verfassung verbindlich auslegt, bestimmte Forderungen richten 994 . Im Grunde wäre an dieser Stelle eine kulturwissenschaftliche Bestandsaufnahme zum Thema "Sprachstil des Rechts" erforderlich, die sich am Glanz der römischen Rechtssprichwörter, an der Prägnanz und Eleganz des Code Civil (der Stendhal zur Morgenlektüre diente) oder an der Bürgernähe des Schweizer ZGB von Eugen Huber (1911) freuen könnte und G. Radbruchs Dictum 9 9 5 : "Die Rechtssprache ist kalt: Sie verzichtet auf jeden Gefühlston; sie ist barsch: sie verzichtet auf jede Begründung; sie ist knapp: sie verzichtet auf jede Lehrabsicht als fragwürdige Verallgemeinerung" abzulehnen hätte. Eine solche Bestandsaufnahme "aller Räume und Zeiten" hätte auch die verschiedenen Ebenen wie die Gesetzessprache, die Gerichtssprache und die Wissenschaftssprache einzubeziehen. Auch ist zu bedenken, daß auch über die Sprache der Verfassung ein Stück Herrschaft ausgeübt wird bei allen Kommunikationsebenen und -chancen - und schon deshalb dieses Feld sensibel bestellt werden muß. Nicht nur die Sprache, auch die Verfassungssprache ist das viel zitierte "Kulturgut". Darum unterliegt sie auch nicht der Verfügung von Kultusministerien, welche Anmaßung im deutschsprachigen Raum Deutschland/Österreich/Schweiz im Rahmen der sog. Recht-
gleichung, aaO., S. 176 ff. Als frühe Pionier-Literatur kann gelten die Münchner Vortragsreihe 1959 "Die Sprache" mit Beiträgen u.a. von Guardini, Georgiades, W.F. Otto und Heidegger. Die politische Dimension erfaßt M. Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter?, Politische Begriffe im Meinungsstreit, 1980. S. auch F. Haft, Recht und Sprache, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hrsgg. von A. Kaufmann/W. Hassemer, 5. Aufl. 1989, S. 233 ff.; zuletzt H Feilke, Sprache als soziale Gestalt, 1996; D. Busse, Juristische Semantik, 1993; J. Eckert/H. Hattenhauer (Hrsg.), Sprache, Recht, Geschichte, 1991; K. Vorpeil, Urteilssprache im internationalen Vergleich, NJW 1994, S. 1925 ff.- Auf die Grundlagen-Arbeit von RA. Posner, Law and Literature, 1988, sei verwiesen. 994 Dazu schon mein Buch Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 30 ff. S. auch R. Gerhard, Sprache in Urteilen - Urteile über die Sprache, DRiZ 1996, S. 222 ff. 995 Vgl. in diesem Sinne (nicht wörtlich): G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Aufl. 1952, S. 44 ff.
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schreibereform 1996 stattfand 996 . Sprachreformen stehen mindestens unter Parlamentsvorbehalt, selbst der Verfassunggeber stößt auf Grenzen aus der Sache Kultur (Kulturvorbehalt). Verfassungsstaaten wie Frankreich und Spanien vertrauen die Sprachpflege denn auch unabhängigen Akademien an 9 9 7 . Sprachen sind ein autonomes Kulturgebilde, schon der klassische Satz "Caesar non supra grammaticos" sollte zu denken geben. Im folgenden sei bescheidener angesetzt. Nur die Sprache verfassungsstaatlicher Verfassungen kann in den Blick genommen werden und auch dies nur ansatzweise: wie sie ist und wie sie sein soll. Dabei sind freilich sprachphilosophische Erkenntnisse von der "Philosophie der gewöhnlichen Sprache" bis zum frühen und späten L. Wittgenstein, auch die "Sprechakttheorie" gedanklich mitzuführen 998 . Vor allem aber hilft die Einsicht weiter, daß die begrifflichabstrakte und die symbolisch-anschauliche Dimension der Sprache zwei unterschiedliche, ja unverzichtbare Dimensionen der Sprache im (Verfassungs-) Recht sind. Eine "Dreischichten-Lehre" 999 kann drei Sprachebenen ausmachen, die mehr oder weniger gemischt in den verfassungsstaatlichen Verfassungstexten nachweisbar sind: - 1. Die Feiertagssprache: die "Hoch-" oder sogar "mehr als Hoch-Sprache", oft an altertümlichen, kaum mehr gebräuchlichen und festlichen Stilelementen erkennbar, die auf das Feiertägliche, Besondere an Geburt bzw. Erlaß von Verfassungen (vor allem in Präambeln als Verfassung "vor" oder "in" der Verfassung) und an ihre Geltung erinnern sollen und in der Verantwortungsethik oder gar religiösen Töne spürbar werden. - 2. Die Alltags- bzw. Umgangssprache: Gemeint ist der Gebrauch durchaus üblicher Worte und Begriffe, die dem Bürger bzw. Volk daher zunächst auch "näher" zu sein scheinen (häufig im Grundrechtsteil, auch bei den Staatsaufgaben). - 3. Die dem Juristen geläufige Fachsprache mit ihrer eigentümlichen, oft bürgerfernen, nicht selten schwer verständlichen Begrifflichkeit bzw. Termi-
996
Dagegen aber W. Kopke, Rechtschreibreform und Verfassungsrecht, 1995, und die "Frankfurter Erklärung", auch (zu spät) viele deutsche Dichter wie G. Grass und M. Walser; zum Ganzen: Der Spiegel Nr. 42 vom 14. Okt. 1996, S. 262 ff. 997 Zu Spanien: M. Seco/G. Salvador, La Lengua Espafiola, 1995. 998 Aus der Lit.: F. Haft, Juristische Rhetorik, 1978 (4., erweiterte Aufl. 1990); D. Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, 1976; E.von Savigny, Zum Begriff der Sprache, 1983. 999 Dazu mein Beitrag von 1982: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, aaO., S. 211, 228, Anm. 51 m.w.N.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
nologie (meist im staatsorganisatorischen, "technischen" Teil, z.B. Kompetenzteil von Verfassungen, oft in den Übergangs- und Schlußvorschriften). Die drei Kategorien mögen der Unterscheidung zwischen Hochkultur, Alltags- oder Volks- (nicht Alternativ-)Kultur und bereichsspezifischer Kultur entsprechen. Sie kommen gewiß in vielen Übergängen und "Mischungen" vor, lassen sich aber doch idealtypisch unterscheiden. Wenn mehrere Verfassungen die Unterrichtung der Bürger in Sachen Verfassung (Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala von 1985, Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru von 1979) bzw. die Aushändigung der Verfassung an den Bürger (z.B. beim Verlassen der Pflichtschule: Art. 188 Verf. Bayern von 1946) verlangen, so kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Verfassung möglichst von vielen, ja allen "verstanden" werden soll. Jedenfalls hat ein "guter" Verfassunggeber Erkenntnisse der Verfassungstheorie und Sprachphilosophie pragmatisch zusammenzuführen. Nur so wird die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten real. (3) So ist die ältere Einsicht 1000 , die Sprachform von Verfassungs-Präambeln sei - wie die Rechtssprache - vor allem eine Funktion ihrer Inhalte (Grundsatzcharakter, Essenz der Verfassung, Sowohl-Als-Auch von Idealität und Realitätsnähe, von Feiertagscharakter und Alltagsorientierung, Bürgerintegrierung), zu verallgemeinern. Konkret: Zu entwickeln sind normative Sollanforderungen an das (geschriebene) Verfassungsrecht in Sachen seines Sprachstils und zwar (erstens) nach dem je nach Funktionen differenzierenden Ansatz, d.h. je nach Eigenart von Sach- und Rechtsbereich bzw. Problemfeld und (zweitens) nach dem "anzusprechenden" Adressatenkreis. Kurz: Verfassungspolitik muß sich auf Verfassungsstufe in richtige Verfassungs-Sprach-Politik umsetzen. Eigenart und Funktionen von Verfassunggebung wurden hier als "gemischt" gekennzeichnet 1001 , entsprechend "gemischt" muß die Sprachkultur einer Verfassung sein. Wo der schrankenziehende Begrenzungsaspekt wie bei Grundrechten gegenüber dem Staat und bei Grundrechtsgrenzen gegenüber eben diesem bzw. einzelnen und Gruppen im Vordergrund steht, muß ebenso präzise wie bürgernah getextet werden. Wo der Wert-Aspekt vorherrscht, etwa bei Präambelelementen 1002, bei Erziehungszielen (mit ihrer "Lehrabsicht"), bei 1000
Dazu mein Beitrag Präambeln, aaO., S. 229 f. bzw. Sechster Teil VIII Ziff. 8. Dazu oben VII. 1002 Darum ist ein Verfassunggeber gut beraten, sich hier, bei der Redaktion der Präambel nach einem Dichter (wie A. Muschg in der Schweiz, 1977, oder wie Christa Wolf für den Verfassungsentwurf des Runden Tisches in Ostberlin) umzusehen. Poesienah ist die Präambel Verf. Philippinen von 1986 ("We, the sovereign Filipino people, imploring the aid of Almighty God, in order to build a just and humane society and establish a Government that shall embody our ideals and aspirations, promote the common good, conserve and develop our patrimony, and secure to ourselves and our posterity the 1001
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(verantwortungsethischen) Eidesklauseln und ("idealen") Feiertagsgarantien, darf die Sprache bis in tiefere emotionale, symbolische Schichten des Bürgers und seines Volkes reichen. Verfassung als Kultur heißt hier auch Verfassung als bürgernahe Sprachkultur. Die bürgerintegrierende Funktion der Verfassungstexte muß auch sprachlich umgesetzt werden und sogar da und dort ornamental werden, ins Bekenntnishafte, Pathetische reichen und einen "Gefühlston" wagen; wo (ebenfalls) Kulturthemen in Frage stehen, kann auch die Verfassungssprache "vollmundiger" sein. Das Prinzip "Öffentlichkeit der Verfassung" 1003 verlangt auch Verständlichkeit und Transparenz der Verfassungstexte (vgl. aus jüngerer Zeit z.B. Art. 12 Abs. 1 Verf. Äthiopien, 1994: das "Prinzip Öffentlichkeit" ist ergänzt durch das Postulat der Transparenz). Wo indes spezifisch Fachmännisches, Professionelles, Technisches zu regeln ist (wie etwa im Parlamentsrecht oder im Finanzverfassungsrecht) sind fachsprachliche "Engen" erlaubt, ja kaum vermeidbar. Primärer Adressat ist hier der Fachjurist bzw. Politiker. Das verfassungstheoretische Prinzip "Offenheit der Verfassung" verlangt seinerseits an den entsprechenden "Stellen" eines Verfassungstextes sprachliche Konzequenzen. Gerade die relative Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungssprache in nicht wenigen Themenbereichen hat Vorteile: sie kann sich im Rahmen der kulturellen Evolution des Verfassungsstaates wandeln (dazu Vierter Teil VI). (4) Durchmustert man nach diesen Maximen die neueren Verfassungen in Europa, so nimmt einmal mehr die Schweizer Verfassungskunst einen ersten Platz ein: die jüngsten Kantonsverfassungen sind (auch) sprachlich geglückt: Bern von 1993 - nicht nur in seiner Präambel, sondern auch in seinen besonders wertbezogenen Partien wie dem Bekenntnis zur "Internationalen Zusammenarbeit und Hilfe" (Art. 54). Auch die Artikel, die sich mit den Volksrechten befassen, sind - konsequenterweise - gut verständlich, obschon technisch. Ähnlich Positives kann von Appenzell-A.Rh. (Präambel 1995) und früh von der K V Jura (1977) gesagt werden, die an der sprachlichen Eleganz des französischen Kulturkreises geschult ist (z.B. Art. 4 zu "Coopération"). (5) Im Ganzen: Die bewußte Arbeit an der Verfassungs-Sprache dient letztlich der jeweils neu möglichen Erneuerung des Grundkonsenses eines Verfassungsstaates. Verlangt das Rechtsstaatsprinzip auf seinen Anwendungsfeldern Klarheit und Genauigkeit der Sprache, so das Kulturverfassungsrecht Tiefe und mitunter Emotionalität sowie Anschaulichkeit. Nur so wird die immer neue Zu-
blessings of independence and democracy under the rule of law and a regime of truth, justice, freedom, love, equality, and peace, do ordain and promulgate this Constitution.").· Vortrefflich Präambel Verf. Polen (1997), auch Äquatorial-Guinea (1991). 1003 Dazu P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff.
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Stimmung des Bürgers und des ganzen Volkes zu seiner Verfassung als Stück seiner Kultur möglich. Nur so kann er sich - in Teilen und im Grundsätzlichen z.B. in der Präambel "wiedererkennen" 1004 . Der Theorierahmen zu aller Verfassungspolitik wird aber erst durch das "Möglichkeitsdenken" geschaffen.
3. Möglichkeitsdenken a) Einleitung, Problem, Ausgangsthese Verfassungsrechtliches Denken und Handeln muß sich immer wieder selbst analysieren, um seine Möglichkeiten und Grenzen, um Chancen und Gefahren für seine "Sache", die für alle menschenwürdige freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu erkunden. Dem dienen die folgenden Überlegungen. Das Möglichkeitsdenken soll - in den Rahmen von Wirklichkeit und Notwendigkeiten gestellt - für die Verfassungstheorie und -praxis zentraler als bisher untersucht werden, und zwar auf der Folie von Beispielen aus Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und Politik sowie mit Belegen aus der Dogmatik und Publizistik, also an Beispielen aus der Öffentlichkeit und Wirklichkeit einer lebenden Verfassung. Das Möglichkeitsdenken dürfte als Problem der Verfassungstheorie relativ unbekannt sein. Demgegenüber ist das Wirklichkeitsdenken fast populär (z.B. in Gestalt des Verweises auf "Sachzwänge"), H. Lenz verdanken wir den Begriff des "Wirklichkeitsmenschen". Eine mittlere Position nimmt das Notwendigkeitsdenken ein (das etwa im Übermaßverbot präsent ist und heute besonders bei der Frage gefordert ist, welche staatlichen Aufgaben "notwendig" sind (unter dem "Vorbehalt des Möglichen" freilich)). Alle drei Denkarten sind im Verfassungsstaat unentbehrlich. Das Denken konkreter Menschen und ihrer Gruppen, die Verfassungstheorie von bestimmten sozialen Zusammenhängen, Verfahren und Funktionen aus reflektieren und praktizieren, orientiert sich an Möglichkeiten, Notwendigkeiten und an der Wirklichkeit, wenn auch in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen. Es geht dabei nicht um beliebige Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Wirklichkeit, sondern um solche besonderer Art: um 1004 Abschreckende Gegenbeispiele sind die ideologischen Überfrachtungen, die für viele sozialistische Verfassungen schon sprachlich charakteristisch waren, vgl. z.B. die Präambel und ganze Verfassung Jugoslawien (1974), zit. nach G. Brunner/B. Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1980, S. 125 ff., oder die "Überwältigung" von NS-Recht durch "Vorsprüche". Dazu allgemein H. Hill, Gesetzesvorspruch, verbesserter Zugang des Bürgers zum Recht, 1988.
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solche im Kraftfeld der verfassungsstaatlichen Verfassung, von ihr aus bewertete ("verfassungstheoretischer Input"). Freiheitliche Verfassungen des Typus Verfassungsstaat sind Bezugsrahmen und Material zugleich, Herausforderung und Legitimierung. Freiheitliche Verfassungen sind nicht nur ein "Angebot" für den Bürger im geläufigen Sinne, sie sind auch Angebot für das Denken ("sein Denken"), so sehr sie dessen Teilergebnisse sind und es zugleich mitkonstituieren. Diese Selbstvergewisserung über das juristischem Denken und Handeln vorausliegende Denken ist ein Beitrag zur vielberufenen "Rationalisierung" juristischer Entscheidungen und zur Öffentlichkeit der (Verfassungsrechts-)Wissenschaft. Offenlegung wird um so wichtiger, je "dirigierender" die Verfassung 1005 im pluralistischen Gemeinwesen ist. In ihrem Dienst stehen die hier skizzierten Denkwege: Möglichkeiten und Grenzen der normativen Kraft der Verfassung 1 0 0 6 sollen mit Hilfe des Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenkens erschlossen werden. Möglichkeitsdenken wird von der Verfassung aus "normativiert", so sehr es diese i.S. Poppers Philosophie des offenen Geistes offen hält. Zusammen mit Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken vermittelt es - wie die Nachweise aus der Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungswirklichkeit belegen - auf spezifische Weise zwischen Theorie und - oft zunächst diffus erscheinender - Praxis. Dabei will die Erörterung der drei Denkwege keineswegs erschöpfend sein: Es kann noch andere Denkwege geben, die in den Dienst der Verfassung zu stellen sind. Die "Trias" der hier untersuchten Denkphasen ist offen. Gleichwohl deutet vieles darauf hin, daß "gute" Verfassungsauslegung und -entwicklung (in den Formen des sog. Verfassungswandels sowie der Verfassungsänderung, also auch der Verfassungspolitik) eine Art Resultante des Gegenund Miteinander von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken sind, ohne daß es freilich irgendeine Automatik gibt. Die "produktive Kraft" dieser Denkweisen ist groß angesichts des fragmentarischen Charakters der Texte freiheitlicher Verfassungen. Sie ist beengt angesichts der allgemeinen, zunehmend globalen ökonomischen Zwänge und Nöte; sie hat aber auch besondere Chancen, da das Denken über Verfassung sich jetzt den Anschluß vermittelt sieht an das allgemeine Denken der Zeit, insbesondere im Bereich der Wissenschaftstheorien, und allgemein seit 1989. Der Kritische Rationalismus, der durch seine Verfahren von conjectures and refutations , trial and error usw.
1005
Dazu P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff. 1006 ^ Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959.- Zum folgenden schon mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102(1977), S. 27 ff.
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
vor allem dem Möglichkeits-, aber auch dem Wirklichkeitsdenken nahe steht, ist an erster Stelle zu nennen. Die Kritische Theorie kann differenziert zu sichtende Beiträge leisten. So wie Wissenschaftstheorie für die Verfassungstheorie aus ganz unterschiedlichen Richtungen und Positionen ertragreich sein kann 1 0 0 7 , werden Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenken aus dem pluralistischen Gegen- und Miteinander zu verschiedenen Wissenschaftsund Gesellschaftstheorien Einsichten gewinnen können. b) Möglichkeitsdenken
(Pluralistisches
Alternativendenken)
(1) Erläuterung des Begriffs Möglichkeitsdenken ist das Denken der und in Alternativen. "Alternativendenken" soll es aber deshalb nicht genannt werden, weil mit diesem Be1008
griff häufig die Denkform des "Entweder-Oder" assoziiert wird , die auf sich ausschließenden Gegensätzlichkeiten beruht 1009 . Möglichkeitsdenken dagegen soll ebenso offen für dritte und vierte Möglichkeiten wie für Kompromisse sein. Es darf rhetorisch auf ein "Entweder-Oder" zugespitzt sein, dieses aber nicht dadurch verabsolutieren, daß es sonst keine Alternativen zuläßt. Denn: Möglichkeitsdenken ist fragendes Denken. Es ist die Suche nach dem auch Möglichen, die Frage: "Was könnte an Stelle dessen sein, das ist 1 0 1 0 ?" In der res publica des Verfassungsstaates gibt es ein spezifisch juristisches Ethos des Denkens in Alternativen, des Fragens nach Möglichkeiten, das den Blick für die Wirklichkeit und Notwendigkeiten einschließt, ohne sich von ihnen suggerieren zu lassen. Möglichkeits- bzw. pluralistisches Alternativendenken öffnet den Blick für "neue" Wirklichkeit, die die heutige Wirklichkeit, das Gestrige korrigieren kann, insbesondere die Notwendigkeiten der Zeit vom Normativen her anpassen kann, ohne daß das Neue per se für das Bessere gehalten werden darf. Möglichkeitsdenken kann eminent produktive Kraft entfalten. Es ist trotz zahlreicher Belege aus dem geltenden Recht wohl am wenigsten bewußt, so oft es mehr oder weniger versteckt praktiziert wird. Je politischer,
1007
(447 ff.). 1008
Dazu P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 94 (1974), S. 437
Zu verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Alternative vgl. J. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 9 ff. 1009 Auf diese Gefahr weist HP. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 182, hin. 10,0 J. Rödig, aaO., S. 26.
XI. Verfassungspolitik, Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
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offener 1011 und pluralistischer sich eine Verfassungsordnung und ihre Dogmatik verstehen, desto relevanter wird Möglichkeitsdenken. Möglichkeitsdenken drängt sich um so mehr auf, als die Verfassungsrechtswissenschaft Grundbegriffe wie Öffentlichkeit, Toleranz, Pluralismus, Minderheitenrechte, Repräsentation nicht organisierter Interessen, soziale und kulturelle Grundrechte aufarbeitet. Vom Kritischen Rationalismus her liegt Möglichkeitsdenken als Alternativendenken besonders nahe 1012 . Elemente klassischen neueren Möglichkeitsdenkens finden sich ferner bei R. Musil 1 0 1 3 und E. Bloch. Das zeigt nicht nur Blochs frühes sog. "fabelndes Denken" (1930), sondern vor allem auch sein "Prinzip Hoffnung" unter dem Abschnitt "Möglichkeit verwirklichen" 1014 . Hier finden sich Zitate wie "Nur dieses ist Praxis nach Maßgabe des jeweils möglichen im Felde des insgesamt Möglichkeit-Seins der unabgeschlossenen Geschichte und Welt. Nur solche Praxis kann die im Geschichtsprozeß anhängige Sache: die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur aus der realen Möglichkeit zur Wirklichkeit überführen ... Wie die Zeit, nach Marx, der Raum der Geschichte ist, so ist der Zukunftsmodus der Zeit der Raum der realen Möglichkeiten der Geschichte, " 1 0 1 5 . In der Systemtheorie wird i.S. der
1011
Z.B.: HL. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 173 ff.: Offene Struktur des Rechts. Ebd. S. 26: "Der Richter muß verschiedene alternative Bedeutungen..."; s. auch S. 230. 1012 Er betont, daß es sich stets lohnt, "nach Alternativen zu suchen, nach anderen Theorien, die möglicherweise besser sind ..." (Hervorhebungen im Original): H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968, S. 49. "Dogmatisierung" entlarvt ihre "Abschirmungsfunktion" durch die "Diffamierung von Alternativen", ebd., S. 97. Ausdrückliche Bezugnahme auf das Altemativendenken des kritischen Rationalismus finden sich bei P. Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus, Rechtstheorie, Bd. 2 (1971), S. 67 ff. und 224 (225) und P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 125 ff. 1013 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1970/72, S. 16: "...Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann ... So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist." Zum Möglichkeitsdenken des "Konjunktivliebhabers" Musil: A. Schöne, in: Schillemeit (Hrsg.), Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil, 1975, S. 290 ff. sowie H. Mayer, Der Repräsentant und der Märtyrer, Konstellationen der Literatur, 1971, S. 121 (139 ff.).- Zur Geschichte des Möglichkeitsbegriffs: N. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1. Aufl. 1937, 2. Aufl. 1949. 1014 Das Prinzip Hoffnung, 1. Band, Suhrkamp Taschenbuch, 1974, S. 284 ff. Zur Kategorie des "Noch Nicht" bei E. Bloch: A. Schmidt, Materialismus und Eschatologie, FAZ vom 5. Juli 1975. 1015 AaO. S. 285. Vgl. weiter: "Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischen Weltvorgang ein Entscheidendes geworden- ... mit dem Ding für uns, der Welt als vermittelter Heimat, wozu die Natur in kaum erst betretener, gar aufgesprengter
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modaltheoretischen Tradition Kontingenz als "nichtnotwendige Möglichkeit" 1 0 1 6 definiert. N. Luhmanns Begriff der Kontingenz ist eine klare Bezugnahme auf Möglichkeitsdenken 1017 . Die Relevanz von Möglichkeitsdenken hat O. von Bismarck in seinem Wort von der Politik als "Kunst des Möglichen" zur Sprache gebracht (es geht aber auch um das Notwendige!); aus ganz anderen Bereichen mag eine Passage aus der vielbeachteten Rede von Walter Jens zum Jubiläum des Deutschen Fußballbundes zitiert werden, in der es u.a. heißt: "Fußball: Wirklicheitsverdoppelung und zugleich Entwurf von Möglichkeit? Widerschein und Vorausschau in eins - wie die Kunst 1018 ?" Das in verfassungstheoretischer Hinsicht bestehende Forschungsdefizit ist um so erstaunlicher, als die folgenden Belege aus der Rechtswirklichkeit eine deutliche Sprache reden. Wegen dieser Kluft zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischer Nachweisbarkeit soll das Möglichkeitsdenken in den Mittelpunkt gestellt werden.
Möglichkeit ist. Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz die Dinge zu wenden, der objektive Faktor ist die unabgeschlossene Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze, ihrer unter neuen Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden Gesetze. Beide Faktoren sind miteinander stets verflochten, in dialektischer Wechselwirkung, und nur die isolierende Überbetonung des einen (wodurch das Subjekt zum letzten Fetisch wird) oder des anderen (wodurch das Objekt, in scheinbarem Selbstlauf, zum letzten Fatum wird) reißen Subjekt und Objekt entzwei." Weitere Hinweise auf Möglichkeitsdenken: aaO., S. 286 f.: "Diese zentrale Potenz steht derart wachsend in der Möglichkeit, das treibende KernInteresse alles Geschehens, diesen Ursprung und Inhalt der letzten realen Möglichkeit, selber wachsend zu treffen", usw.- S. 288: "Freies Volk auf freiem Grund, so total gefaßt, das ist das Endsymbol der Realisierung des Realisierenden, also des radikalsten Grenzinhalts im objektiv-real Möglichen überhaupt".- S. 258 ff: "Die Schichten der Kategorie Möglichkeit" usw. 1016 N. Luhmann, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971, S. 310. Kontingenz wird definiert als eine "heuristische, strategische, vergleichende Kategorie", die den Zugang zu anderen Möglichkeiten offen hält, vgl. N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 19 (1967), S. 615 (637); auch ders., in: U.-W. Dahm/N. Luhmann/D. Stoodt, Religion - System und Sozialisation, 1972, S. 15 (19): "Damit läßt sich der Gesellschaftsbegriff präzisieren. Gesellschaft ist dasjenige soziale System, das seine eigene Selektivität begründet, indem es Sinn konstituiert und damit die Generalisierung von Möglichkeiten auf das Selektionspotential der jeweiligen sozialen Strukturen und Prozesse abstimmt."- S. auch W. Lepenies, Der Möglichkeitssinn in den Sozialwissenschaften, NZZ vom 24./25. Febr. 1996, S. 53. 1017 S. auch N. Luhmann, in: Loccumer-Protokolle 8/1974, Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts?, S. 53 (54): Es handelt sich bei Organisation immer darum, daß zwei verschiedene Verhaltensbestimmungen kontingent gesetzt werden, d.h. als auch anders möglich, als variabel, als änderbar begriffen werden und dann miteinander verknüpft werden. 10,8 FAZ vom 20. Mai 1975, S. 19.
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(2) Bestandsaufnahme In einer offenen, pluralistischen Rechtsordnung der Freiheit ist ein breites Spektrum von verschiedenen Formen zu Alternativen rechtlich institutionalisiert. Sie geben Raum für Entscheidungen, Raum für individuelle Freiheit und allgemeine Vernunft. Sie setzen möglichst gewaltfreie, Kommunikation i.S. von J. Habermas voraus. aa) Möglichkeitsdenken wird nicht von außen oder oben an die Verfassung herangetragen. U. Scheuners Verständnis der Verfassung als "Entwurf' 1 0 1 9 deutet auf Möglichkeitsdenken hin. Die Vielfalt der verschiedenen möglichen Verfassungen ist es, die Disziplinen wie Verfassungsvergleichung 1020 und Verfassungsgeschichte für die Verfassungstheorie bedeutsam macht. Daran zeigt sich: Das hier geforderte Alternativendenken ist keineswegs nur zukunftsorientiert. Das wäre eine Verengung der Blickrichtung, welche die Möglichkeiten und Erfahrungen der Verfassungsgeschichte außer acht ließe. Gerade im "Schatzhaus der Geschichte" liegt Problemlösungsmaterial, oft vergessen, von der Wirklichkeit gewordenen Möglichkeit verdrängt. Es gibt auch Renaissance und Regeneration von Verfassungsrechtssätzen. Ein Beispiel sind die sozialen Grundrechte in den Länderverfassungen nach 1945 1021 , allgemein deren Kulturverfassungsrecht, sowie die Grundpflichten. Die Idee der Ermöglichung von Alternativen steht vor allem auch hinter dem Verfahren der Verfassungsänderung: Art. 79 Abs. 1 und 2 GG und analoge Normen in anderen Ländern sind die kühnste Institutionalisierung von Alternativen im politischen Gemein-
1019 U. Scheuner, Art. Verfassung, in: Staatslexikon, Bd. 8 (1963), Sp. 117 (118); s. auch R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 24. 1020 Zur Funktion der Rechtsvergleichung als einer Art gedanklichen Experiments mit Alternativen vgl. Κ. H opt, Finale Regelungen, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung, JZ 1972, S. 65 (69 f.). Zur Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung J.M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), S. 193 ff. Allgemein Fünfter Teil IV. 1021 Dazu B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973, und meine Besprechung in: AöR 100 (1975), S. 520 f.- Gerade hier leistet Wirklichkeitsdenken i.V. mit dem Möglichkeitsdenken viel. Es kann ermitteln, warum, auf Grund welcher sozialer Bedingungen die Wirklichkeit von gestern zu einer solchen geworden ist und wie Korrekturen der Wirklichkeit von heute möglich und notwendig sind. So kann eine Möglichkeit von vorgestern über die Konzeption der Möglichkeit von morgen zur Wirklichkeit werden - weil sie als Alternative "vorgestellt" wurde.Weiterführend M. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, 1974.- Zu den neuen Bundesländern vgl. noch H. Riepe, Soziale Grundrechte in den Verfassungen der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen, 1996; H.v. Mangoldt, Die Verf. der neuen Bundesländer, 2. Aufl. 1997; Ch. Starck, Die Verf. der neuen Länder, in: HdbStR IX (1997), S. 353 ff. 39 Häberle
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wesen! In der Grundrechtsdogmatik ist der "Vorbehalt des Möglichen" bei der Teilhabedimension erforderlich geworden 1022 . bb) Das Offenhalten von Möglichkeiten innerhalb der geltenden Verfassungsordnung ist zentraler Inhalt wichtiger verfassungsrechtlicher Prinzipien. Demokratie, die sich nicht auf der Vorstellung eines einheitlichen, "richtigen" Volkswillens i.S. J.-J. Rousseaus gründet, soll der Minderheit, der Alternative zur Mehrheit, die Chance eröffnen, selbst zur Mehrheit zu werden. Nach K. Hesse geht es der Demokratie um pluralistische Initiativen und Alternativen 1023 . In amerikanischen Theorien wird Demokratie fast ganz mit Pluralismus und Konkurrenz gleichgesetzt 1024 . O. Stammer definiert Demokratie in Anlehnung an Schumpeters Konkurrenztheorie 1025 als "Herrschaftsausübung durch eine zu alternativer Führung und Regierung tendierende Kombination konkurrierender Gruppen (...im Auftrage und unter Kontrolle des Volkes)" 1 0 2 6 . Wahlen als spezifisch demokratische Handlungsform setzen das Vorhandensein von Alternativen - und darum die Opposition, Minderheitsrechte - voraus. Wichtig sind hier die Chancengleichheit der politischen Parteien 1027 (vgl. für die Opposition jetzt Art. 55 Abs. 2 S. 2 Verf. Brandenburg), die Parteigründungsfreiheit (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG) und die innerparteiliche Demokratie (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G ) 1 0 2 8 sowie der Status von Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordneten. N. Luhmann versteht Demokratie als "Erhaltung von Komplexität trotz laufender Entscheidungsarbeit" 1029 , ihre Rationalität und ihre Menschlichkeit liegen in der "Vorläufigkeit" der Negationen. Wieder zeigt sich, daß Möglich-
1022 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (107, 139 LS 40); BVerfGE 33, 303 (333). 1023 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 62. 1024 Dazu W.-D. Narr/F. Naschold, Theorie der Demokratie, 1971, S. 137 ff., 205 ff. und F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S. 29 ff. 1025 J.A. Schumpeter , Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 3. Aufl. 1972, S. 428 ff. (7. Aufl. 1993). 1026 O. Stammer, Politische Soziologie, in: A. Gehlen/H. Schelsky, Soziologie, 3. Aufl. 1955, S. 277(282). 1027 Dazu H.-R. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975; s. auch ders., Die kontingentierte Debatte, 1976; K. Hesse, aaO., S. 78 ff. Vgl. zuletzt BVerfGE 91, 246 (251) für die Opposition. Zuletzt K. Strüwe, Die Opposition im Bundestag und das BVerfG, 1997. 1028 Zur Verfassungstheorie der praktischen Alternativen mein Beitrag, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, in: AöR 99 (1974), S. 437 (485 ff.); s. auch die Diskussionsbemerkung in: VVDStRL 33 (1975), S. 135 f. 1029 N. Luhmann, Komplexität und Demokratie..., PVS 4 (1968, S. 494 ff.
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keitsdenken nicht lediglich zukunftsorientiert zu sein braucht: In der Demokratie sollen auch Möglichkeiten, die in der Vergangenheit abgelehnt wurden, möglich bleiben (Gedanke der Reversibilität, Alternativen im Rahmen der Verfassung). Die Offenheit für Alternativen muß wirklich bestehen: in diesem Punkt haben demokratische Ordnungen sich immer wieder der Kritik zu stellen. Alternativenoffenheit kann gefährdet sein durch 5%-Klauseln 1030 oder einen bestimmten Modus der Parteifinanzierung 1031 , durch die "Technostruktur" (M. Duverger) 1032 , durch ökonomische Chancenungleichheit und Verfestigung von Elitenpositionen; es muß sogar gefragt werden, ob nicht durch ein experimentelles Demokratieverständnis, das die Revidierbarkeit kleiner Schritte zum Prinzip erhebt, grundsätzlichere Alternativen ausgeschlossen werden. Vehikel und Reservoir für Alternativen und Innovationen sind auch die Grundrechte, vor allem dort, wo sie "pluralistische Demokratie" (vgl. Präambel Verf. Gabun von 1994) ermöglichen: Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und 3, Art. 7 Abs. 4, Art. 9 Abs. 1 und 3 GG. Typische Grundrechte "auf Alternativen sind solche, die eine Wahlmöglichkeit garantieren: die Freiheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), die Freiheit der Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes, der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG), allgemein die Chancengleichheit im Bildungswesen (z.B. Art. 8 Verf. Mecklenburg-Vorpommern); ebenso könnte man auch Art. 11 Abs. 1 GG als Grundrecht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts bezeichnen. Freiheit ist nur ein anderes Wort für Alternativen: wo immer sie verfassungsrechtlich vorkommt; in der grundrechtlichen Freiheit (auch der wirtschaftlichen Freiheit), der Gestaltungsfreiheit von Gesetzgebung und Verwaltung, aber auch des Richters, in der Parteigründungsfreiheit. Freiheit bedeutet wesentlich Möglichkeiten. Man denke an die Diskussion um Chancengleichheit. Die Grundrechtsdiskussion sucht etwa durch den Ausbau der leistungsstaatlichen Seite der Grundrechte 1033 Alternativenwahl real zu machen.
1030
E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 87; dazu auch P. Häberle, Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische "Gesellschaftslehre"?, in: ZHR 136 (1972), S. 425 (431 f.); E.-H. Ritter, Pyrrhus-Sieg für den Parteienstaat, JZ 1975, S. 22 (23). Zuletzt D. Grimm, Politische Parteien, HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 599 (627 f.). 1031 Vgl. K. Hesse, Die verfassungsstaatliche Stellung der politischen Parteien, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (37 Fn. 69): "Prämie auf den Besitz der politischen Macht"; s. später BVerfGE 41, 399 (411 ff., Daniels-Entsch.); E 85, 264. 1032 M. Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter, 1973, S. 149 ff. 1033 Dazu mein Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff.; BVerfGE 35, 79 (115 f.); 33, 303 (330 ff.), 95, 193 (209 f.).
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die wachsende Normierung sog. sozialer Grundrechte 1034 ist der Versuch, Alternativenwahl und -konkretisierung von ökonomischen Zwängen zu befreien, wobei der "Leistungsstaat" freilich nur Grundrechtsmöglichkeiten, nicht schon unmittelbare Grundrechtswirklichkeit schaffen kann und darf und auch dies nur begrenzt tun kann. Für die Freiheitlichkeit der res publica entscheidend ist, daß die Freiheit zu Alternativen auch von denen anerkannt wird, die für jeweils bestimmte Alternativen eintreten. Es gibt nicht nur Alternativen zur Wirklichkeit, es gibt auch Alternativen zu diesen Alternativen. Insofern könnte eine Verfassungstheorie der Alternativen zu einer Verfassungstheorie der Toleranz werden. Sie drängt sich auch angesichts der Erziehungsziele in Ostdeutschland auf (z.B. Art. 22 Abs. 2 Verf. Thüringen). cc) Zunächst banal erscheint die Feststellung, daß auf der Ebene der Gesetzgebung die Möglichkeit zu verschiedenen Alternativen besteht. Die "richtigen" Gesetze lassen sich nur zum Teil aus der Verfassung und aus der "Wirklichkeit" deduzieren, sie sind auch nicht immer Ausdruck von "Notwendigkeiten": Der Gesetzgeber hat Gestaltungsfreiheit. Alternativen sind aber nicht schon per se vorhanden; Gesetzgebung ist nicht nur ein Akt der Auswahl. Vielmehr müssen Verfahren organisiert werden, die der Aufstellung von Alternativen dienen, die den Spielraum an Möglichkeiten vergrößern. Die parlamentarische Beratung von Gesetzen muß diese Funktion haben; wichtig sind hier die Öffentlichkeitsgarantien 1035 . "Methoden der Invention", die die "Gewinnung von Einfällen für neuartige Problemlösungen" ermöglichen 1036 ,
1034
Art. 40 Abs. 3 S. 2 Verf. Rhld.-Pf.: "Die Teilnahme an den Kulturgütern des Lebens ist dem gesamten Volk zu ermöglichen." Ähnlich Art. 34 Abs. 2 S. 2 Verf. Saarland. S. auch die Formulierung "Gelegenheit" zur Anstaltsseelsorge: Art. 48 Abs. 1 Verf. Rhld.-Pf., 42 Verf. Saarland. § 75 Abs. 1 Verf. Dänemark: Zwecks Förderung des Gemeinwohls ist anzustreben, daß jeder arbeitsfähige Bürger die Möglichkeit hat, unter Bedingungen zu arbeiten, die sein Dasein sichern; neuerdings Art. 29 Abs. 1 Verf. Brandenburg (Recht auf Bildung). Zu Art. 3 Abs. 3 als "Gebot für Alternativen": Th. Maunz/ G. Dürig/ R. Herzog, K., RdNr. 111 zu Art. 3 Abs. 3 GG.- Einen "Möglichkeitsvorbehalt" (BVerfGE 33, 303 (333)) normiert jetzt Art. 1 Ziff. 8 Verf. Gabun (1994) für bestimmte grundrechtsbezogene Staatsaufgaben (zit. nach H. Baumann/M. Ebert, (Hrsg.), Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, 1997. 1035 Zu ihnen P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 103 f. u.ö. S. noch Sechster Teil VII Ziff. 3. 1036 P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 113. Vgl. auch den Hinweis auf S. 114: Leibniz' "ars combinatoria" als "ars inveniendi".- Allgemein Κ Eìchenberger/R. Novak/M. Kloepfer , Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 ff.; umfassend H Schulze-Fielitz, Recht und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988.
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müssen für das Gesetzgebungsverfahren noch weiter entwickelt werden 1037 1 0 3 8 . Der Gesetzgeber sollte mit Alternativen gleichsam experimentieren können. Soweit er nicht das Gesetz selbst als Experiment anlegt 1039 oder Experimentierklauseln einbaut, kann er die Rechtsvergleichung als Erprobung verschiedener Möglichkeiten betrachten. Das gesetzgeberische "Hearing", eine Form der Pluralisierung des Rechts 1040 , bezweckt nicht nur die Gewinnung von Tatsachenmaterial, es ist auch ein "Test" der Reaktionen betroffener Kreise auf verschiedene Regelungsalternativen 1041 1 0 4 2 . dd) Alternativen als Denkmöglichkeiten im juristischen Prozeß werden vor allem im Interpretationsvorgang relevant: bei der Methodenwahl. Dies wurde im Streit um das topische Denken als "produktive Kraft der Interpretation" vielfältig erprobt. Topik sucht nach möglichen Interpretationsgesichtspunkten. Das verfassungsrichterliche Sondervotum ist ein prozessual institutionalisierter Ausdruck der Erkenntnis, daß Rechtsnormen verschiedene Interpretationsmöglichkeiten und -alternativen offenlassen 1043 und daß die Alternative, für die man sich heute entscheidet, andere Alternativen für die Zukunft nicht ausschließen darf 1 0 4 4 .
1037 P. Noll, aaO., S. 113 f., verweist auf das "Brainstorming" aus der Disziplin des Operations Research. F. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, 1972, S. 143, weist darauf hin, daß das Gewicht sich von der Entscheidungsiogik auf die Erfindungslogik verschiebt. 1038 Einschlägig ist hier der Vorschlag eines "Gesetzespostulationsrechts" für Interessierte, Beteiligte und Gruppen bei W. Brohm, Sachverständige und Politik, FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (72 ff.), das weit über das bloße Petitionsrecht hinausgeht; zu diesem jetzt Art. 45 c GG. 1039 Hier kommt es auf die Tragbarkeit sozialer Folgekosten mißglückter Experimente an, vgl. K. HopU aaO., JZ 1972, S. 65 (70 f.). 1040 Zu Pluralismusgesetzen mein Beitrag Leistungsrecht im sozialen Rechtsstaat, in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 (465, 472 f.). Es gibt keine vorgegebene Einheit der Rechtsordnung, schon historisch nicht, weil die "Rechtsmassen" aus verschiedenen Epochen, von verschiedenen Gesetzgebern usw. stammen; das ist ein weiteres Argument für die These von der pluralistischen Struktur der Rechtsordnung. Wenn es einen "Weltgeist zu Pferde" gibt, dann gibt es 1.000 Pferde, die in oft sehr verschiedene Richtungen galoppieren oder traben. 1041 K. Hopt, aaO., JZ 1972, 65 (69). 1042 Zum Prognosespielraum des Gesetzgebers: BVerfGE 30, 250 (263 ff.); 37, 104 (118); 38, 61 (88); 39, 210 (226); 50, 290 (322 f.). Zuletzt E 79, 1 (28), 311 (343 ff.). 1043 Diese Überlegungen dürften nicht nur für die Verfassungsgerichtsbarkeit gelten. Sie kann aufgrund der Besonderheiten der Entscheidungssituation "nur einen Ausschnitt aus dem Bereich möglicher Alternativen bei der Rechtskonkretisierung wahrnehmen", W. Hoffmann-Riem, Beharrung oder Innovation - Zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, Der Staat 13 (1974), S. 335 (344).
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Im Beschluß vom 10. Juni 1975 1045 formuliert das BVerfG im Rahmen des Problems der verfassungskonformen Auslegung, daß dann, wenn es im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung einer Norm des einfachen Rechts ausspricht, daß gewisse an sich mögliche Interpretationen dieser Norm mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, kein anderes Gericht diese Interpretationsmöglichkeiten für verfassungsgemäß halten könne. In den Gründen wird anschaulich von "Normenvariante" gesprochen, von "sonst vertretbaren und möglichen Interpretationen des einfachen Rechts". Im Investitionshilfeurteil von 1954 hat das BVerfG (E 4, 7 [18]) festgestellt: "Die gegenwärtige Wirtschaftsund Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche." Schon hier wird deutlich, daß es um eine Normativierung des Möglichkeitsdenkens geht, daß entscheidend die Eingrenzung auf bestimmte, verfassungsrechtliche, "gute" Möglichkeiten wird (aus der neueren Rechtsprechung siehe hierzu auch BVerfGE 83, 201 (214 f.); 84, 34 (46) zu berufsbezogenen Prüfungen; E 85, 80 formuliert implizite schon im Leitsatz einen "Verfassungsauftrag" zum Möglichkeitsdenken!). Das BVerfG hat Anschluß an die moderne Rechtstheorie gefunden, die, nach Arthur Kaufmann 1 0 4 6 , kaum mehr bezweifelt, daß das Gesetz nichts Fertiges ist, sondern als Möglichkeit, nicht aber Wirklichkeit vom Recht, der Auslegung dahin bedarf, ob ein bestimmter zur Beurteilung anstehender Lebenssachverhalt dem vom Gesetzgeber Gemeinten entspricht 1047 .
1044
Zur Vorwirkung von Gesetzen mein Beitrag Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 (1974), S. 111 (130 ff.); später auch in: R. Dreier u.a. (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (318 f.). 1045 E 40, 88 (94).- S. aber H.-P. Schneider, dem der "mögliche Wortsinn" zu unbestimmt ist (Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, in: DÒV 1975, S. 443 [450]).Beispiele für Möglichkeitsdenken in der Verfassungsinterpretation: BVerfGE 21, 52 (54); 29, 179 (182: Abwägung der möglichen Folgen); E 24, 300 (LS 1 b). Bemerkenswert auch die Kritik der Richter Seuffert/Rupp/Hirsch in E 35, 255 (257): "außerhalb der Möglichkeiten vertretbarer Rechtsprechung". E 40, 196 (223): Prüfung der von den Beschwerdeführern und sonst in Fachkreisen(!) diskutierten Alternativen...; s. auch R. Zippelius, Normenkontrolle und "Konkretisierungsprimat", in: NJW 1975, S. 914: "Regelmäßig läßt der Auslegungsspielraum einer Verfassungsbestimmung eine Mehrzahl vertretbarer Auslegungs- und Konkretisierungsaltemativen zu."- BVerfGE 1, 13 (50): "im Rahmen des im Bundesstaat Möglichen". E 16, 130 (140): "im Rahmen des technisch Möglichen". E 39, 210 (226): Beurteilung, die dem Gesetzgeber möglich war. Zuletzt E 88, 145 (166): mögliche Auslegung. 1046 Die "Ipsa Res Iusta", in: FS für Larenz, 1973, S. 27 (37). 1047 Dazu auch H. Otto, Dogmatik als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Internationales Jahrbuch für interdisziplinäre Forschung, Bd. II Teil 2, 1975, S. 116 (120).
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Dabei ist zu bedenken, daß die Möglichkeiten, die in der Rechtsnorm "liegen", oft erst durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit erschlossen werden können. "Offene Verfassungsinterpretation" jedenfalls geht von dieser Einsicht aus, mehr oder weniger bewußt auch die Doktrin zum Verfassungsgewohnheitsrecht und -wandel. Die Auslegung hat diese Alternativenmöglichkeiten zu erschließen und sie im Blick auf andere Topoi, Güter zur "praktischen Konkordanz" zu bringen 1048 . Die Interpretationstheoretische Erkenntnis der Möglichkeiten von Alternativen wirkt sich praktisch aus im fimktionell-rechtlichen Denken: Dieses muß gewährleisten, daß keine Funktion so dominiert, daß das Innovationspotential anderer Funktionen brach liegen bleibt 1 0 4 9 . ee) Seit einigen Jahren beginnt der Gesetzgeber, die "untergesetzlichen" Möglichkeiten zu Alternativen zu institutionalisieren. Mit der Figur des "Ermessens" ist das zwar schon immer geschehen (vgl. die Begriffe Handlungsermessen, Auswahlermessen, aber auch unbestimmte Gesetzesbegriffe) 1050; überall dort, wo davon die Rede ist, daß eine Maßnahme ergriffen werden "kann", zeigt sich Möglichkeitsdenken. Relativ neuartig ist aber der Einbau von Reform- bzw. Experimentierklauseln 1051 in Gesetze, die damit gewissermaßen Alternativen zu sich selbst einrichten. In zahlreichen Gesetzen finden sich vielfältige Bezugnahmen auf Möglichkeitsdenken, die hier kaum im einzelnen systematisiert werden können 1048 Zur aus Art. 5 Abs. 3 GG entwickelten Pflicht des Gesetzgebers, alle Vorkehrungen zu treffen, "um die Gefahr solcher fehlsamer Entscheidungen im Rahmen des Möglichen ... auszuschließen": BVerfGE 35, 79 (124). 1049 W. Hoffmann-Riem, aaO., Der Staat 13 (1974), S. 335 (344). 1050 S. noch BVerwG JZ 1972, S. 206: "Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten. "- Femer BVerfGE 36, 264 (271): "Vernachlässigung anderer Auslegungsmöglichkeiten." 1051 Nachweise in meinem Beitrag Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 (1974), S. 111 (132 ff). Aus der Lit.: W. Hoffmann-Riem, Experimentelle Gesetzgebung, FS Thieme, 1993, S. 55 ff. S. auch den Bericht in FAZ vom 20. Dez. 1975, S. 4 über die Durchführung von Planspielen seitens des Bundesbauministeriums bei der Novelle zum damaligen BBauG. S. in Soziale Sicherheit 1975, S. 173 ff: Sachverständigenkommission diskutiert Alternativen in der Kommunalversicherungs-Finanzierung. § 11 Abs. 4 GesamthochschulentwicklungsG Nordrh.-Westf. v. 30. Mai 1972 (GVB1. S. 134, ber. S. 179): Zur Erprobung neuer Studiengänge kann der Kultusminister ... Ausnahmen von Abs. 3, im Falle von Hochschulversuchen auch Ausnahmen von Absatz 2 zulassen. § 28: Für die Erprobung neuer Studiengänge im Gesamthochschulbereich gilt § 11 Abs. 4 entsprechend.- Eine rigorose Lösung ist jetzt die Idee von R. Scholz als Vorsitzender des Sachverständigenrates "Schlanker Staat", Gesetze mit einem Verfallsdatum zu versehen (FAZ vom 3. Jan. 1997, S. 2). 1052 g 2 2 des Außenwirtschaftsgesetzes lautet: Erteilung von Genehmigung in der Weise, "daß die gegebenen Möglichkeiten volkswirtschaftlich zweckmäßig ausge-
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ff) Die beschriebenen Probleme stellen sich für die Verwaltung auch im sog. "gesetzesfreien" Raum. Hier muß sogar in besonderem Maße theoretisch und praktisch mit verschiedenen Möglichkeiten und Alternativen experimentiert werden: in Gestalt "freier" (Gemeinwohl)Verwaltungspraxis 1053 . Erinnert sei an das "Aufgabenerfindungsrecht" der Gemeinden 1054 . (3) Verfassungstheoretische Anforderungen an das Möglichkeitsdenken Grenzen des Möglichkeitsdenkens Das juristische Möglichkeits- und (pluralistische) Alternativendenken ist kein Selbstzweck. Es ist ein Mittel zur Bewährung und immer neuen Schaffung von Freiheitlichkeit des Gemeinwesens, für gerechten, vernünftigen Interessenausgleich, Bewährung der Verfassung in der Zeit, Entwicklung der res publica des Menschen und für den Menschen. Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken bewahren das Möglichkeitsdenken vor Utopien, die das Heil in der Zukunft suchen und die Gegenwart vernachlässigen. Möglichkeitsdenken ist ein Mittel, das Innovationspotential von Rechtsnormen zu erschließen (oder neue zu entwerfen). Die Rechtsnormen setzen dem Möglichkeitsdenken freilich auch Grenzen, die später zu erörtern sind. Gerade in der demokratischen res nutzt werden können". Zu Plänen mit Handlungsalternativen: F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 67, 69, 186. 1053 Zur "Bedeutung von Modelleinrichtungen für die örtliche Sozialpolitik" s. den gleichnamigen Beitrag von F.-X. Kaufmann und S. Schneider, in: Der Städtetag 1975, S. 353 ff. 1054 Die nachweisbare Institutionalisierung des Möglichkeitsdenkens in der geltenden Rechtsordnung zwingt zu verfassungstheoretischen Folgerungen, so wie umgekehrt an die Auslegung des geltenden Rechts und seine Änderung oder Neusetzung verfassungstheoretische Anforderungen zu stellen sind: Die Bestandsaufnahme läßt erkennen, wie sehr das Möglichkeitsdenken integrierender Bestandteil im Recht freiheitlicher Verfassungen schon ist, ja daß seine Verfahren, Organe und Instrumente geradezu ein Wesensmerkmal für die Freiheitlichkeit dieser Ordnungen sind.- Weitere Beispiele: Nordrh.-Westf G über kommunale Gemeinschaftsarbeit v. 26. April 1961 (GVB1. S. 190), § 1 Abs. 3: Die Befugnis, zur gemeinsamen Wahrnehmung von Aufgaben die Gestaltungsmöglichkeiten des Privatrechts zu benutzen, bleibt unberührt. Nordrh.-Westf. EigenbetriebsVO v. 22. Dez. 1953, § 21 Abs. 2: Im Lagebericht ist über die Gesamtverhältnisse, die Marktstellung und die Entwicklungsmöglichkeiten des Betriebs am Schluß des Wirtschaftsjahres zu berichten.- LandesplanungsG Nordrh.Westf. i.d.F. der Bekanntm. vom 3. Juni 1975 (GVB1. S. 450, ber. S. 492), § 1 Abs. 2: Die Landesplanung soll die Landesentwicklung in der Weise beeinflussen, daß unerwünschte Entwicklungen verhindert und erwünschte Entwicklungen ermöglicht und gefördert werden.- § 2 Abs. 4 Nordrh.-Westf. SchulOG v. 8. Apr. 1952 (GVB1. S. 430): Das Schulwesen ist in organische Einheit und Wechselwirkung so zu gliedern, daß die verschiedenen Begabungsrichtungen die Möglichkeiten ihrer Entfaltung erhalten und die Mannigfaltigkeit der Lebens- und Berufsaufgaben Berücksichtigung finden.
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publica wird Alternativendenken realistisch bleiben und wegen des Minderheitenschutzes zu Kompromissen bereit sein. Möglichkeitsdenken kann durchaus im Ergebnis wieder zu einer Bestätigung des Bewährten führen, etwa um die Unhaltbarkeit, die zu hohen Kostenfolgen einer abweichenden Auslegung zu begründen. Es ist im hier verstandenen Sinne nicht revolutionär, sondern evolutionär 1055. Die demokratische Tugend des Sowohl-Als-Auch, Ausdruck der Toleranz 1056 und des Pluralismus, hat Direktive für Alternativendenken zu bleiben. Entweder-Oder-Denken kann eine Form intellektueller Intoleranz sein. Es droht den Weg zum Ausgleich des "Sowohl-Als-Auch" und damit zum demokratischen Kompromiß zu versperren, dessen Vorstufe es sein sollte. Insofern ist das Möglichkeits- und Alternativendenken spezifische Ausprägung des Kritischen Rationalismus mit seinem Postulat der Falsifizierbarkeit, der "conjectures and refutations". Möglichkeitsdenken setzt Offenheit der Verfassung 1057 , des Staates, der Gesellschaft, des Denkens voraus und es schafft zugleich solche Offenheit. Der Kritische Rationalismus, das ihm verpflichtete (transformierte) liberale Denken in Alternativen steht hier Pate 1058 . "Heilige Allianzen" des Bestehenden und über das Bestehende sind schrittweise, wo nötig, in Frage zu stellen. Eine Verfassungstheorie der "offenen Gesellschaft" lebt von solchem - realistischem - Möglichkeitsdenken. Z.B. sind durch Grundrechtsgarantien, insbesondere im Wirtschafts- und Kunstbereich, viele Möglichkeiten institutionalisiert (auch konkrete Utopien!). So kann von einer die Rechtsnormen "aufschließenden Kraft" des Möglichkeits· (Wirklichkeits- und Notwendigkeits-)Denkens gesprochen werden.
1055
Vgl. auch H. Schmidts, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, 1975, S. IX., Ablehnung der Freund-Feind Kategorisierung, der ein "totales Alternativdenken" zu Grunde liegt im Gegensatz zum "piece meal social engineering", dem Gedanken schrittweiser Reformen, die sich am jeweils Möglichen orientieren. S. auch meinen Beitrag Allgemeine Staatslehre..., in: AöR 98 (1973), S. 119 (130 ff.). Ein Plädoyer für schrittweise Reformen in BVerfGE 40, 121 (140). 1056 Zu ihr als Verfassungsprinzip: A. Hollerbach, Urteilsanmerkung zu: BVerwG vom 30. Nov. 1973 - Schulgebet, in: JZ 1974, S. 578 (580); U. Scheuner, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, HdbStKiR I (1974), S. 54 ff, 64 f.; J. Listi , Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, ebd., S. 375 ff; jetzt BVerfGE 41, 29 (49 f.), 65 (78, 83, 108); 52, 223 (252). 1057 Vgl. dazu den Versuch einer Unterscheidung von "struktureller", "funktioneller" und "materieller" Offenheit der Verfassung bei H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1974, S. 27. 1058 S. auch meine Hinweise in: Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 (448 ff.).
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Juristisches Möglichkeitsdenken ist Ausdruck und Folge, Voraussetzung und Grenze fur offene Verfassungsinterpretation 1059. Auch die geltende Rechtsnorm ist immer am Möglichkeitsdenken zu testen, sie kann auf diese Weise sogar neue Legitimation gewinnen. Wird sie ungefragt und d.h. ohne "erwogene" Alternativen hingenommen, so wäre sie weniger lebendiger Besitz - ständig spannende Kraft (A. Haenel 1060 ) - als toter Buchstabe, "befolgte", aber nicht eigentlich konsentierte Norm. Die Grenzen des Alternativendenkens sind mit der Toleranzgrenze freiheitlicher Verfassungen praktisch identisch, freilich: Gedanken sind frei. Aber juristisches, d.h. eminent praxisrelevantes Denken wird aus einer zunächst bloß "theoretischen" Möglichkeit allzu schnell zu einer in der Wirklichkeit schon "vor-wirkenden" - Möglichkeit und dann zu einer Gefährdung des Normativen, so legitim umgrenzte, beherrschte Vorwirkungen im Recht sind 1 0 6 1 . Die potentielle Vorwirkung von juristisch konzipierten Möglichkeiten auf die jetzige Wirklichkeit zwingt zu großer Behutsamkeit, rationaler Folgenorientierung und Kosten-Abwägung. Das juristische Vordenken kann allzu leicht eine unkontrollierbare, insbesondere politische Eigendynamik entfalten, die nicht mehr das vernünftigerweise auch Mögliche in der Norm sucht, sondern die Rechtsnorm dolo malo mißachtet. Insbesondere darf nicht um einer "besten" Möglichkeit von morgen willen die (nur) bessere Wirklichkeit von heute aufgegeben werden. Hier gilt B. Pascals Einsicht: "qui veut faire l'ange, fait la bête". Als Konsequenz ergibt sich, daß Alternativendenken systemimmanent bleiben muß. "System" meint: Konstitutionsbedingungen für Offenheit, für wissenschaftlichen (theoretischen) und gesellschaftlichen (praktisch-politischen) Pluralismus im Verfassungsstaat. Nur zu leicht könnte sich unter dem Deckmantel der großen oder der kleinen Alternativen das System im ganzen so wandeln, daß es substantiell bedroht ist. Der Streit um das Abhör-Urteil des BVerfG (E 30, 1 [25]) bleibt ein Beispiel 1062 .
1059
Dazu meine Beiträge Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 (1974), S. 111 ff; Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. (Fünfter Teil Inkurs A). Speziell für die Grundrechte: W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987. 1060 Das Gesetz im formellen und im materiellen Sinne, 1888, S. 119. 1061 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 396 Anm. 148, S. 486 ff; ders., Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (130 ff.); M. Kloepfer, Die Vorwirkung von Gesetzen, 1974. Zum Vorverfahren der Verfassungsänderung meine Hinweise in dem erwähnten Beitrag, in: AöR 99 (1974), S. 437 (463 Anm. 110). 1062 Verfassungswidrige "Rechtswirklichkeit" ist eine Unrechts-Wirklichkeit: Verfassung wirkt hier als Grenze der Wirklichkeit. Die Qualität der "guten" Verfassung hat sich gegen Quantitäten der Wirklichkeit zu behaupten.
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Die Substanz der "freiheitlichen Verfassung" selbst ist wie das Grundgesetz ein Angebot (Adolf Arndt), kein Experiment! Ihre Anforderungen bezeichnen die Grenzen für Möglichkeitsdenken als juristische Kategorie. Möglichkeiten und c) Die Integration der Wirklichkeit, Notwendigkeiten im Vorgang (des Denkens und Handelns) der öffentlichen Verfassungsinterpretation und -politik (1) Das Verhältnis der drei Denkrichtungen untereinander (Konkurrenz und Kooperation, Konfrontation und Integration) Die These ist: Inhalt, Geltungskraft und Wandel von Rechtsnormen, aber auch ihre Grenzen lassen sich erst über die offene Trias des Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens voll erschließen. Und auch bei der Normsetzung wirken diese drei Denkrichtungen zusammen. Es bestehen Verhältnisse der Konkurrenz, aber auch und vor allem der Kooperation. Die "richtige" Dosierung der Denkstile wird zu dem Problem juristischen Denkens. Für eine analytische Vorgehensweise müßte die Kooperation von Möglichkeits·, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken 1063 ein "Nacheinander" sein. Zunächst muß die Wirklichkeit erforscht werden, dann muß nach alternativen Möglichkeiten gefragt werden; diese müssen bewertet werden, damit dann Notwendigkeiten festgestellt werden können. Bei dieser Betrachtungsweise handelt es sich nicht um Denkstile, sondern um Denkschritte, die aufeinander folgen. Sie setzt eine scharfe Trennung der auf den einzelnen Stufen zu leistenden Denkweise voraus, die in der Praxis kaum durchgehalten werden kann. Wählt man dagegen einen Ansatz, der auf den neueren Überlegungen zur Topik aufbaut, dann sieht man keine lineare Abfolge von Schritten mehr, sondern ein vieldimensionales und höchst kompliziertes In-, Mit- und Gegeneinander. Das "Mischungsverhältnis" der Denkstile wird unterschiedlich sein, je nachdem welche Funktion in Frage steht: "Politik", Rechtsetzung, Rechtsprechung, Verwaltung, und die unterschiedliche Akzentuierung ist ein Merkmal für die Unterscheidung (nicht Trennung!) der einzelnen Staatsfunktionen. Für eine Verfassungstheorie der Praxis wird das funktionell-rechtliche Zusammenspiel verschiedener Denkweisen und seine Organisation 1064 zum zentralen Problem. 1063
Zum Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken mein Beitrag, Demokratische Verfassungstheorie ..., in: AöR 102 (1977), S. 21 ff. 1064 Auch bei der Organisation muß nach neuen Möglichkeiten gesucht werden. Vgl. W. Brohm, aaO., in: FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (75): "Die Möglichkeit nicht offiziell bestellter Experten, mit ihren Vorstellungen direkt zum Parlament zu gelangen, böte
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
Die drei Denkrichtungen begrenzen sich gegenseitig, z.B. bewahrt das Wirklichkeitsdenken die juristische Dogmatik vor einer Vorherrschaft des Status-quo-Denkens, aber auch vor dessen gegenteiligem Extrem: den Veränderungsideologien 1065 . Das Verfassungsverständnis, etwa eine betont praxisbezogene Verfassungstheorie und Leitidee von "guter", insbesondere kompromißbereiter Verfassungsinterpretation und -politik, entfaltet steuernde Kraft in bezug auf den Vorgang der Konfrontation und Integration der Ergebnisse, besser: der vorläufigen Ergebnisse der drei Denkschritte. Sie leisten Selektion durch Zielprojektion, "sammeln" das Material der drei Denkschritte, nehmen Akzentuierungen zwischen ihnen vor - das können sie, weil die Trias offengehalten ist, "locker" gefugt bleibt und das "Kräfteparallelogramm" aus - schon oft in sich antagonistischen - Möglichkeiten und Notwendigkeiten unter der Einwirkung normativer Ziele flexibel ist. Aus dem "Ensemble von Möglichkeiten" sind solche auszuwählen, die die "vorhandene" Wirklichkeit zu einer besseren fortentwickeln und Gefahren des Umschlagens in eine schlechtere Wirklichkeit abwenden. Das Zusammenwirken der drei Denkschritte setzt also normative "Ein- und Vorgaben" (den "normativen Input") voraus 1066 .
eher die Chance, dieses mit echten Alternativen vertraut zu machen, auf die Notwendigkeit neuer Zielbestimmungen hinzuweisen und frühzeitig zur Korrektur von Fehlabläufen zu veranlassen." 1065 Dazu kritisch P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: FS für Maunz, 1971, S. 285 (289 ff.). 1066 Das EWG-Vertragsrecht von 1957 (heute EG- bzw. EU-Recht) erweist sich von Anfang an als enges "Geflecht" rechtlich institutionalisierten Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens. Beispiele für Möglichkeitsdenken: sog. Entwicklungsartikel (gem. Art. 2 EWGV die Förderung einer "harmonischen Entwicklung des Wirtschaftslebens" als Aufgabe der Gemeinschaft (ebenso Art. 2 EGV)). Ferner Art. 110 Abs. 1; 90 Abs. 2 S. 2; 93 Abs. 1 S. 2. Art. 117 Abs. 2 bringt eine Kombination von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken.- Symptomatisch ist Art. 122 (Jahresbericht über die Entwicklung der sozialen Lage) und Art. 128 a.F., vgl. jetzt Art. 127 EGV (Grundsätze für die Berufsausbildung als Beitrag zu einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des Gemeinsamen Marktes. S. auch Art. 130 a.F., jetzt Art. 198 e EGV, Aufgabe der Europäischen Investitionsbank: zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Gemeinsamen Marktes beizutragen). Art. 155 überträgt der Kommission bestimmte Aufgaben, "um das ordnungsmäßige Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten".- Möglichkeitsdenken, kombiniert mit dem Optimierungsproblem, findet sich in der Formulierung des Art. 68 Abs. 1 "so großzügig wie möglich zu verfahren", in Art. 70 Abs. 1 S. 3 ("ein Höchstmaß an Liberalisierung zu erreichen"), seit dem 1. Jan. 1994 ist aber Art. 73 a EGV zu beachten. Belege für Notwendigkeitsdenken: Art. 75 Abs. 3: "die Notwendigkeit einer Anpassung an die sich aus der Errichtung des Gemeinsamen Marktes ergebende wirtschaftliche Entwicklung". S. auch Art. 70 Abs. 2 (aber 73 a EGV), 77, 117 Abs. 1.- Beispiel für Wirklichkeitsdenken ist Art. 8 Abs. 1 a.F., siehe Art. 7 Abs. 1 EGV ("schrittweises" Vorgehen); Bezugnahmen auf den tatsächlichen Zustand finden sich in Art. 48 Abs. 3 , 81 Abs. 1, 54 Abs. 2, 62; Art. 235
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(2) Die Bewertung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen im Horizont des Normativen Hier stellt sich die Gretchenfrage: Wo bleibt angesichts des - juristischen Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenkens das sog. eigentliche Normative? Löst es sich auf oder ist es nicht vielmehr bislang dadurch verkürzt und verarmt geblieben, daß es nicht konsequent und grundsätzlich ab initio in die Horizonte des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellt wurde? Die Antwort lautet: Das Normative, das Gesollte wird nicht etwa in der Trias der Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Wirklichkeit "verloren". Von vornherein dürfen Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken nicht "unabhängig" von der Rechtsnorm praktiziert werden. Es geht um die "Bewertung" des Wirklichen, der Möglichkeiten und die Einbeziehung des Notwendigen, es geht um die Eingrenzungsaufgabe vom Normativen her. Nicht als ob es unbewertete, voraussetzungslose Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten gäbe! Es wäre eine Illusion, anzunehmen, "gute" Verfassungspolitik könnte eine Resultante von Faktoren sein, die nicht schon den das "gute" Ergebnis determinierenden - normativen "input" enthielten. Wertungen sind je immer schon im Spiel, selbst bei der noch so empirischen Befundnahme von der Wirklichkeit, bei den noch so sehr von allen Normen freigesetzten ("entfesselten") Möglichkeiten - und der möglichst weitgehende Verzicht auf vorschnelle normative Einbindungen der Möglichkeiten bis hin zum "Abwegigen" soll die produktive, innovatorische Kraft des Möglichkeitsdenkens freisetzen. Schließlich liegen dem "realistisch" konzipierten Notwendigkeitsdenken normative Zielsetzungen, "Vorgaben" immer zugrunde; nur müssen sie tunlichst offengelegt werden. (3) Das Beispiel des Verfassungsauftrags Ein Beispiel für das - normativ gesteuerte - Zusammenwirken verschiedener Denkstile ist der - relativ spät erfüllte - Verfassungsauftrag 1067 des Art. 6 Abs. 5 koppelt Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken.- Auch "Maastricht" (1992) ist ergiebig: z.B. Art. A Abs. 2 EUV ("möglichst bürgernah"), Art. F Abs. 3 ("Mittel, die zum Erreichen ihrer Ziele ... erforderlich sind"). 1067 Siehe aber Art. 29 a.F. GG, wo praktisch "nichts mehr geht" (analog: Art. 118a). Daraus kann die Konsequenz gezogen werden, Art. 29 GG angesichts einer entgegenstehenden, durchaus nicht schlechten Wirklichkeit aus der Verfassung zu streichen. Vgl. Bundesminister W. Maihofer, in: Bulletin v. 5. Sept. 1975, Nr. 109 S. 1079: "Es besteht Grund zu der Erwartung, daß sich schon in aller Kürze abzeichnet, ob eine gemeinsame Grundlage zunächst für eine Grundgesetzänderung gefunden werden kann, die den politischen Gegebenheiten besser entspricht als die gegenwärtige Fassung des Art. 29
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Fünfter Teil: Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen
GG (Ähnliches könnte für andere spät oder noch nicht erfüllte Verfassungsaufträge in anderen Ländern gezeigt werden). Er wollte eine defiziente öffentliche Wirklichkeit korrigieren: die der Benachteiligung des unehelichen Kindes. Leitbild ist die normgestaltete Wirklichkeit des "ehelichen Kindes". Wirklichkeitsdenken ist hier in voller Breite notwendig, auch und gerade dort, wo sich wie bei Art. 6 Abs. 5 GG eine Norm gegen eine bestimmte vorgefundene Wirklichkeit richten soll. Notwendigkeitsdenken war eine Ursache für die Normierung des Art. 6 Abs. 5 GG, so wie es überhaupt wesentlich hinter Verfassungsaufträgen steht. Die überkommene Diskriminierung hatte Nachteile für das Ganze; das demokratische Gemeinwesen war unglaubwürdig angesichts der sozialen Unterprivilegierung unehelicher Kinder. Das Möglichkeitsdenken wirkte seinerseits motivierend, aber auch begrenzend für Art. 6 Abs. 5 GG: motivierend insofern der Verfassunggeber überzeugt war, daß eine weitgehende Gleichstellung möglich sein würde, begrenzend insofern realistisch zu bedenken war, daß eine totale Gleichstellung nicht erreichbar ist, und wegen des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1, 2) als solche auch nicht erreichbar sein kann und sein soll (vgl. BVerfGE 84, 168 (185 ff.); 85, 80 (87 f.); 92, 158 (176 ff.)). (4) Grenzen Im Zusammenhang mit dem Problem der Normativierung sind auch die Grenzen zu sehen, die den drei Denkstilen von der Rechtsnorm gesetzt werden: Die Selektionsleistung der Rechtsnorm liegt darin, daß sie bestimmte "schlechte" - Möglichkeiten gerade ausschließen will, daß sie sich auch gegen angeblich noch so dringende "Notwendigkeiten des Gemeinwohls", die "Staatsräson" und ähnliches zu behaupten weiß, daß sie einer bestimmten "schlechten" - öffentlichen - Wirklichkeit trotzt. So sehr also die erwähnte Trias die Rechtsnormen "aufschließt", so sehr sind die Grenzen des Vorgangs ins Auge zu fassen. Rechtsnormen haben sich auch gegen bestimmte Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu stellen und zu behaupten. Das Verhältnis ist ambivalent, aber es ist fruchtbar. Ohne Wirklichkeits-, Möglichkeits-
GG, indem sie moderne Ziele aufgestellt und eher realisierbare Verfahren für eine Neugliederung des Bundesgebietes anbietet." Wie bekannt, kam es dann (1976) zur Verfassungsänderung (Abs. 8 wurde 1994 angefügt). Anderes gilt für Art. 15 GG, wo das Normative selbst offen bleibt, also keineswegs außer Kraft tritt, keine desuetudo in Frage kommt, auch die Möglichkeit durchaus bleibt, nur eben die politischen Zielsetzungen und Antriebskräfte, sie in die Wirklichkeit umzusetzen, fehlen. Freilich ist Art. 15 GG kein Verfassungsauftrag, sondern eine bloße Kompetenznorm; dazu Ρ. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 189.- Ders., ebd. S. 131 f. zu Art. 6 Abs. 5 GG.
XI. Verfassungspolitik, Reformbedarf, "Möglichkeitsdenken"
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und Notwendigkeitsdenken, ohne ihre Konfrontation und Integration gibt es keine sachgerechte Auslegung und Fortentwicklung von freiheitlichen Rechtsnormen, aber auch keine Setzung von Rechtsnormen in freiheitlichen Verfahren. Ohne Rechtsnormen gibt es aber auch kein juristisches Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken! Sie sind Vehikel dieses dreidimensionalen Denkens, und als solche unentbehrlich. Die Entwicklung der Verfassung, ihre Bewährung in der Zeit, Freiheit und Verantwortung im politischen Gemeinwesen können sich nur in der Ausgewogenheit des Verhältnisses dieser drei Denkweisen halten. Die Interpretation der einzelnen Verfassungsprinzipien muß sich ständig neu "zwischen" diesen Denkstufen bewegen und ihre bisherigen Ergebnisse überprüfen. Die juristische Ethik der Verfassungsinterpreten, aber auch des Verfassungspolitikers im Dienste des Verfassungsstaates entfaltet sich in und durch Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenken in diesem Sinne. Kompromiß, Interessenausgleich, Pluralität, Öffentlichkeit, Toleranz, Mehrheitsprinzip bei abgestuftem Minderheitenschutz 1068 , Repräsentation nicht organisierter Interessen, grundrechtliche Freiheit, Gemeinwohlgerechtigkeit - all das sind spezielle Ausprägungen der hier untersuchten Denkstile. Was bisher teils vorausgesetzt wurde, teils lediglich andeutend behandelt wurde: die programmatischen Folgerungen einer "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft", sei jetzt "formal" und frontal in Angriff genommen und entfaltet.
1068
Aus der Lit. zum Mehrheitsprinzip: U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973; W. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983. Eine Theorie auf der Basis untersuchter, das Mehrheitsprinzip differenzierender Verfassungstexte bei P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlichdemokratischen Grundordnung, JZ 1977, S. 241 ff. Eine Fortführung anhand des neuen Verfassungstextmaterials wäre wünschenswert. Gerade in Osteuropa, aber auch von der Europarats-Ebene aus wird der Minderheitenschutz durch neue Textgestalten ausgebaut. Das verändert auch "das" Mehrheitsprinzip.
Sechster Teil
Programmatische Folgerungen: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Die grundlegende Bedeutung der skizzierten kulturellen Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsfortbildung (von den Klassikertexten bis zu Utopien und staatsrechtlicher Literatur) hat Konsequenzen für ein angemessenes (Selbst-)Verständnis der Verfassungs(rechts)lehre: diese läßt sich adäquat nur als Kulturwissenschaft begreifen, und dies als vergleichende.
I. "Kulturwissenschaft" - Ansätze, Traditionen, Fragmente Begriff und Sache "Kulturwissenschaften" haben bzw. hatten Heimat vor allem in der deutschen Philosophie. Die "Kulturphilosophie" ist sozial in Antwort auf die industriestädtischen Schwierigkeiten und Veränderungen und wissenschaftsgeschichtlich in Abgrenzung von den sich ausdifferenzierenden Einzelwissenschaften (unter Verarbeitung der historischen Kulturwissenschaften) ein "Kind" des 19. Jahrhunderts und fand als "Mode"-Philosophie der 20er Jahre einen Höhepunkt: als philosophische Kulturkritik (vor der Folie einer neuen, anzustrebenden "wahren" Kultur), als formale Kulturphilosophie (mit dem Ziel, übergreifend den Aufbau der Kultur in den einzelnen Kulturwissenschaften zu erkennen) und als materiale Kulturphilosophie (mit dem Aufbau der geschichtlich-konkreten Kulturen als Thema)1. Namentlich etwa Philosophen der südwestdeutschen Schule (H. Rickert, W. Windelband) bemühten sich um eine Begründung der Kulturwissenschaften in Abgrenzung von den Naturwissenschaften durch die unterschiedlichen Denkformen: Sahen sie Geschichte (im Sinne aller geschichtlich verfahrenden Wissenschaften) als 1
So im Überblick W. Perpeet, Kulturphilosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42 ff - Kulturwissenschaftliches bzw. kulturgeschichtliches Denken prägte besonders das Lebenswerk von J. Huizinga; vgl. z.B. ders., Im Schatten von morgen, 5. Aufl. 1936, bes. S. 30 ff.; ders., Geschichte und Kultur, 1954, bes. S. 127 ff.; ders., Homo ludens (1938), 1956.
I. "Kulturwissenschaft" - Ansätze, Traditionen, Fragmente
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Kern der Kulturwissenschaften, betonte W. Dilthey das Moment philologischen Verstehens als die kulturwissenschaftliche Erkenntnisform 2. Material wurde Kultur als "geschichtlich-gesellschaftliche Welt" schlechthin (W. Dilthey) vor allem wertphilosophisch (H. Rickert) 3 , lebensphilosophisch (W. Dilthey u.a.) und (später) ontologisch (A. Gehlen, E. Rothacker) begründet. Das "Klima" dieser "kultur"-haltigen Diskussionen hat dann auf andere Wissenschaftler (besonders in Heidelberg!) fortgewirkt: Max Weber verstand Soziologie4, G. Radbruch die Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft 5. Die Staatsrechtslehre, herkömmlich meist "Nachzügler" in den Entwicklungsphasen des Denkens, nahm sich dieses Themas jetzt in Weimar an: in Anknüpfung namentlich an W. Dilthey und M. Weber hat vor allem H. Heller Staatslehre prinzipiell als Kulturwissenschaft betrachtet 6. Im einzelnen lassen sich neben R. Smend mit
2 W. Dilthey , Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung fur das Studium der Gesellschaft in der Geschichte, Bd. 11, 5. Aufl. 1962; er zog freilich (S. 5 f.) dem Ausdruck "Kulturwissenschaften" den Begriff "Geisteswissenschaft" vor. Zu Dilthey und Simmel: H.-J. Lieber, Kulturkritik und Lebensphilosophie, 1974. 3 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. und 7. Aufl. 1926, z.B. S. 18; ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Aufl. 1929.- Mit dem Kulturbegriff arbeitet auch E. Spranger, vgl. z.B. sein Buch Lebensformen, 8. Aufl. 1950, S. 16, 28 f.: "Kultur als historisch gegebenes Geistesleben und Wertverwirklichung". Nach Spranger (aaO., S. 380 ff.) vollzieht sich das "Leben der Kultur" in zwei Tätigkeiten: im Kulturschaffen und in der "Kulturfortpflanzung" (d.h. Erziehung).- Bei Friedrich Naumann spielt der Kulturbegriff eine nicht geringe Rolle. Er charakterisiert "Freiheit" ausdrücklich als "Kulturbegriff und spricht von einem "kulturellen Freiheitsbegriff' (F. Naumann, Werke, Bd. 5, hrsg. von T. Schieder, 1964, S. 360) und über "Kunst und Volk" (ders., Werke, aaO., Bd. 6, hrsg. von H. Ladendorf, 1964, S. 78 ff.) oder stellt die These auf, "wir haben keine einheitliche Kultur" (in: Ausgewählte Schriften, hrsg. von H. Vogt, 1949, S. 181). S. auch ders., Von Vaterland und Freiheit, 1913, S. 214: "Alle Kultur lebt davon, daß man mehr hat, als man braucht" und den Vergleich zwischen englischer, französischer und deutscher Kultur, in: ders., Die deutsche Sache. Die deutsche Seele, 1917, S. 34 ff. 4 M. Weber, Die "Objektivität," sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkentnis, 1904; ders., Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwisssenschaftlichen Logik, 1906, beide jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. 1973, S. 46 (161 ff.) bzw. S. 215 ff.; ausf. aus der Sekundärliteratur: F. Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, 1970, S. 17 ff. Zu M. Weber: H. J. Helle, Stufen der Kultur und des Staates bei Max Weber und Elman Service, in: FS Broermann, 1982, S. 107 ff. 5 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1914), hrsg. von Erik Wolf, 6. Aufl. 1963, S. 220 ff.- Wolf zeigt in seiner Einleitung Rickerts Einfluß betreffend die Kulturwerte (bzw. den Rechtswert) als Ausgangspunkt der wertbeziehenden Wissenschaften (bzw. der Rechtswissenschaft). 6 Vgl. bes. H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 32 ff., jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1971, S. 124 ff.; ders., Vom Wesen der Kultur (1924), jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1971, S. 425 ff- Vgl. zum kulturwissenschaftlichen Ansatz bei H. Heller auch die ausf. Analyse bei W. Schluchter, Entscheidung für den sozialen 40 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
seiner Wende zum geistesgeschichtlichen und wertorientierten Denken7 auch etwa bei G. Holstein 8 oder A. Hensel9 kulturwissenschaftliche Ansätze nachweisen (wobei in den Rechtswissenschaften (via Rechtsvergleichung) J. Kohler 10 oder auch die Zivilrechtslehre 11 kulturwissenschaftliche Spuren (vorgezogen haben)12. Rechtsstaat, 1968, S. 268 ff., zu seinem "nationalen Kultursozialismus", S. 119 ff., zu Hellers aus der christlichen Kultur des Abendlandes erwachsenen Kulturkreis- und Kulturtheorie als "rudimentären Geschichtsphilosophie" (Schluchter), S. 158 ff. (160). Zu H. Heller auch: G. Robbers, Hermann Heller, Staat und Kultur, 1983; W. Fiedler, Das Bild H. Hellers..., 1994; A. Dehnhard, Dimensionen staatlichen Handelns - Staatstheorie in der Tradition H. Hellers, 1996; I. Maus, H. Heller und die Auseinandersetzung um die Interpretation des Grundgesetzes, in: W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 133 ff.; T. Vesting , Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft, Der Staat 31 (1992), S. 161 ff. 7 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 ff. (123 ff.).- Zum geistesgeschichtlichen Ansatz auch E. Kaufmann, VVDStRL 4 (1928), S. 78 ff., bes. S. 81 (Diskussion). 8 G. Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, AöR NF 11 (1926), S. 1 ff. (auf S. 31 die Forderung nach einer Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode); ders., Elternrecht, Reichsverfassung und Schulverwaltungssystem, AöR NF 12 (1927), S. 187 ff. 9 A. Hensel, Art. 150 der Weimarer Verfassung und seine Auswirkung im preußischen Recht, AöR NF 14 (1928), S. 321 ff. 10 J. Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung, 1885; vgl. noch die Nachweise oben Fünfter Teil IV . Auch heute ist eine methodenvergleichende Rechtswissenschaft auf die kulturellen Hintergründe angewiesen: vgl. nur W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 1, 1975, S. 49 ff., 60 ff., 149 ff.; aber gerade auch im Rahmen rechtsdogmatischer zivilrechtlicher Diskussion ist ein Rückgriff auf kulturelle Grundlagen notwendig, vgl. Fikentscher, aaO., Bd. IV, 1977, S. 13, 16, 18, 23, 26, 29, 31, 45, 63-66, 83, 109, 197, 279 u.ö. (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit). 11 Ein klassisches Lehrbuch wie das von L. Enneccerus/H.C. Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, ist sich solcher kultureller Hintergründe allenthalben bewußt, vgl. etwa die Hinweise auf den Zusammenhang von rechtlichem und kulturellem Wandel (S. 201, 219), die Einbettung des Rechts in den gesamtkulturellen Zusammenhang (S. 213, 219 f.) mit der Folge, daß bei der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen, bes. bei Generalklauseln, aber auch bei der Fortentwicklung des Rechts, z.B. der Frage analoger Anwendungen, die Entwicklung der gesamten Kultur und ihrer Werte mitberücksichtigt werden muß (etwa S. 309, 322, 334 f., 339 f.). Vgl. ferner F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 13, 26; J. Esser, Grundsatz und Norm, 1956 (4. Aufl. 1990), weist auf die - den Kulturnationen gemeinsamen - kulturellen Grundlagen des Rechts und auf von allen Kulturnationen anerkannte Rechtsgrundsätze hin, etwa S. 28, 34 ff., 378.- Der kulturelle Aspekt ist mehr oder weniger deutlich ausgeprägt im "ordre public" des deutschen Internationalen Privatrechts (vgl. aus der älteren Literatur: E. Frankenstein, Internationales Privatrecht [Grenzrecht], 1926, 1. Bd., S. 212: "Wertung nach der ethisch-sozialen Seite"; G. Walker, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 1926, S. 264: "Recht und Sittlichkeit sind Erzeugnisse der menschlichen Gemeinschaft ..." in der "Entwicklung der
II. Die Vernachlässigung kulturwissenschaftlicher Ansätze - Hintergründe
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Diese Ansätze haben seitdem wenig grundsätzliche Nachfolge gefunden. In der heutigen Staatsrechtslehre fällt nur selten der Begriff "Kulturwissenschaften" 13 . Selbst die Autoren, die sich um das Kulturverfassungsrecht bemühen, ziehen daraus nicht die gebotenen methodischen Konsequenzen14, das weite Verständnis von Kultur wird als möglich akzeptiert, aber pragmatisch ausgeklammert 15 oder eher en passant ohne Vertiefung gebraucht 16. Die Sache der Kultur und Kulturwissenschaften macht sich freilich politisch und rechtlich allenthalben geltend, nur eben noch nicht mit dem notwendigen Methodenbewußtsein. Zu fragen ist nach den Gründen.
II. Hintergründe für die Vernachlässigung kulturwissenschaftlicher Ansätze Ein erster zentraler Grund knüpft an die verfassungsgeschichtliche, aber auch wissenschaftssoziologische Zäsur 1933/45 an. Die Kulturphilosophie hat unter dem Druck der Kritik des analytischen philosophischen Denkens aus dem angelsächsischen Bereich und der historischen Erfahrung des Dritten Reiches heute ihre diskussionsbestimmende Kraft verloren, auch wenn in der Naturrechts-Renaissance solche kultur- und wertphilosophischen Grundlagen fortge-
Kultur eines Volkes ..."). Jetzt B. Grossfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996, bes. S. 11 ff. 12 Stark eurozentrisch geprägt sind im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Begriffe "Kulturvolk" und "Kulturstaat", die einen erreichten Entwicklungsstand kennzeichnen sollen. Vgl. nur: Internationale Kriminalistische Vereinigung (Hrsg.), Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. I, Berlin 1894, S. XIV; K. v. Birkmeyer u.a. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, AT Bd. II, Berlin 1908, S.V. 13 Z.B. bei M. Usteri, Die Unverwechselbarkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft und die Grundnormen für Revision und Auslegung der Bundesverfassung, in: FS H. Nef, 1981, S. 299 (301), der Sache nach aber S. 304 ff.- Da und dort wird empfunden, daß der juristische Ansatz nicht mehr ausreicht, um "Verfassungsinterpretation" zu leisten, vgl. etwa H. Schäffer, Die Interpretation, in: H. Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980, S. 57 (76 ff.): "Rechtskulturelle Voraussetzungen der Verfassungsinterpretation - Verfassungsverständnis und Verfassungsbewußtsein in Österreich". 14 Grdlg. für die historische Perspektive aber E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, zuletzt Bd. 6, 1981, bes. S. 855 ff., Bd. 7, 1984, bes. S. 1 ff. 15 Vgl. T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 6 ff. mit ausf. Nw., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 249 ff. 16 Wie z.B. bei K. Doehring, In Erinnerung an Karl Zeidler, FS E. Forsthoff, 1967, S. 5 (6).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
führt wurden 17 und im Bereich der Verfassungsrechtswissenschaft etwa im grundrechtlichen Wertsystemdenken 18 erhebliche praktische Bedeutung gewonnen haben. Dennoch hat sich ein kulturwissenschaftliches Denken in Verfassungsrecht und Verfassungslehre schon wegen des Untergangs der Weimarer Republik nach 1945 bzw. 1949 nicht grundsätzlicher auswirken können. Die Notwendigkeit des ökonomischen Wiederaufbaus und in seiner Konsequenz das sog. "Wirtschaftswunder" haben anscheinend keinen Raum für kulturwissenschaftliches Denken gelassen bzw. diesem kein zeitgenössisches Echo ermöglicht 19 . Die Bundesrepublik Deutschland ist so in einer unproportionalen Weise auf Wirtschaft und Wohlstand, auf ökonomischen Besitzstand, auf Materielles und auf Wirtschaftswachstum fixiert. Eine Ökonomisierung des Denkens und politischen Verhaltens hat Platz gegriffen. Sie zeigt sich nicht nur an der überzogenen Bestimmung des Eigentums einerseits, mittelbar auch im anspruchsorientierten Sozialstaatsdenken andererseits, sondern schlägt sich auch in der Schwerpunktbildung, der Themenwahl und den grundsätzlichen Diskussionen der Verfassungsrechtslehre nieder. Zu wenig Raum in der Diskussion haben jene Teile der Verfassung bis heute eingenommen, die schon prima facie "Kulturverfassungsrecht" sind. Selbst dort, wo Begriff und Sache Kultur etwa vom BVerfG im Lüth-Urteil zentral erwähnt wurden 20 oder wo ein Diktum von R. Smend über die Grundrechte ("Grundrechte als Ausdruck eines
17 Vgl. die Dokumentation bei W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 2. Aufl. 1966, 3. Aufl. 1982; H. Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977. 18 Dazu ausf. P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 16 ff. S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 2. 19 Vgl. aber H. Peters, Hat kulturelle Arbeit einen Sinn? (1946), später in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 72 ff. 20 BVerfGE 7, 198 (206): "... Gesamtheit der Wertvorstellungen ..., die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklungen erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat." S. auch BVerfGE 5, 85 (379): "Die Ordnung in der Bundesrepublik ist legitim. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie auf demokratische Weise zustande gekommen und seit ihrem Bestehen immer wieder in freien Wahlen vom Volke bestätigt worden ist. Sie ist es vor allem, weil sie - nicht notwendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsatze nach - Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspricht. Sie beruht auf einer ungebrochenen Tradition, die - aus älteren Quellen gespeist - von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Revolution zu der liberal-rechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d.h. das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat. Die sich hieraus ergebenden Wertsetzungen werden von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Oberzeugung bejaht." (Hervorhebung vom Verf.).
II. Die Vernachlässigung kulturwissenschafitlicher Ansätze - Hintergründe
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Kultur- und Wertsystems") referiert bzw. kritisiert wurde 21 , blieb der Kulturgedanke im Grundsätzlichen ausgespart. Hinzu kommen weit ältere, sehr deutsche Ursachen. Die viel zitierte Gebrochenheit der deutschen Nationalkultur und Geschichte, das Fehlen einer wie in England selbst erarbeiteten Demokratie, eines Frankreich seit 1789 vergleichbaren republikanischen Traditionszusammenhangs, die Fremdheit und Distanz zwischen (Verfassungs-)Staat einerseits, Kunst und Künstlern andererseits (sie bestanden schon in Weimar) - all dieses war der Entfaltung eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes nicht günstig. Speziell die Staatsrechtslehre stand zunächst auch viel zu sehr vor der Aufgabe, das GG dogmatisch zu entfalten. Allgemeine Staatslehren wurden betont retrospektiv konzipiert 22 . Verfassungslehren wurden nicht geschrieben bzw. oft verfehlt 23 ; auch hier schien die Zeit für ein Wiederaufgreifen bzw. eine Fortführung des Traditionsstroms "Kulturwissenschaften" noch nicht reif. Die Faszination, die die Sozialwissenschaften Ende der 60er Jahre bis heute auf die Jurisprudenz und z.T. auch auf die Staatsrechtslehre ausübten24, kam nicht der Kulturwissenschaft als Methode und nicht der Kultur als Sache zugute. Selbst in den langwierigen Kontroversen um das Verhältnis von (Verfassungs-)Recht und Wirklichkeit blieb verdeckt, daß diese Wirklichkeit gewiß auch eine soziale Wirklichkeit ist, So ist es weiter und tiefer gesehen aber vor allem eine kulturelle Wirklichkeit. wohl auch kein Zufall, daß die Erforschung der "politischen Kultur" eines Volkes aus den USA kommt (Almond/Verba) und bei uns erst mit großer Phasenverschiebung rezipiert wurde bzw. wird 2 5 . Schließlich setzt "Kultur" Zeit(ab-
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Vgl. vor allem E. Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in: Der Staat 2 (1963), S. 385 (388 ff.), später in ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1977, S. 175 (177 ff.). 22 So durch Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966.- Eine für das Selbstverständnis der 50er Jahre charakteristische Berufung auf die "abendländische Kulturauffassung" findet sich mit juristischen Konsequenzen für die "freie Entfaltung der Persönlichkeit" und das "Sittengesetz" (Art. 2 Abs. 1 GG) etwa bei H. Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, in: FS R. Laun, 1953, S. 669 (673, 677). 21 Dazu mein Literaturbericht in ZfP 12 (1965), S. 381 ff.; s. aber auch die Besprechung der Allgemeinen Staatslehre von R. Herzog durch den Verf.: Allgemeine Staatslehre, demokratische Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre?, in: AöR 98 (1973), S. 119 ff. 24 Vgl. etwa den großen Einfluß von J. Habermas und N. Luhmann auch auf die rechtswissenschaftliche Diskussion. J. Habermas wendet sich ihr jüngst verstärkt zu: Faktizität und Geltung, 3. Aufl. 1993.- S. allgemein aus der Literatur: H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973; D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 1976. 25 Nw. oben in: Vierter Teil III: "Verfassungskultur".
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lauf) voraus. Die Bundesrepublik Deutschland war vielleicht noch zu jung, um Kultur als Gewachsenes thematisieren zu können.
III. Die Zweckmäßigkeit des Begriffs "Kulturwissenschaften" Eine Reanimierung jener verschütteten kulturwissenschaftlichen Ansätze kann sich zwar äußerlich auf die in den letzten Jahren deutlich sichtbare Sensibilisierung für die Sache Kultur in Recht und Gesellschaft berufen 26. Wer solche Tendenzen zum Anlaß für ein eigenständiges Wissenschaftsprogramm in Form einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre nimmt, muß sich freilich vorab zwei Einwänden stellen, die den Wissenschaftscharakter der "Kulturwissenschaften" betreffen. a) Einmal könnte die Rede von dem kulturwissenschaftlichen Ansatz fälschlich suggerieren, es gäbe eine oder "die" Kulturwissenschaft als abgrenzbares Wissenschaftsgebiet; tatsächlich kann und will diese Terminologie die Heterogenität der Kulturwissenschaften nicht verdecken. Wissenschaftsgeschichtlich scheint der Begriff "Kulturwissenschaften" sogar eher anachronistisch zu sein: entstanden aus programmatischen und methodologischen Abgrenzungsbemühungen zu den sich entfaltenden Naturwissenschaften, kehrt er heute begrifflich eher als normativer oder als hermeneutischer Theorieansatz wieder 27 , wenn man diese Abgrenzungen nicht im Sinne der kritizistischen 28
Einheitsthese überhaupt für falsch hält . Soweit der Begriff material die Sache 26 Einige Stichworte mögen hier genügen: Aktuell wurden bzw. werden diskutiert: Fragen einer (europäischen) "Charta der Kultur", der (deutschen) Auswärtigen Kulturpolitik (bes. in Ländern der Dritten Welt), der kommunalen Kulturpolitik, einer Bundeskunsthalle (jetzt in Bonn), der Nationalstiftung, des Grundsatzthemas: Deutschland als Kulturnation, der Politischen Kultur, des Verhältnisses von Künstlern und Staat (Künstlersozialversicherung, Rolle der Schriftsteller u.a.), der Erziehungsziele in der Schule u.a. (Nw. bei P. Häberle, Vom Kulturstaat, aaO., S. 2 ff), des Kultursponsoring; zuletzt noch H. Ritter, Kulturwissenschaften wozu?: "Es gibt eine Konjunktur des Kulturbegriffs", "kulturalistischer Trend in den Geisteswissenschaften", FAZ vom 26. Febr. 1997, S. Ν 5. 27 Vgl. die (schon bei W. Dilthey , Geisteswissenschaften, aaO. erkennbare) Trias von empirisch-analytischen, historisch-hermeneutischen und kritisch-dialektischen Theorieansätzen bei J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als "Ideologie", 1968, S. 146 ff. 28 Vgl. dazu H. Albert u.a., Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Licht des Kritizismus, in: H. Albert u.a., Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 80 ff., und die dortige Kritik von E. v. Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus - Polemische Anmerkung zu Hans Albert: Erkenntnis und Recht, ebd., S. 97 ff.
III. Die Zweckmäßigkeit des Begriffs "Kulturwissenschaften"
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Kultur meint, beschäftigen sich eine Fülle von Einzelwissenschaften mit der Kultur; nicht zufällig ist heute "Kultursoziologie" als abgrenzbare Fachwissenschaft kaum erkennbar, sondern (ver)sammelt eher verlegen Untersuchungen, die keiner anderen Bindestrich-Soziologie eindeutig zuzuordnen sind 29 . Gerade darin liegt aber die Funktion des Begriffs "Kulturwissenschaften": eine Vielzahl von Einzelwissenschaften zu einem gemeinsamen Gegenstand und Auftrag zu verbinden. Auch erlaubt er, den Kreis der (auch) auf das Kulturwissenschaftliche gerichteten Einzeldisziplinen offen zu halten. So gesehen ist Verfassungslehre als Kulturwissenschaft eine "Integrationswissenschaft": Sie integriert das von den einzelnen Geistes- und Sozial-, von den Norm- und Wirklichkeitswissenschaften allzu getrennt Gedachte - soweit es die Sache Verfassung betrifft. Es ist also nicht nur die Rechtswissenschaft, die "als" Kulturwissenschaft spezifische Aufgaben und Methoden hat - am ehesten im Bereich der Rechtsvergleichung praktiziert. Auch die Geschichte kann Kulturwissenschaft sein: unmittelbar als "Kulturgeschichte" oder mittelbar als kulturspezifisch und kulturell interpretierte Geschichte. Entsprechendes gilt für die Verfassungsgeschichte. Als Kulturwissenschaft wurde sie am ehesten wohl von E. R. Huber betrieben 30; für Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ist sie mehr als nur "Nachbardisziplin": Sie erforscht denselben Gegenstand wie jene in der historischen Dimension, so wie Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung die Zeitdimension in den Raum (der westlichen Welt und wohl spätestens seit 1989 auch darüber hinaus) verlegt. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft integriert insoweit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - man denke an "kulturelles Erbe-Klauseln" und andere Rezeptionsprozesse -, soweit diese Zeitmodalitäten die Verfassung betreffen. Vielleicht kann so eine Neufassung des Verhältnisses von Verfassungsrecht und Wirklichkeit (auch von Theorie und Praxis) gelingen, die momentaner Ausschnitt aus der zeitlichen Dimension ist: Zeit und Verfassungskultur 31. b) Ein anderer Vorbehalt könnte im kulturwissenschaftlichen Ansatz nur die umbenannte Neuauflage der programmatischen Forderungen nach einer Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft sehen32; doch gerade weil deren 29 Insoweit repräsentativ die (nicht nur festschriftenbedingte) "Heterogenität" bei J. Stagi (Hrsg.), Aspekte der Kultursoziologie, 1982. 30 E.R. Huber, Bewahrung und Wandlung, 1975, sowie seine "Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789", 1957 bis 1984. 31 Vgl. P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl/A. Möhler (Hrsg.), Die Zeit 1983, S. 289 ff. (3. Aufl. 1992) sowie Vierter Teil IV. 32 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 3. Aufl. 1993; H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973 ; D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissen-
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abstrakte Diskussion inzwischen unergiebig geworden zu sein scheint, kann eine kulturspezifischere Fragestellung hier möglicherweise neue Impulse geben. Freilich thematisieren die modernen Sozialwissenschaften das Kulturelle mit, findet man häufig das Wort von "sozio-kulturellen Zusammenhängen" u. ä.; indes steht im Vordergrund das Gesellschaftliche 33, oft auf das Ökonomisch-Materielle und Empirische verkürzt. Bewußt wird darum hier von Verfassungslehre als Kulturwissenschaft gesprochen - in Distanzierung von der "Mode" der Ende der 60er bzw. 70er Jahre sozialwissenschaftlich zu bestimmenden Dimension der Rechtswissenschaften. Das Soziale ist gewiß ein wichtiger Aspekt des Kulturellen, ebenso wie das Ökonomische und Politische. Aber das Kulturelle erschöpft sich nicht in diesen "Realien". Umgekehrt wäre auch der Begriff der "Geisteswissenschaften" zu eng. Er könnte das Reale am Kulturellen ausblenden. So meinen denn Kulturwissenschaften ein Ensemble von Aspekten und Dimensionen, das jetzt gemeinsam in seiner Wirkung auf die Verfassung, aber auch in seiner begrenzten Steuerung durch die und in der Verfassung erforscht wird 3 4 . Eine kulturwissenschaftliche (Verfassungs-) Rechtswissenschaft lenkt also den Lichtkegel des Erkenntnisinteresses auf die kulturellen Dimensionen der und in der Verfassung. Darin liegt nur scheinbar eine Verengung des Programms einer sozialwissenschaftlich vertieften Rechtswissenschaft. Vielmehr wird damit nur als wissenschaftliche Prämisse formuliert, daß Kultur und ihre Entwicklung - in stärkerem Maß als bisher thematisiert - die Entwicklung des Verfassungsrechts und der Verfassungen in demokratischen Verfassungsstaaten allgemein beeinflussen. Diese programmbildende These kann sich dabei auf bedeutende neuere gesamtgesellschaftliche Theorieentwürfe berufen, die das Recht und die soziale Entwicklung allgemein
Schäften und Nachbarwissenschaften, Bd. I, 1976; eine Fortsetzung dieser abstrakten Diskussionen scheint derzeit unergiebig, wie überhaupt traditionsreiche Kontroversen sich nach einiger Zeit argumentativ erschöpfen, vgl. etwa den "Richtungsstreit" aus der Weimarer Zeit, dazu R. Smend, FS Scheuner, 1973, S. 575 ff.; M. Friedrich, Der Methoden· und Richtungsstreit, AöR 102 (1977), S. 161 ff.; K. Rennert, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987 oder die Diskussionen um die Alternative "Naturrecht oder Rechtspositivismus". Zuletzt: W. März, Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, in: K.W. Nörr u.a. (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 75 ff. Auch beim H. Heller-Schüler M. Drath, Über eine kohärente soziokulturelle Theorie des Staates und des Rechts (1966), später in: ders., Rechts- und Staatslehre als Sozialwissensschaft, 1977, S. 154 ff. ,4 Es ist bemerkenswert, daß an deutschen Universitäten jüngst kulturwissenschaftliche Fakultäten gegründet wurden (Bayreuth), in der Schweiz früher in St. Gallen. Im einzelnen wäre zu prüfen, ob dies mehr der Verlegenheit bzw. einem Sammelsurium vieler nicht weiter "unterzubringender" Einzelfächer entspricht oder Ausdruck einer neuen Forschungsrichtung und Denkweise ist.
III. Die Zweckmäßigkeit des Begriffs "Kulturwissenschaften"
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in letzter Abhängigkeit auch von kulturellen Entwicklungsprozessen analysieren. In der Entwicklung der Systemtheorie von T. Parsons hatte die Kultur stets eine bedeutsame Rolle gespielt. Die bedeutsamsten Gehalte des kulturellen Systems sind nämlich Werte, die sehr weite und allgemeine Definitionen anzustrebender Zustände, Prozesse usw. enthalten. Diese Werte sind fur Zustandekommen und Stabilität sozialer Ordnung von zentraler Wichtigkeit 35 . Parsons hält Wert und Normen bei der Fortentwicklung von Systemen durch fundamentale Innovationen für wichtiger als politische und ökonomische Interessen und bezeichnet sich in diesem Sinne letztlich als "Kulturdeterministen", auch wenn er um die Vielfalt der verschiedenen Faktoren bei der Evolution sozialer Systeme weiß 36 . Auch J. Habermas vertritt in seinen Entwürfen die These, daß die Entwicklung normativer Strukturen (Konfliktlösungsmechanismen 37, Weltbilder, Moralvorstellungen, kulturelle Werte, Rechtsnormen, Identitätsformationen usw.) der Schrittmacher sozialer Evolution sei, weil erst ihre gesellschaftliche Verankerung höhere gesellschaftliche Komplexität ermögliche, auch wenn der Wandel solcher normativen Strukturen auf neue, ungelöste, ökonomisch bedingte Systemprobleme antworte 38 . Seine Theorie des kommunikativen Handelns läßt sich so auch als ein Versuch lesen, in Korrektur ökonomistischer und holistischer Theoreme eines dogmatischen Marxismus die Abhängigkeit gesamtgesellschaftlicher (ökonomischer, politischer, sozialer) Entwicklungen und Strukturen (auch) von kulturellen Wandlungs- und Wachstumsprozessen zu analysieren 39. Zwar erscheint in diesen grundlagentheoretischen Arbeiten das Verfassungsrecht bzw. die Verfassung selber als Teil "der" Kultur (im weiteren Sinne); deutlich wird aber die Einbettung von Verfassung und Verfassungs-
Vgl. z.B. T. Parsons , Das System moderner Gesellschaften, 1972, S. 14; ders., Structure and Process in Modern Societies (1960), 1967, S. 295 ff.; w. Nw. über die Entwicklung bei R. Damm, Systemtheorie und Recht, 1976, S. 108 ff, der Parsons in die Nähe von H. Heller rückt (S. 116). 36 Vgl. etwa T. Parsons , Gesellschaften, 1975, S. 174 f.; krit. differenzierend W. Schluchter, in: W. Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System, 1980, S. 106 (115 f.), der aber selber für das Verhältnis von Kultur und ihren Bezug auf alle Lebensordnungen (auch die rechtlich-politische) auf das soziologische Konzept der "Interpénétration" , d.h. der wechselseitigen Verschränkung und Beeinflussung zurückgreift (S. 130 ff.). 37 Darunter dürften sich wohl auch die verfassungsrechtlichen Regeln subsumieren lassen. 38 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976, S. 12, 35, 175 f.; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1981, S. 464 u. ö. ,9 Diese Kennzeichnung wird dem Werk naturgemäß nicht gerecht; an dieser Stelle geht es nur um die bemerkenswerte Tendenz: Kultur im weiten Sinne ist geradezu zu einem Schlüsselbegriff geworden.
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recht (und ihrer Theorie) in parallele und tiefere kulturelle Zusammenhänge sowie das Eigengewicht der kulturellen Entwicklungen gegenüber sozial-ökonomischen Prozessen. So ungewiß solche theoretischen Grundlagen im einzelnen auch noch sein mögen - sie bestätigen die Überfälligkeit des Anlaufs zu einem kulturwissenschaftlich vertieften Denken auch in der Verfassungslehre 40. Der kulturwissenschaftliche Ansatz hat aber auch handfest praktische Konsequenzen. Letztlich rechtfertigt sich aus ihm das Gebot der "Grundversorgung" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (BVerfGE 73, 118 (157 f.): arg. "kulturelle Verantwortung"), die jetzt auch ein deutscher Landesverfassunggeber rezipiert bzw. i.S. des Textstufenparadigmas festgeschrieben hat (Art. 12 Abs. 1 Verf. Thüringen von 1993). Auch die "Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung" (BVerfGE 70, 297 (308)) verweisen auf Kultur. Schließlich setzt dieser Ansatz einen Kontrapunkt gegen die Ökonomisierung im Denken des Zeitgeistes seit 1989. Denn die offene Gesellschaft ist kein ökonomisches Gewinnspiel.
IV. Der kulturwissenschaftliche Ansatz (Natur und Kultur) Der im Anschluß an Hermann Heller hier als kulturwissenschaftlich gekennzeichnete Ansatz 41 will die kulturellen Wurzeln des Rechts erarbeiten und für Verfassungstheorie und Verfassungsrecht fruchtbar machen. 40 Auch sonst läßt sich allenthalben eine Wiederbesinnung auf das Thema "Kultur" beobachten, vgl. aus jüngerer Zeit etwa J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur "geistigen Situation der Zeit", 1979, Bd. 2: Politik und Kultur; dort zum programmatischen Anspruch einer "kritischen Kulturwissenschaft" P. Bürger, Literaturwissenschaft heute, S. 781 (782, 788); Κ. H. Bohrer, Die drei Kulturen, S. 636 ff.; aus Band 1 ("Nation und Republik") vgl. vor allem H. Ehmkes "kritische Distanz" gegenüber dem Begriff "Kulturnation" (S. 51 ff., 68).- S. auch J. Clayton , Kulturbegriff und Kulturwissenschaft, in: FS W.F. Kasch, 1981, S. 323 ff.- Ein "kulturwissenschaftlicher Disziplinenkontakt" zwischen Ethnologie und Geschichtswissenschaft findet statt in dem Band: R. Berdahl u.a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, 1982.- Das jüngst viele Einzeldisziplinen wohl am besten spezifisch kulturwissenschaftlich integrierende Buch stammt von R. Wendorff Zeit und Kultur, 1980, 3. Autl. 1985.- Eine große Rolle spielt der Kulturaspekt bei R. Dawkins , Das egoistische Gen, 1978, z.B. S. 193, 223 ff. (vgl. seine Einheit "Mem" im Rahmen kultureller Evolution).- Der von O.G. Oexle hrsgg. Band "Memoria als Kultur" (1995) geht den Erscheinungsformen des Erinnems und Vergessens in Kunst und Literatur, Politik, Religion und Recht nach.- Kulturwissenschaftliche Fragen speziell im Blick auf den Rundfunk jetzt in den Beiträgen von A. Dittmann, C.D. Classen und M. Kilian, in: A. Dittmann u.a. (Hrsg.), Der Rundfunk im Wandel der Medien, 1997, S. 19 ff., 53 ff., 69 ff. 41 Vgl. ausf. P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 44 ff.; ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 40 ff- Jüngst
IV. Der kulturwissenschaftliche Ansatz (Natur und Kultur)
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Werte, Wertsystem, Erziehungsziele, Orientierungswerte verweisen auf Schichten und Zusammenhänge, meinen eine Wirklichkeit und Möglichkeiten, die mit der "juristischen Methode" nur z.T. erfaßbar sind, vor allem deswegen, weil auch das Recht nur ein Teil der Kultur des Gemeinwesens im anthropologischen Sinne ist. Verstehen wir Kultur als ein System von expliziten und impliziten Mustern für und von Verhalten, die durch Symbole erworben und tradiert werden - unter Einschluß der Verdinglichungen -, so besteht der essentielle Kern dieser Kultur aus traditionalen Ideen und besonders aus den ihnen zugeordneten Werten 42 . Diese Werte finden im Recht eine direkte, z.T. nur eine gebrochene, z.T. überhaupt keine Widerspiegelung 43. Zwischen "der Kultur" und ihrem Teilbereich "Recht" besteht also oft eine Differenz 44 , die unter dem Gesichtspunkt "Recht und sozialer Wandel" (der immer auch ein kultureller Wandel ist) 45 thematisiert wurde. Dieses bedeutet zweierlei: Zum einen können das Recht und seine Inhalte nur dann zutreffend erfaßt wie auch bewußt eingesetzt werden, wenn man sich dieser "Schere" bewußt ist und (ebenso) das Recht kulturell (wie auch manchmal die Kultur mit den Augen des Rechts) sieht - unter dem Aspekt "Kontext" ist dies vom Verfasser an einem Teilproblem schon behandelt worden 46 . In diesem Sinne ist der "kulturwissenschaftliche Ansatz" eine Absage an die latenten Spätfolgen des Positivismus 47 . Zum anderen bedeutet dies, daß - um im Bild zu bleiben - die "Verbindung zwischen beiden Schenkeln der Schere" nicht aufgegeben werden
bezieht sich besonders P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 52, 228 ff. auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz von H. Heller bzw. des Verfassers; ähnlich M. W. Hebeisen,, Souveränität in Frage gestellt, 1995, bes. S. 395 ff. 42 A.L. Kroeber/C. Kluckhohn, Culture, 1952, S. 357. Umfassend: J. Niedermann, Kultur, Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, 1941. 43 Man denke nur an bestimmte Vorschriften aus der StVO wie Parkverbote oder auch an die Qualifizierung von Steuerhinterziehungen (im kleineren Maßstab) als "Kavaliersdelikte".- Zur Einordnung des Rechts in seine sozio-kulturelle Umgebung s. R. König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: ders. (Hrsg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 11/1967 (hrsg. v. E.E. Hirsch/M. Rehbinder), S. 36 ff.; L. Philipps/R. Wittmann (Hrsg.), Rechtsentstehung und Rechtskultur, 1991. 44 Vgl. auch J. Clayton, , Kulturbegriff, aaO., S. 326 ff.; s. weiter R. König, aaO. S. 45. 45 Sofern man zwischen "sozialem" und "kulturellem" System differenziert, entsprechend T. Parsons , The Social System, 1951 (Pb. 1970), S. 9 ff., 14 ff., 86 f., 332 ff. u.ö. 46 P. Häberle, Recht aus Rezensionen, in: ders. (Hrsg.), Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff. 47 Nicht umsonst dürfte sich wohl H. Heller auf M. Weber bezogen haben; vgl. Nw. oben I Fn. 6.
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darf: Eben diese Verbindung aber leisten z.B. Erziehungsziele rungswerte.
und Orientie-
Auf der Zeitachse strukturieren das geschichtliche - kulturelle - Erbe, die "Erfahrung" eines Gemeinwesens, seine politisch-kulturelle Gegenwart und seine entsprechenden Hoffnungen zusammen das Wertsystem des Gemeinwesens so, daß die juristisch geltende und juristisch erfaßbare und auszubauende Verfassung darauf "setzen" kann. Das oft gesuchte "Hintergründige" am GG oder das "Vorverfassungsrechtliche" - wie z.B. das "vorverfassungsrechtliche Gesamtbild" H. Nawiaskys 48 - meint die Sache, die kulturwissenschaftlich zu erschließen ist. In der Raumdimension fällt zunächst das Phänomen der kulturellen Verdinglichung, der "Greifbarkeit" kulturellen Schaffens ins Auge: Dies ist jedoch nur die erste Schicht 49 . Die Verfassung des Bundesstaates kann jedoch ohne die kulturwissenschaftliche Perspektive ebensowenig erschlossen werden wie die Kommunalverfassung oder wie kulturelle Regionen ohne jene Zusammenhänge, in denen die "kooperativen Verfassungsstaaten" der Welt oder auch Europas als Kulturgemeinschaft dank ihres kulturellen Erbes stehen. Juristische Texte geben lediglich erste Anhaltspunkte für Erziehungsziele und Orientierungswerte. So müssen beim juristischen Erziehungsziel "Toleranz" etwa Klassikertexte wie Lessings "Nathan" als Bestandteil kultureller Öffentlichkeit, als Vehikel personaler Freiheit mitgelesen werden 50 , beim Erziehungsziel "verantwortete Freiheit" und "Humanität" Texte von F. Schiller bis B. Brecht 51 . Nur so "wiederholt" sich die Sozialethik heute.
48 Vgl. m. w. N.: L. Grämlich, Abschied vom "vorverfassungsmäßigen Gesamtbild", DVB1. 1980, S. 531 ff. 49 Zum Versuch einer Exemplifizierung bezüglich des - umgrenzten - kommunalen Raumes s. P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, 1979, S. 38 ff.- Auch die Staatsaufgabenlehre hat sich des Kulturthemas jüngst verstärkt angenommen, vgl. etwa E. Wienholtz, Arbeit, Kultur und Umwelt als Gegenstände verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, AöR 109 (1984), S. 532 ff.; P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 228 ff., 238 ff. Aspekte einer verfassungsstaatlichen Staatsaufgaben lehre vom Verf. in: AöR 111 (1986), S. 595 ff.- Speziell ergiebig: G. Olzog/M. Purzer (Hrsg.), Handbuch der Kulturförderung in Bayern, Architektur, Denkmalpflege, Bildende Kunst, Fernsehen, Film, Hörfunk, Literatur, Musik, Publizistik, Theater, 1997; speziell zum Thema "Denkmal" s. R. Alings, "Monument und Nation". Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal..., 1996. 50 Vgl. meinen Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: (zweite) FS H. Huber, 1981, S. 211 (229).- S. jetzt die Kultur-Artikel im Vertrag von "Maastricht" (insbes. Art. 128 EGV). Aus der parallel dazu gewachsenen Lit. in Deutschland: G. Ress, Kultur und europäischer Binnenmarkt, 1991. S. noch unten Sechster Teil XI. 51 S. auch H. von Hentigs Plädoyer für die "allgemeine Bildung" (FAZ vom 27. Sept. 1980), die in der von "Wissenschaft erweiterten und geprägten Welt auch eine moralische Funktion" habe. Ebenso jetzt ders., Bildung, 1996.
IV. Der kulturwissenschaftliche Ansatz (Natur und Kultur)
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Daß die Verfassung, daß die Verfassungslehre damit nur als Teil eines kulturellen Ganzen erscheinen, schwächt nicht ihre Geltungskraft und relativiert auch nicht ihren Zuständigkeitsbereich. Es läßt vielmehr ihre tieferen Wurzeln erkennen, die der staatsrechtliche Positivismus nicht sehen konnte und die das naive Wertdenken glaubte, einfach "abzubilden" oder auch postulieren zu können. Die Arbeit des Juristen wird dadurch nicht leichter, seine Verantwortung intensiviert sich. Er muß selbstbescheidener sein, doch zugleich mit Hilfe der Nachbarwissenschaften weiter und tiefer sehen. Diese Anstrengung könnte sich aber letztlich als lohnend erweisen um des gemeinsamen Ausbaus der Verfassung des Pluralismus willen. Selbst dort, wo juristische Texte reichlich vorhanden sind, bedarf es der Erschließung der kulturellen Ambiance, der kulturgeschichtlichen und kulturpolitischen Zusammenhänge "hinter" oder "vor" den Texten. Gerade die "Verfassung des Pluralismus", gerade die Verfassung der offenen Gesellschaft bedarf einer Grundierung durch, wenn man will: "Werte", durch "kulturelle Kristallisation" und "Objektivationen", sie bedarf der Orientierung an Werten als Direktiven, einer Rahmenordnung u.a. Menschliche Identitätsfindung wird möglich nur durch Freiheit und Einbindung, "Lebenschancen" und "Ligaturen" (R. Dahrendorf), "kulturelles Erbe" und Zukunft. Ein (Kultur-)Volk bedarf der identitätsbestimmenden und -sichernden Richtpunkte bzw. "Werte", ebenso (wie) der einzelne Bürger 52 . Ohne sie werden Freiheit und Pluralismus buchstäblich leer, gegenstandslos und "bodenlos". Dabei lassen sich "kulturelle Wachstumsprozesse" (Kolakowski) ebenso beobachten, wie wir "Wachstumsprozesse" der Verfassung kennen. Das Kulturverfassungsrecht ist ein Hauptge53
genstand dieser Vorgänge . Die Erschließung der kulturellen Hintergründe ist kein Aufgeben des "Genuin-Juristischen", keine Kampfansage an die Eigenständigkeit des Normativen und die Identität des Juristen. Seine handwerklichen Kunstregeln behalten ihr - relatives - Recht, der Jurist behält seine - relative - Kompetenz, die Rechtsbzw. Verfassungsnormen behalten ihren Eigenwert. Ins Licht gerückt wird nur der je immer schon bestehende, selten aber genügend bewußte kulturelle Kontext der Verfassungsnormen und ihrer Interpreten. Er grundiert je immer schon den Interpretationsvorgang und den Interpretationsgegenstand, aber auch den Interpretierenden 54. 52
S. etwa Karl Popper, "Freiheit vor Gleichheit", in FAZ vom 4. Dezember 1976: "Ich glaube nicht, daß eine Gesellschaft ohne Wertvorstellungen lebensfähig ist. Es kommt aber sehr darauf an, was für Wertvorstellungen man hat." 53 Vgl. Nw. oben Dritter Teil. 54 Kräftige Impulse erfuhr die kulturpolitische Diskussion europa-, ja weltweit durch die (freilich oft polemischen) Auftritte des damaligen französischen Kulturministers J.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Ein Wort zu "Natur und Kultur". Die Wissenschaften bilden heute das Forum aller Nationen und aller Generationen: der in Raum und Zeit einen Menschheit. Sie kehren auf eine Weise alle gemeinsam zur Natur zurück (so anders diese geschichtlich geworden sein mag): in Gestalt des ihnen gemeinsamen Auftrags der Verantwortung vor der Schöpfung. Diese Schöpfung ist aber Natur und Geist in einem: eben Kultur 55 .
Lang. Das Positive an Langs Reden und Wirken sollte nicht übersehen werden. Es besteht in einer Sensibilisierung der breiteren Öffentlichkeit (und mittelfristig auch der Wissenschaften) für die Sache Kultur, in einer Verstärkung der Bemühungen um das "Kulturelle Europa" in seiner Identität und Vielfalt, seinem "Erbe" und seiner Zukunft (innerhalb und außerhalb von Europarat und EU) sowie in einer Herausforderung kultur-(verfassungs- und verwaltungs)rechtlicher Fragestellungen. Einzelne Stichworte Langs sind hier durchaus beachtenswert; vgl. das Sitzungsprotokoll des französischen Senats vom 8. Dez. 1981, S. 3872 ff.: "La culture et le travail sont indissolublement associés." "La culture ... n'appartient à personne!" "Conception élargie de la culture." Ein Teilabdruck von Jack Langs "Brandrede" in Mexiko findet sich in FAZ vom 14. August 1982, S. 19 mit Passagen wie: "Kultur ist kein Privatbesitz", "sie geht das ganze Volk an". 55 Das zeigt der Band: R. Brinkmann (Hrsg.), Natur in den Geisteswissenschaften I, 1988: s. hier den von H. Hofmann aufgegriffenen Satz von G. Lukacs "Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie" (S. 158 f.), H. Herrmanns "Geschichtlichkeit des Menschen", die Natur wie Kultur umgreife (S. 72) und dessen These, Natur erscheine nicht als "Natürlichkeit", sondern als deren "Uberformung", als "Kultur" (S. 74). Es zeigt sich in D. Willoweits Qualifizierung des "Rückgriffs auf die Natur" als eine "Konstante des Rechtsdenkens" (S. 57) und in O.F. Bollnows Wort, die Welt des uns Verständlichen sei die Welt der Kultur (S. 79) - Naturwissenschaften geht es ja um Erkenntnis der Natur, also um ihr Verständlichmachen! Über die Rechtswissenschaften hinaus muß der Naturbegriff "für die Zwecke der menschlichen Gesellschaft entschieden um die kulturelle Dimension erweitert werden" (so D. Willoweit, S. 57). O. F. Bollnows schöne Wendung vom "brüderlichen Verhältnis zur Natur" (S. 87, unter Verweis auf A. Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" und gewiß auch K.M. Meyer-Abichs "Frieden mit der Natur" zu verdanken) schlingt um diese ein (auch emotionales) spezifisch kulturelles Band. Eine Verfassungslehre, die das Thema "Natur" kulturwissenschaftlich aufgreift, ist von hier aus die naheliegende Konsequenz.- Der Band zeigt eine - ebenfalls kulturwissenschaftlich zu begründende - Einheit der Wissenschaften aber auch darin, daß alle Disziplinen ihre "Klassiker" (und "Gegenklassiker") haben und viele sogar ihre gemeinsamen, wobei die Aussagen von Künstlern ebenso einzubeziehen sind wie die von Dichtem und Naturwissenschaftlern etc.: Klassikertexte als mögliche Kristallisationspunkte für "Natur" finden sich bei A. Dürer und Lessing (S. VII), bei Goethe (S. IX, 72, 82, 117), bei Platon (S. 42, 93) und Aristoteles (S. 95), bei Hegel (S. 3, 99) und I. Kant (S. 15, 55, 63 ff.), bei H. Grotius (S. 54 f.) und J.-J. Rousseau (S. 60 ff, 75), bei Pestalozzi (S. 68 ff.) und W. v. Humboldt (S. 67, 71, 99). Diese Einheit beglaubigt sich nicht nur in Namen und den mit ihnen verbundenen Gedanken, sie stellt sich im langen Atem der Geistesgeschichte auch in "Gegensätzen und Übereinkünften" (W. Jens, S. IX), in Korrelatverhältnissen zwischen Bezugsgrößen her, in deren Spannungsfeld sich das Streitgespräch zwischen den "Riesen" (sprich "Klassikern") entfaltet: neben dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, Gott und Mensch, Wissenschaft und Glaube, Subjekt und Objekt, ratio und emotio gehört gewiß auch das von Natur und
IV. Der kulturwissenschaftliche Ansatz (Natur und Kultur)
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Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit müssen als im natürlichen Ursprung schon gesetzt angesehen werden, so sehr sie erst "kulturell" - durch Anstrengung und Leistung - immer wieder zu erlangen sind und so leicht sie verloren gehen. So sehr zur Freiheit erst "erzogen" werden muß (Menschenrechte als Bildungsziel) und so sehr alle "natürliche" Freiheit in einem tieferen Sinn kulturelle Freiheit ist, eine Argumentation "allein" aus dem Kulturellen wäre gedanklich gefährlich: es bedarf der Natur als Anfang, als legimitierendes Reservepotential. "Kultur" erhält ihre geschichtlich immer wieder bewiesene Schöpferkraft wohl erst aus ihrer Dialektik im Verhältnis zur "Natur". Und alle Einsicht in die Kulturgeprägtheit der Natur (auch der des Menschen) darf nicht dazu führen, den möglichen und immer wieder notwendigen, höchst fruchtbaren "Rückgriff' auf die Natur abzuschneiden. Wichtig ist, daß Natur und Kultur in ihrem variationsreichen Zusammenhang gesehen werden. Neuere Versuche, von "Naturstaat" zu sprechen, gehen freilich zu weit. Sie bringen weder theoretischen noch dogmatischen Gewinn: Im Verfassungsstaat genügt es, den "Naturschutz" als Kulturschutz schon textlich auszuweisen. Die auch heute unabdingbare "vorstaatliche" Tradition der Natur würde durch eine "Naturstaatsformel" verdeckt. Zugleich würde eine Naturhaftigkeit des Gemeinwesens suggeriert, die gegen notwendige Kritik immunisiert 56 . Zuletzt drei Thesen: (1) Naturschutz ist heute Kulturschutz, er bildet eine spezifisch kulturelle Staatsaufgabe. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat diesen Aspekt z.T. schon erkannt, indem er in Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern ("Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung") den Zusammenhang von Natur- und Kulturschutz hier schon systematisch zum Ausdruck bringt (vgl. auch Dritter Hauptteil, 2. Abschnitt Verf. Bayern, Art. 128 bis 141 ebd.; Art. 59 a Verf. Saarland sowie Art. 7 Abs. 2, 29 a Verf. NRW; Art. 73 a Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 11 a, 26 Ziff. 5 und 65 Verf. Bremen sowie Präam-
Kultur hierher. Heute stellt es sich in dramatischer Weise als Grundsatzfrage an den Juristen. 56 Auch H. Hofmanns suggestive Eingangsthese "Geschriebenes Verfassungsrecht ist im Ursprung Naturschutzrecht" (S. 151) will dies wohl nicht. Das schließt nicht aus, i.S. von P. Saladin u.a. "Eigenrechte der Natur" zu diskutieren, und hier zeigt die staatsund rechtsphilosophische Rolle der "Natur" wirklich eine neue Seite: nicht mehr nur Rechte des Menschen von Natur aus, sondern solche der Natur selbst! - Zu "Natur und Kultur": H. Maier, Eine Kultur oder viele?, 1995, S. 9 ff. Aus der Lit. auch: E.-R. Hönes., Der Kulturdenkmalbegriff im Denkmalschutzrecht, DVB1. 1984, S. 413 ff.; T. Leidinger, Ensembleschutz durch Denkmalbereichssatzungen der Kommunen, 1993; F. Hammer, Die geschichtliche Entwicklung des Denkmalrechts in Deutschland, 1995; R. Alinçs, "Monument und Nation". Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal..., 1996.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
bei (Abs. 5) Verf. Hamburg; s. auch Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992: Schutz "der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft"). (2) Rechtlicher Naturschutz ("hard law") hat sein unverzichtbares Korrelat im Naturschutz als Erziehungs- und Bildungsziel ("soft law"). Bayern war und ist hier vorbildlich, indem es als "andere Seite" des Rechtlichen das Erziehungsziel "Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt" normiert hat (Art. 131 Abs. 2 n.F.; s. auch Präambel Verf. Aargau: "Die Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt wahrzunehmen"), so wie Toleranz als Erziehungsziel als "andere" Seite des Art. 2 Abs. 1 GG ("Rechte anderer") auszumachen ist. (3) Natur- bzw. Kulturschutz ist eine Aufgabe der Menschheit in bezug auf die Menschheit in der räumlich-globalen und der zeitlichen Generationendimension: daher Naturschutz bzw. Kulturschutz als "Menschheitsschutz". Neuere Verfassungstexte thematisieren den Generationenschutz schon (z.B. Art. 141 Abs. 1 Verf. Bayern: "auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen"). (Bereits E. Burke hat die Nation als die Gesamtheit der Engländer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft definiert; sein Ansatz ist heute ins Universale zu weiten.) Damit sind Natur und Kultur im Menschen zusammengeführt. Ein geglückter Textentwurf (Bundesverfassungsentwurf Kölz/Müller (3. Aufl. 1995)) sagt in Art. 40 Abs. 1: „Die Kultur trägt dazu bei, dem Menschen seine Beziehung zu Mitmenschen, Umwelt und Geschichte bewußt zu machen". Die Verfassungslehre kann bei alldem gerade heute auf Verfassungstexte verweisen, die das Problem präzise benennen: unter dem Stichwort des Kulturgut- bzw. Generationenschutzes.
V. Die Verfassung als kultureller Generationenvertrag zum Schutz von Kulturgütern der Nachwelt ein Verfassungsrecht für künftige Generationen 1. Problem Die Sensibilisierung für die Dimension der Zeit geschieht in dieser Verfassungslehre nicht allein im Zeichen der Verarbeitung oder gar Stimulierung von Wandel, sondern umgekehrt auch im Zeichen der Bewahrung eines bestimmten kulturellen "Erbes" im Interesse späterer Generationen 57. Ihnen soll die überkommene politische Gestaltungsfreiheit erhalten bleiben: Ihre Demokratie 58 , ihr
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Selbstbestimmungsrecht, ihre Grundrechte könnten ja in der Substanz getroffen sein, wenn wir, die heutige Generation, via Staatsverschuldung über Gebühr auf Kosten der späteren lebten; ihre Umwelt und damit Bedingungen ihrer Menschenwürde, ihre Natur und Kultur, ihre Humanität und Freiheit wären existentiell gefährdet, wenn die Lagerung von Atommüll unabsehbare Gefahren für ihr Leben zur Folge hätte 59 . Aus einer "Vorwirkung" von Verfassungsrechtsgütern, deren Adressaten noch ungeboren sind 60 , ist eine Verfassungspflicht des und im Heute zu folgern, die Vielfalt von Natur und Kultur für die Nachwelt zu bewahren, fortzuentwickeln und ihr den entsprechenden Rahmen zu geben. Mit dem vielberufenen Schutz des "Erbes der Menschheit" ist auch verfassungsstaatlich ernst zu machen: mit der Kraft eines Verfassungsauftrages. Die Verfassungstheorie ist für den natürlichen und kulturellen Generationenschutz in der Zeitdimension noch wenig gerüstet. Erst in unseren Tagen wird das "kernenergiespezifische Risikopotential in der Zeit" begriffen. Es erwächst aus der Gefahr möglicher Spätfolgen gegenwärtiger Radioaktivitätsbelastungen, durch die Langlebigkeit radioaktiver Abfallstoffe und durch das zeitlich nicht mehr überschaubare "Risikopotential der Nuklearentsorgung" 61.
57 Bemerkenswert F. Vilmar, in: Die neue Gesellschaft 28 (1981), S. 458 ff, der an die erste Stelle der Wertetabelle die Sicherung der menschlichen Existenz gestellt sehen will und eine neue "Ethik der Erhaltung, der Bewahrung, der Vergütung und nicht des Fortschritts und der Vervollkommnung" fordert. S. auch H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1980, der die Prüfung verlangt, was die Natur an menschlicher Erfindungskraft noch ertragen könne und eine Ethik der "Femverantwortung" fordert. 58 Der Zusammenhang zwischen Staatsschulden und den Lebensbedingungen der Demokratie ist - im Anschluß an J. Buchanan und R. Wagner - behandelt bei G. Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980, S. 9, 11. Aus der allgemeinen Lit.: W. Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993; J. Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive.., FS Friauf, 1996, S. 705 ff. 59 Die "Sache Kultur" ist intensivierter Ausdruck erfüllter, betätigter, nicht zuletzt erarbeiteter personaler Würde. Sie ist weder für den Staat "verfügbar" noch für die Menschenwürde nur instrumental zu verstehen. 60 Die "Ungeborenen" werden immer mehr zum Adressaten der Literatur und des Rechts: vgl. etwa Louise Weiss' Botschaft "an die Ungeborenen" (1980) bzw. das Votum des BVerfG zugunsten des ungeborenen Lebens in der § 218-Entscheidung (E 39, 1)! Vgl. aber auch BVerfGE 88, 203 mit abw. Meinungen. 61 Dazu C. Degenhart, Kernenergierecht, 1981, S. 162 ff, mit einer Argumentation aus Art. 2 Abs. 2 GG. Zum "Schutz der Nachwelt" durch das GG und den "zeitlichen Dimensionen staatsrechtlicher Verantwortung" grds. H. Hofmann, Rechtsfragen atomarer Entsorgung, 1981, S. 259 ff, 262 ff. S. auch R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995. 41 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Staatsverschuldung erscheint in der Zeitachse gesehen als eine Art versteckter Besteuerung der künftigen Generationen. Deren Schutz müßte im Rahmen des Übermaßverbots "vorwirken": Die heutige Generation darf nicht auf Kosten der nächsten im Übermaß leben. Gewiß kann Staatsverschuldung heute auch Ermöglichung und Sicherung der Existenz künftiger Generationen sein, etwa bei sog. "Zukunftsinvestitionen". Aber das ist nur die eine Seite. Von einem bestimmten Punkt an schlägt Staatsverschuldung von der Leistung für die Zukunft in eine ("hypothekarische") Belastung der Zukunft um 6 2 . M.E. kann nur ein tieferer, eben der kulturwissenschaftliche Ansatz die "Nachwelt" schon heute so in den Gesichtskreis und Verantwortungsbereich des Verfassungsstaates und seines Rechts, bzw. der Verfassungspolitiker und -Interpreten einbeziehen, daß die materiellen und ideellen Lebensvoraussetzungen dieser Nachwelt gesichert werden. Im Treuhandgedanken, kombiniert mit der Menschenwürde, steckt die ethische (Selbst-)Verpflichtung zum Schutz späterer Generationen. "Verfassung" ist von vorneherein auch im Blick auf und in Verantwortung für spätere Generationen des verfaßten Volkes zu denken, wie immer dies rechtstechnisch geleistet wird (etwa über den Vertrag zugunsten Dritter, der Ungeborenen). Die Verfassung von heute trägt schon etwas von der Verfassung der Zukunft in sich. Sie hat Verantwortung für diese eine Verfassung. Befaßte sie sich nur mit dem Heute, rechtfertigte sie sich nur vor dem Heute, wäre dies ebenso egozentrisch wie fragmentarisch. Mit der "Offenheit der Verfassung" muß auch insoweit ernst gemacht werden, als in der Gegenwart die Garantien für eine offene Zukunft geschaffen werden: dazu gehört das Ringen um Grenzen der Staatsverschuldung und der Schutz späterer Generationen vor unberechenbaren Atomrisiken. Offene Zukunft und offene Gesellschaft gehören zusammen. 2. Insbesondere: Umweltschutzfragen im Atomzeitalter "Verfassung als Vertrag", der sich hic et nunc, aber auch in der Zeitachse ständig erneuert 63, ist der erste Gesichtspunkt. In Polen jüngst praktiziert, ist
62
Treffend H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 130, später in: dersBeiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 129 (im Blick auf Budgetrecht und Staatsschulden): "Ebenso ist eine Belastung der zukünftigen Generationen, die die Freiheit des politischen Lebens für sie in Frage stellen würde, als verfassungswidrig zu betrachten". 63 A. Renans "plebiscite de tous les jours" ist zu sehr von der Volkssouveränität her gedacht, es sollte in das Vertragsdenken umgewandelt werden: i.S. eines ständig erneuerten Gesellschaftsvertrages, der in Art. 1 GG (Menschenwürde) wurzelt und im
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Verfassung als Vertrag vielleicht eine "kulturelle Invariante" i.S. Kolakowskis 64 , eine Als-Ob-These, um in Gemeinschaft zu leben und zu überleben 65 . Der so dynamisiert begriffene Generationenvertrag, aus der Sozialversicherung 66 ein wohlbekanntes "Raster" 67 , dürfte gute Argumente aus J. Rawls für unsere Zeit erneuerter Lehre vom Gesellschaftsvertrag erhalten 68. Vertragspartner ist - vorweggenommen - auch die kommende Generation, jedenfalls muß mit dieser "Fiktion" gearbeitet werden 69 . So sehr man versuchen darf, Grenzen der Verfassungsänderung zu konstruieren, um diese spätere Generation zu binden (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG), so sehr muß dieselbe Generation freigestellt bleiben, darf man sie also nicht durch ein Übermaß an Umweltgefährdung belasten, muß es eine verfassungsstaatliche Selbstbindung (auch via
allgemeinen Wahlrecht eine Ausprägung besitzt; vgl. auch R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 46 f. 64 Vgl. auch L. Kolakowski, In der Sackgasse der Kulturanthropologie, in: Merkur 1980, S. 1188 ff. 65 Zur Verfassung als Vertrag mein Augsburger Vortrag von 1978: Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff; s. auch P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, in: AöR 104 (1979), S. 345 (372 ff.).- Gesellschafts- bzw. Generationenvertrag ist eine verfassungsrechtlich ebenso notwendige wie hilfreiche "Fiktion", so sehr sich gewiß verfassungsvertragliche Momente gerade heute auch in der Realität finden. Jedenfalls muß sich die heutige Generation in Grenzen einer Selbstbindung im Blick auf die künftige unterwerfen. Das Vertragsmodell kann dabei Schutz gegen Willkür bieten. 66 Wie nahe die Zukunft auch im Recht sein kann, zeigt ein Blick auf die Sozialversicherung und die drohende Überlastquote. Sie muß schon heute mit Zahlen rechnen, die sich auf das Jahr 2030 beziehen: denn dann hat die kommende Generation die jetzige rentenmäßig zu versorgen. Schon heute entstehen zahlenmäßig Größen, an denen sich Politik und Recht zu orientieren haben, auch wenn sie rechnerisch in der Zeitachse ständig revidiert werden müssen. Der Generationenvertrag ist ein Gesellschaftsvertrag "im Laufe der Zeit", ein dynamisierter Gesellschaftsvertrag. Er bezieht jedenfalls die ganze Tiefe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Volkes ein und zeigt, daß der Zeitfaktor Grundprobleme der Verfassungslehre existentiell bestimmt: s. auch W. Schmitt, Die Aufhebung der Sicherungsgarantie "Solidarität der Generationen" durch die Sanierung der Kranken- und der Rentenversicherung, in: DVB1. 1979, S. 873 (875 ff.); ferner: T. Maunz/H. Sehr aft, in: Die Sozialversicherung der Gegenwart, Jahrb. Bd. 7 (1968), S. 5 (9). Zur Figur des "Generationenvertrags" auch BVerfGE 53, 257 (292 f., 295); s. auch E 53, 164 (177): keine Überforderung der "arbeitenden Generation". 67 Vgl. bereits K. Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: ders, Wissenssoziologie, 2. Aufl. 1970, S. 509 ff. 68 J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, bes. S. 27 ff. 69 Der Jurist arbeitet auch sonst mit Fiktionen, vgl. zur "logischen Sekunde" etwa F. Wieacker, in: FS Erik Wolf, 1962, S. 421 ff.; er hält in Brüsseler EG-Gremien die "Uhr" an. S. auch SV Geller, Rupp, BVerfGE 31, 334 ff.; P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 93 f.
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Grundpflichten) des und im Heute geben. Konkret: Unberechenbare Atomrisiken 70 für spätere Generationen dürfen nicht eingegangen werden. Dieser verfassungs- bzw. vertragstheoretische Ansatz erfährt eine Grundierung und "Überhöhung" vom Kulturellen her. Verfassung muß Kulturgüter tradieren - dazu gehört auch die Natur! In einer Reihe von Verfassungen stehen Natur und Kultur nicht zufällig schon textlich in einem denkbar engen Zusammenhang71. Natur und Kultur sind vom Menschen gestaltete wechselbezügliche Güter; beide gehören sachlich zusammen - geistes- wie sozialgeschichtlich. Dieser Zusammenhang offenbart sich in unseren Tagen, angesichts der Bedrohung und "Knappheit" der Natur, auf neue Weise: Der Schutz der Natur bedeutet heute zugleich Schutz der Kultur; natürliche und kulturelle Umwelt sind insofern eine Umwelt 72 . Der Schutz der Natur als "Kulturgut" wird in der Generationenfolge wesentliche Aufgabe des Kulturstaates (vgl. Art. 3 Verf. Bayern, Art. 1 Verf. Sachsen). Zugespitzt: Natur steht unter Denkmalschutz, was die
70 BVerfGE 49, 89 (137 ff.) hält zwar auch bereits Regelungen, deren Vollziehung erst zu erheblichen Grundrechtsgefährdungen führen kann, fur potentiell verfassungswidrig (141 f.). Die Entscheidung nimmt aber das sog. "Restrisiko" jenseits der "Schwelle praktischer Vernunft" (143) in Kauf, weil ein Schadenseintritt nach dem Stand von Wissenschaft und Technik "praktisch ausgeschlossen" erscheine (143). Dieses Restrisiko bezieht sich indes nur auf die Genehmigung der einzelnen Kraftwerksanlagen - die (ungeklärte) Frage der Entsorgung wurde nicht entschieden, vielmehr unter Hinweis auf ein "Nachfassen" des Gesetzgebers z. Zt. ("bisher") offen gelassen. Die - irreversible! - Belastung der späteren Generationen auf viele Jahrhunderte mit unserem Atommüll um einiger Jahrzehnte Wachstum willen läßt sich schwerlich rechtfertigen, wenn man Verfassung als (auch) Generationenvertrag betrachtet, den Nachgeborenen eine Abwägung ihres eigenen Risikos aber verbaut wird, vgl. R. Spaemann, Technische Eingriffe..., in: Scheidewege 9 (1979), S. 476 (488 ff.). 71 Vgl. Art. 150 Abs. 1 WRV: "Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates". Ähnlich Art. 141 Abs. 1 S. 1 Verf. Bayern und Art. 40 Abs. 1 S. 3 Verf. Rheinl.-Pfalz, 34 Abs. 2 Saarland. In dem im übrigen fast gleichlautenden Art. 62 Verf. Hessen ist der Begriff "Natur" durch "Kultur" ersetzt! Art. 18 Abs. 2 Verf. NRW schützt die Denkmäler der Kultur, der Geschichte und der Kunst, die Landschaft und die Naturdenkmale, Art. 36 Abs. 4 Verf. Sachsen-Anhalt: "Das Land sorgt ... für den Schutz und die Pflege der Denkmäler von Kultur und Natur".- Art. 9 Abs. 2 Italien (1947): "Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation". S. noch den Blaubeurener-Band I, "Natur in den Geisteswissenschaften" I, hrsgg. von K. Brinkmann, 1988, meine Besprechung in AöR 116 (1991), S. 271 ff. 72 Prägnant daher Art. 24 Abs. 1 S. 1 Verf. Griechenland von 1975: "Der Schutz der natürlichen und kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates".- Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg (1992): "Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft...".
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Bewahrung ihres Substrats als Lebensbedingung für die Nachwelt betrifft 73 ; es gibt einen Besitz, "der jenem der Freiheit voraufliegt: die Integrität jener Natur, in deren ökologischer Nische Leben und Freiheit selbst angesiedelt sind" (R. Spaemann)74. Der Verfassungsstaat hat sich des jeweils für ihn "Wesentlichen" anzunehmen. Zum "kulturellen" und "natürlichen" Erbe gehört auch die Vermittlung von Lebensraum bzw. Umwelt in der Generationenfolge 75. In der freiheitlichen Demokratie hat das Volk keine beliebige Verfügungsmacht über das - ihm überkommene und überantwortete - Erbe. Es besitzt nur eine Art "Treuhänderschaft" 76 über die Güter von Natur und Kultur: Es hat sie an die Nachwelt weiterzureichen; diese soll ebenfalls politische und kulturelle Freiheit und Demokratie leben können 77 . "Volk" ist auch in der Zeitdimension eine pluralistische Größe. Daraus erwachsen verfassungsrechtliche Bindungen und Verantwortlichkeiten. Auf der Ebene der Grundrechte wirken Begrenzungen in doppelter Hinsicht. Grundrechte wie Art. 2 Abs. 2 GG (Schutz von Leben und Gesundheit) schüt78
zen in "Vorwirkung" schon jetzt die Nachgeborenen
- so wie Art. 2 Abs. 2
Zum "vergessenen Faktor Zeit" bei der Ausbeutung der Rohstoffe der Erde ohne Zeithorizont: H. Gruhl, Ein Planet wird geplündert, 1978, S. 91 ff. Kritisch zur "ÖkoKlage" aber vor allem A. Möhler, Der Traum vom Paradies, 1978. 74 R. Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: Scheidewege 9 (1979), S. 476 (496). 75 Vgl. P. Häberle, VVDStRL 38 (1980), S. 340 f. (Diskussion).- Auch läßt sich vom Verfassungsbegriff her in einem spezifischen Sinne argumentieren: Verfassung hat die Aufgabe, gegen staatlichen und gesellschaftlichen Machtmißbrauch zu schützen. Dieser Gedanke ist in die zeitliche Dimension zu erstrecken: Die noch ungeborene Generation, das "werdende Volk" ist schon heute Gegenstand des verfassungsrechtlichen Schutzanspruches. Mindestens im kulturwissenschaftlich erweiterten Ansatz läßt sich so argumentieren. Es besteht eine Art "Lebensgarantie" für das Volk in der Generationenkette. Als Kulturvolk kann es nur in der Tradition von Kultur fortbestehen. 76 Plastisch verbindet die Präambel der Verfassung Baden (1947) Geschichte, Gegenwart und Zukunft im Treuhandgedanken: "... hat sich das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Überlieferung beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten, folgende Verfassung gegeben". Allgemein zur Zeitdimension in Präambeln meine Bayreuther Antrittsvorlesung Präambeln im Text und Kontext des Verfassungsstaates, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ff. sowie Vierter Teil IV. 77 Nicht als ob hier einer "naiven" Status-quo-Garantie von Natur und Kultur das Wort geredet würde. Beide sind viel zu wandelbar, müssen sich aber gleichwohl in M indestvoraussetzungen behaupten. 78 Zur "grundrechtssichernden Geltungsfortbildung": P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (69 ff.).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
GG im Rahmen des Streites um § 218 StGB bereits die Ungeborenen sichert 79. Von der Gegenwart aus gedacht verstärkt sich dieser Schutz durch die Grundpflichten: Dem Bürger von heute - in seiner individuellen Biographie der kulturellen seines Volkes verbunden - erwächst eine Grundpflicht (aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG!) zum Respekt vor Leben und Gesundheit des Mitbürgers von mor80
gen . Diese vertragstheoretisch fundierte Grundpflicht bleibt nicht nur moralisch-rhetorischer Natur, sie wird zur juristischen Pflicht. Die buchstäblich existentielle - natürliche und kulturelle - Solidarität der Bürger eines Volkes ist nicht nur eine Sache des und im Heute, sie ist auch Sache in der Generationenfolge. Die punktuellen derzeit ständig wachsenden Denkmal- und Naturschutzkompetenzen des Gesetzgebers (z.B. Art. 74 Ziff. 24, 75 Ziff. 3 GG; Art. 141, 83 Abs. 1 a.E. Verf. Bayern; nachdrücklich Art. 34, 39 Verf. Brandenburg, Art. 10 f. Verf. Sachsen, Art. 30, 31 Verf. Thüringen) vermögen Formulierungshilfe zu leisten. Im Lichte eines materiellen (positiven) Kompetenzverständnisses81 betrachtet, will die Verfassung Denkmal-, Landschafts-, Natur- und Umweltschutz als bleibende und dauernde Kultur-Aufgaben garantiert und wahrgenommen wissen. Eine unberechenbar durch Atommüll gefährdete Umwelt verbietet sich daher. Zusammengefaßt ergibt sich, daß der Umweltgefährdung künftiger Generationen schon heute materiale Grenzen gezogen sind: von der Kultur der Verfassung aus. Wo sie im einzelnen zu ziehen sind, mag umstritten bleiben. Daß sie aber grundsätzlich gezogen werden müssen, dürfte evident sein. Der Ewigkeitsanspruch des GG in Art. 79 Abs. 3 GG hat eine Umkehrung in diesen neuen Grenzen für das Handeln im Verfassungsstaat; sie gibt ihm eine neue Legitimation. Im folgenden sei der Generationenaspekt grundsätzlich in die Verfassungslehre integriert.
79 Vgl. BVerfGE 39, 1; 88, 203.- Eine Argumentationshilfe liegt auch in Art. 125 Abs. 1 S. 1 Verf. Bayern: "Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." Seine Streichung wird heute (1997) in Bayern diskutiert (wegen der Behinderten). 80 S. auch den Appell an das "Generationsgewissen" bei H. Gruhl, Ein Planet wird geplündert, 1978, S. 231 ff. 81 Vgl. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (89 ff.), später in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 329 (360 ff.); P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 468 ff., 618, 666 ff.; C. Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, in: Der Staat 11 (1972), S. 161 ff.; R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 54 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 525.
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3. Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen - Die "andere" Form des Gesellschaftsvertrags: der Generationenvertrag a) Elemente einer Bestandsaufnahme Die Frage nach einem Verfassungsrecht für künftige Generationen 82 kann in einem ersten Schritt aus den Verfassungstexten - als "Literatur" - beantwortet 82 Staatsverschuldung und Entsorgung des Atommülls wurden schon 1983 vom Verf. im Horizont der Generationen als Problembereiche von "Zeit und Verfassungskultur" ausgemacht. In der Schweiz folgte der übergreifende Entwurf von P. Saladin und A. Zenger. "Rechte künftiger Generationen" (1988), und seitdem hat das Thema auf vielen Feldern Aktualität gewonnen: (P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 271 ff: "Die Idee von Eigenrechten der Natur und der künftigen Generationen". S. auch den eigenen Abschnitt "Die Rechtsstellung künftiger Generationen", in: G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 249 bis 252, oder einen Kommentar wie in FAZ vom 13. April 1996, S. 1: "Die Renten-Lüge: Vor bald vierzig Jahren ist der Generationenvertrag in Geltung gesetzt worden"... "Nach kaum mehr als der Zeitspanne einer Generation steht dieser Vertrag zur Disposition". Auch das BVerfG arbeitet mit dem Generationenvertrag, vgl. E 51, 1 (27) für die Rentenversicherung; E 82, 60 (80) im Blick auf das Alterssicherungssystem; s. auch BVerfGE 88, 129 (136 f.): "...daß der Staat zur Pflege der freien Wissenschaft und ihrer Vermittlung an die nachfolgende Generation..." (s. schon E 35, 79 (114 ff.)). In der Lit. ist der "Generationenvertrag" ein oft gebrauchter Topos, z.B. bei O. Depenheuer, Wie sicher ist verfassungsrechtlich die Rente?.., AöR 120 (1995), S. 417 (429); H. Lecheler, Schutz von Ehe und Familie, HdbStR Bd. VI (1989), S. 211 (258 f.); W. Zeidler, Ehe und Familie, HdBVerfR 1. Aufl. 1983, S. 555 (589, 603); H. Schüller, Die Alterslüge. Für einen neuen Generationenvertrag, 1996. 1989 erschien ein Aufsatz über "Gerechtigkeit zwischen den Generationen" (H. Kleger, in: P.P. Müller-Schmid (Hrsg.), Begründung der Menschenrechte, 1986, S. 147 ff; s. auch W. Buchholz, Intergenerationale Ressourcen und erschöpfbare Ressourcen, 1984). Schon gibt es in Frankreich in der Regierung A. Juppé (1995) (vgl. FAZ vom 20. Mai 1995, S. 2) eine Ministerin für "Solidarität zwischen den Generationen", im gleichen Jahr erscheint ein Buch über "Gerechtigkeit zwischen den Generationen" (M Brumlik, 1995; s. auch C. Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenveranwortung, 1989). Wir lesen aber auch: "Droht ein Krieg der Generationen?" (so der Aufsatz von C. Stephan, in: Die Zeit Nr. 41 vom 6. Oktober 1995, S. 56). Man erinnere sich femer der Diskussion in den USA um ein (gescheitertes) amendment zur Begrenzung der Staatsschulden (1995) oder an die globale Umweltkontroverse. Der Streit um die demographische Zukunft des "deutschen Volkes" hat sich verschärft (vgl. z.B. M. Wingen, Was ist dem Menschen aufgegeben bei der Weitergabe des Lebens? Demographische Information und Bildung als Aufgabe, FAZ vom 21. Sept. 1995, S. 14; J. Schmid , Denken und forschen für übermorgen, Was Bevölkerungswissenschaft ist, kann und muß, FAZ vom 19. Dez. 1994, S. 8; K. Adam, Standort Seniorenheim, Mehrheit oder Zukunft: Worum es im Rentenstreit geht, FAZ vom 11. März 1996, S. 35; ders., Die alternde Gesellschaft ist keine Lustpartie, FAZ vom 3. Juni 1995 (Bilder und Zeiten); FAZ vom 21. Juni 1995, S. 15: "Alternde Gesellschaften belasten die Staatshaushalte, Die OECD empfiehlt Sicherung der Rente"; H. Birg, Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung werden Deutschland bald vor gewaltige Schwierigkeiten stellen, FAZ vom 10. Mai
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
werden. Eine vergleichende Textstufenanalyse vermag offen oder versteckt spezifisches Problemlösungsmaterial zu erarbeiten, vor allem Entwicklungslinien erkennbar zu machen, weil die Texte in einzigartiger "Anstrengung des Begriffs" einen in der Flut der Literatur und der Fülle sonstigen Materials be83
sonders' hohen "Verdichtungsgrad" aufweisen . (1) Ausdrücklicher Generationenschutz in neueren Verfassungen und Verfassungsentwürfen Die Verfassunggeber reagieren und agieren in ihren neuen Texten auf wichtige Grundfragen der Zeit. Das zeigt sich am Generationenschutz höchst augenfällig. Die einschlägigen Beispieltexte nehmen zu und sie treten systematisch an verschiedenen "Fundstellen" auf: von den Präambeln über das Umweltschutzverfassungsrecht bis hin zu anderen "Stellen", z.B. den Erziehungszielen. Eine relativ frühe Aussage findet sich in dem 1984 geänderten Art. 141 Abs. 1 Verf. Bayern: "Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist, auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen, der besonderen Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut". Vorausgegangen war schon die Urform der Präambel-Fassung des bayerischen Verfassunggebers von 1946: "...in dem festen Entschluß, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechts dauernd zu sichern...". Der neue Art. 20 a GG aus dem Jahre 1994 verschreibt sich dem Generationenschutz in Gestalt des neuen Staatsziels "Umweltschutz": "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen..." 84. Wieder einmal zeigt sich, daß und wie in der "Werkstatt Bundesstaat" Innovationen auf Länderebene später auf der Bundesebene rezipiert werden.
1996, S. 9. Zuletzt M. Spieker, Solidarität oder Rentenfrondienst, FAZ vom 31. Mai 1996, S. 11 : "...aber das Prinzip der Lebensstandardisierung kann nicht unantastbar sein, wenn es einen Rentenfrondienst der nachwachsenden Generation und eine Plünderung der Familien mit Kindern zur Folge hat"), ebenso die Frage, ob die Renten nur für die heutige Rentnergeneration "sicher" seien. 81 Zur Methode meine Arbeiten in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, passim, bes. S. 3 ff., 105 ff. sowie Fünfter Teil VI. 84 Aus der Lit.: D. Murswiek, Staatsziel Umweltschutz (Art. 20 a GG), NVwZ 1996, S. 222 ff.; H.H. Rupp, Ergänzung des Grundgesetzes um eine Vorschrift über den Umweltschutz?, DVB1. 1985, S. 990 ff.; M. Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20 a GG, DVB1. 1996, S. 79 ff.
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In der Schweiz finden sich zwar seit den schöpferischen Aufbruchsphasen der Kantonsverfassungen in den 80er Jahren Umweltschutzklauseln z.B. schon in den Präambeln 85. Doch erst der Privatentwurf für eine neue Bundesverfassung von A. Kölz/J.P. Müller (1984) 86 , 3. Aufl. 1995, wagte den PräambelPassus: "... im Bewußtsein der Verantwortung für die Bewahrung einer gesunden und lebenswerten Umwelt auch für die kommenden Generationen". Dies hat Schule gemacht87. Eine neue Wachstums- bzw. Textstufe des Generationenschutzes begegnet in den Verfassungen der neuen deutschen Bundesländer. So findet sich in Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg der Satz: "Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens ist Pflicht des Landes und aller Menschen"88. Ist damit die neue " Lebens"-¥oxme\ statt des Begriffs der "Generation" geschaffen, so verwendet Art. 40 ebd. den alten Generationenschutz in neuem Kontext: "Die Nutzung des Bodens und der Gewässer ist in besonderem Maße den Interessen der Allgemeinheit und künftigen Generationen verpflichtet". Art. 10 Abs. 1 S. 1 Verf. Sachsen (1992) normiert: "Der Schutz der Umwelt als Lebensgrundlage ist, auch in Verantwortung für kommende Generationen, Pflicht des Landes und Verpflichtung aller im Land". Demgegenüber kehrt die Verf. Sachsen-Anhalt (1992) zur Formel vom Schutz der "natürlichen Grundlagen derzeitigen und künftigen Lebens" zurück (Art. 35). Die ökologische Lebensklausel findet sich im Gegensatz zu der anthropologischen Generationenformel auch in Art. 12 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993). Hingegen spricht die Verf. Thüringen von 1993 schon in der Präambel von der "Verantwortung für zukünftige Generationen".
85 Z.B. Präambel KV Aargau (1980): "Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt wahrzunehmen". Ebenso Präambel KV Basel-Landschaft (1984), zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 bzw. S. 451. 86 Zit. nach JöR 35 (1985), S. 551. 87 Vgl. Art. 31 Abs. 1 S. 1 KV Bern (1993): "Die natürliche Umwelt ist für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten". Ebenso Art. 29 Abs. 1 S. 1 KV Appenzell A. Rh. (1995).- Generationenverantwortung klingt an in dem am 9. Juni 1996 dem Schweizer Volk zur Beurteilung vorgelegten neuen Art. 3i o c t , e s der Bundesverfassung, wonach der Bund dafür sorgen soll, daß die Landwirtschaft durch eine "nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag zur sicheren Versorgung der Bevölkerung leistet, zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft beiträgt...". 88 Die vielleicht tiefste Lebensschutz- bzw. Naturschutz- und Generationenschutzklausel prägt die Präambel Verfassungsentwurf Mecklenburg-Vorpommern von 1990 (zit. nach JöR 39 (1990), S. 399): "...erkennend, daß Menschen die Natur nie beherrschen können, vielmehr Teil des lebenserhaltenden Kreislaufs sind und es bleiben, wenn sie ihn nicht zerstören, sondern achten".
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Figuriert der Generationenschutz allgemein in Präambeln, spezieller im Umwelt verfassungsrecht, so beginnt er sich auch im Verfassungsrecht der Erziehungsziele einen neuen Platz zu erobern. Das ist nur konsequent: Denn in den Schulen muß für die Kinder pädagogisch beginnen, was der mündige Bür4
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ger rechtlich zu verantworten hat . Als Beispiel sei aus Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern das Erziehungsziel "Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen" genannt (ebenso Art. 2 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt). Verf. Sachsen verordnet in Art. 101 Abs. 1 das Erziehungsziel "Ehrfurcht vor allem Lebendigen": eine bemerkenswerte Rezeption des Klassikertextes von A. Schweitzer. Zuletzt sei Art. 24 lit. b Verf. Südafrika (1996/97) erwähnt: "to have the environment protected, for the benefit of present and future generations...", auch Art. 74 Abs. 1 Verf. Polen (1997). (2) "Immanente" Generationenschutzklauseln Im folgenden seien Verfassungstexte systematisiert, die erst im Lichte der Interpretation die Generationenperspektive erkennen lassen. Gemeint sind Normen zum Natur- und Kulturschutz, insbesondere kulturelles Erbe-Klauseln. Für diese Kategorie, in der vergleichenden Verfassungs lehre seit vielen Jahren zum Thema gemacht 90 , seien einige Beispiele aufgeführt: Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien (1947) lautet: "Sie (sc. Die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation". Art. 66 Abs. 2 lit. d Verf. Portugal (1976) verlangt im Kontext des Umweltschutzes "die Erhaltung der Natur und die Wahrung kultureller Werte von historischem oder künstlerischem Interesse zu gewährleisten". Im Osteuropa nach 1989 entwickelt die Idee vom Schutz des kulturellen Erbes neue Textformen. So heißt es in Art. 5 Verf. Slowenien (1991) 91 : Der Staat "sorgt für die Erhaltung der Naturgüter und des kulturellen Erbes", und Art. 73 bekräftigt dies in den Worten: 89
Zu diesen Zusammenhängen etwa P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, bes. S. 65 ff.; ders., Erwartungen an die Pädagogik, in: A. Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik?, 1996, S. 142 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 2. 90 Vgl. meine Beiträge von 1987 bzw. 1983 und 1990, jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 241 f., 633 f., 836 ff. 91 Zit. nach JöR 42 (1994), S. 88 ff.
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"Jedermann hat die Pflicht, in Einklang mit dem Gesetz Naturdenkmäler und -Seltenheiten sowie Kulturdenkmäler zu schützen". "Der Staat und die lokalen Gemeinschaften sorgen fur die Erhaltung des Natur- und Kulturerbes". Die Zeit- bzw. Generationendimension wird schon in der Präambel der Verf. Estland (1992) in den Worten berührt: "a State which shall guarantee the preservation of the Estonian nation and its culture throughout the ages"92. Die Verf. der Tschechischen Republik (1992) gelobt bereits in der Präambel: "getreu allen guten Traditionen der historischen Staatlichkeit der Länder der Böhmischen Krone..." 93 . Die Verfassung der Slowakischen Republik (1992) nimmt sich des Themas an zwei Stellen an: in der Präambel ("eingedenk des politischen und kulturellen Erbes unserer Vorfahren") und im Kontext des Umweltschutzes (Art. 44 Abs. 2: "Jeder ist verpflichtet, die Umwelt und das kulturelle Erbe zu schützen und zu fördern"). Der Präambelpassus der Verf. Polen (1997) lautet: „Obliged to bequeath to future generations all that is valuable from our over one thousand years' heritage". Auf weitere Beispiele vor allem in lateinamerikanischen Verfassungen sei verwiesen 94. Die neueren verfassungsstaatlichen kulturelles Erbe- und Naturschutz-Klauseln dürften wachsende Impulse aus den Textensembles erfahren haben, welche die beiden internationalen Konventionen von 1954 bzw. 1972 ("Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt") geschaffen haben ("Schädigung von Kulturgut" als Schädigung des "kulturellen Erbes der ganzen Menschheit", Schutz des "Kultur- und Naturerbes"). Die erwähnten Klauseln erweisen sich bei näherem Zusehen als immanenter Generationenschutz. Zwar scheinen sie zunächst nur retrospektiv oder auf das nicht-menschliche "Erbe" an Natur zu zielen. Im Ergebnis sichern sie jedoch damit auch Substrate für die jetzt lebenden und die künftigen "Generationen".
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Zit. nach JöR 43 (1995), S. 306. Zit. nach JöR 44 (1996), S. 458.- Eine traditionsorientierte, generationenübergreifende Klausel findet sich auch in der Präambel Verf. Baden (1947): "...das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Überlieferung..." (zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Bd. 1948, S. 123). S. auch Präambel Verf. Guatemala (1985), zit. nach JöR 36 (1987), S. 555: "... angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an".- Vgl. noch die Präambel der UN-Charta (1945): "...determined to save succeeding generations from the scourge of war". 94 Nachweise in meinem Beitrag: National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz - ein Textstufenvergleich, in: F. Fechner u.a. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, S. 91 (95 ff). Aussagekräftig ist die Parallelität der Schutzklauseln in der Verf. von Guatemala (1985). Unter dem Titel "Kultur" wird das "kulturelle Erbe" (Art. 60 bis 62) ebenso geschützt wie das "natürliche Erbe" (Art. 64).
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Die Natur-/Erbesklauseln greifen inhaltlich weiter als die GenerationenschutzKlauseln. Denn sie beziehen sich auf alles Leben. Bei "Generationen" ist herkömmlich nur an menschliche Generationen gedacht95. Insofern erweitert sich die Fragestellung dieser Zeilen: auch der mittelbare, durch Kultur und Natur geleistete Generationenschutz ist mitzudenken. Die Generationen der Menschen sind ohne den Schutz der sie umgebenden "Natur" und der von ihnen geschaffenen "Kultur" nicht denkbar; beide, Natur wie Kultur, konstituieren ihre "Lebenswelt". Generationenschutz ist immer auch Natur- und Kulturschutz - er bedingt das Weiterleben der Menschheit. Und: die viel zitierten "natürlichen Lebensgrundlagen" verweisen immanent auf die kulturellen: weil der Mensch natur- wie kulturbedingt ist. (3) Bindungen oder Freistellungen künftiger Generationen Die verfassungsstaatlichen Generationen- bzw. Natur- und Kulturschutzklauseln sind Bindungen auf Verfassungsstufe, gerichtet an alle drei Staatsfunktionen. Es gibt indes noch Verschärfungen. Gemeint sind "Ewigkeitsklauseln" bzw. Identitätsgarantien, die den Kern der Verfassung bzw. bestimmte Grundprinzipien auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber sichern. Historisch wohl von der Verf. Norwegen (1814) "erfunden" (§ 112 Abs. 1, S. 3), haben sie nicht zuletzt über das GG von 1949 (Art. 79 Abs. 3 GG) weltweit Karriere gemacht96. Verfassungstheoretisch stellt sich das Problem, ob eine heutige Generation in dieser Weise eine spätere überhaupt binden kann. Der Pioniertext der verfassungsstaatlichen Entwicklung, der das Generationenproblem beim Namen nennt und die künftigen Generationen freistellt, stammt aus Frankreich: Art. 28 Verf. von 1793 lautet: "Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et des changer sa Constitution. Une génération ne peut pas assujettir à ses lois les générations futures" 97 . 95 Generationenschutz verbirgt sich auch im Schutz des ungeborenen Lebens (z.B. Art. 3 Verf. Guatemala von 1985) und in der Garantie des Rechts "aller Personen, frei die Zahl der Kinder zu bestimmen" (Art. 47 ebd.). 96 Eine Systematisierung in meinem Beitrag Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (1986), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 597 (599 ff.). Vgl. Fünfter Teil III Ziff. 3. Zuletzt: Art. 89 Abs. 5 Verf. Senegal (1992), Art. 117 Verf. Gabun (1994). 97 Zit nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1798, 1979, S. 82. Vorausgegangen war die Bill of Rights von Virginia (1776). Die Generationenperspektive klingt an in dem Passus von Art. 1: "...gewisse angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachungen berauben oder zwingen können, sich ihrer zu begeben...".- S. auch die in der Präambel der Verf. USA (1787) anklingende Generationenverantwortung: "...and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity...".
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Man mag diese Freistellung künftiger Generationen von den ihnen von ihren Vorgängern auferlegten Bindungen aus der grundrechtlichen Freiheit des einzelnen oder/und aus dem Demokratieprinzip rechtfertigen, auch aus dem Wandel alles Menschlichen: Sicher ist, daß mit Art. 28 von 1793 ein Klassikertext geschaffen wurde, der eine Aporie menschlicher verfassungsstaatlicher und universal menschheitlicher Existenz auf den Punkt bringt. Als "Gegenklassiker" zu allen Formen von "Ewigkeitsklauseln" nach dem Muster von Art. 79 Abs. 3 GG hat man den Ausweg in einem Sowohl-Als-auch zu suchen: Freiheit und Bindung der Generationen. Die Bestandsaufnahme sei hier abgeschlossen, so fragmentarisch sie bleiben muß 98 . Die Textensembles neuerer und älterer Verfassungen und das in ihnen "versteckte" Problemlösungsmaterial sind jedenfalls so weit aufbereitet, daß sich ein Theorierahmen versuchen läßt. b) Der Theorie-Rahmen (1) Ein "natur"- bzw. "kulturwissenschaftlicher" Ansatz zum konstitutionellen Generationenschutz Der Begriff "Generation" ist anthropologisch zu verstehen und von den Verfassunggebern auch so gemeint. Er bezieht sich auf Menschen (nicht nur auf die eigenen "Staatsbürger"). Wo der Verfassunggeber tierisches oder sonstiges 98 Auch die Programme der politischen Parteien in Deutschland sind ergiebig: So heißt es im Grundsatzprogramm der CSU (1976), zit. nach R. Kunz/H. Maier/T. Stammen (Hrsg.), Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland I, 3. Aufl. 1979, S. 263: "Natur und Umwelt sind nicht nur Besitz der heutigen Generation. Es ist daher ein Gebot der Vernunft, mit den Schätzen der Natur so umzugehen, daß den kommenden Generationen nicht die Lebensgrundlage entzogen wird". Im Wahlprogramm der CDU/CSU (1980), zit. nach H. Heppel/G. Hirscher/R. Kunz/T. Stammen, (Hrsg.), Programme der politischen Parteien, 1983, S. 55 findet sich der Satz: "Die Union will den Generationenvertrag durch Wachstums- und umweltfreundliche Wirtschaftspolitik, eine neue und bessere Familienpolitik und eine verläßliche Rentenpolitik sichern". Ebd. S. 113 findet sich aus dem SPD-Wahlprogramm (1983) der Satz: "Den alten Menschen geben wir unser Wort: sie können sich darauf verlassen, daß wir den Vertrag der Generationen einhalten und weiter ausgestalten". Im Bundesprogramm der "Grünen" (1980) ist unter IV 1. (ebd. S. 162) vom "menschenwürdigen Überleben unserer zukünftigen Generationen" die Rede. Im Programm der "Grünen" zur Bundestagswahl 94 heißt es sogar in der Präambel: "Wir wollen an der Gestaltung eines neuen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages mitwirken". Vgl. auch den sog. "Karlsruher Entwurf' der FDP zum 47. ord. Bundesparteitag 1996. Teil IV lautet "Das Prinzip Verantwortung für die nächsten Generationen" und enthält den Unterabschnitt: "Der neue Generationenvertrag", wobei vor allem an die "verläßliche Alterssicherung der jungen Generation" gedacht wird.
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Leben schützen will, bedient er sich anderer Termini, z.B.: "Tiere und Pflanzen werden als Lebewesen geachtet. Art und artgerechter Lebensraum sind zu erhalten und zu schützen" (so Art. 39 Abs. 3 Verf. Brandenburg). Wenn Art. 32 Abs. 1 S. 1 Verf. Thüringen sagt: "Tiere werden als Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet", so ist damit eine bemerkenswerte Brücke zum Menschen geschlagen". Eine kontextsensible vergleichende Verfassungsinterpretation kann dartun, daß die Verfassunggeber den Generationenschutz meist von vornherein im Kontext des Natur- und Kulturschutzes konzipiert haben 100 : weil das "Menschengeschlecht" von vornherein nur dank der "natürlichen Lebensgrundlagen" überleben kann und jede Generation erst kraft des "kulturellen Erbes" zum "aufrechten Gang" findet, d.h. Mensch wird. Dieses "natur-" bzw. kulturwissenschaftliche Generationenverständnis sei kurz erläutert. Man kann fragen (und wohl bejahen), ob die Natur auch ohne den Menschen bzw. seine Generationen bestehen kann; sicher ist aber, daß der Mensch nur als Teil der lebenden und unbelebten Natur existieren kann und daß er "Mensch" ist via der von ihm selbst in generationenlanger Anstrengung geschaffenen (nationalen und Welt-) Kultur. Insofern ist J.-J. Rousseaus "Zurück zur Natur" mit dem ihm widersprechenden A. Gehlen "Zurück zur Kultur" zu verbinden 101 . Zwei Texte von "Gegenklassikern" finden sich hier zur Synthese zusammen. In den Unterscheidungen der Wissenschaftsdisziplinen gesagt: Die Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften sind heute im Generationenschutz auf dasselbe Ziel verpflichtet. Goethes Dictum: "Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden", formuliert dichterisch eine Weisheit vor, die der Verfassungsstaat heute beglaubigen kann und muß. Die übergreifende Einheit von Mensch, Kultur und Natur wird zudem nur global begründbar. So wie sich eine "Weltgemeinschaft der Kulturstaaten" im nationalen und internationalen Kulturgüterschutz abzeichnet102, so besteht längst eine Solidargemeinschaft aller Menschen und Staaten in Sachen Naturschutz, so brüchig sie in der Realität noch sein mag. Die innerstaatlichen Schutzklauseln
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Aus der Lit.: E. von Loeper, Tierschutz ins Grundgesetz, ZRP 1996, S. 143 ff.; U.M. Händel, Chancen und Risiken einer Novellierung des Tierschutzgesetzes, ZRP 1996, S. 137 ff. Bayern plant 1997 die Verfassungsänderung: "Tiere werden als Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet und geschützt." (Art. 141). 100 Z.B. Art. 10 Verf. Sachsen: Umweltschutz; Art. 11 ebd.: Kultur- und Kulturgüterschutz.- Art. 35 Verf. Sachsen-Anhalt: Schutz der natürlichen Grundlagen jetzigen und künftigen Lebens; Art. 36 ebd.: Schutz und Pflege von Kunst, Kultur sowie Sport. 101 Zum Programm einer "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" meine gleichnamige Studie von 1982 (Vorauflage). 102 Dazu mein Beitrag, in: Fechner u.a. (Hrsg.), aaO., S. 106 ff. S. noch Sechster Teil Ziff. XII.
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denken (noch) den Schutz der "natürlichen Lebensgrundlagen" oft menschenbezogen (z.B. Art. 31 Abs. 1 Verf. Thüringen), und sie rücken den Menschen deutlich in den Kontext der Natur bzw. Umwelt (vgl. z.B. Art. 10 Verf. Sachsen); mitunter ist aber auch schon allgemeiner von "Leben" die Rede (so Art. 12 Verf. Mecklenburg-Vorpommern: "die natürlichen Grundlagen jetzigen und künftigen Lebens"). Das erwähnte UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und (!) Naturerbes der Welt von 1972 nennt beides nicht zufällig im selben Atemzug. Ist der Begriff "Kulturstaat" jedenfalls in Deutschland seit langem eingeführt, so kämpfen die Begriffe "Umweltstaat" bzw. "Naturstaat" 103 erst noch um ihre Anerkennung. Sicher scheint, daß der Schutz künftiger Generationen nur von einem Kultur wie Natur schützenden Verfassungsstaat geleistet werden kann. Kurz: Die lebensweltliche "Kontextualität von Kultur und Natur" ist eine anthropologische Konstante in vielen Varianten, und sie bildet ein Stück Schutz künftiger "Generationen". Auch das belegt die verfassungstheoretische Unverzichtbarkeit des Paradigmas des Generationen-Begriffs. Die Herausforderung aber liegt in der globalen Ethik eines H. Jonas bzw. in seinem neuen Imperativ: "Handle so, daß die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben" . Er wendet bekanntlich den Kategorischen Imperativ von I. Kant in die Zeitdimension und ist wie dieser letztlich der "Goldenen Regel" verpflichtet. Derartige Klassikertexte von Philosophen dirigieren heute in der Tiefe die verfassungsrechtlichen Texte zum Thema "Generationenschutz". Die wissenschaftliche Erschließung des verfassungsrechtlichen Begriffs der "Generation(en)" ist, soweit ersichtlich, bisher kaum begonnen worden 105 .
10 ' Aus der Lit.: M. Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat, 1989; M Serres, Der Naturvertrag, 1994; s. auch R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995. 104 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979; ders, Philosophische Untersuchungen und methaphysische Vermutungen, 1992, S. 128: Zukunftsethik als "jetzige Ethik, die sich um die Zukunft kümmert, sie für unsere Nachkommen vor Folgen unseres jetzigen Handelns schützen will". 105 Immerhin berührt H. Krüger in seiner Allgemeinen Staatslehre von 1964 das Generationenproblem, z.B. in Gestalt der Darstellung der Lehren, wonach die gegenwärtige Generation die vergangene und zukünftige in sich enthält (S. 170), oder in Form der These, die frühere Generation könne die spätere nicht aus ihrer Rolle als Verfassunggeber verdrängen (S. 702 Anm. 136).- Ein fast vergessener Klassikertext findet sich bei Adam Müller, Vom Geiste der Gemeinschaft, Elemente der Staatskunst, Theorie des Geldes, 1809, wo unter dem Stichwort "Staat als Generationenfolge" der Passus steht (S. 42): "Die Lehre von der Verbindung aufeinander folgender Generationen ist ein leeres Blatt in allen unseren Staatstheorien; und darin liegt ihr großes Gebrechen, darin liegt es, daß sie ihre Staaten wie für einen Moment zu erbauen scheinen und daß sie die erhabenen Gründe der Dauer des Staates und seine vorzüglichsten Bin-
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Klassikertexte finden sich bei T. Jefferson 106 und bei T. Paine (1791) 107 . Ein H. Ehmke hat 1953 z.T. daran angeknüpft und im Verfassungsstaat eine Grenze gezogen, "über die hinaus die Belastung der künftigen Generationen ebenso eine Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung sein würde, wie etwa eine Aufopferung der lebenden Generationen für das 'Glück aller, die nach ihnen kommen'". Es sei "Sinn" der Verfassung, auch den kommenden Generationen ein freies politisches Leben zu gewährleisten 108. Die Zeit ist reif, die verfassungstheoretische Tiefendimension des Begriffs "Generation" auszuleuchten. Die Chance, dem Verfassungsstaat vom Verfassungsbegriff "Generation(en)" aus neue Sinnschichten zu erschließen, sollte genutzt werden. Auf zwei Feldern hat sich im Sprachgebrauch ein spezieller Inhalt ent109
wickelt: im Blick auf die "Generationenfolge innerhalb der Familie" mit besonderer Anwendung auf "Ausländer der ersten oder zweiten Generation"
dungsmittel ... nicht kennen ... während wir unsere Sozialkontrakte bloß von den Zeitgenossen schließen lassen, die Sozialkontrakte zwischen den vorangegangenen und nachfolgenden Geschlechtern hingegen nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zerreißen."- S. aber auch E. BurJce, Betrachtungen über die Französische Revolution (1790), hrsgg. von U. Frank-Planitz, S. 85: "Es ist merkwürdig, daß es von der Magna Charta bis auf die Deklaration der Rechte die beständige Maxime in unserer Konstitution gewesen ist, unsere Freiheiten als ein großes Fideikomiss anzusehen, welches von unseren Vorfahren auf uns gekommen ist und welches wir wieder auf unsere Nachkommen fortpflanzen sollen...". 106 Zit. nach H. Ehmke , Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 129: "Funding I consider as limited, rightfully, to a redemption of the debt within the lives of a majority of the generation contracting it". Ferner: Let us not "weakly believe that one generation is not as capable as another of taking care of itself, and of ordering its own affairs" (zit. nach Saladin/Zenger , aaO., S. 61 Anm. 49). 107 T. Paine , Die Rechte des Menschen, zit. nach der Ausgabe 1973, (Suhrkamp), S. 79: "Vermöge eben der Regel, nach welcher jedes einzelne Wesen mit seinen Zeitgenossen gleiche Rechte hat, steht jedes Geschlecht den vorhergegangenen Geschlechtern an Rechten gleich". Die Gegenwarts-/Zukunftsperspektive findet sich auch anderwärts (z.B. ebd., S. 87 f.). 108 AaO., S. 129 f., 137. 109 Dazu M. Wingen, Staatslexikon, Art. Generation, Bd. 2, 7. Aufl. 1986/95, Sp. 866 (867 f.).- S. auch Art. Generation, Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl. Bd. 8, 1989, S. 286: "1) Bevölkerungswissenschaft: alle in einem bestimmten Jahr (Jahrfünft, -zehnt) Geborenen....; 4) Soziologie: Gesamtheit der innerhalb eines bestimmten zeitl. Spielraums geborenen Gesellschafts-Mitgl., die durch ähnliche kulturelle Orientierungen, soziale Einstellungen und Verhaltensweisen geprägt sind".- Art. Generationenvertrag, ebd. S. 287: "Bez. für die u.a. der Rentenversicherung zugrunde liegende "Solidarität zwischen den Generationen", durch die - an Stelle der früheren Solidarität in der Großfamilie - die ältere, nicht mehr erwerbstätige Generation heute am Sozialprodukt teilhat, und zwar dadurch, daß vom Einkommen der erwerbstätigen Bevölkerung entsprechende Beiträge abgezogen werden".
V. Ein Verfassungsrecht f r künftige Generationen
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sowie im politisch-juristischen Begriff der (Grund-)Rechte der "Dritten Generation", z.B. das Recht auf Entwicklung 110 . Erst ein kulturwissenschaftliches Vorgehen kann zum reichen Sinnpotential des Verfassungsbegriffs "Generation(en)" führen. Einschlägig werden die Pionierarbeiten von W. Dilthey (1924) und K. Mannheim (1928) 111 . In ihrem Verständnis gehört zu den Merkmalen von Generation, daß sie aus einer Gruppe etwa altersgleicher Personen besteht, die dadurch verbunden sind, daß sie in einzelnen Lebensphasen bzw. besonders in der Kindheits- und Jugendzeit gemeinsame sie prägende Wandlungsvorgänge durchlebt haben und eine gemeinsame Mentalität und Identität besitzen. Die neuere sozialwissenschaftliche Diskussion unterscheidet nach M. Wingen den Aspekt der "Altersgleichheit", "Verhaltens- und Bewußtseinsidentität" (z.B. die sog. "68er Generation"), die "Schicksalsgemeinschaft" 112 (z.B. die "Kriegsgeneration") und auf der Mikroebene die Generationenfolge innerhalb der Familie. Die Theorie des sozialen Wandels 113 rezipiert die Idee Mannheims, wonach in der Abfolge der Generationen, in der altes Wissen "abstirbt" und neues Wissen sich nach dem Maße der die jungen Generationen prägenden historischen Erfahrungen durchsetzt, ein entscheidender Mechanismus des sozialen Wandels liegt. Damit sind Stichworte genannt, die die Verfassungstheorie in interdisziplinärer Funktionenteilung verarbeiten kann - und muß -, um den relativ neuen Begriff "Generationen)" aufzuschließen. (Die ältere "schöne" Literatur sprach wohl eher von "Geschlechtern".)
110
Dazu E.H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 210 ff, unter Hinweis auf eine Begriffsschöpfung von K. Vasak (1977). S. auch M.Y.A. Zieck, The Concept of "Generations" of Human Rights.., VRÜ 25 (1992), S. 161 ff. 111 Dazu und zum folgenden M. Wingen, aaO, Sp. 866 f.- Jüngst ringt L. Kühnhardt, Rhythmen der Politik, FAZ vom 14. Mai 1996, S. 12 um generationenorientiertes Denken: Unter Hinweis auf Klassikertexte von A. de Tocqueville (jede Generation sei wie ein neues Volk) und Ortega y Gasset (jede Generation sei eine neue Integrationsform des Sozialkörpers) meint er, der Begriff der Generation müsse "fast metaphorisch" verstanden werden. 112 Vgl. als Beispiel H.-J. Beyer, Die Generation der Vereinigung, Jugendliche in den neuen Bundesländern über die Plan- und Marktwirtschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 19/96 vom 3. Mai 1996, S. 30 ff - Das sensible Umweltbewußtsein, das die Generation der heutigen Heranwachsenden intensiv prägt, war der älteren Generation vor dem US-amerikanischen Buch "The silent spring" unbekannt. 113 Dazu W. Zapf, Art. Sozialer Wandel, in: Staatslexikon, 4. Bd, 7. Aufl. 1988/ 1995, Sp. 1262 (1266).- Die Katholische Soziallehre beschäftigt sich betont mit dem "Generationenkonflikt", z.B. in "Gaudium et spes" (1965) in Nr. 8, in "Populorum progressio" (1967) in Nr. 10 sowie in "Octogesima adveniens" (1971) in Nr. 13, zit. nach Texte zur Katholischen Soziallehre, 5. Aufl. 1982. 42 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Dazu einige Gesichtspunkte: Der Begriff "Generation(en)" verweist auf die Zeitdimension, wie dies das sog. Staatselement "Volk" bislang nicht zu leisten vermochte (Generation im Plural, Vorgang des sozialen (Generationen-)Wandels). Überdies versammelt er in sich Elemente, die die Verfassungslehre über den Begriff Kultur als "viertes" Staatselement114 in den Verfassungsstaat einzubringen sucht. Neben der "Altersgleichheit" ist die Verhaltens- und Bewußtseinsidentität relevant bzw. die sie schaffenden Vorgänge wie Erfahrungen und Erlebnisse kultureller Sozialisation in einem bestimmten Zeitabschnitt. "Generation" meint das in bestimmter Zeit und in bestimmtem Raum, eben das kulturell geprägte "Volk". Angesichts der höheren Lebenserwartung in der modernen "Gesellschaft des langen Lebens" dürfte sich auch der Generationenbegriff inhaltlich verändern (zeitlich 15 bzw. 30 oder mehr Jahre). Auch leben immer mehr Generationen gleichzeitig: im Volk wie in der Familie, was zu mehr Gerechtigkeitsproblemen führt. Was die sog. Staatselementenlehre von G. Jellinek "naturalistisch" 115 , die Integrationslehre von R. Smend "geisteswissenschaftlich" 116 und die Staatslehre 117
von H. Heller "wirklichkeitswissenschaftlich" zum Staatsverständnis beigesteuert hat, kann jetzt dank des Begriffs Generationenfolge kulturwissenschaftlich beim Namen genannt, auf Begriffe gebracht und für die vergleichende Lehre vom Verfassungsstaat aufbereitet werden. Die kulturwissenschaftliche Ausdeutung des Begriffs "Generationen" 118 sollte indes nicht auf die direkten Kontexte der verfassungsrechtlichen Verwendung dieses Begriffs z.B. im Umweltverfassungsrecht bzw. bei den Erziehungszielen beschränkt bleiben. Sie muß verallgemeinert, d.h. zur Grundlage eines gewandelten Verständnisses von Verfassung, Staat, Gesellschaft und Volk gemacht werden. Dieser kulturwissenschaftliche Ansatz integriert sich auch den normativen Aspekt der "Verantwortung", wie die Verfassungstexte sagen, und er eröffnet den künftigen Generationen jenen Freiheitsraum, den die wissenschaftlichen Texte von T. Jefferson über T. Paine bis H. Ehmke sichern wollen.
114
Dazu mein Beitrag Europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: KritV 1995, S. 296 (302 f.) sowie unten VI. 1,5 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (6. Neudruck) 1959, S. 394 ff. 116 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 (167 ff.). 1,7 H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 37 ff., 142 ff. 118 Es lohnte einmal, das "Generationen-Bild" in der Kunstgeschichte zu verfolgen. Ein Beispiel in einer Chromolithographie um 1880: "Die Treppe der Lebensalter - bestimmt dazu, eine Brücke der Generationen zu sein", Bild und Text in: FAZ vom 10. Okt. 1995, S. L32.
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Freiheit(en) und Bindung(en) werden auf das Volk in der Zeitschiene auf der Makroebene, eben die Generationen, verteilt, und darum ist es auch gerechtfertigt, von Gerechtigkeit bzw. Solidarität, "Fairness" und Verantwortung zwischen den Generationen zu sprechen. Daß auf der Mikroebene die "Familie" in der Generationenfolge gesehen wird ("Elterngeneration"), erleichtert es, auch das verfassungsstaatlich konstituierte Volk in des "Daseins unendlicher Kette" (Goethe) zu verorten. Denn viele Klassikertexte haben seit der Antike immer wieder Analogien zwischen beiden Einheiten gezogen 119 . (2) Zeit und Verfassungskultur - eine Dimension der Generationenfolge von Bürgern im Verfassungsstaat Im Begriff der "Generation(en)" ist die Dimension "Zeit" im Grunde bereits angelegt bzw. mitgedacht. Nachdem diese unter (1) von vorneherein aus der Kultur verstanden werden, sei die "Zeit" jetzt im Blick auf den Verfassungsstaat, d.h. die "Verfassungskultur" präzisiert. Dabei können Stichworte genügen, da das Thema "Zeit und Verfassungskultur" an anderer Stelle bereits 1983 systematisch aufbereitet wurde 120 . Die Entwicklungsvorgänge der Verfassungskultur eines Volkes sind durch gröbere und feinere Instrumente und Verfahren auf der Zeitschiene "verortet" bzw. "gegliedert". Der Bogen reicht von der Total- und Teilrevision einer Verfassung über die Gesetzesnovellierung und Experimentierklauseln bis zur fortbildenden richterlichen Konkretisierung von Generalklauseln bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen sowie zum verfassungsrichterlichen Sondervotum, das "im Laufe der Zeit" normierende Kraft gewinnt, etwa indem es zur Mehrheit wird (Beispiel: Sondervotum W. Rupp-von Brünneck E 32, 129 (142) bzw. BVerfGE 53, 257 (289 ff.)). Bei all diesen Zeit-Vorgängen bzw. Zeit-Abschnitten ist nicht nur das in der höchst punktuellen Gegenwart lebende Volk beteiligt, vielmehr ist das "Volk" von vornherein als "Summe von Generationen" begriffen - Gegenwart und Vergangenheit integrierend. M.a.W.: Das je nationale Volk ist (durch Kultur gestiftet) die in Generationen gegliederte Größe, die sich im Verfassungsstaat konstituiert hat, und sie "wiederholt" und erneuert diesen Konstituierungsvorgang immer wieder auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlicher Intensität. So wird eine Verfassung in der Regel dem Anspruch nach nicht nur für die heute lebende, sondern auch für künftige Generationen entworfen bzw. in Kraft gesetzt. Damit aber das Volk bzw. seine Repräsentanten "immer wieder" auch in der 119
Nachweise in: P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie.., 1984, S. 9 ff. sowie Fünfter Teil VIII 4, Inkurs. 120 P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Peisl/A. Möhler (Hrsg.), Die Zeit, 1. Aufl. 1983, S. 289 ff. (3. Ausgabe 1992). Zum ganzen auch Vierter Teil IV.
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kleineren Zeiteinheit als 15 oder 30 Jahre (= eine Generation) mitwirken können und der "soziale Wandel" verarbeitet werden kann, hat der Typus Verfassungsstaat entsprechende Verfahren entwickelt bzw. ausdifferenziert: z.B. in den 70er Jahren in Deutschland das Experimentiergesetz 121 oder von den USA ausgehend das verfassungsrichterliche Sondervotum. Der hochkomplexe Begriff "Verfassungskultur" 122 ist also von vornherein generationen-ergreifend und -übergreifend konzipiert bzw. diese wird so "gelebt": i.S. von Goethe/Hellers Methapher von der "geprägten Form, die lebend sich entwickelt". M.a.W.: "Zeit und Verfassungskultur" ist eine andere Umschreibung für den Generationen-Zusammenhang (und -unterschied) eines Volkes. Ihre Bürger bilden als sog. "Grundrechtsträger" relativ kurzlebig, punktuell-aktuell das Volk (nur) in der Gegenwart. Das im Verfassungsstaat auf Dauer konstituierte Volk ist aber das erst in der Generationenfolge zu einem solchen gewordene und "gereifte", mitunter auch gefährdete und sich erneuernde Volk. Damit es sich auf der Zeitschiene entwickeln kann, bedarf es der erwähnten die Zeit gliedernden bzw. einteilenden, die Verfassungskultur wachsen lassenden Verfahren und Instrumente. (3) Die - kulturwissenschaftlich greifbare - Konstituierung des Volkes durch den "Generationenvertrag" Was die Staatslehre klassisch und die politische Praxis 1989 aktuell in der Gestalt des "Runden Tisches" in L. Walesas Polen bzw. in der Argumentationsfigur des "Grundkonsenses" in den 70er Jahren in Deutschland behandelt hat und auch in der heutigen Tagespolitik in wechselnden Namen immer wiederkehrt ("Solidarpakt", "Bündnis für Arbeit", "Pakt mit Amerika" u.ä.) - nämlich der "Gesellschaftsvertrag" -, stellt sich in der Zeitdimension als "Generationenvertrag'' dar. Gewiß, die Idee des Generationenvertrags ist bislang im Begründungsaufwand mit "Thema und Variationen" in Sachen Gesellschaftsvertrag noch nicht entfernt vergleichbar, man denke jüngst an J. Rawls 123 . Indes kön-
121
Dazu mein Beitrag: Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff.; auch in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 59 (85 ff.); H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. Jüngst beschloß Baden-Württemberg in seinem neuen Hochschulgesetz eine auf fünf Jahre befristete "Experimentierklausel" für die Universitäten, die vom Gesetz abweichen können (FAZ vom 26. Febr. 1997, S. 2). 122 Dazu der Band: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 449, sowie der Beitrag Zeit und Verfassungskultur, aaO., S. 325. Vgl. Vierter Teil III. 123 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975. Aus der Staatsrechtslehre fast gleichzeitig danach P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungs Verständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (372 ff.); P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff. (dort schon erste Überlegungen zum "Generationenvertrag": S. 17, 87,
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nen einige Stichworte dieser Diskussion auch für den Generationenvertrag verwendet werden. Er ist i.S. von I. Kants Vertragsphilosophie teils fiktiv zu denken ("Probierstein der Vernunft"), teils liegen ihm durchaus reale Vorgänge (nicht nur in der Schweizer "Eidgenossenschaft" seit 1291) zugrunde ("Grundkonsens", "bargaining", "Renten-Konsens"). Das "deutsche Volk" ist per se ein Mit-, Neben- und Nacheinander mehrerer Generationen. Der Verfassungsstaat bildet das "Gehäuse" für das im Zeithorizont zu sehende "Volk", und Millionen von kleinen und größeren Vertragsabschlüssen im Gesellschaftlich-Privaten wie im Öffentlich-Politischen schaffen in der Makroebene ein Stück realer Basis für "generationelles" bzw. "intergenerationelles" sich "vertragendes" Verhalten (greifbar auch auf der Mikroebene: in der Familie). Die "Grundrechte des Deutschen Volkes" - in der Sprache des Idealismus der Paulskirche von 1848/49 formuliert - sind gewiß auch die Grundrechte der einzelnen Deutschen, aber die Individuen werden prinzipiell nur in der Gegenwart geschützt (mit relativ geringen Vor- und Nachwirkungen), während die "dem deutschen Volk" gewährleisteten Grundrechte (vgl. § 130 Paulskirchenverfassung) von vornherein das in der Zeitdimension gedachte, aus Generationen lebende "Volk" meinen kann. Einen Hinweis auf das Zeit- bzw. Generationendenken geben - neben dem Schutz des "Erbrechts" (Art. 14 Abs. 1 GG) 1 2 4 - schon die im Laufe der Verfassungsstaatsgeschichte sich immer mehr verdichtenden Jugendschutz-Klauseln einerseits 125, die jüngst entstehenden Verfassungs-Themen des "alten Menschen" andererseits 1 6 . Das Sowohl-Alsauch des Schutzes von "jung und alt" in derselben Verfassung ist ein Belegtext für die ideell verbundenen Generationen.
436 ff); s. auch H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 213 ff.; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994; B. Jeand'Heur, Formales oder materiales Konsensprinzip?, ARSP 81 (1995), S. 453 ff - Aus der Tagespublizistik: G. Hofmann, Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag, in: Die Zeit vom 18. April 1996, S. 1 \A. Storm , Für einen neuen Generationenvertrag, FAZ vom 9. Jan. 1997, S. 11. 124 Vgl. W. Leisner, Erbrecht, in: HdbStR Bd. VI. 1989, S. 1099 (1113): "mit der Erbfreiheit denkt der Verfassunggeber auch einmal an die heute vielbeschworenen künftigen Generationen".- Die in Deutschland für 1997 geplante Abschaffung der Vermögensteuer und die als "Kompensation" geplante Erhöhung der Erbschaftssteuer enthält ein Generationenproblem. Der "Erbengeneration" wird wohl zuviel aufgebürdet. Zum "Desaster der Erbschaftssteuerreform" gleichnamig: G. Felix, NJW 1996, S. 2212 f. 125 Aus der Lit. das Lehrbuch von T. Ramm, Jugendrecht, 1990, passim z.B. S. 137 ff. zur "Jugendverfassung als Teilverfassung". 126 Dazu mein Beitrag: Altem und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, FS Lerche, 1993, S. 189 ff, sowie Sechster Teil VIII Ziff. 13.
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Das Volk 1 2 7 , das als in der Zeit den Generationenvertrag "fortschreibende" und lebende Größe gedacht wird, ist seinerseits von vornherein weniger eine biologische, denn eine kulturelle Größe. Vor allem ist es nicht einfach "Staatselement" i.S. des Verständnisses eines G. Jellinek 128 oder biologische Summe von "Staatsangehörigen". Es wird in Identität und Vielfalt durch kulturelle Bezüge zusammengehalten und aufgegliedert, es ist das Ergebnis von Prozessen kultureller Sozialisation oft über Generationen hin. Wenn die Kultur als "viertes" Staatselement, wenn nicht sogar als "erstes" gedeutet wird 1 2 9 , so ist dieses kulturwissenschaftliche Verständnis auch und intensiv auf das Volk zu beziehen - so wie sich die Freiheit des einzelnen nicht als "natürliche", sondern erst als kulturelle erfüllt, nachdem die Genforschung zeigt, daß wir keineswegs "Sklave der Gene" sind (Freiheit aus Kultur, insbesondere Bildung!). Gewiß, die Tendenzen zur "multikulturellen Gesellschaft" 130, die Zulassung doppelter Staatsangehörigkeit in mehreren Ländern Europas, die Verstärkung der (kollektiven) Minderheitenschutzrechte und das Plädoyer für einen "offenen" Kulturbegriff 131 werfen Grundsatzprobleme auf, die sich hier nicht behandeln lassen. Dennoch sei gesagt, daß das "Volk" neben der biologischen eine höchst kulturelle Daseinsweise auszeichnet. Der Sprache kommt dabei grundlegende Bedeutung zu. Zu Recht konnte Goethe sagen: "Die Deutschen sind ein Volk erst durch Luther geworden". Ähnliches gilt für Italien dank Dante. Sprache ist hier zum "kulturellen Gen" geworden. Die Sache "Kultur" trägt den Generationenbezug schon in sich. Denn ihr ist sowohl der traditionale als auch der zukunftsorientierte, innovative Aspekt eigen 132 . Der traditionale wurde früh durch den geglückten Begriff des 127
Die Gretchen-Frage: "Wer ist - wie wird - das Volk?" spitzt sich im Streit um die (deutsche) "Staatsangehörigkeit" besonders zu. Dies kann hier nur "Merkposten" sein. Fragwürdig ist schon der Begriff "Staatsangehöriger": der Bürger gehört doch nicht dem Staat! Dazu oben Vierter Teil Inkurs B. 128 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, aaO., S. 183, 406 ff. Demgegenüber treffend: H. Heller, aaO., S. 158 ff.: "Das Volk als Kulturbildung". Aufschlußreich H. Kuriki, Die Funktion des Volksgedankens in der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, FS Scupin, 1983, S. 233 ff. 129 Dazu mein Ansatz in dem Beitrag: Europäische Verfassungsstaatlichkeit, KritV 1995, S. 298 (302 f.) sowie Sechster Teil VI. ,j0 Dazu H. Schulze-Fielitz, Verfassungsrecht und neue Minderheiten, in: T. FleinerGerster (Hrsg.), Die multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, 1995, S. 134 ff.; R. Hofmann, Minderheitenschutz in Europa, ZaöRV 52 (1992), S. 1 ff.; A.H. Stopp, Die Behandlung ethnischer Minderheiten als Gleichheitsproblem, 1994. 131 P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 34 f. und seitdem. 132 Dazu P. Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (30 ff.).
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"kollektiven Gedächtnisses" (M. Halbwachs) eingefangen. Juristisch ist er im ausgebauten, höchst differenziert sich entwickelnden nationalen Kulturgüterschutz präsent 133 . Kultur ist immer das Werk von Generationen 134, so groß die Innovation eines einzelnen Genies sein mag und sein muß. Oder anders gesagt: Wo von Kultur, Kulturschutz, von kulturellem Erbe die Rede ist 1 3 5 , ist der Generationenzusammenhang stets mitgedacht. Der kulturelle Generationenvertrag wird nicht nur an Universitäten und in Künstlerschulen gelebt, er macht das Volk insgesamt aus. Das "regulative Prinzip" des Generationenvertrags als dynamisierter Gesellschaftsvertrag ist zugegebenermaßen zunächst recht abstrakt. Konkretisierungen nach verfassungsstaatlichen Lebensbereichen sind unverzichtbar. So steht in Deutschland derzeit die Rente als Alterssicherung im Mittelpunkt des Streits. Bundeskanzler H. Kohls Einschränkung: "Die Rente ist sicher - für die jetzige Generation" 136 benennt das Problem: Die heute aktive Generation darf weder überlastet ("Rentenfrondienst") noch aus der Pflicht entlassen werden (sie war "nehmend" beteiligt via Erziehungs- und Ausbildungskosten); gerungen werden muß um einen fairen Ausgleich in der "3-Generationenkette". M.a.W.: Die Frage des Beteiligtenkreises 137 sowie die Rechte- und Pflichtenverteilung ist im Lichte der klassischen und neueren Gerechtigkeitslehren von Aristoteles bis Rawls 138 zu lösen - angesichts der Alters-"Pyramide" bzw. der bald überlasteten, weil zahlenmäßig schrumpfenden aktiven Generation wird kluge Einwanderungspolitik in Deutschland zu einem Thema des Gesell-
1 >J Dazu der Band: F. Fechner/T. Oppermann/L.V. Prott (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, mit verfassungstheoretisch-kulturwissenschaftlichen Überlegungen des Verf., S. 91 ff. 1,4 Greifbar ist dies bei der (zeitlichen) Begrenzung des Schutzes des immateriellen Eigentums, dazu BVerfGE 31, 229 (242 f., 244 ff.); 31, 248 (253 f.). Vgl. BVerfGE 31, 275 (287): "Die Verfassung verpflichtet den Gesetzgeber nicht, "ewige" Urheber- oder Leistungsschutzrechte einzuräumen"; in Fortfuhrung von BVerfGE 31, 229 vgl. auch E 81, 208 (219 ff.). S. auch P. Kirchhof, Verfassungsrechtlicher Schutz des geistigen Eigentums, FS Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1638 (1659 ff.): "Die Verflüchtigung des geistigen Individualeigentums zum Allgemeingut." 135 Zu kulturelles Erbe-Klauseln meine Belege in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 241 f , 633 f , 836 ff. 136 Zit. nach: Der Spiegel Nr. 19/ 1996, S. 29. 137 Bei den Renten: Beitragszahler, Rentner und die Allgemeinheit der Steuerzahler bzw. in Deutschland der Bund. 1,8 J. Rawls , Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 61 ff: Gerechtigkeit bzw. Fairness zwischen den Generationen.- G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 323 (unter dem Stichwort "Umverteilung zwischen den Generationen in der Rentenversicherung"): Sicherstellung der "gegenseitigen Ausgewogenheit" der Leistungen der Generationen.
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schaftsvertrags bzw. der "Generationen Vertragspolitik". Ein weiterer Problemkreis, der durch den um die Gerechtigkeitslehren angereicherten Generationenvertrag zu lösen ist, begegnet uns in Sachen Natur (Stichwort: Endlagerung von Atommüll 1 3 9 , allgemeiner: Umweltschutz), im Grunde aber auch in Gestalt der Weitergabe erbgenetisch nicht manipulierten Lebens 140 . In der Wirtschaft markiert der Generationenvertrag Grenzen der Staatsverschuldung 141 und er verlangt Bündnisse für Arbeit, an denen neben den Gewerkschaften bzw. Arbeitnehmern, den Arbeitgebern sowie dem Staat als Repräsentanten aller Bürger eben auch die Arbeitslosen (fiktiv) beteiligt sind; auch die Integration von "Ausländern der Zweiten Generation" gehört hierher 142 . In der Kultur schließlich ist der Generationenvertrag in Form von Millionen "kleiner Bündnisse" in der Familiensukzession, in den "Zukunftsinvestitionen für Bildung und Ausbildung" bzw. in den "Schulen" der Nation (Erziehungsziele) sowie der Wissenschaften und Künste ("kultureller Generationenvertrag", z.B. im Handwerk oder sonst im Lehr- und Lernprozeß zwischen "Meistern und Schülern") lebendig. Das Generationenvertragsdenken hat dabei - lebensweltlich differenziert - alle Staatsftinktionen zu Adressaten: vom verfassungsändernden Gesetzgeber über den Gesetzgeber bis hin zur Rechtsprechung. Vor allem das BVerfG ist immer wieder gefordert, sich am generationenorientierten Denken auszurichten 143 - verfehlt z.B. im Antikruzifix-Beschluß von 1995 (E 93, 1). Aber auch im Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen untereinander wird das Paradigma des Generationenvertrages aktuell: etwa zwischen den Tarifparteien (mehr Teilzeitarbeit für die ältere Generation im Interesse der jüngeren Arbeitslosen-Generation).
139 Dazu im Raster der "Verfassung als Generationenvertrag" mein Beitrag: Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, aaO., 1983, S. 289 (335 ff.), (3. Aufl. 1992). 140 Dazu H. Hofmann, Biotechnik, Gentherapie ... (1985), jetzt in: ders, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 386 ff. 141 Vgl. meinen Beitrag von 1983, aaO, S. 339 ff; P. Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983), S. 489 (497 ff.); zuletzt G.F. Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht.., AöR 120(1995), S. 32(47). 142 Zur Arbeit als "kulturwissenschaftlicher Aktualisierung des Gesellschafts- bzw. Verfassungsvertrags": mein Beitrag: Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 (354 ff.) sowie unten VIII Ziff. 7. 143 Dazu schon meine Überlegungen in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff. sowie Fünfter Teil III Ziff. 1 (Inkurs).
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(4) Verfassungspolitischer Ausblick Die kulturwissenschaftliche Ausdeutung des Verfassungsrechts der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Typus "Verfassungsstaat" hat zur Erkenntnis von vielen offenkundigen und nicht wenigen verdeckten Erscheinungsformen von "Generationenverfassungsrecht" geführt: von den auf den Generationenschutz verweisenden Präambeln über die Erziehungsziele und Umweltschutzklauseln bis zu Natur- und Kulturgüterschutz-Texten bzw. kulturellen Erbe- sowie Alten- und Jugendschutz-Klauseln. Ein dosiertes Maß an differenziertem "Generationenverfassungsrecht" erweist sich als normaler Ausdruck der Wachstumsphase des Verfassungsstaates von heute, das damit einen mittleren Weg zwischen Freiheit der heutigen und Bindung im Interesse der künftigen Generation(en) sucht. "Generationenschutz" stellt sich als ein wahrhaft materielles Verfassungsproblem dar - auch für den, der nicht zum fiktiv/realen Generationenvertrag als in die Zeit erstreckten Gesellschaftsvertrag greifen möchte. Die Entstehung, Bewahrung, Weitergabe und Fortentwicklung von Kultur ist stets ein Generationenproblem und gelingt - wenn es nicht (etwa durch Kultur-Revolutionen: extrem in China) zum Bruch kommt - in immer wieder erneuerten vertragsähnlichen Vorgängen. Verfassungspolitisch ergibt sich das Postulat, den Generationenaspekt in den Textensembles maßvoll einzusetzen: Anzustreben ist der Mittelweg zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel - den "Grundton" sollte aber durchaus schon die Präambel anstimmen. Ein Zuviel liefe Gefahr, die Gestaltungsfreiheit der Bürgergesellschaft von heute einzuschränken, ihre Freiheiten sollen sich ja in der Gegenwart erfüllen. Ein Zuwenig an "Generationenverfassungsrecht" drohte, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft zu verabsolutieren und die Verantwortung für die junge bzw. ungeborene Generation zu mißachten. Bei aller Vielfalt denkbarer Ausgestaltung des Generationenverfassungsrechts je nach Tradition und Temperament der einzelnen nationalen Verfassungsstaaten sollte aber verfassungstheoretisch das Generationenproblem als eine Schicht der Verfassung als rechtlicher "Grundordnung" von Staat und Gesellschaft bewußt bleiben. Im übrigen darf es über Europa hinaus zu einem fruchtbaren verfassungspolitischen Wettbewerb um das relativ beste Generationenverfassungsrecht kommen. Ob die übergreifende, hier skizzierte Zeitperspektive durch eine ausgreifende Raumperspektive über die einzelnen Verfassungsstaaten hinaus ergänzt werden sollte - etwa i.S. eines zunächst "nur" gedachten, dann aber auch Stück für Stück ins Werk gesetzten "Weltgenerationenvertrages" zwischen
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allen Völkern und Bürgern dieses einen "blauen Planeten" -, muß offen bleiben. Die Erfordernisse weltweiten Umwelt-, Natur- und Kulturgüterschutzes und so manches völkerrechtliche Vertragsdokument deuten indes daraufhin 144 . Damit würde zugleich der Generationenzusammenhang der Menschheit sichtbar. Kants "weltbürgerliche Absicht" gewönne eine Tiefendimension in der Zeit, "parallel" zu der im Raum. Nach diesen kulturwissenschaftlichen "Vorarbeiten" werden "Revisionen" möglich und nötig.
VI. Eine Revision der "StaatselementeKultur als "4." Staatselement, das Beispiel Staatsgebiet und Staatssymbole 1. Das Verhältnis von Staat und Verfassung Der Begriff "Verfassungsstaatlichkeit" verbindet Staat und Verfassung, ohne daß ihr Verhältnis untereinander bestimmt wird. M.E. gibt es in der Tradition von Klassikern wie R. Smend und A. Arndt - und wir alle stehen auf den "Schultern" solcher "Riesen", bleiben "Zwerge" und sehen gelegentlich doch etwas weiter als jene - nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert. Der Staat ist nicht - wie das eine monarchisch-konservative Tradition gerne postuliert - das Primäre (naturhaft) Vorgegebene, auf das sich die Verfassung (mehr oder weniger gestaltend) bezieht. Im demokratischen Verfassungsstaat sind die Bürger und Menschen, ihre Menschenwürde die "kulturanthropologische Prämisse"; sie "geben" die Verfassung sich selbst, wie manche neuere ostdeutsche Verfassungstexte trefflich andeuten (z.B. Präambel Verf. Brandenburg von 1992). Von Österreich aus wurden wir Deutsche von keinem geringeren als A. Merkl belehrt, daß und wie sehr die deutsche Staatsrechtslehre allzu monarchisch geblieben sei 145 - diese Spur läßt sich bis in die Gegenwart verfolgen 1 4 6 -, gerade im Vereinten Europa von heute ist für solche nationalen
144
Einige Aspekte in meinem Beitrag: Das Weltbild des Verfassungsstaates, FS M. Kriele 1997, S. 1277 ff, sowie in dem Innsbrucker Kolloquiums-Band zu Ehren von P. Pernthaler, Neue Wege der Allgemeinen Staatslehre (Hrsg.: K. Weber u.a.), (Aussprache), 1996, S. 92 f. S. auch U. Beyerlin, Rio-Konferenz 1992: Beginn einer neuen globalen Umweltrechtsordnung, ZaöRV 54 (1994), S. 124 ff. Zum Ganzen noch Sechster Teil XIII. 145 A. Merkl, Die monarchische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre, Schweizerische Juristenzeitung 1920 Heft 4, wieder zitiert bei P. Pernthaler, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), S. 95 (96). 146 Vgl. etwa J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HdbStR Bd. I (1987), S. 591 ff.
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"Verspätungen" kein Platz. Das Staatliche bildet nur einen Teilaspekt der verfaßten res publica, man darf von einer "republikanischen Bereichstrias" öffentlich/privat/staatlich sprechen, die die offene Gesellschaft i.S. Poppers strukturiert. Mit dem durch die Menschenwürde fundierten Staatsbild sollte bis in Einzelfragen der Staatsrechtslehre hinein Ernst gemacht werden - so schwierig dies ist.
2. Verfassung als "Vertrag" (das 1989 wegleitende Paradigma des "Runden Tisches") Verfassung ist als Kultur bald aktuell, bald fiktiv als Vertrag zu denken. Was heißt das? Die Lehren des Gesellschaftsvertrages vor allem in Kants Variante als "Probierstein der Vernunft" jenseits von realen Vorgängen, aber auch die Version von J. Rawls (Stichwort: "Schleier des Nichtwissens") bleiben gerade im Verfassungsstaat hilfreich. Wir müssen die Verfassung und als Teilaspekt von ihr Recht und Staat so konstruieren, "als ob" sie auf einem Vertragsabschluß aller mit allen (i.S. von J. Locke) beruhten. Der Verfassungspakt auf der "Mayflower" der englischen Pilgerväter, der Rütlischwur in der Schweiz (1291) und die späteren vertragsartigen Fortschreibungen ebendort (etwa das "Stanzer Verkommnis") sind glückliche reale Vorgänge, die wir im Konzept der Verfassung als "immer neues Sich-Vertragen undSich-Ertragen aller" fortschreiben bzw. (wieder) denken (ggf. fingieren) müssen. Die Schweizer Konkordanzdemokratie oder der Föderalismus machen den Rückgriff auf das Vertragsmodell zugegebenermaßen leichter als zentralisierte Nationalstaaten. Und doch hat eine Idee wie ein Funke das "annus mirabilis" von 1989 mitgeprägt: das Paradigma des "Runden Tisches". Von Walesas "Solidarnosc" "erfunden" (oder soll man sagen: "entdeckt"?), hat es Weltgeschichte geschrieben und Verfassungsgeschichte "gemacht": im Übergang von totalitären Systemen zur offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates. Überall kam es zu runden Tischen, zuletzt etwa in Gestalt der "Codesa" in Südafrika. "Runde Tische" lassen sich verfassungstheoretisch begründen, kulturwissenschaftlich einordnen und konsens- bzw diskurstheoretisch legitimieren. Der "runde Tisch" symbolisiert ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander vieler in einem politischen Gemeinwesen. Die gleiche Distanz und Nähe zu allen anderen Teilnehmern, die Rekonstruktion des Dialogs und Miteinanders bricht mit totalitären Herrschaftsstrukturen. Es ist die beste optisch-bildliche Umsetzung des gleichberechtigten "Sich-Vertragens und Sich-Ertragens", das das Aushandeln von pluralistischen Verfassungen kennzeichnet. Der Kreis und der (runde) Tisch diese Methapher könnte so etwas wie ein "kulturelles Gen" der Menschheit sein bzw. werden.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft 3. Die drei sog. Staatselemente - und das "vierte": die Kultur
Zu den traditionellen Kapiteln der allgemeinen Staatslehre 147 gehören die drei "Staatselemente" Staatsvolk, Staatsgewalt, Staatsgebiet. Typischerweise hat die "Verfassung" in dieser Trias (noch) keinen Platz - das kennzeichnet gerade "allgemeine Staatslehren", macht sie aber auch fragwürdig. Eine "Verfassungslehre", die ihren Namen verdient, muß die Einordnung suchen: Verfassung ist, wenn nicht bereits das "erste" Staatselement, so jedenfalls ein wesentliches. Konkret: Die Staatselementenlehre muß vom erwähnten Begriff der Kultur aus durchdekliniert (konjugiert) werden. Verfassung ist ein Teil der Kultur, sie bildet, wenn man will (richtiger: muß) mindestens ein "viertes" Element. G. Dürig hat dies früh (1954) tendenziell gewagt, aber nicht weiter ausformuliert 148 . Spätestens heute ist dieser Schritt in einer Verfassungslehre zu wagen. Dies bedeutet, daß auch die übrigen Staatselemente kulturwissenschaftlich zu "erfüllen" sind. Beginnend mit dem Volk als "Menge Menschen unter Rechtsgesetzen" (I. Kant), aber eben dadurch im "status culturalis". Die - unterschiedliche - Identität der Völker Europas ist eine solche kultureller Art, und das macht die Vielfalt dieses Europas aus. Das Staatsgebiet ist kulturell geprägtes Land, ein "Kultur-Raum", kein factum brutum 149 . J.G. Herders Verständnis von Geschichte als "in Bewegung gesetzte Geographie" mag hilfreich sein 150 . Die Staatsgewalt ist ihrerseits als kulturell bestimmte, nicht naturhaft wirkende vorzustellen: sie ist im Verfassungsstaat normativ begründet und begrenzt, und sie steht im Dienste kultureller Freiheit. Wie notwendig sie ist, zeigen die Bürgerkriegswirren in ExJugoslawien nur zu dramatisch. Daß und wie sich die Staatselemente kulturwissenschaftlich "komponieren" lassen, sei nur noch in Stichworten angedeutet: Nicht nur im "Kulturfoderalismus" Schweizer und deutscher Prägung, nicht nur im vielleicht in Italien heranreifenden "nuovo regionalismo", aus der Vielfalt der Kultur ist die Prägekraft des Kulturellen für alle Verfassungsstaatlichkeit offenkundig, in allen Erscheinungsformen von Kulturverfassungsrecht kommt sie zum Ausdruck. Das be147
Zum Teil kritisch P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 82, 35 ff, 111 ff. S. jetzt auch die Kritik bei P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 16 ff. 148 Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff.). 149 Dazu mein Beitrag: Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, FS Batliner, 1993, S. 397 ff. sowie unten Inkurs (Ziff. 8). 150 In bezug auf die Entwicklungsländer meine Studien über die Entwicklungsländer und Kleinstaaten (1991), in: Rechtsvergleichung, aaO, S. 791 ff, 735 ff. sowie oben Vierter Teil I, Inkurs A und B.
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ginnt mit den Erziehungszielen wie Toleranz, Verantwortungsfreude und neu: Umweltbewußtsein (vgl. ostdeutsche Verfassungen wie Art. 28 Brandenburg, Art. 22 Thüringen, zuvor auch Art. 131 Abs. 2 Bayern), und endet oder beginnt auch mit der Erziehung zu den Menschenrechten, wie dies neuere Verfassungen schon textlich verlangen. Das fuhrt zur Fülle spezifisch kultureller Freiheiten wie der Glaubens-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit - in Goethes Dictum tiefgründig zusammengebunden: "Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion, wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion" 151 und das setzt sich fort in dem Verständnis von Spachen-Artikeln und Feiertagen, von Staatssymbolen (wie Hymnen) sowie in dem sich intensivierenden Kulturgüterschutz, der innerstaatlich wie transnational gerade in jüngster Zeit sich auch in textlich eindrucksvollen kulturellen Wachstumsprozessen dokumentieren läßt (Stichwort: "kulturelles Erbe" der Menschheit bzw. der Nationen).
4. Die Menschenwürde als "kulturanthropologische Prämisse" des Verfassungsstaates, die Demokratie als "organisatorische Konsequenz" "Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" - sagte schon D. Sternberger, und B. Brecht variierte die bekannte klassische Formel: "aber wo geht sie hin?" Wir sollten heute dieses Fragespiel abbrechen und den Satz wagen, daß die im Verfassungsstaat verfaßte Staatsgewalt auf die Bürger zurückkehrt, von ihnen ausgeht. "Träger" der verfassunggebenden Gewalt ist nicht "das Volk" in einem fiktiven oder realen Naturzustand; sie ist nicht unverfaßt, entscheidet nicht "normativ aus dem Nichts" i.S. des soziologischen Positivismus eines C. Schmitt 152 . Subjekte sind die kulturell einander verbundenen Bürger, die Bürgergemeinschaft. Die menschen- bzw. bürgerrechtliche Verortung der sog. verfassunggebenden Gewalt baut auch die Brücke zum Demokratieprinzip. Demokratie ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei bilden die unmittelbare und mittelbare Demokratie gleichberechtigte Varianten, die am besten als "Mischform" zu kombinieren sind. Das Wort von der "mittelbaren Demokratie" als "eigent-
151
Dazu die "Umsetzung" in meiner Studie: Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Lerche u.a., Kunst und Recht, 1994, S. 37 ff. 152 Dazu P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, eine vergleichende Textstufenanalyse (1987), auch in: Rechtsvergleichung, aaO., S. 135 ff. S. schon Fünfter Teil III Ziff. 3.
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licher" 153 entpuppt sich als sehr deutscher "Jargon der Eigentlichkeit" (T.W. Adorno). Von diesem Demokratieverständnis sind dann auch Fragen zum Demokratiedefizit in der EU zu stellen, ist nach europäischer Öffentlichkeit zu fragen, ist das europäische Parteienrecht (vgl. Art. 138 a Maastricht) 154 zu bauen. Die Menschenwürde wird dabei mit der handlichen Objektformel eines G. Dürig bzw. des BVerfG konzipiert und ins Kulturelle intensiviert 155 . Die Menschenbild-Problematik, "gedämpft optimistisch" gewagt, mit jenem Schuß von Skeptizismus versehen, der sich bei Montesquieu findet (Der Mensch neigt von Natur aus dazu, Macht zu mißbrauchen) 156 , sei erwähnt: Alle Formen der Gewaltenteilung im engeren (staatlichen) und weiteren (gesellschaftlichen Sinne) haben hier ihre Wurzel. Das Motto "Zurück zur Natur" (Rousseau) ist durch A. Gehlens "Zurück zur Kultur" zu ersetzen. Erziehung als Bildung ist die andere Seite aller grundrechtlichen Freiheit, auch und gerade in der "Verfassung des Pluralismus".
5. Die Verfassung des Pluralismus: Formen einer kulturellen Differenzierung und äußeren Öffnung des Verfassungsstaates Die Verfassung des Pluralismus ist heute besonders auf drei Feldern gefordert: im Bereich des Nationalen, in der Forderung nach Föderafisierung oder doch Regionalisierung und in der Öffnung aller Verfassungsstaaten zur Völkergemeinschaft hin (Stichwort: "kooperativer Verfassungsstaat", vgl. dazu Vierter Teil VII). a) Nation und Verfassungsstaat: Normalisierung, Relativierung, Normativierung - der Minderheitenschutz Die - europäische - Verfassungsstaatlichkeit hat sich heute wie selten zuvor des Stellenwertes des Nationalen zu vergewissern. Wo steht die Nation im
153 E.-W. Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, FS Eichenberger, 1982, S. 301 ff. 154 Aus der Lit.: D. Tsatsos/D. Schefold/H.-P. Schneider (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990; D. Tsatsos, Europäische politische Parteien?, EuGRZ 1994, S. 45 ff. 155 Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdbStR Bd. I, 1987, S. 815 (839 ff.); aus der weiteren Lit.: H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), S. 353 ff. Zum ganzen noch unten VIII Ziff. 1. 156 Dazu meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988.
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"Europa der Bürger", der "Regionen", der "Vaterländer"? Sind Nation und Verfassungsstaat ganz oder teilidentisch? Kann man sich mit Sarah Kirsch behelfen, die es "immer mehr mit der Muttersprache als mit den Vaterländern" g e157
halten hat . Die derzeitige Debatte über "nationale Identität" kann hier nicht im ganzen aufgerollt werden, doch seien einige Stichworte genannt. Der klassische Nationalstaat darf für den Verfassungsstaat nicht mehr das verbindliche Leitbild sein. Auf der heutigen Entwicklungsstufe ist für alle Verfassungsstaaten, wie mono- oder multikulturell sie realiter sein mögen, angesagt, daß sie sich in jeder Hinsicht pluralistisch verstehen müssen: Selbst Frankreich, das seine kulturelle und politische Identität in der "Republik" findet, muß ein tolerantes Gehäuse für den Islam als bereits zweitstärkste Religion im Lande finden. Die Schweiz hat seit langem, auch dank ihrer vorbildlichen Sprachenfreiheit, als "Willensnation" Wege zum inneren Pluralismus gebahnt. Deutschland ringt schmerzlich lange um den ausdrücklichen Schutz kultureller Minderheiten; die weitgehend glücklose "Gemeinsame Verfassungskommission" hat an einem Minderheitenschutz gearbeitet (1993), die punktuellen Verfassungs158
änderungen im Herbst 1994 haben ihn aber nicht zustande gebracht . Das befremdet umso mehr, als einzelne neue west- und ostdeutsche Länderverfassungen vorbildliche Minderheitenschutz-Klauseln gewagt haben, so Art. 5 Verf. Schleswig-Holstein (1990) und Art. 25 Verf. Brandenburg (1992) sowie Art. 5 Verf. Sachsen (1992) 159 . Hier und jetzt sei die Aussage gewagt, daß der weitgehende Schutz ethnischer, kultureller, religiöser etc. Minderheiten m.E. zur heutigen "Wachstumsstufe" des Typus Verfassungsstaat gehört und sich auch in gereifter Textstufenentwicklung niederschlagen müßte. Der Europarat wacht für die osteuropäischen Reformländer zu recht darüber, wie intensiv ihr Minderheitenschutz ist, aktuell etwa in Lettland (im Verhältnis zu den Russen). Rumänien leistet sich hier in seiner neuen Verfassung enorme Defizite 160 . Minderheitenschutz ist ein "werdendes" Strukturelement der Verfassungsstaatlichkeit, zumal in Europa. Die Verfassungslehre muß alles tun, um ihn zu fordern. Die schönste Textstufe hat Ungarn (1949/89) geschaffen mit dem Wort von den Minderheiten als 157 Sarah Kirsch, Von einer Hexenjagd auf Konservative kann wirklich nicht die Rede sein, FAZ vom 30. Sept. 1994, S. 39. 158 Der vorgeschlagene Artikel 20 b sollte lauten: "Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten" (zit. nach Bericht der GVK, Zur Sache 5/93, 1993, S. 31); zuvor mein Textvorschlag, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (206 f.). 159 Vgl. Texte und Kommentar in JöR 42 (1994), S. 149 ff. 160 Dazu meine Einführung und Dokumentation von Verfassungsentwürfen und Verfassungen ehemals sozialistischer Staaten in (Süd-)Osteuropa und Asien, in: JöR 43 (1995), S. 355 ff. bzw. 419 ff.
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"staatsbildenden Faktoren". Wie barbarisch nimmt sich dagegen die Wirklichkeit in Ex-Jugoslawien aus, wo in manchen Staaten die "ethnische Säuberung" "staatsbildende" Kraft zu entfalten scheint. Hier ist die Methapher von der "Räuberbande" grausame Wirklichkeit, wie überhaupt Ex-Jugoslawien zum Studierfeld für Menschenbild, Staatsverständnis, Regression der Kultur etc. geworden ist. Verfassungstheoretisch stellt sich der Minderheitenschutz als eine Form innerer Differenzierung des Verfassungsstaates dar, als Relativierung und normative "Zähmung" des Nationalen. Von "Verfassung des Pluralismus" kann auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates nur gesprochen werden, wenn ausreichender Schutz für Minderheiten besteht. Das beginnt bei Erziehungszielen wie "Toleranz", Respekt vor der "Würde des anderen", und endet bei "Ombudsmännern" für Minderheiten bzw. formalisierten korporativen Minderheitenschutz-Klauseln 161. Stichwort wird die "offene Republik" (D. Oberndörfer). b) Föderalismus und (werdender) Regionalismus als inneres Strukturprinzip des Verfassungsstaates Hier nur die These: Der Verfassungsstaat als Typus muß heute föderalistisch oder regionalistisch strukturiert sein. Selbst klassische Einheitsstaaten wie Frankreich oder Italien sind auf dem Weg der Regionalisierung. Von Europa her gewinnt diese Entwicklung an Schubkraft (nicht zuletzt von "Maastricht" 162 aus: beratender Ausschuß der Regionen: Art. 198 a bis c , im Vertrag von Amsterdam 1997 verstärkt). Die Zeit des zentralen Einheitsstaates ist für den Verfassungsstaat als Typus wohl vorbei. In dem Maße, wie er sich auf Menschen· und Bürgerrechte gegründet sieht, die eigene innere kulturelle Vielfalt entdeckt, mit der Demokratie im kleinen, "vor Ort" Ernst macht und den Wert aller Arten von Gewaltenteilung erkennt, in dem Maße lockert er sich föderalistisch oder regionalistisch auf 163 .
161 Aus der Lit. zuletzt das Symposion in Disentis: Die multikulturelle und multiethnische Gesellschaft,, hrsg. vom Fribourger Föderalismus-Institut bzw. T. Fleiner, 1995; D. Murswiek, Schutz der Minderheiten in Deutschland, HdbStR Bd. VIII, 1995, S. 663 ff. 162 Dazu aus der Lit.: T. Stein, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus, VVDStRL 53 (1994), S. 26 (41 ff.). Aus der österreichischen Lit.: M. Morass, , Regionale Interessen auf dem Weg in die Europäische Union, 1994; H. Schäffer, Die Länder-Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Integration, FS Schambeck, 1994, S. 1003 ff.; K. Weber, ebd., S. 1041 ff. 163 Zu diesen Legitimationsgründen: P. Häberle, Grundfragen einer Verfassungstheorie des Regionalismus in vergleichender Sicht, in: J. Kramer (Hrsg.), Die Ent-
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c) Die Öffnung des Verfassungsstaates zur Völkergemeinschaft (der "kooperative Verfassungsstaat")
hin
Die offene Staatlichkeit (K. Vogel), der "kooperative Verfassungsstaat" 164 markieren weitere Stichworte für die heutige Entwicklungsstufe unseres Gegenstandes. Sie seien hier nur in Erinnerung gerufen, da anderwärts schon behandelt. Die internationalen Menschenrechtspakte, aber auch die regionalen Entsprechungen wie die EMRK bilden ein Element dieser Offenheit des Verfassungsstaates nach außen. Heute deutet sich eine " Weltgemeinschaft der Verfassungsstaatenf" an; wir denken in "weltbürgerlicher Absicht" i.S. Kants bei allen Rückschritten und Rückfällen ins nationale Zeitalter. Die überstaatliche "Bedingtheit des Staates" (W. von Simson), freilich auch die staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen, wird greifbar: im nahen wie im fernen. Im nahen wird damit der Blick frei für das zweite Element: das "Europäische" am Verfassungsstaat.
6. Die Europäisierung des Verfassungsstaates Die Europäisierung des Rechts im ganzen, aber auch seiner Teildisziplinen ist heute zum geflügelten Wort gediehen. Das "gemeineuropäische Zivilrecht", wohl erstmals von H. Kötz konzipiert 165 , findet seine Entsprechungen im "Gemeineuropäischen Verfassungsrecht" 166. Weitere Stichworte liefern H. Coings von "Bologna bis Brüssel" sowie dessen Forschungen zur Europäischen Rechtsgeschichte, aber auch alle Bemühungen um europäisches Arbeits- oder Sozial-, auch Strafrecht. Für die Verfassungslehre werden diese allgemeinen Entwicklungen, die sich nicht ins Unbestimmte verlieren sollten, auf drei - in kulturelle Tiefendimensionen reichenden - Teilfeldern greifbar, für die übergreifend der Satz gilt: Kultur und Recht "machen" Europa-Rechts-Kultur.
wicklung des Staates der Autonomien in Spanien und die bundesstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, 1996, S. 75 ff. Vgl. Sechster Teil VIII Ziff. 5. 164 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 407 ff. Dazu schon Vierter Teil VII. 165 H. Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, FS K. Zweigert, 1981, S. 481 ff. 166 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht (1991), in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997. 43 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft a) Die "Europäisierung" durch Europarecht im engeren und weiteren Sinne
Europarecht im "engeren Sinne" ist das Europarecht der EU bzw. der EG. In der Wissenschaft hat es zu Glanzleistungen wie dem "Europäischen Verwaltungsrecht" (J. Schwarze, 1988), durch die Entdeckung des europäischen Privatrechts in der EG (P.-C. Müller-Graff, 1989) und Pioniertaten wie H.P. Ipsens Europäisches Gemeinschaftsrecht (1970) geführt. Die Rechtsprechung des EuGH hat etwa in Gestalt der Grundrechte als "allgemeine Rechtsgrundsätze" entsprechende Leistungen vollbracht, die das Europarecht fast als prätorisches Recht analog dem Juristenrecht Roms erscheinen lassen. Das Europarecht im weiteren Sinne ist das Recht des Europarates mit seinen Höhepunkten in einzelnen Judikaten des EGMR. Österreich und die Schweiz gehen anderen Europaratsmitgliedern pionierhaft voraus, indem sie der EMRK Verfassungsrang beilegen 167 . Diesem Europarecht im weiteren Sinne sollte seitens der europäischen Verfassungslehre viel Aufmerksamkeit gelten. Denn es bildet eine Wachstumsstufe des europäischen Verfassungsstaates selbst (vgl. noch XI). b) Das "gemeineuropäische
Verfassungsrecht"
Das "gemeineuropäische Verfassungsrecht", 1991 in die Diskussion eingebracht 168 , umschreibt einen Teilaspekt des europäischen Verfassungsstaates. Es speist sich aus Gemeinrechtsdenken und Prinzipiendenken (i.S. J. Essers), ohne die Vielfalt der nationalen Rechtskulturen einebnen zu wollen. Auf die Darstellung seiner einzelnen Aspekte sei hier verzichtet, da sie andernorts erarbeitet wurden (unten X I Ziff. 3). c) Nationales "Europaverfassungsrecht" Eine wissenschaftlich bislang wenig erforschte Dimension der Europäisierung sei hier als nationales "Europaverfassungsrecht" benannt 169 . Gemeint sind 167
Aus der Lit.: Α. Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, S. 149 ff. 168 S. meinen gleichnamigen Beitrag in EuGRZ 1991, S. 261 ff.; auch in: ders, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff. (TB 1997). 169 Dazu mein Beitrag: Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe für den Ausbau von nationalem "Europaverfassungsrecht", FS Everling, 1995, S. 355 ff- Jüngst verlangte die SPD in Bayern durch ihren europapolitischen Sprecher H. Köhler eine Ergänzung der Bayerischen Verfassung um einen neuen Europa-Artikel (zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 25. April 1995, S. 5 ) mit folgendem Wortlaut:
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die quantitativ und qualitativ zunehmenden Europa-Artikel, die sich in einzelnen Verfassungsstaaten finden. Dem GG wurden jüngst besonders viele "Europaartikel" hinzugefugt (Art. 23, 24 a Abs. 1 a, 28 Abs. 1 S. 3,45, 50, 88 S. 2). In den neuen ostdeutschen Länderverfassungen finden sich, nach dem Vorbild des Saarlandes (Art. 60 von 1992), eindrucksvolle Europaprogramme z.B. im Blick auf den grenzüberschreitenden Regionalismus. Auch und selbst der Kanton Bern nimmt auf Europa Bezug (Verfassung von 1993: Art. 54 Abs. 1). Ausbaufähig sind die ausdrücklichen Bezugnahmen auf die EMRK (vgl. Präambel Verf. Jura von 1977, Art. 2 Abs. 3 Verfassung Brandenburg von 1992). Wichtig an diesen Entwicklungen ist, daß sich hier der Verfassungsstaat die Europaidee "verinnerlicht", stärker zur eigenen Sache macht, als dies bei dem ihm mehr "von außen" zuwachsenden Europarecht im engeren Sinne möglich ist. Gerade heute, wo gegenüber der EG manche Zweifel und Unsicherheiten angebracht erscheinen, kann dieses "innere" Europaverfassungsrecht dem "Europa der Bürger und Regionen" den Weg bahnen und neue Identifizierungsmöglichkeiten, mehr "Europabewußtsein" wachsen lassen. Jedenfalls gehören diese Europa-Artikel zur Textstufenentwicklung des europäischen Verfassungsstaates von heute, so offen es bleibt, welches "Europa" jeweils gemeint ist. Aus Werden und Entwicklung des "nationalen Europaverfassungsrechts" in seinen vielerlei Erscheinungsformen ergeben sich aber auch Konsequenzen für konkrete Verfassungsprobleme, z.B. für Einzelfragen des Art. 32 GG. Insbesondere muß dessen Abs. 1 wohl neu - d.h. "europäisiert" - gelesen werden. Wenn hier seit 1949 gesagt wird, "die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes", so ist seit dem neuen Europa-Artikel 23 GG von 1992 zu fragen, ob die im Kontext Europas wirkenden Verfassungsstaaten wirklich noch "auswärtige Staaten" sind, m.a.W.: Die europäischen Verfassungsstaaten sind sich gegenseitig eigentlich nicht mehr "auswärtiges Ausland". Das Außen/Innen-Schema ist gerade in Europa grundsätzlich in Frage gestellt. Das bedeutet z.B., daß die wachsende Europapolitik der Bundesländer nicht einfach unter Art. 32 Abs. 1 GG fällt. Auch Art. 32 Abs. 2 ist neu, d.h. im Lichte der Europäisierung zu lesen. "Besondere Verhältnisse eines Landes" kann auch dessen europäische Regionalpartnerschaften einschließen. Die umstrittene sog. "Nebenaußenpolitik" der deutschen Länder ist im europäischen "Staatenverbund" eine solche gar nicht mehr. Das Entstehen von nationalem "Bayern fördert die Europäische Einigung und tritt für die Beteiligung eigenständiger Regionen an der Willensbildung der Europäischen Gemeinschaften und des vereinten Europas ein. Bayern arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt grenzüberschreitende Beziehungen zwischen benachbarten Gebietskörperschaften und Einrichtungen".
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Europaverfassungsrecht verlangt jedenfalls eine interpretatorische oder verfassungspolitische Revision von Bestimmungen wie Art. 32 GG. Die Europäisierung von bisher klassischem nationalem Verfassungsrecht kann ganze Dogmatikgebäude zum Einsturz bringen. Die EU-Staaten sind einander nicht mehr "Ausland". Eine Infragestellung bzw. Relativierung des Elements "Staatsgebiet" findet sich aber auch - textstufenhaft dokumentiert - in neuartigen VerfassungsArtikeln aus jüngster Zeit zum Thema "Nachbarschaft" bzw. Grenzüberwindung. Denken wir an den neuen Art. 24 Abs. 1 a GG von 1992: Übertragung von Hoheitsrechten auf "grenznachbarliche Einrichtungen", aus der Schweiz an den Präambelpassus aus der neuen Verfassung des Kantons Appenzell A. Rh. vom April 1995: "Wir wollen, über Grenzen hinweg, eine freiheitliche, friedliche und gerechte Lebensordnung mitgestalten" - das meint gewiß innere und äußere Grenzen, zumal in Art. 1 Abs. 2 von Zusammenarbeit "mit den anderen Kantonen und dem benachbarten Ausland" die Rede ist.
7. Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat: Freiheit aus Kultur Der europäische Verfassungsstaat bildet ein einzigartiges Forum für Wahrheitsprobleme 170 : nicht etwa, weil er "fertige, absolute Wahrheiten" kennt und durch Juristen verkünden und durchsetzen läßt, sondern weil er dank der Grundrechte als kulturellen Freiheiten und dank der Demokratie als "Herrschaft" auf Zeit i.S. Poppers erlaubt, die Regierenden ohne Blutvergießen abzusetzen und "Theorien an Stelle von Menschen sterben" zu lassen. Poppers "Kritischer Rationalismus", unterfangen freilich vom kulturellen Grundkonsens, der in der Zeitachse sich als "kultureller Generationenvertrag" darstellt, ist m.E. die überzeugende Philosophie des europäischen Verfassungsstaates. D.h. es gibt wohl Wahrheit, aber wir können nicht wissen, ob wir die Wahrheit erkannt haben. Alles, was wir tun können, ist "Entwurf und Vermutung". Die Verfahren von Versuch und Irrtum, die Bildung von falsifizierbaren Hypothesen und das Verbot der Lüge (I. Kant) helfen uns "bis auf weiteres" bei der Annäherung an die Wahrheit im wissenschaftlichen wie politischen Bereich. Wir denken an Lessings einschlägige Texte und an W. von Humboldts Wissen-
170 Einzelheiten zum Vorstehenden in meiner Studie: Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995; Teil-Aspekte zuvor in dem Beitrag in: FS Mahrenholz, 1994, S. 149 (161 f.).- Ein (nicht nur speziell deutsches) Problem bringt H. Quaritsch zur Sprache: Theorie der Vergangenheitsbewältigung, Der Staat 31 (1992), S. 519 ff- S. auch M.R. Decken, Recht und Wahrheit, ARSP 1996, S. 43 ff.; G. Sprenger, Vom Wert der Wahrheit und der „Wahrheit" des Wertes im Recht, FS H. Klenner, 1996, S. 190 ff.
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schaftsverständnis. Die "Verfassung der Freiheit" trifft sich hier mit der offenen Gesellschaft bis hin zu praktischen Umsetzungen im Europa von heute; etwa dem "Open Society Fund" für Osteuropa eines G. Soros. Gewiß sollte man sich hüten, eine "Hausphilosophie" zu haben; doch scheint mir für das - offene "europäische Haus" bzw. seinen Verfassungsstaat derzeit Poppers Denken besonders geeignet zu sein.
8. Inkurs: Das Beispiel "Staatsgebiet" (1) Einleitung, Problem Am sog. "Staatselement" Staatsgebiet läßt sich das kulturwissenschaftliche Programm dieser Verfassungslehre zugleich im Lichte einer Textstufenanalyse exemplarisch entwickeln. Nicht nur in Kleinstaaten treten heute die überregionalen, ja globalen Aspekte immer klarer hervor, nicht nur in Europa entstehen 1997 große Märkte: weltweit bildet sich dank der multimedialen Mobilität eine dynamische, global ausgreifende Kommunikationsgemeinschaft, so daß die Frage nach dem "Staatsgebiet" altmodisch und überholt erscheinen könnte. Ist das "Staatsgebiet" (und die in ihm anklingende "Statik") nicht längst verflüchtigt, ja aufgelöst in den dynamischen Prozessen einer offenen multinationalen Weltmediengesellschaft, in der sich alles zu bewegen, ins Weite auszugreifen scheint und weniges mehr dauerhaft "fixiert" ist? Angesichts der übernationalen Verflochtenheit des heutigen Verfassungsstaates kann das sog. Staatselement "Staatsgebiet" von diesen Prozessen nicht unberührt bleiben, zumal das eigene (vor allem deutsche) Volk im Tourismus Züge eines ruhelosen "Nomadenvolkes" anzunehmen scheint und die nach dem Wendejahr 1989 entstehenden Migrationsbewegungen und Flüchtlingsströme neue Mobilität und Instabilität schaffen. Auch die anderen traditionellen "Staatselemente" verändern sich substantiell: die Staatsgewalt ist international- bzw. regional-menschenrechtlich eingebunden und diszipliniert, in Europa entwickelt sich "gemeineuropäisches Verfassungsrecht", und die Völker besinnen sich auf ihre Verantwortung für das Ausland: in Gestalt von Entwicklungshilfe, Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Die nationale Außenpolitik gewinnt Züge einer "Weltinnenpolitik". Der staatliche "Souveränitätspanzer" ist "gesprengt", und mit ihm hat sich die "Gebietshoheit" radikal verändert. Doch bildet dies nur die eine Seite von sich offenbar beschleunigenden Entwicklungen. Gegenläufig setzt eine Wiederbesinnung auf das "Kleine" vor Ort ein, ein Rückzug auf den überschaubaren Raum, auf "Region" und "Heimat":
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Wirkliche oder vermeintliche Nationalstaaten zerfallen in "Kleinstaaten", Volksgruppen fordern Minderheitenrechte, der Regionalismus reift schrittweise zum Strukturprinzip vieler bisher zentralisierter Verfassungsstaaten (von Spanien bis Großbritannien), der Föderalismus setzt weltweit seinen Siegeszug fort. A l l dies verweist spezifisch auf das Territoriale. Zugleich wird man sich der Ambivalenz des Wortes "Grenze" bewußt: Sie deutet einerseits auf Beschränkung, auf die eigene Identität, andererseits ist vom umgrenzten Raum aus ein Ausgreifen auf Fremdes, Neues, Fernes möglich. Gerade Kleinstaaten (wie Liechtenstein) ist diese Dialektik nur zu bewußt. Sie rezipieren und integrieren vieles von "außerhalb", um sich desto besser zu behaupten. Vielleicht darf man das Dichterwort J.W. von Goethes "Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben", gebiets- und raumbezogen variieren: Der Mensch stürzte in seiner grundrechtlichen Freiheit buchstäblich ins Bodenlose, gäbe es nicht einen kulturell gestalteten "gesicherten" Grund, von dem aus er in die Umwelt ausschreiten könnte. Der Verfassungsstaat schafft gerade heute den optimalen Rahmen für solchermaßen auf Grund und Gründe bezogene kulturelle Freiheit, und sein Gebiet bildet ein spezifisches "Kulturelement" im Ensemble seiner Grundwerte. Die Erörterung des Staatsgebietes könnte sich also doch "lohnen", jedenfalls auf dem Forum einer kulturwissenschaftlichen Verfassungstheorie. Was das Gebiet von Staaten auf der einen Seite zu relativieren scheint, dürfte auf der anderen Seite Anlaß sein, es neu, vielleicht tiefer zu "begründen". Der Verfassungsstaat legitimiert sich gewiß aus Ideellem, er lebt aber nicht als "Luftreich" (trotz allem Streit um Ätherwellen, Satelliten u.ä.), sondern er verwirklicht sich "auf Erden". Die Menschheit differenziert sich in "Ausländer" und "Inländer" und darin liegt auch ein Bezug auf "Land" und Recht - ihre MenschenxQchte "gelten" hier wie dort: gebietsbezogen. (2) Das Staatsgebiet im Spiegel der Verfassungstexte, Konstanten und Varianten in Raum und Zeit (Elemente einer Bestandsaufnahme) Grundlage für verfassungstheoretische Überlegungen bilden die Verfassungstexte. Das Paradigma von der "Textstufenentwicklung" besagt, daß eine verläßliche Erkenntnis des Verfassungsstaates zu gewinnen ist, indem seine Rechtstexte in Raum und Zeit verglichen werden: Der jüngere Verfassungstext des einen Verfassungsstaates "schreibt" den des älteren buchstäblich "fort", indem er an dessen Texte anknüpft, aber auch dessen ungeschriebene Entwicklungen in Lehre und Rechtsprechung, ja Vorgänge in der Verfassungswirklichkeit seinerseits auf neue Texte bringt, d.h. verarbeitet. So besteht heute ein weltweiter Zusammenhang von Produktions- und Rezeptionsvorgängen in
VI. Eine Revision der "Staatselemente"
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Sachen Verfassungsstaat 171. Für viele Themen von der verfassunggebenden Gewalt über die Präambeln bis zu den Grundrechten konnte die Fruchtbarkeit dieser "Textstufenanalyse" zur Diskussion gestellt werden. Im folgenden sei das Thema "Staatsgebiet" analog aufbereitet, auch um Verfassungstexte "als Literatur" zum Typus Verfassungsstaat zu verarbeiten. (a) Die systematische Plazierung von Staatsgebiets-Klauseln Ersten Aufschluß über das Verständnis des Staatsgebiets in einer Verfassung ermöglicht die Frage, an welchem Platz seines Gesamtsystems der Verfassunggeber es normiert hat. Die Klärung der jeweiligen systematischen Verortung erlaubt Rückschlüsse auf seine Inhalte und Funktionen. Und etwaige historische Veränderungen i.S. von "Wanderungsbewegungen" der Staatsgebietsklauseln innerhalb des Verfassungstextganzen geben wichtige Hinweise auf Veränderungen im Verständnis des "Stellenwertes" dieses Verfassungsthemas. M.a.W.: Die unterschiedlichen "Kontexte" der Staatsgebietsklauseln bestimmen die Aussage ihrer "Texte" mit. (1.) Der Kontext der typischen "Staatlichkeits"-Artikel bzw. Grundlagen-Artikel
("Staatssymbole")
Die wohl älteste Tradition piaziert das Staatsgebiet im Kontext von typischen "Staatlichkeits"-Artikeln eingangs der Verfassung. Es präsentiert sich als klassisches "Staatselement", oft formal und isoliert von den inhaltlichen Grundwerten des Verfassungsstaates wie grundrechtlichen Freiheiten und Staatsaufgaben, die erst in jüngster Zeit nach vorne rücken. Hier einige prägnante Beispiele: Verf. Luxemburg (1868/1983) bestimmt im Rahmen seines Kapitels I: "Das Staatsgebiet und der Großherzog" als Art. 1: "Das Großherzogtum Luxemburg ist ein freier, unabhängiger und unteilbarer Staat". Die Verf. Belgiens (1831/1988) eröffnet sogar ihren Ersten Titel mit dem Abschnitt "Das Staatsgebiet und seine Gliederung". Art. 4 Schweizer Bundesverfassung (1874), im Abschnitt "Allgemeine Bestimmungen", normiert: "Der Bund gewährleistet den Kantonen ihr Gebiet, ihre Souveränität ... ihre Verfassungen,
171 Nachweise und Beispiele etwa für Eigentum und Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, Sprachenartikel sowie Ewigkeitsklauseln in meinem Band "Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates", 1992, S. 484 ff., 552 ff, 441 ff, 407 ff, 273 ff, 597 ff. Vgl. schon oben Fünfter Teil VII 1.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
die F r e i h e i t A r t . 1 Staatsgrundgesetz von Rußland (1906) sagt: "Der russische Staat ist einheitlich und unteilbar" 172 . Ein Wort zur französischen Tradition: Art. 1 der Verf. 1791 sagt unter der Titelüberschrift: "De la division du royaume, et de l'état des citoyens": "Le Royaume est un et indivisible: son territoire est distribué en quatre-vingt-trois départements...". Immerhin steht der Grundrechtskatalog schon im ersten Titel. Art. 1 Verf. 1793 lautet, unmittelbar nach dem Grundrechtskatalog piaziert: "La République française est une et indivisible". Die Verf. von 1795 folgt diesem Schema: der Grundrechtskatalog ist vorweg normiert, aber als Art. 1 folgt der Satz "une et indivisible" in der ersten Titelüberschrift: "Division du territoire". Die Verf. von 1848 formuliert schon in ihrer Präambel unter II., noch vor der Anerkennung der Rechte "La République française est démocratique, une et indivisible". Die Verf. von 1946 bestimmt im ersten Titel: "De la souveraineté" als Art. 1 : "La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale". Erst danach folgen Fahne und Hymne (Art. 2). Dasselbe wiederholt die Verf. von 1958 (als Art. 2 S. 1) und ihm folgen Fahne und Hymne, aber auch die Devise "Liberté, Egalité, Fraternité". Diese Grundwerte werden also aufs engste mit der "Unteilbarkeit" verknüpft - ein veränderter Kontext. Die Weimarer Verfassung (1919) beginnt mit dem Abschnitt "Reich und Länder". Auf Art. 1 (Das Deutsche Reich als "Republik", "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus") folgt Art. 2 Abs. 2: "Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder". Kontext sind die Reichsfarben und die Handelsflagge 173 . Art. 5 Verf. Italien (1947) sagt im Rahmen der vorweggestellten "Grundprinzipien": "Die Republik ist unteilbar; sie anerkennt und fordert die örtliche Selbstverwaltung, sorgt für die weitestgehende Dezentralisation der Verwaltung...". Unter der Überschrift "Ganzheit des Staates, Amtssprache, Hauptstadt" normiert Art. 3 Verf. Türkei (1961/1973): "(1) Der türkische Staat bildet mit seinem Gebiet und seinem Volk ein unteilbares Ganzes. (2) Die Amtssprache ist Türkisch. (3) Die Hauptstadt ist Ankara" (weitgehend ähnlich Art. 3 Verf. Türkei von 1982).
172 In Art. 2 wird dem Großfürstentum Finnland, "welches einen untrennbaren Teil des russischen Staates bildet", Autonomie garantiert. Art. 3 macht die russische Sprache zur "allgemeinen Staatssprache". 173 Der 1. Abschnitt von Verf. Bayern (1919) "Staat, Staatsgebiet, Staatsgewalt" sagt in S. 2: "Die bisherigen Landesteile Bayerns in ihrem Gesamtbestand bilden das Staatsgebiet." Ebenfalls im Kontext der "Staatlichkeit" bzw. Staatssymbole: Art. 1 S. 2 Verf. Braunschweig (1922). Ähnlich § 2 Verf. Mecklenburg-Schwerin (1920) im Ersten Abschnitt: "Der Freistaat und das Staatsgebiet" sowie § 1 Verf. Mecklenburg-Strelitz (1919/23) unter dem Stich wort "Staatsgebiet und Staatsform".
VI. Eine Revision der "Staatselemente"
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Eine vorbildliche Fortentwicklung ist Verf. Spanien (1978) geglückt. Im "Vortitel" ist als Art. 1 vorweg das Bekenntnis zu "Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus" formuliert; erst in Art. 2 findet sich die Unteilbarkeit ("unteilbares Vaterland aller Spanier") und als Konnexgarantie "das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen". (2.) Andere Kontexte Vor allem in jüngerer Zeit mehren sich die Beispiele dafür, daß das Staatsgebiet "in" der Verfassung in anderen Kontexten verortet ist. Es verliert, systematisch betrachtet, seinen klassischen ersten Rang, rückt auf spätere "Plätze" der Verfassung zurück, insbesondere wird es dem Grundrechts-Teil gegenüber nachgeordnet. Beispiele finden sich in der Verf. von Peru (1979). Sie wird eröffnet durch den Titel "I. Grundrechte und Grundpflichten der Person". Erst der Titel "II. Der Staat und die Nation" enthält als drittes Kapitel "Das Territorium" den Satz in Art. 97: "Das Territorium der Republik ist unverletzlich. Es umfaßt den Boden, den Untergrund, das Seehoheitsgebiet und den darüber befindlichen Luftraum". Darin offenbart sich zugleich eine neue Textstufe, insofern Boden, Untergrund und Luftraum ausdrücklich genannt werden. Auch die Verf. Guatemala (1985) nimmt sich zuerst der Grundrechte an, ehe sie an später Stelle "über die Souveränität und das Staatsgebiet" in Art. 142 eine verfeinerte Definition des Staatsgebietes leistet, das "den Boden, den Untergrund, die Gewässer und das Territorialmeer ... umfaßt". Die Bodenschätze und das Leben auf dem Meeresgrund in Anlehnung an die "Küsten" sind einbezogen. Diese "verräumlichende" Ausdehnung und inhaltliche Anreicherung des Staatsgebiets sei festgehalten. Neuen Stellenwert gewinnt das Staatsgebiet aber auch dadurch, daß es in Art. 153 Verf. Guatemala (1985) im Kontext "Herrschaft des Rechts" angesprochen ist: "Die Herrschaft des Rechts erstreckt sich auf alle Personen, die sich im Gebiet der Republik Guatemala aufhalten" 174 . In einer anderen lateinamerikanischen Verfassung, der neuen Kolumbiens (1991), zeigt sich ebenfalls diese veränderte Systematik: Staatsziele bzw. Grundrechtskatalog in den Eingangs-Kapiteln und erst "später" Artikel über die "Einwohner und das Territorium" (Art. 101, unter Einbeziehung des Un174
Art. 5 Abs. 2 Verf. Frankreich von 1958, die die Unteilbarkeit des Staatsgebiets vorweg postuliert (Art. 2 Abs. 1 S. 1), erwähnt es später im Kontext des Präsidenten der Republik noch einmal ("il est garant ... de l'intégrité du territoire ...").- Art. 37 Staatsorganisationsgesetz von Franco-Spanien (1967) lautet: "Die aus Land-, See- und Luftstreitkräften sowie der öffentlichen Ordnungsmacht bestehende Wehrmacht garantiert die Einheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, die Integrität seines (Staats-)Gebiets, die nationale Sicherheit....".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
tergrunds, des Territorialmeeres, der Wirtschaftszone und des Luftraums). Eine frühe Leistung ist Verf. Württemberg-Baden (1946) (ihm folgend Art. 1 Abs. 2 S. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953) geglückt. Es integriert das Staatsgebiet in seinen Grundrechtsteil: "Er (sc. der Staat) faßt die auf seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen". Im Zweiten Hauptteil ("Vom Staat") kommt das Staatsgebiet dann als Bestandsklausel vor 1 7 5 . (b) Form und Struktur von Staatsgebiets-Klauseln Schon die bisherigen Beispieltexte haben manche Einsichten in die Formen und Strukturen ermöglicht, in denen sich Staatsgebietsklauseln im Verfassungsstaat "darstellen". Im folgenden sei eine Typologie versucht, die primär die Verfassungstexte selbst, nicht ihre Kontexte systematisiert. (1.) Bestandsgarantien, Definitionen,
Zuschreibungsformeln
Hier ist Art. 2 Verf. Irland (1937/1987) repräsentativ. Unter der Überschrift "Die Nation" lautet er: "Das Staatsgebiet besteht aus der gesamten Insel Irland, den dazu gehörenden Inseln und den Küstengewässern". Schon textlich ist damit bewiesen, daß das Staatsgebiet das Fundament der (noch) geteilten Nation bildet. Charakteristisch sagt auch Art. 1 Verf. Niederlande (1815/1972) zu Beginn des Ersten Kapitels "Das Reich und seine Einwohner": "Das Staatsgebiet des Königreichs der Niederlande umfaßt die Niederlande, Surinam und die Niederländischen Antillen" 1 7 6 . Art. 3 Abs. 1 Verf. Österreich (1920/1973) formuliert schlicht: "Das Bundesgebiet umfaßt die Gebiete der Bundesländer". Art. 1 Verf. Portugal (1933/71) zählt die Teile des Staatsgebiets (auch in Westund Ostafrika, in Asien und Ozeanien) auf, gekoppelt mit einem Abtretungsverbot in Art. 2. Art. 5 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/92) gelingt die schöne Textfassung: "Das portugiesische Hoheitsgebiet umfaßt das geschichtlich festgeschriebene Gebiet auf dem europäischen Kontinent sowie die Inselgruppen
175 Demgegenüber bleibt Verf. Württemberg-Hohenzollern (1947) traditionell: Sie beginnt mit dem Abschnitt "Die Staatsform und die Staatsgrenzen" und piaziert hier ihre Staatsgebietsklausel. 176 Besonders umfangreich ist Art. I ("Das Staatsgebiet") der Verf. der Philippinen (1940). Wie in manchen anderen unabhängig gewordenen Staaten bzw. Entwicklungsländern sind die Gebiete detailliert durch Bezugnahme auf völkerrechtliche Verträge aufgelistet. Auch die neue Verfassung (1986) beginnt, sogleich nach der Präambel, in Art. 1 mit einer Definition des "National-Territory".
VI. Eine Revision der "Staatselemente"
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Azoren und Madeira" 177 . Art. 2 Abs. 1 Verf. Hamburg (1952/1986) "erfindet" eine eigene Wendung: "Das Hoheitsgebiet der Freien und Hansestadt Hamburg umfaßt das bisherige durch Herkommen und Gesetz festgelegte Gebiet". Im Grunde wird schon in diesen Texten die "normierende Kraft der (Verfassungs-)Geschichte" in Sachen Staatsgebiet erkennbar. (2.) Sonstige Formen Sonstige Formen begegnen vor allem in der Weise, daß der Verfassunggeber ohne nähere Definition auf das "Staatsgebiet", "Hoheitsgebiet" oder "Land" verweist (vgl. Art. 5 Abs. 2 Verf. Frankreich, 1958: "Der Präsident als Garant der Integrität des Staatsgebiets"; Art. 2 Abs. 4 Verf. Niederlande, 1983: "Jeder hat das Recht, das Land zu verlassen..."). Im Rahmen der weiteren Bestandsaufnahme findet sich eine Vielfalt solcher Bezugnahmen. (c) Staatsgebietsänderungen: Verbot und Zulässigkeit (prozessuale und materielle Voraussetzungen) Daß die meisten Verfassunggeber Staatsgebietsklauseln in ihre Verfassungstexte aufnehmen, zeigt, welch hohen Verfassungswert sie ihnen beimessen und wie hoch sie den "Symbolwerf einschätzen. Aus diesem Grund liegt es nahe, daß sie sich mit der Folgefrage beschäftigen: Sind Änderungen (Gewinn und Verlust) des Staatsgebiets zulässig und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Auch hier fördert die in Raum und Zeit, Gegenwart und Geschichte vergleichende Textstufenanalyse manche Einsichten zutage, an denen sich die Verfassungstheorie heute orientieren kann. (1.) Verbotsnormen - Verfassungsverbote Keineswegs selten sind Verfassungen, die eine Preisgabe von Staatsgebiet verbieten. Die klassische französische Formel "une et indivisible" ist ein Beispiel. Sie hat Schule gemacht 178 . Es finden sich aber auch ausdrückliche Verbo177
S. auch Art. 4 Abs. 1 Verf. Burgenland (1981): "Burgenland umfaßt das durch Staatsverträge und Gesetze in seinem gegenwärtigen Bestand festgelegte Landesgebiet". 178 Vgl.z.B. § 1 Verf. Norwegen (1814/1987): "The Kingdom of Norway is a free, independent, indivisible and inalienable realm."- Art. 1 Verf. Algerien (1976): "une et indivisible."- Art. 1 Verf. Kamerun (1996), im Rahmen des Titels über Souveränität und im Kontext des Sprachen/Hymnen-Artikels: "La République du Cameroun ... est une et indivisible".- S. Art. 25 Mali (1992), Art. 4 Abs. 1 Niger (1992), Art. 1 Togo (1992).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
te in anderen Worten. So sagt Art. 89 Abs. 4 Verf. Frankreich (1958) im Titel "Verfassungsänderung": "Aucune procédure de révision ne peut être engagée ou poursuivie lorsqu'il est porté atteinte à l'intégrité du territoire". Das bedeutet eine absolute Schranke für Verfassungsrevisionen - noch vor der gleichlautenden in bezug auf die republikanische Regierungsform (Abs. 5 ebd.). Art. 1 und 2 Verf. Portugal (1933/71) dekretieren ein absolutes Verzichtsverbot über das bekanntlich die Geschichte z.B. in bezug auf Guinea, die Kap Verden und Moçambique hinweg ging 1 7 9 . Art. 5 Abs. 3 Verf. Portugal (1976/92) normiert ein striktes Veräußerungsverbot mit dem klugen Vorbehalt: "unbeschadet eventueller Grenzkorrekturen". Art. 3 Verf. Türkei (1982) postuliert: "Der türkische Staat bildet mit seinem Gebiet und seinem Volk ein unteilbares Ganzes", und Art. 4 qualifiziert dies als "unabänderbare Bestimmung". Derartige Verfassungsverbote sind aussagekräftig. Dahinter steht nicht nur plattes Besitzstandsdenken von auf Territorialherrschaft fixierten Völkern und Staaten. Vielmehr kommt auch zum Ausdruck, wie sehr das ihm durch die Geschichte zugewachsene und dann jetzt formal "zugeschriebene" Staatsgebiet zur Identität des Verfassungsstaates gehört. Es ist "unveräußerlich". Der Verlust eines Teiles des Staatsgebiets träfe das ganze Gemeinwesen. Gerade der nationale Verfassungsstaat kann gute Argumente für solche Verbotsnormen finden - selbst heute, wo er sich in übergreifende, z.B. gesamteuropäische Zusammenhänge eingeordnet sieht und insofern relativiert wird: weil er im Kleinen, Überschaubaren, Nahen verwurzelt bleiben muß. (2.) Verfassungsvorbehalte:
Das Verfahren
der Verfassungsänderung
Die geschilderten Verfassungsverbote bilden die schärfste, besonders rigorose Form in Sachen Staatsgebiet. Über ihre Wirksamkeit im Laufe der Geschichte darf man streiten. Frankreich z.B. hat im Gange seiner Geschichte keines seiner durch die Formel "une et indivisible" 180 auf ewig beanspruchten Kolonialgebiete wie Algerien "halten" können. Dasselbe gilt für Portugals Kolonien in Afrika. Darum ist jeder Verfassunggeber gut beraten, eine flexible Form der Staatsgebietsänderungen zu suchen und der Alternative Unzulässigkeit der Gebietsänderung oder Bruch der Verfassung aus dem Wege zu ge179 In Art. 1 ist sogar ein sachlich und zeitlich unbeschränktes Verzichtsverbot festgelegt: "Die Nation verzichtet auf keinerlei Rechte, die sie auf irgend ein anderes Gebiet hat oder künftig haben wird." S. auch Art. 8 Abs. 1 Verf. Venezuela (1961): "The national territory may never be ceded...". Ähnlich Art. 3 Abs. 3 Verf. Äquatorial-Guinea (1991). 180 Charakteristisch etwa Art. 6 Verf. 1795: "Les colonies françaises sont parties intégrantes de la République...".
VI. Eine Revision der "Staatselemente"
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hen 181 . In einigen Verfassungen wird ausdrücklich auf den Weg der Verfassungsänderung verwiesen. Staatsgebietsänderung ist in solchen Texten als Verfassungsänderung ausgewiesen. Das legt eine Verfassungstheorie nahe, die dem Staatsgebiet spezifischen Verfassungswert beimißt, nicht so sehr als "staatlichen Symbolwert", sondern als spezifisch aus dem ganzen der Verfassung begründeten Kulturwert. Diese Sicht kann und sollte sich auf derartige geschriebene Verfassungstexte berufen: als positiven Beleg für den hohen Stellenwert, der dem Staatsgebiet im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe zukommt. Schon jetzt können solche "Verfassungsvorbehalte" als reife und geglückte Textstufe gelten. Hier einige Beispiele: Art. 3 Abs. 2 Verf. Österreich (1920/1994) normiert: "Eine Änderung des Bundesgebietes... kann... nur durch übereinstimmende Verfassungsgesetze des Bundes und jenes Landes erfolgen, dessen Gebiet eine Änderung erfährt" (ebenso Art. 4 Abs. 2 Verf. Burgenland von 1981). Art. 18 Abs. 1 S. 2 WRV (1919) bestimmt: "Die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz" (ebenso Art. 2 S. 2 Verf. Hessen (1919)). Auch deutsche Länderverfassungen nach 1945 verlangen verfassungsändernde Gesetze (z.B. Art. 54 Verf. Baden (1947), Art. 2 Abs. 1 S. 2 Verf. Hamburg (1952)). (3.) Parlaments- bzw. Gesetzesvorbehalte für Staatsgebietsänderungen Eine flexiblere Form bilden die Klauseln, die auf das Parlament bzw. den Gesetzgeber verweisen. Sie sind für etwaige Gebietsänderungen zuständig. Der Verfassunggeber hat für dieses Verfahren gute Gründe. Die demokratisch legitimierte Legislative kann über Gebietsänderungen verfügen, was Beweglichkeit ermöglicht: doch nur in den strengen, vor allem öffentlichen Formen des Gesetzgebungsverfahrens. Zur Illustration einige Beispielstexte: Art. 3 Verf. Belgien (1831/1988) bestimmt : "Die Grenzen des Staates, der Provinzen und der Gemeinden können nur aufgrund eines Gesetzes abgeändert oder berichtigt werden" (jetzt Art. 7). Art. 8 der Verfassungsgesetze Frankreichs von 1875 sagt: "Nulle cession, nul échange, nulle adjonction de territoire ne peut avoir lieu qu'en vertu d'une loi". Die Zustimmung des Folketing für alle Gebietserweiterungen oder -Verminderungen verlangt § 19 Abs. 1 S. 2 Verf. Dänemark (1953). Ähnlich lautet Art. 3 Abs. 3 Verf. Niederlande (1815/1972): "Die Grenze des Reichs, der Provinzen und der Gemeinden können durch Gesetz 181 Es gehört zu den großen Leistungen der Schweiz, die Neubildung des Kantons Jura (1977) fast ohne Gewalt in den Verfahren ihres Verfassungsstaates eröffnet zu haben; allgemein: L. Wildhaber, Bestandesänderungen in Bundesstaaten (1995), jetzt in ders, Wechselspiel zwischen Innen und Außen, 1996, S. 93 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
verändert werden". Art. 27 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975) schreibt für ein Gesetz zur Änderung der Staatsgrenzen die absolute Mehrheit der Gesamtzahl 182 der Abgeordneten vor . Mitunter wird zusätzlich zum Parlamentsgesetz die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung verlangt (so Art. 53 Abs. 3 Verf. Frankreich von 1958). § 39 Abs. 2 Verf. Basel-Landschaft (1984) fordert: "Für Änderungen im Bestand des Kantonsgebietes ist eine Volksabstimmung erforderlich". Ein analoger Popularvorbehalt steht in Art. 74 Abs. 3 Verf. Burundi (1981) 183 , vgl. auch Art. 175 Verf. von 1992. (d) Sonstige Staatsgebietsklauseln, insbesondere Beitritts-Artikel Die Palette der Staatsgebietsklauseln in Verfassungen ist mit dem Bisherigen noch nicht erschöpft. Es gibt Verfassungstexte, die sich nicht ohne weiteres in die vorstehende Typologie einordnen lassen. (1.) Beitrittsklauseln Beitrittsklauseln nach Art von Art. 23 a.F. GG finden sich nur gelegentlich, meist in Bundesstaaten. Sie gehören zugleich in die Kategorie der erörterten Gebietsänderungen. Art. IV Sect. 3 US-amerikanische Bundesverfassung (1787) lautet: "Neue Staaten können durch den Kongreß in die Union aufgenommen werden". Art. 2 S. 2 WRV (1919) sagt: "Andere Gebiete können durch Reichsgesetz in das Reich aufgenommen werden, wenn es ihre Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt" 184 . Selten sind Austrittsklauseln (z.B.- freilich irreal - Art. 17 Verf. UdSSR von 1936: "Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR vorbehalten.")
182 Weitere Beispiele für diesen Gesetzesvorbehalt: Art. 2 Verf. Luxemburg (1868/1983), Art. 2 Abs. 2 Verf. Thüringen (1946).- Aus der Lit.: C. Engel, Verfassungs·, Gesetzes- und Referendumsvorbehalte für Änderungen des Bundesgebietes und anderer gebietsgebotener Akte, AöR 114 (1989), S. 46 ff. 183 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß es Verfassungen gibt, die sich über Erwerb und Verlust von Staatsgebieten nicht äußern. Hier wird man dem parlamentarischen Gesetzgeber die ungeschriebenen Kompetenzen zusprechen müssen. 184 Ein Unikat ist die Aufnahmeklausel in Art. 138 KV Jura (1977): "Modifications territoriales".
VI. Eine Revision der "Staatselemente"
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(2.) Sonstige Staatsgebietsklauseln Manche Texte konnten noch nicht eingeordnet werden: Sie seien hier erwähnt: die Wiedervereinigungsklausel Art. 3 Verf. Irland von 1937/1992 ("Bis zur Wiedervereinigung des Staatsgebiets..."), aus dem Bereich des Staatsnotstands etwa Art. 115 a Abs. 1 GG ("Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt"), Art. 5, 25 B-VG Österreich (1920/94): Verlegung des Sitzes von Staatsorganen an andere Orte des Bundesgebiets; Art. 116 Abs. 5 Verf. Spanien (1978): "territorialer Bereich des Belagerungszustandes" 185 und Art. 82 Abs. 1 WRV (1919): "Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet...". (e) Staatsgebietsrelevante Strukturierungen und Ziele, insbesondere: Föderalismus, Regionalismus und kommunale Selbstverwaltung Einer Gruppe von Rechtstexten, die das Gebiet eines Verfassungsstaates spezifisch "verfassen", kommt der Rang einer eigenen Kategorie zu: den Normen, die den Föderalismus, Regionalismus und die kommunale Selbstverwaltung territorial ausgestalten und so das Staatsgebiet ausdrücklich oder der Sache nach "gliedern" 186 . Der Föderalismus kann auf einen schon klassischen Bestand an Rechtstexten zurückgreifen, unter denen in Deutschland Art. 29 GG und sein Vorläufer Art. 18 WRV (1919) ein besonders gelungenes Beispiel bilden, weil hier Zielwerte wie "landsmannschaftliche Verbundenheit", "kulturelle Zusammenhänge" u.ä. 187 zum Ausdruck kommen. Sie vermitteln der rein formalen Gliederung bzw. den Teilgebieten inhaltliche Verfassungswerte, die eine Verfassungstheorie des Staatsgebiets bereichern. In dem Maße, wie der Regionalismus ein "werdendes Strukturelement" des Verfassungsstaates bildet 188 , entwickelt sich in konstitutionellen Regionalismustexten ein Bündel von Zielvorgaben, die ihrerseits das Staatsgebiet "verfassen". Schließlich bildet die kommunale Selbstverwaltung ein drittes territoriales Gliederungsprinzip. Dazu
185
Nicht nur eine Fußnote (der Geschichte) bildet das "Verbot des Anschlusses" an Deutschland in Art. 4 österreichischer Staatsvertrag von 1955. 186 So bestimmt Art. 114 Verf. Italien (1947): "Die Republik ist in Regionen, Provinzen und Gemeinden unterteilt." So heißt es im Titel XI Verf. Frankreich von 1958 ("Des collectivités territoriales") in Art. 72: "Les collectivités territoriales de la République sont les communes, les départements, les territoires d'outre-mer." 187 Art. 18 Abs. 1 WRV: "Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen". 188 Dazu P. Häberle, Der Regionalismus als werdendes Strukturelement des Verfassungsstaates, AöR 118 (1993), S. 1 ff. sowie Sechster Teil VIII Ziff. 5.
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einige Textbeispiele: Art. 143 Abs. 1 Verf. Spanien (1978) eröffnet das Kapitel "Die Autonomen Gemeinschaften" mit dem inhaltsreichen Satz: "In Ausübung des in Art. 2 der Verfassung anerkannten Rechts auf Autonomie können aneinandergrenzende Provinzen mit gemeinsamen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eigenschaften... die Selbstregierung erlangen...". Eine Vorstufe dazu findet sich in Art. 227 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/92): "Die eigene politische und verwaltungsmäßige Ordnung der Inselgruppen Azoren und Madeira liegt in den geographischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten und in dem historischen Streben der Inselbevölkerung nach Selbständigkeit begründet". Ein Nachfolge- oder "Tochtertext" steht in Art. 259 Verf. Peru (1979): "Die Regionen werden auf der Grundlage benachbarter, historisch, wirtschaftlich, verwaltungsmäßig und kulturell zusammengehöriger Gebiete errichtet. Sie bilden geo-ökonomische Einheiten" 189 . Mit solchen Richtbegriffen ist angedeutet, was sich der jeweilige Verfassungsstaat von seiner Gliederung inhaltlich verspricht, wie er den Raum strukturiert. Auch dadurch wird das Staatsgebiet material verfaßt und auf Grundwerte ausgerichtet. Musterbeispiel einer inhaltlichen Anreicherung der kommunalen Selbstverwaltung ist die Bayerische Verfassung (1946), etwa in ihren Textelementen: "Jeder Teil des Staatsgebietes ist einer Gemeinde zugewiesen" ("Die Gemeinden sind ursprüngliche Gebietskörperschaften"), die Selbstverwaltung "... dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben" (Art. 11 Abs. 1, 2 bzw. 4) sowie "In den eigenen Wirkungskreis ... fallen ... der örtliche Verkehr, ... Ortsplanung, örtliche Kulturpflege, Volks- und Berufsschulwesen und Erwachsenenbildung..., Erhaltung ortsgeschichtlicher Denkmäler und Bauten" (Art. 83 Abs. 1). Auch Art. 117 Verf. Saarland (1947) ist ein geglückter rp
.190
Text
. (f) Insbesondere: Verfassungsnormen mit Auslandsbezügen (Inkurs)
So wie eine Intensivierung, Normativierung bzw. inhaltliche Anreicherung der Staatsgebiets-Artikel nachweisbar ist und die kulturwissenschaftliche Theorie des Staatsgebietes als Text im Kontext der neuen Natur-, Umwelt- und Kulturschutzklauseln vorbereitet, sollen im folgenden jene Verfassungs-Artikel
189 S. auch Art. 224 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985): Bildung von "Entwicklungsregionen" nach "wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kriterien", um einen "Impuls fiir die rationale Entwicklung des gesamten Landes zu geben." 190 Abs. 1 : "Die Gemeinden sind die in den Staat eingeordneten Gemeinwesen der in örtlicher Gemeinschaft lebenden Menschen". Abs. 2: "Zur Förderung des Wohls ihrer Einwohner erfüllen die Gemeinden alle öffentlichen Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft, soweit ". S. noch Sechster Teil VIII Ziff. 1 Inkurs II.
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erwähnt sein, die mittelbar vielleicht zunächst unerwartete Aspekte des Staatsgebietes in sich bergen. (1.) Das Grundrecht der Auswanderungsfreiheit Die Auswanderungsfreiheit betrifft das Staatsgebiet insofern, als sie das 191
Grundrecht beinhaltet, das Staatsgebiet zu verlassen . Bekanntlich ist sie oft unter Bedingungen wie "Abzugsgeldern" u.ä. zum Thema frühkonstitutioneller deutscher Verfassungen geworden (z.B. § 32 Verf. Württemberg von 1819: "Jedem Staatsbürger steht frei, aus dem Königreiche, ohne Bezahlung einer Nachsteuer, auszuwandern, sobald er dem ihm vorgesetzten Beamten von seinem Vorsatze die Anzeige gemacht, seine Schulden und andere Obliegenheiten berichtigt... hat"), und sozialistische Staaten wie das Rumänien Ceaucescus der 80er Jahre pflegten von Ausreisewilligen "Kopfgelder" zu verlangen. Die heutigen Verfassungen garantieren die Auswanderungsfreiheit (z.B. Art. 16 Abs. 2 Verf. Italien von 1946: "Jeder Bürger ist frei, unter Beachtung der gesetzlichen Verpflichtungen, das Gebiet der Republik zu verlassen und es wieder zu betreten"). Die Verf. der Niederlande von 1983 erwähnt das Thema "Gebiet" bzw. Land sogar nur in diesem Kontext (Art. 2 Abs. 3: "Jeder hat das Recht, das Land zu verlassen, außer in den durch Gesetz bezeichneten Fällen"). Auswanderungsfreiheit bedeutet, daß das Staatsgebiet zur grundrechtsbegründeten Disposition des "Staatsbürgers" steht, daß der Bürger nicht "Eigentum" des territorialen Staates bzw. Untertan ist. Ausdruck der Menschenwürde ist es, diese Freizügigkeit wahrnehmen zu können. Das sog. Staatselement "Staatsgebiet" relativiert sich, es wird für den Bürger austauschbar. (2.) Das Grundrecht auf Asyl Ein Gegenstück zur Auswanderungsfreiheit bildet das Asylrecht. Gelegentlich wird dies schon textlich greifbar: So wenn Art. 10 Abs. 4 Verf. Italien bestimmt: "Ausländer, denen im eigenen Lande die tatsächliche Ausübung der in der italienischen Verfassung gewährleisteten demokratischen Freiheit verwehrt ist, haben im Gebiet der Republik Recht auf Asyl gemäß den gesetzlichen Bestimmungen". Damit wird das Staatsgebiet zum Anknüpfungspunkt für die Bekräftigung eines Grundwertes der Verfassung, die "demokratische Freiheit". Noch prägnanter ist die Verbindung zwischen dem Asylrecht und den 191
Aus der Lit.: R. Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, 1988; U. Scheuner, Die Auswanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im Verfassungsrecht Deutschlands, in: FS R. Thoma, 1950, S. 199 ff. 44 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Grundwerten des Verfassungsstaates hergestellt in Art. 33 Abs. 6 Verf. Portugal (1976/92): "Ausländern und Staatenlosen, die infolge ihres Eintretens für die Demokratie, soziale und nationale Befreiung, Frieden zwischen den Völkern, Freiheit und für die Menschenrechte in schwerwiegender Weise bedroht oder verfolgt werden, ist das Asyl gewährleistet". In Abs. 5 ebd. ist die Ausweisung von "auf reguläre Weise in das Staatsgebiet eingereisten" Personen unter Richtervorbehalt gestellt. Schon diese Texte lassen erkennen, wie das Staatsgebiet inhaltlich in Dienst genommen wird: im Interesse der Menschenrechte, der Freiheit, des Friedens zwischen den Völkern oder anderer verfassungsstaatlicher Grundwerte. Das Asylrecht läßt eine inhaltliche Anreicherung des Staatsgebiets im Verfassungsstaat bewußt werden: als Ort des hier sogar universal wirkenden Schutzes von Grundwerten. Eine frühe westdeutsche Landesverfassung wie Art. 11 Abs. 2 Verf. Saarland (1947) verdichtet aufgrund der Erfahrungen mit totalitären Staaten denselben Gedanken zu dem Text: "Asyl genießt, wer unter Verletzung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte verfolgt wird und in das Saarland geflohen ist." Frankreich hat 1997 den Begriff "konstitutionelles Asyl" geschaffen (für Personen, die für die Freiheit eintreten). (3.) Grundrechtschutz für Ausländer innerhalb der "Grenzen" eines Verfassungsstaates Dieses viel behandelte Problemfeld läßt sich schlaglichtartig am Beispiel des geglückten Art. 5 Abs. 2 Verf. Griechenland (J975) beleuchten, der die (soweit ersichtlich) höchste Textstufe einer inneren Verknüpfung von Staatsgebiet und Grundwerten des Verfassungsstaates geschaffen hat in den Worten: "Alle, die sich innerhalb der Grenzen des griechischen Staates aufhalten, genießen ohne Unterschied der Nationalität, der Rasse oder Sprache und religiösen oder politischen Anschauungen den unbedingten Schutz ihres Lebens, ihrer Ehre und ihrer Freiheit" 192. Man erinnert sich der Lockeschen Trias von "life, liberty, estate" bzw. "property". Der Verfassungsstaat nimmt auf seinem Gebiet seinen freiheitlichen Grundwerte-Auftrag selbst für "Fremde" wahr. Das Staatsgebiet bildet den äußeren Anknüpfungspunkt hierfür. Das vermittelt ihm eine spezifische 192 Eine fortgeschrittene Variante verbirgt sich in Art. 15 Abs. 4 Verf. Portugal (1976/92): "Durch Gesetz kann auf dem Staatsgebiet wohnhaften Ausländern, auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, das Wahlrecht für die Wahl der Amtsträger der kommunalen Selbstverwaltungsorgane gewährt werden."
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Legitimation. Das Staatsgebiet erweist sich in einem tieferen Sinne buchstäblich als "Grundlagen-Artikel", in einem Sinne, der seiner gängigen "Staatlichkeits-Tradition" am Anfang von Verfassungen gleichkommt. Das Staatsgebiet bildet die "Grundiage" für die Grundwerte der Verfassung, es ist konstituiert und konstituierend in einem inhaltlichen, nicht nur formalen bzw. symbolischen Sinne. (4.) Das gebietsbezogene Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit in regionalen Menschenrechtspakten Das Hoheitsgebiet eines Staates kann zum erklärten Anknüpfungspunkt für die Staatsangehörigkeit werden. Blaß heißt es noch in Art. 15 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN vom 5. Dezember 1948: "Jeder Mensch hat Anspruch auf Staatsangehörigkeit". Eine Verfeinerung und Präzisierung ist Art. 20 Abs. 2 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention vom November 1969 in den Worten geglückt: "Jede Person hat Anspruch auf die Staatsangehörigkeit des Staates, auf dessen Territorium sie geboren wurde, falls sie keinen Anspruch auf irgend eine andere Staatsangehörigkeit hat." Damit wird der Zusammenhang zwischen der menschlichen Geburt bzw. Existenz und dem Staatsgebiet hergestellt. Er ist kulturanthropologischer Art. Daß er sich in einem jüngeren regionalen Menschenrechtspakt manifestiert, verdient alle Aufmerksamkeit. So sehr sich Menschenrechtskonventionen der Rechtsstellung der Ausländer annehmen (z.B. Art. 14 AllgErklMenschenR, Asylrecht; Art. 22 Abs. 9 AMRK, Verbot von Kollektivausweisungen von Ausländern, ebenso Art. 12 Abs. 5 AfrMRK): eine vergleichbar konkrete Verknüpfung von Staatsgebiet, Geburt und Staatsangehörigkeit findet sich sonst nicht. Im übrigen bedeuten alle die Verfassungsstaaten innerstaatlich bindenden internationalen Menschenrechtstexte nichts anderes als eine normative Determinierung des Staatsgebietes. Es wird durch die Menschenrechte von außen her "verfaßt". Wenn Art. 2 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953) das Bekenntnis des Volkes zu dem "unveräußerlichen Menschenrecht auf die Heimat" wagt, so ist hier die Menschenrechtsidee mit dem Gebietsgedanken auf neue Weise verknüpft. Denn "Heimat" ist eine Bezugnahme auf ein dem Menschen dank der 193
eigenen Biographie teures Land
193
Aus der Literatur: P. Saladin, Heimat als Aufgabe, in: FS für O.K. Kaufmann, 1989, S. 25 ff.; S. Baer, Zum Recht auf Heimat.., NVwZ 1997, S. 27 ff.; V. Havels
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (3) Die Konstitutionalisierung des Staatsgebiets im Verfassungsstaat der verfassungstheoretisch-kulturwissenschaftliche Ansatz
-
(a) Das neue Grundlagen-Verständnis des Staatsgebietes: der Bezug zu verfassungsstaatlichen Grundwerten (Grund- und Menschenrechten bzw. Staatsaufgaben) (1.) Der A usgangspunkt Im folgenden seien im Lichte einer ganzheitlichen Betrachtung der bisher systematisierten Verfassungstexte die Umrisse einer Verfassungstheorie des Staatsgebietes skizziert, die die bislang bekannten Theorien nicht ersetzen, sondern ergänzen möchten 194 . "Neu" ist nur die textimmanente Begründung, die dem Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe auf der Spur bleiben will, indem sie ihn in Raum und Zeit vergleichend zu erfassen sucht. Der Rückgriff auf geschriebene (und die in ihnen auch zum Ausdruck kommenden, zunächst oft wwgeschriebenen, später '/or/geschriebenen") Verfassungstexte hat m.E. einen hohen "Beweiswert": Er kann sich i.S. des Textstufenparadigmas auf "Positives" (eben die Texte) berufen und so überzeugender wirken als manche gern verdächtigten "Höhenflüge" der Theorie (ohne daß vergessen sei, daß diese sich nicht selten in Verfassungstexten auskristallisiert haben). "Ganzheitlich" ist diese Methode, insofern sie alle hier typisierten Beispielsformen von allgemeinen und speziellen Staatsgebietsklauseln integriert und sie auf die Grundwerte des Typus Verfassungsstaat bezieht: mag es sich um traditionelle oder "vor Ort" angereicherte, eingangs piazierte Staatsgebietsklauseln, um Neugliederungs- und Regionalisierungs-Artikel, um Natur-, Umwelt- und Kulturschutzklauseln oder um Grundrechtsgarantien wie das Recht auf Auswanderung, auf Asyl oder den menschenrechtlichen Ausbau des Ausländerstatus im Inland handeln, die einen freizulegenden intensiven Bezug zu Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit als Grundwerten des Verfassungsstaates haben. Die Aufdeckung des Kraftfeldes der vielfältigen Verfassungsbezüge, in denen das Staatsgebiet steht, ist mit dem Stichwort "Konstitutionalisierung" programmatisch umschrieben.
Auszüge aus der Rede im Deutschen Bundestag am 24. April 1997, in: Politische Studien, Heft 353 (48. Jg.), Mai/Juni 1997, S. 1311 (15/16). 194 Aus der Lit. etwa K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 231 ff.; W. Graf Vitzthum, Staatsgebiet, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 710 ff.; P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, 1979 (zur Raumtheorie, S. 38 ff. ebd.); ders., Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaaten, 1993, S. 121 ff.
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Ausgangspunkt ist ein verändertes "Grundlagen-Verständnis" des Staatsgebiets. Ob es allgemein und (noch formal) im Kontext traditioneller Staatlichkeits-Artikel piaziert ist oder (modern) im Kontext von materialen Grundwerte-Klauseln wie Freiheit und Demokratie, ob es nur sporadisch behandelt wird oder unter Gesetzesvorbehalt steht: Im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe bildet das Staatsgebiet eine Grundlage seiner kulturellen Identität und geschichtlichen Individualität. Die ganze Verfassung ist sein "Kontext". A l l dies manifestiert sich in manchen Texten erklärter historischer Zu- und Umschreibung seiner Grenzen, es tritt aber auch in anderen Formen zutage: etwa in den Verfassungen, die es für unveräußerlich und unteilbar erklären oder es zu absoluten Grenzen jeder Verfassungsrevision machen, sowie in den Fällen, wo die formale Verfassungsänderung für die Grenzänderung verlangt wird. Konnte J.G. Herder die Geschichte als "in Bewegung gesetzte Geographie" ansehen195, das Staatsgebiet ist in all diesen Fällen im Horizont der Zeit ins Blickfeld getreten 196 . Jeder Verfassungsstaat eignet sich sein Staatsgebiet 197
immer neu innerlich an: es wird zur Kultur . Das Staatsgebiet ist also nur sekundär "Grundlage des Staates", es ist Grundlage der Verfassung, nicht "Staatselement", sondern Verfassungswert. In diesem Sinne können die zitierten Verfassungstexte ausgewertet werden, die das Staatsgebiet in Grundrechtsbezüge einerseits rücken, zur Staatsaufgabe andererseits (oder beides zugleich) erheben. (2.) Die Grundrechtsbezüge des Staatsgebietes Grundrechtsbezüge lassen sich dort freilegen, wo das Staatsgebiet im Tatbestand eines (oder mehrerer) Grundrechte mitgedacht wird. Wenn eine Asylrechtsgarantie den "Bewerber" dann aufnehmen will, wenn er für "Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Völkerfrieden" eingetreten ist, so zeigt sich darin, daß der Verfassungsstaat um dieser allgemeinen Grundwerte willen sein Gebiet öffnet. Viele, vor allem deutsche Verfassungsstaaten, normieren z.B. den Völkerfrieden als Erziehungsziel (von Art. 148 Abs. 1 WRV von 1919
195 Dazu allgemeiner: P. Häberle, Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), aaO., 1993, S. 121 (170 ff). 196 Mochte R. Wagner im „Parsifal" philosophieren lassen: "Zum Raum wird hier die Zeit": verfassungstheoretisch wird und bewährt sich das je besondere Staatsgebiet zu einem bzw. als Verfassungswert "im Laufe der Zeit". 197 Zu den theoretischen Hintergründen dieses Ansatzes mein Beitrag: Zeit und Verfassungskultur (1983), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 627 ff. Vgl. Vierter Teil III und IV.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
über Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen von 1947 198 , bis zu Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992). Wenn er den Grundrechtsschutz für Ausländer im Inland, wie gezeigt, ausbaut, so stellt er auch hier sein "Gebiet" positiv in den Dienst seiner sonst geschützten Grundwerte. Sogar dort, wo der Verfassungsstaat seinen Bürgern das Staatsgebiet zur Disposition stellt und prima facie ein nur "negativer" Zusammenhang Grundrechte und Staatsgebiet besteht - in der Auswanderungsfreiheit -, ist ein positiver freizulegen: Nur derfreie bzw. freizügige Bürger vermag sich mit seinem Land, wenn und weil er bleiben will und kann, zu identifizieren. Im übrigen bringen all die jüngeren Verfassungstexte die Instrumentalisierung des Staatsgebietes im Dienste der Grundrechte als verfassungsstaatliche Grundwerte zum Ausdruck, die diese den TerritorialArtikeln systematisch vorordnen. (3.) Das Staatsgebiet als plurale Staatsaufgabe Das Staatsgebiet läßt sich als Staatsaufgabe verstehen. Das kann positivrechtlich aus nicht wenigen Verfassungstexten begründet werden: zunächst eher äußerlich dort, wo die Integrität des Hoheitsgebietes den Staatsorganen anvertraut ist, etwa im Notstands- bzw. Kriegsfall - völkerrechtliche SchutzArtikel (z.B. Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) können mit herangezogen werden (auch wenn das Souveränitätsdenken die hier freigelegten Zusammenhänge sonst eher objekthaft verstellt). Es sind in materieller Sicht vor allem die oben analysierten neuen Artikel zum Schutz von Natur, Umwelt und Kultur, die zeigen, wie der Verfassungsstaat in und mit seinem Gebiet "arbeitet", für seine Erhaltung als "Lebensgrundlage" (auch für künftige Generationen) verantwortlich ist. Dieses Verfassen des Staatsgebietes ist ebenfalls ein Stück gelebter Verfassung. Darum das Wort von dem "konstitutionellen" Verständnis des Staatsgebietes. Schubkraft gewinnt dieses Denken dank zweier weiterer Aspekte: Der Schutz von Natur, Umwelt und Kultur steht letztlich seinerseits in Grundrechtsbezügen (als "Grundrechts-Aufgabe" des Staates)199, er ist dem Verfassungsstaat um des Menschen willen überantwortet. Zum anderen ist an die (bundesstaatlichen) Neugliederungs- und die (einheitsstaatlich) auf Regionen und sonstige Dezentralisationsformen bezogenen verfassungsstaatlichen Gliederungs-Artikel zu erinnern. In ihren substantiellen "Richtbegriffen" kommen Verfassungswerte zum Ausdruck (etwa historisch-landsmannschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche Gemeinsamkeiten), die ihrerseits eine Brücke schlagen zu 198
Dazu die Studie des Verf.: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, sowie Sechster Teil VIII Ziff. 2. 199 Zum Begriff mein Regensburger Referat: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff.
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andernorts in der Verfassungsurkunde postulierten Grundwerten. Im übrigen ist an die in Art. 1 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953) normierte klassische Aufgabe des Staates zu erinnern, "die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen" zu fassen, ihnen "Schutz und Förderung" zu gewähren. Kurz: Die Staatsaufgabenlehre ist im angedeuteten200 Sinne auf das Staatsgebiet in der Zeit, in Natur und Raum und als Kultur "fortzuschreiben": Die präzise Auflistung der schon vorhandenen, zwar in einer konkreten Verfassung nie gleichzeitig normierten, aber aus vielen Verfassungen gesamtheitlich herstellbaren Bezüge zu den Grundwerten des Verfassungsstaates als Typus kann dieser Verfassungstheorie des Staatsgebietes eine Schubkraft vermitteln, die sich später da und dort verfassungspolitisch in neue Texte umsetzt. Zum "Raum wird das Gebiet", zur "Kultur werden Umwelt und Natur". Das "Staatsgebiet" steigert hier seine erstliche und letztliche Bedeutung im Verfassungsstaat. A l l dies dank einer textlich unterfütterten, kulturwissenschaftlichen Verfassungstheorie 201 . Anders gesagt: Durch die Projizierung der verfassungsrechtlichen Grundwerte auf das Staatsgebiet wird dieses auf eine Weise selbst zum verfassungsstaatlichen "Grundwert". Das Staatsgebiet erweist sich als räumliche "Basis" für die Verwirklichung verfassungsstaatlicher Grundwerte. Die Analyse der Staatsgebiets-Artikel von Kleinstaaten erweist sich als besonders aufschlußreich 202 . Alle verfassungsstaatlichen Aussagen, in denen das Staatsgebiet allgemein oder speziell, und sei es noch so punktuell, vorkommt, bilden einen Mosaikstein im Gesamtbild dieser "Grundlage für Leben im Verfassungsstaat". (b) Die Dialektik von Europäisierung und Globalisierung der Staatsgebiete einerseits, die Verknappung und daher Intensivierung der Gestaltung durch den Verfassungsstaat andererseits Dieser Theorieaspekt kann sich kurz fassen. Wir beobachten zwei scheinbar gegenläufige Entwicklungslinien: Einerseits relativiert sich das Staatsgebiet durch das Ausgreifen in weiträumige Regionen, ja ins Globale - mit Verantwortungszusammenhängen, die das herkömmliche "Staatsgebiet" des einzelnen Landes arg schrumpfen, fast klein aussehen und sogar materiell als "Kleinstaat"
200 Aus der Lit.: Η-C. Link/G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat, VVDStRL 48 (1990), S. 7 ff/56 ff.; P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. S. noch unten VIII Ziff. 6. 201 Dazu mein Entwurf Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982 (Vorauflage). 202 Dazu P. Häberle, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), aaO., S. 121 (147 ff.). Vgl. Vierter Teil, Inkurs B.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
erscheinen lassen. Die "überstaatliche Bedingtheit des modernen Staates" (W. von Simson) könnte sogar die Frage provozieren, ob der Aufwand einer Verfassungstheorie des Staatsgebiets 1997 noch lohnend ist. Indes: Es gibt auch eine staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen, der Welt. Gerade von ihrem noch so kleinen Gebiet aus müssen alle einzelnen Verfassungsstaaten ihre Verantwortung für die Menschenrechte und die in ihnen verknüpften Grundwerte wahrnehmen. Da die eine immer stärker zusammenwachsende Welt die bewohnbaren Gebiete verknappt, müssen die Verfassungsstaaten das ihnen zugeschriebene Gebiet umso intensiver gestalten. Das eine bedingt das andere. Die heute spürbare Hinwendung zum "Kleinen", zur "Heimat", das Entstehen neuer Kleinstaaten kann auf die "Kultivierung" von Gebieten nicht verzichten, ja sie sucht sie umso intensiver zu "verinnerlichen". Die "Umwelt" einzelner Verfassungstexte ist ein Stück der eins gewordenen Welt, aber diese Welt kann nur überleben, wenn alle Verfassungsstaaten in der einen "Weltgemeinschaft" i.S. eines Weltgesellschaftsvertrags treuhänderisch ihre ("kleine") Welt pflegen: in Gestalt der Optimierung ihrer verfassungsrechtlichen Grundwerte gerade auf ihrem "Gebiet". (c) Verfassungspolitik in Sachen Staatsgebiet Eine Behandlung des Staatsgebiets als Problem des Verfassungsstaates mußte zunächst die einschlägigen Rechtstexte vergleichend erarbeiten, um einen Theorierahmen glaubhaft zu machen, von dem aus die Texte ihrerseits interpretiert und ausgeleuchtet werden können. Doch darf es dabei nicht bleiben. Die Horizonte der Verfassungspolitik gehören mit auf das Forum der Lehre vom Typus "Verfassungsstaat", konkret: Welche Direktiven lassen sich für die künftige "Textverarbeitung" des Themas "Staatsgebiet" entwickeln? Hier einige allgemeine Andeutungen: Jeder verfassungsstaatliche Verfassunggeber der heutigen Entwicklungsstufe sollte bestrebt sein, das Staatsgebiet im "richtigen" Kontext zu behandeln. Empfohlen sei die Plazierung in den Grundlagen-Artikeln eingangs einer Verfassung, in der neben Freiheit, Gleichheit und Demokratie zugleich das Staatsziel "Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur" zur Sprache kommt. Die ältere Textstufe, d.h. das Staatsziel im Kontext allein der herkömmlichen Staatlichkeitselemente wie "Staatsvolk", "Staatsgewalt" ohne normative Zusätze ist überholt. Auf keinen Fall sollte das Staatsgebiet isoliert bei den anderen "Staatselementen" bzw. sog. "Staatssymbolen" "stehen". M.a.W.: Die Theorie von der Konstitutionalisierung des Staatsgebiets muß sich textlich insofern niederschlagen, als das Staatsgebiet sichtbar in den Kontext der Grundwerte des Verfassungsstaates eingerückt wird. Das Staatsgebiet ist eine werterfüllte Basis des Verfassungsstaates, nicht nur des Staates, es ist ein
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Stück Verfassung als Kultur. Am besten wäre es, das Staatsgebiet würde in den werthaltigen Grundlagenteil der Verfassung vorgezogen, in dem schon die wichtigsten Grundrechte zur Sprache kommen. Eine Variante bildet die Möglichkeit, die Grundrechte in den ersten Abschnitt vorzuziehen und den organisatorischen Teil mit Aussagen zum normativen, inhaltlich strukturierten Staatsgebiet zu eröffnen. Auf keinen Fall darf das Staatsgebiet textlich wie früher in älteren Textstufen von den Grundrechten einerseits bzw. den Staatsaufgaben wie Umweltschutz, Kultur andererseits isoliert werden. Zu denken ist auch an Artikel, die den Raum durch Ziele und Prinzipien strukturieren bzw. in Dienst nehmen. Beispiele gibt es schon. Eine freilich nur dem Föderalismus und dem Regionalismus eigene besondere Möglichkeit eröffnen gebiets- bzw. raumorientierte Gliederungs- bzw. Neugliederungs-Artikel nach dem Vorbild von Art. 29 GG oder Art. 227 Verf. Portugal, auch Art. 143 Abs. 1 Verf. Spanien. Der hier gewählte spezifisch verfassungsrechtliche Ansatz hat Konsequenzen bei der Ausgestaltung der Voraussetzungen für Gebietsänderungen: Mindesterfordernis ist ein Parlamentsgesetz, Optimum ein verfassungsänderndes Gesetz: denn Gebietsänderung bedeutet inhaltlich Verfassungsänderung - Konsequenz des hier gewählten verfassungstheoretisch-kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Von den allgemeinen Staatsgebiets-Klauseln sind die speziellen zu unterscheiden. Gemeint sind die besonderen Kontexte, in denen das Staatsgebiet ein tatbestandliches Teilelement eines verfassungsrechtlichen Grundwertes wie des Asylrechts, der Auswanderungsfreiheit, des menschenrechtlich fundierten Status der Ausländer im Inland bildet. Hier kann, nach dem Muster einiger Beispiels-Texte das Gebiets- bzw. Raumelement klar beim Namen genannt werden. Solche Maximen wollen verdeutlichen, daß die hier beobachtete und favorisierte "Konstitutionalisierung" des Staatsgebiets kein bloßes Wort ist, sondern eine nachweisbare Tendenz und innere Konsequenz des Typus Verfassungsstaat in seiner heutigen Entwicklungsstufe. Kleinstaaten wie Liechtenstein ist dies in der Verfassungswirklichkeit wohl eher bewußt als großen Flächenstaaten, in denen Wüsten und Salzseen ebenso zu finden sind wie "Kulturlandschaften". Näher betrachtet, konstituieren diese wie jene die Identität eines politischen Gemeinwesens mit: historisch, natürlich, ökonomisch und kulturell. Sie bilden ein Stück der "inneren Landschaft" jeden Verfassungsstaates, seiner Umwelt, seiner vom Menschen gestalteten Kultur. In dieser Sicht gewinnt das Staatsgebiet viele Dimensionen, denen der konkrete Verfassunggeber möglichst gerecht werden sollte. Der Verfassungswert des Staatsgebietes ist denkbar facettenreich - wie die Verfassung selbst, in deren Prinzipien und Grundwerten er immer neu ganzheitlich integriert ist.
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Nach dieser kulturwissenschaftlichen "Aufschließung" der Sache "Staatsgebiet" wird ein Thema greifbar, das auch, aber nicht nur Aspekte des Territorialen besitzt, in seiner Differenzierung aber wiederum zur Kultur führt: Die "republikanische Bereichstrias": privat/öffentlich/staatlich. Dabei erweist sich einmal mehr das Textstufenparadigma als hilfreich. Doch zuvor ein Inkurs.
9. Insbesondere: Die sog. Staatssymbole im Kontext der neueren Textstufenentwicklung (Inkurs) a) Problem Die sog. "Staatssymbole"203 sind in herkömmlicher Sicht Ausdruck der "Staatlichkeit", die oft "vor" der Verfassung gedacht wird. Meist im Kontext der Staatssprache, des Staatsgebietes, auch der Staatsangehörigkeit gedacht bzw. in den älteren Verfassungsurkunden hier normiert, finden sie sich in Gestalt der Staatsflagge, der Staatshymnen, des Staatswappens, auch der Hauptstadt als "Attribute", mehr noch: als "Elemente" der Staatlichkeit. Sie sind feste Bestandteile meist der Grundlagen- oder Anfangs-Artikel der verfassungsstaatlichen Verfassungen älteren Stils und sollen nach einer tradtitionsreichen Sicht den Staat als solchen "symbolisieren". Auf dem Hintergrund des hier gewählten kulturwissenschaftlichen Ansatzes müssen sie sich jedoch eine andere Deutung gefallen lassen. So wie die "Staatselemente" umgedacht werden, so wie ausweislich der jüngeren Textstufenentwicklung auch das Problem der Sprache im Blick auf sprachliche Minderheiten und kulturelle Pluralität neu gesehen wird 2 0 4 , so ist neu zu fragen, welchen gedanklichen Ort und entsprechend veränderten systematischen Platz die "Staatssymbole" im Verfassungsstaat einnehmen. Denn Flaggen, Hymnen, Wappen, Feiertage und auch Hauptstädte 205 "symbolisieren" nicht den Staat, sondern sie deuten auf kulturelle Dimensionen des politischen Gemeinwesens. In der offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates sind sie grundierende Inhalte, "tragen" sie Funktionen, die die Bürgergesellschaft betreffen.
203 Aus der Lit.: E. Klein, Staatssymbole, HdbStR Bd I (1987), S. 733 ff.; P. Badura,, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 251 ff.- Zur verfassungsstaatlichen "Staatsbürgerschaft": oben Vierter Teil I (Inkurs B.). 204 Dazu Fünfter Teil X und Sechster Teil VIII Ziff. 3. 205 Dazu auch mein Beitrag: Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. Zuletzt etwa Art. 29 Verf. Polen (1997), Art. 10 Verf. Georgien (1995), Art. 5 Verf. Madagaskar (1995), Art. 1 Verf. Niger (1996), Art. 8 Verf. Tschad (1996).
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b) Die neuere Textstufenentwicklung Wie bei vielen "Themen" der hier verarbeiteten Verfassungstexte immer wieder sichtbar, lassen sich in Raum und Zeit Entwicklungen, "Wanderungen", lebhafte Bewegungen und Änderungen beobachten. Teils reichern sich z.B. die Präambeln mit neuen Themen (wie z.B. dem Umwelt- und Generationenschutz oder dem Wahrheitspostulat, so in den Philippinen, 1986, ähnlich Polen, 1997) an, teils finden sich ganz neue Normenensembles etwa zur Verfassunggebung (z.B. Art. 115 Verf. Brandenburg, 1992), zur "Tschernobyl-Katastrophe": (Art. 16 Verf. Ukraine, 1996). Zwischen den Grundrechten und Staatszielen findet, im Vergleich betrachtet, eine lebhafte Osmose statt: Grundrechte werden (zum Teil) zu Staatszielen, manche Staatsziele präsentieren sich (auch) in der Gestalt von Grundrechten oder sind beides (z.B. beim Datenschutz). Die Themenvielfalt der Übergangs- und Schlußbestimmungen und Entwicklungen dort werden später aufbereitet 206 . Sie behandeln mitunter Problemfelder, die in anderen verfassungsstaatlichen Verfassungen systematisch anders, z.B. im organisatorischen Teil, piaziert sind. Bei der verfassungsrechtlichen Eigentumsga207
rantie läßt sich ebenfalls eine Wanderungsbewegung erkennen . Hintergrund solcher textlicher Veränderungen können gewandelte Wertvorstellungen sein, denen die hier praktizierte Textstufenanalyse nachgeht. Im Textwandel können sich aber auch Wandlungen auf der Wirklichkeitsebene widerspiegeln. Speziell die Staatssymbol-Artikel lassen sich auf der heutigen Textstufe des Typus Verfassungsstaat mit Hilfe von zwei Fragen aufschlüsseln: Erstens: Wo sind die Staatssymbole systematisch piaziert: etwa "schon" im GrundlagenTeil? Zweitens: im Kontext welcher anderer verfassungsstaatlicher Themen (neuerdings etwa auch im Zusammenhang mit Rechtsstaatsklauseln, Grundrechtsgarantien oder sonstigen Grundwerten (Stichwort: normative Anreicherung)) finden sie sich? Im einzelnen: Die Verf. Frankreich (1958) piaziert Sprache, Flagge, Hymne und den "Wahlspruch" im Titel "Die Souveränität" (Art. 2) 2 0 8 . Damit ist mit dem klassischen Staats-Verständnis der Symbole textlich-systematisch ernst gemacht. Auch die Verf. Irland (1937/92) rückt Staatsflagge und Nationalsprache in den Abschnitt "Der Staat" ein (Art. 7 und 8). Anders geht die Verf.
206
Vgl. Sechster Teil VIII Ziff. 15. Dazu Sechster Teil VIII Ziff. 7. 208 Ähnlich jetzt wieder Art. 1 Verf. Benin (1990), 1 Verf. Guinea (1991), Art. 1 Verf. Niger (1992).- Auch das Autonomie-Statut von Kantabrien (zit. nach A. Bar Cendon et. al, Codigo Legislativo de Cantabria, 1994, S. 17 ff.) befaßt sich schon in den Eingangs-Artikeln mit Staatssymbolen, Flaggen und Hymnen (Art. 2 und 3). 207
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Italien (1947/93) vor. Im Abschnitt "Grundprinzipien" findet sich auch der Flaggen-Artikel (Art. 12) am Schluß, nachdem zuvor u.a. so wichtige Themen wie Minderheitenschutz (Art. 6), das Staat-Kirche-Verhältnis (Art. 7) und eine Kulturstaats-Klausel (Art. 9) behandelt sind. Etwas vom "Geist" des BV-G Österreich (1920/1994) spiegelt sich in der Art und Weise, wie im "Ersten Hauptstück" Staatsgebiet, Bundeshauptstadt, Sprache, Flagge und Wappen festgelegt werden (Art. 3, 5, 8 und 8 a). Deutlich anders gedacht bzw. "geschneidert" sind die Verfassungen Portugals (1976/92) und Spaniens (1978/92). Portugal lädt die "Grundsätzlichen Bestimmungen" mit der Staatsstrukturnorm und Staatszielen des Art. 2 auf, später folgt ein konzentrierter Staatsaufgaben-Artikel 9 und erst am Schluß wird die Flagge des Landes als "Symbol der Republik, der Unabhängigkeit, Einheit und Integrität Portugals definiert" (Art. 11) und die Nationalhymne festgelegt. Damit ist der Grundwerte-Zusammenhang evident. Spanien bettet in seinem "Vortitel" Sprache, Flagge und Hauptstadt (Art. 3 bis 5) ein in den Kontext seiner Grundwerte (z.B. Freiheit, Gleichheit und politischer Pluralismus (Art. 1 Abs. 1)) bzw. seines Rechtsstaatskonzepts (z.B. Art. 9: Vorrang der Verfassung, Publizität der Normen etc.). Damit sind die beiden typischen Text-Versionen vorgestellt: betont von der Staatlichkeit her gedachte Themen von symbolischem Rang einerseits, im Kontext (anderer) Grundwerte piazierte, insofern normativ gedachte SymbolArtikel andererseits. Zwischen beiden Regelungs-Typen variieren auch die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen. Das sei an weiteren Beispielen belegt: Die Verf. Guatemala (1985), deren Text hier mehrfach als "Arbeitsmaterial" für eine moderne Verfassungslehre benutzt wird (etwa bei den Erziehungszielen oder kulturellen Grundrechten), piaziert den Staatssymbol-Artikel erst im Titel III "Der Staat". Hier finden sich Festlegungen zum Staatsgebiet, zur Landessprache und zur Staatsbürgerschaft (Art. 142, 147). In den vorangehenden Artikeln wurden die Herrschaft des Rechts, die Verpflichtung des Staates auf das Gemeinwohl, die Pflichten des Staates (Präambel, Art. 1, 2) und die Menschenrechte sowie die sozialen Grundrechte mit (gelegentlich zu vielen) Staatsaufgaben behandelt (z.B. Art. 102 und 1 19 209 ). Die Verfassung Namibias (1990) piaziert die "Nationalen Symbole" schon in Art. 2, im Kontext der inhaltlichen Anreicherung des Begriffs "Republik" (Art. 1: "principles of democracy, the rule of law and justice for all"). Das dürfte fur die innere und 209
Die alte Verf. Peru (1979) relativiert das Staats-Kapitel, behandelt in ihm aber die Themen Amtssprache, Flagge (Art. 83 bis 85), Wappen und Nationalhymne als "Symbole des Vaterlandes".
VI. Eine Revision der "Staatselemente"
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äußere Selbstbehauptung erforderlich sein. Länder, die sich in ihrer Identität erst noch finden müssen, indem sie sich etwa von ihrer Kolonialzeit verabschieden bzw. wie in Osteuropa den Abschied vom Marxismus/Leninismus vollziehen, mögen gezielt auf das Sinnpotential nach vorn gerückter Staatssymbol-Artikel zurückgreifen. So nimmt sich Verf. Slowenien (1991) des Themas Wappen, Flagge, Hymne, auch Hauptstadt und Sprache in den "Allgemeinen Bestimmungen" an (Art. 6, 10 und 11), nicht ohne vorweg verfassungsstaatliche Elemente wie Rechtsund Sozialstaat, auch Demokratie und Gewaltenteilung postuliert zu haben (Art. 1 bis 3). Die Verf. Turkmenistan (1992) 210 - um gemäß der These vom großen Produktions- und Rezeptionszusammenhang der heutigen Verfassunggeber im folgenden chronologisch vorzugehen - behandelt Staatsflagge, Staatssymbole und Hauptstadt im Abschnitt "Grundlagen der Verfassung" am Schluß (Art. 14 und 15), nachdem zuvor diese Verfassung in ihren wesentlichen Elementen wie Rechtsstaat (Präambel), Vorrang der Verfassung (Art. 5 Abs. 2), Schutz von Kultur und Natur (Art. 10) hinreichend charakterisiert worden ist. Die Verf. Estland (1992) rückt Staatssprache und Flagge an den Schluß der allgemeinen Bestimmungen (Art. 7), nachdem Präambel und Art. 1, auch Art. 5 die Grundwerte festgelegt haben. Die Verf. Litauen (1992) legt die entsprechenden Themen ähnlich am Schluß des Eingangs-Kapitels fest (Art. 14: Sprache, Art. 15: Flagge, Art. 16: Nationalhymne, Art. 17: Hauptstadt). Damit ist eine "Quadriga" an Staatssymbolen nacheinander zum Text gemacht, wie dies eine Verfassungslehre nicht besser leisten kann 211 . Die Verf. Ukraine (1996) nimmt sich des Themas "state symbols" in Art. 20 an, der die "allgemeinen Grundsätze" des ersten Kapitels abschließt. In diesem finden sich höchst konzentriert die neuen Grundwerte wie Art. 3 Abs. 2
210
Die Verf. Rußland (1993) behandelt die hier diskutierten Themen erst im Kapitel der "föderative Aufbau". Territorium, Staatssprache, Flagge und Hymne sowie Hauptstadt sind hier in einem Zug und gleichen Kontext erörtert (Art. 67 bis 70). 2,1 Ähnlich Art. 8 bis 10 Verf. Slowakische Republik (1992) sowie Art. 12 bis 14 Verf. Rumänien (1991), die den Staat zuvor ebenfalls durch die Grundwerte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit definiert hat (Art. 1). Schon Verf. Kroatien (1991) in Art. 11 bis 13 und die Verf. Mazedonien (1991) behandelt die Staatssymbole (Art. 5) inmitten der übrigen verfassungsstaatlichen Themen wie Demokratie und Sozialstaat (Art. 1) und Grundwerte (vgl. die Liste in Art. 8 (u.a. Grundrechte, rule of law, Gewaltenteilung, freie Marktwirtschaft, Humanismus, Umweltschutz)). Dieser Art. 8 liest sich fast wie ein Lehrbuch zu den Grundwerten des Verfassungsstaates von heute ("fundamental values of the constitutional order").- Staatssprache, Hauptstadt und Staatssymbole sind auch in Verf. Aserbeidschan (1995) in ähnlichem Text und Kontext geregelt (Art. 21 bis 23).
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("Individual rights and freedoms and the guarantee thereof determine the essence and aims of the activity of state"). Im südlichen Afrika findet die auch im übrigen innovationsreiche Verfassung der Provinz Kwazulu Natal (1996) nach einer inhaltsreichen Präambel (z.B. "prosperous society for the present generation and posterity") und einem bewährten Grundwerte-Artikel zu dem Kapitel "Features of the Province". Hier werden "symbols", "territory", "language" abgehandelt (Ziff. 1 bis 4) 2 1 2 . Im ganzen: Die Themen, die die herkömmliche Lehre unter dem Stichwort "Staatssymbole" behandelt, bleiben ein wichtiges Anliegen des Verfassungsstaates: angesichts des Istbestandes wie auch verfassungstheoretisch (Sollbestand). Auf der heutigen Entwicklungsstufe lassen sich freilich aussagekräftige Veränderungen der Kontexte beobachten. Einen paukenschlagartigen Beginn mit den "Staatssymbolen" leisten sich nur noch wenige Länder. Sprache, Staatsgebiet, Flagge und Hymne, auch Hauptstadt rücken in differenzierte Zusammenhänge, die sie mit den verfassungsstaatlichen Grundwerten verbinden. Hier haben sie ihren Platz, da auch und gerade die Verfassung des Pluralismus grundierender Inhalte bedarf: aber eben in einem Gemeinwesen, in dem der Staat "um des Menschen willen da ist" (Verfassungsentwurf Herrenchiemsee von 1948) und das die einenden Symbole des Ganzen der offenen Gesellschaft nicht "an und für sich" als Stück Staat versteht, sondern als ein Stück inhaltlicher Öffentlichkeit. Das "Republikanische" wird im folgenden unter einem räumlich-inhaltlichen Aspekt aufgeschlüsselt:
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich 1. Problem Der Begriff "republikanische Bereichstrias", schon vor vielen Jahren vorgeschlagen 213 , versucht die drei Bereiche privat/öffentlich und staatlich auf dem Forum der Verfassungslehre an die "Republik" zurückzubinden und diese drei 212 Die Verf. Uganda (1995) nimmt sich in Kap. zwei "Die Republik" der Staatssymbole, der Hauptstadt und der Flagge an (Art. 5, 6 und 8).- Vorbildlich geht Art. 2 Abs. 4 Verf. Sachsen (1992) vor ("Hauptstadt, Landesfarben, Landeswappen"), insofern er im Grundlagenteil den Sorben in ihrem Siedlungsgebiet die gleichberechtigte Führung ihrer "Farben und Wappen" eröffnet. 213 Vgl. P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1. Aufl. 1978 (2. Aufl. 1996), S. 193, 244 f.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
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Bereiche gleichwohl in ihrem Proprium und ihrer kulturellen Differenziertheit wirken zu lassen. Die res publica als Rahmen, das meint auch eine Bezugnahme auf andere "republikanische" Begriffe wie "öffentliche Freiheit", "öffentliches Wohl", "öffentliches Recht" in einem tieferen, nicht-technischen Sinne. Was im Abschnitt "Republik" ausgeführt wird 2 1 4 , ist im folgenden Kontext bereits "mitzulesen". Das politische Gemeinwesen des Verfassungsstaates besteht aus und lebt in einer Vielzahl unterscheidbarer Bereiche, die alle ihr Proprium haben und ohne die es keinen "Pluralismus" geben kann. J. Habermas' Wort vom "republikanischen Kantianismus", der das staatsbürgerliche Engagement, die kollektive Konstitution autonomer Öffentlichkeit der privaten 215
Freiheit gleichberechtigt zur Seite stellt , ist eine "Parallelaktion" der politischen Philosophie, die hier nach den Maßen einer vergleichenden Verfassungslehre gewagt wird. Dabei mag auch ein Verweis auf die heute entstehende "Weltöffentlichkeit" mitgedacht sein, in die Themen wie "Weltbild des Verfassungsstaates", "status mundialis hominis" gehören 216 , und in Europa stellt sich die Frage, inwieweit es schon eine "europäische" Öffentlichkeit gibt, die sich z.B. aus den Wissenschaften und Künsten speist und im Gemeineuropäischen Verfassungsrecht durchaus schon konkrete Erscheinungsformen besitzt 217 . Indes sei im folgenden das Private und Öffentliche nur im Maßstab des einzelnen Verfassungsstaates behandelt, so vielfältig die Wechselwirkungen zwischen "innerverfassungsstaatlicher" Öffentlichkeit und regionaler bzw. Weltöffentlichkeit heute sind. Im übrigen sollte der Bereichstrias die Aufgabenlehre im Verfassungsstaat entsprechen, indem zwischen privaten, öffentlichen und staatlichen Aufgaben präzise unterschieden wird (dazu unten V I I I Ziff. 6). 2. Das Private, Privatheitsschutz Das Private ist nicht primär als ausgegrenzter Bereich zu denken, der den Kommunikationszusammenhängen der Menschen in einem politischen Gemeinwesen fern steht. Doch sollte man auch diese Möglichkeit des "ohne mich" anerkennen, in dem Bewußtsein freilich, daß auch der Privatbereich ein Stück "kultureller Freiheit" ist und "im" Gemeinwesen konstituiert wird, nicht etwa außerhalb von ihm in einer Sphäre vermeintlich "natürlicher" Freiheit. Unter diesem Vorbehalt sind die Verfassungstextaussagen zum Privatbereich als 214
Dazu unten VIII Ziff. 12. Zuletzt J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Studien zur politischen Theorie, 1996. 216 Dazu unten XIII. 217 Dazu unten XI. 215
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Schutzzonen individueller Identität und Freiheit denkbar ernst zu nehmen gerade auch auf dem Hintergrund der 1989 gestürzten totalitären Regime, die alles potentiell ver-öffentlicht und "gesellschaftlich" okkupiert haben. Ein Blick in die Textstufenentwicklung ist aufschlußreich: Während das deutsche GG von 1949 dem Wort nach keinen eigenen grundrechtlichen Privatheitsschutz kennt und dieser erst durch Wissenschaft und Rechtsprechung 218
entwickelt werden mußte , erweisen sich andere Verfassungen und Menschenrechtstexte schon prima facie als ergiebiger. Bereits Art. 8 EMRK von 1950 formuliert den "Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens" von Jedermann. Art. 26 Verf. Portugal (1976/1992) 219 schützt das "Recht eines jeden auf die Identität der Person ... und auf die Achtung des privaten und familiären Lebensbereiches"; Art. 18 Abs. 1 Verf. Spanien (1978/92) spricht ähnlich vom Recht "auf die persönliche und familiäre Intimsphäre und das Recht auf das eigene Bild". Eine neue Textstufe spiegelt sich aber schon in Art. 10 Abs. 2 Verf. Niederlande (1983/1995), insofern es dort heißt: "Der Schutz der Privatsphäre wird im Zusammenhang mit der Speicherung und Weitergabe persönlicher Daten durch Gesetz geregelt". Dieser Ausgestaltungsvorbehalt verarbeitet die Probleme, die in Deutschland etwa durch das von BVerfG prätorisch entfaltete Grundrecht auf "informationelle Selbstbestimmung" (BVerfGE 65, 1) behandelt und in den Landesverfassungen nach und nach durch spezielle Verfassungsänderungen zum Datenschutz "getextet" wurden (z.B. Art. 21 b Verf. Berlin 1950/94, Art. 11 Verf. Brandenburg 1992, Art. 6 Verf. Mecklenburg-Vorpommern 1993, Art. 4, 77 a Verf. Nordrhein-Westfalen 1950/1992). Erneut bestätigt sich das Textstufen-Paradigma, insofern z.B. die Verfassungsjudikatur nicht selten zu formellen Verfassungsänderungen führt. Das zeigt erst recht ein Blick in die jüngste Verfassungs- bzw. Entwicklungsgeschichte des Auslandes in Sachen Privatheitsschutz. So regelt Art. 2 Ziff. 5 Verf. Peru (1979) 220 das Problem der Privatsphäre von einer Seite her, die erst jüngst ins Bewußstein getreten ist: Recht "auf Ehre und guten Ruf, auf persönliche und familiäre Intimsphäre und auf das eigene Bild. Jeder, der durch unrichtige oder belastende Behauptungen, die in einem der gesellschaftlichen Kommunikationsmittel veröffentlicht werden, in seiner Ehre verletzt wird, hat 218 Dazu G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976; W. Schmitt Glaeser, Schutz der Privatsphäre, HdBStR Bd. VI (1989), S. 41 ff.; D. Rohlf Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980.- Aus der Judikatur des BVerfG: E 65, 1; s. im übrigen meinen Aufsatz "Verfassungsprinzipien im Verwaltungsverfahren, in: W. Schmitt Glaeser (Hrsg.), Verwaltungsverfahren, 1977, S. 47 (76). Zuletzt BVerfGE 89, 214; 90, 255. 2,9 Zit. nach Beck-Texte, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, 4. Aufl. 1996. 220 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich659 ein Recht auf kostenlose Richtigstellung...". Die Verf. Guatemala (1985) 221 nennt nicht nur die klassischen Elemente verfassungsstaatlichen Privatheitsschutzes wie Religionsfreiheit (öffentliche wie private Ausübung!), Privateigentum, Schutz der Familie und der Wohnung sowie des Briefgeheimnisses (Art. 36, 41, 39, 24, 23), sie formuliert auch einen Aspekt des Privatheitsschutzes neu: als "kulturelle Identität" (Art. 58): "Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche an". Damit ist die kulturelle Grundierung aller Privatheit, zugleich ihre Verschränkung mit der Gemeinschaft angedeutet - geglückter als so manche Privatheitstheorie der Wissenschaften. Ein Blick auf Afrikas neue verfassungsstaatliche Verfassungen ist nicht minder ergiebig. Art. 13 Abs. 1 Verf. Namibia (1990) 222 verweist implizit auf die US-amerikanische Privacy-Lehre in den Worten: "No person shall be subject to interference with the privacy of their home, correspondence or communications save as in accordance with law...". Art. 14 der Bill of Rights der Verfassung Südafrikas (1996/97) gelingt eine besonders prägnante Fortentwicklung der Textstufen in den Worten: "... everyone has the right to privacy, which includes not to have (a) their person or home searched; (b) their property searched; (c) their possessions seized; or (d) the privacy of their communications infringed." Was in den "alten" Verfassungsstaaten aus punktuellen Regelungen ganzheitlich buchstäblich "zusammengelesen" werden muß, ist hier auf den Punkt 223
und Text gebracht . Ein letzter Blick gelte den Reformstaaten in Osteuropa und Asien. Art. 23 Abs. 1 Verf. Rußland (1993) 224 sagt: "Jeder hat das Recht auf die Unantastbarkeit des Privatlebens, auf das persönliche und Familiengeheimnis, auf den Schutz der Ehre und seines guten Rufes". Art. 22 Abs. 1 Verf. Litauen
221
Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. Zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff. S. auch Art. 12 Verf. Guinea (1990). 223 In Art. 5 X Verf. Brasilien (1988), zit. nach JöR 38 (1989), S. 462 ff, heißt es: "Intimsphäre, Privatleben, Ehre und Ansehen der Person sind unverletzlich...". Ziff. XI. sagt besonders bildhaft: "Das Haus ist unverletzliche Heimstatt des Individuums" - eine glückliche Variante zum gängigen Wohnungsschutz. 224 Zit. nach J.H. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1993, S. 381 ff. 222
45 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft 225
(1992) bestimmt apodiktisch: "The private life of an individual shall be inviolable". Die folgenden Absätze konkretisieren dieses Postulat. Ähnlich geht Art. 32 Verf. Bulgarien ( 1991 ) 2 2 6 vor. Der Verfassungsentwurf Weissrußlands (1994) nimmt sich des Privatheitsschutzes - verständlich auf Grund der bewußten Polemik gegenüber dem sozialistischen Vorgänger-Staat - umfassend in Art. 28 an: "Everyone shall be entitled to protect against unlawful interference with his private life, including enactments on the privacy of his correspondence and telephone and other communications, and on his honor and dignity." Soweit ersichtlich hat der "Privacy-Gedanke" sehr viele Reformverfassungen erobert und zwar schon in Gestalt der Verfassungstexte. So heißt es z.B. in Art. 31 Verf. Ukraine (1996): "every person is guarenteed privacy of mail, telephone conversations, telegraphs, and other messages". Zuvor formulierte schon Art. 23 Verf. Turkmenistan (1992) 227 : "Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz gegen willkürliche Eingriffe in sein Privatleben, geheime Korrespondenz, telefonische oder andere Mitteilungen sowie in seine Ehre und seinen Ruf." (Ähnlich Art. 19 Verf. Georgien von 1995.) Unschwer zeigt sich nicht nur der große Wirkungszusammenhang, in dem die neuen Verfassungstexte in einer Kontinente und Meere überschreitenden Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft stehen. Sichtbar wird auch, daß der Privatheitsschutz in vielen textlichen Varianten umschrieben wird, im Ganzen aber sich einen selbständigen Platz im Ensemble des verfassungsstaatlichen Grundrechtsschutzes erworben hat. Aus den Ergebnissen der Textstufenanalyse sollten verfassungstheoretische Konsequenzen gezogen werden: Der Privatheitsschutz ist im modernen Verfassungsstaat konstitutiv. Er ist zwar im ganzen durch einen Zusammenschluß vieler Einzelgrundrechte und ihrer "privaten Seite" gesichert, die neuen besonderen Privatheitsschutzgarantien setzen aber einen eigenen Akzent. Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit im Verfassungsstaat mag mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen Theorien erklärt, auch legitimiert werden. Er ergibt sich aber "selbständig" aus einer als juristischen Text- und Kulturwissenschaft gewagten vergleichenden Verfassungslehre. Privatheit des Bürgers ist ein Stück Kultur, neue Verfassungen waren und sind gut beraten, die kulturelle Freiheit und Identität eigens zu schützen. Das "andere", die Vielfalt der Gemeinschaftsbezüge (z.B. der Familie, des privaten Vereins, der "privaten" Religionsgesellschaft) ist dabei mitgedacht. Vor allem Wissenschaft und Kunst zeigen, wie sehr das politische Gemeinwesen letztlich und erstlich seine Ressourcen aus 225 226 227
Zit. nach JöR 44(1996), S.360 ff. Zit. nach JöR 44(1996), S.497 ff. Zit. nach JöR 42(1994), S.674 ff.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich661 dem zieht, was der "private" Künstler und Wissenschaftler schafft, leistet - oft auch (er)leidet: es geht um Kultur 2 2 8 . Insofern ist der Privatbereich kein GegenBereich zum Öffentlichen bzw. Staatlichen der verfaßten Staatsorgane. Er bedarf insbesondere des Schutzes durch diesen Verfassungsstaat und seine Organe. Selbst die private Freiheit ist also keine "antistaatliche" oder gegenstaatliche Veranstaltung: es bedarf einer Fülle schützender, umhegender, ausgestaltender vom Verfassungsstaat gesetzter und auch (z.B. durch die Richter) c/wrcAgesetzter Normen 229 ).
3. Das Öffentliche a) Von R. Smend wiederentdeckt 230 , von K. Hesse früh in die Dogmatik des Art. 21 GG eingearbeitet 231, wurde es später durch J. Habermas in der ganzen Fülle seiner Sozialphilosophie behandelt 232 . Mittlerweile hat "Öffentlichkeit", so schwierig sie nach wie vor zu fassen ist, ihren festen Platz im Rahmen der Grundrechts-, Demokratie- und Oppositionsfragen. Dem hier verfolgten Textstufenparadigma gemäß sei anhand einiger neuerer Verfassungsentwicklungen die anhaltende "Wichtigkeit" des Öffentlichen, seines Wirkfeldes und seiner Funktionen illustriert. b) Doch zunächst eine theoretische Vorklärung. Das Öffentliche und die Öffentlichkeit meint im hier gebrauchten Sinne ein Doppeltes: Im Rahmen der republikanischen Bereichstrias deutet es - räumlich - auf ein bestimmtes Feld der Res publica: den Zwischenbereich zwischen staatlich und privat, vielfach auch als "Gesellschaft" charakterisiert. In ihm wirken unterschiedliche Kräfte wie die politischen Parteien mit ihrem eigenen öffentlichen Status (vgl. Art. 21 228 Zur Wissenschafts- und Kunstfreiheit vgl. (auch im Kontext des "Selbstverständnisses"): Dritter Teil Inkurs A. 229 Zum alten und doch immer wieder neuen Streit um das einstige Eingriffs- und Schrankendenken: meine "Wesensgehaltgarantie", aaO, 1. Aufl. 1962, S. 159 ff, 222 ff, 3. Aufl., 1983, S. 392 u. ö. m.w.N. 230 Vgl. R. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, Ged. Schrift für W. Jellinek, 1955, S. 13 ff. Vgl. Vierter Teil V. 231 K. Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (41 ff.). 232 J. Habermas, Stukturwandel der Öffentlichkeit, 8. Aufl., 1976, 12. Aufl., 1980; zur 3. Auflage (1968) mein Besprechungsaufsatz Öffentlichkeit und Verfassung, in: ZfP 16 (1969), S. 273 - 287.- Zur öffentlichen Meinung: W \ Bauer, Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen, 1914 (Neudruck 1981); M. Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massenmedien, HdBStR Bd. II, 1987, S. 171 ff.- § 1 Abs. 2 PartG spricht ausdrücklich von der "öffentlichen Meinung". Vgl. auch BVerfGE 91, 262 (268); 90, 27 (32). Bemerkenswert E 89, 155 (185): öffentliche Meinung in Europa.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Abs. 1 S. 4 GG) 2 3 3 , die staatsferneren Kirchen als "öffentliche Potenzen" (A. Hollerbach), aber auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen und an der Spitze der öffentlichen Medien das private Fernsehen. Der Presse wurde in Deutschland ebenso früh wie häufig eine öffentliche Aufgabe zugeschrieben 234, jedenfalls beeinflußt sie die "öffentliche Meinung". Auch die Gewerkschaften und Arbeitgeber als mächtige, immer neu auszutarierende Pluralgruppen siedeln sich im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich an. Öffentlich meint aber auch eine inhaltlich wertbezogene Dimension: es geht um die "salus publica", um das "Kräfteparallelogramm" eines politischen Gemeinwesens, aus dem sich pluralistisch Kräfte bündeln, miteinander in Dissens und Konsens ringen, um schließlich z.B. in der Öffentlichkeit des Parlaments in einem Gesetzesbeschluß Gestalt anzunehmen. Auch der Bürger, der die öffentliche Seite seiner Grundrechte in Anspruch nimmt, etwa in Form der Demonstrationsfreiheit als "Pressefreiheit des kleinen Mannes" oder in Gestalt der Praktizierung seiner Religionsfreiheit im Wege der Teilnahme an einer kirchlichen Prozession, hat Teil am Öffentlichen - räumlich wie wertbezogen. Darum ist es nur konsequent, daß viele Grundrechtsgarantien der Religionsfreiheit auch die öffentliche Ausübung ausdrücklich schützen (z.B. Art. 9 Abs. 1 EMRK). Mit Grund kann von "öffentlichen Freiheiten" gesprochen werden - im republikanischen Frankreich ist das Wort "libertés publiques" geläufig (vgl. auch Titel I Kap. 2 Abschnitt 1 Verf. Spanien). Während das Gemeinwohl, das von den Staatsorganen z.B. als Gesetz, als Beschluß der Regierung oder auch in der Form der Gemeinwohlkonkretisierung durch den Richter 235 gehalten wurde (vorläufig) "fertig" ist (freilich auch im Reformwege verändert werden kann), also zunächst zu Recht "geronnen" ist, bleibt das Gemeinwohl, um das im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich gerungen wird, denkbar offen und unfertig. Viele Gemeinwohlkonzeptionen z.B. der Parteien und Tarifpartner, streiten miteinander, bis sich etwa der Deutsche Bundestag wie im Falle der Pflegeversicherung zu einem verbindlichen Gesetzesbeschluß durchkämpft: 1995 (dazu V I I I Ziff. 6). Das Öffentliche, der öffentliche Bereich läßt sich mit den Kategorien der Verfassungslehre nur begrenzt näher strukturieren: So mag man zwischen "politischer", "wirtschaftlicher" und "kultureller" (als Teil von ihr wissenschaftlicher und künstlerischer) Öffentlichkeit unterscheiden - je nachdem, um 233
Dazu K. Hesse, aaO., VVDStRL 17 (1959), S. 11 (44). Aus der Diskussion: U. Scheuner, Pressefreiheit, VVDStRL 22 (1965), S. 1 (29 f.); P. Dagtoglou, Wesen und Grenzen der Pressefreiheit, 1963. 235 Zu den richterlichen Techniken: mein Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 240 ff; fortgeschrieben als "Gemeinwohljudikatur" in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 235 ff, 343 ff. 234
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich663 welche Sachthemen es geht und wer sich zu Wort meldet bzw. "fungiert". Wie anderwärts gezeigt, dürften Kunst und Wissenschaft die dauerhafteste "Kristallisation" schaffen: als "Kultur" 2 3 6 ; Wirtschaft und Politik vergehen, Klassikertexte von Kunst und Wissenschaft bestehen. Freilich gibt es hier wie dort "Moden", flüchtige Ausformungen des "Zeitgeistes". Gleichwohl hat die politische Öffentlichkeit ihren guten, den Verfassungsstaat mit auf dem Weg haltenden Sinn. Im Zeichen der Europäisierung, ja Globalisierung werden heute immer mehr Konturen einer spezifisch europäischen, ja Weltöffentlichkeit sichtbar. Sie bestehen ihrerseits aus einer bereichsspezifischen und einer werthaften Dimension. So sprechen Europarechtstexte vom "kulturellen Erbe Europas", die Konventionen zum Weltkultur-Erbe konstituieren ihrerseits eine Weltöffentlichkeit mit 2 ' 7 . Auf der Europaebene finden wir im Europäischen Parlament und Europarat Aspekte politischer Öffentlichkeit, so schwach sie derzeit noch sein mögen - das europäische Bürgerrecht und die europäischen Parteien liefern ebenfalls Ansatzpunkte. Auf Weltebene schafft das Forum der UN, auch manche NGO, Mosaiksteine einer Weltöffentlichkeit, so defizitär hier vieles gerade unter Wertgesichtspunkten wie Menschenrechten, ihrer Durchsetzung, und praktizierter Humanität bleibt. Die vielen Öffentlichkeiten sind vielfältig miteinander verschränkt, was sich besonders in Europa zeigt. In manchen ließe sich auch von "erster", "zweiter" und "dritter" Öffentlichkeit sprechen. "GegenbegrifP (bzw. "Korrelatbegriff') ist hier jedenfalls zum einen das Private bzw. der Staat, zum anderen das Private und der individuelle Nutzen (z.B. in Gestalt der nur z.T. anzuerkennenden Kunstfigur "homo oeconomicus" 238 ). Das sollte bei allen Abgrenzungs- und Eingrenzungsversuchen bedacht werden. So wenig der Begriff "Gesellschaft" im Rahmen dieser Verfassungslehre zentral gebraucht wird, weil darin die Facetten der republikanischen Bereichstrias und insbesondere ihr Bezug auf das Öffentliche und seine Nachbarbegriffe wie "öffentliche Freiheit" und "öffentliches Wohl" nicht zum Ausdruck kommen: Die bisher für das Spannungsfeld 239
"Staat und Gesellschaft" entwickelten Fragen
2 ,6
stellen sich auch hier: d.h. es
Dazu Dritter und Vierter Teil. Dazu unten XII; zu Europa: A. von Brünneck, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 1989, S. 249 ff. 238 Dazu VIII Ziff. 7. 2,9 Dazu H. Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft", als verfassungstheoretisches Problem, in: FS R. Smend, 1962, S. 23 ff, K. Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidungen von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437 ff.; H.H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HdBStR I 2,7
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
geht um Überschneidungen, nicht Trennungen. So ist allen Identifikationsideologien nach dem Muster totalitärer Staaten abzusagen: öffentlich, staatlich und privat dürfen nicht "deckungsgleich" werden. Der Staat hat kein Monopol auf das öffentliche Wohl, er stellt nur arbeitsteilige Konkretisierungsformen und verfahren zur Verfügung. Der Bürger ist in seiner Privatheit ebenso geschützt wie diese für die Res publica unverzichtbar bleibt. In diesem Sinne ist auch das Ringen um Abgrenzung und Zuordnung von Öffentlichem Recht und Privatem Recht zu sehen 240 . Das Privatrecht steht in einem differenzierten Öffentlichkeitsbezug und hat Teil an der inneren Res Publica. Umgekehrt ist das öffentliche Recht nicht das Recht der Unfreiheit und des Zwanges, auch nicht das des alleinigen Gemeinwohlbezugs. Beide konstituieren die republikanische Bereichstrias im Verfassungsstaat mit. Grenzveränderungen und Funktionswechsel gehören zur normalen Entwicklung des Verfassungsstaates, so wie es wohl ein ewiges Ringen um "mehr Staat" (Verstaatlichung) und "mehr Markt" (Privatisierung) gibt. Auch sind Zwischenformen wie das "Öffentliche Wirtschaftsrecht" im Auge zu behalten 241 . c) An einigen Verfassungstextbeispielen sei gezeigt, wie das Öffentliche bzw. die Öffentlichkeit im Verfassungsstaat schon auf Verfassungsebene mitgedacht sind, wie sie in ihren Inhalten und Bezügen das untermauern, was hier entwickelt wurde. Das "Verfassungsprinzip Öffentlichkeit" findet sich im Grundgesetz vielfältig: in der öffentlichen Rechenschaftslegungspflicht der Parteien (Art. 21 Abs. 1 S. 3), im Grundsatz der öffentlichen Verhandlung des Bundestages (Art. 42 Abs. 1 S. 1) und des Bundesrates (Art. 52 Abs. 3 S. 3), aber der Sache nach auch in der (öffentlichen) Verkündung von Parlamentsgesetzen im BGBl. (Art. 82). Die Verf. Italien (1946) umschreibt in Art. 17 den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit auch mit dem Element "an öffentlich zugänglichen Orten" (Art. 8 Abs. 2 GG spricht vom "freien Himmel"). Sogar im Wort von der "öffentlichen Gesundheit" (Art. 16 Abs. 1 Verf. Italien) klingt ein "Öffentlichkeits- bzw. Gemeinwohlbezug " an. In Art. 33 Abs. 2 GG und Art. 51 Abs. 2 Verf. Italien ist der gleiche "Zugang zu öffentlichen Ämtern" geregelt. Art. 97 ebd. spricht von "öffentlicher Verwaltung". (1987), S. 1187 ff. sowie der von E.-W. Böckenförde herausgegebene Sammelband: Staat und Gesellschaft (1976). 240 Dazu K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Assmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996; s. auch P. Häberle, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, in: H. Hauser u.a. (Hrsg.), Ergänzungen, 1990, S. 519 ff. Speziell zum "Problem der Öffentlichkeit der öffentlichen Verwaltung" gleichnamig: P. Pernthaler, FS Adamovich, 1992, S. 544 ff. 241 Dazu R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 1, 1995, Teil 2, 1996.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich665 Die Verf. Griechenland (1975) bleibt bei diesen Öffentlichkeitstatbeständen (so z.B. bei Art. 11 Abs. 2 (öffentliche Versammlungen)). Im Schutzbereich der Pressefreiheit ist aber zusätzlich von "Veröffentlichung" die Rede (Art. 14 Abs. 3). Die Eides-Leistung der Abgeordneten ist besonders herausgestellt, insofern sie in öffentlicher Sitzung zu geschehen hat (Art. 59 Abs. 1). Art. 93 Abs. 2 Verf. Griechenland normiert ausdrücklich die Sitzungsöffentlichkeit für alle Gerichte, wozu das GG bekanntlich schweigt. Auch die Pflicht zur Veröffentlichung der "Minderheitsmeinung" ist vorgeschrieben (Art. 93 Abs. 3 S. 2), womit der Zusammenhang von Verfassungen und Öffentlichkeit auf neuem Gebiet gewagt wird (vgl. dazu nur § 30 Abs. 2 BVerfGG). Eine neue Textvariante ist der Verfassung Schweden (1975/1980) gelungen. Kap. 1 § 2 Abs. 2 sagt: "Die persönliche, finanzielle und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen hat das primäre Ziel der öffentlichen Tätigkeit zu sein". Damit ist der Gemeinwohlauftrag aller staatlichen öffentlichen Funktionen formuliert. Schweden gehört auch zu den ersten Verfassungen, die einen ausdrücklichen Schutz der öffentlichen Demonstrationsfreiheit festschreiben (Kap. 2 § 1 Ziff. 4: "Demonstrationsfreiheit: die Freiheit, auf öffentlichen Plätzen Demonstrationen zu veranstalten und daran teilzunehmen"). Damit ist ein Aspekt der "öffentlichen Meinung" grundrechtlich abgesichert. Ein Blick in die Verfassung der Niederlande von 1983 folge: Hier taucht der Begriff "öffentliche Ordnung" bei der Beschreibung der Pressefreiheit (Art. 8) ebenso auf wie der Schutz der "Privatsphäre" (Art. 10 Abs. 2). Wie im GG (Art. 7) ist von "öffentlichen Schulen" (Art. 23) die Rede, darüber hinaus von "öffentlichem Unterricht" (Art. 23 Abs. 3). Im übrigen finden sich die bekannten Öffentlichkeitstatbestände im Parlamentsrecht. Die Verf. Portugal (1976/92) steuert die neue Textstufe bei, daß die elektronische Datenverarbeitung nicht zur Verarbeitung von Daten über "das Privatleben" verwendet werden dürfe (Art. 35 Abs. 3). Und Art. 38 Abs. 6 normiert eine Neuerung in den Worten: "Die Struktur und der Betrieb der Massenkommunikationsmittel des öffentlichen Bereichs müssen ihre Unabhängigkeit gegenüber der Regierung, der Verwaltung und der sonstigen öffentlichen Gewalt schützen" (ein Beleg für einen "Insichkonflikt" des Öffentlichen 242 ). Art. 40 Abs. 1 spricht auch vom Anrecht der Parteien und Gewerkschaften sowie Wirtschaftsverbände auf "Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen". Innovativ ist auch Art. 117 Verf. Portugal, insofern er den parlamentarischen Oppositionsparteien das Recht gibt, "regelmäßig und unmittelbar von der Regierung über den Verlauf der wesentlichen Angelegenheiten von öffentlichem Interesse unterrichtet zu werden". Damit ist neu ein sehr offener Gemeinwohltatbestand normiert. 242
Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse, aaO., S. 420 ff. u.ö.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Der Verf. Spanien (1978/92) sind ebenfalls neue Textstufen geglückt, die die Verfassungslehre zu verarbeiten hat, so sehr die Verfassungslehre ihrerseits Ergebnisse der Wissenschaft und Judikatur auf den Punkt bzw. Begriff und Text gebracht hat. So sagt Art. 23 Abs. 1 ganz im Sinne eines materiellen Republikverständnisses, das auch für verfassungsstaatliche Monarchien wie Spanien gilt: "Die Bürger haben das Recht, an den öffentlichen Angelegenheiten direkt oder durch Vertreter, die in periodischen allgemeinen Wahlen frei gewählt werden, teilzunehmen". Der öffentliche Status des aktiven Bürgers und sein demokratisches Teilhaberecht könnten nicht besser "getextet" werden. Schließlich wagt Art. 163 Abs. 1 S. 1 den (gegenüber dem GG) neuen Satz: "Die Urteile des Verfassungsgerichts werden zusammen mit eventuellen Sondervoten im Staatsanzeiger veröffentlicht". Damit öffnen sie auf Verfassungsstufe den Weg zur "normierenden Kraft" von Sondervoten im Kraftfeld von "Öffentlichkeit und Verfassung" 243 . Ein letzter Blick gelte den jüngsten Verfassungen, etwa denen der neuen deutschen Bundesländer. Auch bei ihnen bestätigt sich die These, daß neue Verfassunggeber das, was an Verfassungswirklichkeit im Kraftfeld älterer Verfassungen "gewachsen" ist, gerne auf neue Verfassungstexte bringen, sofern ihnen dies "wichtig" erscheint. So bestimmt Art. 36 Abs. 3 S. 1 Verf. Brandenburg (1992): "Das Land anerkennt den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche und Religionsgemeinschaften" - damit ist ein Stück Verfassungswirklichkeit, zunächst durch Niedersachsens Kirchenvertrag (1955), vorbereitet durch R. Smend 244 , dann der alten Bundesrepublik Deutschland in einen Verfassungstext umgegossen worden. Auf Verfassungsstufe ist auch das Recht aller Menschen gehoben worden, "sich in Bürgerinitiativen oder Verbänden" zur Beeinflussung öffentlicher Angelegenheiten zusammenzufinden" (Art. 21 Abs. 3 S. 1). Als Gemeinwohltatbestand ist das Akteneinsichtrecht formuliert (Abs. 4 ebd.: "soweit nicht überwiegende öffentliche und private Interessen entgegenstehen"). Auf dem Feld kultureller Freiheit bestimmt Art. 34 Abs. 2: "Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert." "Mehr Öffentlichkeit" schaffen der Sache nach die erweiterten Zugangsrechte der Abgeordneten im Parlamentsrecht (Art. 56 Abs. 2 bis 4 Verf. Brandenburg). Verf. Sachsen leistet (1992) ihrerseits einen Beitrag, insofern im Rahmen der Konstitutionalisierung der parlamentarischen Opposition die neue
243
Dazu meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 24 ff. Dazu R. Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 1 (1951), S. 4 (13); ders, Zur Gewährung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgesellschaften gemäß Art. 137 V WRV, ZevKR 2 (1952/53), S. 374 (376); ders, Zum Problem des Öffentlichen ..., aaO, Ged.-Schrift für W. Jellinek, 1955, S. 13 ff. 244
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
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Wendung geprägt wird (Art. 40 S. 2): "Die Regierung nicht tragenden Teile des Landtages haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit". Verf. Sachsen-Anhalt (1992) formuliert den erwähnten Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgesellschaften auf ihre Weise (Art. 32 Abs. 1 S. 2: "Das Recht, zu öffentlichen Angelegenheiten Stellung zu nehmen, wird gewährleistet"). Schließlich macht Sachsen-Anhalt durch einen neuen Verfassungstext das kulturelle Teilhaberecht der Bürger effektiv (Art. 32 Abs. 3: "Das Land und die Kommunen fordern.... die kulturelle Betätigung aller Bürger insbesondere dadurch, daß sie öffentlich zugängliche Museen, Büchereien, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten und weitere Einrichtungen unterhalten"). Auch der Öffentlichkeitsauftrag der parlamentarischen Opposition wird ähnlich wie in Brandenburg bekräftigt (Art. 48 Abs. 2). Schließlich leistet Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993) einen eigenständigen Beitrag zum Parlamentsrecht, indem sie einen öffentlichkeits- wie gemeinwohlbezogenen Tatbestand schafft (Art. 34 Abs. 1 S. 1 : "Der Landtag hat das Recht..., zur Aufklärung von Tatbeständen im öffentlichen Interesse einen Untersuchungsausschuß einzusetzen"). Abschließend sei noch angemerkt, daß das "Prinzip Öffentlichkeit" jüngst gerne durch das Postulat der Transparenz ergänzt wird (z.B. Art. 12 Abs. 1 Verf. Äthiopien von 1994; vgl. aber auch BVerfGE 85, 1 (22): transparente Politik- und Wissenschaftsbereiche). Dieser Auswahl muß genügen. Bewußt wurde sie chronologisch gestaltet, um die Textstufenveränderungen besser darstellen zu können. Es zeigt sich, daß öffentlichkeitsbezogene Begriffe in vielen, ja wohl allen Verfassungen vorkommen. Keine konkretere Verfassung versammelt je alle in sich. Aber manche "erfinden" neue Öffentlichkeitsbezüge bzw.-tatbestände oder setzen einen Bestand an Öffentlichkeitsprinzipien voraus. Wieder dokumentiert sich, wie eine Verfassungslehre sich heute z.T. aus den Verfassungstexten erarbeiten läßt, so punktuell diese praktisch immer bleiben mögen und bleiben müssen. Es geht nur darum, sie wissenschaftlich buchstäblich "zusammenzulesen" und ihr Erfahrungs- und Wissenschaftspotential aufzuschließen.
4. Das Staatliche im Verfassungsstaat Nach einer schon klassischen Lehre von R. Smend und A. Arndt gibt es im Verfassungstaat nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert. Jedenfalls gilt dies im Rahmen einer demokratischen Verfassungslehre. Das meint keine Wendung gegen verfaßte Staatlichkeit, die ja gerade beim Grundrechtsschutz, auch dem privaten, unverzichtbar ist. Es bedeutet nur, daß man mit "Verfassung" Ernst macht und keine feudalen oder monarchistischen Restbestände anerkennt, sei es in der Dogmatik, sei es in der Realität. Wenn alle Staatsgewalt von den sich in der Bürgergemeinschaft "findenden" Bürgern ausgeht, so bleibt
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
kein Raum für extra- oder vorkonstitutionelle Staatsgewalt. Verfassung ist "vor" dem Staat zu denken, so wichtig dieser ist und bleibt. Das politische Gemeinwesen (einer Republik wie verfassungsstaatlichen Monarchie), als übergreifender Rahmen verstanden und durch die konkrete Verfassung konstituiert, kennt neben dem beschriebenen Privatbereich sowie neben dem Feld und den Funktionen des Öffentlichen den des "verfaßt Staatlichen". Gemeint sind die Staatsorgane, die staatlichen Kompetenzen und Funktionen (z.B. die Parlaments-, Regierungs-, Verwaltungs- und Gerichtsöffentlichkeit). Sie sind zwar mit den "gesellschaftlich" Öffentlichen vielfältig verschränkt, wie etwa in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente und der Regierungen, selbst des BVerfG, erkennbar wird, aber sie sind doch "für sich" eingerichtet und unverzichtbar. Die Staatsorgane sind nicht "virtuell" oder real i.S. einer "General- und Blankovollmacht" allzuständig 245 , ihre Aufgaben sind von vornherein rechtlich umgrenzt und fünktionellrechtlich eingebunden. Die verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre muß auch hier beim Verständnis der Staatsorgane "durchschlagen" 246 . Auch der alte Begriff der "Staatssouveränität" ist zu verabschieden: außerstaatlich durch die Einsicht in die "überstaatliche Bedingtheit des Staates" (W. v. Simson), wobei es freilich auch eine staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen gibt: nur die Verfassungsstaaten "halten" die Völkergemeinschaft; innerstaatlich durch die Erkenntnis, daß Freiheitsschutz-, Kompetenz- und Aufgabenordnung einer verfassungsstaatlichen Verfassung keinen Raum für Souveränität von irgendjemand kennen 247 . Das Wort von der "republikanischen Bereichstrias" will die drei "Seiten" privat/öffentlich und staatlich zusammensehen, so viele Konflikte und Reibungen es auch immer wieder geben mag (z.B. arbeiten viele, aber nicht alle staatlichen Organe öffentlich). Jede Generation muß sie neu durchleben und gestalten, z.B. in Sachen Datenschutz, Umweltschutz, Wirtschaftsfreiheit, Privatisierung 248 , ja sogar in Sachen "Generationenschutz".
245
S. aber auch den Ansatz von Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl., 1964, S. 196, 940 ff. 246 Dazu unten Sechster Teil VIII Ziff. 6. 247 Zu diesem Souveränitätsverständnis mein Beitrag: Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität (1967), später auch in Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 364 ff. 248 Dazu jetzt A. Kämmerer, Verfassungsstaat auf Diät?, JZ 1996, S. 1942 ff.; H.P. Bull, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, VerwArch 41 (1995), S. 623 ff.; G. Brunner, Privatisierungsmodelle in Osteuropa, FS Friauf, 1996, S. 591 ff.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
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5. Insbesondere: Die Verbände in der republikanischen Bereichstrias (der status corporativus) a) Problem Sachlich ist eine Erörterung des Verbandsproblems 249 in verfassungsstaatlichen Verfassungen ein zentrales "inneres" Kapitel, das im "Raster" der Verfassungs», (nicht der Staats-)Lehre zu schreiben ist - mit den Bezügen zu den einzelnen Verfassungsprinzipien wie Grundrechte und Demokratie, sozialer Rechtsstaat und Gewaltenteilung, Bundesstaat und Kulturverfassung, Privatheit, Staatlichkeit und Öffentlichkeit: "Die Verfassung des Pluralismus" lebt auch von den Verbänden, sie holt sie in ihr Koordinatensystem herein und diszipliniert sie dadurch. Verbände müssen vor allem kulturanthropologisch thematisiert werden: weil sie ein Stück notwendiger Existenz für den Menschen und Bürger, aber auch für das Gemeinwesen sind. Identität kann der Bürger z.T. über Verbandsleben finden: sei es vordergründig banal wie der vielzitierte Kaninchenzüchterverein, sei es "hoch kulturell" und auch "privat" wie ein Künstlerverein oder Wissenschaftsverband. Das Verbandswesen ist ein Stück menschlicher Natur und Kultur. Auch das politische Gemeinwesen selbst hat Momente dieser verbandsmäßigen Existenz 250 . b) Insbesondere: Der grundrechtstheoretische
Ansatz: Teilhabe an Gruppen
(1) Die Ausgangsthese: Die korporative Seite grundrechtlicher Freiheit Die grundrechtstheoretische Tiefendimension der Verbändeproblematik wurde bislang zu wenig erschlossen. Gemeint ist die Erkenntnis, daß die multidimensionale grundrechtliche Freiheit von vornherein eine je nach dem speziellen grundrechtlichen Lebensbereich mehr oder weniger stark ausgeprägte korporative Seite hat: von betont individualbezogenen Grundrechten wie der 249
Zum folgenden vgl. P. Häberle, Verbände als Gegenstand demokratischer Verfassungslehre, ZHR 145 (1981), S. 473 ff. Aus der Lit. auch: R. Steinberg (Hrsg.), Staat und Verbände, 1985; D. Grimm, Verbände, HdbVerfR 2. Aufl. 1994, S. 657 ff.; D. Merten, Vereinsfreiheit, HdBStR Bd VI (1989), S. 775 ff.; AK-GG - Rinken, 2. Aufl. 1989, Art. 9 Abs. 1; W. Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 9. Schon klassisch: U. Scheuner, Der Staat und die intermediären Kräfte, Zeitschrift für evangelische Ethik 1 (1957), S. 34 ff. 250 Vgl. in geschichtlicher Perspektive F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965, S. 292 ff. u.ö.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Gewissensfreiheit über die Vereins-, Koalitions- und Parteienfreiheit hin zu Art. 19 Abs. 3 GG, der die Gruppe selbst zum "Grundrechtsträger" erhebt. Der Mensch und Bürger verwirklicht sich im Gemeinwesen nicht nur, aber wesentlich auch in Gruppen (die den Pluralismus "machen"); entsprechend "kooperativ" und "korporativ" muß seine grundrechtliche Freiheit gesehen wer251
den : grundrechtliche Freiheit durch und als Teilhabe an Gruppen. Wenn die These H. Hellers zutrifft, daß Freiheit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer organisiert werden müsse 252 , so heißt dies: ein Stück dieser "Organisation" geschieht durch Gruppenbildung und Gruppenwirkung, durch individuelle Entfaltung in der Gruppe, ggf. auch gegen Gruppen. Die grundrechts253
theoretisch früh unterstrichene "soziale Funktion" der Grundrechte ist ein Ausdruck gruppenorientierten Grundrechts Verständnisses. Anders formuliert: gesellschaftliche Freiheit ist in der Verfassung des Pluralismus nicht nur, aber doch auch gruppenmäßig organisierte Freiheit, reale Freiheit ist ohne Gruppenaktivitäten nicht denkbar, soziale Grundrechtswirklichkeit "erfüllt" sich zum Teil erst gruppenrechtlich 254 . Dies bedeutet, daß schon die allgemeine Grundrechtsdogmatik auch korporativ anzusetzen hat - nicht erst die Lehre von jenen Einzelgrundrechten, die herkömmlich und schon dem Text nach Gruppenbezug haben 255 . Gleichsam "vor die Klammer" zu ziehen ist das korporative Moment menschlicher Freiheit, so wie der "soziale Bezug", die objektive und die sozial- bzw. leistungsstaatliche Seite nach und nach in die perspektivenreichere allgemeine Grundrechtsdogmatik eingebracht worden sind 256 . Es geht sowohl um die kooperative Entfaltungsfreiheit des Einzelnen in und durch die Gruppe als auch um die korporative Entfaltungsfreiheit der Einzelnen als Gruppe. Die Grundrechte eröffnen die Freiheit der Gruppenbildung und -betätigung nicht erst "komple251
Vgl. aus der Literatur: E. Denninger, Rechtsperson und Solidarität, 1967, der freilich (S. 306 f.) mit Hinweisen endet, die hier am Anfang der Fragestellung stehen; R. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 69 ff., 126 ff. (133 ff. u.ö.: "status collectivus", aber betr. Art. 19 Abs. 3 GG), 291 ff.; D. Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, 1975, S. 354 ff. (dazu meine Besprechung, in: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 303 (320)). 252 Vgl. H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 81 ff., bes. 88 ff. (96: "Wir-Bezogenheit"). 253 P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1962), 3. Aufl. 1983, S. 8 ff, 18 f , 49 f. 254 Vgl. auch M. Schwonke, Die Gruppe als Paradigma der Vergesellschaftung, in: B. Schäfers (Hrsg.), Einführung in die Gruppensoziologie, 1980, S. 35 ff. m.w.N. 255 Vgl. auch E. Denninger, Staatsrecht 2, 1979, S. 168, 171. 256 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (bes. 80 ff, 112 ff.), auch in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 (bes. 182 ff, 197 ff.).
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich671 mentär" in Gestalt der Vereins-, Koalitions- oder Versammlungsfreiheit 257, sie eröffnen sie in nuce schon beim Grundrecht auf Persönlichkeitsentfaltung und in der Menschenwürdegarantie - weil sie beide zum Teil der Gruppen bedürfen. So sehr gemeinsames Handeln in der Gruppe die grundrechtlichen Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen steigert, so sehr ist dieses Handeln schon in der Freiheit dieses Einzelnen angelegt, diese je immer schon durch freie Gruppenbildung und -aktivität ein Stück "organisiert". Genausowenig wie grund258
rechtliche Freiheit "natürliche" Freiheit ist , genausowenig gibt es im kulturellen Kontext eines Gemeinwesens "Freiheit ohne Gruppen". Hier einige beispielhafte Konkretisierungen: Das Grundrecht aus Art. 4 GG hat von vornherein Gruppenbezug bzw. eine pluralistische Dimension 259 ! Es verwirklicht sich auch gruppendynamisch in der Gruppe, über Gruppenbildung und -entwicklung 260 .- Entsprechendes gilt fur die Meinungsfreiheit des Art. 5 GG. Sie hat von vornherein "soziale, gruppenbildende" Funktion 261 . Selbst Grundrechte wie das Eigentum des Art. 14 GG besitzen potentiell und aktuell Gruppenbezug, insofern sich die Eigentumsfreiheit heute vielfach erst 257 Zu dieser M. Quilisch, Die demokratische Versammlung, 1970, S. 147 ff.; vgl. auch W. Müller, Wirkungsbereich und Schranken der Versammlungsfreiheit, insbesondere im Verhältnis zur Meinungsfreiheit, 1974, S. 47 ff.; U. Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975; Κ Hesse, Grundzüge, aaO., S. 176 f. sowie BVerfGE 69, 315 (343 ff.). 258 Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, 3. Aufl. 1983, S. 150 ff. 259 Zur korporativen Seite des Art. 4 GG auch U. Scheuner, jetzt in: Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 65 (79): Hinweis auf "Sozialgebundenheit der Persönlichkeit im Bilde moderner Anthropologie"; s. auch ders., ebd., S. 50 ff: "Religionsfreiheit und Toleranz: Individualrecht und korporativer Zusammenhang"; zust. P. Mikat, Religionsrechtliche Schriften, 1974,1, S. 310 f. 260 Vgl. die vom Verfasser angeregte Diskussion in VVDStRL 28 (1970), S. 110 ff. Aus der späteren Literatur etwa: R. Steinberg, Staatslehre und Interessenverbände, Diss, jur. Freiburg 1971, S. 217; AT. Obermayer, Bonner Kommentar, Art. 140 GG, Zweitbearbeitung 1971, Rdnr. 60; H. Faber, Die Verbandsklage im Verwaltungsprozeß, 1972, S. 11; H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht, Bd. 1, 1974, S. 40, 364 f.; A. Rinken, Die karitative Betätigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR II, 1975, S. 345 (364); Ü.K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, 1979, S. 94; krit. (in prozeßrechtlicher Verengung) G. Beyer, Zur Beschwerdebefugnis von Verbänden wegen Grundrechtsverletzungen, 1976, S. 161 ff. 261 Vgl. schon R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928), S. 44 (50) = ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 89 (96): "Diese soziale, gruppenbildende Funktion der Meinungsäußerung ist nicht nur Motiv und Sinn des Grundrechts, sondern gehört zu dem von ihm geschützten Tatbestand".C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 170, nennt zu seiner Kategorie "Freiheitsrechte des Einzelnen in Verbindung mit anderen" z.B. die freie Meinungsäußerung, Rede- und Presse-, Kultus-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
über Gruppenbildung und Gruppenschutz "kollektiv" "erfüllt" (z.B. im Handels· und Wirtschaftsrecht) 262 . Vollends die Koalitions- und Vereinsfreiheit sind so stark "korporativ", daß hier die heutige Aufgabe der Dogmatik immer wieder darin besteht, das Gruppenmoment zu betonen (aber auch die individuelle Freiheit zu schützen). Der intensive Zusammenhang zwischen grundrechtlicher Freiheit und korporativen Ausprägungen zeigt sich besonders klar im Wirtschaftsverfassungsrecht an Art. 9 Abs. 3 und Art. 12 GG. Berufsfreiheit, verstanden auch als Grundrecht des arbeitenden Menschen, wird für diesen heute weithin erst durch die Koalitionsfreiheit real, besonders durch deren korporative Seite. Der Aspekt der Persönlichkeitsverwirklichung in Art. 9 Abs. 3 GG wird letztlich nur in Gruppenform realisierbar 263 : Diese kollektive Dimension schafft ein Stück Freiheit (ohne daß hier der individuelle Freiheitsschutz gegenüber der Koalition vernachlässigt werden darf). Menschenwürde am Arbeitsplatz, Persönlichkeitsentfaltung durch Arbeit gewinnen wesentlich durch die korporative Seite der Koalitionsfreiheit eine Realisierungs- und Durchsetzungschance. Die soziale Gruppe "Koalition", wenn man will das Kollektiv "Gewerkschaften", und ihre Freiheit sind Bedingung der grundrechtlichen Freiheit des arbeitenden Menschen in der pluralistischen Demokratie. Eine Fülle von weiteren Gruppenbildungen effektiviert die Berufsfreiheit des einzelnen im sozialen Leben: Arbeitnehmerkammern 264, Berufskammern, Vereine, Wirtschaftsverbände entfalten reiche Aktivitäten 265 ; diese Berufsinteressen sind "Grundrechtsinteressen" im hier verstandenen Sinne. Wirklichkeitsnah interpretiert bedeutet dies für die Berufsfreiheit des Art. 12 GG, daß das korporative, ihn aktivierende Gruppenmoment schon in diesem Grundrecht selbst angelegt ist. Daß Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3, auch Art. 19 Abs. 3 GG gesondert geregelt sind, darf jedenfalls die ursprüngliche Gruppenstruktur des Art. 12 GG selbst nicht verdecken.
262 Vgl. auch BVerfGE 37, 132 (140); 38, 348 (370); 50, 290 (341): Der Eigentümer muß auf die Belange derer Rücksicht nehmen, die auf die Nutzung seines Eigentums angewiesen sind; femer: D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 208 ff, betr. "Ausübungsgemeinschaften" beim Eigentum. 263 Vgl. allgemein auch den kommunikationsrechtlichen Ansatz bei R. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 291 ff.; ders., Koalitionsfreiheit, HdBStR VI, 1989, S. 1115 (1126). Zuletzt BVerfGE 93, 352. 264 Vgl. dazu D. Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft, 1973, S. 23 ff, S. 258 ff. 265 Vgl. etwa den eindringlichen Überblick bei H. Leßmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976, S. 112.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich673 Das Kulturverfassungsrecht 266 lebt nicht minder von der Bildung und dem Wirken "innerstaatlicher Gemeinschaften", von kollektiven Formen der Effektivierung kultureller Freiheit des Bürgers. Im klassischen Staatskirchenrecht ist dies immer evident gewesen. Hier hat das Korporative in Gestalt der öffentlich-rechtlichen Struktur der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften sogar die größte Dichte korporativer Organisation gefunden; daneben erwähnten Verfassungstexte indes auch "religiöse Vereine" (z.B. Art. 98 Verf. Danzig von 1920/22). Heute sollten aber auch die lockeren und offeneren Formen kollektiver Aktivitäten im Dienst kultureller Freiheit gewürdigt werden: kulturelle Vereine, Organisationen zur Förderung der Erwachsenenbildung etc. Sie sind ohne einen Verlust an realer Freiheit nicht zu ersetzen 267. Der kulturelle Trägerpluralismus 268 bedarf der Gruppen in besonderem Maße; er ist gerade Kennzeichen freiheitlichen Kulturverfassungsrechts. Zwischen dieser allgemeinen Garantie der Vereinsfreiheit wie Art. 9 Abs. 1 GG und dem Kulturverfassungsrecht sollte jedenfalls dogmatisch der gebotene innere Zusammenhang hergestellt werden. Setzt man in dieser Weise die korporative Dimension schon "an der Wurzel" 269
grundrechtlicher Freiheit
an, so lassen sich auch die Folgeprobleme "radi-
266 Für viele, ältere wie neuere Arbeiten zum Verbandsthema ist symptomatisch, daß sie das Problem der Wirtschaft in den Vordergrund rücken. Nur selten werden kulturelle Vereine erwähnt (vgl. etwa H. Schneider, Die Interessenverbände, 3. Aufl. 1966 (4. Aufl. 1975), der wenigstens "Interessenpflege, lebensständische und ideologische Gruppen - wie "Sport", "Jugend" und "Europa" - erwähnt, S. 64 ff, aber auch "religiöse Gemeinschaften", S. 71 ff.); ein Defizit besteht in Bezug auf die grundsätzliche Einbeziehung der Verbände in Teile des Kulturverfassungsrechts. Diese Diagnose korrespondiert mit der in der Staats- und Verfassungslehre allgemein zu beobachtenden "Auslassung" der "Sache" Kultur. Fasziniert von der Wirtschaft, von den unleugbaren Machtproblemen der Verbände, vergaß man ihre Funktion für die Kultur im allgemeinen, für die kulturelle Freiheit des Bürgers etc. Auch zeigt sich, wie leicht die Staats- und Verfassungslehre Gefahr läuft, ein klassisches Thema wie die Verbände zwar alle Dezennien "neu" zu behandeln, es aber nicht im Zusammenhang mit anderen "neuen" Themen zur Diskussion zu stellen. Konkret: Das Verbandsproblem muß auch kulturwissenschaftlich erarbeitet werden. 267 K. M. Meessen, Erlaß eines Verbändegesetzes als rechtspolitische Aufgabe?, 1976, S. 22, ferner S. 32. 268 Dazu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 32 ff. sowie VIII Ziff. 3. 269 Dieser korporative Ansatz erweist sich auch in anderen Verfassungsbestimmungen als ergiebig. In korporativen Verfassungsgarantien wie Art. 21 GG sind auch Grundrechte des Einzelnen enthalten: etwa der freie, öffentliche Zugang zur politischen Partei (dazu meine Besprechung von H.-R. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, in: DVB1. 1976, S. 278 f.) und die öffentliche Freiheit in ihr. Die grundrechtliche Stellung des "Parteibürgers", steckt schon in Art. 21 Abs. 1 GG. Das ist jedenfalls Konsequenz der hier vorgeschlagenen grup-
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kaier" diskutieren: vor allem im Blick auf den offenen Staat und die verfaßte Gesellschaft und, als Teil von ihnen, auf die Verbände. Das pluralistische Gemeinwesen baut von vornherein auf der - und auf die - auch korporativ verfaßte^) Freiheit 270 . Die Verbände sind dann - bei all ihrer Unterschiedlichkeit im einzelnen - im guten wie im schlechten Sinne der grundrechtlichen Freiheit weit näher als alle Spielarten herkömmlicher Verbandstheorien dies anzuerkennen vermögen. Verbände werden zur Konsequenz, ja Bedingung grundrechtlicher Freiheit in der Verfassung des Pluralismus. Hier sind sie nicht nur aus der Sicht des (Verfassungs-)Staates bzw. des demokratischen "Systems" und der Öffentlichkeit positiv zu sehen, sie stehen von vornherein zur grundrechtlichen Freiheit in diesem positiven Verhältnis und "organisieren" sie - so sehr Gefahrenherde und -lagen gesehen werden müssen. Die Lehre scheint viel zu sehr damit beschäftigt zu sein, gegen die "Herrschaft der Verbände" anzugehen, verbandsfeindliche Tendenzen in der Nachfolge Rousseaus271 und C. Schmitts abzuwehren, oder die Verbände von der Seite des Staates, der Demokratie, der Öffentlichkeit und des Pluralismus her zu legitimieren und sie "als solche" zu betrachten. So wichtig dies alles war und noch ist: Die die grundrechtliche Freiheit "organisierende" Seite der Verbände und das heißt: die immanent korporative Seite grundrechtlicher Freiheit, blieb verdeckt; sie ist 272
jetzt ins "rechte Licht" zu rücken
.
penorientierten Konzeption. Erneut zeigt sie, wie sehr eine (auch) korporative Sicht grundrechtlicher Freiheit zu deren Bereicherung und Stärkung führen kann, wie Verbandsrecht "Grundrechts-Recht" ist (vgl. insoweit auch H. Copie , Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, 1967, S. 58 und 80 (Fn. 152 a.E.)). 270 Mit K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 178, mag man aus Anlaß des Art. 9 GG von einem "allgemeineren Prinzip des Aufbaus des Gemeinwesens" sprechen, nämlich dem "freier sozialer Gruppenbildung". Was hier speziell von Art. 9 GG aus entfaltet wird, sollte schon "früher", d.h. von der grundrechtlichen Freiheit der Art. 1, 2 Abs. 1 GG aus geschehen. Der grundrechtlichen Freiheit ist je nach ihrem speziellen Gegenstand "freie soziale Gruppenbildung" immanent. So richtig es ist, "Komplementärverhältnisse" etwa zwischen Art. 8 bzw. 9 und Art. 5 GG herzustellen, so grundsätzlich ist bei der grundrechtlichen Freiheit und Einzelfreiheiten der Art. 4, 6 GG (Eltemvereine) ab initio Gruppenbildung mitzudenken. 271 Zu ihm: F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965, S. 61 ff. 272 Das Verbandsproblem ist nicht nur in das Kraftfeld der - hier vor allem thematisierten - grundrechtlichen Freiheit zu stellen. Auch andere Verfassungsprinzipien strukturieren es, vor allem die Gewaltenteilung, und zwar in ihrer Erscheinungsform als pluralistische Gewaltenteilung. Das Prinzip "Gewaltenteilung" ist im Verfassungsstaat vom staatlichen in den gesellschaftlichen Bereich "hinübergewachsen". Es strukturiert ihn als "Gewaltenteilung im weiteren Sinne" im Dienste der Freiheit: Verfassung und einfaches Recht haben immer neue Vorkehrungen zu treffen, um in der Gesellschaft möglichst viele Balanceverhältnisse zu erhalten, zu lassen und zu steuern sowie Gruppenmacht durch Gegengruppenmacht zu kontrollieren.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
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(2) Die korporative Dimension in Verfassungsnorm(text)en Die korporative, kollektive Dimension grundrechtlicher Freiheit kommt im Text älterer verfassungsstaatlicher Verfassungen bisher unverhältnismäßig selten zum Ausdruck. Im GG begegnen klare Hinweise nur bei Art. 8 und 9 und vermittelt über Art. 137 Abs. 2-8 WRV ("Religionsgesellschaften") - in Art. 140. Im Tatbestand der Petitionsfreiheit des Art. 17 GG findet sich der kollektive Aspekt wenigstens in Gestalt des Passus "oder in Gemeinschaft mit anderen". Dieses Defizit an kollektiven Grundrechtsgarantien wird auch nicht durch Art. 19 Abs. 3 GG wettgemacht. Wie groß es ist und wie sehr das GG offenbar einer einseitig individualistischen, gruppenfernen - wenn nicht gruppenfeindlichen - Tradition angehört, lehrt ein Blick auf andere deutsche Verfassungen. Die Paulskirchen-Verfassung umschreibt in Art. V I I § 159 (Abs. 2) die kollektiven Seiten der Petitionsfreiheit plastischer mit den Worten: "Dieses Recht kann sowohl von Einzelnen als von Corporationen und von Mehreren im Vereine ausgeübt werden". Dies ist in Art. 17 GG zur bloßen gemeinschaftlichen Ausübung verblaßt! Die Landesverfassungen der Weimarer Zeit enthalten sowohl im Grundrechts· als auch im organisatorischen Teil wenig kollektivrechtliche Momente: Neben den korporativen Aspekten im Staatskirchenrecht (z.B. Bayern (1919), §18; Oldenburg (1919), §§ 17 ff.) und neben der Garantie der Vereins- und Koalitionsfreiheit (z.B. Art. 113 Verf. Danzig (1920), § 17 Verf. Baden (1919)) finden sich solche in Gestalt berufsständischer Einrichtungen (vgl. die Kammern nach §§79 ff. Verf. Bremen (1920); s. auch Art. 115, 46 Abs. 2 Verf. Danzig (1920/22)) 273 . Auch die deutschen Länderverfassungen nach 1945 274 enthalten nur Ansätze: Verf. Baden-Württemberg (1953) spricht in Art. 12 Abs. 2 von der "in ihren Bünden gegliederten Jugend". Art. 154 Verf. Bayern (1946) erwähnt die auf demokratischer Grundlage aus "den Kreisen der Berufsverbände gewählten Selbstverwaltungsträger", und in Art. 34 wird der Senat als "Vertretung der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und gemeindlichen Körperschaften des Landes" definiert. Verf. Bremen (1947) normiert in Art. 40 Abs. 2 einen Förderungsauftrag in bezug auf "Genossenschaften aller Art". Verf. Hessen (1946) sieht in Art. 38 Abs. 3 ein gleiches Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften und der Vertreter der Unternehmen vor, ferner nor273
Zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder nach dem Stand vom 1. 2. 1926, 1926. 274 Zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995. 46 Häberle
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miert Art. 44 die Förderung des "Genossenschaftswesens". Auch NordrheinWestfalen (1950) kennt ein korporatives Moment: in Art. 28 S. 2 (Förderung der genossenschaftlichen Selbsthilfe). Verf. Rheinland-Pfalz (1947) nimmt eine Sonderstellung ein. Nach Art. 1 Abs. 2 hat der Staat die Aufgabe, "...das Wohlergehen des einzelnen und der innerstaatlichen Gemeinschaften durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern". In Art. 4 wird die Ehre auch von Gruppen geschützt, in Art. 26 ist die Mitwirkung der Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Angelegenheiten der Pflege und Förderung der Familie und der Erziehung der Jugend verbürgt, in Art. 39 Abs. 4 das Recht der Studenten, sich an Hochschulen zu Vereinigungen zusammenzuschließen, Art. 67 garantiert sog. "Wirtschaftsgemeinschaften". Gruppen-Momente finden sich auch in Verf. Saarland (1947). Art. 25 Abs. 2 anerkennt ausdrücklich Kirchen und Religionsgemeinschaften als Bildungsträger - ein Beleg für korporatives Kulturverfassungsrecht 275, Art. 57 schützt Berufsorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Art. 58 Wirtschaftsgemeinschaften. Im ganzen läßt sich sagen, daß die deutschen Verfassungen (bis 1989) das korporative Moment bzw. "innerstaatliche Gemeinschaften" im Grundrechtsteil nur relativ selten (bei der Vereins- und Koalitionsfreiheit, auch der Petitionsfreiheit) anerkennen (vor allem im Wirtschafts- und Kulturverfassungsrecht). So finden sich positive Aspekte im Zusammenhang mit der Wirtschaft (Förderung von Genossenschaften), oder negative (Verbote von "Zusammenschlüssen", die ihre wirtschaftliche Macht mißbrauchen - vgl. Art. 41 Verf. Bremen). Das deutsche Staatskirchenrecht hat indes traditionsreiche korporative Ausprägungen (z.B. Art. 41, 43 Verf. Rheinland-Pfalz). Auch im organisatorischen Teil von Verfassungen finden sich nur vereinzelt korporative Aspekte, z.B. im Bayerischen Senat, aber auch in der Konstitutionalisierung der politischen Parteien (Art. 21 GG). So vielfältig Verbände aller Art in einfachen Gesetzen anerkannt sind, ihr Einfluß geregelt, auch diszipliniert ist 2 7 6 , so mager bleiben die erwähnten Verfassungstexte. Der oft perhorreszierte "Verbandsstaat" hat lange weder positiv noch negativ in Verfassungstexten ein getreues Spiegelbild gefunden.
275
Dazu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 32 ff. Vgl. auch die Registrierungspflicht der Lobby in Bonn, Überblick über alle Mitwirkungsformen bei G. Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978, S. 45 ff.; Leßmann, aaO., S. 53 ff. 276
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich677 Dieses Ergebnis bedarf der Erklärung. Grundsätzlich war es historisch der Bürger, dessen Sphäre "konstitutionell" geschützt werden mußte. Der demokratische und egalitäre Staat lehnt überdies quasiständische Gruppen prinzipiell ab. Soweit Verbände zunehmend die Wirklichkeit prägten, waren sie offensichtlich so stark, daß sie auf eine verfassungsrechtliche Anerkennung verzichten konnten; doch hätte es dann auch eines Art. 21 GG kaum bedurft. Oder der Verfassunggeber erlag dem Irrtum, die neue Generalregelung des Art. 19 Abs. 3 GG erübrige eine weitere Verfassungsverankerung; ihr Regelungsgehalt betrifft indessen nur einen Teil der hier angesprochenen Probleme 277 . Hinter dem benannten Defizit verbirgt sich wohl letztlich jener gedankliche Traditionsstrom in den westlichen Verfassungsstaaten, der von den Grundsätzen des neuzeitlichen Naturrechts an (etwa zum Gesellschaftsvertrag) primär (und einseitig) vom einzelnen Individuum als solchem her denkt 278 , ohne die kooperative und korporative Dimension menschlicher Freiheit von vornherein schon im Freiheitsbegriff zu berücksichtigen 279 . Es bleibt die Frage nach verfassungs(text)politischen Konsequenzen. Sieht man die heutige Existenz und grundrechtliche Freiheit des Menschen und Bürgers von vornherein als eine auch gruppenmäßig organisierte und die pluralistische Demokratie als Staatsform eines pluralistisch strukturierten Volkes an, so liegt es nahe, von der Grundrechts- und Demokratieseite, aber auch von der kulturverfassungsrechtlichen und sozialstaatlichen Seite her verfassungstextlich Anschluß an die moderne (Verfassungs-)Wirklichkeit zu suchen: Die Momente gruppenmäßiger Verfaßtheit des politischen Gemeinwesens sollten auch im geschriebenen Verfassungstext Ausdruck finden. Vordringlich wäre bei den Grundrechten anzusetzen - so klar zum Ausdruck zu bringen ist, daß der Gruppenaspekt nur eine Dimension umschreibt; die subjektiv-individualrechtliche bleibt unangetastet. In den Einzelfreiheiten sollten gestuft nach der grundrechtsspezifischen Intensität die kollektiven Formen
277
Das gilt auch, wenn man Art. 19 Abs. 3 GG mit A.v. Mutius (in: Bonner Kommentar zum GG, Zweitbearbeitung 1975, Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 3 GG) nicht als Ausnahmevorschrift betrachtet (Rdnr. 18), nicht einer rein individualistischen Interpretation folgt (Rdnr. 29 ff.), sondern darin eine Entscheidung gegen eine ausschließlich individualistisch-personale Zuordnung der Grundrechte sieht (Rdnr. 32) und den Begriff der "juristischen Person" weit faßt (Rdnr. 39 ff.): Nicht-teilrechtsfähige Gruppen werden grundrechtlich als solche ebensowenig erfaßt wie die korporativen Dimensionen individueller grundrechtlicher Freiheit. Eine realistische Verfassungstheorie muß deshalb mit Hilfe des korporativen Grundrechtsverständnisses umfassender ansetzen - auch zu einem umfassenderen Verständnis der Verbandsproblematik. 278 Vgl. dazu etwa E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 139 ff. u.ö. 279 Vgl. aber auch C.G. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, 6. Aufl. 1972, 7. Aufl. 1978, S. 301 ff.
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beim Namen genannt werden, wo sie in gewisser Mindestintensität das Grundrecht "im sozialen Leben im ganzen" erst real machen und effektivieren: von der Religions- und Weltanschauungsfreiheit über Ehe und Familie (Elternvereine!) bis zur Garantie der Vereinsfreiheit, die mit Hilfe der Beispielstechnik durch Differenzierungen angereichert werden sollte (insbesondere Vereine auf kulturellem - auch religiösem -, wirtschaftlichem, sozialem Gebiet). Die korporative Seite der Religionsfreiheit sollte schon in Art. 4 GG selbst zum Ausdruck kommen, nicht erst im Rahmen des "institutionellen Staatskirchenrechts" (Art. 140 GG). Schließlich wäre das korporative Kulturverfassungsrecht (z.B. in Gestalt der Anerkennung korporativer Bildungsträger) auszubauen (vgl. die Ansätze in deutschen Länderverfassungen, z.B. Art. 12 Abs. 2 Verf. BadenWürttemberg). Zu erwägen ist, ob sogar schon bei der allgemeinen Persönlichkeitsentfaltung (z.B. des Art. 2 Abs. 1 GG) der Gruppenaspekt berücksichtigt wird. Vor die Klammer gezogen werden müßte dann aber auch eine ausdrückliche Garantie (grundrechtlicher Schutz) für den einzelnen in der Gruppe vor übermäßiger Verbandsmacht: dort, wo er besonders bedroht ist. Es ist kein Zufall, daß sich die Verfassungen in Fällen besonders "dichten" korporativen Rechts, im Staatskirchenrecht, nicht selten mit der Rechtsstellung des einzelnen be280 281 fassen: sie war prekär und ist es wieder . Würde nur der korporative Aspekt grundrechtlicher Freiheit im allgemeinen und speziellen in die Verfassungstexte eingebaut, ohne die damit korrespondierende Verstärkung der grundrechtlichen Freiheit in der Gruppe, so wäre die Normierung bzw. Konstitutionalisierung des Korporativen ein Danaergeschenk. Nur das Sowohl-Alsauch von korporativer Freiheit durch Gruppen bzw. Teilhabe in der Gruppe und grundrechtlicher Freiheit durch Gruppen bzw. Teilhabe in der Gruppe wird der Problematik gerecht. Nur dies ist "grundrechtssichernde Geltungsfortbildung" im Verfassungsstaat.
280 Vgl. etwa Art. 17 Abs. 3 S. 1 Verf. Bayern von 1919: "Der Austritt aus einer Religionsgesellschaft kann mündlich oder schriftlich bei dem Standesbeamten .... erklärt werden". S. auch die Austrittsregeln in Art. 59 Verf. Mecklenburg-Strelitz (1919/23), Art. 76 Verf. Preußen ( 1920), dessen staatskirchenrechtliche Regelung sich sogar in der Austrittsbestimmung erschöpft (!). 281 Man denke heute an die Binnenstrukturprobleme der sog. "Jugendreligionen"; dazu A. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 82 ff.
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(3) Der "status corporativus" im Lichte von Grundrechts- und Verfassungstheorie Das "korporative", wenn man will "gruppendynamische" Grundrechtsverständnis erweist sich als eine Dimension im Rahmen der v/e/dimensionalen Grundrechtsstruktur; es ist ein vorläufiger Endpunkt der modernen grundrechtsdogmatischen und grundrechtspolitischen Entwicklung 282 , die sich von der staatsabwehrenden zur objektiven, von hier zur sozialen und leistungsstaatlichen Grundrechtstheorie bewegt, vielleicht sogar intensiviert hat. Sie alle liefern Teilaspekte im komplexen Gesamtbild, Verabsolutierungen verbieten sich. Angesichts der strukturellen Offenheit grundrechtlicher Freiheit besteht Offenheit fur neue dogmatische Figuren: Gruppenstrukturen in der grundrechtGeltungsfortbildung in lichen Freiheit sind Ausdruck grundrechtssichernder der pluralistischen Gesellschaft. Der Gruppenaspekt will der Bürgerfreiheit nichts nehmen, er will sie effektivieren, aber auch realistisch sein. Die übrigen Grundrechtsdimensionen (wie die staatsabwehrend-negative, die objektivinstitutionelle und die leistungsstaatliche bzw.-rechtliche) stehen dabei nicht einfach neben der korporativen, sie sind mit dieser vielfaltig verknüpft. Z.B. sichert der "status negativus" grundrechtlicher Freiheit den "status corporativus" insofern, als der Einzelne jenen in der Gruppe behält und diese auch gegen den Staat geschützt ist. Leistungsrechtliche bzw. leistungsstaatliche Momente stärken die korporative Seite grundrechtlicher Freiheit etwa in Gestalt 283
prozessualer Verstärkungen . Diese "allgemeine" Lehre vom Gruppenbezug grundrechtlicher Freiheit ist mithin bereichsspezifisch zu differenzieren: Je nach dem einzelnen Lebensbereich ist die "korporative" Struktur materiell lockerer oder dichter, partieller oder umfassender 284. Je nachdem ist auch die - nach wie vor - ungeschmälert bleibende individuelle "Seite" stärker: Je mehr die individuelle Freiheit der
282 Zur Grundrechtsdogmatik und "-politik": P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (69 ff.), später auch in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 ff. 283 Man denke auch an die Rechtsprechung des BGH zur (begrenzten) Parteifähigkeit der Gewerkschaften als nicht rechtsfähige Vereine (BGHZ 42, 210; 50, 325); vgl. zu ihrer Ambivalenz aber auch F. Kübler, Rechtsfähigkeit und Verbandsverfassung, 1971, S. 16 ff. 284 Gesichtspunkte aus der Diskussion um die korporative Ausübbarkeit von Grundrechten lassen sich hier fruchtbar machen, vgl. G. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Kommentar, Art. 19 Abs. 3/Rdnr. 51; A. v. Mutius, in: Bonner Kommentar zum GG, Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 3 GG, Zweitbearbeitung 1974, Rn. 156.; H Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 1996, Art. 19 III Rn. 17 ff. Zuletzt BVerfGE 95, 220 (242), 267 (317).
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Verwirklichung durch Gruppen bedarf, desto mehr muß die Rechtsordnung Sorge tragen, daß der einzelne von und in der Gruppe nicht überrollt wird; die Erhellung der Gruppendimension will die Grundrechte des einzelnen nicht der Gruppenmacht überlassen, sie will nur seine Freiheit auch dank der Gruppen effektiviert sehen. In den einzelnen Grundrechtsgarantien formieren sich so die verschiedenen Aspekte zu einem Ganzen: der status activus und negativus, der status passivus und der status corporativus. Das "Mischungsverhältnis" vermag je nach Einzelgrundrecht zu variieren; aber in keinem Grundrecht geht ein Statusaspekt ganz verloren. Die korporative Seite grundrechtlicher Freiheit bedarf der Differenzierung auch nach der prozessualen Seite hin. Das Verfahrensmoment steht deshalb im Vordergrund, weil sich viele Inhalte der Freiheit gerade erst in gruppendynamischen Prozessen herausbilden (können): Nahegelegt ist der Ausbau des status activus processualis zur Gruppe hin und in der Gruppe 285 . Fortzufuhren ist dieser Gedanke in Richtung auf die korporative Seite des status activus processualis. Bei diesem Ansatz rücken Einzelprobleme in den gebotenen inneren Zusammenhang: Grundrechte "in" Verbänden sind eine Fortsetzung der grundrechtlichen Freiheit "vor" den Verbänden 286 , private oder öffentliche Freiheit des Zugangs zu Verbänden findet ihre Fortsetzung im status activus (processualis) des Verbandsmitglieds. Es behält aber seinen status negativus, wie überhaupt alle Statusaspekte auch im korporativen Bereich nur Teilaspekte eines Ganzen sind. Aber auch Rechte der Verbände vermitteln letztlich eigentlich Grundrechte des einzelnen, so unterschiedlich "dicht" die Verselbständigung der Verbände • .287
ist
. Das staatliche Recht, welches auf einfachgesetzlicher Ebene die grundrechtliche Freiheit des einzelnen in, mit und ggf. auch vor der und gegen die 285
Zum status activus processualis: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (80 ff.), später in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 (182 ff.); für die politischen Parteien angedeutet ebd., S. 166 (Diskussion). Vgl. auch H. Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 185 f., 188 f., 199 ff. u.ö.; s. auch G. Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978, S. 296 f. 286 Vgl. zur "inneren Vereinsfreiheit" als Bedingung der Verwirklichung von Grundrechten durch Organisation W. Schmidts gleichnamigen Aufsatz in: ZRP 1977, S. 255 ff. 287 Vgl. auch den Versuch, eine (partielle) Verbandsklagebefugnis aus Art. 9 Abs. 1 GG zu entwickeln bei H. Faber, Die Verbandsklage im Verwaltungsprozeß, 1972, S. 49 ff.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich681 288
Gruppe(n) sichert, ist Ausgestaltung dieser Freiheit , z.T. in Gestalt von freiheitssicherndem Organisationsrecht bzw. Pluralismusgesetzen 289. Stand in der Diskussion um die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Grundrechte bislang die objektiv-institutionelle und leistungsstaatliche bzw.-rechtliche Seite im Vordergrund, so ist jetzt eine Anwendung dieses Gedankens auf die korporative Seite geboten. Zur korporativen Verstärkung grundrechtlicher Freiheit bedarf es einer Fülle von Rechtsnormen des privaten und öffentlichen Rechts und deren Durchsetzung durch den staatlichen Richter. Die Aufdeckung gruppendynamischer und gruppenschützender Gehalte in den Einzelgrundrechten hat dann sehr konkrete praktische Folgen: Der Staat hat differenzierte Organisationsformen zur Verfugung zu stellen und zu halten - damit aus den Grundrechten korporative Prozesse entstehen können 290 . Im Wirtschaftsrecht darf es z.B. 291
keine weitgehenden Verstaatlichungen geben . Organisationsrechtliche Normen müssen im Handelsrecht einen "Vorrat" an Rechtsinstitutionen bereithalten, die das Eigentum von der Gruppenseite her effektivieren. Organisations288
Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1962), 3. Aufl. 1983, S. 180 ff.- Die Möglichkeiten von "Insichkonflikten" (Gruppenmacht steht gegen individuelle Freiheit in der Gruppe etc.) gebietet keine Modifikation des gruppenorientierten Ausgangspunktes. 289 Dazu mein Beitrag: Leistungsrecht im sozialen Rechtsstaat (1972), später in: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 445 ff. 290 Ein aussagekräftiges Beispiel: Das Sondervotum Simon/Heußner zum MülheimKärlich-Beschluß des BVerfG (E 53, 30, 69 ff.) tendiert in Konsequenz seines grundrechtlichen Verfahrensteilhabe-Verständnisses zu Recht dazu, die Feststellung des "Standes von Wissenschaft und Technik" im Atomrecht als "Prozeß der Kommunikation zwischen Kernkraftwerksbetreibern, gefährdeten Bürgern und zuständigen Behörden" anzusehen (BVerfGE 53, 77). F. Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981, S. 1 (2 f.), kritisiert eine so intendierte gruppenpluralistische Zusammensetzung des Verwaltungsgremiums, weil allein die Exekutive als Träger der staatlichen Willensbildung entscheidungsbefugt sei und als ihre Berater nur Sachverständige (Vertreter von Wissenschaft und Technik), nicht Gruppenvertreter (Repräsentanten von Interessenorganisationen) geeignet seien. Ganz abgesehen vom problematischen, weil pluralismusfernen Staat/Gesellschafts-Verständnis bzw. Verwaltungsverständnis: Wissenschaftstheoretisch zeigt der anderwärts breit diskutierte Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse eine soziale Dimension nur scheinbar "neutraler" Wissenschaft, die sich gerade auch in Gruppendiskussionen mit "Interessenten" entfalten und zur vertieften wissenschaftlichen Besinnung fuhren kann; empirisch belegen die Bürgerinitiativen der letzten Jahre, wie "Gruppeninteressen" zu einer vertieften, nicht aufspaltbaren Diskussion des Standes von Wissenschaft und Technik und der öffentlichen und privaten Interessen fuhren können: Nicht zufällig werden auch in den einschlägigen Hearings stets Wissenschaftler und Gruppenrepräsentanten angehört. Bei solchen pluralistischen Gremien im Verwaltungsverfahren handelt es sich um nichts anderes als um die Anerkennung der korporativen Dimension des status activus processualis. 291 Dazu H. Leßmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976, S. 198 (unter Rückgriff auf das Subsidaritätsprinzip).
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und Leistungsrecht haben im Bereich der Art. 4 und 140 GG als korporatives Religionsrecht des Kulturstaates Wege zur gruppenrechtlichen Verwirklichung dieser Freiheit zu eröffnen etc. Dieses korporative Grundrechtsverständnis ist noch eine Stufe weiterzuführen: Die Gruppen erfüllen - in unterschiedlicher Weise und Intensität - Grundrechtsaufgaben. Im Leistungsstaat konnte der Begriff der Grundrechtsaufgaben für staatliche Kompetenzen fruchtbar gemacht werden 292 . Mindestens ebenso darf er jetzt für Gruppenaktivitäten verwendet werden: Gruppen verwirklichen "Grundrechtsinteressen". Bei der Vereinsfreiheit liegt dies auf der Hand: Der Verein dient den Zielen, die die Mitglieder dank ihrer eigenen Freiheit korporativ realisiert haben wollen. Aber auch andere korporative Formen grundrechtlicher Freiheit wie Religions-, Meinungs- oder Koalitionsfreiheit erfüllen Grundrechtsinteressen, selbst im Zusammenhang mit dem Elternrecht 293 . Vor allem sollte mit der "Gemeinschaftsbezogenheit" und "Gemeinschaftsgebundenheit" des Menschen i.S. der Menschenbildjudikatur des Bundesver-
292 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (103 ff.), später auch in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 (193 ff.). 293 Der Beschluß des HessStGH zur Beschwerdebefugnis des Hessischen Landeselternbeirats im Grundrechtsklageverfahren (NJW 1980, S. 2405) betont in der Begründung (sub 5.) unter Berufung auf BVerfGE 47, 46 (76) die Höchstpersönlichkeit von Grundrechten und den wesensmäßigen Individualcharakter des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 GG, das einer Ausübung durch Mehrheitsbildung (von Eltemgruppen) nicht zugänglich sei; die Mitbestimmungsrechte des Landeselternbeirates - der aufgrund von Mehrheitsentscheidungen mitbestimmt - können demnach nicht Ausfluß des Elternrechts sein. Demgegenüber sollte stärker berücksichtigt werden, daß die Mitbestimmungsrechte der Erziehungsberechtigten im Schulbereich auch dem Elternrecht dienen und insoweit Grundrechtsinteressen als Ausfluß des Elternrechts verwirklichen (andernfalls wäre der Schluß des HessStGH, aaO, S. 2406 vom Individualcharakter des elterlichen Erziehungsrechts auf den Individualcharakter des Mitbestimmungsrechts in der Schule ein logischer Fehlschluß). Auch das BVerfG sieht eine "gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule", die nicht in einzelne Komponenten zerlegbar und nur in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen sei (aaO, S. 74), und fordert für den Sexualkundeunterricht, daß er "in größtmöglicher Abstimmung zwischen Eltern und Schule geplant und durchgeführt" werden soll (aaO, S. 75). Es ist nicht ersichtlich, weshalb auf jener gemeinsamen Ebene der Erziehung durch Eltern und Staat, da auch der Staat letztlich aufgrund von Mehrheitsbildung entscheidet, nicht auch eine kollektive Mitwirkung der Eltern aufgrund von Mehrheitsbildung möglich sein soll - als gruppenorientierte Erweiterung des Eltemeinflusses im Sinne elternrechtsorientierter Grundrechtspolitik; erst recht wird das gelten müssen für freiwillige Elternvereine, die gemeinsam gemeinsame Elteminteressen artikulieren. Die unstreitige Höchstpersönlichkeit des Elternrechts im übrigen wird dadurch nicht berührt, so vielfältig auch hier faktisch Gruppeneinflüsse existieren, z.B. in Eltern-(Kind-)Gruppen.
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fassungsgerichts 294 Ernst gemacht werden 295 . "Gemeinschaftsbezogenheit" verwirklicht sich auch in der korporativen Gestalt grundrechtlicher Freiheit 296 und meint nicht nur die staatliche Gemeinschaft: Gemeinschaftsbezogenheit des "zoon politikon" meint auch die in und durch Gruppen gestiftete "Gemeinschaft". Sie realisiert sich über Gruppen: vom lockeren "bürgerlichen" Verein bis zur "Kampfgemeinschaft" einer Gewerkschaft. All dies ist ein Stück individueller Freiheit - so sehr diese durch Gruppen auch überwältigt zu werden droht. Auf diesem Wege kann es gelingen, nicht nur "Menschenbild" und "Staatsbild" einander zuzuordnen; auch das "Gruppenbild", d.h. das "Bild", das sich das GG von den Gruppen macht, gehört von vornherein in den Kontext grundrechtlicher Freiheit 297 . Der Gemeinschaftsgedanke im Recht müßte in dieser Weise verfassungstheoretisch einzubringen sein: nicht in Gestalt eines Mehr an staatlicher Gemeinschaft, sondern als Hinweis auf die Unentbehrlichkeit innerstaatlicher freier Gemeinschaften und Gruppen, die im ganzen erst individuelle Freiheit und pluralistische (kulturelle) Demokratie ermöglichen. Eine solche gruppenorientierte Grundrechtstheorie darf sich freilich nicht auf den Dualismus "Assoziation" oder "Korporation" festlegen 298. "Korporativ" wird hier unspezifisch verstanden als Gruppe. Darum finden sich Gruppenaspekte grundrechtlicher Freiheit sowohl im privaten wie im gesellschaftlich-öffentlichen und staatlichen Bereich. So wie es private und öffentliche Freiheit des einzelnen Bürgers "je für sich" gibt, gibt es private und öffentliche Freiheit in der Gruppendimension. "Korporativ" ist insofern mit "öffentlich" nicht (mehr) identisch. Alle Unterschiede laufen auf einer Skala: vom privaten "assoziativen" Verein bis hin zur wohl intensivsten Gruppenstruktur im öffentlichen Bereich: der politischen Partei. Dabei dürfen die politischen Parteien oder die Gewerkschaften wegen ihrer besonderen Verselbständigung, dürfen andere Gruppen im "öffentlichen" Be294 Seit BVerfGE 4, 7 (15 f.); aus der jüngeren Judikatur vgl. z.B. E 87, 209 (228). S. noch meinen Beitrag, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS Huber 1981, S. 211 (235 ff.). 295 Vgl. auch - freilich begrenzt auf Art. 9 Abs. 1 GG - den Ansatzpunkt bei C. Gastroph, Die politischen Vereinigungen, 1970, S. 19 f , femer S. 72 ff. 296 Zur Persönlichkeitsentfaltung in der Gemeinschaft auch Leßmann, aaO, S. 207. 297 Zu dieser Sicht kann der von G. Teubner vorgelegte Abriß konkurrierender neuzeitlicher Verbandstheorien (S. 9 ff.) nur ermutigen. Denn sie alle haben ein je unterschiedliches Bild vom Staat bzw. dem Menschen. 298 Zur Geschichte F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965, S. 15 ff; G. Teubner, aaO, S. 6 ff.
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reich nicht den Blick dafür verstellen, daß der private Verein mit einem noch so "banalen" Alltagszweck (wie der Taubenzucht u. ä.) für das Verfassungsganze bzw. anthropologisch gesehen, so wichtig ist wie sie selbst. Man mag zu unterschiedlichen Akzentuierungen kommen: Im ganzen ist Parteienfreiheit nur ein Aspekt der grundrechtlichen Freiheit, wie die Vereinsfreiheit, die Koalitionsfreiheit oder die z.T. im Staatskirchenrecht ("Religionsverfassungsrecht") verfaßte korporative Seite der Religionsfreiheit. Die "republikanische Bereichstrias", d.h. die Unterscheidung zwischen dem staatlichen, dem gesellschaftlich-öffentlichen und dem privaten Bereich markiert keine Wertigkeiten: Alle drei Bereiche sind für das politische Gemeinwesen gleichermaßen konstituierend 299 . Alle "Verbandsverfassungen", alle korporativen Formen sind letztlich ein Stück verfaßter Freiheit des Bürgers 300 , sie beruhen auf seiner Freiheit und Menschenwürde als Prämisse. Daran ändert auch ein "organisationssoziologischer" Ansatz nichts. Das ganze ist kein Plädoyer für eine "individualistische Sicht" des Verbändeproblems - genausowenig wie es Ausdruck "individualistischen" Grundrechtsverständnisses ist. Wohl aber wird der von der Demokratie- und Öffentlichkeits-Diskussion bislang verdeckte grundrechtstheoretische Aspekt der Verbandsproblematik jetzt konsequent freigelegt und in die allgemeine Grundrechtstheorie eingereiht 301 . Auch Demokratie und Pluralismus, "Staatsform"
299
Empirisch läßt sich eine überragende Bedeutung lokaler Vereine für die Meinungsbildung in der Gemeinde nachweisen, vgl. H. Dunckelmann, Lokale Öffentlichkeit, 1975; allgemein: M. Glotz-Richter u.a. (Hrsg.), Lokale Demokratie auf dem Prüfstand, 1994.- Das ist nur spezieller Ausdruck der allgemeinen Erkenntnis, daß (auch politische) Meinungsbildung und -änderung sich weitestgehend in Kleingruppen vollziehen, unabhängig vom Zweck der jeweiligen Kleingruppe: vgl. zusammenfassend P. Müller, Die soziale Gruppe im Prozeß der Massenkommunikation, 1970. 300 Selbst zwischen der kommunalen Selbstverwaltung und grundrechtlicher Freiheit bzw. grundrechtlichen Interessen besteht eine gedankliche Verbindung (vgl. auch H. Leßmann, aaO., S.189); jene war in der Paulskirchenverfassung nicht zufällig als Grundrecht formuliert (vgl. Abschn. VI Art. XI § 184). Die Idee persönlicher Freiheit steht nicht nur verfassungsgeschichtlich hinter der Selbstverwaltungsidee, etwa im kommunalen Bereich. Sie prägt auch heute viele Erscheinungsformen von Selbstverwaltung. Das Band zwischen ihr und der grundrechtlichen Freiheit kommt schon sprachlich zum Ausdruck: "Selbstverwaltung" verweist auf eigene Freiheit.- Zur Selbstverwaltung als einem Stück organisierter grundrechtlicher Freiheit: P. Häberle, Berufsständische Satzungsautonomie und staatliche Gesetzgebung (1972), später in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 138 (141 f.); ebd. zum Zusammenhang zwischen berufsbezogenen Selbstverwaltungsaufgaben und sozialen Grundrechtsinteressen. 301 Nur darf man nicht wie G. Teubner sozusagen im Konjunktiv bzw. kurz vor dem (auch institutionellen, vgl. S. 328) und teilhaberechtlichen Verständnis (vgl. S. 296 f., 388) grundrechtlicher Freiheit stehen bleiben. Vielleicht wirkt sich hier die Skepsis des
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich685 und Staatsideale haben Menschenwürde und grundrechtliche Freiheit als Prämisse! Durch Vergegenwärtigung und Ausbau der korporativen Seite grundrechtlicher Freiheit erfolgt eine Strukturierung der Gesellschaft. Sie wird zur verfaßten Gesellschaft nicht zuletzt durch die Fülle von gruppenbezogenem Recht, das letztlich auf Grundrechtsprinzipien beruht. Dogmatische Konstruktionen wie Drittwirkung der Grundrechte, Parallelwertung im Privatrecht, institutionelle und Teilhabeseite etc. stehen im Dienst des einen Ziels und sind insofern instrumental: grundrechtliche Freiheit auch in und über Verbandsverfassungen zu effektivieren 302 . Wo von der Grundrechtsseite her innerhalb eines Verbandes Oppositionsrechte verstärkt werden 303 , ist dies im Grund zugleich ein Stück über den Verband hinausreichender Gewaltenteilung. Das Gebot pluralistischer Gewaltenteilung, das spezifische Verbandsrichtung entfaltet, steht ebensosehr im Dienste grundrechtlicher Freiheit wie die korporativen Formen, d.h. die Verbände selbst. Die korporative Seite grundrechtlicher Freiheiten schlägt ferner in vielfältiger Gestalt die Brücke zum Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG 3 0 4 . Während die demokratische Seite und Funktion von Einzelfreiheiten vor allem des Art. 5 GG immer wieder betont wird, fehlt das grundsätzliche Pendant auf der kollektiven Ebene. Nunmehr sollte der korporative Aspekt nicht minder stark herausgestellt werden: Art. 20 Abs. 1 GG ist von vornherein nicht nur mit Art. 21 GG in Zusammenhang zu lesen 305 , er ist auch von vornherein mit Art. 9
"gewachsenen" Privatrechtlers gegenüber Neuinterpretationen des Verfassungsjuristen (seit 1962 bzw. 1971) aus. 302 So fruchtbar soziologische Analysen gerade auch in der Verbandsforschung sind, Modell-Spiele haben ihre Grenzen. Sie dürfen nicht zu abstrakt werden, auch ergeben sich aus sozialgeschichtlichen Kategorien noch keine juristischen Folgerungen. So stark Verfassungsprinzipien unter der Forderung und Herausforderung der Wirklichkeit stehen, so sehr müssen sie eigenständig erarbeitet werden. ,(b Dazu G. Teubner, aaO, S. 284 f , 295 ff.; zur verbandsinternen Gewaltenteilung ebd. S. 117. ,04 Manches deutet darauf hin, daß hinter den Bemühungen, das Demokratie- oder Sozialstaatsprinzip zu aktivieren, um das Übermaß an Gruppenmacht zu bändigen, letztlich die Sorge um die grundrechtliche Freiheit des einzelnen steht (vgl. etwa die Drittwirkung der Grundrechte bei G Teubner, aaO., S. 283 ff, 295 ff.). Im "Grundrechtsstaat" der Gegenwart liegt es näher, auf das Prinzip Freiheit unmittelbar durchzugreifen: ohne Umweg über die "Staatszielbestimmung" des Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG. Differenzierungen sind allemal notwendig. 305 Dazu P. Häberle, Unmittelbare staatliche Parteifinanzierung unter dem GG (1967), jetzt in: ders, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 173 (177,
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Abs. 1, 9 Abs. 3 GG sowie allgemeiner mit der korporativen Dimension grundrechtlicher Freiheit "zusammenzulesen". Denn das Volk als pluralistische Größe existiert als solche vor allem in sozialen Gruppen; diese Gruppen sind ein Aspekt grundrechtlicher Freiheit "in action" 306 . Grundrechte als "funktionelle Grundlage der Demokratie" meint auch Gruppenbildung, Gruppenaktivitäten, Gruppenkampf etc. als funktionelle Grundlage des weniger "einheitlichen", denn pluralistischen "Volkes" 307 . So gesehen ist das demokratische Prinzip schon in der korporativen Seite grundrechtlicher Freiheit angelegt. Diese Seite ist recht eigentlich eine Bedingung der pluralistischen Demokratie.(Dieser Begriff erscheint jetzt wörtlich in der Präambel Verf. Benin von 1990.) Denn vor allem über Gruppen, z.B. die politischen Parteien, aber auch "Minderheiten der Minderheiten", kommt realer Pluralismus zustande. Pluralismus verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen, lebt zwar wie jede freiheitliche Ordnung aus den Individuen und ihren Ideen; aber Gewicht können ihre Ideen oft nur über das Vehikel vielfältigster Gruppen erlangen. Die Bedingtheit des Pluralismus durch die Existenz und Funktion der Gruppen muß jedenfalls verfassungstheoretisch noch stärker verarbeitet werden 308 . Die Verfassung des Pluralismus erfordert Verfaßtheit der Gruppen. Diese werden zur Bedingung grundrechtlicher Freiheit des einzelnen - so sehr sie diese gefährden können. Die Aufdeckung des Gruppenbezugs individueller Freiheit ist der Versuch, mit Pluralismus und Freiheit verfassungsdogmatisch ernst zu machen. Von der Seite des Bürgers her wird die korporative Seite grundrechtlicher Freiheit ein wesentlicher Aspekt der Verfassung des Pluralismus.
179). S. auch H. Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 35, S. 154 u.ö. 306 Erinnern wir uns der Vorgänge in Danzig im Herbst 1980. Hier wurde durch kollektive Ausübung und Durchsetzung eines Grundrechts, des Streikrechts, ein ganzes politisches System modifiziert, wurde eine Entwicklung eingeleitet, deren Dimensionen nicht absehbar waren. Das kollektive Streikrecht erwies sich als die politische Freiheit, die ihrerseits ein Stück Öffentlichkeit der staatlichen Zustände durchsetzte und sich damit als "öffentliche Freiheit" erwies. Die kollektive Grundrechtsausübung führte sogar zu einem "neuen Gesellschaftsvertrag", den die Werftarbeiter in Polen erkämpften (1989). Vielleicht ist die alte Idee des Gesellschaftsvertrages heute überhaupt nur noch in der kollektiven Dimension handhabbar. Die kollektive Seite eines Grundrechts erwies sich jedenfalls als Vehikel der gesellschaftlichen Entwicklung. 307 Vgl. dazu K. Hesse, aaO., S. 7 f., 61 f.; P. Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 182 (198 f.). 308 Vgl. auch K.M. Meessen, Erlaß eines Verbändegesetzes als rechtspolitische Aufgabe?, 1976, S. 28.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich
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c) Ausblick in acht Thesen: Verbände als Verfassungsproblem Als Thema einer Verfassungslehre hat die Behandlung des Verbändeproblems nicht nur entschieden wirklichkeitswissenschaftlich anzusetzen, sie hat neben dogmatischen Defiziten auch rechtspolitische Defizite abzugleichen. Ob der politische Prozeß wissenschaftliche bzw. rechtspolitische "Angebote" speziell in Deutschland annimmt, steht dahin. Eine Verfassungslehre könnte aber die Überzeugungskraft ihres Kapitels zum Verbändeproblem nicht zuletzt dadurch steigern, daß sie vergleichend arbeitet und eine Skala der Verbände vom mächtigen Tarifverband bis zum privaten Verein entwirft. Einige verfassungsstrukturell bedingte Grundlagen in diesem Rahmen seien abschließend genannt, Leistungen verschiedener Teildisziplinen darin zugleich verfassungstheoretisch auf den Begriff gebracht: (1) Es geht um die Aufrechterhaltung eines "freiheitlichen Gesamtzustandes", teils mit Hilfe der, teils gegen die Verbände (zu denen auch die kulturellen, nicht nur die wirtschaftlichen gehören!). Sie lassen hier ihre "Ambivalenz" erkennen. Ziel aller verfassungsstaatlichen Überlegungen zu den Verbänden ist die Herstellung "praktischer Konkordanz" (K. Hesse) zwischen der Anerkennung der positiven Leistungsfähigkeit der Verbände im politischen Gemeinwesen und dem Schutz der Bürgerfreiheit, der pluralistischen Öffentlichkeit sowie der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltenteilung bzw. Machtbalance; im ganzen: Ziel ist die Verfassung des Pluralismus. (2) Die Ergänzung der bisherigen Grundrechtsdimensionen um die erwähnte korporative Seite rückt den positiven Zusammenhang zwischen Verbänden und Freiheit in das Blickfeld. Dasselbe gilt für die schon herkömmlich erarbeiteten positiven (und auch oft erfüllten) Aufgaben der Verbände für "Staat und Gesellschaft", für pluralistisch verstandenes Gemeinwohl und Öffentlichkeit. Sog. "Institutionalisierungen" des Verbandseinflusses haben hier ihren Ort. Die res publica bedarf der Verbände. Sie lebt auch von ihnen. (3) Gegen die Verbände hat die Verfassungslehre sowohl von einer im weiteren Sinne verstandenen - "gesellschaftlichen" - Gewaltenteilungsidee her (Machtbalancen im nichtstaatlichen Bereich) als auch von der grundrechtlichen Freiheit des Bürgers aus Vorkehrungen zu treffen, freilich ohne Verfallstheorien zu huldigen. Alle drei staatlichen Funktionen haben in ihrer Weise auf neue Abhilfen zu sinnen: im Interesse der Bürgerfreiheit und freiheitsschützenden Machtbalance. Sie entwickeln insofern ein Stück "verfaßter Gesellschaft (4) Zwar scheint es "soziologische Grenzen" der Parlamente in fast allen Verfassungsstaaten in dem Sinne zu geben, daß Verbände-, Koalitions- bzw. Gewerkschaftsgesetze politisch kaum mehr durchsetzbar sind (z.B. derzeit
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in Italien). Jede geplante gesetzgeberische Regelung wird als solche schon als "Eingriff 1 in die Verbandsbzw. Gewerkschaftsfreiheit abgelehnt, unabhängig davon, ob es sich wirklich um einen "Eingriff' handelt oder ob nur die "allgemeinen", jeder Freiheit und jedem Verband zu ziehenden Grenzen normiert werden. (5) Der "legislative seif (?)-(re)straint" der parlamentarischen Gesetzgeber, der eine Schwäche sein mag, könnte aber dank der Gerichte mindestens teilweise kompensiert werden. Je größer die Mächtigkeit der Verbände im gesellschaftlichen Bereich ist, je mehr ihre öffentliche Bedeutung wächst, desto mehr bedarf es ihrer rechtlichen - notfalls richterrechtlichen - Einbindung: von der grundrechtlichen und demokratischen Seite her. (6) Der verfassungsstaatliche Rechtsschutzauftrag - Konsequenz des staatlichen Rechtsprechungsmonopols - hat über die Gerichte Verbandsmacht im Interesse der Bürgerfreiheit zu disziplinieren, die ärgsten Machtansprüche zurückzuschneiden und damit auch die Gesellschaft schrittweise zu verfassen: um die Verfassung des Pluralismus glaubhaft und real zu machen. Gerichtliche Kontrollen schützen bereits unter dem GG begrenzt den "Außenseiter" (Stichwort: Monopolrechtsprechung zu § 826 BGB - in Parallele zu § 27 GWB) und sie nehmen sich (unterstützt von der Wissenschaft) auch des Verbandsmitglieds an (z.B. durch Einschränkung der "Verbandsstrafgewalt" bzw. "pluralistischen Verbandsgerichtsbarkeit", Intensivierung der Grundrechtsgeltung im Binnenbereich, Anerkennung eines "offenen Gewerkschaftsbegriffs" bzw. des "Koalitionspluralismus"). Grundrechtsidee und Demokratieprinzip arbeiten hier Hand in Hand. Weder der Grundrechtsstaat noch die Bürgerdemokratie dürfen vor der Binnenstruktur der Verbände zu früh Halt machen. (7) Am Ende solcher richterrechtlichen Entwicklungen mag dann die Zeit reifen für legislative Entwürfe wie Verbandsgesetze, Begründung von Inkompatibilitäten u. ä., wobei alle Steuerung durch Rechtsnormen ihre Grenzen sehen muß. Öffentliche Meinung und politische Kultur haben hier ergänzende Kontrollfunktionen zu übernehmen. (8) Gewiß machen die Verbände nicht den Staat (auch nicht die europäische Gesellschaft). Aber sie sind konstituierende Elemente des "kooperativen Verfassungsstaates": nach innen und nicht selten als Vehikel der Kooperation nach außen. Sie sind letztlich Teil der "Verfassung als Vertrag" und Rahmen für immer neues Sich-Vertragen aller Bürger und Verfassungskräfte. Der täglich neue "social contract" ist auch ein Werk der Verbände.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich d) Neuere Textstufen
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und Verfassungspolitik
Zuletzt ein Blick auf die neuere Textstufenentwicklung in Sachen Verbände, Verbandswesen, "status corporativus" im Spannungsbogen von privat/ öffentlich/staatlich. Wie nehmen sich jüngere Verfassungen des Themas an? So wenig die Verfassungstexte allein etwas darüber aussagen, ob und wie die Verfassungswirklichkeit von ihnen jeweils gesteuert wird, so klar benennen sie doch neuralgische Punkte aller Versuche der Verfassunggeber, die Verbände in ihr Koordinatensysstem "richtig" einzubinden, ihnen von den Grundrechten her wie von "Staat und Gesellschaft" aus gerecht zu werden, ihnen, wo geboten, einen öffentlichen Status zu garantieren und sie diszipliniert auch in der Demokratie wirken zu lassen, etwa dank Brückenschlägen zu den Parlamenten oder gar Forderungen nach "innerer Demokratie" der Verbände. Auch speichern sich in den Texten Erfahrungen der Praxis und Hoffnungen der Wissenschaft. Da Pluralgruppen Ausdruck des Pluralismus sind, müssen sich jedenfalls auch und gerade neuere Verfassungen dieser Fragen annehmen. Damit ist auf dem Hintergrund einer Vergegenwärtigung des Ist-Zustandes der Texte auch "Material" gewonnen für den verfassungspolitischen Sollzustand "guter" Regelungen. Darum wird im folgenden primär rechtsvergleichend gearbeitet. Begonnen sei mit neueren Verfassungen in Westeuropa, ihrer Wirkung nach Osteuropa hin, schließlich seien auch einige Verfassungen in Übersee und in den Reformstaaten Asiens bzw. Afrikas in den Blick genommen. Dabei sollen die Normierungen im Vordergrund stehen, die etwas Neues, Eigenes schaffen und i.S. des Textstufenparadigmas das bisherige Material bereichern. Welche Verfassungen bringen ein neues Problem in Sachen Verbände auf den Punkt bzw. welche erfinden eine neue - ggf. bessere - Textgestalt, die im raumzeitlichen Vergleich Text-Stufe ist? In den Blick genommen seien vereinzelt auch Normenensembles, die einen Problemaspekt nur "wiederholen" - als Indiz dafür, daß sich eine verfassungsstaatliche Rezeptionstradition bildet, eine standardisierte Problemlösung etwa nach dem Vorbild von Art. 19 Abs. 3 GG. Ein Klassikertext in Gestalt eines Verfassungstextes, der "1789" korrigiert und von der katholischen Soziallehre angeregt sein dürfte, ist der auf den status corporativus vorweisende Passus in Art. 2 Verf. Italien (1947): "unverletztliche Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet...". Ein neues Problemfeld regelt Art. 40 Verf. Portugal (1976/92), insofern er ein Teilhaberecht der Pluralgruppen im "öffentlichen Rundfunk und Fernsehen" festlegt - der Sache nach inspiriert durch die deutsche Judikatur zu Art. 5 Abs. 1 GG (seit BVerfGE 12, 205; vgl. auch Art. I l l a BayrVerf.): "Politische Parteien und Gewerkschaften sowie berufsständische Organisationen und repräsentative Wirtschaftsverbände haben nach Maßgabe ihrer repräsentativen
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Stärke und nach den durch Gesetz festzulegenden Kriterien Anrecht auf Sendezeiten". Art. 55 Abs. 3 normiert fur die Gewerkschaften das Postulat der Demokratie ("demokratische Analogie" - wie in Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG für die Parteien), und Art. 60 verstärkt den Verbraucherschutz, indem die korporative Dimension ausgebaut wird (Abs. 3: Maßgaberecht der Verbrauchervereinigungen auf Unterstützung durch den Staat und ein Anhörungsrecht): im Grunde ist hier ein status corporativus mit dem status activus processualis kombiniert! Im ganzen wird erkennbar, wie innovativ Portugal sich auf vielen Feldern der konstitutionellen Verbandsproblematik stellt. Ähnliches kann für Spanien gesagt werden. In seiner Verf. (1978/92) findet sich bereits im "Vortitel" die Aussage (Art. 7): "Die Arbeitnehmerorganisation und Unternehmensverbände tragen zur Verteidigung und Förderung der ihnen eigenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen bei". S. 3 verlangt für ihre "innere Struktur und ihre Arbeitsweise" Demokratie (vgl. auch Art. 36 für die Berufskammern, Art. 52 S. 2 für die Berufsverbände). Art. 20 garantiert "wiederholend" den "bedeutenden sozialen und politischen Gruppen den Zugang" zu den Medien unter Wahrung des Pluralismus der Gesellschaft". Damit ist die schon in Art. 1 Abs. 1 formulierte Pluralismusklausel vom "politischen Pluralismus" auf die Gesellschaft insgesamt erweitert: ein bemerkenswerter Problem- bzw. Textgewinn. Art. 51 rezipiert weitgehend den von Portugal entwickelten Gedanken des korporativen Verbraucherschutzes bzw. des Anhörungsrechts. Im ganzen bestätigt sich, daß und wie der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe textlich auf das Verbandsproblem reagiert bzw. wie er es in sein Koordinatensystem gerade an heiklen Stellen wie bei den Medien "hereinholt" bzw. wie er sie zu demokratisieren sucht. Als Ausdruck des "Pluralismus der Gesellschaft", müssen die Verbände entsprechend ernst genommen werden (Art. 1 Verf. Äquat.-Guinea v. 1991: "polit. Pluralismus"). Um in der "iberoamerikanischen Völkerfamilie" zu bleiben, erweist sich ein Blick auf Lateinamerika als sinnvoll. In der (heute nicht mehr geltenden) Verf. Peru (1979) 309 fällt vorweg Art. 3 auf, der im Kapitel "Die Person" bestimmt: "Die Grundrechte gelten auch für die peruanischen juristischen Personen, soweit sie auf diese anwendbar sind". Deutlicher kann der "status corporativus" von einem Verfassunggeber kaum bereits systematisch zum Ausdruck gebracht werden. Nicht am Ende des Grundrechtskataloges insgesamt (wie in Art. 19 Abs. 3 GG), sondern am Schluß des Gegenstandes "Die Person" ist das Thema behandelt. Danach folgen andere, auch korporative Schutzbereiche wie "Die
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So wie in dieser Verfassungslehre Verfassungsentwürfen Relevanz beigelegt wird, werden auch "überholte" Verfassungen ernst genommen. Erst recht dann, wenn die jüngere Verfassung wie in Peru (1993) formal und inhaltlich zurückfällt.
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich691 Familie" oder "Bildung, Wissenschaft und Kultur". Erwähnung verdient die Aussage von Art. 68 Abs. 1 : "Die politischen Parteien sind Ausdruck des demokratischen Pluralismus" (Art. 125 Verf. Niger "Mehrparteiensystem"). Die Verf. Guatemala (1985) sei hier in Gestalt von zwei Problemfeldern berücksichtigt: zum einen durch die Aussage von Art. 66: "Guatemala besteht aus verschiedenen ethnischen Gruppen, unter denen die Nachkommen der Maya hervorragen" - danach ist der ethnische Pluralismus als Element des Selbstverständnisses dieses Landes festgelegt. Zum anderen bringt Art. 116 Abs. 2 mit eigenen Worten ein Problem des Streikrechts auf den Punkt bzw. Text: Das Streikrecht der Bediensteten des öffentlichen Dienstes wird zwar anerkannt, es darf jedoch "in keinem Falle die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes wesentlich beeinträchtigen". In anderen Verfassungsstaaten haben Wissenschaft und Praxis um eine derartige Formel gerungen. Osteuropa, dessen neue Verfassungstexte in dieser Verfassungslehre immer wieder in den "internationalen Wirkungszusammenhang" gestellt werden, komme auch beim Verbände-Problem mit einer Auswahl zu Wort. Die Verf. Estland (1992) garantiert nicht nur wie alle neuen Verfassungen die Versammlungsfreiheit (Art. 47), die ihrerseits ein Element des - hier "momentanen" und "spontanen" status corporativus menschlischer Freiheit ist, ebenso wie die Demonstrationsfreiheit. Im Rahmen der wirtschaftlichen Freiheiten wird ein Schutzbereich neu umschrieben (Art. 31): "the right to engage in commercial activities and to form profitmaking associations and leagues". Art. 48 Abs. 1 schützt konnex "the right to form non profit associations and leagues". Die Verf. Litauens (1992) regelt die Assoziationsfreiheit zusammen mit den politischen Parteien (Art. 35): "The right to freely form societies, political parties and associations...". Und schon im gleichen Kapitel "The individual and the State" sieht Art. 37 einen vorbildlichen Schutz ethnischer Gemeinschaften vor ("Citizens who belong to ethnic communities shall have the right to foster their language, culture and customs"). Einmal mehr zeigt sich, wie der Gemeinschaftsaspekt an der Wurzel kultureller Freiheiten steht (s. auch Art. 45 S. 2: "The State shall support ethnic communities"). Aus der Verf. Lettlands (1991) ist Art. 40 bemerkenswert: "People and their societies have the right to establish educational institutions of various levels with any language of instruction." (Ähnl. Art. 53 Abs. 3 Verf. Ukraine von 1996.) Die Verf. der Slowakischen Republik (1992) bereichert die Materialien einer vergleichenden Verfassungslehre durch den von den Erfahrungen der totalitären Vergangenheit geprägten Art. 29 Abs. 4: "Political parties and political movements, as well as associations, societies or other groups, are independent of the State". Damit wird ein einheitlicher Autonomie-Artikel für alle Arten von "Verbänden" geschaffen: von den politischen Parteien und Bewegungen bis zu Assoziationen, Gesellschaften, Vereinen oder anderen Gruppen. Im 47 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
übrigen räumt die Verf. den "Rights of National Minorities and ethnic Groups" einen eigenen Abschnitt ein. Nationale oder andere Minderheiten werden hier zu einem eigenen Thema der Verfassung - auch dies ist ein besonderer Aspekt des status corporativus (Art. 33 und 34 mit weitgehenden kulturellen Rechten). Während die Verf. Tschechien (1992) in Art. 5 nur einen neuartigen ParteienArtikel beiträgt ("Das politische System ist auf einer freien und freiwilligen Entscheidung und dem freien Wettbewerb politischer Parteien begründet"), ringt Verf. Bulgarien (1991) vereinzelt um neue Textformen: so in Gestalt von Art. 12 Abs. 1 ("Les associations des citoyens sont destinées à satisfaire et à defendre leurs intérêts") oder von Art. 43 (individuelle und kollektive Maßgabefreiheit in bezug auf die Gründung von Schulen). Die Verf. Rumänien (1991) schafft einen eigenen Pluralismus-Artikel (Art. 8 Abs. 1: "Dans la société roumanie, le pluralisme est une condition et une garantie de la democracie constitutionnelle"). Pluralismus meint ja immer auch eine Vielfalt von Gruppen. Art. 36 und 37 garantieren eine textlich sehr weitgehende "liberté de réunion" bzw. "le droit d'association". Die Verf. Ukraine (1996) leistet einen doppelten Beitrag zur Textstufenentwicklung: Sie faßt den Pluralismus-Gedanken in neue Worte: "Social life in Ukraine is based upon the principles of politicial, economic, and ideological diversity" (Art. 15 Abs. 1), die "Verfassung des Pluralismus" ist hier auf einen neuen Text gebracht. Und sie schafft in Art. 36 Abs. 1 einen denkbar weiten Status auch kollektiver Freiheit. "Citizens have the right to freely associate in political parties and public organizations for the realization and protection of their rights and freedoms and for the satisfaction of their political, economic, social, cultural, and other interests, except...". (Art. 45 Verf. Georgien (1995) erstreckt die Grundrechte auf die "juristischen Personen".) Die geographisch ferne, im Rezeptions- und Produktionszusammenhang von heute aber nahe Mongolei hat in ihrer Verf. von 1992 einen ähnlichen, etwas kürzeren Artikel (Art. 16 Ziff. 10) vorweggenommen. Die Verf. der Russischen Föderation (1993) rückt den kooperativen bzw. assoziativen Aspekt schon in die "Grundlagen des Verfassungsaufbaus" ein: Art. 13 thematisiert die "ideologische Vielfalt", die "politische Vielfalt und das Mehrparteiensystem" sowie die "gesellschaftlichen Assoziationen". Angesichts der Vergangenheit mußte Art. 36 Abs. 1 ausdrücklich bestimmen: "Die Bürger und ihre Assoziationen sind berechtigt, den Boden als Privateigentum zu besitzen" - was in alten Verfassungsstaaten schon "ungeschrieben" aus der Eigentumsgarantie folgt. Zuletzt ein Blick auf Südafrika. Seine Verf. (1996/97) garantiert "Assembly, demonstration, picket and petition" (Art. 17), zugleich "Freedom of association" (Art. 18); überdies denkt sie in Art. 31 an "cultural, religious and linguistic communities" bzw. an deren Rechte und Freiheiten wie an die der Mit-
VII. Die republikanische Bereichstrias: privat/öffentlich/staatlich693 glieder. Der "Menschenrechtsindividualismus" drucksvoll korrigiert 310 .
von 1789 ist auch hier ein-
Zur weiteren Differenzierung im Lichte all dieser Texte mag man das Verbändewesen in einem Verfassungsstaat wie dem des GG bereichsspezifisch aufschlüsseln. Die viel berufene "Verbändegesellschaft" 311 kennt die Felder von Kunst, Bildung und Wissenschaft, also der herkömmlichen "Kultur" (etwa Verbände im Kunstbereich wie Mozart-Vereine, im Literaturbereich wie Goetheund Schiller-Gesellschaften, wissenschaftliche Vereinigungen und Denkmalschutzverbände, auch Volksgruppen i.S. von Art. 18 Verf. Mecklenburg-Vorpommern; sie kennt nicht minder "primär" den Bereich der Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen (unter dem GG als "pluralistisches Staatskirchenrecht" (M. Heckel) hervorgehoben, vgl. auch Art. 6 Verf. Baden-Württemberg: religiöse Wohlfahrtspflege, aber auch in Menschenrechtsgruppen bekannt); sie kennt den Bereich von "Arbeit und Wirtschaft", in den Verfassungen oft gemeinsam behandelt (z.B. die Tarifpartner, Verbände der Selbständigen, Verbraucherschutzverbände, Kammern und Innungen); sie kennt das Feld der Gesundheit und des sozialen Lebens, etwa Seniorenverbände, Blinden·, Ausländervereine, Frauenverbände, Wohlfahrtsverbände, mitunter in den Verfassungen erwähnt: Art. 25 Abs. 1 S. 3 Verf. Saarland: "Einrichtungen der Wohlfahrt", auch Art. 33 Verf. Sachsen-Anhalt; Naturschutzverbände (vgl. die Verbandsklage in Art. 39 Abs. 8 S. 1 Verf. Brandenburg, Art. 10 Abs. 2 Verf. Sachsen); schließlich kann der Bereich Erholung und Freizeit unterschieden werden (z.B. Sportverbände, Kleingärtnerverbände, Fan-Clubs etc.). Diese Felder korporativ-assoziativen Lebens einer offenen Gesellschaft setzen entsprechende Ideale und reale "Bedürfnisse" des Menschen um, geben seiner Freiheit einen Gegenstand, wobei eine kulturell komponierte Verfassungslehre wie die vorliegende gegen den Begriff "Interessenverbände" nichts einwenden kann und will, weil sie den Menschen so nimmt, wie er ist. Die neue Textstufe in Art. 21 Abs. 2 S. 2 Verf. Brandenburg ("Eine Entlassung oder Disziplinierung wegen einer Betätigung in Bürgerinitiativen, Verbänden, Religionsgemeinschaften oder Parteien ist unzulässig"), verdient Beifall. Sie schützt den status corporativus des Bürgers und spiegelt sein mögliches Leben und Wirken auf der ganzen Breite von Verbänden.
' I 0 Die Verf. Kwazulu Natal (1996) spricht schon in der Präambel von "individuals and their collective physical and their spiritual needs"; in Art. 27 Abs. 2 ist an die "members of ethnic, religious, and linguistic formations" gedacht. 111 Aus der sozialwissenschaftlichen Lit.: U. von Alemann, Organisierte Interessen, 2. Aufl. 1989; K. von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, 5. Aufl., 1980; W. Rudzio, Die organisierte Demokratie, 1977; G. Trisch/W. Ockenfels, Interessenverbände in Deutschland, 1995.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
VIII. Einige zentrale Themen ("Kapitel") verfassungsstaatlicher Verfassungen - Das Regelungsoptimum Nur eine Auswahl von Themen der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates sei im folgenden behandelt. Dabei werden auch Aspekte des „Regelungsoptimums" sichtbar.
1. "Kulturelle Freiheit", Menschenwürde und Demokratie, Menschenrechte/Grundrechte im Verfassungsstaat Diese Themen verdienen inhaltlich den ersten Rang. a) Kulturelle Freiheit In der kulturellen Dimension muß die grundrechtliche Freiheit, muß die freiheitliche (und kulturelle) Demokratie auch von ihren Ergebnissen her gesehen werden. So beliebig das sein darf und soll, was der einzelne mit seiner Freiheit anfängt bzw. aus ihr macht (oder nicht macht), so ergebnisorientiert ist aufs Ganze gesehen die Garantie der Freiheit für alle bzw. als solcher. Kulturelle Freiheit ist - in der Zeitachse betrachtet - eine Leistung vieler Generationen, im "Querschnitt" gesehen ist sie Produkt vieler unterschiedlicher Kreise und Gruppen eines Volkes bzw. der Verfassungsinterpreten. Von der individuellen Statur eines Volkes aus gesehen wird Freiheit wesentlich um ihrer "Objektivationen" und "Materialisierungen" sprich: Resultate willen garantiert, die ihre Einzelausübung hervorbringen kann; Bemühungen um "alternative" Kulturformen und ihre schließliche Anerkennung (z.B. "Die Beatles") bestätigen den Zusammenhang von Kultur und Freiheit. Der Begriff "kulturelle Freiheit" sucht also die Freiheit vom Gegenständlichen her anzureichern, nicht i.S. einer normativ-verbindlichen Vorgabe, sondern vom erwarteten, gewiß oft verfehlten Ergebnis her. So gesehen ist alle Freiheit "kulturelle Freiheit": als Freiheit, die in realistischer Betrachtung in ein Geflecht von Erziehungszielen und Orientierungswerten, kulturellen Maßstäben und sachlichen Bindungen eingefügt ist, kurz die "Kultur" buchstäblich "zum Gegenstand", ja zur Aufgabe hat. Kultur ist in dieser Form Gegenstand sowohl der Freiheit des und im einzelnen als auch der Freiheit als "Gesamtzustand 11 eines Volkes. Diese Freiheit "gerinnt" oder objektiviert sich zu kulturellen Elementen, es kommt zu kulturellen Kristallisationen, auf denen spätere individuelle und kollektive Freiheitsausübung aufbauen kann. Kulturelle Wachstumsprozesse verlaufen über solches Wechselspiel von "potentieller" Freiheit über "erfüllte" Freiheit bzw. kulturelle Freiheitsergebnisse bis zu Wer-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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ken, von denen aus wieder neue individuelle Freiheit möglich, aber auch notwendig ist und gewagt werden muß (mit der Möglichkeit des Scheiterns): Meinungs- und Pressefreiheit führen zu Meinungen und Pressewerken, die dem kulturellen und politischen Prozeß zugute kommen; Kunst- und Wissenschaftsfreiheit führt zu Werken der Wissenschaft und Kunst, auch zur Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur, die bei späteren Auslegungsvorgängen hilfreich werden können; die Glaubensfreiheit führt zu religiösen Inhalten und Orientierungen, die das Selbstverständnis der religiösen Gruppen prägen können 312 ; ähnliches gilt für alle korporativen Aspekte grundrechtlicher Freiheit 313 . Um dieser individuellen und sozialen "Gesamterfolge", um dieser Resultate willen werden Grundrechte normiert, ausgestaltet und entwickelt. Und das, was ihre Inanspruchnahme politisch, wirtschaftlich und kulturell hervorbringt, prägt auf längere Sicht seinerseits wieder die Grundrechte: in ihrer normativen Gestalt und auf den Wegen ihrer Erfüllung. Die erwähnten Prozesse der Produktion und Rezeption nehmen ihren Weg gerade "durch" die Grundrechte hindurch. Das politische Gemeinwesen hat darauf zu achten, daß grundrechtliche Freiheit möglichst intensiviert, erweitert und verallgemeinert wird, ohne daß die notwendigen Bindungen und Einbindungen der Freiheit verloren gehen bzw. daß damit Momente sachlicher Grundierung der Freiheit und Offenheit hervorgebracht werden. Die Rechtsordnung kann sicherlich nicht unmittelbar "gute Ergebnisse" garantieren, aber sie kann Rahmenbedingungen setzen für die optimale Garantie von Freiheit und Verantwortung. Vor allem muß sie um der
312 Ein Beispiel für die Folgen kultureller Freiheit sind die Probleme der sog. neuen Jugendreligionen (allgemein dazu: P. Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989; A.v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 82 ff, 86 ff). So kommt es bei der Frage, ob diese steuerrechtlich als gemeinnützig anerkannt werden können (vgl. § 52 Abs. 2 AO), nach der Rechtsprechung des BFH darauf an, ob die religiösen Ziele und die Art ihrer Betätigung nicht den "abendländischen Kulturauffassungen" zuwiderlaufen (vgl. F. Klein, Steuerrechtliche Aspekte, in: Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sog. neuen Jugendreligionen, hrsg. von P.A. Engstfeld u.a., 1981, S. 131 [135] m.w.N.). Schon J. Heckel hatte mit seiner bekannten Formel (vgl. VerwArch 37 [1932], S. 280 ff, später in: P. Häberle [Hrsg.], Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 123 ff. [127]) als Grenze für die Verengung der kirchlichen Autonomie "jedes für die Gesamtnation als politische, Kultur- und Rechtsgemeinschaft unentbehrliche Gesetz" gesehen; im Leistungsstaat muß dieser kulturspezifische Grundgedanke differenziert fortgeschrieben werden.- Die Lit. nimmt sich jüngst stärker der "kulturellen Grundrechte" an, z.B. P. Meyer-Bisch (éd.), Les droits culturels, une categorie sous-développée de droits de l'homme, 1993. 313 Zum korporativen Grundrechtsverständnis meine Rezensionsabhandlung: Verbände als Gegenstand demokratischer Verfassungslehre, ZHR 145 (1981), S. 473 (bes. 481 ff.). S. noch oben VII.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Stabilität und Selbstbehauptung des politischen Gemeinwesens willen, um seines kulturellen Status willen und seiner kulturellen Wachstumsprozesse willen grundierende Momente hervorbringen. Daß dies auf dem Weg individueller Freiheit geschehen kann, ist die einzigartige Leistung des Verfassungsstaates, der kulturbedingend und -bedingt ist. Es ist zugleich sein "Glaubensbekenntnis". Die Dogmatik in Deutschland hat den Bereich grundrechtlicher Freiheit seit 1949 erweitert und intensiviert: Grundrechtliche Freiheit wurde "verallgemeinert", für möglichst alle Bürger ernst genommen i.S. realer Freiheit 314 : von der Entdeckung neuer (öffentlicher) Freiheiten wie der Demonstrationsfreiheit über die Erarbeitung der "leistungsstaatlichen Seite" der Grundrechte bis zuletzt etwa zur Sicherung der Grundrechte von der verfahrensrechtlichen Seite her und der Schutzpflichten-Lehre 315. Gewiß wurde ein System der Bindungen der Freiheit entwickelt, doch nicht gleichermaßen ausgebaut 316 .
314 Zur "positiven", "aktualisierten" Freiheit: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 131. 315 Vgl. P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.); K. Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S.427 (434 ff.); H Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG: E 53, 30 (65), SV 69 (71 ff.); 55, 171 (182); 56, 216 (236); 63, 131 (143); 73, 280 (296); 77, 170 (229 f.). Weiteres zum "status activus processualis" in meiner Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 373 ff. bzw. in den Nachträgen: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 677 ff., 682.- Zu den Schutzpflichten: BVerfGE 39, 1; 46, 160; 56, 54; 88, 203; 90, 145 (195); 92, 26 (46). Aus der Lit.: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. 1, 1996, Vorb. vor Art. 1, Rdnr. 62 ff. m.w.N. 316 Zum kulturwissenschaftlichen Verständnis der Grundrechte im allgemeinen und zu den kulturellen Grundrechten im engeren Sinne meine Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 385 ff. Ebenda auch zum "generationenorientierten" Verständnis grundrechtlicher Freiheit. Die Problematik der "staatsrechtlichen Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland" (vgl. die Referate von K. Doehring und J. Isensee, in VVDStRL 32 [1974], S. 7 ff. bzw. S. 49 ff. samt Aussprache, ebd. S. 107 ff.; aus der Literatur H. Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, 1981; G. Schult [Hrsg.], Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, 1982) ist entschiedener als bisher von den kulturverfassungsrechtlichen, kulturrechtlichen und kulturpolitischen Zusammenhängen her zu diskutieren. Gewiß bleibt der deutsche "ordre public" maßgebend, doch ist zu fragen, ob nicht ein Erziehungsziel wie Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen ("friedliche Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern", Ziff. 4 ebd.: "Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker"), Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992 ("Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker") oder ein Präambel-Passus der Verf. Hamburg ("im Geiste des Friedens Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt") sowie die vielzitierte "Völkerrechtsoffenheit" des GG (Präambel und Art. 24 - 26 GG) als kulturverfassungsrechtliche Direktive territorial nach innen wirken: i.S. größtmöglichen Respekts vor kultureller Freiheit und Identität der Ausländer in unserem Verfassungsstaat und seinem Recht auf allen Ebenen. Jedenfalls: Ein
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Der freiheitliche Gesamtzustand ist nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Denkbar sind Phasen, in denen der Ausbau der Grundpflichten auch unter dem GG stärker notwendig wird 3 1 7 , in denen das soziale Ganze ein Mehr an praktizierten Erziehungszielen und Orientierungswerten fordert: Die Verfassungstexte im weiteren Sinne sind auch in ihrer Symbiose mit den Verfassungstexten im engeren Sinne wandelbar, sie sind schon in sich selbst alles andere als "festgelegt", sie sind gerade das Einfallstor für (kulturellen) Wandel, der die Verfassungstexte im engeren Sinne ergreift. Insbesondere Kunst und Kunstfreiheit zeichnen sich durch einen spezifischen kulturanthropologischen Gehalt aus. Vor allen einzelstaatlichen Ausformungen in konkreten Verfassungen und vor aller unentbehrlichen, aber eher "mikrokulturell" arbeitenden Dogmatik und Rechtsprechung ist auf der allgemeineren Ebene an den Menschenwürde-Aspekt der Freiheit der Kunst zu erinnern. Das meint: Der Mensch verdankt seinen "aufrechten Gang" wesentlich der Kunstfreiheit. Menschsein bedeutet die Eröffnung des Weges zum produzierenden oder rezipierenden Künstler - darum ist etwa die leistungsstaatliche Teilhabeseite der Kunstfreiheit so wichtig. Die Freiheit ist kulturell "erfüllte" Freiheit vor allem dank Religion, Kunst und Wissenschaft - Freiheit jenseits des Naturzustandes (Menschsein aus Kultur). Die Freiheit der Kunst prägt den status civilis als "status culturalis" mit. Und dieser bildet heute einen status mundialis hominis. Die Freiheit der Kunst ist ein "innerstes Menschenrecht", d.h. eine etwa nur nationale, auf den Staatsbürger beschränkte Kunstfreiheit entlarvte sich als Widerspruch in sich selbst und als lächerlich. Soweit ersichtlich, gestaltet denn auch kein geltender Verfassungstext die Kunst zum "Staatsbürgerrecht" aus; die Kunstfreiheit als "Deutschenrecht" spräche allem humanistischen Erbe gerade des deutschen Idealismus eines Lessing, Kant, Schiller und Goethe Hohn. M.a.W.: Die viel genannte Weltgesellschaft - es gibt sie ohne "Weltstaat" - formt sich nicht zuletzt, sondern vielleicht sogar "zuerst"
Mindestmaß an tatsächlichen Voraussetzungen für die kulturelle Entfaltungs- (und Gestaltungs-)Freiheit sollte eingeräumt werden. Das hier vertretene "offene Kulturkonzept" muß seine Offenheit auch gegenüber Ausländem bewähren. Nicht zuletzt liegen in der damit verbundenen Einwirkung der "ausländischen" auf die deutsche Kultur, ihre Identität (und das Recht) auch Chancen für deren (dessen) Entwicklung: im Rahmen einer multikulturellen Gesellschaft und ihres "multikulturellen Miteinander". Dazu: T. Fleiner-Gerster (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, 1995; zuletzt: M. Kessler/J. Wertheimer (Hrsg.), Multikulturalität, 1995; M. Dunne/T. Bonazzi (Hrsg.), Citizenship and Rights in Multicultural Societies, 1995. 317 S. die Konstanzer Staatsrechtslehrertagung zum Thema "Grundpflichten": VVDStRL 41 (1983), mit Referaten von V. Götz und H Hofmann sowie die anschließende Diskussion.- Aus der späteren Literatur: H. Hofmann, Grundpflichten und Grundrechte, HdBStR Bd. V, 1992, S. 321 ff.- Jetzt Art. 82 bis 86 Verf. Polen (1997): „Obligations". S. auch Art. 42 b, 50 Verf. Togo (1992).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
im "status mundialis hominis" der Kunstfreiheit aus. Die aktiv oder passiv erfüllte Möglichkeit zur Kunst gibt dem Menschen Würde, wobei freilich auch die Konflikte im Auge zu behalten sind. "Würde", "Menschheit", "Bildung", "Erziehung", "Kultur", - Begriffe der Menschenrechtstexte -, setzen "Kristallisationen" aus der Kunst als Teil der Kultur voraus, und sie schaffen ihnen zugleich immer wieder den Rahmen. Der Maler Ernst Fuchs sieht sogar in der Freiheit der Kunst die "einzige Garantie für die Freiheit des Menschen". Freilich: So sehr hier die Natur zur Kunst in gedanklichen Gegensatz gerückt wird, wir erinnern uns auch der möglichen Synthese Goethes: "Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich eh man sich denkt gefunden...". Oder in der Weise von Joan Mirò: "Ich arbeite wie ein Gärtner". Die Kunstfreiheit muß nach all dem in der ganzen Breite und Tiefe des Kulturverfassungsrechts des Verfassungsstaates angesiedelt werden. So notwendig und schwierig die Abgrenzung der Kunst von anderen Hervorbringungen der Kultur wie der bloßen Meinung, der Religion, auch der "Politik" ist, letztlich ist das Kunst-Schaffen und -Aufnehmen ein "Ursprungsvorgang": Das Schöpferische, der élan vital einer verfaßten Gemeinschaft lebt aus Kunst, Wissenschaft und Religion. Sie bilden die "Motoren" und "Stabilisatoren" sowohl des einzelnen Verfassungsstaates wie auch der sich konstituierenden einen Welt. A l l dies ist freilich immer wieder gefährdet. Dies zeigt der Anschlag auf die Uffizien in Florenz im Sommer 1993 ebenso wie das sog. "Todesurteil" des Chomeini gegen Salman Rushdie. Die ganze gesittete Welt ist durch beides gleichermaßen herausgefordert. Was vordergründig bei Rushdie "nur" als ein Verstoß gegen eine universale Menschenrechtsgarantie (Art. 19 Abs. 2 Menschenrechtspakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966) erscheint, bildet der Sache nach ein gezieltes Attentat auf die Menschheit bzw. Verfassungsstaatsfamilie als Treuhänder von Kultur. Mehr noch: weil sich Menschheit aus der Trias Kunst, Wissenschaft und Religion erst konstituiert, auf diese selbst. Abendländische und morgenländische Gesittung haben im Menschenrecht auf Kunst ihre Ausformung. W. A. Mozarts bzw. E. Schikaneders Satz "ein Prinz - mehr als das: ein Mensch" (Zauberflöte) ist ebenso eine Ausprägung und "Beweis" wie Goethes "west-östlicher Diwan". Man muß sich schon zu solchen Höhen und Idealen aufschwingen, um der Kunst und Kunstfreiheit als "Wurzelgrund" des menschheitsverpflichteten Verfassungsstaates gerecht zu werden. Der schönste Beleg für diese Überlegungen findet sich in einer Äußerung von N. Mandela 318 . Er erklärte: Die universelle Sprache der Kunst müsse den Weg weisen, Südafrika zu heilen. Die reichen Fäden der Kultur müßten das zerrissene Land wieder aufbauen. In all den Jah-
318
Zit. nach FAZ vom 1. Juni 1993, S. 35.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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ren des Leidens habe das Theater, der Tanz, Literatur und Gesang dem Schweigen getrotzt, das die Apartheid aufzuzwingen suchte. Schöpferkraft kenne nicht Zäune und Grenzen. Der ANC "besitze" nicht die Kultur, beanspruche sie nicht als sein Revier. b) Menschenwürde (1) Problem Trotz der großen Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungsgerichts 319 ist keine für ausreichend gehaltene, "handliche" Formulierung für das, was Menschenwürde sein soll, erkennbar. "Zwischen den Zeilen" der verschiedenen Menschenwürdeklauseln der Verfassungen läßt sich spüren, daß die Klauseln jeweils auf eine kulturspezifische Vorstellung von Menschenwürde bezogen sind. Dies wirft die Frage nach der Kulturabhängigkeit (vor allem auch Religionsabhängigkeit) von Menschenwürdevorstellungen auf 320 . Verstößt z.B. die Stellung der Frau im Islam gegen einen in der ganzen Welt ("universal") geltenden, nicht aufgebbaren Inhalt von Menschenwürde? Oder gilt etwa der berühmte Satz: "The mores can make anything right" (William G. Sumner)? Gibt es einen kulturkreisunabhängigen "Kern" der Menschenwürde? Diese Frage kann nur grundrechtsspezifisch beantwortet werden 321 . Auszugehen ist von der These, daß die Gesamtheit der personal bezogenen Rechtsverbürgungen einerseits und Pflichten andererseits es dem Menschen ermöglichen soll, Person 322 zu werden, zu sein und zu bleiben. In dieser rechtlichen
319
Nachweise in P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdBStR Bd. I (1987), 2. Aufl. 1995, S. 815 (820 ff.); zuletzt bei H Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 1 Abs. 1 bei Rdnr. 81 bis 86. Aus der Lit.: W. Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, S. 201 ff.; W. Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, JuS 1995, S. 857 ff; ders., in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 1996, Art. 1; mit Blick auf die spezifische Perspektive des Christentums H. Maier, Wie universal sind die Menschenrechte, 1997, S. 75 u.ö. Zuletzt BVerfGE 89, 28 (35); 93, 266 zum Schutz der persönlichen Ehre. S. auch E 94, 12 (34); 95, 96 (130). 320 Vgl. BVerfGE 12, 1 (4): "heutige Kulturvölker", "Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung"; vgl. auch BVerfGE 24, 236 (246). 321 S. bereits BVerfGE 12, 45 (50 f.); später E 54, 341 (357). 322 So schon J. M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, bes. S. 6: Würde kommt dem Menschen zu, weil er "wesensmäßig" Person "ist". Sozialwissenschaftlich erarbeitete Konstituanten von Identität finden sich ansatzweise in Untersuchungen von G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976; D.
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lebensbereichsspezifischen Absicherung des Person-Seins, der Identität, nimmt die Menschenwürde ihren zentralen Platz ein: Wie der Mensch zur Person wird, gibt auch Hinweise auf das, was "Menschenwürde" ist. Zwei Fragen sind zu unterscheiden: wie sich menschliche Identität in einer Gesellschaft bildet, und inwieweit man von einem interkulturell gültigen (und damit "universalen") Identitätskonzept ausgehen kann. Einige sozialwissenschaftliche Identitätskonzepte seien daher kurz dargestellt. (2) Identitätskonzepte Psychologische Identitätskonzepte sehen das Hauptproblem menschlicher Identität in der Vermittlung zwischen den eigenen Bedürfnissen des Individuums und den Ansprüchen der anderen: Hier muß eine Balance gefunden, diese Konflikte müssen auf dem Hintergrund der erworbenen Fähigkeit zur Ausübung sozialer Rollen so bewältigt werden, daß sich in der Biographie des Individuums eine akzeptable Kontinuität herstellt 323 .- Das traditionelle soziologische Identitätskonzept sieht die Besonderheit der individuellen Persönlichkeit in der einmaligen Auswahl von Rollen, die sich bei einzelnen Personen wegen der Fülle der angebotenen Möglichkeiten in der je speziellen Kombination nie völlig deckt; die Integration der jeweiligen Rollenkombination ist dabei unabhängig von der inneren Konsistenz des gesellschaftlichen Rollen- und Normensystems324.- Die Wissenssoziologie sieht die Identität des Individuums als Resultat der Vermittlung eines bestimmten Ausschnittes sozialer Realität im primären Sozialisationsprozeß; Folge dieser frühen Festlegung ist eine relativ starre Identität, die durch Übersetzungsleistungen objektiver in subjektive 325
Realität nur schwer geändert werden kann
.- Der symbolische Interaktionis-
Suhr, Die Entfaltung des Menschen durch den Menschen, 1976, und G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978. ,23 Mentor des Identitätskonzepts in der Psychologie ist E.H. Erikson: z.B. Identität und Lebenszyklus, 1966; ders., The Problem of Ego Identity, 1956. Zur Darstellung der unterschiedlichen psychologischen Identitätsansätze s. L. Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, 1969, S. 17 ff. m.w.N. * 24 Diese soziologischen Identitätskonzepte gehen vor allem auf T. Parsons zurück, s. ders., Eduard A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge/Mass., 1967, hier bes. der einleitende Beitrag S. 3 ff, und die Beiträge S. 110 ff. und 465 ff.; eine Konkretisierung bei Talcort Parsons, Social Structure and the Development of Personality, in: Bert Kaplan (Hrsg.). Studying Personality Cross-Culturally, 1961, S. 165 ff.; eine Darstellung der Kritik am soziologischen Identitätskonzept s. bei L. Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, 1969, S. 17; zum Rollenkonzept von Parsons ebd. S. 102 ff. 125 Grundlegend hier Peter L. Berger/T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1966, dt. 1969; zur Kritik s. Krappmann, aaO., S. 22.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen mus geht von einer ständig neuen Findung bzw. Entwicklung der Identität in der Interaktionssituation des Alltags aus; ein "Selbst" kann das Individuum dabei nur über Kommunikation mit anderen aufbauen. Da aber alle Gegenstände des Alltags in dieser Interaktion erst ihren sozialen Sinn, ihre soziale Bedeutung erhalten, bleibt die jeweils situativ gefundene Identität des Individuums prekär und offen: Möglich wird diese Offenheit dadurch, daß der Interaktions(und Identitätsfindungs-)Situation die Gesellschaft mit ihrem Geflecht von interagierenden anderen Individuen und Normen vorausgeht, wobei dem Kind im Sozialisationsprozeß die Fähigkeit vermittelt wird, sich an diesen Prozessen erfolgreich zu beteiligen. Dieses Identitätskonzept ist also gekennzeichnet durch ein eigentümliches ambivalentes Miteinander von Offenheit und Flexibilität in der Situation mit einem diese Flexibilität erst ermöglichenden Hinter326
grund einer strukturierten Situation .- Nicht unähnlich gewinnt der einzelne auch in systemtheoretischer Perspektive durch ungestörtes Lernen persönliche Identität und selbstbewußte Individualität durch seine gelingende Selbstdarstellung als Interaktionspartner im selbstbestimmten Rollenspiel des sozialen Verkehrs 327 . Die Vielfalt der Ansätze zeigt, daß einfache, "griffige" Konzepte auch von den Sozialwissenschaften und der Psychologie nicht geliefert werden können. Ähnlich ist die Antwort auf die Frage nach einem interkulturell anwendbaren Persönlichkeits- oder Identitätskonzept, etwa in der Ethnologie. Bei allen Meinungsverschiedenheiten wird man die Diskussion so zusammenfassen können, daß bestimmte grundlegende Komponenten als "Konstanten" menschlicher Identität in allen Kulturen zu finden sind, aber im übrigen Identität vor allem kulturspezifisch geprägt ist 3 2 8 . Das überrascht nicht, denn der Mensch wird ja in einem Gemeinwesen mit spezifischer Kultur sozialisiert 329 .
126 Grundlegend G.H. Mead , Geist, Identität und Gesellschaft, 1978, mit ausf Einleitung von Charles W. Morris, S. 13 ff.; zu den soziologischen Implikationen H. Blumer, Sociological Implications of the Thought of G.H. Mead, in: American Journal of Sociology, 1966, S. 535 ff; wichtig noch E. Goffman , Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag, 1969: s. ferner Krappmann, aaO, Zur juristischen Rezeption vor allem B. Giese, Das Würde-Konzept, 1975, S. 78 ff.; überwiegend unter Bezugnahme auf Goffman, s. auch D. Suhr, Die Entfaltung des Menschen durch den Menschen, 1976. 7,27 Vgl. N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, 2. Aufl. 1974, S. 81 f.; K.W. Deutsch, Politische Kybernetik, 1963, dt. 1969, S. 196 f. 128 Vgl. auch allg. BVerfGE 31, 58 (75 f.); s. auch E 45, 187 (229): kein "Anspruch auf zeitlose Gültigkeit". 29 Eine Darstellung der Ansätze und der Wissenschaftsgeschichte interkultureller Persönlichkeitsforschung bei M. Singer, in: B. Kaplan (Hrsg.), Studying Personality Cross-Culturally, 1961, S. 9 ff.; zu Einzelaspekten interkultureller Persönlich-
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (3) Einige Folgerungen
Betrachtet man die psychologischen und sozialwissenschaftlichen Identitätskonzepte, so zeigt sich eine sachliche (nicht: terminologische) Gemeinsamkeit: Identitätswerdung scheint sich zu vollziehen in einer in einen bestimmten "Rahmen" eingebetteten Freiheit: Dieser Rahmen ist zum Teil auch der rechtliche "Überbau" der Gesellschaft. In ihm vermittelt der Grundsatz der Menschenwürde dem Individuum bestimmte normative "Personenvorstellungen", die durch die Kultur geprägt werden, in der sie entstanden sind 330 . Menschenwürde ist dennoch nicht nur kulturspezifisch inhaltlich analysierbar. Schon beim Blick auf interkulturell gültige Identitätskonzepte zeigt sich, daß bestimmte grundlegende Komponenten menschlicher Persönlichkeit in allen Kulturen berücksichtigt werden müssen: Sie sind damit auch Inhalt eines nicht kulturspezifisch reduzierbaren Menschenwürdekonzeptes. Jenseits dessen ist der Orientierungsrahmen, vor dessen Hintergrund sich in freier, aber orientierter Entfaltung der Mensch zur Person findet, durchaus nicht statisch. Gesicherte, d.h. sozial akzeptierte Entfaltungs- und Kommunikationsmöglichkeiten - z.B. in der Form von gefestigten Rollen, im Beruf etwa "Berufsbilder" - werden ein Teil des (nicht nur rechtlichen) Orientierungsrahmens; die Kulturspezifik von Menschenwürdevorstellungen wird damit zu einer Kulturspezifik in der Zeit, der Orientierungsrahmen durch die wachsende Zahl seiner Orientierungsmöglichkeiten immer flexibler und differenzierter 331. Eine Rückkehr zu überkommen-starren Vorstellungen wird schwer, ja unmöglich gemacht. Mit anderen Worten: Die Dürigsche Objektformel wird zur Subjekäormel; der Verfassungsstaat verwirklicht Menschenwürde, indem er die Bürger zum Subjekt ihres Handelns macht 332 . Menschenwürde ist in diesem Sinne die ge-
keitsforschung s. im übrigen die verschiedenen Beiträge in dem Sammelband von Kaplan, aaO. 1,0 S. auch R. Zippelius, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art. 4 GG (1966), Rn. 4: "Der zweite Hauptbegriff der in unserer Kulturgemeinschaft (!) lebendigen Vorstellungen über die Menschenwürde ist die sittliche Autonomie." Daher ist es auch funktional "richtig", ein allgemeines "Auffang-Grundrecht" wie Art. 2 Abs. 1 GG zu normieren, der in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in die Zukunft wirken kann. Allgemein zu "Zeit und Verfassung": P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 59 ff. 132 Deutlich BVerfGE 38, 105 (114 f.); 9, 89 (95); E 87, 209 (228); s. auch E 89, 28 (insbes. 35). Grundlegend G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde (1956), später in: G. Dürig, Gesammelte Schriften, 1984, S. 127 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen wachsene und wachsende Biographie des Verhältnisses Staat-Bürger 333 (und, mit dem Schwinden der Trennung von Staat und Gesellschaft, des Verhältnisses Staat/Gesellschaft-Bürger). Hier liegt die (partielle) Berechtigung, wenn z.T. die Menschenwürde als gelungene Selbstdarstellung individuell konstituierter Persönlichkeit und damit als eigene Leistung des einzelnen Menschen hervorgehoben wird 3 3 4 , die z.B. als Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" praktisch sinnfällig ist 3 3 5 . Das Konzept der Identitäts(-wahrnehmung und -findung) wird hier wegen der Offenheit jenes Orientierungsrahmens für Menschenwürde in einem weiten Sinne verstanden, der die sozialen und rechtlichen Möglichkeitsbedingungen einbezieht 336 . Weiteres Korrektiv eines rein kulturspezifischen Begriffs der Menschenwürde ist die Aufbrechung der staatlichen und damit kulturellen Grenzen in der "Weltgesellschaft" (N. Luhmann). Würdekonzepte werden heute nicht mehr nur innerhalb einer Gesellschaft, innerhalb einer Kultur entwickelt; sie orientieren sich auch an und entwickeln sich durch den Austausch mit anderen Kulturen, zumal im Zeichen der Menschenrechtspakte 337. Bei der Entwicklung von Menschenwürdekonzepten darf die "individuelle" Kultur des politischen Gemeinwesens nicht außer acht gelassen, aber auch nicht verabsolutiert werden 338 . Menschenwürde hat einen relativen Kulturbezug, sie steht im kulturellen Kontext 3 3 9 , hat aber auch tendenziell universelle Züge.
333 Auch Art. 79 Abs. 3 GG betrifft nicht so sehr abstrakte philosophisch-ethische Würdekonzepte als vielmehr eben die gewachsene Biographie des Verhältnisses Staat/(Gesellschaft)-Bürger. Zu solchen kulturwissenschaftlich zu verstehenden "Ewigkeitsklauseln" siehe Fünfter Teil III. Zuletzt Art. 225 Verf. Tschad (1996). 334 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, 2. Aufl. 1974, S. 68 ff.; A. Podlech, GG-AK, 2. Aufl., Bd. 1, 1989, Art. 1 Abs. 1, Rn. 11. 335 Vgl. BVerfGE 65, 1 (41 ff.); E. Denninger, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Innere Sicherheit, in: KJ 18 (1985), S. 215 (219); P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 112 ff. 336 Begrifflich enger A. PodlecK Alternativ-K. GG, Art. 1 Abs. 1 (1989), Rn. 34 ff. 337 S. auch K. Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, FS Scupin, 1983, S. 627 (629 f , 642). Der Schutz der Menschenwürde gehört so zum völkerrechtlichen Mindeststandard, so BVerfGE 63, 332 (337 f.); vgl. auch schon BVerfGE 59, 280 (281 i.V.m. 283, 286 f.). 338 Vgl. parallel zu Art. 102 GG: BVerfGE 18, 112 (117 f.). 339 S. z.B. BVerfGE 54, 341 (357); grds. zum kulturwissenschaftlichen Verfassungsverständnis: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982, S. 18 ff, 57 ff, und ders, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (4) Menschenwürde im Du-Bezug und im Generationenverbund
Die sozialwissenschaftlichen Identitätskonzepte belegen zudem die weitere juristische Erkenntnis: In der Menschenwürde ist der Du-Bezug von vornherein mitgedacht. Die Anerkennung der "gleichen Menschenwürde des Anderen" 340 bildet die dogmatische Brücke zur Du-bezüglichen Einbettung der Menschenwürde "des Einen", wie dies die Menschenbildjudikatur des Bundesverfassungsgerichts 341 oder der Katalog der Grundrechte besonders in Art. 6 und 140, 9 und 21 oder 28 Abs. 2 GG konkretisieren 342 . Der Bezug zum "Anderen", "Nächsten", dem "Du" und "Bruder" (im Sinne der Brüderlichkeit von 1789), heute auch der "Schwester", ist integraler Bestandteil des Grundrechtssatzes von der Menschenwürde. Kulturwissenschaftlich verstanden schließt das die überindividuelle Generationenperspektive ein: Der Generationenzusammenhang stiftet eine Verantwortungsgemeinschaft, der sich der einzelne weder entziehen darf noch kann. Neuere positive Verfassungstexte werden sich der Generationenperspektive auch zunehmend bewußt und geben den Blick frei für die Zukunft eines Volkes und seiner, Menschenwürde "lebenden", Bürger (vgl. Sechster Teil V und V I Ziff. 2.). Das führt auch zu Verantwortung und Pflichten. Ein Beispiel bilden die neuen Fragen der Gentechnik. Kurz: Der Mensch ist Mitmensch und zugleich Glied der "Generationenkette". Der Generationenvertrag ist eine kulturelle Leistung! (5) Menschenwürde im kulturellen Wandel Der Verfassungssatz der Menschenwürde bringt ein Mindestmaß an Entwicklungsfähigkeit und damit auch Wandelbarkeit der scheinbar "absoluten" Menschenwürde mit sich. So rücken Gefahren im Umweltbereich erst jüngst 340 Vgl. zu den Gleichheitsrechten: HdBStR Bd. V (1992), S. 837 ff. (insbes. P. Kirchhof)', Κ Hesse, Der Gleichheitssatz in der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FS Lerche, 1993, S. 121 ff; U. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996. 341 Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 44 ff. Aus der weiteren Lit.: J.M. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995; U. Becker, Das "Menschenbild des Grundgesetzes" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996. 342 Zum "status corporativus": P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 376 ff.; zum Ganzen Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 55, sowie oben unter VII Ziff. 5.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen ins allgemeine Bewußtsein, wird manche gesellschaftliche Randgruppe (z.B. die der Transsexuellen) erst in neuerer Zeit wahrgenommen: Die Menschenwürdeklauseln stehen im Kontext der Verfassungskultur. Dieser weist über das Juristische der Verfassung hinaus: auf das Kulturelle, d.h. auf Klassikertexte ebenso wie auf konkrete Utopien (z.B. der Umweltschützer), auf Erfahrungen eines Volkes (z.B. mit Tyrannen) ebenso wie auf Hoffnungen (bis 1990 die Einheit Deutschlands, heute die Europas). Ein "Verfassungsprinzip" wie die "Menschenwürde" kann staatlich und gesellschaftlich, seins- und bewußtseinsmäßig nur tendenziell vom Verfassungsrecht erzwungen werden. Das individuelle und gemeinschaftliche Selbstverständnis der Bürger ist nicht minder konstitutiv. Die Erziehung zur Achtung vor der Menschenwürde ist in den Schulen ein hervorragendes Erziehungsziel des Verfassungsstaates: Menschenwürde für sich selbst wie auch für den Nächsten bzw. "Anderen" (als "Toleranz", "Solidarität", "Humanität"). Ob und wie dann Menschenwürde für sich und in bezug auf die anderen gelebt wird, ist mit der Mündigkeit in jedermanns Verantwortung gestellt: Letzte Instanz ist der Bürger und der Mensch selbst, insofern "wir selbst" der politischen Geschichte einen Sinn geben und ein Ziel setzen können, und zwar einen menschenwürdigen Sinn und ein menschenwürdiges Ziel 3 4 3 . c) Der Zusammenhang von Menschenwürde und Demokratie (1) Das "klassische" Trennungsdenken und seine Kritik Grundlage des Verfassungsstaates ist eine doppelte: Volkssouveränität und Menschenwürde. Geistesgeschichtlich wurden Volkssouveränität und Menschenwürde bislang meist getrennt gedacht und "organisiert". Volkssouveränität war das politisch-polemische Gegenstück gegen die monarchische Fürstensouveränität' 44. Ihr klassisches Verständnis in der Tradition von J.-J. Rousseaus "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" prägt die geschriebenen Verfassungstexte und die Wissenschaftstradition bis heute. Seine Durchschlagskraft ist so stark, daß Korrekturen eher peripher, grundsätzliche Infragestellungen kaum und substantielle Verfassungstextvarianten selten wahrgenommen werden. Noch in Dolf Sternbergers Satz: "Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus"
,4 ' K.R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 157; s. ausf. am Parallelbeispiel der Kunst P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, in: AöR 110 (1985), S. 577 (594 ff.). ,44 Zur Souveränität vgl. grdl. P. Dagtoglou, Art. Souveränität, in: EvStL, 1966, Sp. 2321 ff. (jetzt 3. Aufl. 1987, Sp. 3155 ff.).
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liegt eine ungewollte Verbeugung vor der - bekämpften - "Position" J.-J. Rousseaus. Im Postulat der gewaltenteilenden oder rechtsstaatlichen Demokratie' 4 5 liegt ebenso eine Korrektur "absoluter" Volkssouveränitätslehren wie im Hinweis auf das pluralistische Aufgespaltensein des Volkswillens 346 . Dennoch bleibt es Aufgabe, Volkssouveränität von ihrem historisch-polemischen Ursprung abzulösen und mit Menschenwürde im Zusammenhang zu sehen. (2) Wandlungen der Verfassungstexte Ein Vergleich der Texte verfassungsstaatlicher Verfassungen zeigt in älteren Verfassungen das Volk als primäres Element der Drei-Elemente-Lehre allgemeiner Staatslehren, gelegentlich wird der Bürger zum "Objekt" der Staatsgewalt degradiert, textlich zum einen in der Tradition der Volkssouveränitätsdoktrin, d.h. als Passus "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus"; zum anderen fällt die nationalstaatliche Kodifikationsgestalt auf: Das Volk wird als (gegen ethnische Minderheiten) einheitliches, "nationales" postuliert: im Sinn von "deutschem Volk" u. ä. Fast unbemerkt gehen einige neuere Verfassungstexte einen anderen Weg 3 4 7 . Entweder modifizieren sie die Volkssouveränitätsklausel 348 oder sie bauen ihren Grundrechtsteil so deutlich von der Menschenwürdegarantie her auf, daß dieses auf das Verständnis der überlieferten Volkssouveränitätsklausel nicht ohne Auswirkung bleiben kann - so in Art. 1 GG, der den Art. 20 Abs. 2 "korrigiert". Wenn nach dem Verfassungs-Entwurf von Herrenchiemsee von 1948 (Art. 1 Abs. 1) "der Staat um des Menschen willen da" ist (und nicht umgekehrt), dann mag alle Staatsgewalt vom Volk "ausgehen", aber dieser Satz hat seinerseits schon seine "primäre Prämisse" in der Menschenwürde! Sie ist der "archimedische Bezugspunkt" aller - auch im Verfassungsstaat notwendigen - Herrschaftsableitungen und -zusammenhänge bzw. "Legitimationsketten". "Herrschaft des Volkes" (durch das Volk und für das Volk) wird erst in einem zweiten Denkschritt gedacht. Der Menschenwürdeschutz (auch in seiner Ausstrahlung auf Einzelgrundrechte!) ist als Rechtsgrundsatz "Staat" und ,45
R. Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie, 1954. K. Hesse, aaO, S. 61 f. ,47 Punktuell wird der Zusammenhang von Volk und Menschenrechten angedeutet z.B. in § 130 Paulskirchenverfassung (1849); s. auch Art. 1 S. 2 B-Verf. Österreich (1920): "Ihr Recht geht vom Volk aus". Die Überschrift des Grundrechtsabschnitts der Verf. Japan (1946) formuliert: "Die Rechte und Pflichten des Volkes" (zit. nach R. Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, 1982, S. 187). 348 Vgl. Art. 1 Abs. 2 Burgenland (1981): "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen." 346
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "Volk" vorgegeben und auch allen Herrschaftsableitungen und Legitimationszusammenhängen vom Volk zu den Staatsorganen (vgl. dazu BVerfGE 93, 37 (67 f.)). Eine Parallelität von Menschenwürde und Volkssouveränität wird schon deutlich in Art. 1 und 2 Verf. Griechenland (1975). Art. 1 Abs. 2 lautet: "Grundlage der Staatsform ist die Volkssouveränität", Abs. 3: "Alle Gewalt geht vom Volk aus, besteht für das Volk..." etc. Wenn dann Art. 2 Abs. 1 die "Grundverpflichtung" des Staates zu Achtung und Schutz der Menschenwürde normiert, so sind Volkssouveränität und Menschenwürdekonzept von vornherein verklammert. Noch besser formuliert aber Art. 1 Verf. Portugal (1976/ 1992) diesen Zusammenhang349. (3) Die menschen- und bürgerorientierte Volkssouveränität Volk ist weniger eine naturhaft vorgegebene Größe als eine kulturell sich in einer verfassungsstaatlichen Verfassung konstituierende und in ihren kulturellen Zusammenhängen immer neu werdende pluralistische Größe. Es besteht aus "Grundrechtsträgern", d.h. aus Bürgern. Von ihnen geht letztlich alle (Staats-)Gewalt aus. Darum ist Achtung und Schutz der Menschenwürde eine "Grundpflicht" des Verfassungsstaates, noch genauer eine "Grundrechtspflicht" 350 . Insofern ist Art. 1 Abs. 1 GG "Staatsform": Begründung des Staates. In der Menschenwürde hat Volkssouveränität ihren "letzten" und ersten (!) Grund. Volk ist keine mystische Größe, sondern eine Zusammenfassung vieler Menschen mit je eigener Würde 351 : eine räumlich verortete, zeitlich gewordene und weiterentfaltungsfähige und öffentlich gelebte und verantwortete Zusammenfassung einer "Menge Menschen" unter Rechtsgesetzen (im Sinne I. Kants): das demokratisch verfaßte, im Selbstverständnis an der Menschenwürde aller orientierte, auf sie verpflichtete Volk. Ein solches Verständnis umgeht auch Gefahren, die durch die Überbetonung der Gemeinschaft nicht selten zu totalitären Entwicklungen geführt haben. Alle
,49
"Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und deren Ziel die Errichtung einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft ist." ">5° Zu diesem Begriff P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (S. 94); s. ferner V. Götz/H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: VVDStRL 41 (1983), S. 7 ff. bzw. 42 ff. 151 Vgl. gleichsinnig D. Th. Tsatsos, Einführung in das Grundgesetz, 1976, S. 74; H. Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 33 (1975), S. 69 (75 f.). 48 Häberle
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Autorität ist abgeleiteter Natur, es gibt keine "Würde des Staates"352, es gibt nur eine Würde des Menschen (vielleicht auch der "Kreatur"). Vom einzelnen Bürger her gesehen besteht ein gedanklicher "Fortsetzungszusammenhang" zwischen Menschenwürde und freiheitlicher Demokratie. Die "Objektformel" Dürigs dürfte (unfreiwillig) verdeckt haben, daß ein positiver Zusammenhang zwischen Menschenwürde und den politischen (demokratischen) Gestaltungsrechten des Bürgers (in der Schweiz: den "Volksrechten") besteht. Art. 1 GG, die Wahlrechte nach Art. 38 und die Grundrechte in und aus Art. 21 GG stehen in einer Gedankenkette zu Art. 20 Abs. 2 GG 3 5 3 und dem analogen Art. 3 Abs. 1 Verf. Sachsen. Zwar ist eine Konkordanzformel, die Art. 1 und 20 GG auf einen "Nenner" brächte, noch nicht gefunden worden (und wohl auch nicht möglich, weil die Differenz von Individuum und Gemeinschaft bzw. verfaßtem Gemeinwesen ein unaufhebbares, konflikterzeugendes Spannungsverhältnis konstituiert, dessen rechtliche Anerkennung für die neuzeitliche Staatlichkeit gerade charakteristisch ist). Volk ist aber weder antigrundrechtliche noch antistaatliche Größe, sondern von vornherein grundrechtlich strukturiert und verfassungsstaatlich eingebunden; Grundrechte sind in einem tieferen Sinne auch "Volksrechte" ("Volksfreiheiten"). (4) Menschenwürde als (Maßgabe-)Grundrecht auf Demokratie Die "universal" und kulturspezifisch umrissene "Kultur der Menschenwürde" und die sie konkretisierende "Kultur der Freiheit" entfalten deshalb unmittelbar demokratiebegründende Kraft. So oft, und in Deutschland besonders erfolgreich, Spielarten des Liberalismus, des Positivismus und des den Traditionen des "bourgeois" bzw. den Leitbildern des deutschen Konstitutionalismus verpflichteten Denkens die Demokratie als bloße "Staatsform" von den Grundfreiheiten unpolitisch trennen wollen, so unmißverständlich muß heute der Zusammenhang zwischen Menschenwürde bzw. Grundfreiheiten und freiheitlicher Demokratie betont werden 354 . 352 So aber K.J. Partsch, Von der Würde des Staates, 1967; s. aber grundsätzlich D. Th. Tsatsos, Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik, 1987. 353 S. etwa BVerfGE 40, 287 (291); s. auch BVerfGE 5, 85 (204 f , 206 f.); implizit E 27, 71 (81); 2, 1 (12 f.).- So ist bzw. wäre der Ausschluß des italienischen Fürstenhauses von den Wahlrechten ein Verstoß gegen die Menschenwürde (1996/97 aktuell, vgl. Ziff. 13 Übergangs- und Schlußbestimmungen Verf. von 1947). 354 S. die Demokratie-Denkschrift der EKD vom 1. Okt. 1985: "In der Menschenwürde gründet die Berufung des Menschen zu freier Mitverantwortung in der Gestaltung des Gemeinwesens"... "Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen"... "Über diese Tradition führt eine positive Bewertung der freiheitlichen Demokratie dadurch hinaus, daß sie auch die gegebene Form der Demo-
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Allerdings folgt daraus keine Präferenz für eine bestimmte Demokratieform. Vermutlich verstärkt sich aber im Verständnis von Einzelgrundrechten die direkte Komponente in dem Maße, wie sich eine Verfassung (wie das Grundgesetz) allein auf die repräsentative Demokratieform festgelegt hat - anders die fünf neuen Bundesländer als Echo auf den Satz von 1989: "Wir sind das Volk". Es wäre deshalb kurzschlüssig, die unmittelbare Demokratie als die "besonders" menschenwürde-konforme zu bezeichnen, genauso wie es fragwürdig ist, die repräsentative Demokratie als die "eigentliche" anzusehen355. Auch eine "nur" repräsentative Demokratie "genügt" dem Postulat von der demokratiebegründenden Kraft der Menschenwürde, wenngleich die halbdirekte Demokratie in der Schweiz m.E. die ideale Mischform darstellt. Menschenwürde als Recht auf politische Mitgestaltung ist mit dieser Maßgabe ein Grundrecht auf Demokratie: Einerseits ist ihre demokratiebegründende Seite zu sehen; andererseits sind die Grundrechte dem Volk "zuzurechnen". Die "Summe" dieser Grundrechtsträger als Einzelmenschen bedeutet in einem ideellen Sinne auch eine Summe von Grundrechten, die das Volk im Verfassungsstaat konstituieren: nicht quantitativ, sondern kulturell. Konsequenz ist ein entsprechendes Verständnis der Wahlrechte (z.B. aus Art. 38, 29, auch 33 GG) und Grundrechte auf demokratische Teilhabe (wie z.B. die Volksinitiativrechte in den neuen Bundesländern): Sie sind - zumal im Verbund mit der politischen Dimension der Art. 5 und 8 GG (Meinungs-, Presse·, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit) - als "funktionelle Grundlage der Demokratie" konkrete Ausformung der aktivbürgerlichen "Schicht" der Menschenwürdeklausel 356. Es wäre z.B. auch ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn einzelne Gruppen von Bürgern (etwa "die Alten") von ihren Wahlrechten ausgeschlossen würden: Sie würden zum Objekt staatlichen Handelns (mit Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Raum) und verlören ihre kulturelle Identität als Person (auch Stimmenthaltung kann Identitätsfindung sein). Ungeachtet der textlich-redaktionellen Distanz: Die innere Verknüpfung von - auch politisch verstandener - Menschenwürde und den demokratischen
kratie daraufhin befragt, an welchen Stellen sie so verändert werden kann, daß Freiheit und Menschenwürde besser gewahrt... werden" (vgl. S. 14, 17). 355 So aber etwa E.-W. Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: FS für Kurt Eichenberger, 1982, S. 301 ff. Differenziert: P. Lerche, Grundfragen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, in: P.M. Huber/W. Mössle/M. Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995, S. 179 ff. 356 S. für die Meinungsfreiheit BVerfGE 54, 148 (155 f.); s. auch E 12, 113 (125).Vgl. für die Versammlungsfreiheit: E 69, 315 (342 ff.); 87, 399 (409).- Allgemein zu Grundrechten als funktioneller Basis der Demokratie: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, aaO., S. 16 ff, 21, 336 f , 339 f.
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Wahlrechten ist im Verfassungsstaat denkbar eng, sie liegt an seiner "Wurzel". Konsequent erscheint dann das "Recht auf politische Mitgestaltung" (z.B. Art. 21 Abs. 1 Verf. Brandenburg, Art. 9 Verf. Thüringen). Vor allem aber haben die "Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg" sich ihre Verfassung gegeben (Präambel Verf. Brandenburg von 1992, analog Präambel Mecklenburg·^Vorpommern von 1993). (5) Demokratie-Artikel Verfassungstexte zum Demokratie-Prinzip sind ein Feld, auf dem sich von vielen Staaten gemeinschaftlich produzierte bzw. rezipierte Textentwicklungen beobachten lassen. "Demokratie", heute zur "guten" Staatsordnung schlechthin geworden, ist schon textlich nicht mehr bloße "Staatsform", sie prägt und durchdringt in vielen Erscheinungsformen das gesamte Text-Ensemble der verfassungsstaatlichen Verfassungen (von den Präambeln über etwaige Grundlagen-Artikel bis zum organisatorischen Grundrechtsteil). Die Artikel über die politischen Parteien seien eigens erwähnt, weil sie ein besonders prägnanter Beleg für die These sind, die Textstufenmethode lasse Entwicklungen des Typus Verfassungsstaat von der Bekämpfung der "extrakonstitutionellen Wirklichkeit" über die "Verfassungswirklichkeit" bis zur Objektivation und Legitimation in Verfassungstexten erkennen 357.
157 Vgl. vor allem die noch negative Erwähnung der Parteien in Art. 130 Abs. 1 WRV, ihre stufenweise Anerkennung in Art. 49, 98 Verf. Italien über Art. 21 GG bis zu seiner "Nachbildung" in Art. 4 Verf. Frankreich von 1958. Eine noch dichtere und vielseitigere "reife" Normierung findet sich in Art. 6 Verf. Spanien (s. etwa die Qualifizierung als "Ausdruck des politischen Pluralismus") und eine besonders häufige Berücksichtigung in Verf. Portugal (Art. 10 Abs. 2, 40, 51, 117, 154). Ein Zugewinn an Textvielfalt ist auch Art. 3 S. 1 Verf. Burgenland: "Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentlicher Bestandteil der demokratischen Ordnung des Landes" mit dem Nachsatz (aus dem GG): "Die politischen Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit".- Die Entwicklungen des Status der "Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit" der Abgeordneten (gleichnamig P. Häberle, NJW 1976, S. 537 ff.) wären auch anhand einer Textstufenanalyse darzustellen. Während die deutsche Lit. sich immer wieder mit den Fragen der Abgeordneten beschäftigt (z.B. H.H. von Arnim, Das neue Abgeordnetengesetz, NJW 1996, S. 1233 ff), fehlt es daran. Dabei sind die Verfassungstexte höchst ergiebig: z.B. die Übertragbarkeits-Möglichkeit des Stimmrechts (Art. 2 Abs. 3 Verf. Frankreich), der Rechtekatalog in Art. 159 Verf. Portugal, das Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 35 Abs. 2 Verf. Berlin). Die neuen deutschen Bundesländer haben manche Neuheit geschaffen, etwa das ausdrückliche parlamentarische Rederecht (Art. 56 Abs. 2 Verf. Brandenburg), das Auskunftsrecht gegenüber der Exekutive (Abs. 2 S. 2 ebd.), die Wiederaufnahme der alten Abgeordnetenanklage (Art. 61 Verf. Brandenburg). Sie tendieren auf Stärkung des freien Mandats und Verfestigung des Status. Auch in Osteuropa finden sich Neuregelungen: z.B. die Suspendierung des
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Allgemeine Demokratie-Artikel begegnen immer häufiger in der Gestalt einer globalen "Staatsform"-Aussage. Repräsentativ ist Art. 1 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Die Staatsform Griechenlands ist die republikanische Demokratie" 358 . Werthafte Anreicherungen und Spezifizierungen der Demokratie werden typisch, etwa nach Art der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" i.S. von Art. 18, 21 Abs. 2 GG 3 5 9 . Sie erfolgen auch dadurch, daß das Wort "demokratisch" mit anderen Prinzipien verbunden wird (z.B. Art. 1 Abs. 1 Verf. Burgenland: "Burgenland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat"). Charakteristisch für werthafte Aufladung ist Art. 65 Verf. Bremen: "Die Freie Hansestadt bekennt sich zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der natürlichen Umwelt, Frieden und Völkerverständigung". Auch Art. 1 S. 2 Verf. Sachsen: "Er (sc. der Freistaat) ist ein demokratischer, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat". Oft sind einzelne Elemente der Volkssouveränität oder deren klassische Begründung durch J.-J. Rousseau ausdrücklich normiert (vgl. Art. 1 Abs. 2 Verf. Griechenland: "Grundlage der Staatsform ist die Volkssouveränität"; Abs. 3: "Alle Gewalt geht vom Volke aus..." 360 ). Die Verf. Schweden (1975/1980) Mandats, wenn ein Abgeordneter Regierungsmitglied wird (Art. 77 Abs. 2 Verf. Slowakei) oder die Zulässigkeit der Diätenerhöhung erst für die nächste Parlamentsperiode (Art. 75 Verf. Estland). ,58 Art. 1 S. 1 Verf. Italien: "Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik. Die Souveränität liegt beim Volk...".- Art. 51 Abs. 1 Verf. Luxemburg: "Das Großherzogtum ist eine parlamentarische Demokratie". Vgl. Art. 60 Verf. Saarland: "Das Saarland ist eine freiheitliche Demokratie...". ",6° Art. 2 Abs. 5 Verf. Frankreich (1958): "Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk".- Die verfassungsrechtliche Demokratie-Literatur ist kaum mehr zu überblicken. Auszugehen ist von allen Bemühungen um "pluralistische Demokratie", wie sie manche neuere Verfassungen ausdrücklich teils direkt, teils über ihre Klauseln zum "politischen Pluralismus" im Auge haben. "Mitzulesen" sind so klassische Schriften wie E. Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958, und G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, auch C.J. Friedrich, Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, 2. Aufl. 1966. Aus der Weimarer Zeit: E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, 1931; H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929 (Neudruck 1963). Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (z.B. J.A. Schumpeter , Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl. 1950) sollten ebenso befragt werden wie die neueste, die engeren Disziplingrenzen überschreitende Literatur wie J.P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993. Wenn kulturelle Verfassungsvergleichung irgendwo unentbehrlich ist, dann hier, zumal das Demokratieprinzip je nach Verfassungsstaat besonders stark von der variantenreichen "politischen Kultur" im Lande geprägt wird. So ist für Deutschland die "parlamentarische Demokratie" auf Bundesebene notwendig mit der Frage der parteienstaatlichen Demokratie verknüpft (aus der Lit.: P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HdBStR Bd. I, 1987 (2. Aufl. 1995), S. 953 ff.; R.
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erläutert den Eingangssatz in Kap. 1 § 1 : "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" treffend mit dem nächsten Satz: "Die schwedische Volksherrschaft gründet sich auf die freie Meinungsbildung und das allgemeine und gleiche Stimmrecht." 361 A u f die Präsenz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in den Verfassungsurkunden und ihre Textstufenentwicklung in Richtung auf die Normativierung sei verwiesen 362 . In der neueren Textstufenentwicklung ist die Normativierung des Demokratie-Prinzips durch "Symbiosen" mit anderen Prinzipien kennzeichnend. Diese normative Einbindung der "absoluten", "reinen", "formalen" Demokratie geschieht von zwei Seiten aus: durch Verknüpfung mit werthaltigen spezifizierenden Zusätzen oder die Herstellung von Beziehungszusammenhängen und die Einbindung in die Verfassung. Schließlich ist die "Allgegenwart" der Demokratie in allen Textteilen typisch - bis an die Grenze einer inflationären Verwendung des Begriffs. Repräsentativ ist Portugal (1976/92): Die "Demokratie" durchzieht als allgemeines Prinzip und in Gestalt spezieller Ausformungen alle wichtigen Teile der Verfassung. Schon die Präambel spricht von "wesentlichen Grundsätzen der Demokratie". Art. 1 lautet: "Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet...". Art. 2 normiert: "Die Republik Portugal ist ein demokratischer Rechtsstaat auf der Grundlage der Volksherrschaft, der Achtung und Gewährleistung der Grundrechte..., des Meinungspluralismus und des Pluralismus der demokratischen, politischen Ordnung, dessen Ziel es ist, eine wirtschaftliche, soziale und Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, 1983). In der Schweiz sind die Parteien deutlich schwächer, weil die "Referendumsdemokratie" gelebt wird. Folgeprobleme wie "innerparteiliche" und "innerverbandliche Demokratie", aber auch die typische deutsche "streitbare Demokratie" sind je nachdem unterschiedlich. Gleichwohl bzw. gerade deshalb sind alle gezielt national angelegten Demokratietheorien "introvertiert", im unguten Sinne "provinziell". Ohne Kulturvergleich bleiben sie vordergründig und verfehlen den Verfassungsstaat als Typus ebenso wie das jeweilige nationale Beispiel. 361 § 1 KV Aargau: "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird durch die Stimmberechtigten und die Behörden ausgeübt".- Ähnlich § 2 KV Basel-Landschaft. Aus der Schweizer Demokratie - Lit.: R. Rhinow, Grundprobleme der schweizerischen Demokratie, ZSR NF 103 II 1984, S. 111 ff. (dazu mein Beitrag, DÖV 1985, S. 611 ff); A. Auer, Problèmes fondamentaux de la démocracie suisse, ZSR 103 II (1984), S. 1 ff; K. Eichenberger, Zur Idee des Parlaments in der halbdirekten Demokratie, Etudes en l'honneur de J.-F. Aubert, 1996, S. 201 ff.; D. Schindler, Zwischenstaatliche Interdependenz und Demokratie, ebd. S. 283 ff.; U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 3. Aufl. 1993, S. 46 f., 81 f. 362 Belege in meiner Abhandlung: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff.- Aus der neuen allgemeinen Lit.: Κ. Merkel, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1996.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen kulturelle Demokratie sowie eine Vertiefung der partizipativen Demokratie zu verwirklichen". In Art. 3 Abs. 1 wird die Volkssouveränität in die "von der Verfassung vorgesehenen Formen" eingebunden 363 ; Abs. 2 ebd. gründet den Staat auf "demokratische Legalität". In vielen weiteren Artikeln findet sich der Demokratie-Gedanke 364 . Ein verfassungsstaatliches Novum bildet Art. 112 Verf. Portugal: "Die direkte und aktive Partizipation der Bürger am politischen Leben ist Voraussetzung und wesentliches Mittel fur die Festigung der demokratischen Ordnung". Der Brückenschlag zwischen Demokratieprinzip und kommunaler Selbstverwaltung ist demgegenüber für den Typ "Verfassungsstaat" schon klassisch 365 . Daß die Demokratie schlechthin konstituierender Bestandteil der Verfassung ist, bestätigt sich darin, daß die Ewigkeitsklausel in Art. 288 ihre Einzelausprägungen ausdrücklich unter ihren Schutz stellt 366 . Die Ewigkeitsklauseln anderer Verfassungen beziehen fast durchweg die Demokratie ein 3 6 7 . Mitunter kommt es zur Ausdehnung des Demokratieprinzips vom staatlichen Bereich auf andere Felder: in Gestalt der "wirtschaftlichen Demokratie" 368 oder der "kulturellen Demokratie" (Art. 2 Verf. Portugal: "kulturelle Demokra-
363
S. auch Art. 111 ebd. Analoges in Art. 3 und 4 Verf. Guinea-Bissau (1993). Im Kontext der Staatsaufgaben (Art. 9 b: "die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates achten", c: "die politische Demokratie zu verteidigen...").- Art. 10 Abs. 2: "Die politischen Parteien konkurrieren unter Achtung der Grundsätze der nationalen Unabhängigkeit und der politischen Demokratie um die Organisation und um den Ausdruck des Volkswillens".- Art. 73 Abs. 2 (Erziehung zur "demokratischen Teilhabe") und nach Abs. 3 ebd. "Demokratisierung der Kultur". S. auch Art. 80 d: "demokratische Wirtschaftsplanung". 365 Vgl. Art. 237 Abs. 1 Verf. Portugal einerseits: "Zum demokratischen Aufbau des Staates gehört das Vorhandensein örtlicher Selbstverwaltungskörperschaften", Art. 11 Abs. 4 Verf. Bayern andererseits: "Die Selbstverwaltung der Gemeinden dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben". Vgl. Inkurs B. 366 Z.B.: "republikanische Regierungsform" (b), "regelmäßige Wahl" (h), "Pluralismus der politischen Ordnung, worin die politischen Parteien und das Recht auf demokratische Opposition mitinbegriffen sind" (i).- Art. 159 Verf. Angola (1992). 367 Vgl. etwa Art. 75 Abs. 1 Verf. Bayern: "demokratische Grundgedanken". Ebenso Art. 150 Abs. 1 S. 1 Verf. Hessen; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 110 Abs. 1 Verf. Griechenland. Allgemein oben Fünfter Teil III. Zuletzt Art. 225 Verf. Tschad (1996). 368 Vgl. Präambel Verf. Hamburg (Abs. 4): "Um die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen, verbindet sich die politische Demokratie mit den Ideen der wirtschaftlichen Demokratie". Femer Art. 52 Verf. Spanien: "demokratische Struktur der Berufsorganisationen". 364
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tie") 3 6 9 . Weitgehend erscheint der Auftrag nach Kap. 1 § 2 Abs. 3 Verf. Schweden: "Das Gemeinwesen soll dafür Sorge tragen, daß die Ideen der Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft maßgebend werden". Eigens erwähnt sei die in manchen Verfassungen erfolgte Konstitutionalisierung der (konsultativen) Volksbefragung 370 . Ob sie mittel- und langfristig zum (neo)klassischen Thema verfassungsstaatlicher Verfassungen wird, läßt sich heute nicht sagen. Was jetzt noch "Experiment" in der Werkstatt des Typus Verfassungsstaat ist, kann freilich mittelfristig zum "Kanon" seiner Einrichtungen werden. Auch neueste Verfassungen und Verfassungsentwürfe binden das demokratische Prinzip schon textlich in Grundwerte ein. So sagt Art. 1 Verf. Südafrika (1996/97): "The Republic of South Africa is one sovereign democratic state founded on the following values: a) Human dignity... b) Non-racialism and non-sexism. c) Supremacy of the constitution and the rule of law..." Die Verf. der Provinz Kwazulu Natal (1996) formuliert schon in der Präambel: "...Deeply convinced of the need to create a democratic society based on tolerance, personal initiative, selfreliance, and the protection of fundamental rights, equality and pluralism..." Ähnliches illustrieren jüngste Verfassungstexte aus Osteuropa wie Art. 1 Verf. Ukraine von 1996 ("Ukraine is a sovereign and independent, democratic, social law based state"). Die Präambel Verf. Aserbeidschan (1995) will "construire un Etat de droit, laïc, assurant la primauté des lois ent tant q'expression de la volonté du peuple". Der polnische Verfassungsentwurf der "Solidarität" (1994) definiert die Demokratie im Kontext anderer Grundprinzipien in den Worten: von Art. 1: "The Polish State shall be a Republic, a democratic state ruled by law and a common wealth of its citizens which shall be bequeathed as the heritage of one generation to another". (Vgl. jetzt Art. 2 Verf. Polen von 1997: „The Republic shall be a democratic state ruled by law and implementing the principles of social justice".) Die Präambel der Verf. der Tschechischen Republik (1992)
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S. auch Art. 73 Abs. 3 Verf. Portugal: "Demokratisierung der Kultur". Konsultative Volksbefragungen finden sich etwa in Schweden (Kap. 8 § 4), zit. nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl., 1996. 370
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen war mit dem Passus vorausgegangen: "als freien und demokratischen, auf der Achtung der Menschenrechte und den Prinzipien der Bürgergemeinschaft begründeten Staat und Bestandteil der Familie der Demokratien Europas und der 371
Welt aufzubauen..." . Nach dieser Grundlegung ist der Weg frei fur das Thema "Menschenrechte/Grundrechte". d) Menschenrechte/Grundrechte
im Verfassungsstaat
(1) Verfassungsstaatliche bzw. verfassungstextliche Bezugnahmen auf die Menschenrechte - eine vergleichende Typologie: die schrittweise "Konstitutionalisierung" der Menschenrechte als Positivierung Erste Erkenntnisse über das Verhältnis von Menschenrechten 372 und Verfassungsstaat lassen sich aus einem raum-/zeitlichen Vergleich der Verfassungs371
Zit. nach JöR 44 (1996), S. 458 ff.- Die Steuerpflicht ist eine Folge des Gesellschaftsvertrags, erbracht wird die Gegenleistung ftir die Erfüllung der Gemeinwohlaufgaben durch den Verfassungsstaat. Im Klassikerzitat von 1776: "no taxation without representation" klingt dies an (vgl. auch mein Votum in: Steuern im Verfassungsstaat, Symposion zu Ehren von K. Vogel, 1996, S. 55 (56 f.). Darum nehmen sich viele verfassungsstaatliche Verfassungen der Steuerpflicht als Grundpflicht an (z.B. Art. 123 Verf. Bayern von 1945; Art. 60 Verf. Bulgarien von 1991; Art. 53 Verf. Rumänien von 1991; Art. 17 Abs. 1 Ziff. 3 Verf. Mongolei von 1992; Art. 50 Verf. Rußland von 1993; Art. 67 Verf. Ukraine von 1996, Art. 84 Verf. Polen von 1997). Und darum bemühen sich neuere Verfassunggeber um Gerechtigkeitskriterien in Sachen Besteuerung schon in ihren Texten (Art. 104 Verf. Bern von 1993; Art. 98 Abs. 3 Verf. Appenzell a.Rh. von 1995; Art. 107 Verf. Portugal von 1976/92; Art. 31 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978: "gerechtes und auf den Grundsätzen der Gleichheit und der Progression beruhendes Steuersystem, das in keinem Fall konfiskatorischen Charakter haben darf'.) Hier sind Direktiven formuliert, die z.B. in Deutschland das BVerfG erarbeiten muß (als Gebot der "Steuergerechtigkeit", die aus dem Gleichheitssatz folgt: BVerfGE 66, 214 (223), die Kriterien der "wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit" (E 81, 228 (236), zu detailliert aber BVerfGE 93, 121). Eine kulturwissenschaftlich arbeitende Rechtsvergleichung in Sachen Steuerverfassungsrecht ist Desiderat (ein Hinweis bei H.F\ Zacher, Symposium K. Vogel, aaO., S. 86 f.: "sozialideeller Hintergrund"). Im übrigen wäre auf die allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien der Verfassung zurückzugreifen (z.B. Art. 3 Abs. 1, Art. 6 GG), die Umweltschutzklauseln in den Ländern in Richtung auf eine "ökologische Steuerreform" (z.B. Art. 31 i.V.m. Art. 36 Verf. Thüringen von 1993). 372 Die Literatur ist unüberschaubar: z.B. J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte, Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, 1978; J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981; E. Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und USA, Bd. I, Strukturen nationaler Systeme, 1986; L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987; B. Mensen (Hrsg.), Grundrechte und Menschenrechte in verschiedenen Kulturen, 1988; H. Maier, Überlegungen zu einer Geschichte der Menschenrechte, Festschrift Lerche, 1993, S. 43 ff; ders., Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997; W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
texte selbst gewinnen. Verfassungslehre - als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" begriffen - geht von den positiven Verfassungstexten aus, stellt sie in ihre kulturellen Kontexte und vermag so die Entwicklung des Typus Verfassungsstaat nachzuzeichnen, weil die Verfassunggeber aller Zeiten und Nationen in einem intensiven Produktions- und Rezeptionsprozeß stehen. Heute ist eine verfassungsstaatliche Weltöffentlichkeit entstanden. Da der jeweils jüngere Verfassunggeber nicht nur die alten Texte der anderen "abschreibt", sondern auch die fremde Verfassungsrechtsprechung und Lehre teilweise übernimmt und in Texte umgießt, und da er überdies teilweise die fremde Verfassungswirklichkeit, im ganzen die "ungeschriebene Verfassung" seinerseits auf neue Texte zu bringen sucht, wird über die "Textstufenentwicklung" der Verfassungsstaat als Ideal- und Real-Typus im "Laufe der Zeit" greifbar. Bei allen nationalen Varianten und kontextlichen Unterschieden der einzelnen Beispielsverfassungen: Dank des Textstufenparadigmas lassen sich die Dynamik und Statik, das Gemeinsame und Trennende, das Neue und Alte des Typus "Verfassungsstaat" und seiner Themen beim Namen nennen und auf Begriffe bringen. Die beiden iberischen Länder etwa und der besondere Kulturzusammenhang, in dem sie mit Lateinamerika - zum großen Nutzen für ganz Europa - stehen (genannt sei der große Bogen von der spanischen Verfassung von Cadiz (1812) bis zur neuen Kolumbiens (1991)), eröffnet der vergleichenden Verfassungslehre besondere Perspektiven. Im folgenden geht es um die Frage, in welchen Textformen und systematischen Kontexten die geschriebenen Verfassungen sich des Themas "Menschenrechte" annehmen, wie sie es im Verhältnis zu den Bürgerrechten für ihre eigenen Staatsangehörigen behandeln und ob sich Entwicklungstendenzen beobachten lassen. Schon die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 formuliert diesen Dualismus 373 . Zu vermuten ist, daß die UN-Erklä-
537 ff.); ders, Stufen der Begründung von Menschenrechten, Der Staat 31 (1992) S. 19 ff.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Vorb. vor Art. 1 GG; E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), S. 1 ff.; W. Höfling, Demokratische Grundrechte, Der Staat 33 (1994), S. 493 ff.- Aus der US-amerikanischen Grundrechtsliteratur: G M Abernathy/B.A. Perry , Civil liberties under the Constitution, 6. Aufl. 1993; R. Dworkin , Taking Rights Seriously, 1977; Ν. Vieira, Civil Rights in a Nutshell, 2. Auf. 1989; s. auch W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten, 1987.- Zu Frankreich: M. Itin, Grundrechte in Frankreich, 1993; J. Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 11. Aufl. 1991, S. 87 f f - Zu Italien: A. Pace, Problematica delle liberta costituzionali, 2 Teile, 2. Aufl. 1990 bzw. 1992; P. Ridola, Diritti di Libertà e constituzionalismo, 1997; F. Modugno , I "nuovi diritti" nella Giurisprudenza Costituzionale, 1995. 373 Der Dualismus zwischen Menschenrechtsgarantien und Grundrechten bricht schon den Worten nach in Art. 1 Abs. 2 und 3 GG (1949) auf, einerseits: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen rung der Menschenrechte von 1948 und die beiden Menschenrechtspakte der UN von 1966 einen spezifisch menschenrechtlichen "Textschub" zugunsten der Integrierung von (universalen) Menschenrechten in den (nationalen) Verfassungsstaat, verursacht haben, der freilich an den Bürgerrechten "seiner" Menschen festhalten muß. Der "Dualismus" von Menschen- und Bürgerrechten vermittelt dem Verfassungsstaat freilich auch die Chance einer "doppelten Legitimation". Der Dualismus steigert sich zur Aporie, wenn man bedenkt, daß fast alle Verfassungsstaaten geschrieben oder ungeschrieben die Menschenwürdegarantien zur Grundlage nehmen und dann doch zwischen Menschenrechten und Staatsbürgerrechten unterscheiden. Das riesige Textmaterial läßt sich typologisch im ersten Zugriff wie folgt aufschlüsseln: (a) Die Menschenrechte als Bestandteile allgemeiner Bekenntnisklauseln Ein schon klassisches Textelement bilden die menschenrechtsbezogenen Bekenntnisklauseln, sei es in Präambeln, sei es in Grundlagen-Artikeln. Stilbildend ist hier der Vorspruch der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ("natürliche, unveräußerliche und geheiligte Menschenrechte"), schon die Declaration of Rights von Virginia (1776) enthält den Satz (in I.), "daß alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind". Später lautet die Präambel der Verf. Frankreich (1958/1976): "Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten..., wie sie in der Erklärung von 1789 niedergelegt wurden..." 374 . Die sprachlich wohl schönste Wendung gelingt der Präambel Verf. Kanton Jura (1977): "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des droits de l'homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l'homme de 1950" 375 . Die Präambel Verf. Peru (1979) gibt sich entschlossen, einen demokratischen Staat zu begründen, der "durch Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Andererseits: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" (ebenso Art. 3 Abs. 2 und 3 Verf. Sachsen-Anhalt (1992)). 374 Z.B. heißt es im Vorspruch Verf. Baden-Württemberg (1953): "in feierlichem Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen...". 375 Dieser Text wird übernommen von Art. 2 Abs. 2 Verf. Brandenburg (1992): "Das Volk des Landes Brandenburg bekennt sich zu den im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der Europäischen Sozialcharta und in den Internationalen Menschenrechtspakten niedergelegten Grundrechten".- Die Präambel der (sozialistischen) Verf. Benin (1977), ebenso Verf. 1990, beruft sich auf die "Universale Erklärung der Menschenrechte", ebenso die Präamb. Verf. Kamerun und Verf. Tschad (je 1996).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
stabile und legitime Institutionen die volle Geltung der Menschenrechte gewährleistet". Im Grundlagen-Artikel 2 Verf. Italien (1947) heißt es: "Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften,...". Nach der Präambel Verf. Spanien (1978) ist die spanische Nation von dem Wunsche beseelt, "alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte... zu schützen". A u f weitere Beispiele sei verwiesen 376 . Art. 7 Abs. 1 Verf. Südafrika (1996/97) sagt bildhaft: "This Bill of Rights is a cornerstone of democracy in South Africa". (b) Vorrang- und Rangklauseln bzw. Gleichstellungsund Einschränkungs-Artikel Mitunter - vor allem in neueren Verfassungen - sagt der Verfassunggeber ausdrücklich, welchen Rang er den Menschenrechten im Gesamtbild der Verfassung zuschreibt, wie er sie zu den Inländerrechten abgrenzt und ob er auf bestimmten Feldern die Ausländer den Inländern gleichstellt. Während die Verfassungen der älteren Entwicklungsstufe einfach zwischen Menschenrechten des Jedermann und Bürgerrechten des Inländers je nach Grundrecht unterscheiden, suchen neuere Texte das Problem verallgemeinernd zu lösen. Ältere Verfassungen haben in ihren Grundrechtskatalogen nur die eigenen Staatsbürger im Blickfeld (vgl. Tit. I I Verf. Belgien (1831/1988): "Die Belgier und ihre Rechte" 377 ). Das Gegenstück findet sich z.B. im 1. Hauptteil Verf. Hessen (1946): "Die Rechte des Menschen". Ausdrücklich in Verfassungsrang hebt Art. 105 alte Verf. Peru (1979) die Menschenrechte: "Die Vorschriften, die in
376 Art. 2 Verf. Türkei (1982): Achtung der Menschenrechte.- Art. 1 Verf. Baden (1947) stellt die "unveräußerlichen und geheiligten" Menschenrechte unter den Schutz der Verfassung. S. auch Art. 1 Verf. Tschechien von 1992 (zit. nach JöR 44 (1996), S. 458 ff): "Die Tschechische Republik ist ein auf der Beachtung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers begründeter souveräner, einheitlicher und demokratischer Rechtsstaat".- Präambel Verf. Bulgarien von 1991: "... érigeant en principe suprême les droits de l'individu, sa dignité et sa sécurité... (zit. nach JöR 44 (1996), S. 497 ff.).- Art. 12 Abs. 1 Slowakische Republik von 1992 (zit. nach JöR 44 (1996), S. 478 ff): "People are free and equal in their dignity and rights".- Präambel Verf. Georgien (1995): "The Citizens of Georgia... guarantee universally recognized human rights...". 377 So § 5 Verf. Finnland (1919/72): "Die allgemeinen Rechte und der Rechtsschutz der finnischen Staatsbürger". Ebenso Kap. II Verf. Luxemburg (1868/1983): "Die Luxemburger und ihre Rechte".- Zu Finnland: M. Pellonpää, Nationaler Individualrechtsschutz und europäischer Menschenrechtsstandard in Finnland, EuGRZ 1993, S. 590 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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den Verträgen über Menschenrechte enthalten sind, haben Verfassungsrang. Sie dürfen nur durch das Verfahren, das für Verfassungsänderungen gilt, abgeändert werden". Denkbar ist auch, daß die Verfassung ihren Grundrechtsteil allen widmet, den eigenen Staatsbürgern wie den Ausländern, aber für letztere generell Einschränkungsmöglichkeiten eröffnet (so Art. 13 Verf. Türkei (1961/1973): "Die in diesem Teil vorgesehenen Rechte und Freiheiten können für Ausländer nach Maßgabe des Völkerrechts durch Gesetz eingeschränkt werden") 378 . Verf. Irland (1937/1987) überschreibt ihren Grundrechtsteil (Art. 40 bis 44) mit "Grundrechte" und behandelt hier sowohl Menschenrechte als auch die Staatsbürgerrechte. Ebenso verfährt Abschnitt Β Verf. Sachsen (1947), Kap. 1 Verf. Niederlande (1983) sowie 2. Teil Verf. Türkei (1982) - das ist ein Argument bei der hier vertretenen Argumentation von den "Grundrechten". Der typische Gleichstellungs-Artikel findet sich in Art. 15 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/92): "Ausländer und Staatenlose, die in Portugal wohnhaft sind, oder die sich im Lande aufhalten, haben die Rechte und Pflichten eines portugiesischen Staatsbürgers" (dies ist im Teil I "Grundrechte und Grundpflichten" gesagt!). Ähnlich geht Art. 13 Verf. Spanien (1978) vor, das seinen einschlägigen Titel mit "Grundrechte und Grundpflichten" überschreibt, die Würde des Menschen und die ihr innewohnenden Rechte an die Spitze stellt (Art. 10) und dann auf "Spanier und Ausländer" eingeht. Freilich wählt Tit. II Verf. Guatemala (1985) die Überschrift "Menschenrechte". In dieser Verfassung ist die wohl intensivste Konstitutionalisierung der Menschenrechte erfolgt: Fast alle Grundrechte sind "Jedermann"-Rechte, die Grundrechtsentwicklungsklausel ist eine Menschenrechtsentwicklungsklausel (Art. 44 Abs. 1), und die Menschenrechte werden auch in den Kanon der Erziehungsziele integriert (Art. 72 Abs. 2) und über den "Prokurator für Menschenrechte" eigens geschützt (Art. 273 bis 275). (c) Klauseln zur "menschenrechtskonformen"
Auslegung
Ein neuer "Wachstumsring" in der Entwicklung des Typus "Verfassungsstaat" manifestiert sich in den Artikeln, die die innerstaatliche Grundrechtsauslegung am Maßstab der Menschenrechte ausrichten. Was die verfassungs-
378 Ähnlich Art. 5 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975). Ebenso Art. 16 Verf. Türkei (1982): "Alle ... genießen ohne Unterschied der Nationalität... den unbedingten Schutz ihres Lebens, ihrer Ehre und ihrer Freiheit. Ausnahmen sind in den vom Völkerrecht vorgesehenen Fällen zulässig".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
konforme Auslegung im Verhältnis Gesetz/Verfassung leistet 379 , wird jetzt im Verhältnis innerstaatlicher Grundrechtsgarantien und (universaler und wohl auch regionaler) Menschenrechtstexte verlangt. Der Verfassungsstaat verliert seine herkömmliche "Introvertiertheit", er orientiert sich als "kooperativer Verfassungsstaat" nach außen oder anders gesagt: er "verinnerlicht" die scheinbar oder wirklich von außen "gegebenen" universalen (oder regionalen) Menschenrechte. Einen Prototyp bildet Art. 16 Abs. 2 Verf. Portugal (1976/92): "Die Auslegung und Anwendung der die Grundrechte betreffenden Verfassungs- und Rechtsvorschriften erfolgt in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung". Diesem Vorbild folgt Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien mit gewissen Nuancierungen. In osteuropäischen Verfassungsentwürfen lassen sich 380
ähnliche Text-Rezeptionen beobachten Einen kühnen Vorstoß wagt jetzt Art. 39 Verf. Südafrika (1996/97) mit einer neuen menschenrechts- bzw. auslandsoffenen Grundrechts-Interpretationsklausel: "When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum a) must promote the values that underlie an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom; b) must consider international law; and c) may consider foreign law." Die Rechtsvergleichung in Sachen Grundrechte wird zur Möglichkeit ("may") positiviert, die Völkerrechtskonformität zum Muß. (d) Menschenrechte als Erziehungsziele Eine recht neue "Verbindung" mit innerverfassungsstaatlichen Themen gehen die Menschenrechte mit den Erziehungszielen ein. Der Verfassungsstaat "verinnerlicht" die Menschenrechte auf spezifische Weise, weil und insofern er sie zum Thema seiner Erziehungsziele macht. Im Grunde sucht er so seine Bürger von Jugend an zu "Weltbürgern" zu erziehen - Erinnerungen an das menschenrechtliche Sendungsbewußtsein der USA, vielleicht auch an das universale Pathos von 1789 und an den deutschen Idealismus sind erlaubt.
379 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 30 ff. 380 Z.B. Art. 17 Abs. 1 Verfassungsentwurf Kyrgystan (1992), Art. 19 Verfassungsentwurf Polen (1991, Sejm), Art. 11 Verfassungsentwurf Polen (Senat, 1991), diese zit. nach JöR 43 (1995), S. 184 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Eine Pionierleistung 381 vollbrachte hier Art. 27 Verf. Spanien (1978): "Ziel der Erziehung ist die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Achtung der demokratischen Grundsätze des Zusammenlebens sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten". Diese Idee wird in Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru (1979) rezipiert in den Worten: "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch". Später heißt es - verbessert - in Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985): "Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und der Menschenrechte". Diese Texte können gar nicht überschätzt werden. Sie eröffnen den Weg zu der Erkenntnis, daß die Menschenrechte "als" Erziehungsziele nur die gleichsam "andere" Seite des juristischen Menschenrechtsschutzes sind: Sie bereiten den jungen Menschen pädagogisch darauf vor, die Menschenrechte als rechtliche Garantien ernst zu nehmen - Art. 26 Ziff. 2 AllgErklMenschenR der U N (1948) hat die neue Textstufe eingeläutet: "Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der 382
Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben" . In Art. 29 Abs. 2 lit. c der Bill of Rights in der Verfassung Südafrika (1996/97) findet sich das Ziel: "to redress the results of past racially discriminatory law and practice" verfassungsstaatliche Folge der menschenrechtsverletzenden Rassendiskriminierung des Apartheid-Staates. (e) Internationale Menschenrechtspolitik
im Spiegel von Verfassungstexten
Vereinzelt wagen es jüngere Verfassunggeber, die Menschenrechte zur Maxime ihrer auswärtigen Politik zu erklären. Damit ist der klassische Konflikt zwischen Staatsräson und Menschenrechten angesprochen. Man erinnert sich freilich an das Scheitern der gelegentlich als "naiv" gescholtenen Menschenrechtspolitik eines J. Carter, und doch scheint diese Textstufe konsequent. Ein Verfassungsstaat, der im "Inneren" Menschenrechte pädagogisch lehren läßt,
381
Eine frühe Ausprägung dürfte es sein, wenn eine Verfassung wie die Mecklenburg-Vorpommerns (1947) die Erziehung der Jugend zu "wahrer Menschlichkeit" fordert oder Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern (1946) die Achtung vor der Würde des Menschen zum Bildungsziel erhebt (vgl. jetzt auch Art. 28 Verf. Brandenburg (1992)). 382 Zum ganzen P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.- Aus der Lit. für Afrika: M Seck, Plädoyer für eine Erziehung auf dem Gebiet der Menschenrechte in Afrika, EuGRZ 1990, S. 311 ff; /. Nguema, Perspektiven der Menschenrechte in Afrika, EuGRZ 1990, S. 301 ff; Palamagamba J. Kabudi, Human Rights Jurisprudence in East Africa, VRÜ Beiheft 15 (1995).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
der sie in den Verfassungsrang hebt bzw. die Ausländer seinen Bürgern gegenüber weitgehend gleichzustellen sucht, kann sich außenpolitisch-international nicht plötzlich von den Menschenrechten freizeichnen. Er handelte denn schizophren, er wird unglaubwürdig. Andererseits ist das Problem "moralisierender Außenpolitik" nur zu bekannt, der Konflikt zwischen "Macht und Geist" oft unlösbar. Gleichwohl sei der Mut einiger neuerer Verfassungen vermerkt, die Menschenrechte auch im Außenverhältnis zu Maxime zu erheben. Zugleich zeigt sich, wie der moderne Verfassungsstaat sich immer mehr Legitimität von den Menschenrechten her zu nehmen sucht. Prototyp ist Art. 7 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/92): "Portugal läßt sich in seinen internationalen Beziehungen von den Grundsätzen der nationalen Unabhängigkeit, der Achtung der Menschenrechte ... leiten". Vorbildlich ist auch Art. 149 Verf. Guatemala (1985): "Guatemala entwickelt seine Beziehungen mit anderen Staaten ... mit dem Zweck, ... die Menschenrechte zu verteidigen...". Bemerkenswert ist Art. 54 Abs. 2 Verf. Bern von 1993: "Er (sc. der Kanton) leistet einen Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufbau in benachteiligten Ländern und unterstützt die humanitäre Hilfe... . Er fordert dabei die Einhaltung der Menschenrechte". φ Spezifischer Menschenrechtsschutz Die Menschenrechte sind, soweit sie als solche innerstaatlich eben allen Menschen, nicht nur als Bürgerrechte nur den Inländern zustehen, in den bekannten allgemeinen Rechtsschutzformen gesichert, d.h. in den Formen des Grundrechtsschutzes vom allgemeinen Rechtsweg (z.B. Art. 19 Abs. 4 GG) bis zu der besonderen Verfassungsbeschwerde (z.B. Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 a GG). Grundrechtsschutz im weiteren, d.h. nicht justiziellen Sinne suchen neuere Einrichtungen wie Ombudsmänner (und -frauen), Bürgerbeauftragte (z.B. Datenschutzbeauftragte und Umweltschutzbeauftragte) wie sie jüngst vor allem ostdeutsche Verfassungen in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt (1992) geschaffen haben, aber auch Anliegen fast aller Entwürfe osteuropäischer Verfassunggeber sind 383 . Zuweilen sind jetzt aber auch eigene Formen spezifischen Menschenrechtsschutzes entwickelt worden, z.B. der Menschenrechtsprokurator in Guatemala (Art. 273 bis 275 Verf. Guatemala (1985)) mit besonders weitgehenden Kompetenzen oder zuvor der Volksanwalt in Spanien (Art. 54 Verf. von 1978) - der portugiesische Ombudsmann für das Rechtswesen (Art. 383 Dazu die Nachweise in meinem Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), S. 169 (199 f.). Zuletzt Art. 208 bis 212 Verf. Polen 1997: "Beauftragter für Bürgerrechte".
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen 23 Verf. Portugal von 1976, s. Art. 142 f. Verf. Angola (1992)) kann nur von Staatsbürgern angegangen werden. Die Verf. der südafrikanischen Provinz Kwazulu Natal (1996) hat einen eigenen "Commissioner for Children" eingerichtet (Kapitel 13 Ziff. 10): Konsequenz ihrer Kindergrundrechte nach Kap. 1 Ziff. 26 Abs. 4 bis 7), vgl. jetzt auch Art. 72 Abs. 4 Verf. Polen von 1997. (g) Sonstige Menschenrechtstexte in Kontexten anderer verfassungsstaatlicher Themen, weitere "Fundstellen " Zuletzt sei ein "Auffangbecken" konstruiert: In ihm sollen all jene konstitutionellen Menschenrechtstexte Platz finden, die bislang noch nicht systematisch verortet werden konnten. Angesichts der Dramatik und Dynamik, in der die Menschenrechte in die Verfassungsrechtstexte "eindringen", ist zu vermuten, daß sich in späteren Entwicklungsstufen neue Textgruppen herausschälen, die dann auch systematisch-typologisch faßbar werden. Hier und heute ist nur ein bunter "Sammeltitel" möglich. Weitere "Fundstellen" von Menschenrechtsklauseln in innerstaatlichen Texten sind: 1. Das Grundrecht auf Asyl, nicht etwa weil es per se selbst Menschenrecht ist: Art. 32 Abs. 6 Verf. Portugal (1976) normiert vorbildlich: "Ausländern und Staatenlosen, die infolge ihres Eintretens für ... die Menschenrechte ... bedroht oder verfolgt werden, ist das Asylrecht gewährleistet" 384 . 2. Das "unveräußerliche Menschenrecht auf Heimat" (Art. 2 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953). 3. Menschenrechte als Bestandteil von Ewigkeitsklauseln: Prototyp ist hier Art. 20 Abs. 1 Verf. Bremen (1947): "Verfassungsänderungen, die die in diesem Abschnitt enthaltenen Grundgedanken der allgemeinen Menschenrechte verletzen, sind unzulässig" 385 (ähnl. Art. 159 Verf. Angola (1992)). 4. Menschenrechtsentwicklungsklauseln in Art. 44 Verf. Guatemala (1985): "Die in dieser Verfassung garantierten Menschenrechte schließen andere nicht aus, die, obwohl in dieser Verfassung nicht ausdrücklich genannt, der menschlichen Person von Natur aus innewohnen." Auf die weiteren Beispiele in Estland, Südafrika und Kwazulu Natal sowie Äquatorial-Guinea sei verwiesen, Art. 10 Verf. Estland (1992) schon hier dokumentiert: 384 Enger spricht z.B. Art. 105 Verf. Bayern (1946) von Verfolgung "unter Nichtbeachtung" der in der eigenen Verfassung "niedergelegten Grundrechte". 385 Allgemein dazu P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (1986), jetzt in: ders, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 597 ff. Fünfter Teil III Ziff. 2. 49 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft "The rights, liberties und duties enumerated in the present Chapter shall not preclude other rights, liberties or duties which ensue from the spirit of the Constitution or are in accordance therewith and are compatible with human dignity and the principles of a society based on social justice, democracy and the rule of law". 386 387
5. Schutz der Menschenrechte als Staatsaufgabe : Hier darf Art. 9 Abs. 2 lit. b Verf. Portugal (1976) einen ersten Platz beanspruchen. Die darin normierte "wesentliche Aufgabe des Staates", die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten, umfaßt nach der Systematik von Teil I auch die Grundrechte der Ausländer (d.h. die Menschenrechte) 388, ähnl. Art. 3 Verf. Ukraine (1996). (2) "Grund-Rechte", die Unterscheidung zwischen "Menschen-" und "Bürgerrechten", insbesondere: der "status mundialis hominis" (a) "Grund-Rechte" (bzw. spanisch: "derechos fundamentales") bilden heute den Oberbegriff fur universale Menschenrechte und nationale Bürgerrechte. 389
Beide Arten von Grundrechten sind, wenn auch in verschiedener Intensität, notwendiger Bestandteil der Rechtskultur jedes "Verfassungsstaates", der diesen Namen verdient. (b) Der die Grundrechte fundierende Theorie-Rahmen der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (i.S. von J. Locke gerichtet auf Freiheit und Eigentum, aufbauend auf T. Hobbes: Leben und Sicherheit), heute als " Verfassungsvertrag" 386
Zit. nach JöR 43 (1995), S. 306 ff. Vgl. auch Art. 39 Verf. Georgien (1995). Vgl. auch Art. 2 VE Kölz/Müller (1984): Bundeszweck u.a. "Schutz der Menschenrechte". (ebenso 3. Aufl. 1995). 388 Vgl. jetzt die Präambel Verf. Brandenburg (1992): "Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg, haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben..." - Schwierig ist die "menschenrechtliche" Einordnung des "Selbstbestimmungsrechts", dazu aus der Lit.: W. Seiffert, Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung, 1992; kollektiviert droht es zu einem Recht beliebiger ethnischer, kultureller oder religiöser Gruppen zu staatlicher Abspaltung zu werden. 389 Schon die deutsche Literatur zur Grundrechtsdogmatik ist unüberschaubar, hier nur einige Hinweise: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 125 ff.; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; G. Dürig, Gesammelte Aufsätze, 1984; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985; U. Scheuner, Pressefreiheit, VVDStRL 22 (1965), S. 1 ff; A. Bleckmann, Staatsrecht II, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988.- Aus der Schweizer Literatur: J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982; Ρ. Saladin, Grundrechte im Wandel, 3. Aufl., 1982.- Für Österreich: R. Machacek/W.P. Pahr/G. Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, 1991; s. auch F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. II, 1983; M. Nowak, Politische Grundrechte, 1988. Historisch und vergleichend arbeitet: P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 360 ff. 387
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen zu deuten, ist von der nationalen Ebene auf die universale zu erstrecken: Neben die einzelstaatliche Gesellschaft und ihren "status civilis" tritt ergänzend die "Weltgesellschaft" mit der Folge eines grundrechtlichen status mundialis jedes Menschen; in ihrem Kraftfeld ist - mindestens als Fiktion i.S. Kants - ein "Weltgesellschaftsvertrag" zu "denken". Nicht nur innerstaatlich hat der Mensch den Übergang vom "status naturalis" in den "status civilis" geschafft auch im Weltmaßstab, global gesehen, ist der Übergang vom "status naturalis" in den "status civilis" mindestens fiktiv erfolgt: Vertragspartner sind alle Menschen und alle Verfassungsstaaten (bzw. Völker) - sogar bis hin zur Perspektive späterer Generationen. Sie garantieren sich alle gegenseitig die Menschenrechte eines jeden. Mag die Völkerrechtswissenschaft in der Anerkennung der Menschenrechte bzw. der Völkerrechtssubjektivität des Menschen noch zurück sein: Es ist Sache der Verfassungslehre, eine Menschenrechtstheorie mit ihren verallgemeinerten in den Weltmaßstab projizierten Denkfiguren wie den Gesellschaftsvertrag zu begründen. Die Tradition des deutschen Idealismus liefert die nötigen Stichworte ("weltbürgerliche Absicht", "Ewiger Frieden" (1795), etc.), und das angelsächsische Denken von der Virginia Bill of Rights (1776) bis zur UN-Menschenrechts-Erklärung von 1948 und zur Menschenrechtspolitik eines J. Carter vermittelt die erforderliche Praxis der Theorie. (c) Die Menschenrechte - verstanden als Rechte jedes Menschen aller Nationen unter Einschluß der sog. "Staatenlosen" - haben ihre Wurzel im nationalen Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe 390 und in der universalen "Menschheit" zugleich. Textelemente finden sich schon, etwa in Gestalt der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (1948): "Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet"; nachfolgend ist vom "Gewissen der Menschheit" die Rede. Auch wird ebenda 1948 von dem "Glauben" der Völker der Vereinten Nationen an die "grundlegenden Menschenrechte" gesprochen. Das Grundgesetz von 1949 wagte bereits den Satz in Art. 1 Abs. 2: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." Kongenial heißt es in der Präambel der EMRK von 1950: "...unter erneuter Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage der Gerech-
,90 Dem hier verfochtenen Textstufen- bzw. Entwicklungsdenken nahe kommt der Vorspruch des Protokolls Nr. 6 zur EMRK vom April 1983 über die Abschaffung der Todesstrafe: "...in der Erwägung, daß die in verschiedenen Mitgliedstaaten des Europarates eingetretene Entwicklung eine allgemeine Tendenz zu Gunsten der Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck bringt...".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
tigkeit und des Friedens in der Welt bilden...". Und in der Präambel der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1969) steht der Satz: "...in Anerkennung dessen, daß die wesentlichen Rechte des Menschen nicht seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat entspringen, sondern sich auf Merkmale der menschlichen Persönlichkeit gründen..." 391 . Es ist Sache der Verfassungslehre als Lehre vom Typus Verfassungsstaat, weitere Theorie- und Textelemente zu entwickeln (z.B. eigene Abschnitte "Grundrechte für Ausländer" bzw. verbesserte Gleichstellungs-Artikel nach dem Vorbild von Art. 13 Abs. 1 Verf. Spanien; das hätte Teil einer Revision des deutschen GG zu sein). (d) So wie es Menschenrechte "im" Verfassungsstaat gibt (z.B. für Ausländer, aber auch für Inländer kraft ihres Menschseins), so gibt es menschenrechtliche Elemente auf Staatsangehörigkeit - ein Beleg für die hier verfochtene ideelle Verklammerung von Menschenrechten und Bürgerrechten als den "zwei Ausprägungen" der "Grundrechte" - das Wort "Grund' ist auszuschöpfen, es bezeichnet das Vorstaatliche, Präpositive, dem sekundären Recht Vorausliegende, eben das "Grundlegende". Man darf es auch so formulieren: Der Mensch hat "von Natur" aus gewisse Rechte, und zugleich ist es gerade der Verfassungsstaat (als Kultur), der ihm als solcher eben diese Menschenrechte und die Bürgerrechte sichert ("Kultur-Rechte"). Eindrucksvoll heißt es in Art. 15 AllgErklMenschenR (1948): "Jeder Mensch hat Anspruch auf Staatsangehörigkeit.· Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen, noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln" 392 . Das theoretisch schwierige Problem liegt ja in dem Versuch, den für die Grundrechte unentbehrlichen Staat im vorstaatlichen menschenrechtlichen Feld, wenn man will: im "status naturalis" zu denken - letztlich hilft hier nur der kulturwissenschaftliche Ansatz. Das heißt: Die Freiheit als Menschenrecht besteht zwar "von Natur" aus, sie ist "angeboren" - Art. 1 AllgErklMenschenR sagt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" -, aber sie ist letztlich kulturell "erfüllt", sie ist "Kulturrecht". Die Gedankenkette reicht vom status naturalis zum status civilis als status culturalis (vgl. Art. 58 Verf. Guatemala (1985): Recht auf kulturelle Identität). Das bricht sich in der Forderung von Art. 26 Abs. 2 ebd. Bahn: "Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der 391
Im IPbürgR von 1966 heißt es in der Präambel: "...in der Erwägung, daß die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde ... die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet...". 392 Vgl. auch Art. 24 Abs. 3 IPbürgR: "Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben." - Aus der deutschen Lit. zur Staatsangehörigkeit: R. Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973; B. Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem GG, 1995; N.I. Goes, Mehrsaatigkeit in Deutschland, 1997. S. schon Vierter Teil Inkurs II.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben." Erziehung und (Aus)Bildung sind als "zweite Geburt" des Menschen (Hegel) zu verstehen, Menschen· bzw. Grundrechte als Erziehungsziele, wobei gerade heute (1996/97) erkennbar wird, wie rasch der Rückfall in den status naturalis des T. Hobbes droht (Ex-Jugoslawien, Attentate auf Ausländer in Deutschland, Italien und Frankreich). Anders gesagt: Die universalen Menschenrechte sind heute die Elemente der "Weltkultur" als Weltgesellschaft, aber ohne Weltstaat 393 ! Neben ihr bleibt aber die nationale bzw. regionale Identität als Kultur. Kultur ist dabei die "andere", die "zweite" Schöpfung, die der Menschen. Mag man den menschenrechtlichen Anspruch auf Staatsangehörigkeit fur allzu "platonisch" halten, er wird realer, sobald man Grundrechte im genannten Sinne menschheitsbezogen und verfassungsstaatlich konzipiert: Art. 15 Abs. 2 AllgErklMenschenR (1948) ist auszubauen: die Möglichkeit zum Entzug der Staatsangehörigkeit unterliegt dem menschenrechtlichen Willkürverbot - man vergegenwärtige sich die berüchtigten "Ausbürgerungen" der NS-Zeit und der sozialistischen Staaten394. Vielleicht läßt sich auch die in Deutschland heute diskutierte (in der Schweiz längst praktizierte) Öffnung zur doppelten Staatsangehörigkeit hin menschenrechtlich begründen. Wenn Art. 15 Abs. 2 sogar den Wechsel der Staatsangehörigkeit offen hält, so ist dies theoretisch erst noch zu begründen. Es geht um nichts weniger als die Ermöglichung einer Kündigung des staatsbegründenden Gesellschaftsvertrages: Der Verfassungsstaat hat sie bzw. sich offen zu halten: um seiner selbst, aber auch um der Menschheit willen. Schwächere, aber nicht minder wichtige Formen sind die Auswanderungsfreiheit (vgl. Art. 13 AllgErklMenschenR und viele Verfassungen, z.B. Art. 19 Abs. 2 Verf. Spanien). Die menschenrechtliche Garantie eines status politicus einschließlich des Wahlrechts bildet das Gegenstück hierzu: in den Worten von Art. 21 Ziff. 1 AllgErklMenschenR der U N von 1948: "Jeder Mensch hat das Recht, an der Leitung öffentlicher Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen" bzw. Art. 25 IPbürgR (1966): "Jeder Staats-
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Terminologisch mag man - noch - in Schwierigkeiten kommen: Der Begriff der "Bürgerrechte" wird hier den den Staatsbürgern zustehenden Grundrechten vorbehalten, und doch ist vom "Weltbürgertum" die Rede. Das soll keinen "Weltstaat" suggerieren, der nicht einmal als Utopie wünschenswert erscheint, sondern nur eine Weltkultur, in der sich kraft des grundrechtlichen "status mundialis" jeder Bürger irgendeines Verfassungsstaates heimisch fühlen kann. S. noch unten XIII. 394 Verwandt ist dem auch die ratio des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom August 1961 (vgl. den Textpassus: "In der Erwägung, daß es wünschenswert ist, die Staatenlosigkeit durch eine völkerrechtliche Übereinkunft zu vermeiden...").
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
bürger hat das Recht ...b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen ... zu wählen und gewählt zu werden." (e) Von diesen menschenrechtlichen Brücken zur Staatlichkeit bzw. Verfassungsstaatlichkeit in Sachen Staatsangehörigkeit zu unterscheiden sind die allgemeinen und besonderen Formen des Schutzes des grundrechtlichen status mundialis hominis, die die heutige Theorie der "Grundrechte" verarbeiten und weiterentwickeln müssen - bis hin zu Textvorschlägen: aa) Zunächst die Gleichstellungsklauseln, das heißt: Dem Verfassungsstaat ist zwar eine Differenzierung zwischen Menschen- und Bürgerrechten erlaubt, weil das spezielle "Band" der Staatsangehörigkeit, so sehr es sich heute relativiert (z.B. in Gestalt des kommunalen Wahlrechts für EU-Ausländer), immer noch diese Unterscheidung rechtfertigt. Dennoch sollte jeder Verfassungsstaat, von der Grundrechts-Theorie angespornt, allgemeine Gleichsetzungsklauseln in den Kanon seiner Grundrechtsgarantien aufnehmen: Art. 13 Abs. 1 Verf. Spanien ist hier ein freilich weiterzuentwickelndes Beispiel (z.B. für das GG). Neuere Verfassungen kennen Ausnahmevorbehalte wie Art. 15 Abs. 2 Verf. Portugal (1976) oder Art. 8 Abs. 1 Verf. Turkmenistan von 1992. Zu fordern ist, daß die Verfassungsstaaten keinen leerlaufenden "Maßgabevorbehalt" zugunsten der Relativierung der Gleichstellung durch jedes beliebige Gesetz einbauen, sondern materielle Grenzen ziehen. Spaniens flexible Eröffnung doppelter Staatsangehörigkeiten in Art. 11 Abs. 3 seiner Verfassung schafft eine erfreuliche zusätzliche Möglichkeit. Sie ist - entgegen der Tendenz, doppelte Staatsangehörigkeiten tunlichst zu vermeiden - für staatenübergreifende Regionen zu befürworten: gerade dann, wenn besondere kulturelle Bindungen bestehen, wie zwischen Spanien und Lateinamerika (vgl. auch Art. 15 Abs. 3 Verf. Portugal). bb) Sodann die Prinzipien, die das Thema der "Menschenrechtsfreundlichkeit" variieren. Anders gesagt: die nationalen Grundrechtskataloge, und zwar auch dort, wo sie Bürgerrechte und Menschenrechte garantieren, sind menschenrechtskonform auszulegen. Ein Beispiel gibt Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien. Manche neuen Verfassungen und Verfassungsentwürfe in Osteuropa bringen erstaunliche "Fortschreibungen" hervor (z.B. Art. 10 Verf. Tschechische Republik (1992): "Ratifizierte und verkündete internationale Verträge über Menschenrechte und Grundfreiheiten, an welche die Tschechische Republik gebunden ist, sind unmittelbar bindend und haben Vorrang vor dem Gesetz").
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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War bislang vor allem dank der Schweiz von der "verfassungskonformen Auslegung" des einfachen Rechts die Rede 395 , so stehen wir jetzt vor dem Gebot der "menschenrechtskonformen Auslegung der Grundrechte" bzw. vor dem "werdenden" verfassungsstaatlichen Grundsatz der Menschenrechtsfreundlichkeit 3 9 6 . Die "höchste" Entwicklungsstufe wäre der Satz, "internationale Menschenrechte brechen nationale Grundrechte", sofern letztere nachteilig von dem globalen Menschenrechtsstandard abweichen (vgl. Art. 142 GG). Wie verwirrend die Terminologie noch ist, zeigt sich gerade hier. Innerverfassungsstaatlich meint "Grundrechte" immer die beiden Ausprägungen: die Menschenrechte und die Bürgerrechte. Es läßt sich ja durchaus denken, daß ein nationaler Verfassungsstaat seinen eigenen Bürgern zu wenig an "Grundrechten" gibt: dann kann dies, soweit sich dies durch Interpretation ausgleichen läßt, durch die internationalen (und ggf. auch regionalen - EMRK -) Menschenrechtsgarantien korrigiert werden. Grundrechtstheoretisch gesprochen: Der grundrechtliche (universale) "status mundialis hominis" strahlt in den nationalen status civilis bzw. culturalis aus. Textbelege gibt es schon. Der Theorierahmen ist in der oben angedeuteten Weise zu schaffen, wie überhaupt heute, in der "Weltstunde" des Verfassungsstaates, die Aufgabe entsteht, die im nationalen Rahmen entwickelten Grundrechtstheorien menschenrechtstheoretisch weiterzufuhren und umgekehrt, die universalen Menschenrechte in die nationalen Grundrechtstheorien einzubauen: Daß dies nur in Gestalt eines multinationalen und multikulturellen "Konzerts" vieler, ja aller einzelstaatlichen Grundrechtskulturen bzw.-dogmatiken möglich ist, liegt auf der Hand 397 . Das Postulat der Grundrechtsvergleichung als "fünfter Auslegungsmethode" hat übrigens hier, anläßlich von Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien und seiner Entsprechungen - seinen "Platz": Nur durch Vergleich, der von den nationalen Grundrechtsgarantien zu den "allgemeinen" wandert und von dort nach hier bereichert zurückkehrt, kann dieses Werk gelingen 398 . Umgekehrt bedarf es einer bislang, soweit ersichtlich, fehlenden universalen Theorie der Menschenrechte, die diese Arm in Arm mit den Grundrechtslehren des nationalen Verfassungsstaates begründet. Dieser 395 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 30 ff. 396 Dazu: K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung ..., AöR 114 (1989), S. 391 ff. Vgl. Art. 12 Abs. 2 Verf. Angola (1992); Art. 29 Abs. 2 Verf. Guinea-Bissau (1993). 397 Die Schwierigkeiten eines interkulturellen Verständnisses von Begriffen wie "Menschenwürde", "Gleichheit", "Freiheit" seien nicht geleugnet. 398 Zur Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode: P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation, JZ 1989, S. 913 ff; jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 27 ff. Oben Fünfter Teil IV.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
kann heute seinerseits die "eigenen Grundrechte" nicht ohne die universalen Menschenrechte sehen, schaffen, auslegen und weiterentwickeln. Der Konflikt mit der "partikularen" moslemischen Kairoer Erklärung der Menschenrechte (1990) ist schwer, das universale Menschenbild in Frage gestellt 399 . cc) Das Asylrecht für politisch Verfolgte und die effektive Ausgestaltung ihres menschenrechtlichen Status (der deutsche Streit um Art. 16 GG, seine Europäisierung, d.h. Einschränkung gemäß Art. 16 a, ist bekannt) speziell für um der Grundrechtsidee willen Verfolgte (vgl. Art. 105 Verf. Bayern von 1946) ist eine weitere sehr allgemeine Form des grundrechtlichen, genauer menschenrechtlichen "status mundialis" im Verfassungsstaat. Das menschenrechtliche Pathos, das in der vorbehaltslosen Garantie durch die "Väter und Mütter" des GG steckt, ist angesichts des heutigen Mißbrauchs dieses Grundrechts durch Wirtschaftsflüchtlinge in Gefahr 400 . Art. 14 Abs. 1 AllgErklMenschenR bestimmt: "Jeder Mensch hat das Recht in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen". Vergegenwärtigen wir uns die verfassungsstaatlichen Beispiele, die dieses Menschenrecht in den einzelnen Ländern bzw. in ihren Verfassungen mittlerweile gefunden hat: Art. 10 Abs. 3 Italien (1947), Art. 33 Abs. 6 Portugal (1976), Art. 56 Polen (1997). dd) Greifbar wird der "grundrechtliche status mundialis hominis" in den Texten, die eine Differenzierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ausdrücklich verbieten. Hierin offenbart sich eine Relativierung des klassischen Staatsbildes. Während, wie gezeigt, der Verfassungsstaat nach wie vor auf vielen Feldern zwischen Menschenrechten (= Grundrechte jedes Ausländers und auch der Staatenlosen)401 und "Bürgerrechten" (= Grundrechte der eigenen
399 Vgl. die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990), in: Gewissen und Freiheit 19 (1991), S. 93 ff. Aus der Lit.: H. Bielefelds Menschenrechte und Menschenrechtsverständnis im Islam, EuGRZ 1990, S. 489 ff; s. auch meinen Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates: rechts- bzw. kulturwissenschaftlich betrachtet, in: Liber Amicorum, J. Esser, 1995, S. 50 (75).- Zum Islam früh: T. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1980 (2. Aufl. 1995), S. 288 ff.; W. Rotholz, Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Theorie des Islam, Der Staat 22 (1983), S. 213 ff.; H. Mandt, Die offene Gesellschaft und die Wurzeln des zeitgenössischen Fundamentalismus, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 175 ff. 400 Eine schwächere Form des menschenrechtlichen Status des Ausländers steckt in Art. 13 IPbürgR: "Ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, kann aus diesem nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden...".- Zu Art. 16 a GG: M Brenner, Möglichkeiten und Grenzen grundrechtsbezogener Verfassungsänderungen, in: Der Staat 32 (1993), S. 493 ff.; G. Lübbe-Wolff in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 16 a GG. 401 Daher ist es zu wenig, wenn die beiden Menschenrechtspakte der UN von 1966 nur von "bürgerlichen und politischen Rechten" bzw. von "wirtschaftlichen, sozialen
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Staatsangehörigen) unterscheidet, bricht sich der menschenrechtliche Aspekt vereinzelt schon spektakulär Bahn in Gestalt eines erklärten Diskriminierungsverbotes. So heißt es in Art. 16 Abs. 1 AllgErklMenschenR der UN von 1948: "Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion das Recht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen" - im allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 2 fehlt das Kriterium der Staatsangehörigkeit! Bekanntlich gibt es in der Europäischen Union das Diskriminierungsverbot des Art. 7 EG-Vertrag. Es schafft einen "status regionalis" eigener Art. Es ist zu hoffen, daß sich derartigen Diskriminierungsverboten in regionalen Pakten inskünftig weitere Felder erschließen: das käme mittelbar dem "status mundialis hominis" zugute. Anders formuliert: Regionale Menschenrechtspakte können dem universalen Menschenrechtsverständnis Impulse geben, so wie diese umgekehrt auf regionale Abkommen ausstrahlen (Wechselwirkung zwischen regionalen und universalen Menschenrechtsabkommen als Entsprechung des gegenseitigen Austausches zwischen den nationalen Bürgerrechten und den universalen Menschenrechten). (3) Das offene, "gemischte" Theoriekonzept Grundrechtstheorien sind nur Mittel zum Zweck. Das muß sich gerade die deutsche Wissenschaftlergemeinschaft sagen lassen, die ihre Grundrechtsdogmatik mitunter "scholastisch" betreibt. Darum steht in der Verfassungslehre der Textstufenvergleich in Sachen Grundrechte im Vordergrund, nicht der beliebte "Schulenstreit". Da sich die Gefährdungslagen für die personale Freiheit des Menschen geschichtlich verändern, werden ihrerseits zeitbedingte wechselnde Antworten notwendig: durch Verfassungstextgeber, Gesetzgeber, Politik und Rechtsprechung sowie die Wissenschaft. Alle stehen unter der Maxime "grundrechtssichernder Geltungsfortbildung" 402 , alle haben sich am Ziel "personalen Schutzdenkens" zu orientieren. Der Verfassungsstaat hat seinen - dynamischen - Grundrechtsschutz immer neu zu optimieren. Und die Staatsrechtslehre muß ihm im Sinne "wissenschaftlicher Vorratspolitik" zur Seite stehen: durch nie nachlassende Erarbeitung von alternativen Theorievorschlägen. Sie sind dann von der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit zur "pragmatischen Integration von Theorieelementen" zusammenzuführen. Aber zuvor bedarf es der
und kulturellen Rechten" sprechen: Das Primäre, "Fundamentale" dieser Rechte kommt darin sprachlich nicht zum Ausdruck. 402 Dazu mein Regensburger Staatsrechtslehrerreferat: Grundrechte im Leistungsstaat (1972), auch in: Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Zuspitzungen in der Lehre. Insofern sind immer viele Konzepte der Grundrechte nötig - ganz i.S. des Kritischen Rationalismus eines Popper, der die überzeugende philosophische Basis der "Verfassung des Pluralismus" geschaffen hat. Grundrechtstexte und Grundrechtstheorien stehen dabei in lebhafter Wechselwirkung. Hier einige Beispiele: Die neueren Verfassunggeber, etwa in den Schweizer Kantonen, haben sich durch manche (deutsche) Grundrechtstheorien inspirieren lassen: z.B. in Gestalt des Ausbaus der leistungsstaatlichen Seite der Grundrechte, der Verfeinerung der Schutzaufträge und des Ausbaus des Grundrechtsschutzes durch "Organisation und Verfahren" 403 . Die Grundrechtsverwirklichungsklausel in Art. 3 Verf. Italien (1947), verfeinert in Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien (1978), hat den Blick für das "soziale, wirklichkeitsorientierte Grundrechtsverständnis" geschärft, wenn nicht hervorgebracht, und die "mehrdimensionale", "multifunktionale" Grundrechtstheorie kann sich durch viele immer differenzierter werdende Grundrechtstexte von Griechenland (1975) über Kolumbien (1991) bis zur ostdeutschen Verfassung Brandenburgs (1992) bestätigt fühlen. Die in Deutschland entwickelten Theorien vom "Doppelcharakter" der Grundrechte (subjektiv-individualrechtlich und objektivrechtlich) 404 waren eine Korrektur des sog. "liberalen" Grundrechtsverständnisses. Hinzu kamen das "demokratische" und das leistungsstaatliche bzw. sozialstaatliche Grundrechts Verständnis: dieses deutet die Grundrechte auch als "funktionelle Grundlage" der Demokratie, jenes arbeitet unter dem Schlagwort "Grundrechte als Teilhaberechte". Ein hierher gehörender Theorievorschlag ist die Lehre vom "status activus processualis" 405. Jüngst schiebt sich die Lehre von den Schutzpflichten in den Vordergrund 406 . In Deutschland leben die heutigen Grundrechtstheorien teils von Rezeptionen aus Weimar (mit den großen Namen von R. Smend, E. Kaufmann, C. Schmitt), teils von Innovationen unter dem GG, wobei die "Grundrechtsprätorik" des BVerfG viel zur Grundrechtskultur beigetragen hat.
403 Deutungen und Beispiele in meinem Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff. 404 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 70 ff.; 3. Aufl. 1983, S. 70 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 127 ff. 405 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat (1972), jetzt in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 ff; vgl. auch BVerfGE 33, 303 (330); E 53, 30 (insbes. 65); zuletzt E 95, 193 (209 f.). 406 Dazu Κ . Hesse, aaO., S. 155 ff; ders., Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrung grundrechtlicher Schutzpflichten durch den Gesetzgeber, FS Mahrenholz, 1994, S. 541 ff.; M Sachs in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Vor Art. 1 Rdnr. 22 m.w.N.; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HdBStR Bd. V (1992), S. 143 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Im ganzen: Geboten ist ein letztlich "gemischtes", offenes Grundrechtsverständnis, das auf neue Gefahrenlagen reagiert (z.B. durch Schaffung eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, vgl. BVerfGE 65, 1 ff. und Art. 11 Verf. Brandenburg (1992)) und jedes "sortierende" Kästchendenken ablehnt. Die deutschen Grundrechtstheorien können sich im internationalen Vergleich gewiß "sehen" lassen, aber jede Nation hat ihren eigenen grundrechtskulturellen Gefährdungen gerecht zu werden. Was bei uns die Theorien leisten müssen (und wohl auch können), wird in Ländern wie Frankreich z.T. durch eine pluralistische, besonders sensible Öffentlichkeit auf anderen Wegen erreicht. Theorieentwicklungen und Textfortbildungen fließen fast ununterscheidbar zusammen in der Lehre von den "drei Generationen" von Menschenrechten 407 . Im Gegensatz zur ersten Generation der klassischen, staatsabwehrenden "civil and political rights" stehen die zweite Generation der leistungsbegründenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und die neuere dritte Generation der drittwelt-orientierten, dynamischen Solidaritätsrechte (wie Recht auf Entwicklung, Recht auf Frieden, auf eine lebenswerte Umwelt und ein Recht auf Teilhabe am gemeinsamen Erbe der Menschheit). Dieses "Generationendenken" droht auseinanderzureißen, was längst zusammenwächst, weil es zusammengehört: die lebenswerte Umwelt ist schon in der Schutzpflicht auf Gesundheit angelegt, das kulturelle Teilhaberecht erwächst aus der Kunstfreiheit etc. Es bleibt aber begrenzt hilfreich. (4) Textstufen als Entwicklungswege der Grundrechtsgarantien Ganz allgemein läßt sich belegen, wie sehr sich der Typus "Verfassungsstaat" in Textstufen fortentwickelt 408 . In weltweitem Austausch verarbeiten die Verfassunggeber ihre Texte: sie schreiben mehr oder weniger produktiv voneinander ab, und ohne Übertreibung läßt sich von einer internationalen Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat sprechen. Das Textstufenparadigma kann beobachten, daß dabei nicht nur Texte rezipiert werden, sondern auch Verfassungswirklichkeit, etwa Rechtsprechung und Lehre oder bisher bloß faktische Tendenzen. Die eine jüngere Verfassung bringt auf Texte und Begriffe, was sich beim Nachbarn bisher nur "ungeschrieben" entwickelt hat. Beispiele liefern etwa die Konstitutionalisierung der politischen Parteien, die Anerkennung der parlamentarischen Opposition, besonders aber die Grundrechte. In Deutschland bringen die neuen ostdeutschen 407
Dazu E.H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 210 ff., 311 ff. Dazu auch P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates (1987), jetzt in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. Vgl. Fünfter Teil VII Ziff. 1. 408
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Landesverfassungen 1992/93 auf Texte, was in Westdeutschland in vielen Jahren schöpferischer Lehre und Rechtsprechung herangewachsen ist, und auch zwischen den Nationen gibt es viele Lern Vorgänge: Der Österreichische Verfassungsgerichtshof z.B. knüpft ungeschrieben an die Auslegung der deutschen Wesensgehaltklausel des Art. 19 Abs. 2 GG an, oder der EuGH übernimmt diese im Falle Liselotte Hauer 409 . Wichtig ist die Erkenntnis der Rezeption von fremder (und eigener) Verfassungswirklichkeit in den je neuen Verfassungen. Sie erlaubt es von "Textstufen" zu sprechen. Unaufhörlich bilden alle in Verbund mit allen anderen nationalen Verfassungen stehenden Verfassungen den Verfassungsstaat als Typus fort. Die "Europäisierung" der nationalen Staatsrechtslehren und Verfassungsgerichte spiegelt einen Ausschnitt aus diesen vielseitigen Vorgängen wider 4 1 0 . Und gerade in Europa ist regional eine äußerst dichte "Grundrechtsgemeinschaft" entstanden: der EuGH in Luxemburg und der EGMR in Straßburg spielen dabei eine viel gerühmte Pionierrolle. (5) "Grundrechtsentwicklungsklauseln" Was sich "empirisch" beobachten läßt, die lebhafte Grundrechtsentwicklung, hat schon ihre institutionalisierte Form: die sog. "Grundrechtsentwicklungsklausel". In den USA hat das IX. Amendment das wohl klassische Urbild geschaffen, auch wenn es im Ursprungsland kaum wirkt 4 1 1 . Es lautet: "Die Aufzählung gewisser Rechte in der Verfassung soll nicht so ausgelegt werden, daß andere dem Volk vorbehaltene Rechte dadurch verweigert werden". Die Amerikanische Menschenrechtserklärung (1969) formuliert als "Auslegungsregel", keine Bestimmung dieser Konvention dürfe dahin ausgelegt werden, daß sie "... c) andere Rechte oder Garantien ausschließt, die der menschlichen Person innewohnen oder sich aus der Regierungsform der repräsentativen Demokratie ergeben...".
409 Nachweise in P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO., 3. Aufl., 1983, S. 266 ff.Aus der österreichischen Lit.: M. Stelzer, Das Wesensgehaltargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1991; M Holubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 172 ff.- Eine Wesensgehaltgarantie findet sich jetzt wieder in Art. 31 Abs. 3 S. 2 und Art. 64 Abs. 3 Verf. Polen (1997). 410 Dazu mein Vortrag in Sevilla mit allen Nachweisen: Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff. Oben Fünfter Teil VII Ziff. 8. 411 Dazu S. Hutter, Die Gesetzeslücke im Verwaltungsrecht, 1989, S. 224 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Auf innerstaatlicher Ebene darf Art. 4 (alte) Verf. Peru (1979) alle Aufmerksamkeit beanspruchen, zumal er nicht auf den Auslegungsvorgang verengt ist. Er lautet: "Die Aufzählung der in diesem Kapitel anerkannten Rechte schließt nicht die sonstigen von der Verfassung garantierten Rechte und auch nicht andere, die vergleichbarer Natur sind oder aus der Würde des Menschen, dem Prinzip der Volkssouveränität, dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat und der republikanischen Regierungsform folgen, aus." Und dieser "Funke" ist nach Estland übergesprungen 412. Art. 42 (Verfassungsentwurf Estland Dezember 1991) lautet 413 : "The rights, liberties and duties listed in the present chapter shall not preclude other rights, liberties and duties which are in the spirit of the Constitution, or are in concordance with it." So hat die Grundrechtsentwicklungsklausel selbst eine Textstufenentwicklung durchgemacht! Der Reifiingsprozeß gipfelt im Einbau einer "imGeiste-Klausel", die flexibel auf das Ganze der Verfassung verweist 414 . Grundrechtsentwicklungsklauseln - zumal der modernsten verfeinerten Fassung wie Art. 4 Verf. Peru (1979) bzw. jetzt Art. 10 Verf. Estland, jetzt auch in Art. 11 Verfassungsentwurf Ukraine (1992) vorgeschlagen - sind eine denkbar glückliche Errungenschaft des Verfassungsstaates. Sie bringen auf einen geschriebenen Text, was sich sonst ungeschrieben vollzieht. Sie richten sich an alle drei staatlichen Funktionen, auch an die wissenschaftliche Öffentlichkeit, und sie dienen dem kontinuierlichen Prozeß der Fortbildung der Grundrechte. Sie dürfen als Ausdruck und Basis für ein offenes Grundrechtsverständnis gewertet werden und sie bilden ein Pendant zu den Grundrechtsverwirklichungsklauseln nach dem Muster von Art. 3 Verf. Italien (1947) bzw. Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien sowie Art. 50 Verf. Angola (1992). Aus der praktischen Umsetzung der Grundrechte und etwaigen Defiziten wird erhellt, welche neuen Grundthemen oder Grundrechtsdimensionen zu entwickeln sind. Aber auch die Wissenschaft darf sich ermutigt fühlen: Wir alle sitzen am "runden Tisch" einer weltweiten Grundrechtsentwicklungsgesellschaft. 412
Abgedruckt in JöR 43 (1995), S. 275 ff. Die verbesserte Fassung steht jetzt in Art. 10 Verf. Estland (1992), zit. ebd. S. 306 ff. 413 Dazu P. Häberle, Verfassungsentwicklungen in Osteuropa..., AöR 117 (1992), S. 169(197). 414 Knapper ist Art. 44 Abs. 1 Verf. Guatemala (1985) gefaßt.- Auch Art. 94 der neuen Verfassung von Kolumbien (1991) kennt diese Grundrechtsentwicklungsidee: "La enunciación de los derechos... no debe entenderse corno negacion de otros que, siendo inherentes a la persona humana, no figuren expresamente en ellos." Vgl. jetzt Art. 39 Verf. Georgien (1995).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (6) Grundpflichten - das Korrelat zu den Grundrechten?
Als "Merkposten" wenigstens sei die Frage nach "Grundpflichten" aufgegriffen. Jedes verfassungsstaatliche Konzept der Grundrechte muß sich ihr stellen. In welchem - korrelativen oder asymmetrischen? - Verhältnis stehen die Grundpflichten zu den Grundrechten 415? Die Stoßrichtung aller Menschenrechtserklärungen und Pakte richtet sich auf die Grundrechte. Doch benennen sie auch "Grundpflichten". Schon Art. 29 Ziff. 1 AllgErklMenschenR der UN von 1948 postuliert: "Jeder Mensch hat die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist", die Präambel des IPbürgR von 1966 erinnert daran, "daß der einzelne gegenüber seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft, der er angehört, Pflichten hat". Art. 32 Abs. 1 Amerikanische Menschenrechtskonvention (1969) normiert die Pflichtentrias des Menschen und Bürgers denkbar glücklich: "Jede Person hat Verpflichtungen gegenüber ihrer Familie, ihrem Gemeinwesen und der Menschheit". Die Afrikanische Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1982) schreibt diesen Gedanken fort und listet unter vielen Einzelpflichten u.a. die Pflicht auf (Art. 29 Ziff. 7), "im Verhältnis zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft positive afrikanische kulturelle Werte im Geiste der Toleranz, des Dialogs und der Zusammenarbeit zu bewahren...". Schon diese wenigen Textbeispiele zeigen das Dilemma: Reichen Grundrechtskatalogen stehen schmal gehaltene Grundpflichtentexte gegenüber; etwa, weil sie kaum justitiabel sind, vor allem der gesetzgeberischen Ausgestaltung bedürfen oder weil seit 1789 nun einmal das Individuum in seinen Rechten gefeiert wird, das - nach Herb. Krüger - fast vergessene "dritte Ideal" aber, die "Brüderlichkeit" (heute natürlich auch "Schwesterlichkeit") fast verloren ging? 416 Oder läßt sich bürgerliches Pflichtenethos eben nicht auf Rechtsbegriffe bringen? Das Textbild neuerer Verfassungen entspricht dem tendenziell, ja die Grundpflichten fristen bei allen nationalen Verschiedenheiten eher ein "NischenDasein". Art. 25 Abs. 4 Verf. Griechenland (1975) sagt am Schluß des reichhaltigen Katalogs der "individualen und sozialen Rechte" eher platonisch und als Annex: "Der Staat ist berechtigt, von allen Bürgern die Erfüllung ihrer 415
Aus der deutschen Literatur vor allem H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 ff.; ders., Grundpflichten und Grundrechte, in: HdbStR Bd. V, 1992, S. 321 ff.; K. Stern, Idee und Herkunft des Grundpflichtendenkens, FS Doehring, 1989, S. 969 ff. 4,6 Dazu P. Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates (1989), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 685 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Pflicht zu gesellschaftlicher und nationaler Solidarität zu fordern". Die Verfassung Italiens (1947) überschreibt ihren 1. Teil "Rechte und Pflichten der Staatsbürger", bleibt dann aber doch zurückhaltend (z.B. Art. 52 Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes, Art. 53 Steuerpflicht, Art. 54 Treuepflicht gegenüber der Republik); stärker ist der Pflichtaspekt in Verf. Portugal von 1976 (Art. 58 ff.) ausgeformt; einen Mittelweg geht Art. 30 bis 38 Verf. Spanien. Guatemala - das letzte Beispiel - spricht in seiner Verfassung (1985) von "Pflichten des Staates" (Art. 2), zählt aber auch die "Bürgerlichen und politischen Pflichten" auf (Art. 135 und 136) 417 . Die Frage nach den Grundpflichten ist als konkrete wohl verschieden je nach der nationalen Rechtskultur und Verfassungsgeschichte zu beantworten: Das deutsche GG von 1949 wollte sich wegen des Mißbrauchs, den der totalitäre Staat seit 1933 mit dem Pflichtengedanken getrieben hat, ganz auf Grundrechte konzentrieren (anders manche westdeutsche Landesverfassungen, z.B. Art. 98 ff. Verf. Bayern von 1946!). Auch die Verfassungsentwürfe und viele Verfassungen in Osteuropa (wie die ostdeutschen) unserer Tage vernachlässigen die Grundpflichten verständlicherweise (ohne sie jedoch zu vergessen: z.B. Art. 65 bis 68 Verf. Ukraine von 1996, Art. 44 Abs. 1 Verf. Georgien von 1995). Die Frage bleibt indes, ob dem einzelnen nicht im Verhältnis zur Menschheit in dem Maße Grundpflichten zuwachsen wie seine Rechte in ihr einen Grund haben. (7) Grundrechte und Minderheitenschutz - der "status corporativus" Das hier skizzierte "Konzept der Grundrechte", das zwischen "Menschenrechten" und "Bürgerrechten" unterscheidet, einen "status mundialis" vorschlägt und diesen kulturwissenschaftlich anreichert, aber die universale Menschenwürde zum Ausgangspunkt wählt und damit in die Menschheit ausgreift, muß sich einem heute brisanten Problembereich stellen: der Frage der Minderheitenrechte. Hier ist die Spannung zwischen menschheitlichem und verfassungsstaatlichem Grundrechtsverständnis besonders scharf; hier ist es schwer,
417 S. auch Art. 72 bis 78 Verf. Peru (1979): "Die Pflichten", z.B. Art. 72: "Jeder hat die Pflicht, friedlich zu leben, unter Achtung der Rechte der anderen, und zur Verwirklichung einer gerechten, brüderlichen und solidarischen Gesellschaft beizutragen." - Die Verf. Aserbeidschan (1995) enthält einen ausführlichen Katalog von Grundpflichten (Kap. IV, Art. 72 bis 80) mit Themen wie "Steuerpflicht", Vaterlandspflicht, die Staatssymbole zu achten und die Denkmale der Geschichte und Kultur zu schützen. Es gibt sogar eine Pflicht für jedermann zum Umweltschutz.- Auch Verf. Ukraine (1996) normiert Grundpflichten (z.B. Art. 66: "Each person is obligated not to harm the environnent, cultural heritage, and pay compensation for the damage he causes." - Kap. III Verf. Rumänien (1991) widmet sich in Art. 50 bis 54 den Grundpflichten (zit. nach JöR 44 (1996), S. 514 ff.).- Verf. Polen (1997) benennt „Obligations" (Art. 82 bis 86).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
den völkerrechtlichen Minderheitenschutz und den innerstaatlichen aufeinander abzustimmen, also den "Souveränitätspanzer" zu durchbrechen. Sicher ist, daß sich beides letztlich von der Würde des Menschen als Weltbürger und Staatsbürger begründet und ein wesentliches Thema heutiger Grundrechtsfragen darstellt 418 . Die Arbeit "entlang" den völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Texten bzw. die Textstufenanalyse vermittelt erste Einsichten: Art. 27 IPbürgR (1966) lautet: "In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen." Dieser Text ist eine reife Leistung, benennt er doch die identitätsstiftenden Merkmale wie Religion, Sprache und Kultur. Sichtbar wird der Gruppen-Aspekt 419 , der 1983 Anlaß gab, einen "status corporativus" zu entwickeln, der sich der grundrechtlichen Statuslehre von G. Jellinek vom "status passivus" über den "status negativus" bis hin zum "status activus" und "positivus" ergänzend anlagert 420 . Es ist eine spezifische Kulturverbundenheit, die die Menschen einer Minderheit zur "Gruppe" macht; die Würde des einzelnen verwirklicht sich eben darin. Grund-Rechte haben von vornherein einen 1789 vernachlässigten Gruppenbezug, sei es zur Minderheit, sei es zur Mehrheit hin. Ihn muß eine kulturwissenschaftlich gearbeitete Theorie der Grundrechte bewußt machen und stärker entfalten als bisher. Der aktuelle Bezug liegt auf der Hand: Der "neue Nationalismus" in Osteuropa, der das ideologische Vakuum des 1989 zusammengebrochenen Marxismus-Leninismus auszufüllen sucht, hat es noch nicht gelernt, mit seinen Minderheiten zu leben. Das setzt viel "Training", Toleranz, auch Selbstbewußtsein und eben "Grundrechtskultur" voraus. Vielvölkerstaaten fallen durch Bürgerkriege in Kleinstaaten auseinander, die sich selbst dann noch mit ihren (neuen) Minderheiten schwer tun (z.B. Slowenien). Das 418 Aus der Lit. R. Hofmann, Minderheitenschutz in Europa, ZaöRV 52 (1992), S. 1 ff; L Wildhaber, Menschen- und Minderheitenrechte in der modernen Demokratie, 1992, S. 17 ff.; von Seiten der Staatslehre: P. Pernthaler, Staats- und Verfassungslehre, 1986, S. 50 ff., 391 ff.- Im Rahmen der GG-Reform war ein Minderheitenschutz geplant (neuer Art. 20 b), er ist jedoch gescheitert; aus der Lit.: A.H. Stopp, Minderheitenschutz im reformierten Grundgesetz, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 3 ff. 419 In dieses Gesamtbild gehört auch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1948) mit ihrem spezifischen Gruppenschutz: Nach Art. II bedeutet Völkermord "eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören." 420 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 376 ff. sowie oben Sechster Teil VII 5.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Beispiel des zerfallenen Jugoslawien ist jedermann vor Augen. Mit Recht hat die (damalige) EG als Bedingung für die Anerkennung der neuen Staaten 1991 den Minderheitenschutz verlangt, und heute steht eine VolksgruppenschutzCharta auf der Tagesordnung der UN und des Europarates 421. Ein Blick auf die jüngste Textstufenentwicklung in Verfassungsstaaten gibt aber Anlaß zu Optimismus: denn hier reifen Verfassungstexte heran, die den Minderheitenschutz der Gruppe Schritt für Schritt verbessern und eine Fortschreibung des "Konzepts der Grundrechte" im Verfassungsstaat erwarten lassen. Hier einige Beispiele: Speziell in Deutschland hat Art. 5 der neuen Verfassung von Schleswig-Holstein (1990) eine Vorreiterrolle übernommen. Er lautet (im Blick auf die dänische Minderheit): Abs. 1: "Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei, es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten." Abs. 2: "Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung." Die Verf. Brandenburg (1992) nimmt sich der Rechte speziell der Sorben vorbildlich an 4 2 2 . Und es ist nur konsequent, wenn als Erziehungsziel auch "Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker" genannt wird (Art. 28). Verallgemeinernd sagt Art. 37 Abs. 2 Verf. SachsenAnhalt (1992): "Das Bekenntnis zu einer kulturellen, ethnischen oder regionalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten."
421 Ende Juni 1992 ist eine Charta der Regional- und Minderheitensprachen im Europarat verabschiedet worden, die aber noch nicht von allen Mitgliedern unterzeichnet wurde (FAZ vom 27. Febr. 1993, S. 5). Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat im Februar 1993 ein Zusatzprotokoll zur EMRK vorgelegt, das Minderheitenrechte schützt (FAZ ebd.), u.a. das Recht auf eigene Organisationen, das Recht auf Sprache, auf Ausbildung in der Muttersprache und auf eigene Schulen, auf Beschwerde, auf ungehinderte Kontakte - auch über Staatsgrenzen hinweg - sowie auf lokale Selbstverwaltung. Verankert ist auch das Recht auf Nichtdiskriminierung und das "Verbot demographischer Veränderungen zu Lasten der Volksgruppen". 422 Vgl. Art. 25 Abs. 1 Verf. Brandenburg: "Das Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes wird gewährleistet. Das Land, die Gemeinden und Gemeindeverbände fördern die Verwirklichung dieses Rechts, insbesondere die kulturelle Eigenständigkeit und die wirksame politische Mitgestaltung des sorbischen Volkes." S. auch Art. 6 Verf. Sachsen (1992). 50 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Zuvor bestimmt Abs. 1 : "Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten stehen unter dem Schutz des Landes und der Kommunen." Eine besonders geglückte Wendung hat der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag von 1991 geschaffen, in dem die Brückenfunktion der Minderheiten betont wird 4 2 3 . Die osteuropäischen Verfassungsentwürfe tun sich in Sachen Minderheitenschutz freilich noch sehr schwer 424 , ganz abgesehen davon, daß die Akzeptanz etwaiger Schutzklauseln wohl erst in längeren Zeiträumen wachsen könnte Ungarn hat aber das schöne Wort von den Minderheiten als "staatsbildenden Faktoren" geschaffen (Abschnitt 68 Verf. 1949/89). Umso wichtiger wird die Aufgabe der Verfassungslehre und Völkerrechtswissenschaft, die Grundrechtsidee i.S. von "Gruppengrundrechten" fortzuschreiben. Dasselbe Ziel kann mittelbar auch von der anderen Seite, der Verstärkung von Regionalismus- oder (kon-)föderativen Strukturen her erreicht werden: Regionalismus und Föderalismus vermögen zum Teil die Funktion eines Minderheitenschutzes zu erfüllen. Das große Wort von der "kulturellen Demokratie" (Art. 2 Verf. Portugal) wird jedenfalls erst dann eingelöst, wenn der Verfassungsstaat nicht nur mit den politischen wechselnden Minderheiten im Spiel von Mehrheit und Opposition zurecht kommt, sondern wenn er seinen Bürgern für das Eigene gerade im kulturellen Bereich Raum gibt. Der Verfassungsstaat bewährt sich als "Kulturstaat" gerade dadurch, daß er den kulturellen Pluralismus von Minderheiten respektiert, ja fördert. Sogar das Menschenrecht auf Heimat 425 , das z.B. Art. 2 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953) und Art. 5 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992) anerkennen, "flankiert" letztlich den "status corporativus". Lernen wir
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' Dazu P. Häberle, Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 ff. Allgemein auch ders., Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (205 ff.) mit einem Textvorschlag. 424 Nachweise in meinem Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), S. 169 (202 ff.). Zur vorbildlichen Ausnahme Ungarn: E. Kussbach, Das ungarische Minderheitengesetz, 1993, FS Schambeck, 1994, S. 729 ff. Auf der europäischen Ebene wird der "Entwurf eines Minderheitenprotokolls zur EMRK" diskutiert, dazu gleichnamig: H. Klebes, EuGRZ 1993, S. 148 ff. 425 Dazu aus der Lit.: P. Saladin, Das Recht auf Heimat, Festschrift Kaufmann, 1989, S. 29 ff.; s. auch C. Tomuschat, Das Recht auf Heimat, FS Partsch, 1989, S. 183 ff. Zuletzt zum Thema: "Heimat" tiefdringend V. Havel, Auszüge aus der Rede im Deutschen Bundestag am 24. April 1997, in: Politische Studien, Heft 353 (48. Jg.), Mai/Juni 1997, S. 13 ff., insbes. 14-16.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen nicht zuletzt von Art. 66 Verf. Guatemala (1985) als "vorletztem" Beispiel zu diesem Thema: "Guatemala besteht aus verschiedenen ethnischen Gruppen, unter denen die Nachkommen der Maya hervorragen. Der Staat anerkennt, respektiert und fördert ihre Lebensformen, ihre Gebräuche, ihre Traditionen, ihre Formen der Organisation und den Gebrauch von eingeborener Tracht bei Männern und Frauen sowie den Gebrauch von Idiomen und Dialekten". Wieder einmal zeigt sich, daß die Textstufenentwicklung in Sachen Grundrechte weltweit Neues schafft und kein Grund zur eurozentrischen Selbstgefälligkeit besteht 426 . Vorbildlich wirkt zuletzt Art. 37 Verf. Litauen (1992): "Citizens who belong to ethnic cummunities shall have the right to foster their language, culture, and customs". Gleiches gilt für Art. 50 Verf. Estland (1992): "Ethnic minorities shall have the right, in the interests of their national culture, to establish institutions of self-government in accordance with conditions and procedures by the law on Cultural Autonomy for Ethnic Minorities." Zuletzt für Verf. Polen (1997), Art. 35 Abs. 1 und 2. (8) Neue Themen des Grundrechtsschutzes: Innovationsschübe und Rezeptionswellen Seit 1989 sind wir Zeugen und begrenzt Mitschöpfer eines neuen "Verfassungszeitalters". Scheinbar "klein" hat es in Gestalt der Schweizer Totalrevisionen von Kantonsverfassungen in den 60er Jahren begonnen, es folgten 1975 Griechenland und Schweden, 1976 Portugal, 1978 Spanien, 1979 Peru, 1983 die Niederlande, 1985 Guatemala, 1991 Kolumbien, 1996/97 Südafrika. Die Nachkriegsverfassungen Italiens (1947) und Deutschlands (1949) bezeichnen eine eigene Periode z.T. unter Rückgriff auf die "Paulskirche" (1849). Seit 1989 scheint sich die Verfassungsgeschichte zu beschleunigen, in Osteuropa und Ostdeutschland schießen neue Verfassungsentwürfe buchstäblich wie "Hundert Blumen" aus dem Boden. Vergleicht man Texte und Themen, so zeigt sich wie intensiv die Verfassunggeber voneinander lernen, teils einfach "abschreiben", teils kreativ "fortschreiben" und die sich weiterentwickelnde Verfassungswirklichkeit in Lehre und Rechtsprechung auf Texte und Begriffe
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Allgemein zu den Textstufen als Entwicklungswegen: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. Fünfter Teil VII Ziff. 1.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
bringen. Auch die punktuell verfassungsändernden Gesetzgeber der einzelnen Verfassungsstaaten stehen in diesem Produktions- und Rezeptionszusammenhang. Speziell auf dem Felde der Grundrechte besteht eine weltweite "Verfassungsbewegung" der Optimierung und Verfeinerung des Schutzes: materiell wie prozessual. Hinzu kommt das Anwachsen der grundrechtsbezogenen Staatsaufgaben vom Gesundheits- und Umweltschutz bis zum Schutz von Behinderten (jetzt Art. 3 Abs. 3 S. 3 GG) und Minderheiten. Nicht nur die allgemeinen Grundrechtslehren schlagen sich expandierend in Verfassungstexten nieder, etwa die Schutzpflichten, die leistungsstaatlichen Grundrechtsaufgaben, die Grundrechtsverwirklichungsklauseln (Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien), und die "Grundrechtsentwicklungsklauseln" (Art. 10 Verf. Estland 1992), vor allem auch die speziellen Grundrechtsthemen nehmen zu. Der Verfassungsstaat wird zum "Grundrechtsstaat", die Gesellschaft zur - verfaßten - "Grundrechtsgesellschaft". Insgesamt betrachtet: die typischen Verfassungstexte des Verfassungsstaates "altern" nicht nur, sie "wachsen" auch oder "verjüngen" sich. Zwei Beispiele können - neben dem Verbraucherschutz (z.B. Art. 46 Abs. 5 Verf. Litauen von 1992) - das illustrieren: zum einen das Thema des Schutzes alter Menschen, zum anderen das Thema "Sport". Es ist eine Pionierleistung der beiden iberischen Länder Portugal (Art. 72) und Spanien (Art. 50), den Altenschutz zum Verfassungsthema gemacht zu haben. Lateinamerikanische Länder wie Nicaragua (Art. 77 Verf. von 1986), Brasilien (Art. 230 Verf. von 1988) folgten. In Deutschland griff der Verfassungsentwurf des "Runden Tisches" in Ostberlin (1990) diese Idee auf 42 7 . Die Aktualität der Fragestellung erhellt aus der "schiefen Alterspyramide", aus der dem westlichen Jugendkult zuzuschreibenden Ausgrenzung des Alters, aus der deutschen Diskussion und Einführung (1995) einer allgemeinen AltersPflegeversicherung. Platz und Schutz alter Menschen zu definieren ist aus kulturanthropologischen Gründen ein Desiderat des Verfassungsstaates. Gerechtigkeit zwischen jung und alt, Respekt vor dem Alter, Nutzbarmachung seiner Erfahrungen sind Postulate, die Klassikertexte von Cicero bis Shakespeare ("King Lear"), von Hermann Hesse bis S. de Beauvoir, jetzt N. Bobbio nahelegen. Der Generationen- bzw. Verfassungsvertrag ist auch auf alte Menschen hin zu konzipieren. Dieselbe Sensibilität für neue Verfassungsthemen zeigt sich in Sachen Sport. Auch hier gingen Portugal (Art. 79) und Peru (Art. 38 Verf. von 1979), auch Guatemala (Art. 91 f. Verf. von 1985) bahnbrechend voraus, um dann ostdeut427
Nachweise in P. Häberle, Altern und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, FS Lerche, 1993, S. 189 (192 ff.), sowie unten VIII 13.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen sehe Landesverfassungen von 1992 (vgl. Art. 36 Verf. Brandenburg: "Sport ist ein förderungswürdiger Teil des Lebens") zu inspirieren 428 . (9) Neue Rechtsschutzformen: "Ombudsmänner", "Bürgerbeauftragte", "Menschenrechtsbeauftragte" Die z.T. rasante Entwicklung bzw. "Fortschreibung" der Grundrechte beschränkt sich nicht auf die inhaltliche Seite, sie zeigt sich auch im Bereich des prozessualen Rechtsschutzes. Gemeint ist nicht der Grundrechtsschutz im engeren Sinne, d.h. unabhängige Gerichte bis hin zur Verfassungsbeschwerde oder dem Amparo-Verfahren (vgl. Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 a GG; Art. 295 Verf. Peru von 1979; Art. 265 Verf. Guatemala von 1985). Gemeint ist der Grundrechtsschutz im weiteren, d.h. nicht-justiziellen Sinne. Neue Formen wie Ombudsmänner (oder -frauen) in Israel 429 und Polen, Bürgerbeauftragte, "Justizombudsmänner" wie in nordischen Staaten (z.B. Schweden), Menschenrechtsbeauftragte (z.B. Art. 274 Verf. Guatemala: "Prokurator fur Menschenrechte"), Volksanwälte (Art. 148 a bis j Österreichisches B-VG; Art. 54 Verf. Spanien) werden immer mehr zu einem selbstverständlichen Verfassungsthema. Das gilt auch für Ostdeutschland (Datenschutz- und Umweltbeauftragte, vgl. Art. 62 Verf. Sachsen-Anhalt, Art. 74 Verf. Brandenburg, Art. 57 Verf. Sachsen, alle 1992) und für Osteuropa (z.B. Art. 32 Β Verf. Ungarn von 1949/89). Jüngst etabliert die Verf. Südafrika (1996/97) in ihrem Kapitel 9 eine "Human Rights Commission" (Art. 184) und eine "Commission for the Promotion and Protection of the Rights of Cultural, Religious and Linguistic Communities" (Art. 185) - hier wird der korporative Grundrechtsschutz auf neue Weise effektiviert. Art. 89 bis 94 Verf. Namibia (1990) sieht einen "Ombudsmann" vor, der auch Beschwerden in Sachen Grundrechtsverletzung nachgeht. Diese Entwicklung ist zu begrüßen. Sie sichert die Grundrechte zusätzlich und sollte nicht auf die "Staatsbürger" wie wohl in Portugal (Art. 23 Verf. von 1976/92) begrenzt bleiben, sondern wie in Guatemala auf die Menschenrechte hin erweitert werden. Dies aus folgenden Gründen: Beauftragte wollen den Bürgern bzw. Menschen und Grundrechtsschutz Suchenden außerhalb der stark formalisierten, auch professionalisierten und bürokratisierten "Rechtswege" schützen. Was der justizielle Rechtsschutz oft nicht zu leisten vermag, kann der
428 Einzelheiten in: P. Häberle, Sport als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, FS Thieme, 1993, S. 25 ff.; zuvor: U. Steiner, Kulturpflege, in: HdbStR Bd. III, 1988, S. 1235 (1257 ff.). 429 Vgl. H. Klinghoffer, Verfassungsrechtliche Fragen der Rechtsprechung Israels, JöR 36 (1987), S. 219 (256 f.).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"informelle" korrigieren. Was die Petitionsfreiheit im bürgerlichen Rechtsstaat sein könnte, wird der Menschenrechtsprokurator im modernen Verfassungsstaat leisten; er kann überdies Anregungen für gesetzgeberische Verbesserungen geben (so die Pläne in Polen). M.a.W.: Die neuen Ombudsmänner sind eine glückliche Form des intensivierten "status activus processualis" 430. Inkurs A. : Sprachen und Sprachenfreiheit Mit Menschenwürde und Menschenrechten denkbar eng verknüpft sind: Sprachen und Sprachenfreiheit. Die Konturen der Problemfelder und Zusammenhänge, in denen Sprache ein Grundsatzthema der Verfassungslehre ist, sind folgende: Sprache ist ein zentrales Problem des Verfassungsstaates - erst neuerdings erkennbar und erkannt - auf der Seite der Grundrechte ("Sprachenfreiheit", d.h. das Recht zum Gebrauch der Muttersprache 431, ihr Menschenwürdebezug, ihre Verknüpfung mit anderen Grundrechten wie Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, kurz ihr Aspekt "kultureller Freiheit", sowie Sprache als Problem effektiven Rechtsschutzes). Sprache bleibt ein Problem des Staates, genauer des Verfassungsstaates, dessen Verfassung alle Staatlichkeit begründet. Dabei ist nicht in den Kategorien der "Allgemeinen Staatslehre" zu argumentieren, in der Verfassungstexte nur mehr oder weniger "äußere" Zutaten und Attribute existentiell immer schon vorhandener "Staatlichkeit" sind, vielmehr werden die Verfassungstexte als das genommen, was sie im Spektrum einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft sind: kristallisierter Ausdruck spezifisch verdichteter kultureller Verfaßtheit eines politischen Gemeinwesens432. Gemeinsame Sprache erscheint von dieser Seite aus als unentbehrliches kulturelles Identitätselement, als Integrationsaspekt i.S. der Lehre von R. Smend, als Teil des "vierten" Staatselements
4,0 Zu diesem Theorievorschlag P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat (1972), später in ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 ff. 431 Ebenso P. Kirchhof Deutsche Sprache, HdBStR Bd I (1987), S. 745 (765 f.). Zum ganzen schon oben Fünfter Teil X. 4,2 Nach Art. 5 der Sprachencharta des Freiburger Instituts (in der Schweiz), 1969, zit. nach F. Esterbauer, in: ders. u.a. (Hrsg.), Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, 1977, S. 223 (239 Fn. 6), ist die Sprache: "a) praktisches Werkzeug als Mittel der Aussage und der zwischenmenschlichen Beziehungen; b) intellektuelles und gemüthaftes Erbe von grundlegender geistiger und sittlicher Bedeutung und als solches ein Bestandteil der Menschheitskultur; Werkstoff, der literarische Kunstwerke möglich macht. Diese Merkmale sind allen Sprachen gemein, eignen, aber jeder von ihnen auf eine besondere und unverwechselbare Art."
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen i.S. von G. Dürig 4 3 3 . Die die sprachlichen Minderheiten und den Einzelnen in ihnen verstärkende Rolle des modernen Völkerrechts hilft beim Ausbau der grundrechtstheoretischen Sicht des Sprachenproblems, so sehr sie die klassische Staatlichkeit "relativieren". Gleiches gilt für neuere sprachphilosophische Ansätze, so selten sie "spezifisch verfassungsrechtlich" arbeiten: Sie wollen dem Bürger den Zugang zu seinem Recht erleichtern (Stichwort "Bürgerfreundlichkeit" der Rechtssprache, Verständlichkeit des Rechts, ein Postulat, das der Idee des Verfassungsstaates, eine Gemeinschaft "Freier und Gleicher" zu sein, entgegenkommt 434 ). Dabei kommt der Menschenwürdegrundsatz zum Tragen. Er ist zum gedanklichen Zuordnungspunkt für Sprache als Grundrecht des einzelnen gediehen. Der Menschenwürdebezug der Sprachenfreiheit bzw. der Menschenrechtscharakter des aus dem Gleichheitssatz sich ergebenden Diskriminierungsverbots aus Gründen der Sprache (z.B. Art. 3 Abs. 3 GG) macht sie zu einem heute in der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Gastarbeiter aktuellen Problem effektiven Rechtsschutzes. Diese Postulat, vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung entwickelt 435 , ist ein Anwendungfall des Grundrechts der Sprachenfreiheit. Der Rechtsschutz "greift" erst dann, wenn der Rechtssuchende sich seiner Sprache bedienen kann 436 . 433
G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff., 45). 4,4 "Klassikertext" ist die viel erwähnte, aber selten direkt zitierte Abhandlung von J.G. Herder "Über den Ursprung der Sprache" (1772), hier zit. nach: Herders Sprachphilosophie (1918), mit Sätzen wie: "Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden... Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!" (S. 7 f.), "Ich bilde mir ein, das Können der Erfindung menschlicher Sprache sei... von innen aus der menschlichen Seele, von außen aus der Organisation des Menschen und aus der Analogie aller Sprachen und Völker, teils in den großen Bestandteilen aller Rede, teils im ganzen großen Fortgange der Sprache mit der Vernunft so bewiesen..." (S. 23), "Folglich wird die Fortbildung der Sprache dem Mensch so natürlich als seine Natur selbst" (S. 29), "Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft: Die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig..." (31), "So wie das ganze menschliche Geschlecht unmöglich eine Herde bleiben konnte, so konnte es auch nicht eine Sprache behalten. Es wird also eine Bildung verschiedener Nationalsprachen..." (S. 37), "So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das menschliche Geschlecht ein progressives Ganzes ... ausmacht, so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung..." (S. 43), "So haben sich Künste, Wissenschaften, Kultur und Sprache in einer großen Progression Nationen hin verfeinert..." (S. 46 f.). 435
Dazu BVerfGE 49, 220 (225 ff.); 49, 252 (257); 51, 150 (156); 84, 34 (49). Problem des Dolmetschers, vgl. § 185 GVG, dazu P. Kirchhof, Deutsche Sprache, aaO., S. 768 f. Zum kostenlosen Beistand durch Dolmetscher nach Art. 6 EMRK: J. A. Fr owein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 1985, Art. 6 N. 139 (2. Aufl. 1996, N. 204). 436
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Sprachenfreiheit als individuelles Grundrecht erwächst zugleich aus dem Diskriminierungsverbot, wie es in vielen verfassungsstaatlichen Verfassungen ausdrücklich normiert ist (z.B. Art. 3 Abs. 3 GG). Das Diskriminierungsverbot wird zu einem Schutzauftrag. Im Ansatz und im konkreten Anlaß rein individualrechtlich, kann es im Ergebnis bzw. in der Addition korporative Qualität annehmen und zu einer "versteckten" Minderheitenschutzklausel werden. Der Durchbruch zum Verständnis der Sprache aus ihrer Rückbindung an die Menschenwürde ist dem BVerfG in E 64, 135 geglückt in den Worten (Leitsatz 2): "Das Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren verbietet es, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Angeklagten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen". Denn die Anklänge an die Menschenwürde-Judikatur bzw. die "Objekt-Formel" G. Dürigs sind ebenso unverkennbar (vgl. auch E 57, 250 (275)), wie der Geist von Art. 5 Abs. 2, Art. 6 Abs. 3 a EMRK unausgesprochen auf das Gericht gewirkt haben dürfte. Zum "status activus processualis" im Strafverfahren, das BVerfG spricht selbst von einem "Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen" (E 64, 135 (145)), gehört das "Äußern und Gehörtwerden" in der dem Betroffenen verständlichen Sprache. Dieses Justizgrundrecht auf Verstehen "und sich im Verfahren verständlich machen können" ist ein Element "praktischer Konkordanz" (K. Hesse) zwischen der im jeweiligen Verfassungsstaat geltenden Amtssprache einerseits und der grundrechtlich "wachsenden" Sprachenfreiheit des einzelnen in eben diesem Verfassungsstaat andererseits. Die Sprachenfreiheit hat Doppelcharakter: Im Verfassungsstaat ist sie einerseits ein Menschenrecht, in der Terminologie des GG ein "Jedermannsrecht"; andererseits schützt sie die sprachlichen Minderheiten 437 als Gruppen. In beiden Dimensionen erwächst Sprachenfreiheit aber auch aus der jedem Verfassungs-
437 Dazu für die Schweiz: G. Malinverni, Sprachenfreiheit, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bd. II 1967, N. 12. Vor allem in empirischer Hinsicht ergiebig ist der 1989 erschienene Materialienband zum Schlußbericht der Arbeitsgruppe zur Revision von Art. 116 BV (hrsg. vom Eidg. Departement des Innern, Bern 1989), mit Beiträgen u.a. zum "Bilinguisme en Suisse" und "Ausländische sprachliche Minderheiten in der Schweiz". Verdienstvoll ist das Gutachten von D. Thürer, Zur Bedeutung des sprachenrechtlichen Territorialprinzips für die Sprachenlage im Kanton Graubünden, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung Bd. 85 (1984), S. 241 ff, der u.a. von einem "grundrechtlich motivierten Minderheitenschutz" oder einem "kulturrechtlich erweiterten Grundrechtsverständnis" spricht (aaO., 268). Dies war bereits von P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 385 ff. (dazu auch D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 46 (67)) vorgeschlagen worden.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Staat immanenten Kulturstaatsklausel, sei diese jeweils geschrieben oder ungeschrieben. Eine kulturstaatlich erweiterte Grundrechtstheorie vollendet sich in der Sprachenfreiheit als einer kulturellen Freiheit. Die Sprachenfreiheit ist eine kulturelle Freiheit par excellence. Sie hat einen zentralen Bereich der Kultur, eine zentrale "Hervorbringung" von Kultur, nämlich die Sprache, zum Gegenstand und sie wirkt als unverzichtbares "Medium" für andere kulturelle Freiheiten, etwa die Pressefreiheit, die Religions-, Vereins-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. In ihnen ist sie "mitgedacht", "ungeschrieben" enthalten; sie dient diesen anderen Freiheiten. Sie bezieht sich auf alle Sprach-Arten von der "Hochsprache" und Feiertagssprache über die Alltags- bis zur Fachsprache 438. Das Grundrecht auf eigene Sprache ist Ausdruck des Grundrechts auf eigene Kultur; freilich ist es in "praktische Konkordanz" mit dem Prinzip "Deutsch als National-, Staats- bzw. Amtssprache" zu bringen. Es steht zwar nicht geschrieben im GG, ist ihm aber immanent zu entneh439
men Der kommunikative Aspekt der Sprachenfreiheit deutet auf eine Dimension, die das Sprachenproblem "im" Verfassungsstaat oft hat, auf den Minderheitenaspekt. Und hier sind es wiederum geschriebene Texte, z.T. des innerstaatlichen Verfassungsrechts, z.T. des Völkerrechts, des Völkervertragsrechts und der internationalen Menschenrechtserklärungen, die als "Vehikel" fur die verfassungsstaatliche Theorie wirken und in Sachen Sprache sehr handfeste Belege liefern. Das individuelle Grundrecht der Sprachenfreiheit, Element des Prinzips "Menschenwürde", besitzt von vorneherein einen Gemeinschaftsbezug. Das "geschriebene und gesprochene Wort" braucht einen Adressaten: Er findet sich in der verfaßten Gemeinschaft des jeweiligen Verfassungsstaates (als "Landes-", "Staats-" oder "Nationalsprache" im Singular oder Plural, und hier oft allzu selbstverständlich genommen) und er findet sich in der Gemeinschaft sprachlicher Minderheiten. M.a.W.: Gerade die sprachlichen Minder-
4 ,8 Dazu im Blick auf die Präambeln meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1981, S. 211 ff. S. auch oben Fünfter Teil X.- Es ist höchst fragwürdig, wenn einige Verfassungsstaaten heute dazu übergehen, ausländische Sprachelemente zu verbieten. So hat Frankreich 1994 für wissenschaftliche Publikationen das Französische zur Pflicht gemacht. Jüngst verbietet in der Slowakei ein "Gesetz über die Staatssprache" die Verwendung von Amerikanismen (Nordbayer. Kurier vom 4./5./Ó. Januar 1997, S. 4). Das rührt an die Autonomie der Wissenschaften, trifft deren kulturelle Freiheit und wirft im Falle Frankreich die Frage auf, ob dies nicht gegen Europäisches Recht verstößt. Solcher "Sprachpurismus durch Zwang" läßt sich auf der heutigen Entwicklungsstufe auch nicht durch die Staatssprachen-Artikel rechtfertigen. 439 Dazu P. Kirchhof, Deutsche Sprache, aaO., S. 761 f.
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heitsrechte sind Ausdruck des "status corporativus" kultureller Freiheit 440 . Mag das Minderheitsrecht noch keineswegs in allen Verfassungsstaaten zu einem individuellen Freiheitsrecht ausgereift bzw. erstarkt sein, so sehr es verfahrensrechtliche Schutzgarantien i.S. des "status activus processualis" gibt 4 4 1 : Der Schutz sprachlicher Minderheiten erweist sich jedenfalls als mögliche Vorform eines voll ausgebauten Grundrechts der Sprachenfreiheit, wie es die Schweiz schon anerkennt. Die völkerrechtlichen, in internationalen Menschenrechtserklärungen normierten Diskriminierungsverbote "aus Gründen der Sprache" sind dabei ein den einzelnen und die jeweiligen Sprachminderheiten, denen er angehört, stärkendes Text-Element: auf einem möglicherweise noch langen Weg zum innerstaatlich überall geltenden Grundrecht der Sprachenfreiheit als constituens des Verfassungsstaates. Erst auf dem Hintergrund der "allgemeinen" Theorie zur Sprachenfreiheit im Verfassungsstaat läßt sich die Grundrechtsdogmatik im einzelnen ausbauen. Wie sonst gilt die Maxime des "personalen Schutzdenkens", aus dem die einzelnen Dimensionen des je und je fortzuschreibenden optimalen Grundrechtsschutzes folgen 442 . Gemäß dem Prinzip "multidimensionales Grundrechtsverständnis" sind verschiedene "Seiten" der Sprachenfreiheit als Grundrecht zu unterscheiden bzw. zu entwickeln: neben dem status negativus die objektivrechtliche, die leistungsstaatliche (greifbar in Verfassungsaufträgen zur Förderung sprachlicher Vielfalt oder zur Garantie der Unterrichtung schulpflichtiger Gastarbeiterkinder in der Muttersprache 443), die Dimension des "status activus processualis" 444 und die des "status corporativus" 445 . Viele neuere Verfassungen beginnen mit Men440 Zum status corporativus s. auch meine Wesensgehaltgarantie, aaO., 3. Aufl., 1983, S. 376 ff. sowie oben VII Ziff. 5. 441 Vgl. die Volksgruppenbeiräte in Österreich; F. Matscher, Die Stellung der Minderheitensprachen in Österreich, in F. Koja/G. Stourzh (Hrsg.), Schweiz-Österreich, Ähnlichkeiten und Kontraste, 1986, 103 ff.; L. K. Adamovich/B.-C. Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1984, S. 353 ff.; L. K. Adamovich/B.-C. Funk/G. Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, 1997, S. 107. 442 Zu diesem Ansatz P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (69 ff.); ders., Wesensgehaltgarantie, aaO, 3. Aufl., 1983, S. 369 ff. 443 Dazu mein Beitrag, in: FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff. 444 Vgl. dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff., 121 ff.). 445 Zu den "neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet des internationalen Volksgruppenrechts", T. Veiter, FS Ermacora, 1988, S. 415 ff. Eine Typologie bei P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 56 f.: "Gleichbehandlungsrechte" (z.B. Verbot diskriminierender Maßnahmen im Blick auf die Sprache) und "positive Schutzrechte" (z.B. Zulassung der Minderheitensprache im Verkehr mit Gerichten und Ämtern). Unter den fünf wichtigsten Typen von Schutzrechten der Minderheiten nennt
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schenwürdeklauseln 446, ohne schon die Sprachenfreiheit als Grundrecht textlich zu erwähnen, sie ist indes von der Verfassungslehre als solches zu erarbeiten. Viele Verfassungen beginnen aber auch nach wie vor mit klassischen Sprachen-Artikeln 447 . M.E. bleibt der (vorgezogen oder systematisch später piazierte) "staatliche" Sprachen-Artikel eine Grundlagen-Aussage über den jeweiligen Verfassungsstaat. Er steht in "praktischer Konkordanz" zur Sprachenfreiheit in all ihren Dimensionen (vom individuellen Abwehrrecht über die leistungsstaatliche Seite, z.B. der staatlichen Subventionierung - Sprachförderung als Kulturaufgabe -, bis hin zum "status corporativus"). Es kommt zwar zu Spannungen zwischen der staatlichen "Sprachhoheit", etwa der Garantie einer oder mehrerer Nationalsprachen wie in der Schweiz; doch sind diese Spannungen so unvermeidbar und doch lösbar wie andere Spannungen zwischen Individuum bzw. Bürger einerseits und verfaßter res publica andererseits. Wie in einem "Mikrokosmos" behandelt Verf. Bern von 1993 alle Sprachenprobleme vorbildlich: Diskriminierungsverbot (Art. 10 Abs 1), Sprachenfreiheit (Art. 15), Landes- bzw. Amtssprachen (Art. 6), spezieller Sprachen-Artikel für den Berner Jura (Art. 5, um ihm "seine Identität zu bewahren, seine sprachliche und kulturelle Eigenart zu erhalten und an der kantonalen Politik aktiv teilzunehmen"). Sogar an die Zusammensetzung des Personals in der Zentralverwaltung des Kantons ist gedacht (Art. 92 Abs. 3). Im übrigen hat die Verfassungslehre der heutigen Textstufenentwicklung alle jene Theorien für die Sprache fruchtbar zu machen, ggf. auch zu kombinieren, die von der klassischen und neueren (allgemeinen) Staatslehre zu den Staatssymbolen, zur Staatspflege, zu den staatlichen Integrationsvorgängen entwickelt wurden 448 . Nur hat dies in der spezifischen Weise einer als er unter Hinweis auf den "Capotorti-Bericht" der UNO (57) an erster Stelle die "Sprachgebrauchsrechte" (von Diskriminierungsverboten bis zu weitgehenden Ansprüchen auf Mehrsprachigkeit in Ämtern, öffentlichen Einrichtungen, topographischen Bezeichnungen, Gesetzen, Verlautbarungen). Ebd. 59 f. auch zu den zwei Prinzipien zur Identifizierung von Volks- und Sprachminderheiten und zu den Rechtsschutzeinrichtungen (Gerichte, Ombudsmann). 446 Dazu der Überblick in P. Häberle, Menschenwürde, aaO., HdBStR Bd. I (1987) 2. Aufl. 1995, S. 818 f. Zuletzt Präambel sowie Art. 30 Verf. Polen (1997). 447 Vgl. die Belege in meinem Beitrag: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme, in: FS Pedrazzini (1990, S. 105 ff, bei und in Fn 11 ff.- Zuletzt Art. 6 Verf. Südafrika (1996/97) mit vorbildlicher Offenheit für und Toleranz gegenüber anderen Sprachen. Ähnlich Kap. 2 Ziff. 4 Verf. Kwazulu Natal (1996). In der Verf. Namibia (zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff.) figuriert der Sprachen-Artikel ebenfalls "vorn" (Art. 3, der zugleich eine Toleranzklausel enthält). S. auch Art. 3 Verf. Nigeria (1996). 448 Vgl. G. Dürig, Der deutsche Staat..., aaO., S. 45: "Die vorhandene Gemeinsamkeit der Sprache als einheitsbildendes und -erhaltendes Bindemittel". R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), aaO., 3. Aufl. 1994, S. 170: Gebiet, Farben
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"Kulturwissenschaft" gewagten Verfassungslehre zu geschehen: d.h. in enger Anlehnung an die höchst aussagekräftigen "positiven" Verfassungstexte, die in ihrer Idealtypik vergleichend "zusammengelesen" und in die kulturellen Kontexte eingeordnet werden. Verfassungsstaatliche Sprachenartikel, die sich auf eine oder mehrere "Landessprachen" festlegen, tun dies um des Verfassungsstaates als Sprachengemeinschaft willen (bei allen Vorbehalten im Interesse des Minderheitenschutzes). Sie gründen den Verfassungsstaat in seiner Tiefendimension, in die die "gemeinsame Sprache aller Bürger" reicht: neben Rationalem hat hier auch das Irrationale seinen Platz. Die "Staatssprache" ist insofern ein Element des Verfassungsstaates "als Kultur", geschichtlicher Ertrag und immer neu gebrauchtes Medium der kulturellen Freiheit von generationenlang zusammenlebenden Bürgern 449 . Nicht zuletzt dank der "Spracheneinheit" und ggf. auch "Sprachenvielfalt" kann sich der Bürger mit einem bestimmten Verfassungsstaat identifizieren, kann er viele Grundrechte "leben". Heute jedenfalls sind Staatssprachen-Artikel nicht einseitig als Ausdruck von "Staat" zu deuten, vielmehr als Ausdruck kultureller, kristallisierter, "geronnener" Freiheit der Bürger. Diese Ebene der Kultur ist es, die gedanklich und realiter die Sprache als Grundrecht bzw. Ausdruck der Menschenwürde und die Sprache als "geistiges Band" eines Verfassungsstaates zusammenführt: so wie dies Feiertage, Nationalhymnen, Flaggen und Gedenkstätten450 leisten können. In dieses Gesamtbild fügen sich die neueren Verfassungstexte ein, die die Sprache zum Gegenstand von Staatsaufgaben machen, sei es ganz allgemein als Förderung "sprachlicher Vielfalt" 4 5 1 , als Subventionierung der Sprachen im Unterricht, als Schutz und Förderung sprachlicher Minderheiten oder sonst. Was von der Seite des Staates als Ausdruck seiner Kulturstaatlichkeit, eines "offenen", pluralistischen Kulturkonzepts in einem speziellen Bereich, eben der Sprache, erscheint, stellt sich aus der menschenwürdebezogenen Grundrechtsperspektive als "leistungsstaatliche Seite" dar. und Wappen, Staatsform und Staatscharakter: "Reihe der integrierenden Symbolisierungen einer unformulierbaren Wertfülle". T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 538: Symbole, "in denen sich am augenfälligsten die Einheit und Zusammengehörigkeit aller Teile des Gemeinwesens manifestieren". 449 Vgl. auch P. Kirchhof Deutsche Sprache, aaO, S. 761: "Die deutsche Sprachgemeinschaft ist zugleich Kulturgemeinschaft". 450 Dazu P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; zur Flagge als Symbol: R. Bieber, Die Flagge der EG, Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 59 ff.; H. Hattenhauer , Geschichte der deutschen Nationalsymbole, 1990.- Vgl. auch F. Esterbauer, Europa der Regionalstaaten und Regionen, in F. Esterbauer u.a. (Hrsg.), Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, 1977, S. 223 (226): "Die Sprache - und vor allem die Volkssprache - ist in der Regel das stärkste Mittel einer individuellen und volklichen Selbstverwirklichung". 451 Privatentwurf Kölz/Müller von 1984, Art. 2 (3. Aufl. 1995).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen So wie oben der verfassungsstaatliche Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Demokratie hergestellt wurde, ist im folgenden die kommunale Selbstverwaltung als spezielle Ausprägung der "Bürgerdemokratie" zu kennzeichnen. Inkurs B. : Die kommunale Selbstverwaltung als spezifische Demokratie-Form - eine Textstufenanalyse (1) Zu den vielen Ausprägungen des Demokratieprinzipes im Verfassungsstaat gehört die kommunale Selbstverwaltung. Sie hat, verfassungsgeschichtlich und verfassungsvergleichend betrachtet, sogar eine besondere Aussagekraft bei der Frage, wie es um die "Demokratie" steht, wie viel Demokratie i.S. von W. Brandt (1969) "gewagt" wird und ob Demokratie-Defizite zu beobachten sind. Gewiß, jede Generation und jeder konkrete Verfassungsstaat muß je neu die Inhalte - und auch die Grenzen - der Demokratie als Inbegriff einer "guten" Odnung erkunden. Und hier gibt es nach beiden Seiten Fortschritte und Rückschritte: Fortschritte etwa, wenn in neueren Parteien-Artikeln "innerparteiliche Demokratie" 452 gefordert wurde (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) oder wenn die demokratischen Minderheitsrechte bzw. die parlamentarische Opposition (vgl. Art. 23 a Verf. Hamburg), die Rechte der Untersuchungsausschüsse (Art. 72 Verf. Brandenburg) sowie die Informationspflichten der Regierung erweitert werden (Art. 50 Verf. Sachsen), Fortschritte auch, wenn verfassungstheoretisch um demokratische Grundrechte gerungen wird 4 5 3 . Rückschritte, auch verfassungstextlicher Art, kann es geben, wenn pauschal von "wirtschaftlicher Demokratie" die Rede ist (so Präambel Verf. Hamburg von 1952) oder das "sozialistische Gesellschaftssystem" zitiert wird (so Präambel Verf. Portugal von 1976/92) oder sonst die Grenzen privater Lebensbereiche von einer dynamisch verstandenen Demokratisierung her überrollt werden (Der Mensch lebt aber nicht von Demokratie allein!). Hingegen kann die neue Textstufe von der "culture of democracy established by this Constitution" (Art. 234 Verf. Südafrika von 1996/97) begrüßt werden. Denn sie deutet an, daß Demokratie kulturell "wachsen", d.h. eingeübt werden muß, psycholo452
S. auch die neue Textstufe, die sich im EGV-Parteien-Artikel abzeichnet: Art. 138 a EG-Vertrag: Faktor der Integration Europas, Beitrag zur Bildung eines "europäischen Bewußtseins" sowie den "politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen".- Vgl. noch Art. 159 Verf. Angola (1992): "parteienpluralistische Demokratie". 453 Vgl. zur älteren Lehre von den Grundrechten als "funktionelle Grundlage der Demokratie": P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO., 1. Aufl. 1962, S. 17 ff. (3. Aufl. 1983). Neuerdings W. Höfling, Demokratische Grundrechte - Zum Bedeutungsgehalt und Erklärungswert einer dogmatischen Kategorie, in: Der Staat 33 (1994), S. 493 ff.
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gisch-edukatorisch bei den Menschen und rechtlich in vielen einzelnen Institutionen und Verfahren, Prinzipien und Rechtssätzen. Die kommunale Selbstverwaltung hat in ihrem "Gang" durch die Verfassungen vieler Zeiten und Räume mannigfache Wachstumsstufen durchlaufen und kulturelle Text-Kristallisationen hervorgebracht. Eine Auswahl einschlägiger Texte kann dies belegen, wobei neuerdings auch die relevanten Europatexte in den Wirkungszusammenhang der Texte von der übernationalen Seite her eingreifen und die Produktions- und Rezeptionsprozesse intensivieren - so wie dies etwa in Sachen Minderheitenschutz die Europaratsempfehlung 1201 (umfassendes Selbstbestimmungsrecht für ethnische und nationale Minderheiten) jüngst in Bezug auf den ungarisch-rumänischen Grundlagenvertrag geleistet hat 454 . So wie innerverfassungsstaatliche Minderheitsschutzklauseln auf beiden Seiten (intensiv: Ungarn, Rumänien schwächer) mit übernationalen europäischen Texten eine Symbiose eingehen und sich gegenseitig mit Leben erfüllen, so gibt es viele andere Bereiche, in denen bestimmte Sachprobleme durch Texte verschiedener Geltungsebenen, Ranghöhen und Herkunft erfaßt, oft auch bereichert werden. Man denke an Grundrechte oder an die Themenund Textkarriere einer Institution wie der des "Ombudsmanns" (Kap. 12 § 6, 8 Verf. Schweden 1975/1986, Art. 148 a bis f: B-VG Österrreich: "Volksanwaltschaft", Art. 138 e EG-Vertrag Maastricht I, Art. 142 Verf. Angola von 1992). (2) Zunächst ein Blick in die Werkstatt der deutschen Verfassungsgeschichte und -gegenwart: Schon im Verfassungsentwurf der Paulskirche (1849) ist hier ein großer Textschub gelungen, in Art. X I § 184, wo es heißt: "Jede Gemeinde hat als Grundrechte ihrer Verfassung" z.B. die Wahl ihrer Vorsteher, die selbständige Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten, Öffentlichkeit der Verhandlungen als Regel." Durch die Wortwahl "Grundrechte" ist die kommunale Selbstverwaltung nicht nur (auch) auf die Seite der Freiheit bzw. Gesellschaft gerückt, begonnen ist vielmehr eine Entwicklung, die auf eine Weise in der Kommunalverfassungsbeschwerde des Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 b GG, Art. 53 Ziff. 8 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (vorläufig) endet. Im übrigen ist - wenn hier einmal ein großer "Zeitsprung" in Sachen Textstufenentwicklung gewagt sei - eine besonders glückliche Textvariante gelungen: in dem Satz (A'rt. 11 Abs. 4 Verf. Bayern von 1946): "Die Selbstverwaltung dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben" - ohne daß dabei die Hierarchie-Vorstellung bildlich übernommen wird: Denn in der Demokratie steht der Bürger "oben" bzw. er, seine Menschenwürde, bildet die
454 Dazu FAZ vom 12. Dezember 1996, S. 9: "Ungarisch-rumänischer Grundlagenvertrag ratifiziert".
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen kulturanthropologische Basis. Staat und Recht sind abgeleitetes Menschenwerk, nur instrumental. Kommunale Selbstverwaltung ist die Demokratie "vor Ort", im kleinen überschaubaren Raum, überdies durch das Subsidiaritätsprinzip legitimiert; sie ist u.a. durch die Geltung des Mehrheitsprinzips mit Grenzen aus dem Minderheitsschutz ("Legitimation der Herrschaft durch die Mehrheit des Volkes, gleiche Chance und Schutz der Minderheiten") 455 und die "Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses" gekennzeichnet, deren Sicherung einer der "wichtigsten demokratischen Funktionen der Grundrechte" ist 4 5 6 . Diese Kennzeichnungen gelten auch für die kommunale Selbstverwaltung. Hinzu kommt eine spezifisch kulturelle Sicht ihres Wirkens, eingefangen im Begriff "Kommunales Kulturverfassungsrecht" 457 und entwickelt kraft des Gedankens, die kulturellen Freiheiten des Bürgers und entsprechende kulturelle Politikentwürfe entfalteten sich spezifisch auf der sog. "untersten" Ebene, eben den Kommunen. Wie intensiv die "Textbewegungen" in Sachen "Kommunale Selbstverwaltung" sind und wie sehr sie an der Verfassungswirklichkeit der ganzen res publica teilhaben, möge an zwei jüngeren Entwicklungen dargestellt werden. Die neuen Verfassungen in Ostdeutschland haben Neues erfunden: So, wenn sie den Gemeinden und Gemeindeverbänden in Gestalt ihrer kommunalen Spitzenverbände ein Anhörungsrecht einräumen, bevor durch Gesetz oder Rechtsverordnungen allgemeine Fragen geregelt werden, die sie unmittelbar berühren (Art. 97 Abs. 4 Verf. Brandenburg, s. auch Art. 84 Abs. 2 Verf. Sachsen) - im Grunde wurde hier eine gewachsene Praxis getextet! Wenn alle ostdeutschen Verfassungen ein Anhörungsrecht bei Gebietsänderungen fordern (vgl. Art. 90 Verf. Sachsen-Anhalt), so ist die Judikatur des BVerfG (E 50, 195 (202 f.)) zu einem gemeindeutschen Verfassungsprinzip "geronnen". Im übrigen sind viele Themen neu in die Verfassungen aufgenommen worden, etwa zur kommunalen Finanzausstattung (Art. 93 Abs. 1 Verf. Thüringen; Art. 73 Verf. MecklenburgVorpommern) bzw. zum Finanzausgleich (Art. 88 Abs. 2 Verf. Sachsen455
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 69 ff. 456 K. Hesse, aaO. Weitere Lit. zur kommunalen Selbstverwaltung: J. Burmeister, Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, 1977; P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, S. 306 ff.; G. Püttner, Kommunale Selbstverwaltung, HdBStR IV (1990), S. 1171 ff. Materialreich: A. von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, FS von Unruh, 1983.- Tiefdringend "Zum staatsrechtlichen Prinzip der Selbstverwaltung": E. Schmidt-Assmann, Ged.Schrift Martens, 1987, S. 249 ff.; jetzt H. Hill, Das nächste Jahrhundert - ein Jahrhundert der Kommunen, in: K. Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung, 1997, S. 345 ff. 457 Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979.
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Anhalt) oder zur kommunalen Verfassungsbeschwerde desverfassungsgerichte (z.B. Art. 100 Verf. Brandenburg) 458 .
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Die kommunale Selbstverwaltung bzw. ihre textlichen Ausgestaltungen werden heute aber auch von Europa her beeinflußt und zwar auf mehreren Ebenen. Im Bereich des Europarechts im engeren Sinne haben die Beschlüsse von "Maastricht I" (1992) Stichworte geliefert, etwa die "Bürgernähe" (Art. A Abs. 2) oder die Einräumung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen (Art. 8 b EGV), die innerverfassungsstaatlich umgesetzt werden mußten (z.B. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG). Auch der neue "Ausschuß der Regionen" (Art. 198 a bis c EGV) bezieht "Vertreter der lokalen Gebietskörperschaften" ein und ringt insoweit um mehr Demokratie "von unten her". M.a.W.: Es entsteht ein (gemein)europäisches Kommunalverfassungsrecht der EU-Staaten, das die Kommunen nicht nur auf der Europaebene, sondern letztlich auch innerstaatlich stärkt. Auf der Ebene des Europarechts im weiteren Sinne sind es Texte, die in alle Verfassunggebung und viele Verfassungsänderungen in Sachen Europa ausstrahlen: die Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 198 5 4 5 9 . Im Ganzen: Die Europäisierung aller nationalstaatlichen Rechtsgebiete und -Institutionen hat auch und besonders die Kommunen erfaßt. (3) Rückt man die kommunale Selbstverwaltung wie angedeutet in die Mitte verfassungsstaatlicher Themen wie Freiheit und Demokratie, auch Europa und sieht man in ihr zugleich eine Ausprägung vertikaler Gewaltenteilung (die sie in die Nähe der Regionen bzw. Bundesländer rückt), vergegenwärtigt man sich, daß und wie die Kommunen Kulturpflege vor Ort betreiben sollen (vorbildlich Art. 83 Abs. 1, 140 Abs. 1 Verf. Bayern; Art. 34 Abs. 2 und 3, 458 Die Schweiz, die durch ihr vitales Gemeindeleben charakterisiert ist und die Demokratie in den Kommunen auch via "Volksrechte" praktisch lebt und macht, hat eine Vielzahl eigener Textvarianten zu bieten: vgl. neuerdings etwa Art. 107 bis 120 Verf. Bern (1993), wobei die Gemeinden bei den öffentlichen Aufgaben wie Umwelt-, Landschafts- und Heimatschutz in Verantwortung genommen sind (Art. 31, 32), auch bei kulturellen Aufgaben (z.B. Art. 42 Abs. 2, 43, Art. 48, 49). Wie stark ein Kanton von der Gemeinde aus denkt, zeigt sich z.B. in Art. 3 Abs. 1 Verf. Appenzell A.Rh. (1995): "Das Gemeindebürgerrecht ist Grundlage des Landesrechts". Art. 2 Abs. 3 S. 1 ebd. verankert sogar das Subsidiaritätsprinzip zugunsten der Gemeinden (Art. 100 bis 107). Der Abschnitt "Gemeinde" handelt fast alle Themen des heutigen Standards ab, bis hin zur "Kooperation unter sich, mit dem Kanton und allenfalls auch mit außerkantonalen Gemeinden".- Ältere Textvarianten in Art. 110 bis 112 Verf. Jura (1977) und §§104 bis 108 KV Aargau ( 1980), beide zit. nach JöR 34 ( 1985), S. 424 ff. 459 Aus der Lit.: F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989; M. Nierhaus (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung, Europäische und Nationale Aspekte, 1996; K. Stern, Europäische Union und kommunale Selbstverwaltung, FS Friauf, 1996, S. 75 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen 35 Verf. Brandenburg; Art. 14 Abs. 2, 16 Verf. Mecklenburg-Vorpommern; Art. 29 und 30 Verf. Thüringen), so stellen sich einige verfassungspolitische Fragen "guter" Normierungen gerade in einer als Kulturwissenschaft gewagten vergleichenden Verfassungslehre. Zunächst ist zu erwägen, an welchem systematischen Ort die kommunale Selbstverwaltung zu regeln ist. Bayern ist hier insoweit vorbildlich, als es die Gemeinden schon im ersten Grundlagen-Abschnitt behandelt (Art. 11, ebenso Art. 3 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern) und sie später in den eher technischen Abschnitt "Die Verwaltung" einrückt (Art. 83). Dies wird den Kommunen eher gerecht als die Integrierung in den Kontext "Die Staats- und die Selbstverwaltung" (so Art. 137 Verf. Hessen) oder nur in einem Abschnitt "Die Verwaltung" (so Verf. Brandenburg: Art. 97; Niedersachsen: Art. 57; Art. 91 ff. Verf. Thüringen, 84 ff. Verf. Sachsen, auch Art. 102 Verf. Griechenland von 1975). Mitunter gibt es Beispiele fur andere Kontexte: So piaziert Verf. Dänemark (1953) die Kommunen in § 82, am Ende des Grundrechtsteils; Verf. Schweden (1975/80) rückt sie schon anfangs in das Kapitel "Grundlagen der Staatsform" ein (§ 7). Verf. Luxemburg wählt ein eigenes Kapitel (1868/1996): "Die Gemeinden" (Art. 107 und 108). Neben der systematischen Verortung steht die Frage, welche kleine oder größere kommunale "Themenliste" die Verfassungen behandeln. Hier findet sich eine große Variationsbreite. Die Verf. Portugal (1976/92) regelt die "Örtliche Gemeinschaftsgewalt" in einem ungewöhnlich ausfuhrlichen Kapitel (Art. 237 bis 254, 263 bis 265), wobei neben den politischen Parteien auch andere Gruppen Vorschläge einreichen dürfen (Art. 246 Abs. 2), was in den älteren klassischen Verfassungen nicht ausdrücklich gesagt wird. Auch Verf. Spanien (1978/1992) normiert die "Gemeindeverwaltung" (Art. 140 bis 142), rückt sie aber etwas lieblos in den Titel VIII. "Die territoriale Gliederung des Staates", so daß das grundrechtlich-personale Moment nicht zum Ausdruck kommt. Die sonst eher spröde Verf. Niederlande (1983/1995) behandelt die Gemeinden zusammen mit den Provinzen und anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften sehr ausführlich (Art. 123 bis 136) - ähnlich Art. 162 bis 166 Verf. Belgien (1994). Demgegenüber behandeln ältere Verfassungen die kommunale Selbstverwaltung nur äußerst knapp (z.B. § 51 Verf. Finnland von 1919/95 oder Art. 72 Verf. Frankreich von 1958). Das B-VG Österreich (1920/94) befaßt sich demgegenüber mit den Gemeinden sehr ausfuhrlich (Art. 115 bis 120). (4) Als Tendenz kann die Aussage gewagt werden, daß die neueren ausländischen Verfassungen das Thema kommunale Selbstverwaltung stärker aussi Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
bauen und differenzieren: es wird ihnen "wichtiger". Und sie sollten darin bestärkt werden. Kommunale Selbstverwaltung ist eben keine bloße Frage "territorialer Gliederung" (so aber Art. 99 bis 105 Verf. Tschechien, 1992, auch Art. 88 bis 90 Verf. der Republik Guinea (1990)) oder "Verwaltung". Als Grundlagenfrage gehört sie im Ansatz schon in den Grundlagenteil verfassungsstaatlicher Verfassungen (so z.B. Art. 7 Verf. Ukraine von 1996 mit einem höphst inhaltsreichen späteren eigenen Kapitel (Art. 140 bis 146) sowie Art. 1 Ziff. 6 Verf. Kwazulu Natal (1996), vor allem aber sollte sie teils auch bei (kulturellen) Grundrechten und Staatszielen (z.B. Verf. Bayern) oder im Kontext der Demokratie (so Bayern) berücksichtigt werden. Aus der Bestandsaufnahme als Istzustand darf m.E. auch ein durchdachter "Sollzustand" bzw. eine verfassungspolitisch programmatische Handreichung gefolgert werden. Dazu sei abschließend neuestes Material ausgebreitet, daß optimale Regelungen, da und dort auch Defizite nachweisen können. Die Verf. Estland (1992) beinhaltet ein eigenes Kapitel "Local government" (Art. 154 bis 160), gegenüber dem Verfassungsentwurf vom September 1991 460 fällt sie jedoch dadurch auf, daß sie nicht mehr das Thema nationale Minderheit, die in einer Gemeinde die Mehrheit ist, hier (Art. 124 des Entwurfs) regelt, sondern etwas abgeschwächt im Grundrechtskatalog: eine interessante entstehungsgeschichtliche "Binnenwanderung" von Problem und Text (wie beim Eigentum 461 ). Art. 120 Abs. 1 Verf. Litauen von 1992 462 schreibt den neuen Satz: "The State shall support local government". Auch Verf. Bulgarien (1991) denkt an die Kommunen (Art. 135 bis 141), während Rumänien typischerweise noch weniger sagt (Art. 119 und 120). Ein Blick auf die Verfassungsentwürfe Polens 463 führt zu neuen Textstufen: So lautet Art. 163 Abs. 1 Verfassungsentwurf Seym (1991): "Local government shall be the basic form of the organization of public life in the commune" (ebenso die Verfassung von 1997 in Art. 164 Abs. 1), während der Verfassungsentwurf des Senats (1991) wenig freundlich nur von "Colletivités Territoriales" spricht (Art. 121 bis 124). Der jüngste Verfassungsentwurf der "Solidarität" (Juni 1994) beschäftigt sich in 5 Artikeln mit dem "Local self government" (Art. 103 bis 107) und er (er)fmdet ein neues Thema, nämlich die grenzüberschreitende lokale Zusammenarbeit in den Worten des Art. 107: "Territorial self-governing unions shall have the right to associate themselves
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Beides zit. nach JöR 43 (1995), S. 306 ff. bzw. S. 263 ff. Dazu unten VIII Ziff. 7 (Inkurs). 462 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 360 ff. 463 Zit. nach JöR 43 (1995), S. 184 ff. Vgl. jetzt Art. 16 Abs. 2 und Art. 163 bis 172 Verf. Polen (1997). 461
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen within the borders of the State as well as to cooperate with local communities abroad. The cooperation of self government shall not infringe integrity of the Republic of Poland". Mit einem großen Sprung hat sich dieser Entwurf damit an die Spitze kooperativer Verfassungsstaatlichkeit auf kommunaler Ebene gestellt, während er in anderen Themen eher traditionell bleibt. Auch dieses Beispiel zeigt einmal mehr, daß Textstufenentwicklungen nie als "große Kulturrevolution" in der Weise gelingen (können), daß alle Regelungsbereiche total neu revidiert werden; vielmehr kommt es immer wieder zu einer Mischung von neuen, mitunter kühnen Textstufen, und traditionellen Textensembles - Konsequenz des Gebots optimaler Mischung von Tradition und Fortschritt, von Innovation und Konservierung. Wie verschieden ein (werdender) Verfassungsstaat seine "Kernsache" der "kommunalen Selbstverwaltung" regeln kann, zeige abschließend ein Vergleich zwischen der Verf. Rußlands (1993) einerseits, Südafrikas (1996/97) andererseits. Rußland spricht zwar schon in Art. 3 Abs. 2 die "Organe der örtlichen Selbstverwaltung" kurz an, im übrigen nimmt es sich des Themas ganz am Schluß vor den Verfassungsänderungen und den Übergangsbestimmungen in vier Artikeln an (Art. 130 bis 133). Immerhin ist von der Berücksichtigung der "historischen und der örtlichen Traditionen" die Rede (Art. 131 Abs. 1). Bei Gesetzesänderungen soll "die Meinung der Bevölkerung" berücksichtigt werden (Art. 131 Abs. 2). Demgegenüber nimmt sich die Verfassung Südafrika des "Local Government" ausfuhrlich und genau an (Kapitel 7, Art. 151 bis 164). Hier findet sich auch das neue Stichwort "Municipalities in cooperative government". Auch im Finanzverfassungsrecht ist der Kommunen gedacht (Art. 227, 230). Die Verfassung der Provinz Kwazulu Natal (1996) zeichnet sich durch einen inhaltsreichen Aufgaben-Katalog für die Kommunen aus (Kap. 12 Ziff. 5). Darin findet sich die Umweltschutzpolitik ebenso wie lokale Kulturpolitik, Straßenbau und Wirtschaftsförderung. Das derzeit wohl umfangreichste Kapitel in Sachen kommunale Selbstverwaltung eröffnet diese Verfassung mit dem großen Postulat "Local government is a distinct level of government. Its purpose is to: (a) enhance democracy and development; empower civil society to participate in local self government." Damit ist das große Verfassungsthema "kommunale Selbstverwaltung" in Südafrika dort angelangt, wo es historisch im Deutschland des Freiherrn vom Stein herkommt: bei der (Bürger)Gesellschaft bzw.Demokratiel 464
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Ein erstaunlich reichhaltiges Kapitel zur kommunalen Selbstverwaltung enthält auch Art. 176 bis 207 Verf. Uganda (1995). Schwächer: Art. 145 bis 148 Verf. Angola (1992).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Nach diesen zwei "Inkursen" wird die Zeit reif für ein anderes zentrales Thema einer kulturwissenschaftlich gearbeiteten Verfassungslehre: die Erziehungsziele und Orientierungswerte.
2. Erziehungsziele und Orientierungswerte, Menschenrechte als Erziehungsziele, "Verfassungspädagogik" a) Erziehungsziele (1) Erziehungsziele als konsensbildende Elemente im Verfassungsstaat Erziehungsziele und Orientierungswerte dienen spezifisch als Verfassungstexte im weiteren Sinne 465 . Sie sind konsensbildende Elemente im Verfassungsstaat und bilden ein Stück seiner kulturellen Identität und Öffentlichkeit. Erziehungsziele sind z.B. Toleranz und Menschenwürde (bzw. "Menschenbild"), Rechtlichkeit, Rechtschaffenheit und Verantwortungsfreude, Weltoffenheit und Pflichtgefühl (Grundpflichten): vgl. Art. 131, 136 Abs. 1 Verf. Bayern, Art. 26 Verf. Bremen, aber auch Art. 1 und 20 Abs. 1 ("Republik") GG oder 12 GG (Berufsfreiheit, Erziehungsziel "Arbeit" bzw. "Arbeitsethos"), von ihrer "anderen Seite" her interpretiert: Solche "pädagogische Verfassungsinterpretation" ist ergiebig z.B. für die Sozialethik in Wirtschaftsartikeln deutscher Länderverfassungen (z.B. Art. 27, 30, 38 Verf. Hessen von 1946, Art. 51, 5256 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947), etwa als Grundpflichten der Unternehmer. Erziehungsziele bilden Basisbedingungen für die Verfassung der Freiheit, sie sind materielles Verfassungsrecht und werden in erzieherischem Trägerpluralismus teils elterlich-privat, teils staatlich-schulisch, teils gesellschaftlichöffentlich interpretiert und verwirklicht. Erziehungsziele bilden eine Art kulturelles "Glaubensbekenntnis" des Verfassungsstaates. 465 Zum folgenden ausf. P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, FS Hans Huber, 1981, S. 211 ff. Aus der grdlg. Literatur: H.-U. Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen ..., 1979; ders., Verfassungsrechtliche Determinanten der inhaltlichen Gestaltung der Schule, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 12 (1977), S. 104 ff.; vgl. auch schon C. Starck, Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 9 (1975), S. 9 ff; T. Oppermann, Gutachten C zum 51. DJT, 1976, S. 94 ff.; E.-W. Böckenförde, Elternrecht - Recht des Kindes - Recht des Staates, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 14 (1980), S. 54 ff; K. Mollenhauer, Vergessene Zusammenhänge, Ober Kultur und Erziehung, 1984; zuletzt M. Bothe/A. Dittmann, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995), S. 7 ff.; P. Häberle, Erwartungen an die Pädagogik, in: A. Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik?, 1996, S. 142 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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In einigen Verfassungsstaaten Europas, aber auch darüber hinausgreifend in den Entwicklungsländern, finden aufschlußreiche Wachstums- und Entwicklungsprozesse über das Medium von Rezeptionen statt. Im Vordergrund stehen Deutschland hier (auch Portugal und Spanien) - Entwicklungsländer wie Peru (alte Verfassung) und Guatemala dort. Ein gemeineuropäischer Bestand an verfassungstextlichen Erziehungszielen ist (noch?) nicht erkennbar - insoweit sei dieses Thema auch als Beispiel dafür behandelt, daß es Felder gibt, wo für den Typus Verfassungsstaat als solchen "Fehlanzeige" besteht, während einige Mitglieder seiner "Familie" sehr prägnante - und in sich konsequente - Strukturelemente entwickelt haben. "Klassikertext" in Sachen Erziehungsziele ist Art. 148 Abs. 1 und 2 WRV von 1919: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden." Deutsche Landesverfassungen nach 1945 arbeiten zu diesem Thema besonders phantasievoll und erfinderisch: So finden sich "die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker" (Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen, 1947), die Erziehung zur "Achtung vor der Wahrheit" (Ziff. 3 ebd.) oder zur "freien demokratischen Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung" (Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947). Hatte Verf. Portugal 1976 in Art. 73 Abs. 2 normiert: "Erziehung zur Entfaltung der Persönlichkeit, ... zur demokratischen Teilhabe" (s. auch Art. 74 Abs. 2: gegenseitiges Verständnis, Toleranz), so hat Verf. Spanien diesen Gedanken in Art. 27 Abs. 2 schöpferisch fortentwickelt (Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten) und damit auf der iberischen Halbinsel ein Stück werdenden regionalen europäischen Verfassungsrechts geschaffen. Diese iberische Textrezeption in Portugal und Spanien ist ein Vorgang, der mit Entwicklungen in Peru und Guatemala einerseits, Deutschland andererseits in Zusammenhang zu bringen ist und verfassungstheoretisch höchstes Interesse verdient, stehen wir doch vor einer Kontinente überwindenden "Sprungrezeption", die nach Art eines "schubweisen Stoffwechsels" auf Europa zurückwirken kann. Die Internationale des Verfassungsstaates wird so beglaubigt, der "Familienzusammenhang" unter den Verfassungsstaaten intensiviert. Die (alte) Verf. Peru (1979) bestimmt in Art. 22 Abs. 3: "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch." Art. 72 Verf. Guatemala (1985) gelingt eine weitere Differenzierung, die unverkennbar an den europäischen Ländern Maß nahm:
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur. Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte." 466 Reiches Textmaterial haben jüngst die Verfassungen der fünf neuen deutschen Bundesländer geschaffen. In ihren Erziehungszielen bekennen sie sich durchweg zur "Verantwortung für Natur und Umwelt" (z.B. Art. 28 Verf. Brandenburg, ähnlich Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen). Wenn unter der Rubrik der Staatsaufgaben der "Schutz von Natur und Umwelt" einen besonders hohen Stellenwert erreicht (vgl. Präambel und Art. 39 f. Verf. Brandenburg, Art. 31 Verf. Thüringen), so ist der Zusammenhang zwischen Erziehungszielen und Grundwerten evident. (Ähnliches manifestiert sich in bezug auf die Grundsätze des Bildungswesens, z.B. "Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Umwelt", also den "pädagogischen" Umweltschutz, und den juristischen Umweltschutz in Art. 42 Abs. 1 bzw. Art. 31 Verf. Bern von 1993.) (2) Erziehungsziele als Basisbedingungen der Verfassung des Pluralismus Erziehungsziele erweisen sich als Basisbedingungen für die Verfassung des Pluralismus und der Freiheit. Die Verfassung des Pluralismus ist auf die Freilegung erzieherischer Gehalte angewiesen: Die Offenheit von Gesellschaft und Verfassung kann nur auf dem Hintergrund erzieherischer bzw. kultureller "Substanzen" durchgehalten werden. Beides bedingt einander, so wie Freiheit und Bindung zusammengehören. Freiheitliche Demokratien bedürfen der inneren sachlichen "Stütze" durch grundlegende Erziehungsziele, die sich auf Menschenrechte, Toleranz 467 , Solidarität, Verantwortung, Humanität, Arbeit usw. richten. Sie bleiben prekär, "formell" und damit gefährdet, wenn sie sich nur rechtlich im herkömmlichen Sinn verfaßt sehen und nicht auch die Tiefe und Breite der "Verinnerlichung in Freiheit" ihrer Grundgehalte, die ihre Verfas-
466 Dazu mein Beitrag: Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, VRÜ 23 (1990), S. 225 ff. sowie Vierter Teil I, Inkurs A. Art. 16 Verf. Guinea-Bissau: "Die Erziehung dient der Bildung des Menschen." 467 Sachgerecht kommt die Toleranz als positives Erziehungsziel im Schulgesetz Hamburg vom 17. Okt. 1977 (GVB1. I 1977, S. 297) zum Ausdruck. § 2 Abs. 2 Ziff. 5: "Die Schule soll durch Erziehung dem Schüler helfen, Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz zu gestalten". Das ist mehr als das gängige Gebot "bloßer" Rücksichtnahme auf Andersdenkende. Es ist positive Hinführung zu Toleranz - die übrigens in Ziff. 7 ebd. durch das Ziel der Erkenntnis und Bewältigung von Konflikten sachgerecht ergänzt wird.
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sungen juristisch vorzeichnen, pädagogisch-praktisch bewirken und auf ihrem kulturellen Hintergrund tagtäglich leben 468 . Die Verfassung muß zunächst einmal zu sich selbst erziehen. Der "Wille zur Verfassung" (K. Hesse) verlangt erzieherische Vorleistungen in der Schule z.B. Verfassungsverständnis, staatsbürgerliches Mindestwissen, Beurteilungsmaßstäbe. Die "Basisbedingungen" für Pluralismus müssen jeder Generation neu vermittelt werden. Damit wird nicht etwa "Verfassungstreue" im Sinne einer religion civile von allen Bürgern erwartet: Die Anforderungen an öffentliche Bedienstete auf alle zu übertragen, wäre systemwidrig. Die offene Gesellschaft freier Verfassungsinterpreten, die ja auch die offene Gesellschaft der Verfassunggeber ist 4 6 9 , würde geschlossen, das Möglichkeitsdenken als pluralistisches Alternativendenken würde Einbahnstraße und Sackgasse, der Bürger verlöre seine Freiheit. Die Verfassung des Pluralismus trägt nämlich auch die Grenzen des Erziehungsauftrages des Staates in sich selbst. Ihre Erziehungsziele sind inhaltlich ebenso begrenzt wie die Mittel zu ihrer Durchsetzung: Erziehungsdiktaturen, die sich im Besitz absoluter Wahrheit wähnen, sind verfassungswidrig. Selbst ein grundlegendes, in den "Toleranzartikeln" der Länderverfassungen normiertes Erziehungsziel wie Toleranz findet Grenzen, wie sie auch aus den "Pluralismusartikeln" folgen 470 ; auch muß die Verfassung hinsichtlich ihrer eigenen Erziehungsziele selbstkritisch sein (können). (3) Erziehungsziele als Medien einer "Verfassungspädagogik" Der pädagogische Auftrag des GG fordert nicht so sehr Vermittlung theoretisch-juristischen Wissens - das bleibt Sache der "zunftmäßigen" Juristen. Es geht um Vermittlung der Verfassung als Rahmen für und Aussage über Erziehungsideale: Die Verfassung ist Schulbuch und Lehrbuch. Ihre Wirklichkeit be-
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Vgl. auch die deutsche "Grundwerte-Diskussion" der 70er Jahre, dokumentiert bei G. Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977. Sie wäre längst wieder zu eröffnen. 469 Dazu mein Bemer Gastvortrag "Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung" (1977), jetzt in: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 182 ff. 470 Dazu mein Freiburger Gastvortrag "Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß" (1978), in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 121 ff. Zuletzt Art. 2 Verf. Angola (1992), Art. 1 Verf. Äquatorial-Guinea (1991); Präambeln Verf. Benin (1990) und Verf. Tschad (1996) sowie Art. 15 Verf. Ukraine (1996).
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ginnt in den Klassenzimmern: Die Schule der Verfassung ist die Schule! 471 Was sie leistet, kommt der Verfassungskultur zugute. Dieser pädagogische Weg zum GG als gelebter Verfassung kann in seiner mittelbar juristischen Relevanz und Fernwirkung kaum überschätzt werden. Schule und Universität, Berufsschule und Erwachsenenbildung formen den Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne 472 : In dem Maße, wie er selbstbewußt wird, kann er aktiver Verfassungsinterpret werden. Der Zusammenhang zwischen den Lehrplänen bzw. Curricula und der Verfassung wird denkbar eng: Im weiten Sinne geht es um "Verfassungsunterricht". "Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele" - das ist weniger juristische Bindung denn pädagogischer Auftrag: Verfassung als Sozialethik ("Verfassungspädagogik")473. Die Verfassung ist in ihrer Bedeutung für die Pädagogen und ihre Aufgaben zu erschließen - dies kommt auch den Juristen zugute. Dieses "pädagogische" Verständnis der Verfassung ist eine Konsequenz der Lehre von den Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne: ein Charakteristikum für die offene Gesellschaft und ihre sozialethischen Fundamente. Verfassung ist eben nicht nur eine rechtliche Ordnung für Juristen (und Politiker), sie ist wesentlich auch "Leitfaden" für Nichtjuristen: für den Bürger 474 . Die ("Wieder"-)Gewinnung der erzieherischen bzw. sozialethischen Dimension der Verfassung wird um so wichtiger vor der stets aktuellen Herausforderung totalitärer Staaten und "geschlossener Gesellschaften" (auch nach 1989). Dem Arsenal staatsideologischer Waffen des Marxismus (in China, Nordkorea und Kuba) etwa muß die Verfassung freiheitlicher Gemeinwesen die nicht erzwingbare Tugend ihrer Bürger, die Fehlbarkeit ihrer demokratischen Prozesse und Institutionen und die "Anfälligkeit" ihrer Gesellschaften
471 Der Bürger ist mit den "Grundzügen der Verfassung" vertraut zu machen, fordert Art. 70 Verf. Hamburg vom 7. Jan. 1921 (zit. nach 0. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder, 1926). 472 Verfassungs-Lehre für Erwachsene ist - mittelbar und langfristig - auch ein Stück Verfassungserziehung der Kinder. 471 Treffend ist Art. 36 Verf. Rheinland-Pfalz formuliert: "Lehrer kann nur werden, wer die Gewähr dafür bietet, sein Amt als Volkserzieher im Sinne der Grundsätze der Verfassung auszuüben." Diese Qualifikationsvoraussetzung des Lehrers ist Ausdruck des positiven Zusammenhangs von Schule und Erziehung mit den Grundsätzen der Verfassung. 474 Vgl. R. Smends Hinweis auf die berufsethische Seite der Grundrechte: "Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" (1933), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1993, S. 309 ff. (315 ff.).- H.-U. Evers, aaO., in: Essener Gespräche Bd. 12 (1977), S. 149 (Diskussion), hält es "zumindest im Ansatz" verfassungsrechtlich für zulässig, daß die Verfassung die Erziehung zu Bürgertugenden vorschreibt.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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entgegenstellen. Dabei hilft ein Verständnis der Verfassung als eines differenzierten, offenen Topoi-Katalogs von Erziehungszielen, -wegen und -mittein. Der Wandel im Selbstverständnis eines Gemeinwesens wird sich auch im Wandel seiner Erziehungsziele niederschlagen. Nicht zufällig sind die Lehrpläne nach 1945 wesentlich umgestaltet worden, sind seit den späten sechziger Jahren die Lehr- und Lerninhalte bis hin zur Juristenausbildung so umstritten 4 7 5 ; so wurde im Westen und später auch in Ostdeutschland (seit 1990) der Umweltschutz zum Erziehungsziel. Der Toleranzgedanke wird heute z.B. stärker betont als in den fünfziger Jahren 476 . Die Verfassung gibt dabei oft nur Direktiven 477 . Vieles muß der politische Prozeß leisten, nicht nur dort, wo der demokratische Gesetzgeber sich der Erziehungsziele in Gesetzesform annehmen muß, sondern auch in der haushaltsrechtlichen Ausweisung von Erziehungszielen, z.B. in der Förderung staatsbürgerlicher Erziehung 478 . 475 Soweit ersichtlich hat sich das BVerfG erst relativ spät grundsätzlich mit ausdrücklichen Erziehungszielen befaßt: in den drei Entscheidungen zur christlichen Gemeinschaftsschule vom 17. Dezember 1975 (BVerfGE 41, 29, 65 bzw. 88) und dem Sexualkundebeschluß vom 21. Dez. 1977 (BVerfGE 47, 46). Erste Grundlagen hatte es im Förderstufenurteil vom 26. September 1972 (BVerfGE 34, 165) gelegt. 476 Toleranz wird beim BVerfG in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Verfassungsprinzip: im schulischen Erziehungsbereich (vgl. E 41, 29 (51 f., 63), 65 (78), 88 (108), bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Art. 4 GG (E 24, 236 (249), 33, 23 (32)), im politischen Bereich (als Kennzeichen der freiheitlichen Demokratie (vgl. E 5, 85 (206 f.); s. auch E 47, 198 (228)) und im Verhältnis zu anderen Staaten und ihren Rechtsordnungen (E 31, 58 (75 ff.). Ihre dogmatische Einordnung ist noch nicht voll geglückt. Das BVerfG begründet sie früh (E 5, 85 (206 f.)) als ein "tragendes Prinzip der freiheitlichen Demokratie", später auch aus den Grundrechten der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 3 und 4 Abs. 1 GG (vgl. E 33, 23 (32); für Ehegatten vgl. E 19, 226 (238)). In den Begründungszusammenhang sollten aber auch die toleranzbezogenen (schulischen) Erziehungsziele der jetzt 16 deutschen Länderverfassungen als gemeindeutsches Verfassungsrecht eingebracht werden (i.S. einer Wirkung des Art. 28 GG von "unten nach oben"). S. auch BVerfGE 46, 266 (268): "grundgesetzliches Toleranzgebot". 477 Daraus folgen Grenzen: Einer "Verfassungstheologie" ist zu wehren. Erziehungsziel bleibt der Bürger in einer freiheitlichen Gesellschaft, d.h. Erziehungsziele sind keine Offenbarungen, sondern wie die Verfassung selbst kritisierbar, wandelbar und offen. Es gibt verschiedene Bereiche der Gestaltungsfreiheit: den verfassungsändernden Gesetzgeber, den demokratischen Gesetzgeber, die Ministerialbürokratie im Schulbereich und vor allem den Lehrer in seiner begrenzten pädagogischen Freiheit (funktionellrechtlicher Gesichtspunkt). Auch das BVerfG hat pädagogische Aufgaben: in seiner behutsamen Erziehung zur Verfassung. 478 S. etwa Allgemeine Richtlinien für den Bundesjugendplan vom 3. November 1970 (GMB1. Nr. 36/1970): Allgemeine Grundsätze Ziff. 4: "Der Bundesjugendplan will dazu beitragen, daß junge Menschen ihre Persönlichkeit frei entfalten, ihre Rechte wahrnehmen und ihrer Verantwortung in Gesellschaft und Staat gerecht werden".- Im Durchführungserlaß für den 32. Bundesjugendplan (Haushaltsjahr 1980) vom 15. November 1979 (GMB1. 1979 Nr. 33) heißt es unter Teil II Ziff. 1 : "Politische Bildung soll
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (4) Erziehung der Jugend: ein Auftrag der "Verfassung als Vertrag"
Erziehung der Jugend ist Verfassungsauftrag. Er wird arbeitsteilig zwischen Eltern, Staat bzw. Schule und anderen Erziehungsträgern nach Wahl (wie den Kirchen) erfüllt und auch in den sachlichen Zielen unterschiedlich wahrgenommen. Diesen differenzierten Aufgaben von der Erziehung der Kinder bis zur Bildung der Erwachsenen kann sich die Verfassung nicht entziehen. Sie normiert sie um ihres eigenen Fortbestandes willen. Sie garantiert sich als freies Gemeinwesen in der Generationsfolge der " Verfassung als Vertrag" über ihre Erziehungsziele - in Appellen an die Jugend als neuen Vertragspartner. Ziele wie Toleranz, Demokratie, Menschenwürde, Völkerversöhnung oder "Geist der Demokratie" sind offene Direktiven für einen Prozeß, bei dem wechselseitige, immer neue Verständigung zwischen den Generationen möglich sein muß: Erziehung ist keine Einbahnstraße! Nur so kann der allgemeine Wertewandel aufgefangen werden. Erziehungsziele sind auf eine Weise "Vertragsziele": im Blick auf den Generationenvertrag zwischen jung und alt. Der Erzieher muß verstehen, daß eine junge Generation ihre Zukunft zunächst einmal selbst suchen will. Daß sie auch im kulturellen Erbe der Vergangenheit liegt, verkörpert in entsprechenden Erziehungszielen, muß er plausibel machen. Erziehungsziele sind zugleich in vielem ein vorweggenommener Entwurf des Menschen, der zukünftig die Verfassung leben und gestalten soll. So gesehen begegnet sich die Verfassung in den Erziehungszielen selbst. Ihre Gegenwart trifft in pädagogischer Gestalt auf ihre Zukunft! Zu wählen ist der verfassungsrechtliche Ansatz: Vor der in den 70er Jahren politisch geforderten "Wiedergewinnung des Erzieherischen" (H. Maier) steht die spezifische verfassungsrechtliche Gewinnung des Erzieherischen. Nicht die historische Staatsaufgabe "Erziehung" ist das Wesentliche 479 , vielmehr braucht die demokratische Verfassung der pluralen offenen Gesellschaft Erziehung und Bildung in Staat und Gesellschaft um aller willen: auch im Interesse der Gesellschaft und ihrer Gruppen - man denke nur an "Toleranz" oder "Solidarität". Mag früher eher der Gedanke nationaler und staatlicher Einheit den Erzie-
hungen Menschen Kenntnisse über Gesellschaft und Staat vermitteln, die Urteilsbildung über politische Vorgänge und Konflikte ermöglichen, zur Wahrnehmung der eigenen Rechte und Interessen ebenso wie der Pflichten und Verantwortlichkeiten gegenüber der Gesellschaft befähigen sowie zur Mitwirkung an der Gestaltung der freiheitlichdemokratischen Lebens- und Staatsordnung anregen." 479 Zur "Staatsaufgabe Schule" als Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses: Chr. Starck, Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, Essener Gespräche 9 (1975), S. 9 (16 f.). S. auch R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 7 Rdnr. 28 ff.
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hungsauftrag der staatlichen Schule legitimiert haben 480 , für das GG als Beispiel des "Typus" Verfassungsstaat ist umfassender und tiefer anzusetzen: bei der Verfassung als Basis aller Pluralität und Ausdruck kultureller Identität eines Volkes, die gerade in Erziehungszielen gespiegelt wird 4 8 1 : Sie prägen das Rechtssystem als Kulturordnung. Gewiß dürfen Erziehungsziele nicht überschätzt werden: Sie garantieren noch keine verfassungskonforme Zukunft. Die erzieherische Kraft von Verfassungsbestimmungen kann gleichwohl nicht wenig bewirken. Juristische Techniken wie Verfahren und Grenzen der Verfassungsänderung (Art. 79 Abs. 3 GG) erscheinen demgegenüber eher als sekundär-formal. (5) Erziehungsziele durch Verfassungsvergleichung Der Typus "Verfassungsstaat" ermöglicht es, aus der Normierung von ausdrücklichen Erziehungszielen (vor allem in den deutschen Ländern nach 1945 und dann in den neuen Bundesländern seit 1992) interpretatorische Konsequenzen zu ziehen: Jene bringen nicht die Beliebigkeit "provinzieller" Verfassunggeber, sondern eine Sachnotwendigkeit des Verfassungsstaates als Typus und eine Stufe seiner kulturellen Entwicklung zum Ausdruck. Er beruht auf bestimmten Erziehungszielen als mehr oder weniger ungeschriebener Voraussetzung seiner selbst. Wo Erziehungsziele textlich nicht als solche formuliert sind, werden sie der Sache nach praktiziert und gelebt: formell unterhalb der Verfassungsebene, der Sache nach als Teil der (geschriebenen) Verfassung. Die Lehre vom Verfassungsstaat darf sich daher der ausdrücklichen Erziehungsziele als Formulierungshilfe bedienen. Verfassungsvergleichung (zwischen GG 480 Vgl. etwa G. Holstein, Elternrecht, Reichsverfassung und Schulverwaltungssystem, AöR nF 12 (1927), S. 187 (251 f.); E.-W. Böckenförde, Elternrecht..., Essener Gespräche Bd. 14 (1980), S. 54 (84 f.). 481 Der Zusammenhang von Erziehungszielen (in der Schule) und Integrationsfunktion der Verfassung wird erkennbar bei Chr. Starck, Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, Essener Gespräche Bd. 9 (1975), S. 9 (24). Selbst J. Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, Essener Gespräche Bd. 11 (1977), S. 92 (112 ff.) entnimmt dem Verfassungsrecht (ohne Textbeleg) ein "einigermaßen konturiertes Leitbild für die staatsbürgerliche Erziehung": Erziehung zum eigenverantwortlichen Aktivbürger. Das Menschenbild im Kontext der Erziehungsziele zu aktivieren, lehnt er freilich (vorschnell) ab.- H. Maier, Zur inhaltlichen Gestaltung der Schule aus der Sicht von Politik und Verwaltung, Essener Gespräche Bd. 12 (1977), S. 11 (29), kommt dem obigen Text nahe, wenn er sagt, "daß der Staat selbst dort, wo es nicht ausdrücklich formuliert ist, die Aufgabe hat, die künftigen Bürger zu friedlichem Zusammenleben in völkerverbindender Gesinnung zu erziehen". Th. Oppermann, Gutachten zur Schule im Rechtsstaat, 51. DJT 1976, Teil C 1 (C 35), stellt eine Beziehung zwischen Demokratie und der "Vielzahl demokratiebezogener oberster Ziele in den Landesverfassungen" her.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft und Länderverfassungen, unter diesen, aber auch zwischen GG und neuen Verfassungen wie Griechenland und Spanien) wird zur Verfassungsinterpretation, die - trotz aller Individualität der je verschiedenen Verfassungen - grundlegende Erziehungsziele "freilegt". Zu diesen Interpretationsaufgaben gehört auch ein Vergleich zwischen den ausdrücklich postulierten Erziehungszielen und Normen mit herkömmlich juristischen Gehalten. Er offenbart weitgehende sachliche Entsprechungen, die für eine pädagogisch orientierte Verfassungsinterpretation fruchtbar gemacht werden können. Das gilt zunächst für die Entsprechung innerhalb einer Verfassung. Die Bayer. Verfassung (1946) z.B. enthält zahlreiche grundlegende juristische Demokratieartikel (z.B. Art 2,4, 5, 14 usw.): entsprechend ist in Art. 131 ausdrücklich gesagt, die Schüler seien "im Geiste der Demokratie" zu erziehen. Das Ziel einer Erziehung "im Sinne der Völkerversöhnung" 482 findet sein juristisches Pendant in Art. 84 Bayerische Verf., wonach die "allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts als Bestandteil des einheimischen Rechts" gelten 483 . Als letztes Beispiel sei das Verhältnis von grundrechtlicher Freiheit und den Rechten anderer (Toleranz) erwähnt: Art. 101 Bayerische Verf. lautet: "Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Gesetze und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet"; in Art. 98 Bayerische Verf. ist die öffentliche "Sittlichkeit" als allgemeine Grundrechtsschranke normiert. Die Ziele des Art. 131 Bayerische Verf. formulieren sachliche Entsprechungen: In den Begriffen "Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreude" ist die Vorbereitung des jungen Bürgers auf die Verantwortung angesprochen, die ihm die Rechtsordnung zunehmend abverlangt 484 . Ähnliche Entsprechungen erweist ein Vergleich zwischen verschiedenen Länderverfassungen (als "innerdeutsche Verfassungsvergleichung"). Die Verf. Rheinland-Pfalz (1947) formuliert z.B. in Art. 40 Abs. 3 S. 2 wegweisend ein kulturelles Teilhaberecht: "Die Teilnahme an den Kulturgütern des Lebens ist dem gesamten Volke zu ermöglichen." In ihrem Katalog von Erziehungszielen 482
Ähnlich z.B. Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz (1947). Art. 84 Bayerische Verf. entspricht Art. 25 GG, der die "Völkerrechtsfreundlichkeit" bzw. Offenheit des GG wesentlich begründet. Dazu BVerfGE 31, 58 (75 f.), 92, 26 (48) sowie K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des GG für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 46 f. 484 Ähnlich ist die Toleranz in der Hessischen Verfassung "juristisch" und "pädagogisch" verankert: juristisch, insofern in Art. 2 Abs. 1 die Rechte anderer geschützt sind, "pädagogisch", insofern "Achtung und Duldsamkeit", "Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit" als Erziehungsziele aufgeführt werden (Art. 56 Abs. 4 Verf. Hessen). Entsprechendes ist im Umweltschutz nachweisbar (z.B. Art. 10 bzw. 101 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992)).- Neu: Art. 31 Verf. Angola (1992): Grundrechtspflichten des Staates. 483
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(Art. 33) fehlt eine Entsprechung. Sie findet sich in Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen (1947): "Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker." Bremen kennt seinerseits keine Entsprechung in "juristischer" Hinsicht. Es gewährt nur ein "Recht auf Bildung" (Art. 27) und kulturelle Chancengleichheit (Art. 2 Abs. 1). Eine synoptische Betrachtung von pädagogischen Erziehungszielen und juristischen Verfassungssätzen in verschiedenen (Länder-)Verfassungen fuhrt so dazu, daß diese voneinander lernen können: auf dem kulturwissenschaftlich erarbeiteten Hintergrund des Typus "Verfassungsstaat" 485. Diese kulturwissenschaftliche Erarbeitung von Erziehungszielen aus den Länderverfassungen bzw. die "verfassungsimmanente" Ergänzung der pädagogischen "Tugendkataloge" darf schließlich als Beispielsmaterial fur das GG selbst gelten. Ihm können "hintergründig" erzieherische Aussagen entnommen werden, die Arbeit an den Landesverfassungen mag als eine Art "Generalprobe" gelten: Wo die Länderverfassungen keine erschöpfenden Aussagen zu den Erziehungszielen treffen, darf auf das GG als Formulierungshilfe zurückgegriffen werden. Grundprinzipien der Bundesverfassung werden auch in den Schulen der Länder zum Erziehungsziel, ohne daß die Kulturhoheit der Länder beeinträchtigt wäre: Bundesverfassung und Länderverfassungen umschreiben erst gemeinsam das Verfassungsrecht des "kulturellen Bundesstaates"** 6. Die juristische Menschenwürde-Garantie in Art. 1 Abs. 1 GG z.B. findet in vielen Länderverfassungstexten eine pädagogische Entsprechung in ausdrücklichen Erziehungszielen 487. Sie wird aber auch als solche das Erziehungsziel 485 Zu fragen wäre auch, ob kulturelle Teilhabeforderungen in Gestalt von bloßen Erziehungszielen wie Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen auch ein juristisches Argument bei der Anerkennung von kulturellen Teilhaberechten (z.B. Art. 17 Guinea-B.) sein können. 486 Dazu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 53.- Die Suche nach gemeinem deutschen (Kultur-)Verfassungsrecht ist auch insofern keineswegs "platonisch", als ja manche Landesverfassungen keine ausdrücklichen Erziehungsziele kennen, so etwa Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Durch die drei Wege der "innerdeutschen Verfassungsvergleichung", der Suche nach "pädagogisch-sozialethischen" Gehalten "hinter" den juristischen Verfassungsnormen des jeweiligen Landes und der nach der erzieherischen Vor- und Rückwirkung der Texte des GG (Art. 1, 24-26 usw.) läßt sich ein Grundbestand an Erziehungszielen ermitteln. Bei der schrittweisen Erarbeitung von Kulturstaatsklauseln kann die Kulturstaatsjudikatur des BVerfG (dazu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 35, 49) auf solche Hilfen zurückgreifen. Zum Problem in Andeutung ("gemein-bundesdeutsche Grundlage", "gemeinsamer Rechtsbestand der Länder"): U. Scheuner, in: Essener Gespräche Bd. 12 (1977), S. 139 (Diskussion); s. auch P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 200 f., 208, 211 ff. 487 Vgl. z.B. Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen.- In den Erziehungszielen der Verf. Saarland (Art. 26 und 27) und Hessen (Art. 56) ist die Menschenwürde nicht eigens aufgeführt. Da Art. 1 Verf. Saar das Recht auf Anerkennung der Menschenwürde aber
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auf deutschem Boden.- Das verfassungshohe Gut "Friede" (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 26 Abs. 1 GG) sollte von GG wegen im Streit über den erzieherischen Stellenwert des Konfliktgedankens beachtet werden, der ebenfalls - relativ - im GG angelegt ist: in seinem Demokratie- und Öffentlichkeitsprinzip, in seinem Begriff des Politischen 488 . Einige Landesverfassungen bekennen sich zu "Nächstenliebe", "Achtung und Duldsamkeit", "Friedensliebe" u.ä. als Erziehungszielen 489 . Derartige Entsprechungen (auch unterschiedlicher Kodifikationen) von Präambeln, Erziehungszielen und Grundrechtstexten 490 erklären sich daraus, daß alle Normen derselben Rechts-Kultur eines Volkes angehören. Das Bekenntnis in Präambeln und die Erziehungsziele stehen sich sachlich besonders nahe. Sie formulieren "Grundwerte". Sie sind aus demselben "Geist" und "Stoff'; ihr Bekenntnischarakter vereint sie. Diese "Nähe" wird auch dort sichtbar, wo sich eine Verfassung wie die Bremens in ihren Erziehungszielen völkerrechtsoffen gibt (vgl. Art. 26 Ziff. 1 und 4) und zugleich (Art. 55) ein Feiertagsbekenntnis auf bestimmte Ziele richtet und den 1. Mai als Feiertag und "Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, zu Frieden und Völkerverständigung" einrichtet. Dank der kulturwissenschaftlichen Aufdeckung von Hintergründen und Herstellung von Zusammenhängen wird Tieferes sichtbar (kulturwissenschaftliches Verfassungsverständnis). (6) "Pädagogische Verfassungsinterpretation" "Pädagogische Verfassungsinterpretation" ist ein Verfahren, in dem das sozialethisch "Hintergründige" an Verfassungsnormen erarbeitet wird, mit dem konkreten Ziel, aus der Breite und Tiefe der ganzen Verfassung das Erzieherische an und in Verfassungsnormen vor allem für die Schulen freizulegen. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß lebende Verfassungen nicht nur vorweg postuliert, kann in die Erziehungsziele gewiß (analog anderen Verfassungen) auch die Menschenwürde integriert werden, zumal Art. 27 auch "christliche Bildungsund Kulturwerte" nennt. Ähnlich folgt aus Art. 3, 27, 30 Abs. 1 S. 1 Verf. Hessen, daß Menschenwürde kraft Interpretation als Erziehungsziel Geltung beanspruchen darf. Die Anerkennung der Menschenwürde als Rechtsgut wäre unvollkommen, wenn sie nicht durch ein Erziehungsziel "Achtung der Menschenwürde" ergänzt würde. 488 Vgl. etwa die angemessene Formulierung in § 2 Abs. 2 Ziff. 6 Schulgesetz der Freien und Hansestadt Hamburg vom 17. Okt. 1977 (GVB1. I 1977, S. 297): Danach soll die Schule "den Schüler in die Lage versetzen, Konflikte zu erkennen und sich mit Konfliktsituationen sachbezogen auseinanderzusetzen". 489 Vgl. nur Art. 56 Abs. 4 Verf. Hessen, Art. 12 Verf. Baden Württ., Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen, Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 7 Verf. Nordrhein-Westfalen. S. auch Art. 28 Verf. Brandenburg (1992): "Friedfertigkeit"; Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg· Vorpommern (1993): Verantwortung "gegenüber künftigen Generationen". 490 Vgl. etwa Art. 51 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz mit der Präambel.
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das Werk von Juristen, sondern das Werk aller Bürger sind, vor allem aber auch der jungen Bürger, denen in der Schule erzieherische Grundlagen ihrer Verfassung vermittelt werden. Die Geltung von Verfassungen wurzelt in diesen erzieherischen Schichten. Verfassung ist der Form und den Inhalten nach weit mehr Ausdruck von Kultur als bloßes "juristisches Regelwerk". Die ausdrücklichen Erziehungsziele 491 formulieren Kulturgehalte der Verfassungen mit eher nichtjuristischen Mitteln und in eher nichtjuristischer Form. Der Jurist muß lernen, die Verfassung auch einmal "mit den Augen" des Nichtjuristen zu sehen: mit den Augen des Bürgers. Das kann über die Übersetzung durch Präambeln und Erziehungsziele, auch über Symbolwerte, geschehen. Die Verfassung bedarf des Bürgers: personal und sachlich, in Gestalt der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne, in Gestalt bürgernaher Sprache, in Gestalt nicht voll juristisch formulierbarer Kulturgehalte, auch von Symbolen, und in Gestalt erzieherischer Leitbilder, sachlicher und personaler Art. All dies ist Korrelat (nicht Surrogat) der Verfassung als juristisch begreifbarem Ganzen, als Ensemble von formalen Techniken, juristischen Methoden, Dogmen usw. Die Erarbeitung der erzieherischen Dimension der Verfassung will also nicht "gesicherte Juristenkunst" in Frage stellen - der Verfassungsinterpret im engeren Sinne behält seinen Platz, juristische Klassifizierungen und dogmatische "Kästchen" bewahren ihren relativen Aussagewert (z.B. Grundrecht oder Grundpflicht, Erziehungsziel oder Norm, Programmsatz oder subjektives Recht). Aber sie will die Verfassung erweitern um das, was die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne, die nichtjuristischen Bürger leben, praktizieren, begreifen: Beide zusammen, die juristische und die kulturwissenschaftliche Seite erst machen das Ganze der Verfassung aus 492 . "Pädagogische Verfassungsinterpretation" und ihre "kulturwissenschaftliche" Arbeitsmethode setzen ein bestimmtes Verfassungsverständnis voraus: Verfassung ist rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, nicht nur juristisches Textbuch, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes: insonderheit "pädagogischer Leitfaden" für das Volk als pluralistische Größe, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und seiner Zukunftshoffhungen. Für diese ist die jeweils kommende Generation zunächst durch Erziehung zu "gewinnen". Erziehung 491
Vgl. oben unter a)(l). Die bislang fehlende Neigung der (Verfassungs-)Juristen, sich dem SozialethischErzieherischen der Verfassung zu öffnen, ist sicher auch eine Spätfolge des staatsrechtlichen Positivismus. Das liberalistische Grundrechtsdenken dürfte seinen Teil ebenso beigetragen haben wie die Konzentration der Weimarer Staatsrechtslehre auf ihre historische Aufgabe, die (z.T.) bis heute maßgeblich Rechtsdogmatiken zu entwerfen, die die Verfassung auf (juristische) Begriffe brachten. 492
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft aber erfolgt primär durch Nichtjuristen: durch Lehrer in den Schulen und Hochschulen, durch Pädagogen in der Erwachsenenbildung, Volksbildung; staatsbürgerliche Erziehung, in den deutschen Landesverfassungen nach 1945 oft gefordert 493 , ist nicht primär juristische (dogmatische), sondern pädagogische Vermittlung der Verfassung. "Demokratie" wird nicht als juristische Staatsform, sondern als politische Lebensordnung vermittelt, "Völkerversöhnung" als Erziehungsziel nicht in einer völkerrechtlichen Spezialvorlesung, sondern anders gelehrt: i.S. des Verständnisses für andere Völker, als Erziehung zum Respekt vor deren Identität, als Solidarität mit Entwicklungsländern usw.; Toleranz wird nicht als juristische Direktive "beigebracht", sondern als Lernen des Hinhören-Könnens und -Wollens gegenüber dem anderen, als Erreichung der Einhaltung von Spielregeln der Fairneß usw. 494 ; das Erziehungsziel "Menschenwürde" wird nicht in juristischer Kommentarform, sondern an Vorbildern der Klassikergeschichte studiert, d.h. an Beispielen der Literatur von F. Schiller bis B. Brecht geschult oder an Vorbildern wie Y. Menuhin und N. Mandela. Das Erziehungsziel "Zugang zu den Kulturgütern" (vgl. Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen) heißt hier nicht primär: Studium der Möglichkeiten der juristischen Erzwingung des Zugangs zu den Kulturgütern als "Maßgabegrundrecht" i.S. der juristischen Grundrechtsdogmatik 495; es heißt: Vertrautmachen mit kulturellen Leistungen der Vergangenheit, Erwecken von Mut zu eigenen kulturellen Leistungen für die Zukunft, Sensibilisierung für ein "offenes Kulturkonzept" usw. Im Ganzen: Die juristische Form der Verfassungsprinzipien ist nur eine, besondere formalisierte Gestalt dieser Prinzipien; die andere, nicht minder wesentliche und den Bürger sogar primär "ansprechende" ist die pädagogische. Die juristische Geltung einer Verfassung ist nur eine Geltungsweise, die kulturelle ist ihr notwendiges Korrelat. Getragen wird sie u.a. durch gelebte und vorgelebte Erziehungsziele. In der Verfassung der Freiheit ist Freiheit selbst ein grundlegendes Erziehungsziel. Auch Freiheit muß "gelernt" werden. Es gibt sie nicht "natürlich", es
493 Vgl. etwa dazu Art. 37 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 21 Verf. Baden-Württemberg, Art. 11 Verf. Nordrhein-Westfalen. S. auch die schweizerischen Bemühungen um "Erziehung zum Wirtschaftsbürger" in Gestalt wirtschaftskundlichen Unterrichts in Schulen (NZZ vom 9./10. April 1978, S. 19). 494 Vgl. den Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg: "in allen Schulen waltet der Geist der Duldsamkeit und der sozialen Ethik", s. auch Art. 21 Abs. 1; ferner Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, eine "im Geiste"-Formel. Zuletzt Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen (1993): Erziehungsziel der "Toleranz". 495 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (insbes. 113, 115).
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gibt sie nur im kulturellen Kontext. Keine Freiheit im Naturzustand! (Sie "existiert" allenfalls als staatsrechtlich und völkerrechlich notwendige Fiktion.) b) Orientierungswerte Orientierungswerte sind z.B. Moralkonzepte, Programme der politischen Parteien und der Gewerkschaften, Vereinssatzungen, Familienleitbilder und sonstige gesellschaftliche Leit- und Vorbilder (z.B. Klassikertexte eines F. Schiller oder B. Brecht, J. Locke oder Montesquieu, Selbstverständnisse und Denkschriften der Kirchen und Religionsgemeinschaften). Sie werden vom mündigen Bürger im Verfassungsstaat verwirklicht, weiterentwickelt, aber auch verfehlt. So hätte der Orientierungswert "Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn", wie gelegentlich vorgeschlagen, im deutschen GG (Präambel) durchaus Sinn. Das Scheitern der Verfassungsänderung stellt die Frage um so dringlicher: "Wie viel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?" (A. Hirschmann). Erziehungsziele und Orientierungswerte unterscheiden sich, sie stehen aber auch in einem - Wandel bewirkenden - Wechselverhältnis zueinander. Viele Orientierungswerte sind in Rechtstexten gar nicht (vor-)formuliert, nicht einmal in Umrissen. Sie sind dies z.T. nur in Erziehungszielen und damit nur mit begrenzter Kraft und Geltung. Demgegenüber sind die wesentlichen Erziehungsziele wenigstens als Grundsätze in Verfassungs- und anderen kulturellen Rechtstexten formuliert. Da sie, wenn auch nur "als" soft law des Kulturverfassungsrechts, dem heranwachsenden Bürger im Sonderstatus "Schule" erzieherisch beigebracht werden sollen, bedarf es ihrer rechtlichen Fixierung.Orientierungswerte sind "pluralistisch", ja antagonistisch; sie widersprechen sich, konkurrieren untereinander, schließen sich zum Teil auch aus. Zwischen ihnen kann der erwachsene Bürger deshalb frei wählen; sie können rechtlich nur sehr begrenzt verbindlich gemacht, ihre Verwirklichung kann vom Staat kaum erzwungen werden. Anders bei den Erziehungszielen: Sie prägen verbindlich den staatlichen Unterricht in den Schulen. Hier ist der Pluralismus ein "Lernziel", via Toleranz. Hier werden Werte und Texte der Klassik und der Moderne vermittelt, Rechte und Pflichten vorgeführt, Menschenwürde und Toleranz, Freiheit und Gleichheit gelehrt. Diesem (eher formellen) Unterschied im Grade rechtlicher Verbindlichkeit entspricht ein inhaltlicher: Die Erziehungsziele ordnen sich letztlich zu einem ausgewogenen Ganzen: Menschenwürde und Toleranz gehören zusammen, ebenso Rechtschaffenheit, Rechtlichkeit und Verantwortungsfreude, Erziehung zum Zugang bzw. zur Teilnahme an den Kulturgütern sowie Umweltschutz einerseits, Weltoffenheit, "Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker" (Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen) andererseits (vgl. schon Art. 26 Verf. Bremen), mag es im einzel52 Häberle
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft nen Spannungen geben. Ganz anders die Orientierungswerte. Was in der offenen Gesellschaft hier "angeboten" wird, schließt sich vielfach aus, steht jedenfalls nicht in einem tendenziell ausgeglichenen Verhältnis zueinander. Die politischen Parteien werben mit gegensätzlichen Programmen um den mündigen Bürger, Kirchen und Weltanschauungsgesellschaften schließen sich aus, "Wertetafeln" vieler Pluralgruppen leben gerade vom Streit untereinander. Im übrigen vermitteln die Orientierungswerte das, was in der kulturellen Evolution entstanden ist: Religionen, Moralsysteme, kulturelles Erbe etc. Angesichts der Unterschiede zwischen Erziehungszielen und Orientierungswerten dürfen die sachlichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen ihnen nicht vernachlässigt werden: Beide beeinflussen sich nicht nur ständig wechselseitig. Der gemeinsame Bezugspunkt von Erziehungszielen und Orientierungswerten liegt in der verantwortlichen Bindung von Freiheit: Die schönste Errungenschaft, aber auch das größte Wagnis des Verfassungsstaates ist es, Erziehungsziele vom Moment des Mündig-Werdens des Bürgers an, also heute unter dem GG mit 18 Jahren, diesem qua "Orientierungswerte" selbst zu überlassen. Das macht die Substanz grundrechtlicher Freiheit aus. Schon anthropologisch bedarf es der Erziehungsziele und Orientierungswerte als eines Stückes Sicherheit für den einzelnen: in all jenen Abstufungen, die vom imperativ durchgesetzten Erziehungsziel einerseits bis zum "lockersten" Orientierungswert andererseits reichen. Zudem prägen Erziehungsziele und Orientierungswerte in der Wirklichkeit die grundrechtliche Freiheit - wie stark, ergibt sich aus einem Kulturvergleich. So viele gemeinsame Menschenrechtstexte in Ost und West, Nord und Süd bestehen (vor allem die beiden Menschenrechtspakte von 1966), so sehr folgt erst aus dem "Kontext", der kulturellsozialen Ambiance, was die grundrechtliche Freiheit im jeweiligen Land praktisch bedeutet und bedeuten kann, auch ausgedrückt im Vorbehalt der "öffentlichen Ordnung": nicht etwa weil die Menschenrechtspakte "verletzt" würden sie werden oft genug mißachtet -, sondern weil erst der kulturelle Kontext von Menschenrechtserklärungen, weil also Erziehungsziele und Orientierungswerte konkret umreißen, was die Freiheit "wert" ist! Keine Freiheit ohne Kultur 4 9 6 . Die Existenz solcher Grundwerte, Tugenden, Orientierungswerte (und aller Formen der "Alltagsethiken") ist Bedingung für das Funktionieren zahlreicher
496 So wichtig die "Konstruktion" bzw. Fiktion eines "Naturzustandes" ist, so sehr der Vertragsgedanke Modell bleibt (dazu P. Häberle, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff.; P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 [1979], S. 372 ff.), so klar muß gesagt werden, daß erst aus der Kultur Freiheit wird, so wie umgekehrt die grundrechtliche Freiheit heute Voraussetzung des Kulturellen ist. S. meine Ausführungen in AöR 116 (1991), S. 271 (275 f.). Vgl. jetzt auch P. Kirchhof, Die kulturellen Voraussetzungen der Freiheit, 1995.
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(verfassungsrechtlicher Einrichtungen: Beispielsweise ist die Form oder die Art und Weise, in der von (Freiheits-) Rechten Gebrauch gemacht wird, häufig Bedingung des Funktionierens einer Rechtsordnung 497. Werden solche Funktionsvoraussetzungen, die von der Verfassung bzw. den Gesetzen äußerlich nicht vorausgesetzt, aber in der Verfassung mitgedacht sind und ihren Niederschlag (auch) in der politischen Kultur des Verfassungsstaates finden, problematisch oder zerstört, leidet auch die "normative Kraft der Verfassung" (K. Hesse). Erziehungsziele und Orientierungswerte stehen insoweit zum Teil in einem Verhältnis der Komplementarität zum Recht. Manches von dem, was das Recht nur als Erziehungsziele regeln kann und sollte, wirkt als "gesellschaftliche Norm" ohne juristische Sanktionen, zum Teil aber dank nicht minder wirksamer "gesellschaftlicher Sanktionen". Nur die Wechselwirkung von (verfassungsstaatlichen) Erziehungszielen und Orientierungswerten der (verfaßten) Gesellschaft, die "Konkordanz" beider, was Dissense und Dissonanzen einschließt, kann das Gemeinwesen so strukturieren, daß es freiheitlich ist und verantwortlich lebt, daß es Pluralismus praktiziert und eine kulturelle Identität besitzt, daß es nach revidierbaren Erziehungszielen lebt und eine Vielfalt von alten und neuen Orientierungswerten besitzt, daß es seinen Verfassungskonsens (U. Scheuner) hat und immer neu findet und fortentwickelt. Der Bürger kann seine Identität nur über Erziehungsziele und Orientierungswerte finden, ggf. in Prozessen von "trial and error".- Dasselbe gilt für die Republik im ganzen.
3. Der kulturelle Trägerpluralismus Der kulturelle Trägerpluralismus ist ein konstituierendes Prinzip im engeren Sinne kulturverfassungsrechtlicher Tätigkeitsfelder und Aufgabenbereiche eines konstitutionellen Kulturstaates 498. Er verhindert Monopolbildung jeder Art 497
Dazu zwei unterschiedliche Beispiele: Strafprozeßrechtliche Vorschriften "greifen" oft in dem Moment nicht mehr, in dem bestimmte Orientierungswerte, deren allgemein gültige Einhaltung vor Gericht durch Angeklagte, Anwälte oder Richter vorausgesetzt wird, nicht mehr von allen Prozeßbeteiligten respektiert werden.- Oder: Man stelle sich vor, die Bundesländer würden über den Bundesrat von ihren Zustimmungsrechten stets durch Ablehnung der politisch entgegengesetzten Mehrheitsentscheidungen des Bundestages Gebrauch machen, ihre Rechte also nicht gemäßigt und kompromißbereit ausüben: Die Funktionsfähigkeit unserer Verfassungsordnung insgesamt wäre erheblich gefährdet. 498 Vgl. ausf. P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, 1979, S. 37 f.; ders., Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 32 f., 51; ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 47 ff; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders., (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 46 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
und ist die rechtliche Basis für die "Freiheit der Kultur", einer Freiheit, die aber um - kulturelle - Einbinduhgen, Formen der "Erfüllung" etc. weiß. Er ist Ausdruck des "offenen Kulturkonzepts." Für die deutschen Länderverfassungen ist speziell ein erzieherischer Trägerpluralismus charakteristisch und schon textlich nachweisbar. Formeller Trägerpluralismus meint: Erziehung wird voneinander unabhängigen Trägern anvertraut, d.h. den Eltern, dem Staat, den Kirchen, den Jugendverbänden oder anderen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. den Parteien, der Gewerkschaftsjugend etc.). Dieser formelle Trägerpluralismus bedarf der Ergänzung durch den materiellen. Er bedeutet: Die Verfassung (bzw. allgemeine Rechtsordnung) darf sich nicht nur mit der formalen Verselbständigung der erzieherischen Instanzen begnügen; sie muß auch (und sei es durch Schweigen) zum Ausdruck bringen, daß es sich um Freiräume für erzieherisches Gestalten nach unterschiedlichen Gesichtspunkten handelt - sie muß die Erziehungsziele also differenzieren: So klar sie für Schulen genannt werden, so unumschrieben bleiben sie grundsätzlich für die Eltern. M.a.W.: Die Erziehungsziele in der (staatlichen) Schule sind abgesetzt von den elterlich-privaten Erziehungszielen und nicht wie in den alten sozialistischen Verfassungen gleichgeschaltet; die Erziehungsmöglichkeiten der Kirche oder anderer Religionsgemeinschaften werden unabhängig von ihren Inhalten, ja gerade wegen dieser anderen Inhalte anerkannt etc. 499 , kultureller Trägerpluralismus hier ist insoweit auch kultureller Schöpferpluralismus. Das läßt sich verallgemeinem. Hinter diesem erzieherischen Trägerpluralismus verbirgt sich ein allgemeines Prinzip. "Trägerpluralismus", d.h. eine Vielzahl von Kulturträgern wie Staat, Kommunen, öffentlichen und privaten
499 Vgl. Art. 127 Verf. Bayern (1946): "Das eigene Recht der Religionsgemeinschaften und staatlich anerkannten weltanschaulichen Gemeinschaften auf einen angemessenen Einfluß bei der Erziehung der Kinder ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung wird unbeschadet des Erziehungsrechtes der Eltern gewährleistet." S. auch Art. 133 Verf. Bayern.- S. noch Verf. Saarland: Art. 26 Abs. 3: "Die Kirchen und Religionsgemeinschaften werden als Bildungsträger anerkannt." Art. 37 S. 2 Verf. Rheinland-Pfalz: "Die Errichtung privater oder kirchlicher Volksbildungseinrichtungen ist gestattet." - Art. 16 Abs. 3 Verf. Bad.-Württ. verlangt bei bestimmten Zweifelsfragen gemeinsame Beratung zwischen dem Staat, den Religionsgemeinschaften, den Lehrern und den Eltern. Vorbildlich ist der formelle und materielle erzieherische Trägerpluralismus in Art. 12 Abs. 2 Verf. Bad.-Württ. (1953) formuliert: "Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die in ihren Bünden gegliederte Jugend." - Art. 30 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt: "Träger von Einrichtungen der Berufsausbildung und der Erwachsenenbildung sind neben dem Land und den Kommunen auch freie Träger". Die Verfassungstexte sind zitiert nach Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995. Immanent sichtbar in Art. 31 Verf. Angola (1992).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Rundfunk- und Fernsehanstalten, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden, Parteien etc. (z.B. in der Erwachsenenbildung, in der beruflichen Bildung und Jugendarbeit, in Gestalt des Privatschulwesens und im Kindergartenbereich), ist das Prinzip, das die Kulturverantwortung zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen und Instanzen aufteilt und verteilt. Kulturelle Vielfalt und Freiheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Gesellschaft. Ein Zuviel an Kulturstaat 500 entspricht dem GG ebensowenig wie ein Zuviel an gesellschaftlicher Kulturgestaltungsmacht 501. Kulturverfassungsrecht entsteht insofern in der Konkurrenz von (offenem) Staat und (verfaßter) Gesellschaft im kulturellen Bereich 502 . Das heutige "Kultur-Sponsoring" stellt neue Fragen. In diesem weiteren, für die Gesamtverfassung des Kulturstaates gültigen Sinne sind hier nicht nur der Staat - in Gestalt von Kommunen, Ländern und Bund - und "die" Gesellschaft, also das Spektrum der "republikanischen Bereichstrias" einzubeziehen, auch der einzelne Bürger ist "Kulturträger" - so unglücklich der Begriff terminologisch sein mag. Nicht nur auf dem Boden von "Alternativkulturen" ist er es sogar in besonderem Maße. Freiheit des einzelnen ist eine wesentliche Voraussetzung für - pluralistische - Kultur (z.B. auch "Volkskultur", "Alternativkultur", "Hochkultur"); sie ist zugleich die Errungenschaft der westlichen Kultur, so gefährdet sie je und je auch bleibt, gerade in der heutigen Phase des "Ökonomismus" und in der Herausforderung durch den intoleranten Fundamentalismus des Islam. Auf den Text zu Minderheiten als "staatsbildende Faktoren" (i.S. Ungarns, 1989) sei ebenso nochmals verwiesen wie auf die Bemerkungen zur individuellen und korporativen Sprachenfreiheit im Verfassungsstaat. Auch hierin zeigt sich der "kulturelle Trägerpluralismus" der im aus kultureller Vielfalt verstandenen Föderalismus und als dessen "kleinem Bruder" im Regionalismus eine weitere Ausprägung erfährt.
500
Vgl. den seinerzeitigen Streit um die Aufstellung einer Henry-Moore-Plastik im neuen Bundeskanzleramt in Bonn, dazu der deutsche Bildhauer E. Fiebig, Importiertes Pathos?, FAZ vom 1. Okt. 1979, S. 23. Dagegen der Leserbrief von Prof. Hentzen, Kulturelle Einheit Europas, FAZ vom 5. Okt. 1979; differenziert G. Rühle, Die Plastik, FAZ vom 5. Okt. 1979, S. 1.- Ergiebig wäre auch der Streit um die Verhüllung des Reichstages durch Christo ( 1995). ' 501 Vgl. E.R.. Huber, Zur Problematik des Kulturstaats, 1958, S. 9 f., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit, aaO., S. 127 f.- Diese Schrift von E. R. Huber hat den Rang von Pionierliteratur. Sie wird auch - bei aller Kritik im einzelnen - als solche gewürdigt. Aus der Folge-Literatur: M.-E. Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, 1990. 502 An ihrer Unterscheidung und Zuordnung wird hier mit K. Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437 ff. festgehalten. Zum Ganzen noch: H.H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, HdBStR Bd. I, 1987 (2. Aufl. 1995), S. 1187 ff.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft 4. Der "kulturelle Bundesstaat" - das kulturwissenschaftliche Bundesstaatsverständnis - die "gemischte" Bundesstaatslehre a) Grundlegung Neben einzelnen "kulturellen" Grundrechten, neben Erziehungszielen und objektiven Sachbereichsgarantien bzw. speziellen Kulturauftragsklauseln sowie neben dem kommunalen Kulturverfassungsrecht gibt es eine Verfassungsstruktur, die oft als bloßes "Staatsorganisationsprinzip" verstanden wird, die heute aber ein wesentliches materielles Prinzip der Kulturverfassung bildet: die Bundesstaatl ichkeit. Die gemischte Bundesstaatstheorie kann hier nur fur die Bundesrepublik Deutschland, jetzt das vereinte Deutschland skizziert werden. Sie ist m.E. auch für die übrigen Bundesstaaten der Welt einschlägig, doch setzt die Beweisführung für diese These eine umfassende Verarbeitung der ausländischen Textstufenvorgänge und -inhalte voraus, die hier nicht einmal im Ansatz möglich ist 5 0 3 . Immerhin hat sich schon bisher zeigen lassen, daß die weltweite "Werkstatt" in Sachen Bundesstaat bzw. die in ihr ablaufenden Produktions- und Rezeptionsprozesse von den klassischen "Federalist Papers" bis zum "cooperative federalism" immer nur Teile, Ausschnitte, Mosaiksteine eines Ganzen betreffen: nie wird das Ganze einer Theorie, eines Modells rezipiert bzw. zu einer widerspruchsfreien Einheit zusammengefügt, zu vielgestaltig und vielfältig bedingt sind die Austauschverfahren und die einzelnen Nationen. "Reine" Lehren bilden auch hier weder die ganze Wirklichkeit ab, noch steuern sie diese; aus "einem" Gedanken gebildete Erklärungsmuster des Föderalismus bringen keinen Erkenntnisgewinn.
503 Speziell rechtsvergleichend: C. Starck (Hrsg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988. Einen neuen eigenen Akzent auf vergleichender Basis setzt D. Schindler, Differenzierter Föderalismus, FS Häfelin, 1989, S. 371 ff. S. noch P.L. Münch, Die Entwicklung des australischen Föderalismus, Der Staat 35 (1996), S. 284 ff.; G. Craven (ed.), Australian Federation, 1992; Ρ. Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat, 1992; K. Weber, Österreichs kooperativer Föderalismus am Weg in die Europäische Integration, FS Schambeck, 1994, S. 1041 ff; H. Schambeck, Europäische Integration und österreichischer Föderalismus, 1993; E. Benda, Neuere Entwicklungen im amerikanischen Föderalismus, FS Mahrenholz, 1994, S. 957 ff.; J. Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, 1992. Vgl. auch das Ringen im heutigen Kanada um einen "reziproken Föderalismus", um die Neugestaltung des "Sozialkontrakts zwischen Bund und Provinzen" (FAZ vom 12. Febr. 1996, S. 10). Zuletzt P. Pernthaler (Hrsg.), Bundesstaatsreform als Instrument der Verwaltungsreform und des europäischen Föderalismus, 1997; F. Palermo, Germania ed Austria: Modelli Federale, 1997.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Das an den Bundesstaat Deutschland gerichtete Theorieangebot war und ist bis heute höchst vielfältig, und die weltweiten Theorieentwicklungen in Sachen Föderalismus wurden bei uns immer nur bruchstückhaft aufgegriffen, durchaus im Sinne der "Stückwerktechnik" Poppers rezipiert und weiterentwickelt. Drei Modelle sind gegenwärtig und wirksam. Der klassische Bundesstaat als "dual federalism" 504 , die Lehre vom "unitarischen Bundesstaat" (K. Hesse) und der "kooperative Föderalismus", die "Politikverflechtung", für die sich der verfassungsändernde Gesetzgeber punktuell etwa in Art. 91 a und b GG stark gemacht hat 5 0 5 . Der Bundesstaat Deutschland mischt diese drei Modelle immer neu und unterschiedlich 506 . So behalten alle drei entwicklungsgeschichtlich im Laufe der Zeit ihr relatives Recht: Bald tritt das Unitarische stärker hervor, so in den 50er und beginnenden 60er Jahren, bald wendet man sich den Tugenden des kooperativen Föderalismus zu. Im vereinten Deutschland von heute sind sie besonders vonnöten, weit über die Normen des Einigungsvertrages von 1990 hinaus ("Partnerländer"), der freilich seinerseits auch unitarische Spurenelemente birgt. Mitte der 80er Jahre war in der politischen Diskussion bei uns eine deutliche Absetzbewegung weg vom Kooperativen erkennbar: So wurden die Gemeinschaftsaufgaben der Art. 91 a und b GG in Frage gestellt, man erinnerte wieder an die Vorteile klarer Kompetenzscheidung, an den klassischen Bund/ Länder-Dualismus, an optimale Dezentralität. Auffällig ist, daß bei allen Akzentverlagerungen und immer neuen Mischungen sowie wechselnden Varianten alle drei Bundesstaatsmodelle im Rahmen des deutschen GG irgendwie immer präsent bleiben: das klassisch-dualistische, das unitarische und das kooperative - durchweg je in Verfassungstexten im engeren und weiteren Sinne greifbar (vgl. jetzt die "Reföderalisierung" in Art. 72 Abs. 2 und 3, 75 Abs. 1 Ziff. 6 - deutsches Kulturgut - n.F. GG sowie das Ringen um und in Art. 23 Abs. 2 bis 7 n.F. GG sowie die Diskussion um den"Konkurrenzfoderalismus").
504
Zum folgenden schon mein Diskussionsbeitrag in VVDStRL 46 (1988), S. 148 bis 149; s. auch das Votum in VVDStRL 39 (1981), S. 202 f. (zur "pragmatischen, kompromißhaften Integration von Theorieelementen"). 505 Dazu J.A. Frowein/I. von Münch, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, VVDStRL 31 (1973), S. 13 ff.; S. Marnitz, Die Gemeinschaftsaufgaben des Art. 91 a als Versuch einer verfassungsrechtlichen Institutionalisierung der bundesstaatlichen Kooperation, 1974; W. Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, HdbStR IV 1990, S. 1091 ff. 506 Bemerkenswerter Weise spricht O. Kimminich, Der Bundesstaat, HdBStR Bd. I (1987) 2. Aufl. 1995, S. 1113 (1119 f.) von einer "Mischung unitarischer und föderalistischer Elemente", wobei er den grundgesetzlichen Bundesstaat auch als "kooperativen Bundesstaat" deutet (ebd. S. 1145 f.). F. Ossenbühl, in: ders. (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 117(151 ff.) beobachtet für die Bundesrepublik eine "Wandlung vom separativen zum unitarisch-kooperativen Bundesstaat".Den Blick auf die EG (heute EU) öffnete früh: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Aus dieser (vermeintlichen) "Not", dem Fehlen einer einzig richtigen Bundesstaatstheorie, ist eine "Îugend" zu machen: die gemischte Bundesstaatslehre. Sie erlaubt Flexibilität und schafft Offenheit fur Fortentwicklungen, sie ermöglicht eine pragmatische Integration von Theorieelementen und läuft nicht Gefahr, im Interesse einer Theorie die Wirklichkeit zu vergewaltigen und wissenschaftliche Wahrheitsansprüche durchzusetzen. Sie integriert die Vielfalt des Ringens vieler um den "guten" Bundesstaat und kann sich vielleicht sogar noch auf das Argumentationspotential der klassischen Lehre von der "gemischten Verfassung" berufen 507 . Man mag als "Synkretismus" schelten, was hier als "gemischte" Bundesstaatstheorie vorgeschlagen wird. Doch dieser angebliche oder wirkliche Synkretismus ist ins Positive gewendet nur eine Konsequenz der "Verfassung des Pluralismus". K. Sterns "Pluralität der politischen Leitungsgewalt" im Bundesstaat vermag eben auch wissenschaftstheoretisch nur durch ein Pluralismus-Modell eingefangen zu werden: die gemischte Bundesstaatslehre kann ein solches sein. Schließlich ist die hier umrissene gemischte Bundesstaatslehre flexibel genug, um Wandlungen in Raum und Zeit einzufangen: im Raum, insofern die verschiedenen nationalen Bundesstaaten die einzelnen Theorieelemente variabel und je ganz individuell kombinieren; in der Zeit, insofern die Verfassungsentwicklung bzw. Textstufengeschichte der einzelnen Bundesstaaten Phasen kennt, in denen bald das eine, bald das andere Theorie508
element in den Vordergrund rückt bzw. zurücktritt . Daß die so skizzierte "gemischte" Bundesstaatslehre dem Gedanken des offenen Kulturkonzeptes entspricht, sei nur angemerkt. Die Bundesstaatsstruktur ist - im vereinten Deutschland ganz besonders - integraler Bestandteil unseres Verfassungsstaates. Im Rahmen einer Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft 509 liegt es daher nahe, auch bei der Erfassung des Bundesstaates den Akzent auf das Kulturelle zu legen, so wichtig das Wirtschaftliche als Substrat bleibt und so sehr andere Theoriemodelle ihr relatives Recht behalten. Dabei ist sowohl der engere (Erziehung und Bildung, Wissenschaft und Kunst, Denkmalpflege und Medien) als auch der weitere Kulturbegriff (z.B. Volkskunst und Sport) einschlägig 510 . Und gerade 507
Dazu K. Stern, Staatsrecht Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 735 ff.- Aus der weiteren Literatur: A. Riklin, Mischverfassung und Gewaltenteilung, FS Pedrazzini, 1990, S. 21 ff. 508 Zustimmung zum "gemischten" Modell speziell für Österreich bei B.-C. Funk, VVDStRL 46 (1988), S. 173 (Aussprache). 509 Zu diesem Programm meine Schrift von 1982 (Vorauflage): Verfassungslehre als Kulturwissenschaft.- Mindestens terminologisch "wahlverwandt": P. Badura, Die "Kunst der föderalen Form", FS Lerche, 1993, S. 369 ff. 510 Dazu P. Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (20 ff.); s. auch U. Steiner, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 (8 ff.); D.
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das eminent Pragmatische jeder Bundesstaatsentwicklung legt theoretisch das Mischmodell nahe. Der Begriff "Kulturföderalismus" ist ein geglücktes Wort 5 1 1 , das für Deutschland historisch wie aktuell treffend die Verknüpfung von Bundesstaat und Kultur schon im Ansatz widerspiegelt. Das "offene Kul512
turkonzept", der "kulturelle Trägerpluralismus" ist die juristische Verallgemeinerung dieses Gedankens. Die kulturelle Bundesstaatstheorie ist ein Erklärungs- und Orientierungsversuch in Sachen Bundesstaat, der sich dem Wettbewerb mit anderen Theorien stellen muß und nur eine wissenschaftliche Teilwahrheit formulieren kann. Erstmals 1980 vorgeschlagen 513, sei sie hier stichwortartig umrissen: Bundesstaatlichkeit legitimiert sich vor allem aus der kulturellen Vielfalt eines politischen Gemeinwesens im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich (Parteien, Verbände, Minderheiten). Die Vielfalt kultureller Initiativen, Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft, aber auch die Vielfalt schon geschaffener Kultur in Vergangenheit und Gegenwart ("kulturelles Erbe") findet ihr relativ bestes "Gehäuse" in der Struktur des Bundesstaates (zumal in Deutschland). Die Vielfalt der einzelnen Länder (Kantone) basiert auf kulturell differenzierten Räumen; sie verlangt aber auch vitale Kulturpolitik dieser Länder bis hin zum "Eigensinn". Vieles hängt vom eigenen Kulturwillen der Länder ab, von ihrer Phantasie, Gestaltungskraft und Wettbewerbsfähigkeit, freilich auch von ihrer Kompromißbereitschaft und Konsensfähigkeit. Denn bei aller Vielfalt verlangt Bundesstaatlichkeit auch den Rahmenkonsens, die Grundierung durch Gemeinsames, die Integrierung des Verschiedenen zu einer Einheit 514 . Auch
Grimm, ebd., S. 46 (60 f.). Zu "Kulturstaat und kulturelle Freiheit" gleichnamig M.-E. Geis, 1990.- Viel empirisches Material enthält: B. Küster, Die verfassungsrechtliche Problematik der gesamtstaatlichen Kunst- und Kulturpflege in der Bundesrepublik Deutschland, 1990. 511 Eine weiterführende Ausarbeitung bei F. Hufen, Gegenwartsfragen des Kulturföderalismus, BayVBl. 1985, S. 1 ff., 37 ff. S. auch J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im GG, HdBStR Bd. IV (1990), S. 517 (639): Kulturföderalismus als "dauerhafter Legitimationsgrund des deutschen Föderalismus". 512 Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, aaO., S. 34 f., 37; ders., Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 14 f. und passim. Oben VIII Ziff. 3. 513 Vgl. meine Innsbrucker Schrift: Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980 (zu ihrer Wirkung in Österreich: P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalistische Kulturpolitik, 1988, S. 7 (Vorwort) und S. 9 ff.); s. auch meinen Diskussionsbeitrag in VVDStRL 46 (1988), S. 148 bis 151. 514 Vgl. die These von H. Maier, Der Föderalismus - Ursprünge und Wandlungen, AöR 115 (1990), S. 213 (230), der Föderalismus werde durch die "komplexe Verspannung zentripetaler und zentrifugaler Wirkkräfte", durch die "Integration des Verschiedenen und des Gemeinsamen" und durch die "konzentrische Lagerung von Konflikt und Konsens" konstituiert.
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dieser Konsens ist kulturell grundiert und juristisch etwa durch die Homogenitätsklausel des Art. 28 GG abgesichert. Wo es heute Bundesstaaten gibt, dort finden sich kulturelle Differenzierungen, die historisch zum Bundesstaat drängten und die ihn in der Gegenwart lebendig erhalten. Diese kulturelle Vielfalt ist eine Form des Pluralismus und der Gewaltenteilung im weiteren Sinne (Bundesstaat als kulturelle Pluralismusgarantie). Letzlich und erstlich "macht" weniger die Wirtschaft als vielmehr die Kultur einen Staat - auf Bundes- wie auf Gliedstaatenebene. Nur sie gründet und sichert ihn in der Tiefe, im Bewußtsein der einzelnen Bürger und im "kollektiven Bewußtsein" aller. Föderalismus wird zur "Lebensform" (H. Brugmans). Das Kulturverfassungsrecht erweist sich auf diesem Hintergrund als ein Proprium, ja Herzstück des Bundesstaates. Gerade in seiner Präsenz auf mehreren Ebenen und in seiner Kraft zur Vielfalt seiner rechtstechnischen Erscheinungsformen ist es sozusagen die raison d'être des Bundesstaates, sie verleiht ihm eine spezifische Legitimation. Solche Ebenen sind das Kulturverfassungsrecht der Länder (Kantone), das kommunale Kulturverfassungsrecht, punktuelle Kulturkompetenzen des Bundes und zunehmend Europas einerseits, universales Kulturrecht (etwa im Menschenrechtspakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966) andererseits 515. Und solche Textvielfalt präsentiert sich als allgemeine und spezielle Kulturstaatsklausel, als kulturelles Erbe- und Pluralismus-Klausel, als kulturelle Freiheiten (in den verschiedenen Dimensionen: vom status negativus bis zum status corporativus) oder als Erziehungsziele etc. 516 . Gegenüber den Egalisierungen des sozialen Rechtsstaates und den Uniformierungen der Wirtschaft schafft dieses vielschichtige Kulturverfassungsrecht Gestaltungsspielraum für Eigenes, Kleineres, Individuelles, "Heimat", führt die Bundesstaatsstruktur auf Kulturanthropologisches. Hier ist die Brücke zur Subsidiarität geschlagen517. Das vielgestaltige Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat wird zu einer spezifischen Garantie der Freiheit im egalitären Sozialstaat und in der egalitären Demokratie. Die Kulturhoheit der Länder bzw.
515
Zu "Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive" mein gleichnamiger Beitrag in JöR 32 (1983), S. 15 ff.; s. auch die Schichtungen in der Schrift: Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 17 ff. Wie "durchlässig" die Verfassungsentwicklungen auf Bundes- und Landesebene auch auf kulturrechtlichem Felde sind, zeigt das Beispiel der pluralen Ordnung von Rundfunk und Fernsehen: Art. 20 Abs. 2 Verf. Sachsen (1992) hat die Judikatur des BVerfG zur Garantie von "Bestand und Entwicklung" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einfach rezipiert. 516 Dazu für die Entwicklungsländer P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, VRÜ 1990, S. 225 (269 ff.); ein Überblick über den Figurenreichtum auch in: ders., Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, FS Häfelin, 1989, S. 225 ff. S. noch oben Fünfter Teil VI. 5,7 Dazu K. Stern, aaO., 2. Aufl. 1984, S. 660 f. sowie Fünfter Teil VII Ziff. 6.
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Gliedstaaten ist so ein Pendant zur kulturellen Freiheit der Bürger. Diese läßt sich besonders gut im Bundesstaat bewahren, sie kann sich hier spezifisch bewähren und weiterentwickeln. Im folgenden können Elemente der deutschen Bundesstaatsentwicklung nur in groben Stichworten angedeutet werden. Dabei liegt der Theorieraster des Textstufen-Paradigmas zugrunde. Der Bundesstaat des GG von 1949 war primär "dual federalism" und von dem Wunsch nach starken Ländern getragen. Nach und nach wuchs das Gewicht des Bundes. Vor allem auf dem Gebiet der Gesetzgebung hat er ein "erdrückendes Übergewicht" erlangt 518 , zumal die Bedürfnisklausel nach Art. 72 Abs. 2 a.F. GG (Stichwort: Wahrung der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse") weniger als Bremse denn als Vehikel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes wirkte und das BVerfG hier praktisch nichts blockierte (vgl. jetzt Art. 72 Abs. 2 n.F. GG). Dieses klassische Bild wurde und wird durch zwei Entwicklungen in den 60er Jahren ergänzt, um nicht zu sagen korrigiert: das Bild vom "unitarischen Bundesstaat" sowie den "kooperativen Föderalismus", beides ist Ausdruck des 519
"Wechselspiels von politischer Praxis und wissenschaftlicher Theorie" . Der deutsche Bundesstaat ist "unitarischer" geworden, weil und insofern der Bund an Gewicht zunahm; doch haben die Landesregierungen (und damit die Länder) über den Bundesrat an Einfluß nicht nur auf die Gestaltung des Bundesrechts gewonnen. Darin wird das Element vertikaler Gewaltenteilung sichtbar, das ein den Bundesstaat legitimierender Aspekt ist. Der kooperative Föderalismus ist nicht nur eine deutsche Eigenart, er mischt sich wohl allen Bundesstaaten der Welt unterschiedlich intensiv bei. In einer Realanalyse speziell der 520
zahlreichen Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat Deutschland 521
wurde die Idee des kooperativen Föderalismus im sog. Troeger-Gutachten in den Vordergrund gerückt - es reifte fast zum Klassikertext. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat 1969 im deutschen Bundesstaat auf kooperative Verzahnungen in Gestalt der neuen Art. 91 a und b (Gemeinschaftsaufgaben) teils reagiert, teils hat er "agiert", indem er jetzt einen formellen Rahmen für eine spezielle Kooperation geschaffen hat. Die Kooperationsformen sind unter dem Dach des deutschen GG freilich sehr vielfaltig: sie reichen von lockeren 5.8
Dazu W. Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, HdBStR Bd. IV, 1990, S. 1091 (1092 f.).- S. noch A. Schmehl, Die erneuerte Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG, DÖV 1996, S. 724 ff. 5.9 K. Stern, aaO., S. 655. 520 H. Schneider, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, VVDStRL 19 (1961), S. 1 ff.; C Vedder, Intraföderale Staatsverträge, 1996. 521 Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1966.
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informellen Verfahren über Konferenzen (z.B. der Ministerpräsidenten) und Ausschüsse bis hin zu festen vertraglichen Regelungen (etwa Staatsverträgen, Verwaltungsabkommen und Koordinationsabsprachen) 522. Im Rahmen des Textstufen-Paradigmas ist festzuhalten, daß Idee und Wirklichkeit des kooperativen Föderalismus im (z.T. geänderten) GG selbst "Textspuren" hinterlassen hat, ohne daß auch nur entfernt alles an realer Kooperation textlich eingefangen wurde; vieles bleibt "ungeschrieben" wirklich. Die Staatspraxis etwa zur Selbstkoordination der Länder ist überreich. Heute deutet vieles darauf hin, daß der kooperative Föderalismus wegen der deutschen Einigung seit 1990 in eine neue Phase eintritt bzw. vor großen Herausforderungen und einer Bewährungsprobe von bisher nicht dagewesener Art steht. Die Instrumente und Verfahren im Einigungsvertrag von 1990 enthalten nur erste Ansätze. Finanzielle Milliardenhilfe, "Anschubfinanzierung", Amtsund Rechtshilfe ganz neuer Dimensionen, die "Ausleihe" von Verwaltungsund Rechtsprechungspersonal sind Stichworte. Eine neue konstitutionelle föde"zur gesamten Hand" im Verhältnis zwirative Verantwortungsgemeinschaft schen Bund und westdeutschen Ländern einerseits, den ostdeutschen Ländern andererseits wird erforderlich. Vielleicht sollte man von einer neuen "Gemeinschaftsaufgabe ostdeutsche Länder" sprechen. Die deutsche Bundesstaatstheorie muß all dies erst noch verarbeiten und mühsam genug auf Begriffe bringen. Freilich darf dieser intensivierte kooperative Föderalismus ein solcher nur "auf Zeit" sein; er könnte sonst zu einer Bevormundung des Ostens durch den Westen werden, die Eigenstaatlichkeit der ostdeutschen Länder wie ein Geburtsfehler gefährden und damit das gesamte föderative Gefuge schwächen. Auch und besonders hier zeigen sich die zwei Seiten des kooperativen Föderalismus 523 : Er kann einerseits zu der im modernen Sozialstaat unverzichtbaren gleichmäßigen und wirksamen Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben beitragen, ohne zu einer Zentralisierung zu fuhren; andererseits verkürzt er die Möglichkeiten zum begrenzten Experiment und den Wettbewerb zwischen den Ländern 524 ("Konkurrenzföderalismus").
522
Dazu Rudolf, aaO., S. 1115. Dazu K. Hesse, Grundzüge, aaO., S. 103. 524 Speziell in der Schweiz ist die in textlichen Spurenelementen bzw. Teil- und Totalrevisionen, Theorievorschlägen, Staatspraxis und Judikatur greifbare Fortentwicklung des Bundesstaates gleichsam in einer großen Werkstatt nachweisbar. Dazu die Nachweise bei P. Häberle, Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 ff. 523
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In sieben prägnanten Stichworten läßt sich mit K. Stern 525 die positive Ausprägung des bundesstaatlichen Prinzips im deutschen Grundgesetz kennzeichnen, wobei diese Reihe von "Verfassungsnormen, Grundsätzen und Institutionen" auf eine "irgendwie geartete Pluralität der politischen Leitungsgewalt" ("two centres of government") rückführbar ist: (1) Die jeweilige Staatlichkeit von Bund und Ländern, die ihnen einen "eigenen politischen Gestaltungsspielraum" läßt (vgl. BVerfGE 1, 14 (34); 36, 342 (360 f.)), wobei die Verfassungsräume des Bundes und der Länder einander selbständig gegenüberstehen (BVerfGE 4, 178 (189); 36, 342 (360 f.)). (2) Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern als "wichtige Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips... und zugleich als ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung. Sie verteilt politische Macht und setzt ihrer Ausübung einen verfassungsrechtlichen Rahmen" (BVerfGE 55, 274 (318 f.)). Den Ländern ist nach dem deutschen GG noch verblieben: die Organisation ihres staatlichen Bereichs, das Kommunalwesen, das Polizei- und Ordnungswesen, der kulturelle Bereich (vor allem Schul- und Hochschulwesen) und der Bereich der Planung der eigenen Aufgaben 526 . (3) Als "ungeschriebener Verfassungsgrundsatz" das bundesfreundliche Verhalten des Bundes gegenüber den Gliedstaaten und der Gliedstaaten gegenüber dem Bund (BVerfGE 1, 299 (315); 8, 122 (138); 12, 205 (254); 31, 314 (354); 34, 9 (20); 43, 291 (348)), das im Zuge der deutschen Einigung jetzt auch spezifisch zwischen den westdeutschen Ländern und dem Bund gegenüber den ostdeutschen Ländern gelten sollte, unterstützt durch die Garantie der "verfassungsmäßigen Ordnung" durch den Bund nach Art. 28 Abs. 3 GG (s. auch das "Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost", zuletzt: BVerfGE 92,203 (230 f.)). (4) Das Homogenitätsprinzip (vgl. Art. 28 Abs. 1 und 3 GG), verstanden als "mittlerer Standard" an Übereinstimmung sowohl der Glieder untereinander wie der Glieder und des Bundes. Es wird durch Pluralität im übrigen balanciert und ermöglicht im Grunde erst, den Bundesstaat als ein Stück pluralistischer Gewaltenteilung zu begreifen. (Daß sich in Art. 23 Abs. 1 S. 1 n.F. GG "Struktursicherungsklausel" eine Art europäisches Homogenitätsprinzip findet, sei angemerkt.)
525 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 667 ff. 526 Dazu K. Stern, aaO., S. 675 m.w.N.- In Deutschland will derzeit Bayern parteiübergreifend seine Verfassung mit Themen "modernisieren", die in anderen Verfassungen längst verarbeitet sind: Europa-Klausel, Diskriminierungsverbot für Frauen und Behinderte, Erweiterung des Rechts der Untersuchungsausschüsse, Sport und Tierschutz (zit. nach Nordbayer. Kurier vom 19. Dez. 1996, S. 5).
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(5) Die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder (z.B. als Bundesaufsicht oder Bundeszwang), die freilich durch die Einwirkungen der Länder auf den Bund (vgl. den Bundesrat .nach Art. 50 GG) ausgeglichen werden. (6) Der Vorrang des (verfassungsmäßigen) Bundesrechts vor Landesrecht (Art. 31 GG). (7) Die Mitwirkung der Länder bei der Bundeswillensbildung 527 , bei uns des Bundesrates als "föderativen Verfassungsorgans". Diese sieben Elemente sind fur den Bundesstaat ganz allgemein typusbestimmend, doch bleiben die nationalen Beispiele höchst variantenreich. Auf gewisse Analogiemöglichkeiten beim "kleineren Bruder", dem Regionalismus, sei verwiesen (unten V I I I Ziff. 5). Insbesondere: "Gemeines" Verfassungsrecht im Bundesstaat Da der Föderalismus ein komplexes Sowohl-Als-auch von Pluralität und Homogenität bildet, hier ein kurzer Blick auf einen Anwendungsfall dieser Sicht z.B. in der Schweiz: das "gemeineidgenössische" Verfassungsrecht. Seine Existenz ist nachweisbar - und begründbar -, so sehr von "Rechtsimperialismus" von Lausanne bzw. Karlsruhe oder Wien her zu warnen ist 5 2 8 . Gemeint ist Verfassungsrecht, das aus innerstaatlichem Rechtsvergleich entsteht und als subsidiäre Rechtsquelle dort wirkt, wo z.B. sog. Lücken vorliegen. Behutsam verwendet, ist das "gemeine Recht" im Bundesstaat eine Bereicherung der Rechtsquellenlehre und Interpretationsmöglichkeiten, die föderale Homogenität und Pluralität subtil verbindet. (Auch die Regionalismuslehre könnte davon lernen: Gemeinregionalistisches Recht mag ein Stichwort mit Zukunft sein). Vielleicht darf man sogar weiter ausgreifen: Es könnte im Rahmen einer "allgemeinen Bundesstaatslehre" gemeinsame Verfassungsprinzipien geben, zwischen den deutschsprachigen Bundesstaaten ohnedies; die Kategorie ("ungeschriebenen") gemeindeutschen Verfassungsrechts ist ein Beispiel; ein weiteres die "Bundestreue" sowie die vertikale Gewaltenteilung; vielleicht aber auch zwischen den Bundesstaaten in der Welt im ganzen: Schon die föderalen Kooperationsformen liefern Belege, auch die Vermittlungsausschüsse zwischen den jeweils zwei Kammern. Die Maxime der Subsidiarität freilich sollte indes immer präsent bleiben und vor Augen stehen. Sie verhindert ein unreflektiertes
527
Vgl. K. Stern, aaO., S. 726 ff. Vgl. P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (345 ff.), sowie die Passauer Staatsrechtslehrertagung, besonders die Diskussion, VVDStRL 46 (1987), S. 150 f., 173. 528
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Einheitsdenken, das der "ratio" des Bundesstaates, aber auch (horribile dictu:) seinen irrationalen kulturanthropologischen Hintergründen stracks zuwiderliefe: es geht ja um den einen auch irrationalen Menschen. Die Erkenntnis von "vorhandenem" und durch wissenschaftliche und richterliche (rechtspraktische) Erarbeitung sich entwickelndem gemeinen Verfassungsrecht in einem Bundesstaat verlangt vor allem die Kunst und Tugend der Rechtsvergleichung: genauer der innerdeutschen bzw. innerschweizerischen (ggf. auch innerösterreichischen) Rechtsvergleichung. Die Besonderheiten dieser Rechtsvergleichung liegen darin, daß sie sich innerhalb desselben Bundesstaates abspielen. Zu vergleichen sind die Bundes- und kantonalen Verfassungstexte, die Entwürfe zu solchen, die Entscheidungen der (Landesverfassungs-)Gerichte, die Praxis, etwa in den betroffenen Kantonen; zu leisten ist aber auch ein Wissenschafts-Theorievergleich 529. Die innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung ist ein wesentliches "Instrument" im Vorgang der Feststellung bzw. Findung, auch interpretatorischen Schaffung von gemeinem Verfassungsrecht. Die (Verfassungs-)Interpreten, d.h. alle an den Vorgängen der Auslegung Beteiligten, müssen vergleichend
529
"Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung" hat J.M. Mössner in seinem gleichnamigen Aufsatz in: AöR 99 (1974), S. 193 ff. untersucht. Die Abhandlung befaßt sich aber allein mit der Rechtsvergleichung im Blick auf ausländisches (Verfassungs)Recht, die innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung ist weder theoretisch noch praktisch mit berücksichtigt. Dennoch gibt die Arbeit einige gedankliche Hilfen auch für innerdeutsche, bzw. innerschweizerische Rechtsvergleichung, etwa die Fallgruppenbildung nach "Problemmangel", "Rechtsmangel", "Regelungsdifferenz", "Konstruktionsdifferenz", "Gruppenstandard" (S. 199 f.). Mössners Hinweis auf "vergleichende Konkretisierung von Verfassungsprinzipien" (S. 218) besitzt eine Parallele in dem im Text entwickelten Erarbeiten von gemeinem Verfassungsrecht auf der Basis vergleichenden Konkretisierens. Näher betrachtet stellt die innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung die untere Stufe jenes Vorgangs dar, in dem im Sinne einer "Anschauung des Staatslebens in Staaten gleicher typenmäßiger Verfassungsstruktur" (Mössner, aaO., S. 241) verglichen wird. Was beim Vergleich ausländischer Staaten vom Typus "Verfassungsstaat", "westliche Demokratie" her und auf ihn hin erarbeitet wird (auch vom Denken in "Verfassungs-Familien", etwa der kontinentaleuropäischen), das leistet die innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung "im kleinen" und "besonderen" sowohl typusmäßig als auch auf Grund der spezifischen Bundesstaatsgemeinchaft bzw. der intensiven Nähe ihrer Gliedstaaten "weiter unten". In dem Maße, wie eine allgemeine verfassungsstaatliche Bundesstaatslehre entworfen wird, ist innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung als Interpretationsinstrument zu erarbeiten. Mit ihr wird zugleich i.S. einer "aufsteigenden Linie" (nächsthöheres Anwendungsfeld ist die Rechtsvergleichung innerhalb der EU) ein "einfaches", "unteres" Anwendungsfeld für Rechtsvergleichung als verfassungsstaatliches Arbeitsprinzip erschlossen. Der Typus Verfassungsstaat lebt von dieser Komparatistik auf mehreren Ebenen (dazu meine Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl., 1983, S. 407 ff.). Eine Einführung in die Verfassungsvergleichung gibt der gleichnamige Beitrag von F. Münch, ZaöRV 33 (1973), S. 126 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
arbeiten, ehe sie zum Ja oder Nein über die Frage gelangen, ob sie einen Rechtssatz des gemeinen Verfassungsrechts "finden". Sie haben dabei die Gesamtheit der geltenden (Verfassungs)Rechtssätze in den Blick zu nehmen: geschriebenes Verfassungsrecht ebenso wie ungeschriebenes, gesetztes Verfassungsrecht und ungesetztes (d.h. Gewohnheitsrecht auf Verfassungsstufe), Gesetzesrecht und Richterrecht, und sie müssen den Vergleich erstrecken auf das "law in action" wie auf das "law in the books", auf Rechtspraxis und Wissenschaft. So gesehen erscheint "innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung" als ebenso komplexe wie differenzierte Aufgabe, die den Interpreten leicht überfordern kann. In der Praxis wird innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung 530 mit einem Vergleich der Rechtstexte beginnen, von da zu einem Vergleich der - wo möglich - wissenschaftlich aufbereiteten problemorientierten Rechtspraxis fortschreiten. Das wäre schon viel. So kann der kantonale Richter und der ihm "zuarbeitende" Verfassungsrechtswissenschaftler das geltende Verfassungsrecht der Kantone gedanklich "nebeneinander" stellen und bei einer Vielzahl von Parallelitäten bzw. inhaltlichen Übereinstimmungen gemeinrechtliche Schlußfolgerungen für das Auslegungsproblem in "seinem" Kanton anstellen. Dies ist die "qualifizierende" und "qualitative" Tätigkeit des Interpreten. Das Besondere an der hier erörterten Rechtsvergleichung besteht darin, daß sie in der einen Rechts- und Kulturgemeinschaft des Bundesstaates vor sich geht - als Rechtsvergleichung im Bundesstaat - und insofern für den "Vergleicher" stets eine "Innenansicht" des Verfassungsrechts infrage steht: Auch räumlich weit voneinander entfernte Kantone sind in einem sachlichen Sinne enge "Nachbarkantone". Die durchgängigen Verfassungstexthinweise auf die eine Eidgenossenschaft, der der Kanton angehört, bzw. auf die Zusammenarbeit bei der Erfüllung der Staatsaufgaben 531 bringt diese spezifisch innerbundesstaatliche "Nähe" und den intensiven Rechtsgemeinschaftscharakter zum Ausdruck, die den "Boden" für die Wachstumsprozesse von "gemeinem Verfassungsrecht" bilden.
Speziell zur innerdeutschen Grundrechtsvergleichung s. meine Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl., 1983, S. 407 ff.- Von der notwendigen "Fähigkeit zu inspirierender Rechtsvergleichung" spricht in bezug auf Grundrechtskonkretisierung durch das Bundesgericht: J.P. Müller, Elemente einer Schweizer Grundrechtstheorie, 1982, S. 27.Die Verfassungslehre müßte vor allem das Gespräch mit dem Werk von L-J. Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. III, Die rechtsvergleichende Wissenschaft, Die theoretischen Grundlagen, 1983 suchen. So einschlägig sein kulturwissenschaftlicher Ansatz ist (S. 487 ff.: "Rechtskreis und Kulturkreis", S. 510 ff.: "Die Kultur als Grundlage der Rechtsordnungen und Rechtskreise), so wenig denkt Constantinesco seine Rechtsvergleichung vom Verfassungsrecht bzw. Typus des Verfassungsstaates her. 531 Z.B. Art. 1 Uri, Art. 4 Abs. 1 Jura, Art. 1 VE Solothurn, Art. 2 Abs. 1 Verf. Bern.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Die Erarbeitung gemeinen (Verfassungs)Rechts im Bundesstaat kommt ohne ein quantitatives Element nicht aus. Beim rechtsvergleichenden Interpretieren bzw. interpretierenden Vergleich zum Zweck der Ermittlung von "gemeinem Verfassungsrecht" ist immer auch zu fragen, ob "schon" eine genügend große Zahl von Teilrechtsordnungen der Kantone bzw. Gliedstaaten einen bestimmten Rechtsgedanken übereinstimmend so ausgeformt hat, daß das Prädikat "gemeines Recht" (i.S. von gemeindeutsch oder gemeinschweizerisch) gerechtfertigt erscheint. An einer - nicht von vornherein und nicht abstrakt zu bestimmenden - Stelle schlägt dann die Quantität d.h. z.B. die Zahl der übereinstimmenden Kantone, in die Qualität, d.h. die Bejahung gemeinen Verfassungsrechts um 5 3 2 . Für die Schweiz mag sich die Frage stellen, ob es partikulares gemeinschweizerisches Verfassungsrecht etwa der einander besonders nahen, weil rechtskulturell sprachlich zusammengehörenden welschen bzw. deutschschweizerischen Kantone gibt. In der Bundesrepublik Deutschland könnten die norddeutschen bzw. süd- und ostdeutschen Länder Anlaß zu solchem "partikular-gemeindeutschen" Recht sein. In beiden Fällen ist jedoch große Vorsicht geboten: Ein etwaiges partikulares gemeines Recht darf nicht zum zentrifugalen "Sprengsatz" der unverzichtbaren Einheit im Bundesstaat und zum Vehikel eines wie immer gearteten "Sonderbundes" werden. Gerade die Schweiz wird hier wegen der leidvollen Geschichte ihres Bundesstaates mit Recht empfindlich sein 533 . Der Begriff "gemein" verträgt insofern Partikulares kaum, er lebt ja gerade von dessen Ausschließung! Ein das quantitative Moment qualitativ anreicherndes Element und Argument für die Bejahung z.B. gemeinschweizerischen Verfassungsrechts der Kantone kann auch die gemeinsame Herkunft aus derselben Zeitperiode der Totalrevision sein. So läßt sich fragen, ob etwa die kantonale Totalrevisionsbewegung der 80er Jahre in den Kantonen Aargau, Uri, Glarus, Solothurn und Thurgau eine Gemeinsamkeit stiftet, aus der gemeines Verfassungsrecht der Kantone leichter "wird" als aus bzw. in den Kantonen, die einer älteren 532
So ist es symptomatisch, daß C. Starck, Sondervoten de lege lata, in C. Starck/K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1 (1983), S. 285 (297) im Blick auf ein bestimmtes Problem von "drei Landesverfassungen" spricht und dann fortfahrt: "Da eine vollständige Verfahrensautonomie der Verfassungsgerichte der gemeindeutschen Konzeption von der Stellung eines Verfassungsgerichts als Verfassungsorgan nicht entspricht...". 5,3 Vgl. Art. 7 Abs. 1 BV: "Besondere Bündnisse und Verträge politischen Inhalts zwischen den Kantonen sind untersagt". Abs. 2 ebd. fährt fort: "Dagegen steht ihnen das Recht zu, Vorkommnisse über Gegenstände der Gesetzgebung, des Gerichtswesens und der Verwaltung unter sich abzuschließen" - dieser Halbsatz spricht eher für als gegen eine begrenzte Bejahung von "gemeinem Verfassungsrecht" der Kantone! 53 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Kodifikationsperiode (etwa der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) entstammen534. Entsprechendes gälte für die "Kodifikationswelle" in den 90er Jahren (von Bern, 1993, bis St. Gallen, 1996/97, und das Waadtland, 1997). Für die heutige Bundesstaatsstruktur der Schweiz bzw. ihre derzeitige Wachstumsstufe 535 ist folgendes zu erwägen: Das Bundesgericht sollte vorsichtig sein, offen oder versteckt mit "gemeineidgenössischem Verfassungsrecht" zu arbeiten; es könnte zum Instrument der Einebnung vom Bund her werden, obwohl die Kantone dank ihrer Verwaltungsgerichtsbarkeit, vereinzelt auch dank ihrer Verfassungsgerichtsbarkeit, dank ihrer Grundrechtsgarantien und ihrer Formen des Rechtsschutzes im engeren und weiteren Sinn ausgebaute Rechtsstaaten sind. Dem Bundesgericht ist vor Augen zu halten, daß es viele Erscheinungsformen "guter" Rechtsstaatlichkeit gibt, auch und gerade innerhalbe eines Bundesstaates. M.a.W.: Über die Kategorie "gemeineidgenössisches Verfassungsrecht" sollte das bundesstaatliche Homogenitätspostulat nicht über Art. 6 BV (bzw. für die Bundesrepublik Deutschland über Art. 28 GG) auf Kosten "gliedstaatlicher Eigenheiten" hinaus verwirklicht werden. In der Hand eines Bundesorgans (wie des Bundesgerichts) droht das Argument "gemeineidgenössisches Verfassungsrecht" leicht zum "zentripetalen" Instrument übermäßiger Vereinheitlichung zu werden. Das Argument mag zwar für das (Bundes)Rechtsfindungsorgan bequem sein, vielleicht besteht aber in concreto gar kein Regelungsbedarf! Gemeineidgenössisches Verfassungsrecht sollte auch nicht zum bloßen Richterrecht des Bundesgerichts werden bzw. so entstehen. Es wäre damit nur eine neue "Rechtsquelle" für Bundesverfassungsrecht. Vor allem muß die Erkenntnis der positiven Seiten einer "Ungleichzeitigkeit" kantonaler Verfassungsreformen davor bewahren, allzu vorschnell mit "gemeineidgenössischem Verfassungsrecht" zu arbeiten. Umgekehrt kann es aber auch vorkommen, daß die Kantone mit gemeineidgenössischem Verfassungsrecht operieren: sei es, daß sie so den Bund einbinden, indem sie vergleichend gewonnene "allgemeine Rechtsgrundsätze" des kantonalen Verfassungsrechts auch ihm verpflichtend auferlegt sehen wollen, sei es, daß sie von der Mehrheit abweichende "eigenwillige" Einzelkantone "auf Linie" bringen möchten. Auch diese "interkantonale" Einebnung unter
534 Beispiel könnte die Frage sein, inwiefern die neuen kantonalen Grundrechtskataloge abschließend sind oder nicht. Da der "Insbesondere-Stil" überwiegt, könnte sich der Kanton berechtigt sehen, unter Hinweis auf "gemeines Verfassungsrecht der Kantone" über den Wortlaut hinweg auch seinem textlich "geschlossen" erscheinenden Grundrechtskatalog nur Beispielcharakter zuzusprechen. 5,5 Der spezifisch bundesstaatliche Ansatz läßt Raum für die innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung, die eine Erscheinungsform der Rechtsvergleichung als Arbeitsmethode im Rahmen der Verfassungsinterpretation ist.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Führung stärkerer Kantone ohne direkte Beteiligung des Bundes (sozusagen auf einer dritten Ebene?) hätte ihre Schattenseiten: Der Bund würde "gleichgeschaltet", obwohl er Gestaltungsfreiheit braucht und haben will. Der Bundesstaat bildet eine spezifische Form des modernen Kulturstaates 536. Die Theorie des Bundesstaates ist - wie auch die Staatselementenlehre (oben VI) - vom Kulturverfassungsrecht als "Seele" des Föderalismus her neu zu überdenken. Seine Geschichte in Deutschland ist eine (verdeckte) Form der Geschichte des Kulturstaates. Jedenfalls sollte die Beschäftigung mit dem Bundesstaat kulturstaatliche Untersuchungen nicht nur als "Nebenprodukte" zur Folge haben. Freiheit der Kultur im allgemeinen und speziell der Kunst, auch der Wissenschaft wird im Bundesstaat nicht nur dadurch garantiert, daß sie abwehr- und objektivrechtlich (wie in Art. 5 Abs. 3 GG) anerkannt ist. Sie besitzt eine spezifisch bundesstaatliche "mittelbare" Sicherung dadurch, daß sie vom Bund und den Ländern anerkannt wird, daß Bund und Länder "Kulturstaaten" sind, daß es mehrere je individuell geprägte Kulturstaatsklauseln für die Länder (besonders auch in Ostdeutschland) und eine begrenzte (z.T. ungeschriebene) auch für den Bund gibt. Die spezifisch föderalistische und damit pluralistische Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist schon in sich eine Garantie der "Freiheit der Kultur". Ein Beispiel aus der Kunstförderung: Was im Bundesland A nicht subventioniert bzw. gefördert wird, hat durchaus eine Chance im konkurrierenden Bundesland Β - erinnert sei an die vielzitierte Main-Linie! Nimmt man die kommunale Kulturpolitik (sowie die der Gewerkschaften 537 und Unternehmerverbände) hinzu, so zeigt sich das ganze Spektrum der "Pluralisierung" der Kulturförderung (die freilich heute nicht unbegrenzt via "Kultursponsoring" gelingen kann. Es gibt Kulturaufgaben des Staates, die sich nicht privatisieren lassen, da sie "Grundversorgung" sind!). M.a.W.: "Freiheit der Kultur" und Vielfalt der Kultur werden sowohl grundrechtlich von der Garantie einzelner kultureller Freiheiten aus gesichert als Sl6 Dazu näher P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, 1982, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 50 ff- Die kulturpolitischen Initiativen auf EuropaEbene intensivieren sich, vgl. die Forderung des Europa-Parlaments nach einem EGFonds für Denkmalschutz, Nordbayerischer Kurier vom 16. Sept. 1982, S. 6. Näher zur kultur( verfassungsrechtlichen Dimension Europas mein Einleitungsbeitrag zu Kulturstaatlichkeit, aaO., S. 53 ff. sowie Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff. Vgl. jetzt den Kulturförderungs-Artikel 128 EGV (1992). 5,7 Ausf. Nw. bei F. Eckhard u.a., Massen, Kultur, Politik, 1978; s. auch B. Emig, Die Veredelung des Arbeiters. Die Sozialdemokratie als Kulturbewegung, 1978. Später H. Fielhauer/Olaf Bockhorn (Hrsg.), Die andere Kultur, Volkskunde, Sozialwissenschaften und Arbeiterkultur, 1982.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft auch organisationsrechtlich durch die bundesstaatliche Struktur und (z.B. kommunale ebenso wie rundfunkrechtliche) Trägervielfalt. b) Die deutsche Wiedervereinigung
als Gewinn für den Föderalismus
Eine zusätzliche Schubkraft (und Herausforderung!) hat die kulturwissenschaftlich arbeitende Bundesstaatstheorie für Deutschland als Verfassungsstaat durch den und in dem Prozeß der deutschen Einigung seit 1989 gewonnen. Die Überlebenskraft der fünf ostdeutschen Länder im Einheitsstaat der DDR der SED ist ihrer kulturellen Pluralität als Thüringen, Brandenburg etc. zu verdanken. Dieses "Kulturwunder" hat die ostdeutschen Länder im Verlauf der friedlichen Revolution 1989 fast über Nacht wiedererstehen lassen; nicht die Wirtschaft hat ihre Staaten "gemacht", ihre länderbezogene Kultur ist es, die ihnen Identität vermittelt. Der Einigungsvertrag von 1990 hat sich, wenn auch spät, der Aspekte des Kulturellen intensiv angenommen: in Gestalt von Kulturförderungsklauseln (Art. 35 Abs. 1, 3 bis 7, Art. 38 und 39), in einer kulturellen Substanzgarantie (Art. 35 Abs. 2) und vor allem in dem großen BekenntnisArtikel 35 Abs. 1, der einer Kulturstaatsklausel entspricht. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion von 1990 konnte nur ein erster Schritt im Prozeß der deutschen Einigung sein. Die "vierte Dimension", die Kultur, trat als solche fast zu spät ins Bewußtsein der Öffentlichkeit und der Deutschlandpolitik. Dabei hat die Rechtsordnung als solche allerdings nur begrenzte Möglichkeiten. So sehr sie einerseits in Gestalt von differenziertem, experimentierfreudigem neuen Kulturverfassungsrecht in den ostdeutschen Ländern diese in ihrer Kulturhoheit "ausstatten" muß (die Verfassungsentwürfe ermutigten ebenso wie jetzt die Verfassungen), und so sehr diese Kulturhoheit sich auch im wirtschaftlichen Substrat als rechtliche Infrastruktur zu behaupten hat, so sehr andererseits die westdeutschen Länder und der Bund i.S. einer "Gemeinschaftsaufgabe Kultur" im Zeichen des kooperativen Föderalismus den ostdeutschen Ländern beispringen müssen (' fiduziarischer Föderalismus"): mittelfristig und letztlich muß sich die differenzierte, bundesstaatlich gegliederte Kultur Ostdeutschlands aus sich und in Konkurrenz mit den ostdeutschen Ländern behaupten. Das Recht, selbst das neue Kulturverfassungsrecht der Länder und die Elemente von neuem (Bundes- und Landes-)Kulturverfassungsrecht im Einigungsvertrag, vermögen nur "Gehäuse" zu sein, so wichtig sie als solche sind. Gewiß ist der "Kulturföderalismus" ein constituens des deutschen Verfassungsstaates - 1996/97 wie wohl kaum je zuvor -, doch möchte der kulturwissenschaftliche Ansatz beanspruchen, darüber hinaus dem Typus verfassungsstaatlicher Bundesstaat ganz allgemein zusätzliche Legitimationsschichten zu erschließen. Die bisherigen Legitimationstheorien behalten ihre Bedeutung, etwa die aktivbürgerliche Demokratie-fördernde, die politisch aus-
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gleichende Kraft des Bundesstaates, die Möglichkeit der Herausbildung oppositioneller Führungskräfte, die Auflockerung bzw. Demokratisierung der Parteistrukturen, die Vereinigung des lobbyistischen Einflusses durch Machtverteilung, die die horizontale Gewaltenteilung ergänzende vertikale Gewaltenteilung sowie der Wettbewerb bzw. trial and error-Prozeß in Sachen Kultur, Politik und Wirtschaft - "Konkurrenzföderalismus" (im Rechtspolitischen z.B. als experimentelle Werkstattarbeit im Kulturverfassungsrecht, allgemeine gliedstaatliche Verfassungshoheit als Chance zum Verfassungsreichtum). Stichwortartig kann man alle Teilaspekte letztlich auf den Generalnenner der freiheitsfordernden Legitimation des Bundesstaates bringen, wobei P. Lerches Homogenisierung der Konfliktlösungsverfahren 538 ein kaum zu überschätzender komplementärer Faktor ist (Freiheit aus Verfahren!). Diese Verknüpfung von Bundesstaatlichkeit und kultureller Freiheit im weitesten und tiefsten Sinne ist gerade in der Tradition "Deutscher Freiheit" sinnfällig. Der Bundesstaat wurzelt hier im kulturanthropologischen Boden der Bürger einer Nation. Deutsche Freiheit ist föderative Freiheit! c) Die kulturpolitische Mitverantwortung des Bundes kraft des Einigungsvertrages Der "fiduziarische Föderalismus" ist ein genuiner Wachstumsring des verfassungsstaatlichen Föderalismus in Deutschland, d.h. es gäbe ihn dank der Wiedervereinigung auch ohne die ausdrücklichen technischen Detailregelungen des Einigungsvertrages von 1990 (in denen er nicht aufgeht). Doch vermittelt dieser dem konstitutionellen, zeitlich begrenzten Treuhandgedanken einen kräftigen Wachstumsschub. M.a.W.: Der fiduziarische Föderalismus des GG als Verfassung des vereinten Deutschland entfaltet sich im Kontext der formal rangniederen Normen des Einigungsvertrages. Sie seien hier in den Blick genommen, soweit es um die Sache Kultur geht. 538
P. Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), S. 66 (84 ff.).- Zur Bundesstaatsproblematik seit der Wiedervereinigung: H.-P. Schneider, Die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland, NJW 1991, S. 2448 ff; K. Rennert, Der deutsche Föderalismus in der gegenwärtigen Debatte um eine Verfassungsreform, Der Staat 32 (1993), S. 269 ff.; K.H. Friaufund M. Nierhaus, Strukturprobleme des gesamtdeutschen Bundesstaates, in: Germania restituta, Symposion für Stem, 1993, S. 23 ff. und S. 35 ff; R. Steinberg, Der Beitrag des Einigungsprozesses und der neuen Bundesländer zur Verfassungsentwicklung in Deutschland, FS Mahrenholz, 1994, S. 423 ff- Zur Verfassunggebung in den neuen Ländern gleichnamig: S. Storr, 1995 (allgemein: H.J. Boehl, Verfassunggebung im Bundesstaat, 1997). S. auch W. von Stetten, Ein neues Föderalismusverständnis in der Bundesrepublik Deutschland durch die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission?, FS Helmrich, 1994, S. 303 ff.; M. Herdegen, Strukturen ..., HdbStR Bd. IV 1990, S. 479 ff.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Im Bereich von "Kultur, Bildung und Wissenschaft, Sport" bringt der Einigungsvertrag kulturstaatliche Regelungen von der Bundesebene her, wie sie in dieser Dichte neu sind. Ausgeschritten werden große Bereiche des Gesamtfeldes "Kultur", wie dies nur einigungsbedingt zulässig ist, denn nach dem GG steht die Kulturhoheit ja gerade den Ländern zu. Die deutsche Bundesstaatstheorie muß diese Vorgänge erst noch verarbeiten und fragen, ob hier unitarische, kooperative oder ganz neue Strukturen- und Verfahren entstehen. Zu vermeiden ist indes, daß unter der Flagge gut gemeinter "Kulturhilfe" seitens des Bundes auf Dauer die Kulturhoheit der ostdeutschen Länder Schaden nimmt. Dann wäre der Kulturföderalismus in ganz Deutschland in Gefahr. Doch zunächst zur positiven Seite. Eine Kräftigung des Verständnisses des Bundesstaates, ja des Verfassungsstaates von der Kultur her ist Art. 35 Einigungsvertrag zu verdanken. Abs. 1 lautet (und sei bewußt erneut zitiert): "In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation ... Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab. Vorrangiges Ziel der Auswärtigen Kulturpolitik ist der Kulturaustausch auf der Grundlage partnerschaftlicher Zusammenarbeit." Damit ist erstmals auf Bundesebene eine Art Kulturstaatsklausel normiert, was bei der anhaltenden Kontroverse "Ein Staatsziel Kulturstaat ins GG?" zu bedenken ist (vgl. oben Dritter Teil IV Inkurs B) und den Befürwortern dieser Frage zusätzlich Schubkraft verleiht. Dies gilt um so mehr, als Art. 38 Abs. 1 Einigungsvertrag formuliert: "Wissenschaft und Forschung bilden auch im vereinten Deutschland wichtige Grundlagen für Staat und Gesellschaft." Der Einigungsvertrag ist einerseits bemüht, die (ostdeutschen) Länder sogleich in die föderalistische Kompetenzverteilung des GG in Sachen Kultur einrücken zu lassen, andererseits den Bund finanziell mit in die Pflicht zu nehmen. Überdies muß er das in Ostdeutschland nun einmal kulturell Gewachsene schützen. Dieser dreifachen, für das Kulturverfassungsrecht eines Bundesstaates neuen Zielrichtung sucht der Einigungsvertrag in Regelungen gerecht zu werden, die zugleich eine große Herausforderung für die Bundesstaatstheorie in Deutschland bilden. Im einzelnen: Art. 35 Abs. 2 lautet: "Die kulturelle Substanz in dem in Art. 3 genannten Gebiet (gemeint sind die neuen ostdeutschen Bundesländer) darf keinen Schaden nehmen."
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Rechtstheoretisch handelt es sich hier um eine Art kulturelle status-quo-Garantie, eine kulturelle "Wesensgehaltgarantie" 539. Die Frage nach ihrem juristischen Sinn ist schwierig. Wie soll die Abgrenzung zwischen kulturellen Gehalten und kultureller Substanz gelingen? Nicht alles an "DDR-Kultur" kann von dieser Substanzklausel umfaßt sein. Welcher Begriff von Kultur ist gemeint: auch die Kultur im weiten, den Sport, die "leichte Unterhaltung" einbeziehenden Sinne? - auch die marxistisch instrumentalisierte Wissenschaft? Wie steht es um die sog. "kulturellen Errungenschaften" der Ex-DDR? M.E. kann die kulturelle Substanzklausel des Art. 35 Abs. 2 Einigungsvertrag nur das Ergebnis kulturellen Schaffens, nicht das rechtliche Substrat oder "Gehäuse" umfassen. Es heißt ja "kulturelle Substanz", nicht "kulturrechtliche Substanz". Mit dem Beitritt der „DDR" ist doch das Kulturverfassungsrecht des GG übernommen worden: das "Staatskulturrecht" der ehemaligen DDR wurde als GGwidrig beseitigt, also etwa Prinzipien der DDR-Verfassung von 1974 wie "Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft" (Art. 18 Abs. 1 S. 1), "Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes" (Abs. 2 S. 2 ebd.), "Körperkultur, Sport und Touristik als Elemente der sozialistischen Kultur dienen der allseitigen körperlichen und geistigen Entwicklung der Bürger" (ebd. Abs. 3) oder "das einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet jedem Bürger eine kontinuierliche sozialistische Erziehung, Bildung und Weiterbildung". Dieses sozialistische Kulturverständnis steht im extremen Gegensatz zum offenen, pluralistischen Kulturkonzept des GG und ist als solches am Beitrittstag, dem 3. Oktober 1990, entfallen. Da das Kulturverfassungsrecht der ostdeutschen Länder erst im Werden ist, z.B. die freiheitliche Kulturförderung seitens der Länder und Kommunen kaum begonnen hat und alte Kultureinrichtungen wie Theater, Museen und Opernhäuser in ihrem wirtschaftlichen Bestand plötzlich gefährdet sind, entsteht ein Vakuum, das ungeahnte Probleme aufwirft. Die richtige - differenzierte - Einschätzung der Kultur der DDR bildet ein Hauptproblem der kulturellen Substanzgarantie des Art. 35 Abs. 2 Einigungsvertrag für die Juristen. Dabei kann - und muß - die Beurteilung eines ausgewiesenen Kunstwissenschaftlers Orientierungshilfe sein: G. Feist fordert, Kunst und Kultur der DDR "nicht bürokratisch" abzuhandeln540: Es habe nicht nur Verfolgte und Emigranten auf der einen Seite, Ergebene, Angepaßte und Karrieristen auf der anderen Seite gegeben. Diese simple Polarität versage vor dem "ästhetisch komplizierten und durchaus ambivalenten Charakter vieler bedeutender Kunstwerke".
5,9
Allgemein zu dieser Kategorie: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983. 540 FAZ vom 25. Mai 1993, S. 34.
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Art. 35 Abs. 3 Einigungsvertrag normiert mit der Kraft von Bundesrecht: "Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes obliegen." Diese kulturelle Staatsaufgaben-Klausel ist ein weiteres Element des neuen Kulturverfassungsrechts im vereinten Deutschland, auch wenn die Länder bzw. ihre Kulturhoheit nach dem GG herausgestellt sind. Bemerkenswert ist u.a., daß neben den Ländern die Kommunen ausdrücklich als Träger kultureller Aufgaben genannt sind. Das "kommunale Kulturverfassungsrecht" 541 hat damit von Bundes wegen eine Fortentwicklung bzw. Anerkennung erfahren. Schließlich zeichnet sich neues Kulturverfassungsrecht und eine Fortentwicklung des Föderalismus dort ab, wo dem Bund eine "Mitfinanzierung" eröffnet wird. An mehreren Stellen wächst dem Bund eine kulturelle Kompetenz (als "Treuhänder auf Zeit") zu, die in der Realität sorgsam zu beobachten ist, besteht doch die Gefahr, daß der werdende (ost)deutsche Kulturföderalismus vom Bund her bevormundet, weiter finanziert wird und ein dem GG fremder zentralistischer Akzent auch später bleibt. An drei Stellen öffnet sich der Einigungsvertrag einem punktuellen Kulturzentralismus vom Bund her auf die ostdeutschen Länder hin. Art. 35 Abs. 4 bestimmt: "Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Trägerschaft der Länder oder Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine Mitfinanzierung durch den Bund wird in Ausnahmefallen, insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlossen." Abs. 6 ebd. sieht eine übergangsweise Fortführung des Kulturfonds zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern bis 31. Dez. 1994 in Ostdeutschland vor und schließt eine "Mitfinanzierung" durch den Bund ebenfalls nicht aus. Schließlich heißt es in Art. 35 Abs. 7 Einigungsvertrag: "Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung Deutschlands kann der Bund übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen in dem in Art. 3 genannten Gebiet mitfinanzieren." Die in Ostdeutschland sofort mit dem Beitritt notwendig werdende Kulturförderung, die von den dortigen Ländern allein finanziell nicht verkraftet werden kann, wird also vom Bund stückweise mitgetragen. Dasselbe Anliegen zeigt sich speziell für die Förderung von Wissenschaft und Forschung (Art. 38) sowie für den (im Abschnitt "Kultur" etc. mitbehandelten) "Sport" (Art. 39
541
Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979. S. auch D. Sauberzweig, Kulturpolitik - ein Schwerpunkt städtischer Selbstverwaltung, FS von Unruh, 1983, S. 731 ff.
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Abs. 1 S. 2: "Die öffentlichen Hände fördern den Sport ideell und materiell nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes" - insofern ist der kulturelle Trägerpluralismus auch hier zum Ausdruck gelangt). Nach Art. 39 Abs. 3 Einigungsvertrag unterstützt der Bund für eine Übergangszeit bis zum 31. 12. 1992 den Behindertensport. Damit ist er als Kulturförderer auch auf diesem (Kultur-)Gebiet in Verantwortung genommen. Vor dem Hintergrund der jüngsten negativen Entwicklungen in der ostdeutschen "Kulturlandschaft" bzw. der zurückgenommenen Subventionen des Bundes einerseits, des Theorierahmens des gesamtdeutschen "fiduziarischen Kulturföderalismus" andererseits ist speziell Art. 35 Einigungsvertrag wie folgt zu interpretieren: (1) In den Mittelpunkt gehört die berühmte "kulturelle Substanzgarantie" des Abs. 2. Sie steht unter keinem zeitlichen oder sonstigen Vorbehalt und ist als solche keiner Relativierung zugänglich, so schwierig es ist, die "kulturelle Substanz" Ostdeutschlands zu umschreiben 542. (2) Der Bund rückt treuhänderisch bis auf weiteres in eine Mitverantwortung zugunsten der Kulturaufgaben der neuen Länder ein. Seine "Kulturpflicht" ist treuhänderische Mit-Verantwortung auf Zeit. Sie ergibt sich aus der jüngsten Entwicklungsstufe des Föderalismus im vereinten Deutschland und kann nicht von technischen Einzelbestimmungen des Einigungsvertrages her relativiert bzw. minimalisiert werden. (3) Von all dem zu unterscheiden ist der Kulturauftrag des Bundes im gesamtstaatlichen Interesse ("Zuständigkeit zur Wahrung von Belangen gesamtstaatlicher oder internationaler Bedeutung"), der sich auf Kulturfelder in Ost und West beziehen kann (z.B. für "Jugend musiziert"). Da aber bestimmte das Gesicht von Deutschland als Kulturnation weltweit mitprägende Züge gerade in Ostdeutschland liegen (Weimars klassische Stätten und die "Museumsinsel in Berlin" 543 , das Bach-Archiv in Leipzig), ist deren Förderung unabhängig vom 542 Nach MdB G.R. Baum, Den Faden weiterspinnen, FAZ vom 9. Oktober 1993, S. 29, ist es den Kulturhilfe-Programmen des Bundes "bisher tatsächlich gelungen, die kulturelle Substanz in den neuen Bundesländern und in Berlin im großen und ganzen zu erhalten". Dies sei ein großer Erfolg der Bundesregierung. Er fährt fort: "Die Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern werden 1994 noch nicht über genügend Mittel verfügen. Selbst nach Inkrafttreten des neuen Finanzausgleichs 1995 wird es ihnen schwerfällen, die Lücke zu schließen." Auch andere Stimmen behaupten für die Zeit bis 1993, daß die "kulturelle Substanz" gerettet worden sei (vgl. K. Reumann, Phantasie und Geld, FAZ vom 13. Juli 1993, S. 1 mit dem Hinweis: "Neben Verlusten gibt es Gewinne, die typisch sind für eine dezentralisierte, stärker auf privaten Einsatz angewiesene Kulturszene. Es tut sich was in den neuen Ländern"). 54 ' Das scheint auch T. Waigel, FAZ vom 26. August 1993, S. 27 zu bejahen: "Unabhängig von der auslaufenden Ubergangsfinanzierung hat der Bund die Trägerschaft und
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft geschriebenen Einigungsvertrag "ungeschriebene" Kulturpflicht des Bundes kraft der Natur der Sache. (4) Zwischen der "Mitfinanzierung" durch den Bund (Art. 35 Abs. 4 S. 2, Abs. 6 S. 2) und der Mitfinanzierung "übergangsweise" (Art. 35 Abs. 7) ist zu unterscheiden. Vor allem darf die kulturelle Substanzgarantie als solche nicht durch das zunehmend gebrauchte Wort von der "Übergangsfinanzierung" relativiert werden 544 . (5) Die Neuordnung des Finanzausgleichs ab 1995 545 entbindet den Bund nicht von seiner Mitverantwortung für die Kultur in Ostdeutschland, die sich aus der Entwicklung zum fiduziarischen Föderalismus im Kontext des Einigungsvertrages ergibt 546 . (6) Im Theorierahmen des "fiduziarischen Föderalismus" haben aber nicht nur der Bund, sondern auch die alten Länder gesamthänderische Mitverantwortung für die Kultur in den neuen Ländern. Die Staatsrechtslehre hat daran zu erinnern, daß jene sich dem bisher weitgehend entzogen haben 547 . Diese Mitverantwortung besteht auch dann, wenn dies im Einigungsvertrag nicht ausdrücklich gesagt ist. Dessen kulturelle Substanzgarantie in Art. 35 Abs. 2 ist im Theorierahmen des "fiduziarischen Föderalismus" so zu "lesen", daß darin Bund und alte Länder gesamthänderisch kulturpolitische Aufgaben im Blick auf Ostdeutschland haben. Daß die alten Länder sich dem bisher grundsätzlich
Mitfinanzierung von gesamtstaatlich bedeutsamen Einrichtungen in den neuen Ländern übernommen. Hierzu gehören die Museumsinsel Berlin Mitte ...". 544 Sie steht ganz im Zentrum der Argumentation von Bundesfinanzminister T. Waigel, Wo die Musik nicht spielt, FAZ vom 26. August 1993, S. 27. 545 Dazu aus der Lit.: M. Kilian, Das System des Länderfinanzausgleichs und die Finanzierung der neuen Bundesländer, JZ 1991, S. 425 ff; P. Selmer/F. Kirchhof, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinigten Deutschland, VVDStRL 52 (1993), S. 7 ff.; H.-P. Schneider, Neuorientierung der Aufgaben- und Lasten Verteilung im sozialen Bundesstaat, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1993, S. 3 ff.; G.F. Schuppert, Maßstäbe für einen künftigen Länderfinanzausgleich, ebd. S. 26 ff ; Ä Hendler, Finanzverfassungsreform und Steuergesetzgebungshoheit der Länder, DÖV 1993, S. 292 ff.; R. Eckertz, Die Aufhebung der Teilung im gesamtdeutschen Finanzausgleich, ZRP 1993, S. 297 ff.; K-D. Henke/G.F. Schuppert, Rechtliche und finanzwissenschaftliche Probleme der Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern im vereinten Deutschland, 1993; W. Kitterer, Finanzausgleich im vereinten Deutschland, 1994; P. Selmer, Art. 115 II GG - eine offene Flanke der Staatsverschuldung?, FS Stern, 1997, S. 567 ff. 546 Anders aber offenbar T. Waigel, Wo die Musik nicht spielt, FAZ vom 26. August 1993, S. 27. 547 Vgl. auch die Kritik von MdB G.R. Baum, Den Faden weiterspinnen, FAZ vom 9. Oktober 1993, S. 29.
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versagten und der Bund 5 4 8 bisher allein eingesprungen ist, ehrt den Bund bis zum Ablauf des Jahres 1993 und macht den alten Ländern als den Hauptträgern der Kulturhoheit Schande. Als "Kompetenzreserve" muß der Bund indes um so mehr wie bisher Kulturhilfe nach Ostdeutschland hin leisten. Er ist insofern der "Hüter" des sich entwickelnden fiduziarischen Föderalismus im vereinten Deutschland. d) Art. 29 GG in kulturwissenschaftlicher
Sicht
Ein Wort zu Art. 29 GG ( Neugliederung des Bundesgebietes) aus kulturwissenschaftlicher Sicht: Art. 29 GG ist im ganzen wie im einzelnen kulturwissenschaftlich zu erschließen. Zu den Begriffen des Abs. 1 S. 1 n.F. ("Leistungsfähigkeit", "Aufgaben" etc.) gehört von vornherein die Sache Kultur; die den Ländern "obliegenden Aufgaben" sind nicht zuletzt kulturstaatliche Aufgaben, ihre "Leistungsfähigkeit" ist kulturelle Leistungsfähigkeit! Das kulturverfassungsrechtliche Defizit bzw. die Hilflosigkeit, mit der Art. 29 GG im ganzen und in seinen Teilen meist kommentiert wird (vor und nach 549
seinen Änderungen), ist symptomatisch . Die Chance, speziell hier über den im engeren Sinne juristischen Ansatz hinauszukommen, wird bisher zu wenig wahrgenommen. Die ganze Breite und Tiefe eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes ist selbst im Luther- und im Ernst-Gutachten (1955 bzw. 1973) nur begrenzt sichtbar 550 , und die dürftige Rezeption dieser Vorarbeiten in der ju548
Nicht vergessen werden darf die von den alten Ländern geleistete (personelle) Hilfe etwa im Hochschulbereich (z.B. Baden-Württemberg/Sachsen, Hessen/Thüringen), sonstige Verwaltungshilfe oder Kultur-Kooperationen. S. auch FAZ vom 28. März 1994, S. 4: "Schiedermair: Die Professoren haben in Ostdeutschland ein großartiges Werk vollbracht." 549 Zum folgenden schon meine Schrift Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 62 ff - In jüngerer Zeit wendet sich J. Isensee etwas grundsätzlicher Art. 29 GG zu. Er sieht zu Recht in den Zielvorgaben des Art. 29 GG eine "Teleologie des Föderalismus", ein "Programm radizierter Legitimation aus der Vielfalt und Besonderheit der Länder" (Idee und Gestalt des Föderalismus im GG, in: HdBStR Bd. IV (1990), S. 517 (687)). I. von Münch, in ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1983, Rdnr. 27 a greift den Ansatz des Verf. u.a. mit der Bemerkung auf, richtig sei, daß die Neugliederungsdiskussion in der Vergangenheit zu technokratisch ("Effizienz") geführt worden sei. 550 H. Laufer, Der Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 133, spricht in Bezug auf die ersten Richtbegriffe des Art. 29 Abs. 1 S. 1 GG ("landsmannschaftliche Verbundenheit" etc.) zu eng von "historisch-emotionaler Föderalismusauffassung" (ähnlich R. Hrbek, in: Laufer/Pilz (Hrsg.), Föderalismus, 1973, S. 222 (249)); er versucht nicht, den "kulturellen Zusammenhängen" eine zukunftsorientierte und auch rationale Dimension zu geben.- H.-U. Evers, in: Bonner Kommentar, Drittbearbeitung, 1980, Art. 29 GG, Rdnr. 44 erläutert die Richtbegriffe "landsmannschaftliche
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
ristischen Kommentarliteratur zeigt, wie wenig diese in der Lage ist, die "Sache Kultur" bundesstaatsspezifisch zu behandeln. Schon speziell der verfassungsrechtliche Begriff "kulturelle Zusammenhänge", erst recht Art. 18 WRV (Dienst an der "kulturellen Höchstleistung des Volkes"), aber auch Art. 29 GG insgesamt nötigen die Verfassungsrechtswissenschaft, sich der reichen Fülle, Komplexität, Offenheit bzw. Dynamik und darin auch den Schwierigkeiten des Kulturbegriffs - und des Art. 29 GG im ganzen - zu stellen und sich die Arbeitsmethoden der Kulturwissenschaften zu integrieren. Der funktionellrechtliche Aspekt spielt dabei eine nicht geringe Rolle. Wenn die Möglichkeit zu und Wirklichkeit von kultureller Individualität für jeden Gliedstaat wesentlich ist, so rückt der - rein textlich in Art. 29 Abs. 1 S. 1 a.F. bzw. S. 2 n.F. im Vergleich zu Art. 18 WRV zurücktretende (oder zurückgestufte) - Begriff der Kultur ("kulturelle Zusammenhänge") in die Mitte des Art. 29 GG im ganzen. Gewiß leben die Gliedstaaten nicht von "kultureller Vielfalt" allein: "Wirtschaftliche Zweckmäßigkeit", "Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung" besitzen ihre relative Bedeutung; sie machen als Teilfaktoren ihrerseits "einen Staat", aber sie "machen" ihn nicht allein! Die gewaltenteilende, bundesstaatsgliedernde kulturelle Vielfalt ist der zentrale Gesichtspunkt. "Kultur" ist also aus ihrer textlich bloß nebensätzlichen (und scheinbar nebensächlichen) Bedeutung ins Zentrum des Art. 29 GG zu rücken. Anders formuliert: Art. 29 GG ist nicht nur in Satz 2, sondern schon in Satz 1 (n.F.) auch als ("verdeckte") Kulturstaatsklausel ("Aufgaben") zu lesen. Dabei kann der Rückblick auf Art. 18 WRV hilfreich sein: Es geht um den Dienst an einer "kulturellen Höchstleistung", jedenfalls um ein Optimum an Kultur. Art. 29 GG ist so gesehen ein Herzstück des deutschen Bundesstaates als Kulturstaat, so wenig praktisch politisch er bislang geworden ist und so paradox dieses daher zunächst erscheinen mag. Immerhin haben die 1945 z.T. recht willkürlich zugeschnittenen deutschen Länder unter dem Grundgesetz durchaus eigenes kulturpolitisches Gepräge entwickelt und auch insoweit "Selbststand" gewonnen. Die spezifische Verknüpfung von Kulturverfassung und Bundesstaatlichkeit besitzt in Art. 29 GG einen spektakulären Anwendungsbereich. Mit Grund wird im Blick auf diese Bestimmung von einem "labilen" Bundesstaat gesprochen 551. Dies ist nicht kritisch zu nehmen, im Ge-
Verbundenheit", "geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge" besser mit Worten wie: "es findet in der ethnischen Gliederung, im Menschentypus, im Dialekt, in Kulturwerken, in staatlichen Organisationen, im religiösen Gemeinschaftsleben, im Gefühl der Vertrautheit seinen Ausdruck; seinem Wesen nach ist es jedoch immateriell". 551 Vgl. die Nachweise bei von Münch, in: I. von Münch (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1983, Rdnr. 14 zu Art. 29 (ebenso P. Kunig, ebd. 3. Aufl., 1995, Rdnr. 13 zu Art. 29).
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genteil: Die relativ offene Struktur des Bundesstaates, seine Wandlungsfähigkeit ist in der Möglichkeit einer Neugliederung nach Art. 29 GG konsequent zu Ende gedacht - und angesichts der Offenheit der Kulturverfassung immer "neu zu denken" 552 . Ein Festhalten an Art. 29 Abs. 1 GG der jetzt geltenden Fassung ist aus einem weiteren Grund geboten. Es war dem (damaligen) bayerischen Finanzminister G. von Waldenfels vorbehalten, ausgerechnet in seiner Haushaltsrede vor dem bayerischen Landtag im Januar 1991 zu fordern 553 , einige kleinere Bundesländer müßten aufgelöst und zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden; der "gesunde Föderalismus" sei in Gefahr, wenn der Bund durch die finanzielle Schwäche einiger Länder dazu ermuntert werde, sich in deren Angelegenheiten einzumischen; Beispiele für nicht lebensfähige politische Gebilde seien das Saarland, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern. Und drei Jahre später machte der (damalige) Baden-Württembergische Finanzminister G. Mayer-Vorfelder darauf (und auf sich) aufmerksam, daß er die Zahl der Länder auf zehn vermindert wissen wollte, um dadurch zehn Milliarden D M je Jahr zu sparen 554. Dem ist entschieden zu widersprechen: Die beiden Hansestädte 552
Darum verlangt das hier vertretene "kulturelle Bundesstaatskonzept" verfassungspolitisch in jedem Bundesstaat einen Neugliederungsartikel, der z.B. in Österreich fehlt.- Die Richtbegriffe sind im Grund Elemente einer föderalen Gemeinwohlklausel, wobei es sowohl um das Wohl der Glieder wie auch um "das Wohl des Ganzen" geht (vgl. aber BVerfGE 49, 10(13): "ausschließlich im Interesse und zum Wohl des Ganzen"; s. auch E 13, 54 (74): "nur im Interesse des Ganzen"). 553 FAZ vom 31. Jan. 1991, S. 6.-1. von Münch, Staatsrecht Bd. 1, 5. Aufl. 1993, S. 202 nennt folgende 3 Neugliederungs-Lösungen: Vier-Länder-Lösung (statt fünf nur noch vier neue Bundesländer, Aufteilung von Sachsen-Anhalt auf Brandenburg, Sachsen und Thüringen), Drei-Länder-Lösung (Sachsen, Thüringen und vereintes Land Brandenburg-Mecklenburg-Vorpommern), Zwei-Länder-Lösung (zwei neue Bundesländer Mecklenburg-Brandenburg und Thüringen-Sachsen). Genannt sind auch Konzepte für eine Ost und West vereinende Neugliederung (aaO. S. 203), z.B. "Nord-Ost-Staat" (Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein). Aus der Lit. zuletzt: S. Greulich, Länderneugliederung und Grundgesetz, 1995. 554 FAZ vom 9. April 1994, S. I.S. auch das Argument, der Föderalismus sei "in der Form, wie wir ihn praktizieren, schlicht zu teuer". Der von ihm vorgelegten Studie gemäß könnten das Saarland und Rheinland-Pfalz ebenso zusammengelegt werden wie Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie Berlin mit Brandenburg, Niedersachsen mit Bremen und Sachsen-Anhalt mit Thüringen. Nach MayerVorfelder sind die Stadtstaaten und Kleinländer auf Dauer nicht leistungsfähig und müssen mit Zuwendungen aus dem Finanzausgleich und des Bundes "über Wasser gehalten werden".- Die aufgrund des Einigungsvertrages von 1990 (Art. 5) möglich gewordene gesonderte Neugliederung für den Raum Berlin-Brandenburg (vgl. auch Art. 118 a GG) ist 1996 gescheitert, weil sich die Bürger Brandenburgs mehrheitlich verweigert haben. Diese Ablehnung ist oft getadelt worden. M. E. zu Unrecht. In Brandenburg ist nicht zuletzt dank einer innovationsreichen Verfassung (1992) in kurzer Zeit eine eigene Verfassungskultur herangewachsen, die Bürger identifizierten sich mit ihrem Land. Die
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Hamburg und Bremen sind im deutschen Kulturföderalismus - gerade als Stadtstaaten - in ihrer Eigenheit ebenso unentbehrlich wie Rheinland-Pfalz und Hessen. Im Grund konstituieren die 11 alten Bundesländer gerade in ihrer Unterschiedlichkeit den in bald 50 Jahren gewachsenen kulturellen Pluralismus und die Gewaltenteilung im gelebten GG. In einer Zeit, in der Gesamteuropa um die kleineren Einheiten i.S. des "Europas der Regionen" ringt, sollte nicht auf größere Einheiten hin "konstruiert" werden. Hinzu kommt, daß das Zusammenwachsen mit der ostdeutschen "Bundesstaatshälfte" erschwert würde, wenn gerade jetzt geglückte Identifikationsprozesse im Westen durch eine Neugliederung hier gestört würden. Es gibt so etwas wie eine "normative Kraft des Kulturellen" (nicht bloß des "Faktischen")! Die westdeutschen Länder haben im Bewußtsein der Deutschen Wurzeln geschlagen555. Man sollte sie nicht, auch nicht aus vermeintlichen Effizienz- und Finanzgründen 556, in Frage stellen. Ein Wort zur Neugliederung in Ostdeutschland. Hier ist m.E. noch mehr Sensibilität und vor allem Zurückhaltung bei Forderungen aus dem Westen geboten. Es gleicht ja einer Art "Kulturwunder", daß im Gefolge der friedlichen Fusion mit Berlin war vorwiegend mit ökonomischen und Effizienzaspekten propagiert worden: Berlin brauche Raum. Die Direktiven bzw. der Geist des Art. 29 GG war offenbar bei den Brandenburgern besser aufgehoben als bei "Raumplanern" aus Berlin. Genauso wie es unglücklich ist, wenn von Bayern aus gegen das "zwergige" Saarland mit Finanzgründen argumentiert wird (vgl. den Bayerischen Finanzminister E. Huber: "Kleinstaaterei", Nordbayerischer Kurier vom 31. Dez. 1996, S. 2) und verkannt wird, daß das Saarland eine nur ihm eigene Brückenfunktion nach Frankreich hin erfüllt, genauso wenig sollte gegen Brandenburg polemisiert werden. Die gesamtdeutsche verfassungspolitische Landschaft würde ärmer, wenn dieses Land in Berlin auf- bzw. unterginge. Aus der Lit.: W. Gärtner, Die Bildung des Bundeslandes Berlin-Brandenburg, NJW 1996, S. 88 ff.; P.F. Lutz, Wege zur Neugliederung des Bundesgebietes nach dem Scheitern der Länderfusion Berlin-Brandenburg, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1996, S. 137 ff. 555 1. von Münch, Staatsrecht, Bd. 1, 5. Aufl. 1993, S. 204, nennt als "Widerstände" gegen die Neugliederung: das seit 1949 gewachsene historisch-politische Selbstbewußtsein der Länder, das Beharrungsvermögen von status-quo-Denken allgemein und die Sorge von Landespolitikern, ihre Ämter bzw. Mandate zu verlieren. 556 Gegen das Argument von der Erzwingung einer Neugliederung durch den Finanzausgleich: P. Selmer, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschland, VVDStRL 52 (1993), S. 10 (61) unter Hinweis auf meinen Beitrag, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus (1991), Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (202). S. auch den Diskussionsbeitrag von M. Kilian, VVDStRL 52 (1993), S. 177: "Länderneugliederung und Finanzierung dürfen nichts miteinander zu tun haben".- Freilich weist BVerfGE 86, 148 (270) nach einer Betonung der Pflicht von Bund und Ländern der "extremen Haushaltsnotlage" eines Landes abzuhelfen, auf die Möglichkeit der Neugliederung nach Art. 29 Abs. 1 GG hin, um zu gewährleisten, daß "die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können".
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Oktoberrevolution 1989 die 5 ostdeutschen Länder wieder entstanden sind. Mag die Zugehörigkeit einzelner (Grenz-)Gebietsteile umstritten sein, zutage liegt, wie intensiv sich die Ostdeutschen als Sachsen, Sachsen-Anhalter, Thüringer, Mecklenburg-Vorpommer und Brandenburger verstehen. Die wiedererstandenen Länder waren und sind es doch, die dem Bewußtsein, der Selbstachtung und dem Stolz der Ostdeutschen im Prozeß des Zusammenbruchs des zentralistischen SED-Staates DDR Halt und Sinn, Würde und Freiheit vermittelt haben. Selbst und gerade die heute wirtschaftlich stärkere "ordnende" Hand der Westdeutschen darf nicht die fünf Länder reduzieren wollen, die kulturell sogar die 40 Jahre DDR-Zentralismus in der Tiefe des Bewußtseins der Menschen überdauert haben. Wenn Initiativen aus den ostdeutschen Ländern selbst kommen, mag eine andere Betrachtung naheliegen. Zu neuen Dimensionen gelangen die Richtbegriffe in Art. 29 Abs. 1 GG in dem Maße, wie Europa zusammenwächst und das "Europa der Regionen" Wirklichkeit wird 5 5 7 . Man darf von einer in Gang kommenden Europäisierung des Art. 29 Abs. 1 GG bzw. seiner Richtbegriffe sprechen. Das Europa der Regionen überschreitet die nationalen Staatsgrenzen bzw. es relativiert sie. Die einzelnen Richtbegriffe müssen jetzt auch von der europäischen Ebene her "erfüllt" werden. So kann etwa das Saarland dank seiner Brückenfunktion nach Frankreich hin zusätzliches Gewicht erhalten; so kann die "Euregio Basilensis" das Land Baden-Württemberg auch zum Elsaß hin akzentuieren 558; so vermag die spezifische Brückenfunktion Brandenburgs nach Polen hin diesem Land das Eigengewicht zu bestätigen. Diese hier nur andeutende (auch) europarechtliche Sicht des Art. 29 Abs. 1 GG wird durch zwei Entwicklungen unterstrichen: den neuen Art. 23 GG einerseits, das "Europaprogramm" der Bundesländer andererseits (vgl. z.B. Art. 1 Abs. 2 Verf. Niedersachsen von 1993: "Teil der europäischen Völkergemeinschaft"; Präambel Verf. Thüringen von 1993: "Trennendes in Europa" zu überwinden; Präambel Verf. Brandenburg von 1992: "Glied in einem sich einigenden Europa".) Das europäische Selbstverständnis 559 der alten und der neuen Bundesländer verbindet sich mit dem Fort-
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Die Lit. hat schon früh darauf hingewiesen, z.B. H.-U. Evers, BK Drittbearbeitung (1980), Art. 29 GG, Rd.-Nr. 47: Berücksichtigung der Bedürfnisse eines "integrierten Europas mit ihren Auswirkungen auf die Neugliederung". S. auch I. von Münch, Staatsrecht Bd. 1, 5. Aufl. 1993, S. 203. 558 Zu "Europa am Oberrhein" vgl. die Schrift von B. Speiser, Der grenzüberschreitende Regionalismus am Beispiel der oberrheinischen Kooperation, Diss. St. Gallen, 1993. Zum folgenden schon mein Beitrag Europaprogramme..., FS Everling, 1995, S. 355 ff. 559 Wegweisend heißt es in Art. 54 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Der Kanton beteiligt sich an der Zusammenarbeit der Regionen Europas".- Zum neuen Art. 24 Abs. 1 a GG: U. Beyerlin, Zur Übertragung von Hoheitsrechten im Kontext dezentraler grenzüber-
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gang der europäischen Einigung zu einem Ganzen, das die Fragen der Neugliederung in Deutschland, aber auch den Zuschnitt mancher (Grenz)Regionen in den übrigen EU- und Europarats-Ländern in neue Horizonte stellt und neue Beurteilungen verlangt. Dem Zeitfaktor kommt dabei große Bedeutung zu. Der neue Art. 24 Abs. 1 a GG wäre eigens zu behandeln, so wie Art. 32 GG neu zu lesen ist. "Mitzulesen" ist speziell bei Art. 29 Abs. 1 GG, daß die Länder die "ihnen obliegenden Aufgaben" im europäischen Rahmen und Raum wirksam erfüllen können. Die "landsmannschaftliche Verbundenheit" kann sich jetzt über die nationalen Grenzen hinweg bewegen, ebenso die "geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge". Schließlich sind die "wirtschaftliche Zweckmäßigkeit" sowie die Erfordernisse der "Raumordnung und der Landesplanung" jetzt ebenfalls im europäischen Rahmen zu beurteilen. So groß der Beurteilungsspielraum der politischen Instanzen (gegenüber dem BVerfG) bleibt: Der Text von Art. 29 Abs. 1 GG steht jetzt im "Kontext" der innerstaatlichen und europarechtlichen Europa-Artikel. Das ursprünglich nur nationale Neugliederungskonzept wird zum Teil des transnationalen Europa-Programms. Eine weitere Bewährungsprobe ist der "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" in den Verfassungsstaaten eröffnet, die als Einheitsstaaten in Regionen gegliedert sind und dies auch effektiv leben (so in Spanien seit 1978) oder die um einen "neuen Regionalismus" ringen, der nur als kulturell fundierter, nicht allein durch formale Organisationsstrukturen von oben und außen verordneter gelingen kann (so in Italien 560 ). Die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft kann - und muß - herausarbeiten, wie viel kulturelle Autonomie (sowie Wirtschafts- und Finanzautonomie) notwendig ist, um Regionen zu Identitäten werden zu lassen, die diesen Namen verdienen. Zwar ist der verfassungsstaatliche Regionalismus eine eigenwüchsige Struktur und nicht etwa ein bloßes "Durchgangsstadium" oder eine "unvollendete" Vorform zum Kulturföderalismus. Doch sind da und dort behutsame Analogien zum Kulturföde-
schreitender Zusammenarbeit, ZaöRV 54 (1994), S. 587 ff.; J. Schwarze, Die Übertragung von Hoheitsrechten..., FS Benda, 1995, S. 311 ff. 560 Dazu aus der Lit.: A. D'Atena , in: ders. (Hrsg.), Federalismo e Regionalismo in Europa, 1994, S. 199 ff.; L. Paladin, Diritto Regionale, 4. Aufl. 1985; A. Pizzorusso , Diritto Pubblico italiano, 2. Aufl. 1992, S. 332 ff.; M. Sabella/N. Urbinati (Hrsg.), Quale Federalismo?, 1994, mit einem Beitrag des Verf.: Unità politica e pluralismo culturale in Germania, S. 169 ff.; ders., Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, AöR 118 (1993), S. 1 ff. (auch in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 209 ff.); zuletzt: Ein deutscher Beitrag zur italienischen Regionalismus- bzw. Föderalismusdebatte, Études en l'honneur de J.-F. Aubert, 1996, S. 483 ff.; S. Ortino/P. Pernthaler (Hrsg.), Verfassungsreform in Richtung Föderalismus, 1997.
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ralismus zulässig. So könnte sich in Italien ein Kulturregionalismus eigener Art konstituieren: in dem Maße, wie es gelingt, an die kulturelle Vielfalt der Vergangenheit Italiens anzuknüpfen, als zahlreiche Stadtkulturen und Kulturlandschaften ein einzigartiges "kulturelles Erbe" der Vielfalt hervorgebracht haben. So mag es auch wieder Raum für "differenzierten" Regionalismus geben, der ein vorsichtiges Experimentieren mit unterschiedlich starken AutonomieStrukturen erlaubt. Italien, das so sehr um einen neuen Regionalismus ringt, sollte jedenfalls seine Regionen nicht nur von der (gewiß unverzichtbaren) Wirtschaft her, sondern auch auf die Kultur hin denken. Die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft kann diesem Ziel bescheiden "vorarbeiten", ohne daß ihre verfassungspolitischen Möglichkeiten überschätzt werden dürfen. Damit ist die Brücke zum "Regionalismus" als Gegenstand der vergleichenden Verfassungslehre geschlagen.
5. Der Regionalismus in kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichender Sicht a) Der verfassungsstaatliche Begriff "Region": ein offenes Ensemble von unterschiedlichen gemischten Größen - textliche Richtgrößen, das Bild der "Skala" Die Regionalismusstruktur ist auf dem Wege, ein typisches Element des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungs- bzw. Textstufe zu werden. So unterschiedlich die einzelnen Erscheinungsformen in den verschiedenen Ländern sind 561 - von bescheidenen Ansätzen, etwa in Großbritannien (jetzt Schottland: 1997), über vitale Beispiele in Spanien bis zur "Vollendung" des Regionalismus im Föderalismus (i.S. einer aufsteigenden Linie: Österreich/Deutschland/Schweiz): Jede moderne Lehre vom Verfassungsstaat muß sich dem Thema "Regionalismus" zentral stellen. Wie sehr der Regionalismus mindestens in Westeuropa und hoffentlich bald auch in Osteuropa dem Typus Verfassungsstaat innerlich "zuwächst", zeigt sich nicht zuletzt darin, daß er sich oft aus den Elementen konstituiert, die ihrerseits schon integrierende Bestandteile des Verfassungsstaates sind: die Idee von kultureller Freiheit, Selbstverwaltung bzw. Autonomie (vor allem ausgeformt in den Kommunen), von Dezentralisation und Subsidiarität, von Demokratie (auch im Kleinen), von Gewaltenteilung und Machtkontrolle. Das sei im Rahmen der Legitimationsgründe vertieft. Hier muß zunächst der Hinweis genügen, daß der Regionalismus heute ein 561
Aspekte eines Regionalismus-Vergleichs in der Form von Fragen bei F. Ossenbiihl, in: ders. (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 8 ff. sowie in den "Länderberichten" ebd. 54 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"werdendes" Strukturelement des Verfassungsstaates bildet und zur Maxime des Europarechts heranreift. Mögen viele Verfassungsstaaten nach wie vor keine Bundesstaaten sein bzw. solche nicht werden wollen: am Ausbau von konstitutionellen Regionalstrukturen dürften sie mittelfristig alle mehr oder weniger arbeiten wollen und vielleicht sogar arbeiten müssen (als Balance zu übernationalen Einbindungen, zu großen Märkten, aus Gründen des - multiethnischen - Minderheitenschutzes etc.). Möglicherweise befinden wir uns in Europa bereits auf dem Weg zu gemeineuropäischen Regionalstrukturen, so unterschiedlich die einzelnen nationalen Beispiele sind - auf einem Weg, auf dem die Kommunen schon fortgeschritten sind: Ausdruck ist die Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung von 1985. Dieses Gemeineuropäische Regionalverfassungsrecht wäre dann Teil des "ius commune constitutionale", des gemeineuropäischen Verfassungsrechts, wie es jüngst in der älteren und neueren Rechtsgelehrsamkeit, inspiriert vom Zivilrecht, und zugleich in der aktuellen europäischen Szene verankert wurde 5 6 2 . Das Thema "Regionalismus" sollte nicht zu vorschnell durch begriffliche Festlegungen und Einengungen fixiert werden. Es ist zwar schon ein werdendes Strukturelement des Typus Verfassungsstaat, aber es steht heute in einer dynamischen Entwicklungsphase mit sehr unterschiedlichen Momenten und Geschwindigkeiten. Gleichwohl muß bereits jetzt um eine Konturierung des Begriffs "Region" gerungen werden. Auch der Föderalismus bietet weltweit einen großen Beispielsreichtum nationaler Varianten und doch muß er (jeweils vorläufig) definiert werden. Parallel ist den konstituierenden Merkmalen des "Regionalismus" nachzugehen. Die Verfassungs- und transnational- bzw. europarechtlichen Texte liefern dabei wichtige Hinweise, auch wenn sie letztlich im Sinne einer bestimmten Regionalismus-Theorie "gelesen" werden sollten « sie klärt sich vor allem im Kontext der Legitimationsfrage, im Lichte eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes und im Rahmen der Vielfalt und Einheit Europas. Der Begriff "Region", der auf dem Weg zu einem konstitutionellen, d.h. verfassungsstaatlichen Begriff ist, gewinnt vor allem aus bestimmten zugehörigen Richtbegriffen seine Konturen. Eine Verfassungs-Analogie zu den Richtbegriffen des Neugliederungsartikels 29 GG liegt nahe, auch wenn man den Regionalismus keineswegs als bloßes "Durchgangsstadium" zu seiner "vollendeten" Form, dem Föderalismus, ansehen darf. Gemeint sind die Richtbegrif562
P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; ders. gleichnamig in: R. Bieber/P. Widmer (éd.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 361 ff. S. noch Sechster Teil XI.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen fe aus Art. 29 Abs. 1 GG: "landsmannschaftliche Verbundenheit", "geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge", "wirtschaftliche Zweckmäßigkeit", "Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung". Speziell für die Regionen finden sich parallele Orientierungs- und Legitimationsbegriffe etwa in Art. 143 Abs. 1 Verf. Spanien (1978) in den Worten: "gemeinsame historische, kulturelle und wirtschaftliche Eigenschaften" 563 , in Art. 3 Abs. 2 und 3 sind die verschiedenen Sprachen - ein "Kulturgut" - als regionales Differenzierungselement erkennbar. Art. 147 Abs. 2 lit. a läßt die "historische Identität" als solche erkennen. Materielle Regionalismus-Elemente, die sich für die Konturierung des Begriffs "konstitutionelle Regionaleinheit des Verfassungsstaates" auswerten lassen, finden sich in Art. 227 Verf. Portugal (1978/89). Für die Azoren und Madeira wird von den "geographischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten" gesprochen, und die Autonomie der Regionen ganz allgemein zielt laut Verfassung "auf die demokratische Teilhabe der Bürger, auf die wirtschaftlich-soziale Entwicklung und auf die Förderung und den Schutz der Regionalinteressen" ab, sowie auf die Verstärkung der "nationalen Einheit" und die "Bande der Solidarität zwischen allen Portugiesen" (dies ist die Integrationsfunktion!). Eher technokratisch definiert Art. 115 Verf. Italien 5 6 4 : "Die Regionen sind Selbstverwaltungskörperschaften mit eigenen Befugnissen und Aufgaben gemäß den in der Verfassung festgelegten Grundsätzen"; es handelt sich um eine frühe verfassungsrechtliche Textstufe des Regionalismus! Demgegenüber läßt Belgien in seinen jüngeren Verfassungsänderungen (Art. 3 1S und Art. 3 t e r ) das Sprachliche bzw. Landsmannschaftliche (vier Sprachgebiete, drei Gemeinschaften) als Regionalismus-Element erkennen (jetzt Art. 3 bis 5 Verf. von 1994). Bemerkenswert ist, daß einem "Entwicklungsland" wie Peru, sicher beeinflußt von den beiden iberischen Ländern, in seiner (alten) Verfassung von 1979 ein beispielhafter Regionalismustext geglückt ist, der einzelne Richt-
563 Aus der spanischen Regionalismus-Literatur: P. Cruz Villalón , Die Neugliederung des Spanischen Staates durch die "Autonomen Gemeinschaften", JöR 34 (1985), S. 195 ff; M J. Montoro Chiner , Landesbericht Spanien, in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 167 ff. Zuletzt J. Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, 1996. 564 Aus der italienischen Regionalismus-Literatur: L. Paladin, Diritto regionale, 5. Aufl. 1992; V. Onida, Landesbericht Italien, in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 239 ff; S. Cassese/D. Serrani , Moderner Regionalismus in Italien, JöR 27 (1978), S. 23 ff.; T. Martines, Diritto Costituzionale, 6. Aufl. 1990, S. 757 ff.- Aus Schweizer Sicht: D. Thürer, Region und Minderheitenschutz Aufbauelemente einer europäischen Architektur?, FS Bernhardt, 1995, S. 1337 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
großen des Begriffs "Region" dicht umschreibt und damit dem Typus Verfassungsstaat einen großen Dienst geleistet hat. Sein Art. 259 lautet: "Die Regionen werden auf der Grundlage benachbarter, historisch, wirtschaftlich, verwaltungsmäßig und kulturell zusammengehöriger Gebiete errichtet. Sie bilden geo-ökonomische Einheiten. Die Dezentralisierung wird nach Maßgabe des nationalen Regionalisierungsplans durchgeführt, der durch Gesetz verabschiedet wird." Verf. Guatemala (1985) kommt dem verfassungsrechtlichen Textbild von Peru nahe, wenngleich es etwas technokratisch-administrativer formuliert: Art. 224 Verwaltungseinteilung, Abs. 2: "Die Verwaltung ist dezentralisiert. Es werden Entwicklungsregionen gebildet nach wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kriterien, die ein oder mehrere Departements umfassen können, um einen Impuls für die rationale Entwicklung des ganzen Landes zu geben." Es ist augenfällig, daß es sich hier um die für Entwicklungsländer typische Variante des Begriffs "Region" handelt. Das Entwicklungspolitisch-Rationale und Ökonomische steht im Vordergrund. Die alten Verfassungsstaaten können und sollten es sich leisten, demgegenüber stärker das Historisch-KulturelleIdeelle als "Substrat" des Regionalen zu konzipieren: vor allem in Europa. Schließen wir diesen Überblick ab: Das innerstaatliche Textmaterial neuerer Verfassungen liefert viele Gesichtspunkte, die einen verfassungsstaatlichen Begriff, ja sogar eine verfassungsstaatliche Theorie von Region bereichern können. Vielleicht darf man vorläufig die landsmannschaftlich-ethnische, territorial-geographische, die historische, die kulturelle, insbesondere sprachliche, die ökonomische (einschließlich entwicklungspolitische) Dimension nennen. Sie alle bilden ein von Staat zu Staat unterschiedliches offenes Ensemble, das sich jedoch auf einer abstrakteren Ebene bereits zu dem Begriff "verfassungsstaatliche Regionalstruktur", "konstitutionelles Regionalismusrecht" fügen läßt. Hilfreich ist die Umschreibung des Begriffs "Region", die sich in der Erklärung von Bordeaux von 1978 565 findet: "Der Begriff Region, manchmal verschieden von Land zu Land, bedeutet ... eine menschliche Gemeinschaft, die innerhalb der größten, gebietsmäßigen Einheit eines Landes lebt und die gekennzeichnet ist durch eine geschichtliche oder kulturelle, geographische oder wirtschaftliche Homogenität oder eine Kombination dieser
565
Zit. nach F. Esterbauer (Hrsg.), Regionalismus, 1978, S. 215 ff.
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Kennzeichen, die der Bevölkerung eine Einheit verleiht in der Verfolgung gemeinsamer Ziele und Interessen." Im übrigen sei auf die erwähnten "gemeinsamen Elemente" von Art. 1 Abs. 1 der Gemeinschaftscharta der Regionalisierung des Europäischen Parlaments (1988) verwiesen (unten sub e). Sinnvoll dürfte das Bild einer Skala sein: Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates kann mit einer Skala versinnbildlicht werden: Sie führt von schwachen Formen wie (bis 1997) in Großbritannien über ausgeprägte Beispiele wie in Spanien (und Südafrika), von dort zu Bundesstaaten (von der noch sehr unitarischen Gestalt wie in Österreich über Belgien und Deutschland bis zur derzeit stärksten Gliedstaatlichkeit in der Schweiz). Die einzelnen Verfassungsstaaten mögen sich im Laufe der Zeit wandeln: etwa von schwachen zu starken Regionalstrukturen, oder auch umgekehrt im Felde des Föderalismus von zunächst starken Gliedstaaten zu eher unitarischen Formen wie im Deutschland Weimars. Da und dort mag auch der "Sprung" vom starken Regionalismus zum schwachen Föderalismus erfolgen. Entscheidend ist, daß in Übergängen gedacht wird: im Sinne einer gleitenden Skala. Entscheidend ist, daß es im Verfassungsstaat von heute entweder zu Regional- oder zu Föderalstrukturen kommt. Was die jeweils "beste Form" für eine konkrete Nation ist, läßt sich nicht allgemein sagen. Die Verfassungslehre kann nur alternative Modelle und Modellelemente zur Verfügung stellen. Das übrige hat die nationale Verfassungspolitik zu leisten. Freilich sind präzise Kriterien der Unterscheidung zwischen Föderalismus und Regionalismus zu erarbeiten, auch wenn es zuweilen fließende Übergänge und Gradationen geben mag: An einem bestimmten Punkt schlägt die Quantität eben doch i.S. Hegels in die Qualität um. Von einem verfassungs- und staatstheoretischen Ansatz her unterscheiden sich die Gliedstaaten eines föderalistischen Verfassungsstaates von den Regionen in einem regionalistisch strukturierten wie folgt: Gliedstaaten haben eigene Völker mit verfassunggebender Gewalt, sie verfügen über eigene Verfassungen bzw. Verfassungsautonomie, sie nehmen originäre Staatsaufgaben wahr. Sie zeichnen sich durch eigene Staatlichkeitselemente aus, wie Flaggen, Hymnen, Namen und andere identitätsbildende Faktoren, wie eigenes Staats- und Geschichtsverständnis. In föderativen Verfassungsstaaten besitzen die Glieder bzw. Länder und Kantone ein substantielles Mitwirkungsrecht auf der gesamtstaatlichen Ebene z.B. durch "zweite Kammern", mindestens aber qualifizierte Zustimmungsrechte. Schließlich ist substantielle Finanzautonomie typisch, ebenso das Vorhandensein einer kompetenziellen Ausgangsvermutung zugunsten der Länder sowie die grundsätzlich auf Rechtskontrolle beschränkte Aufsicht des Gesamtstaates. Die Regionen mögen über einige dieser Elemente verfügen (etwa eigene Namen und
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Flaggen, auch Parlamente wie Spanien), aber sie haben nicht grundsätzlich alle diese hier aufgezählten Elemente. Vom Typus Verfassungsstaat her gedacht ergeben sich an RegionalismusStrukturen folgende "Anforderungen" (auch zur Unterscheidung von bloßen administrativen Dezentralisierungsstrukturen): (1) Die Regionalstruktur muß in den Grundzügen in der geschriebenen Verfassungsurkunde normiert sein und einen Teil der Verfassung im materiellen Sinne bilden (Frankreich bleibt hier derzeit deutlich "unterentwickelt"). (2) Es muß eine effektive Kompetenzverteilung auf Gesetzgebungs-, Regierungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsebene geben ("Spiegelbild" der Gewaltenteilung). (3) Es können rudimentäre "Vorformen" einer Eigenstaatlichkeit vorliegen (wie Namen und Flaggen in Spanien: Art. 4 Abs. 2 Verf. Spanien). (4) Die Organstruktur der Regionalismusfunktionen (z.B. Parlamente) sollte im Grundsätzlichen umrissen werden. (5) Denkbar sind "kleine" Homogenitätsklauseln (vgl. Art. 152 Abs. 1 Verf. Spanien); doch sollte das Gegenprinzip der Pluralität und Vielfalt, das "Eigene" der Regionen sichtbar werden, bei allen möglichen Formen von Kooperation ("kooperativer Regionalismus"); auch der Weg zu "gemeinem Regionalrecht" muß offen bleiben; "Regionalismustreue" - als Analogie zur "Bundestreue" sollte kein Lippenbekenntnis bleiben. "Differenzierter" oder wie in Spanien "asymmetrischer Regionalismus" findet seine Grenze in einem Mindestmaß an Homogenität. (6) Mitwirkungsrechte der Regionen auf gesamtstaatlicher Ebene sollten in Form einer "zweiten kleinen (Regional-)Kammer" oder in Gestalt qualifizierter Zustimmungserfordernisse bestimmt sein. (7) Verfahren der Konfliktregelung zwischen den Gesamtstaaten und den Regionen sowie den Regionen untereinander sollten vorgesehen und von einer unabhängigen Instanz geschützt werden. (8) Haushalts- bzw. Finanzautonomie (durch eigene Steuern gesichert) sollte den Regionen eingeräumt werden, ergänzt durch Formen des Finanzausgleichs. Diese "verfassungsstaatliche Themenliste" für Regionen braucht nicht kumulativ ausgeschöpft zu werden, die einzelnen Nationen dürfen sich sehr unterscheiden; doch sollten wesentliche Teile real werden, nur dann kann von "verfassungsstaatlichem Regionalismus" gesprochen werden; andernfalls würde der Regionalismus zu einem farblosen Allerweltsbegriff. Vieles deutet dar-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen auf hin, daß etwa Frankreich sich erst knapp an der unteren Grenze dieser Anforderungen bewegt 566 , während Spanien an der oberen Grenze angelangt ist 5 6 7 . Im Rahmen einer Verfassungslehre des Regionalismus wären freilich auch die beiden Kategorien "grenzüberschreitender" Regionalismus (z.B. Arge Alp oder Euregio Egrensis) und "grenzunterschreitender" Regionalismus (Regionalismus innerhalb der Gliedstaaten eines Bundesstaates: z.B. Franken in Bayern!) typologisch aufzubereiten. Welche Variante des Grundmusters eines "verfassungsstaatlichen Regionalismus" in der einzelnen Nation auch vorliegen mag: Ähnlich wie beim Föderalismus 568 ist auch beim Regionalismus nach den nicht-juristischen Bedingungen und Voraussetzungen zu fragen. Der verfassungsstaatliche bzw. verfassungsrechtliche Regionalismus braucht eine bestimmte "kulturelle Ambiance", braucht gesellschaftliche Vorgegebenheiten, die ihn "tragen", lebendig halten und fortentwickeln, etwa Aspekte sozial-kultureller Vielfalt, sprachlicher, landsmannschaftlicher oder geschichtlicher Pluralität 569 . Nur wo sie vorliegen, kann verfassungsstaatlicher Regionalismus gedeihen, er bliebe sonst auf dem Papier des Verfassungstextes, realiter siegte letztlich wieder der Einheitsstaat. b) Die sieben Legitimationsgründe Die Frage nach der inneren Rechtfertigung bzw. den Legitimationsgründen soll die Fundamente und Dimensionen der Region erarbeiten. Sie können vor allem aus Prinzipien des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe
566 Zu Frankreich: D.-H. Voss, Regionen und Regionalismus im Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1989, S. 365 ff.; G. Héraud , Die Regionalisierung Frankreichs, in: F. Esterbauer/P. Pernthaler (Hrsg.), Europäischer Regionalismus am Wendepunkt, 1991, S. 79 ff. 567 Dies zeigt sich auch darin, daß in Spanien diskutiert wird, wie die Autonomiestatuten die "territoriale Verfassung des Staates vervollständigt haben" (dazu P. Cruz Villalòn , Die Neugliederung des Spanischen Staates durch die Autonomen Gemeinschaften, JöR 34 (1985), S. 195 (228 ff.) und "was sie zur materiellen Verfassung" Spaniens beigetragen haben (S. 241 ebd.). Der Verf. hat schon 1983 für Spanien von einer „Vorform" eines möglichen Bundesstaates gesprochen (Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff (24). 568 Dazu P. Häberle, Die Entwicklung des Föderalismus in Deutschland - insbesondere in der Phase der Vereinigung, in: J. Kramer (Hrsg.), Föderalismus zwischen Integration und Sezession, 1993, S 201 ff. 569 Grundlegend zu solchen Perspektiven K. Möckl, Der Regionalismus und seine geschichtlichen Grundlagen, in: F. Esterbauer (Hrsg.), Regionalismus, 1978, S. 17 ff. mit Aspekten wie "Geschichtslandschaften", "historische Räume", etc.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gewonnen werden, unabhängig davon, ob sich ein Land schon konkret zum Regionalismus oder Föderalismus entschlossen hat. Zu unterscheiden sind: (1) die grundrechtstheoretische Legitimation (einschließlich der aus den kulturellen Freiheiten gewonnenen) (2) die demokratietheoretische Legitimation (einschließlich der ethnischen Aspekte) (3) die gewaltenteilende Legitimation (Kontroll-Argument) (4) die wirtschaftliche, entwicklungspolitische Legitimation (5) die Integrationsfunktionen als Regionalismus-Argument (6) die aufgabenteilende, dezentralisierende Dimension (das SubsidiaritätsArgument) (7) speziell in Europa das europapolitische Argument (Stichwort "Europas Kultur als Vielfalt und Einheit"). Es liegt auf der Hand, daß viele Analogien zur Legitimation des Föderalismus bestehen - würde er als "Vollendung" des Regionalismus verstanden, wäre dies nur konsequent. In dem hier entfalteteten Konzept wird freilich nicht behauptet, der Föderalismus sei stets die "ideale" Form, sozusagen der "Endzustand" jedes Regionalismus. Das kann sich in einzelnen Nationen so entwickeln, muß aber nicht so sein. Es ist gut denkbar, daß einzelne Verfassungsstaaten sich bewußt "nur" für den real geltenden Regionalismus entscheiden, so dicht sie dabei an die Grenzen zum Modell des Föderalismus geraten mögen! c) Begrenzte Analogiemöglichkeiten im Verhältnis Regionalismus/Föderalismus in Sachen regionale Verselbständigung, Aufgabenteilung und gesamtstaatliche Einordnung Der hier praktizierte kulturwissenschaftliche Ansatz im Verständnis des Regionalismus (Regionalismus "aus Kultur", als ein Stück kultureller Gewaltenteilung, Region als "kulturerfüllter Raum", als "geokulturelle Einheit") und die Erarbeitung mehrerer (aber nicht notwendig gleichzeitig vorliegender) Legitimationsgründe für den Regionalismus, z.T. schon in erkennbarer Analogie zum Bundesstaatsmodell begründet, legen es nahe, den Regionalismus in verwandtschaftliche Nähe zum Föderalismus zu rücken. Dies soll ihn aber nicht zur bloßen "Vorform" des Föderalismus degradieren: Der Regionalismus ist m.E. ein eigenwüchsiges und eigenständiges Strukturprinzip des heutigen Verfassungsstaates "in action". Dennoch fallen manche Ähnlichkeiten ins Auge, zumal wenn man vergleichend arbeitet und sowohl die Verfassungstexte als auch die Verfassungsrechtsprechung und -lehre analysiert. Noch fehlt es 1997 an
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "Federalist Papers" für den Regionalismus, wie sie in den USA 1787 geschaffen wurden, auch sie sind freilich nicht uno actu zu Klassikertexten bzw. zur "Bibel" des Bundesstaates geworden. In einer gemeineuropäischen Perspektive lassen sich aber doch Ähnlichkeiten der Problemlage und -bewältigung formulieren, die ein "Hin- und Herwandern des Blicks" zwischen beiden Alternativen des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe erlauben. Unter Vorbehalt läßt sich sagen, der Regionalismus stehe "zwischen" den Polen klassischer (nationaler) Einheitsstaat und Bundesstaat und "über" den Kommunen. Im folgenden einige Stichworte in Sachen regionaler Verselbständigung, Aufgabenteilung und gesamtstaatlicher Einordnung: d) Der konstitutionelle
Selbststand der "Region", Identitätselemente
Die Region ist zwar kein "Staat" wie das Bundesland im Rahmen eines Bundesstaates, das "Regionalstatut" ist zwar keine "Verfassung" wie die "Landesverfassung", dennoch wachsen Region und Regionalstatut zu einem verfassungsstaatlichen und -rechtlichen Begriff heran. Sie sollten bereits in der geschriebenen Verfassung verankert sein. In dem Maße, wie sich die Region zu einem werdenden Strukturelement des Verfassungsstaates entwickelt, gewinnen ihre Begriffsmerkmale Konturen. In der Zukunft dürften sie klarer zu erkennen sein. Heute kann erst von einem lockeren Ensemble einiger Charakteristika gesprochen werden. Das Maß relativer, politischer Verselbständigungen der Region gegenüber den und innerhalb des (nationalen) Staatsverbandes ist von Verfassungsstaat zu Verfassungsstaat verschieden, aber an einzelnen identitätsbegründenden Elementen, auch Symbolen ablesbar. Spanien ist hier am weitesten entwickelt: Nennung des Rechts auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen (Art. 2), andere Sprachen als Amtssprachen in den jeweiligen Autonomen Gemeinschaften (Art. 3), Möglichkeiten, in den "Autonomiestatuten" sogar "Flaggen und Embleme" anzuerkennen (Art. 4 Abs. 2 ist eine geglückte Symbol-Norm), Begriffe wie "historische Identität" (Art. 147 Abs. 2 lit. a. Verf. Spanien von 1978). Portugal spricht in bezug auf die Inselgruppen Azoren und Madeira von "geographischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten" (Art. 227 Verf. Portugal von 1976/89). Besonders ergiebig für "die Konturierung des Eigenen" der Regionen sind die auf der europäischen Ebene formulierten Texte, die in vielerlei Wendungen die "kulturelle Mannigfaltigkeit" Europas in Gestalt seiner Regionen beschwören und z.B. von "regionalem Kulturbewußtsein" sprechen. Die von der "Gemeinschaftscharta der Regionalisierung" 1988 herausgestellten "gemeinsamen Elemente", z.B. "hinsichtlich der Sprache, der Kultur, der geschichtlichen Tradition und der Interessen im Bereich der Wirtschaft und des Verkehrswesens" (Art. 1 Abs. 2), umschreiben besonders plastisch das, was eine Region als kon-
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
stitutionellen Begriff auszeichnen kann. Bei all dem liegen Analogiemöglichkeiten zum Föderalismus, hier etwa den "Richtbegriffen" des Art. 29 GG auf der Hand 570 . e) Die europäische Ebene ("Makrostruktur") Bisher wurden die innerverfassungsstaatlichen Strukturen erörtert. Jetzt geht es darum, zu fragen, wie sich die klassisch verfassungsstaatlichen Strukturen "Föderalismus" 571 und "Demokratie" und die neueren, intensiv in der Entwicklung begriffenen, wie der Regionalismus, auf der europäischen Ebene wiederfinden oder von dort her propagiert und eingeführt werden. Die "Bestandsaufnahme" muß breit angelegt sein, finden sich doch hier schon vielgestaltige Materialien von "Verfassungselementen" für das vereinte Europa, die im Sinne von Verfassungspolitik für Europa dienlich sein können, hier begrenzt auf Föderalismus, Regionalismus und Demokratie. Daß manche Strukturen in der EU an Vorformen der Bundesstaatlichkeit erinnern, ist bekannt und sollte auch von jenen nicht bestritten werden, die einen "Bundesstaat Europa" via Wirtschafts- und Währungs- sowie Politische Union (noch) ablehnen. Es gibt längst 572
Entwürfe für eine bundesstaatliche Verfassung Europas . Einigkeit besteht, daß Europa - wenn überhaupt - nur als föderalistisches eine Chance hat und ein zentralistisches Europa sein Ende bedeuten würde. Gerade da heute vom technokratischen Brüssel her manche gewollt oder ungewollt zentralistische Tendenz ausgeht und manche Gemeinschaftspolitik so wirkt, ist es höchste Zeit, nach Strukturen zu suchen, die dem entgegensteuern. Neben dem Föderalismus bietet sich hier besonders der Regionalismus an. Und dazu gibt es bereits ein reichhaltiges Reservoir von Texten und Entwürfen von Europa her und auf dieses Europa hin, das hier in aller Kürze vorgeführt werden soll. Textstufen der Regionalismus-Idee spiegeln sich in der frühen Europakonferenz der Gemeinden und Regionen (1970), in der Erklärung von Galway (1975) und vor allem in der Erklärung von Bordeaux (1978) 573 . Hier finden sich Passagen wie: "Als wesentlicher Bestandteil des Staates ist die Region ein Grundelement des Reichtums eines Landes", "Als Erben der Geschichte Eu-
570
Zur konstituierenden Bedeutung dieser Begriffe: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 62 ff; ders., Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Einigung, JöR 40 (1991/1992), S. 291 ff. 571 Aus der Lit.: oben unter Ziff. 4. 572 Abgedruckt in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 571 ff. 573 Texte zit. nach F. Esterbauer (Hrsg.), Regionalismus, 1978.
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ropas und des Reichtums seiner Kultur stellen die Regionen Europas den unersetzlichen und unvergleichlichen Wert der europäischen Zivilisation dar", "Das Recht jedes Europäers" auf seine Region "ist Teil seines Rechts auf Verschiedenheit" und: "Die Kulturautonomie muß jeder Region die Vollmacht garantieren, Verträge und Abkommen mit den anderen europäischen Regionen abzuschließen" sowie "eine Mitwirkung der Regionen in einem vereinten Europa sollte durch Schaffung einer zweiten, aus Gemeinde- und Regionalvertretern zusammengesetzten Kammer ins Auge gefaßt werden". Die Regionalistischen Leitsätze der Studientagung in Brixen (1978) treiben die Textstufendifferenzierung weiter voran. Das zeigt sich in Sätzen wie: "Das Recht auf regionale Eigenart ist Ausfluß des Rechts jedes einzelnen nicht nur auf Gleichheit, sondern auch auf Verschiedenheit bei der Selbstverwirklichung" sowie "Regionale Demokratie verwirklicht mit kleineren überschaubareren und dem Bürger einsichtigeren Gemeinschaften mehr Volksnähe als nur zentrale Demokratien großer Systeme." In der Entschließung der Teilnehmer der Konferenz "Europa der Regionen" (1989) in München heißt es 574 : "Europas Reichtum ist die Vielfalt seiner Völker und Volksgruppen, seiner Kulturen und Sprachen, Nationen, Geschichte und Traditionen, Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften" sowie "Subsidiarität und Föderalismus müssen die Architekturprinzipien Europas sein .... Die künftige Europäische Union sollte in drei Stufen gegliedert sein: Europäische Gemeinschaften, Mitgliedstaaten, Länder oder Regionen oder auch autonome Gemeinschaften." Gefordert wird u.a. ein Initiativ-, Anhörungs- und Mitwirkungsrecht der Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften bei der Willensbildung und Entscheidung auf europäischer Ebene, sowie ein eigenständiges Klagerecht vor dem EuGH. Im Dokument der Kopenhagener KSZE-Konferenz (1990) 575 steht: "Die Teilnehmerstaaten werden die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten auf ihrem Territorium schützen." Und das Krakauer Symposion über das kulturelle Erbe der KSZE (heute OSZE)-Staaten (1991) 576 schuf u.a. den Satz: "Regionale kulturelle Vielfalt ist ein Ausdruck der reichen gemeinsamen kulturellen Identität der Teilnehmerstaaten." Eine besonders eindrucksvolle Regionalismus-Initiative auf europäischer Ebene war und ist das Engagement des Europäischen Parlaments. In seiner 574 575 576
Zit. nach DVB1. 1990, S. 453 f. Zit. nach EuGRZ 1990, S. 239 ff. Zit. nach EuGRZ 1991, S. 250 ff.
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Entschließung zur Regionalpolitik der Gemeinschaft und zur Rolle der Regionen vom November 1989 heißt es u.a. 577 : "Der Regionalpolitik der Gemeinschaft ist es bisher nicht gelungen, einen Prozeß der Annäherung zwischen den Regionen der Gemeinschaft in die Wege zu leiten." Unterbreitet werden "Vorschläge zur Änderung der gemeinschaftlichen Regionalpolitik"; auch findet sich ebenda die These: "Die Regionalisierung in der Gemeinschaft: Faktor der Entwicklung und des wirtschaftlichen Zusammenhalts, Faktor der Demokratisierung der gemeinschaftlichen Integration, Faktor der Aufwertung der kulturellen Besonderheiten." Die sog. "Gemeinschaftscharta der Regionalisierung" des Europäischen Parlaments vom 18. November 1988 liefert uns präzise Texte zum Thema. Zunächst eine Legaldefinition: Art. 1: "(1) Im Sinne dieser Charta versteht man unter Region ein Gebiet, das aus geographischer Sicht eine deutliche Einheit bildet, oder aber ein gleichartiger Komplex von Gebieten, die ein in sich geschlossenes Gefiige darstellen und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus resultierenden Eigenheiten bewahren und weiterentwickeln möchte, um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben. (2) Unter "gemeinsamen Elementen" einer bestimmten Bevölkerung versteht man gemeinsame Merkmale hinsichtlich der Sprache, der Kultur, der geschichtlichen Tradition und der Interessen im Bereich der Wirtschaft und des Verkehrswesens. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß alle diese Elemente immer vereint sind." Nach Art. 6 sollen die Regionen zumindest über eine Regionalversammlung und eine Regionalregierung mit einem Präsidenten verfugen; Art. 23 verlangt von den Mitgliedstaaten der EG (heute EU) die Förderung interregionaler grenzübergreifender Zusammenarbeit, und im Kapitel V I wird eine Beteiligung der Regionen an den Entscheidungen der Staaten und der Europäischen Gemeinschaft gefordert. Die Rede ist vom "kooperativen Regionalismus", eine
577
Zit. nach ABl. EG Nr. C 326/289 sowie ABl. EG Nr. C 326/296 vom 18. November 1988 (Anlage Gemeinschaftscharta der Regionalisierung).- Aus der Lit.: W. Böttcher, Europafähigkeit durch Regionalisierung, ZRP 1990, S. 329 ff.; W. Haneklaus, Zur Frage der funktionsgerechten Regionalisierung in einer föderal verfaßten Europäischen Union, DVB1. 1991, S. 295 ff.; G. Bonncini (Hrsg.), Das ungleiche Europa, Faktoren und Ausmaße der regionalen Ungleichgewichte in Europa, Trient 1980; J.-F. Auby, L'Europe des régions, in: AJDA Nr. 4 vom 20. April 1990, S. 208 ff.; F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Europa der Regionen - Europa der Kommunen, 1994; H.-W. Rengeling, Europa der Regionen, FS Thieme, 1993, S. 445 ff.; A. Weber, Die Bedeutung der Regionen ftir die Verfassungsstruktur der EU, FS C. Heymanns Verlag, 1995, S. 681 ff.; P. Pernthaler (Hrsg.), Außenpolitik der Gliedstaaten und Regionen, 1991; R. Theissen, Der Ausschuß der Regionen (Art. 198 a-c EG-Vertrag), 1996; U. Michel, Regionen, Mitgliedstaaten und Europäische Union, 1996.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen treffende Analogie zum "kooperativen Föderalismus", von der Sicherstellung einer "Institutionalisierung der Vertretung der Regionen". Damit liegen genügend Materialien vor, aus denen parallel zur "Föderalisierung" Europas seine "Regionalisierung" auf staatlicher und überstaatlicher Ebene gestaltet werden kann - beide, Föderalisierung wie Regionalisierung, bilden nur die andere Seite der "Europäisierung Europas". A l l diese Tendenzen sind im Zusammenhang zu sehen.
6. Gemeinwohl und Staatsaufgaben a) Theoriegeschichte
und -diskussion in "Sachen Gemeinwohl"
Theoriegeschichte und Theoriediskussion "in Sachen Gemeinwohl" können hier nicht in extenso nachgezeichnet werden. Ein solches Unterfangen müßte praktisch die abendländische Rechts- und Staatsphilosophie rekapitulieren 578 und ins germanische Denken weiterführen, das sich über die Jahrhunderte hinweg zu der Idee bekannte, das Staatswesen habe einem über die wechselnden Personen der jeweiligen Staatslenker erhabenen "gemeinen Besten" zu dienen 579 . Im folgenden seien daher nur einige Klassikertexte in Erinnerung gerufen, die bis heute die Gemeinwohldiskussion prägen und in deren kulturellen Kontext und Kraftfeld dann auch das eigene, für das GG entwickelte Gemeinwohlverständnis gesucht werden muß 5 8 0 , nicht zuletzt im Kontrast zu dem Gegenmodell: so etwa - neben Thomas von Aquins Zentralbegriff des bonum commune - im Verhältnis zur monarchischen bzw. exklusiv staatlichen Gemeinwohldoktrin, wonach "princeps legibus solutus" exklusiv das Gemeinwohl definiert; in der "Staatsräson" 581 ist bis heute etwas von dieser sehr deutschen Tradition spürbar(!), und alle Arten von geschlossenen Gesellschaften i.S. Sir
578
Siehe z.B. Τ Honseil, Gemeinwohl und öffentliches Interesse im klassischen römischen Recht, ZRG Roman. Abt. 95 (1978), S. 93 ff. 579 Vgl. W. Merk, Der Gedanke des gemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, 1934, S. 3, 33, 35. 580 Einen konzentrierten Überblick vermittelt M. Stolleis, Gemeinwohl und Minimalkonsens, Öffentliche und private Interessen in der Demokratie, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 3/78 ν. 21.1.1978, S. 37 ff.; Α. Hollerbach, Art. Gemeinwohl, Staatslexikon Bd. 2, 7. Aufl., 1986, Sp. 858 ff.; s. auch A. Baruzzi, Freiheit, Recht und Gemeinwohl, 1990; H.-D. Horn, Staat und Gesellschaft in der Verwaltung des Pluralismus, Zur Suche nach Organisationsprinzipien im Kampf ums Gemeinwohl, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 545 ff. 581 Dazu R. Schnur (Hrsg.), Staatsräson, Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, 1975.
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Poppers, d.h. von Gesellschaften mit einheitlicher weltanschaulicher Grundlage und autokratischer bzw. autoritärer Spitze, sind Variationen dieses Gemeinwohlmodells, das im Bemühen um die "Glückseligkeit" und Wohlfahrt der Bürger diese entmündigt. Wir finden Sätze wie "fiat salus publica ne pereat res publica" - zugleich eine "Berufung" auf den Öffentlichkeitszusammenhang des Gemeinwohls - und das dictum Ciceros (De re publica, 1, 25): "Est autem res publica res populi". Stellen wir dem die Tätigkeit der jakobinischen Wohlfahrtsausschüsse und die NS-Parole "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" 582 gegenüber, so haben wir zwei Kontrastmodelle, die jenen Argumente zu liefern scheinen, die das Gemeinwohl bzw. das "öffentliche Interesse" als bloße (überdies gefährliche) "Leerformel" abtun. Gewiß sensibilisiert die Geschichte dafür, daß Berufungen auf das Gemeinwohl oft um so emphatischer sind, je größer die tatsächliche Unterdrückung und Entrechtung ist 5 8 3 und je mehr die konkrete Bestimmung des Gemeinwohls in den Arkanbereich der (wenigen) Herrschenden fällt. Indes sollten derartige Gefahren und Mißbräuche einer der Gerechtigkeit oder "justifia" gleichrangigen - Formel kein Grund sein, den Begriff bzw. die Sache, die er meint, zu streichen 584. Der Jurist ist überdies in der glücklich-unglücklichen Lage, den ihm durch das positive Recht "vorgegebenen" Begriff auslegen zu müssen. Er steht unter "Interpretationszwang" und kann dem nicht mit dem Leerformelargument entgehen.- Erwähnt sei ein Klas585
sikerzitat: Georg Büchner formuliert (im Hessischen Landboten) : "Der Staat also sind alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl aller gesichert wird und die aus dem Wohl aller hervorgehen sollen." Dieser Text liefert bereits einen Hinweis auf den Gemeinwohlauftrag aller staatlichen Funktionen und Instanzen in bezug auf alle, um so mehr, als er bei Büchner in einem bewußt "republikanischen" Zusammenhang steht. Aus dem Bisherigen lassen sich erste Einsichten gewinnen: Das Gemeinwohl ist eine menschliches Zusammenleben - in der res publica - mitkonstituierende Formel. Seine geschichtlich wandelbaren, sinnvariablen Inhalte verweisen auf letzte oder doch vorletzte Legitimationszusammenhänge wie Staatsverständnis und Herrschaftsform ("Republik", "Demokratie"), Sozialethik 582 Dazu auch M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 76 ff. 583 Vgl. auch M Stolleis, Art. Gemeinwohl, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 802. 584 //.//. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 5 ff- Überdies kann in erfahrungswissenschaftlicher Sicht gerade aus negativen Lehren der Geschichte gelernt werden. Die Negierung der "Gemeinnutz-Parole" der NS-Zeit hilft heute ex negativo weiter (zu Techniken negativer Annäherung an öffentliche Interessen mein Buch Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 507 ff). 585 Zit. nach der Reclam Ausgabe, 1977, S. 39.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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("Gemeinschaftsgesinnung", vgl. Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen von 1947) und Gerechtigkeitsidee, so konkret es dann im Einzelfall des positiven Rechts "umgesetzt" wird. Die unterschiedlich gestufte Offenheit oder Unbestimmtheit des Gemeinwohls ist gerade ein Grund für die Unentbehrlichkeit, aber auch Faszinationskraft des Begriffs "Gemeinwohl". Es dient als politisch ethischer Appell an Herrschende und Beherrschte, die egoistische Interessenverfolgung zugun586
sten des "allgemeinen Interesses" zurückzustellen . Zu unterscheiden ist zwischen dem Gemeinwohl als idealem Postulat und den Inhalten und Formen, in denen es in einem Gemeinwesen realiter verwirklicht wird. Diese Spannung zwischen Gemeinwohlideal und Gemeinwohlwirklichkeit verweist auf andere SpannungsVerhältnisse, die unseren Begriff prägen: die Spannung zum privaten Interesse (und Recht), verfassungsstaatlich-juristisch und modern gesprochen: die Spannung zu oder der mögliche Konflikt mit den Grundrechten der Bürger, ferner die Spannung zur NichtÖffentlichkeit, herkömmlich zur "Arkanmaxime" 587 , also zum Geheimen. So klar und unverzichtbar der Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und öffentlichen Interessen bzw. Gemeinwohl bleiben muß, so unvermeidbar ist, daß im Ausnahmefall sog. "öffentliche Interessen" NichtÖffentlichkeit verlangen können. Dies läßt sich im geltenden Recht in Gestalt des Geheimhaltungsgemeinwohltatbestands belegen 588 und auch sachlich begründen. Ein funktionsfähiges Gemeinwesen kann gewisser staatlicher Geheimbereiche nicht entraten, man denke an bestimmte Regierungs- und Verwaltungsvorgänge, nicht nur im Bereich der Außenpolitik. Darin offenbart sich aber auch eine Ambivalenz des "Öffentlichen Interesses". Im Konfliktfall streiten manche öffentliche Interessen für Öffentlichkeit, andere für Geheimhaltung, also Nicht-Öffentlichkeit. An diesem Beispiel von sog. "Insichkonflikten öffentlicher Interessen" zeigt sich eine weitere Eigenschaft des Gemeinwohls: es ist eine Grundregel (Kollisionsregel) bei Interessenkonflikten etwa zum privaten Interesse hin, bei der Erweiterung oder Beschneidung von Rechten, dies insonderheit bei der Einschränkung von Grundrechten. Und: das Gemeinwohl bleibt Gefahren des Mißbrauchs und Perversionen ausgesetzt, denen es vorzubeugen gilt. Es ist ideologieanfällig und bedarf der "Disziplinierung" durch Korrelations- bzw. "Gegenbegriffe" wie "Grundrechte", "Privatheitsschutz", "Gerechtigkeit" etc. oder durch organisatorische Vorkehrungen wie Gewaltenteilung und Rechtsschutz.
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M Stolleis, Art. Gemeinwohl, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 802; s. auch A. Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, 1971, S. 260: "Gemeinwohl als Reflexionsgebot". 587 Zu ihr M. Stolleis, Arcana Imperii und Ratio Status, 1980. 588 Nachweise in P. Häberle, Öffentliches Interesse, aaO., S. 102 ff.
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Bleiben wir im Rahmen dieses Überblicks 589 , so fällt eine weitere Funktion des Gemeinwohlbegriffs auf: er ist aufgaben- und kompetenzbegründend. Er dient als (Rechts-)Titel, etwa fur staatliches Handeln, einst des Monarchen, heute eines Verfassungsorgans wie des demokratischen Gesetzgebers, aber auch einer Verwaltungsbehörde. Damit ist ein weiterer möglicher Annäherungsweg an den Gemeinwohlbegriff genannt: der kompetenzielle, funktionelle oder prozedurale. Es kommt darauf an, wer das Gemeinwohl auf welchen Wegen (prozessual) kompetent (letztinstanzlich) bestimmt. Eine weitere "Spannung" des Gemeinwohlbegriffs liegt in seinem Verhältnis zu Recht und Gesetz. Sowohl aus dem heutigen positiven Recht wie auch aus der ideen- und sozialgeschichtlichen Tradition läßt sich nachweisen, daß das Gemeinwohl teils integrierender Bestandteil der Rechtsordnung und selbst Rechtssatz, ja Rechtsprinzip ist - erinnern wir uns der Beispiele des Art. 14 Abs. 2 und 3 GG. Auf der anderen Seite ist es aber auch Ausnahme vom und Durchbrechung von Recht. Man denke an die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV, eine spezielle Gemeinwohlklausel, d.h. die Kompetenz, "die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen" zu treffen, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird. Der "souveräne Monarch" durchbrach im Absolutismus die Rechtsordnung unter Berufung auf das "höhere" Gemeinwohl - insofern steht es gegen Recht und Gesetz, ja auch gegen Gerechtigkeit! Ein Stück dieser Tradition ist noch heute im Sprachgebrauch lebendig. Und diese Dialektik ist im Grunde auch in dem Satz angelegt: "salus publica suprema lex esto". Damit wird zwar einerseits die salus publica in die Rechtsordnung integriert: als oberste lex, andererseits ist sie als oberste lex am ranghöchsten und damit potentiell ein Titel, der die niederere lex aufhebt. Warum diese Vorüberlegungen? Nur aus der Tiefe der historischen Tradition, die ja auch die Rechtstexte von heute positiv oder negativ prägt, lassen sich Gemeinwohlfunktionen und -inhalte unserer Rechtsordnung bestimmen. Ein Begriff, der so stark im kulturellen Kontext steht wie das Gemeinwohl, kann von dieser Ambiance nicht abstrahieren. Dieser Kulturzusammenhang vermittelt aber auch Chancen für das interdisziplinäre Gespräch und baut eine Brücke z.B. zu den Kirchen: deren Gemeinwohl Verständnis ist notwendigerweise anders akzentuiert als das "staatliche" und das "gesellschaftliche" bzw. verfassungsstaatliche; zur Mahnung und als Appellinstanz können die Kirchen
589 Siehe auch C.H. Ule (Hrsg.), Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, 1968; W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 185 ff.; W \ Krawietz, Unbestimmter Rechtsbegriff, öffentliches Interesse und geschichtliche Gemeinwohlklauseln als juristisches Entscheidungsproblem, in: Der Staat 11 (1972), S. 349 ff.; A. Rauscher (Hrsg.), Selbstinteresse und Gemeinwohl, 1985.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen eben dadurch Gefahren, die der und von der staatlichen Gemeinwohlkonkretisierung immer drohen, entgegenwirken (z.B. durch ihre Denkschriften). Zugleich zeigt sich, daß Gemeinwohl ein Grundlagenbegriff unseres politischen Gemeinwesens ist, vielleicht eine Konsensformel, die als "regulative Idee" in sozialethische Bezirke reicht (und schon sprachlich auf "Gemeinschaft", "Gemeinsinn", "Gemeinwesen" deutet). Diese werden mit dem Begriff der "guten Ordnung" oder des republikanischen Gemeinwohlverständnisses assoziiert. Das bedeutet aber nicht, daß das Gemeinwohl nur aus den letzten Konsensschichten des Gemeinwesens zu bestimmen ist: es kommt auch auf den konkret juristischen Zusammenhang an. Ihn hat der Jurist mit seinem "Handwerkszeug" zu ermitteln. Aus "seiner" Verfassung, aus seinem Selbstverständnis ist es zu erarbeiten, so funktionell unterschiedlich es im geltenden Recht verwendet wird. Darum ist auch vom Typus des Verfassungsstaates und von seiner individuellen Gestalt im GG aus zu argumentieren, wenn im folgenden das verfassungsstaatliche und juristische Gemeinwohlverständnis umrissen wird. b) Der eigene Ansatz im Umriß: Gemeinwohlinhalte und-wege (-verfahren) in einer offenen Gesellschaft, verfassungsstaatliches Gemeinwohlverständnis undjuristische Gemeinwohltheorie (1) Die Grundthesen Der folgende Teil dient der Entfaltung des eigenen Ansatzes. Er läßt sich im groben als "verfassungsstaatliches Gemeinwohlverständnis" charakterisieren. Einschlägig werden die Stichworte: "salus publica ex constitutione", pluralistisches und prozessuales Gemeinwohlverständnis 590, "salus publica ex processu" 590
Dieser verfassungstheoretische Ansatz zum "Gemeinwohl", insbesondere das prozessual-pluralistische Verständnis der "öffentlichen Interessen" und die Erarbeitung ihres Zusammenhangs mit dem Öffentlichen, aber auch die juristische Qualität des Begriffs "öffentliches Interesse" wurden in der rechtswissenschaftlichen Literatur seit dem Buch des Verf. von 1970 ganz oder teilweise häufig aufgegriffen und (mehr oder weniger modifiziert) übernommen; vgl. nur: H.H. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, bes. S. 17 ff., 37 ff., 281, 349 ff.; M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, bes. S. 7, 297, 304; ders., Art. Gemeinwohl, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. (1975), Sp. 801 ff.; J. Knebel, Koalitionsfreiheit und Gemeinwohl, 1978, bes. S. 90 ff., 99 ff., 160; K.H. Giessen, Die Gewerkschaften im Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung, 1976, bes. S. 102, 108, 162, 184 ff.; H. Leßmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976, bes. S. 133 ff., 231 f.; K. Meyer-Teschendorf Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979, S. 37 ff., 70 f.; K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 55 ff, 224 f.; R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, z.B. S. 72 f.: "Kompetenz als Medium der Gemeinwohlbestimmung". 55 Häberle
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("Gemeinwohl als Prozeß"). Das Gemeinwohl ist im Rahmen des GG weniger vorgegeben als je konkret aufgegeben; es ist weithin Ergebnis von komplexen Prozessen (des "trial and error") im vielgliedrigen Zusammenspiel staatlicher Funktionen und öffentlicher Vorgänge, so sehr es gewisse inhaltliche Direktiven des GG gibt und geben muß (zuletzt die Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG). Das Gemeinwohl, identisch mit den "öffentlichen Interessen", hat Teil am Kraftfeld des Öffentlichen ebenso wie der öffentlichen Meinung, des Bereichs des pluralistisch strukturierten gesellschaftlich-öffentlichen oder der "öffentlichen Freiheit", kurz: es lebt aus dem Kraftfeld der "res publica" 591 . Alle staatlichen Funktionen haben "ihren" Gemeinwohlbezug. Das Gesetz etwa entsteht, ergeht und wandelt bzw. ändert sich in mehr oder weniger vagen Gemeinwohlorientierungen. Die 2. Gewalt ist öffentlich Gemeinwohlverwaltung. Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit hat ihren funktionellrechtlichen Anteil an den Prozessen der Gemeinwohlkonkretisierung: Sie ist insofern "Gemeinwohljudikatur" 592 und arbeitet ebenso wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit 593 mit dem
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W. Schmidt definiert in seinem Bielefelder Staatsrechtslehrerreferat (VVDStRL 33 (1975), S. 183 (195, 198)) das Gemeinwohl als eine "Bündelung" jener Interessen, die im Konfliktfall erst durch Entscheidung staatlicher Organe als vorrangig und damit als "öffentliche" anerkannt werden. Das "Öffentliche" eines Interesses ist für ihn die durch die rechtsverbindliche Entscheidung staatlicher Organe erlangte Zusatzqualität eines ursprünglichen Partikularinteresses. Ist in der Rechtsordnung noch nichts vorentschieden, so handele es sich bei den konkurrierenden Partikularinteressen um "latent öffentliche Interessen". Dem ist nur zum Teil zuzustimmen. Von der Position W. Schmidts aus machen sich im Bereich der pluralistisch strukturierten Öffentlichkeit öffentliche Interessen geltend, die auf die staatliche Zusatzqualität "warten" bzw. angewiesen sind. Über die "Zusatzqualität" darf aber nicht durch eine Hintertür die alte "Staatlichkeit" des öffentlichen Interesses und das etatistische Monopol auf das "Öffentliche" wieder eingeführt werden. Viele öffentliche Interessen sind schon als solche, m.w.N. durch ihre bloße Formulierung etwa im öffentlichen Meinungsprozeß, von öffentlicher Qualität. Die Verfassung regt ihre Artikulation dadurch an bzw. rechnet mit ihr insofern, als sie den öffentlichen Bereich garantiert (z.B. durch Art. 5, 9, 42 GG). Hierin liegt (wenn man will) eine vorweggenommene Anerkennung. Schmidts "latente" öffentliche Interessen sind in der res publica hier wie anderwärts weit mehr virulent als "latent", auch für die Rechtsordnung. 592 Zur Neugliederungsrechtsprechung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit s. die Nachweise in meiner Kommentierten Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 39 f.; ferner R. Pfaff, Planungsrechtsprechung und ihre Funktionen, 1980, S. 176 ff; A. von Mutius, Kommunalrecht, 1996, S. 36 f.- „Gemeinwohljudikatur" des BVerfG zuletzt in E 93, 362 (371); 91, 186 (247); 89, 48 (66); 89, 69 (84); 88, 103 (114 f.). 593 Dies seit 100 Jahren: Nachweise in meinem Buch Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 245 ff.- Zur Problematik des Vertreters des öffentlichen Interesses in der Verwaltungsgerichtsbarkeit: CH. Ule, in: DVB1. 1981, S. 953 ff; F. Kopp (Hrsg.), Die Vertretung des öffentlichen Interesses in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1982; W. Rzepka, Öffentliches Interesse i.S. der §§ 35 ff. VwGO, BayVBl. 1992, S. 295 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "öffentlichen Interesse" in sehr vielgestaltiger Weise. Privatheitschutz, insonderheit durch Aspekte der Grundrechte als private Freiheit, Gewaltenteilung, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte etc. bestimmen das Gemeinwohl ebenso mit wie das Prinzip des sozialen Rechtsstaates, das Kulturverfassungsrecht 594 und sein offenes Kulturkonzept oder andere sog. "Staatszwecke". Auch die Gerechtigkeit ist ein "Relationsbegriff ' zum Gemeinwohl (vielleicht sogar teilidentisch: "Gemeinwohlgerechtigkeit"), mit dem sie freilich auch kollidieren kann. Speziell im Verhältnis zu den Grundrechten ist der Gemeinwohlbegriff ambivalent: Einerseits ist grundrechtliche Freiheit sein konstituierender Bestandteil, andererseits erlaubt die Abwägung im Einzelfall, Grundrechte im Gemeinwohlinteresse einzuschränken; auch werden Grundpflichten als mögliches Gemeinwohlthema sichtbar. Das Gemeinwohl könnte in Zukunft verstärkt auf der Bindungsseite der Freiheit auftreten: denken wir nur an die Energieverknappung, die viel zitierten "Grenzen des Sozialstaates", an die Finanzkrise u.a.m. Ein "Zusammenrücken" der Bürger, vermehrte individuelle und nationale Anstrengungen könnten sich sozialethisch wie juristisch als im Gemeinwohlinteresse notwendig erweisen (z.B. ein Mehr an Teilzeitarbeit). Dafür sollten wir uns rüsten. Das Gemeinwohl ist keine "Schönwetterformel", aber auch kein spezifisch nur der Not- und Ausnahmesituation zugeordneter Begriff. Er gehört zur Normalität und Normativität eines politischen Gemeinwesens, er hat rechtlich begrenzte Funktionen, dies aber auch in schwierigen Zeiten. Vielfältige Gemeinwohlimpulse kommen im Verfassungsstaat aus der ebenso offenen wie verfaßten Gesellschaft. Die pluralistischen Gruppen aller Art, vor allem aber Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die weltanschaulichen und sozialen Gruppierungen, die kulturellen Organisationen formulieren aggressiv oder defensiv Gemeinwohlaspekte vor, die sie in die staatliche bzw. rechtliche Gemeinwohlbestimmung einbringen möchten 595 . Begrenzt gilt dies auch für die Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften. Fragen wir nach Struktur und Funktion des Gemeinwohls im Verfassungsstaat, so kann es nur differenzierte Antworten geben. Gemeinwohl ist teils sozialethische Aussage und wertintensive Forderung, teils "handfest" juristischer Begriff, sei es als Generalklausel, sei es mit speziellem Inhalt. Seine 594
Dazu meine Studie: Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980. Und im historischen Wandel auch einbringen (Relevanz der Zeitdimension). Zur Verankerung solcher Aktivitäten in der korporativen Seite grundrechtlicher Freiheit: P. Häberle, Verbände als Gegenstand demokratischer Verfassungslehre, in: ZHR 1981, S. 473 ff; ferner: H. Leßmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976, S. 139 ff. Vgl. zum „status corporativus" oben Sechster Teil VII 5. 595
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Funktion variiert je nach Sachzusammenhang und Konkretisierungsstufe. Für den Gesetzgeber kann es Verfassungsdirektive sein, für die Verwaltung kompetenzbegründend wirken und als Zielformel dienen, für die Rechtsprechung kann es Auslegungsgegenstand sein, etwa bei der Abwägung der Interessen als Voraussetzung einer Enteignung; es kann aber auch als prätorisches Auslegungsinstrument fungieren, indem es der Richter mehr oder weniger "frei" einführt, um das "law in (public) action" als solches zu interpretieren 596. So gesehen ist der Gemeinwohlbegriff der Sache nach unentbehrlich, mögen auch die Bezeichnungen und Funktionsebenen wechseln. Die res publica braucht ihn sowohl als Grundlagenbegriff zur Legitimation staatlichen Handelns, besonders zur Kontrolle der Amtsausübung, sie braucht ihn aber auch im juristischen Detailzusammenhang. Ausdruck dieser Komplexität ist es, daß sich viele Wissenschaften des Gemeinwohls annehmen: die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, die Rechtswissenschaft und die Theologie. Ausdruck dieser Komplexität ist auch, daß der Politiker auf seine Weise um das Gemeinwohl ringt, während der Jurist es mit den Regeln seines Faches zu erarbeiten hat. Doch sollten sich alle sowohl von Gemeinwohleuphorie wie vom Gegenteil, dem Gemeinwohlpessimismus, freihalten. Daß sich der Topos Gemeinwohl bzw. öffentliches Interesse spezifisch juristisch erarbeiten und d.h. systematisieren und rationalisieren, wenn man will: verrechtlichen läßt, haben Untersuchungen zur deutschen Rechtsprechungspraxis seit hundert Jahren und in ihrem Spiegel auch zur Staats- und Verwaltungspraxis belegt 597 . Darum darf von einer juristischen Gemeinwohltheorie gesprochen werden. Von einem "verfassungsstaatlichen Gemeinwohlverständnis" ist hier deshalb die Rede, weil die gemeineuropäische und angloamerikanische Entfaltung des Verfassungsstaates (als Verfassungsstaat für alle) dem Gemeinwohl 598 ganz bestimmte Inhalte und vor allem Verfahren i.S. des "due process" vermittelt. Nur um dieses verfassungsstaatliche Gemeinwohl geht es heute. Verfassung ist hier verstanden als rechtliche Grundordnung von offenem Staat und verfaßter Gesellschaft, mit der Menschenwürde als Prämisse, mit 596
Beispielsfälle zu alledem in P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, pass. 597 Ebd. S. 240 ff. 598 Die politikwissenschaftliche pluralistische Gemeinwohlsicht Emst Fraenkels, der seine (Pluralismus-)Theorie charakteristischerweise trotz Vorarbeiten seit 1933 wesentlich erst nach der Rückkehr aus den USA als einer pluralistischen Demokratie ausgearbeitet hat (vgl. E. Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie, in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, 1964, Bd. 2, S. Β 5 ff.; vgl. dazu auch Η Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, 1977, S. 186 ff, 202 ff), wurde unter dem GG überaus wirksam. Dazu schon oben Vierter Teil V, insbes. 2.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Grundrechten und Gewaltenteilung im engeren (d.h. staatlichen) und weiteren (d.h. pluralen) Sinne, mit der demokratischen Legitimierung der Staatsfunktionen und den Staatszielen wie sozialer Rechtsstaat und Kulturstaat mit offenem Kulturkonzept. Anders formuliert: Inhalte und Verfahren konstituieren eine Verfassung, Inhalte und Verfahren bestimmen das Gemeinwohl. Die Überlegenheit des pluralen Modells sollten viele Wissenschaften dartun, neben der Rechtswissenschaft auch die Philosophie oder die Wirtschaftswissenschaften. (2) Einzelwissenschaftliche Kooperation, das Kulturgespräch über das Gemeinwohl Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen: das Gemeinwohl als Gegenstand einzelwissenschaftlicher Kooperation. Hier stehen wir erst am Anfang. Notwendig wird ein "Kulturgespräch" über das Gemeinwohl. Wenn das Gemeinwohl im Verfassungsstaat den geschilderten zentralen Rang besitzt, dann muß es so übergreifend und tief diskutiert werden, wie es die Sache "Verfassung" verlangt. Diese ist zwar auch "juristisches Regelwerk" und rechtliche Grundordnung. Sie besitzt aber darüber hinaus spezifisch kulturelle (auch nichtrationale) Inhalte, die letztlich kulturwissenschaftlich zu gewinnen sind 599 . So unverzichtbar es war, das Gemeinwohl von dem "positivistischen" Vorurteil zu befreien, es sei juristisch gesehen eine "Allerweltsformel", so wichtig ist es heute, Anschluß an die interdisziplinäre Diskussion zu gewinnen. Das Gemeinwohl, seit der Antike eine Kategorie des Menschen, der über sein politisches Gemeinwesen denkt und in ihm und für es handelt, steht je immer in einem Kulturzusammenhang. Die Verfassung, d.h. unser GG ist ein Teil dieses historisch gewordenen Kulturzusammenhangs unseres Gemeinwesens und seiner Identität. Aus den Spannungen und Ambivalenzen, in denen das Gemeinwohl in den oben zitierten Klassikertexten 600 und ihrer "Gemeinwohlkultur" sichtbar steht, und aus dem positiven Norm- und Rechtsprechungsmaterial ergibt sich, daß Gemeinwohl beides ist: Rechtsprinzip bzw. Rechtsnorm und Kulturerrungenschaft, es prägt den juristischen Alltag und die "vorletzten" Grundsatzkontroversen unseres Gemeinwesens, es ist philosophischer "Glaubenssatz" und rational zu bestimmende Größe, es ist inhaltlich geprägt und in der geschichtlichen Entwicklung (auch innerhalb des Verfassungsstaates!) doch auch offen. Juristisch verstandene, gebaute und durchge599 Vgl. zum kulturwissenschaftlichen Ansatz: P. Häberle, in: ders., Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 ff.; zuerst ders., in: Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979. 600 Vgl. allg. P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. Siehe auch: Fünfter Teil XIII.
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formte Verfassungen leben nicht aus sich selbst, sie werden und gedeihen aus zahlreichen Integrationsleistungen der Kultur. Ein Katalysator dabei ist das je neu zu bestimmende, auf immer neue Verständigung angewiesene, aber auch mit klassischen Inhalten und Verfahren begabte "Gemeinwohl". Die Verfassung des Pluralismus beruht insofern auf zum großen Teil ungeschriebenen Voraussetzungen, die der Jurist nur nennen kann, die seiner Gestaltung aber nur zum Teil zugänglich sind. Gemeint sind der "Grundkonsens", der Wille, in einem politischen Gemeinwesen nach bestimmten Maximen zur Befriedigung ("Optimierung") menschlicher Bedürfnisse auf Dauer friedlich zusammen zu leben, die Anerkennung der prozessualen Regeln, d.h. die Bereitschaft, die Verfahren zu respektieren, die zur Gemeinwohlbestimmung angewandt werden, vorbehaltlich des Minderheitenschutzes, kurz: die Toleranz. A l l dies ist (neben den Erziehungszielen) eine Prämisse des hier entwickelten pluralistischen Gemeinwohlverständnisses sowie Prämisse des Verfassungsstaates. Ein Minimum an sachlichen Inhalten und ein Optimum an Verfahren (sog. "Spielregeln"), vor allem Toleranz, muß Gegenstand des Grundkonsenses sein, soll das hier vorgestellte Gemeinwohlmodell tauglich bleiben und glaubwürdig sein. Es kann einen Punkt geben, von dem ab die konkreten Gemeinwohlvorstellungen der Bürger und Gruppen so weit auseinanderfallen, daß die bislang "abstrakt" anerkannten Verfahrensregeln nicht mehr tragen, weil der Grundkonsens i.S. immer neuen Sich-Vertragens nicht mehr besteht. Dann ist die Identität des Gemeinwesens als freiheitlichdemokratischer Grundordnung in Gefahr. Noch besteht der "allgemeine Wille", negativ jedenfalls keinen totalitären Gemeinwohlkonzepten zu folgen, aber die Voraussetzungen und Gefahren für das pluralistische und offene, für das verfassungsstaatliche und juristische Gemeinwohlmodell müssen beim Namen genannt werden, um immer neu auf Abhilfen zu sinnen, wo das Gemeinwohl verfehlt, auch vernachlässigt wird (wie lange im Umweltschutz) und Defizite an privatem Interessenschutz und Grundfreiheiten bestehen. Im übrigen bedarf es gerade bei diesen sog. "selbstverständlichen" Voraussetzungen der Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen. Der Jurist ist weder die einzige noch die letzte Instanz "in Sachen Gemeinwohl". In der Grundwerte-Debatte seit 1976 spielte der "Gemeinwohl"-Topos ausdrücklich zwar nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn das Wort der deutschen Bischöfe vom 7. Mai 1976 auf die Gemeinwohl-Definition des II. Vatikanischen Konzils zurückgriff 601 oder wenn etwa die Verwirklichung des Ge601
Siehe gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück. Ein Wort der deutschen Bischöfe zu Orientierungsfragen unserer Gesellschaft vom 7. Mai 1976, in: G. Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977, S. 133 (138).- Danach ist Gemeinwohl "die Summe aller jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die
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meinwohls und die Konkretisierung der Grundwerte in Beziehung gesetzt werden 602 . Der Sache nach läßt sich die Grundwerte-Debatte nach Entstehung, inhaltlichem Verlauf und Ergebnis als Grundsatzkontroverse um die Bestimmung des Gemeinwohls interpretieren: Anlaß und Grund für die Grundwertediskussion waren Debatten um die sozial-liberale Reformpolitik in den Bereichen von Ehe und Familie, Jugendschutz und Pornographie. Nach einer frühen Stellungnahme von Landesbischof Dietzfelbinger und Kardinal Döpfner am 10. Dezember 1970 zu "Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung" war es vor allem die Diskussion um die Reform des § 218 StGB, die zu den Erklärungen der katholischen Kirche und den anschließenden Diskussionsbeiträgen von Politikern und Wissenschaftlern geführt haben 603 : Diese konkrete Diskussion um die Art der Konkretisierung des Gemeinwohls hat die Grundwertedebatte erst ausgelöst. Inhaltlich war sie zwar vor allem bestimmt vom "Schwarzer-Peter-Spiel" der Kompetenzverteilung zwischen "Staat" und "Gesellschaft" 604 bei der Pflege der gemeinsamen Grundüberzeugungen des politischen Gemeinwesens: Umstritten war namentlich die Reichweite der Grundwerte-Bewahrungskompetenz des (Verfassungs-) Staates. Völlige Einigkeit bestand aber darin, daß ein praktischer Grundwert-Konsens notwendige Bedingung für jede Form von Politik und Rechtssetzung im pluralistischen Verfassungsstaat sei: Die politischen Differenzen zeigen sich erst bei der (notwendigen) Konkretisierung dieser Grundwerte in und durch Gesetze und Politik. Insofern verweist die Grundwerte-Debatte auf das Gemeinwohl: Die Vereinbarkeit von bestimmten Politiken und Gesetzen mit den Grundwerten ist zumindest ein Indiz für gelungene Gemeinwohl-Findung, wie umgekehrt eine gemeinwohlorientierte Politik die Grundwerte aktualisiert. Zugleich zeigt der kontroverse Teil der GrundwerteDebatte, daß auch die Grundwerte-Findung nicht einfach naturrechtlich oder verfassungsrechtlich vorgegebenen Erkenntnissen entspringen kann, sondern selbst ein Problem der "Kompetenz" unterschiedlicher Wertewahrungsinstanden Einzelnen, den Familien und gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen gestattet". Kardinal Höffner (in: G. Gorschenek [Hrsg.], S. 153 [154]) sieht im Gemeinwohl (neben Subsidiarität und Solidarität) ein Strukturgesetz, das Ehe und Familie, Gruppen und Gemeinschaften schütze.- Zu den "Orientierungswerten" oben Ziff. 2 b. 602 A. v. Campenhausen, Grundwerte in Staat und Gesellschaft, in: G. Gorschenek (Hrsg.), (vorstehende Fn), S. 190 (196); s. dort auch H Kohl, S. 52 (56 f.). 603 Zur Vorgeschichte s. Κ Lehmann und H. Maier sowie die abgedruckten Materialien in: G. Gorschenek (Hrsg.) (aaO.), S. 158 (158 f.) und S. 172 (172 f.) sowie S. 133 ff., 242 ff; allgemein zur Grundwerte-Debatte meine Bilanz in: P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 16 ff. m.w.N. 604 H. Maier (in: Gorschenek, aaO.), S. 174.
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zen ist, so sehr Staat und Gesellschaft je auf ihre Weise daran beteiligt sein mögen. Je nach Grundwert und Art der Konkretisierung könnte die Wertewahrungskompetenz von Staat und Gesellschaft, Bürgern und Kirchen unterschiedlich bedeutsam sein. (3) Mögliche Einwände, Gefahren und Gemeinwohldefizite Das hier umrissene verfassungsstaatliche Gemeinwohlverständnis bzw. die juristische Gemeinwohltheorie müssen sich zuletzt mit dem Problem der Gefahren, des möglichen Mißbrauchs und der "Ideologieanfälligkeit" 605 des Gemeinwohlbegriffs, aber auch mit dem denkbaren Hinweis auf (Öffentlichkeitsund) Gemeinwohldefizite auseinandersetzen, Einwänden also, die vor allem aus der Pluralismuskritik 606 geläufig sind. Hierzu nur folgendes: Auch im demokratischen Verfassungsstaat wird das Gemeinwohl - mitunter - verfehlt. Auch hier gibt es Gruppen, die mangels ausreichender Organisation im durch Verfahren disziplinierten Kräfteparallelogramm zu selten zu Wort kommen bzw. sich zu wenig durchsetzen (etwa Konsumenten 607 ). Auch hier gibt es Staatsorgane, die ihre Macht im Einzelfall mißbrauchen, Gruppen, die ihre egoistischen Gruppeninteressen rigoros durchkämpfen - auf Kosten der Minderheiten, mitunter sogar der Mehrheit. Diese Defizitliste ließe sich gewiß verlängern und mit Beispielen "garnieren"; genannt sei die Behindertenfrage (jetzt aber Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), auch Ausländerprobleme. Dennoch ist der demokratische Verfassungsstaat tendenziell am ehesten im Stand, nicht nur einem Ausgleich öffentlicher und privater Interessen ex ante nahezukommen, sondern Verfehlungen des Gemeinwohls auch ex post zu korrigieren: Gemeinwohl(findung) als Prozeß ist grundsätzlich reversibel 608 . Durch die inhaltlichen Direktiven, die die Verfassung für die Gemeinwohlkonkretisierung gibt, besonders die Menschenwürde, Grundrechte und Toleranz, aber auch den sozialen Rechtsstaat, und durch die Schaffung transparenter Verfahren, durch Gegenkontrollen unabhängiger Verfassungs-
605 I.S. A. Hollerbachs, s. dazu ders., Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer, 1969, S. 37 ff. 606 Vgl. dazu vor allem H. Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, 1977, S. 237 ff. Dazu Vierter Teil V Ziff. 2. 607 Dazu H.H. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, 1977, S. 151 ff - S. neue Verfassungstexte zum Konsumentenschutz, z.B. Art. 52 Verf. Jura (1977), Art. 88 Β VE Schweiz (1996), Art. 76 Verf. Polen (1997), Art. 42 Abs. 4 Ukraine (1996). 608 Besonders sinnfällig: Die Wiederauflösung der im Namen des Gemeinwohls konstruierten Kunststadt "Lahn" in Gießen und Wetzlar (1976).
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und Verwaltungsgerichtsbarkeit - denken wir an Fälle geglückter Pluralismusrechtsprechung des BVerfG, etwa die Transsexuellen -, sind Vorkehrungen getroffen, die verhindern, daß das Gemeinwohl außerrechtlicher Titel wird, beliebige Inhalte annimmt und zur extrakonstitutionellen "Staatsräson" pervertiert 610 . Sogar die "begrenzte Regelverletzung" der Lehre von "civil disobedience" (Thoreau bzw. J. Rawls) mag einschlägig werden. "Die Verfassung des Pluralismus" ist in sich eine gewisse Garantie für diese plurale Gemeinwohlgewinnung, die einem offenen Kulturkonzept und einer als offen gedachten Geschichte entspricht. Vor allem gewährleistet die Vielzahl von "Gemeinwohlvorstellungen", die miteinander konkurrieren und durch Konflikte hindurch Konsens schaffen 611 , daß es nicht "von oben", aus sich heraus, oder von einer einzigen unkontrollierten Instanz irreversibel definiert wird 6 1 2 . Die pluralen "Gemeinwohlangebote", welche die offene Gesellschaft charakterisieren, konkurrieren friedlich untereinander. "Gemeinwohl" bzw. "öffentliches Interesse" bleiben offen für Alternativen. Der Staat hat keine KompetenzKompetenz in Sachen Gemeinwohl. (4) "Gemeinwohl" und Religionsgesellschaften, insbesondere Kirchen In den gesellschaftlich-öffentlichen Bereich gehören die Kirchen bzw. religiöse Gruppen. Dadurch, daß ihnen die Verfassung des weltanschaulich neutralen Staates das Selbstbestimmungsrecht einräumt (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV), wird ihr Proprium geschützt, also auch ihr Bereich, in dem sie und aus dem heraus sie Gemeinwohlkonzepte formulieren. Die Kirchen artikulieren sich in der pluralistischen Öffentlichkeit nach ihrem Selbstverständnis. Sie "kontrollieren" hier in einer gewissen Weise auch die staatlichen und gesellschaftlichen Gemeinwohlkonzepte. "Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen" (i.S. K. Hesses)613 sowie "offene Kirche in der ver609
BVerfGE 49, 286 ff; 88, 87. Siehe aber BVerfGE 30, 1 (20) und die Kritik bei P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 91 ff. (98). 611 Zum Konflikt etwa W. Schmitt Glaeser, Konflikt und Planung in: Die Verwaltung 14(1981), S. 277 ff. 6,2 Es gibt heute freilich auch gemeinwohlkonkretisierende Entscheidungen, z.B. die Präjudizierung in Atomfragen mit der Entsorgung als "Jahrtausendproblem", oder eine übermäßige Staatsverschuldung, die sich als tendenziell irreversibel erweisen könnten. Zu diesem Generationenproblem mein Münchener Vortrag "Zeit und Verfassungskultur", in: A. Peisl/A. Möhler (Hrsg.), Die Zeit, 1983 (3. Aufl. 1992), S. 289 (333 ff.). 613 So sein gleichnamiger Aufsatz in: ZevKR 11 (1964/65), S. 337 ff.- Zum „Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen" zuletzt gleichnamig: K. Schiaich, HdbStKi 2. Bd., 2. Aufl. 1996, S. 131 ff. Zum ganzen noch unten Ziff. 10. 610
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faßten Gesellschaft" meint im Lichte der Gemeinwohlproblematik: frei in der Bestimmung des eigenen Gemeinwohls für sich selbst sowie frei in der Formulierung von Gemeinwohlkonzepten und Orientierungswerten in den staatlichen und gesellschaftlich-öffentlichen Bereich hinein, aus dessen Dynamik die res publica lebt. Hier stehen die Kirchen in Konkurrenz mit anderen Gemeinwohlkonzepten, auch denen der "Kleinkirchen" und Weltanschauungsgemeinschaften 614. Es kommt zu Zielkonflikten verschiedener Gemeinwohlpositionen. Das dient der Offenheit, in der Staat und Gesellschaft um das Gemeinwohl ringen. Treffend wagen ostdeutsche Verfassungen eine textliche Fortschreibung dessen, was in Westdeutschland sich in der Verfassungswirklichkeit und dank der Wissenschaft und Praxis nach 1945 entwickelt hat: den "Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften" (so Art. 36 Abs. 3 Verf. Brandenburg von 1992). Art. 109 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992) sagt noch konkreter: "Die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt". (5) Zusammenfassung 1. Gesetzgeber, Regierung, Verwaltungsbeamte und Richter haben mit dem Gemeinwohlbegriff tagtäglich zu arbeiten; ein Ausweichen in die gängige "Leerformelthese" ist daher nicht möglich. In der pluralistischen Demokratie ist das - mit dem "öffentlichen Interesse" identische - Gemeinwohl unverzichtbar, so differenziert es zu ermitteln bleibt. Der Teilbeitrag der Jurisprudenz als praktischer Wissenschaft ist Vorarbeit für ein interdisziplinäres Gesprächsforum. 2. Auf allen Ebenen der Normenhierarchie und in allen Rechtsbereichen, aber auch im Kontext aller Staatsftinktionen, findet sich das Gemeinwohl als Rechtsprinzip, Rechtssatz oder Rechtstopos. Aus dem zunächst diffus erscheinenden Rechtsmaterial lassen sich auf Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsebene bestimmte Typologien, d.h. Konstellationen erarbeiten, in denen das öffentliche Interesse bestimmte Funktionen erfüllt. Zu ihnen gehört z.B. das Gemeinwohl als Kompetenzbegründung und grundrechtsbeschränkender, pflichtenbegründender Titel, als Ausnahmeklausel und Titel für staatliche Geheimhaltung (NichtÖffentlichkeit). Zunehmend zeichnen sich aber auch Diffe614
Der vielfältige Trägerpluralismus (in den der Staat und seine Organisationen eingebaut sind) entspricht dem pluralen Gemeinwohlmodell bzw. der Vielfalt der Verfahren und Inhalte. Zum Trägerpluralismus im Bereich der Erziehungsziele mein Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS H. Huber, 1981, S. 211 (214 f.) sowie oben VIII Ziff. 3.
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renzierungen und Verklammerungen ab: das Gemeinwohl bestimmt sich auch aus privaten Interessen, es kollidiert mit anderen (pluralen) öffentlichen Interessen ("Insichkonflikte"); grundrechtliche Freiheit wird zum konstituierenden Bestandteil des öffentlichen Interesses: So geben Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit den Weg frei für "Öffentlichkeitsaktualisierung und Gemeinwohlkonkretisierung" in der res publica. Die dritte Gewalt wird dank ihrer subtilen prätorischen Techniken bei der Konkretisierung der öffentlichen Interessen zur "Gemeinwohljudikatur". Für Verwaltung und Gesetzgebung ist das Gemeinwohl seinerseits entwicklungsoffener Leitbegriff. 3. Im Bereich des Gesellschaftlich-Öffentlichen formulieren Parteien und andere Pluralgruppen - etwa die Tarifpartner - öffentliche Interessen, die in der pluralistischen Demokratie ihre Staatsbezogenheit und Vorgegebenheit (jenseits der Verfassungsdirektiven) verloren haben. Demokratie, Pluralismus und Offenheit, aber auch die Grundrechte verleihen dem Gemeinwohl inhaltlich und prozessual Profil; es ist im Rahmen rechtlicher Einrichtungen - etwa auch der Verbandsklage (z.B. von Umweltschutz- bzw. Tierschutzverbänden) - auch in die Verantwortung des Juristen gestellt. 4. Theoriegeschichte und Theoriediskussion - in Klassikertexten ebenso greifbar wie im politischen Alltag - schwanken zwischen der kritiklosen Hypostasierung des Gemeinwohls zum "höchsten", nicht hinterfragten, sondern "geglaubten", "ontologischen" Begriff ("bonum commune", "Staatsräson", "Arkanmaxime"), in dessen Namen private Interessen beseitigt, ja wie in "geschlossenen Gesellschaften" unterdrückt werden ("Gemeinnutz geht vor Eigennutz" u. ä.) einerseits und der Degradierung zur bloßen "Leerformel" oder "Entzauberung" zum bloßen ideologisch verbrämten Machtinstrument andererseits. Demgegenüber erweist sich in offenen Gesellschaften (i.S. Sir Poppers) das Gemeinwohl als eine das menschliche Zusammenleben (mit-)konstituierende Formel. Seine geschichtlich wandelbaren Inhalte verweisen auf letzte oder doch vorletzte Legitimationszusammenhänge wie Staatsverständnis und Herrschaftsform ("Republik", "Demokratie"), Sozialethik und Gerechtigkeit, und es muß im konkreten Einzelfall des positiven Rechts in die Praxis umgesetzt werden - unbeschadet aller Spannung zwischen Gemeinwohl als idealem Postulat und als (nicht selten defizienter) Wirklichkeit. 5. Im demokratischen Verfassungsstaat westlicher Prägung (mit der Menschenwürde als Prämisse, mit demokratischer Legitimation, Grundrechten und Gewaltenteilung, pluralistischer Öffentlichkeit und den "Staatszielen" des sozialen Rechts- und Kulturstaates) wird eine juristische Gemeinwohltheorie möglich und notwendig. Verfassung, verstanden als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, gibt inhaltliche Direktiven für das Gemeinwohl, sie eröffnet aber auch eine Vielfalt von Verfahren zu seiner Konkretisierung und
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Revidierung: im Spektrum der „republikanischen Bereichstrias" (Sechster Teil VII). 6. Stichworte sind "salus publica ex constitutione", "salus publica ex processu". Das - republikanische - Gemeinwohl ist im Rahmen des GG weniger vorgegeben als je konkret aufgegeben. Es ist Ergebnis von komplexen Prozessen im vielgliedrigen Zusammenspiel staatlicher Funktionen und öffentlicher Vorgänge. 7. Vielfältige Gemeinwohl-Impulse kommen im Verfassungsstaat aus der ebenso offenen wie verfaßten Gesellschaft. Pluralgruppen aller Art formulieren aggressiv oder defensiv punktuell oder sektoral Gemeinwohlaspekte, die sie in die staatliche Gemeinwohlbestimmung einbringen wollen. 8. Trotz oder gerade wegen seiner juristischen Ausprägungen bedarf das Gemeinwohl interdisziplinärer Forschung. Seit der Antike eine Kategorie des Menschen, der über seine res publica nachdenkt und in ihr und für sie handelt, steht das Gemeinwohl in einem je konkreten Kulturzusammenhang. Juristische Grundlagenbegriffe wie das Gemeinwohl leben nicht aus sich selbst, sie erwachsen aus zahlreichen Integrationsleistungen der Kultur eines Volkes. Ein Katalysator ist das je konkret zu bestimmende und insofern "relative", aber auch mit klassischen Inhalten und Verfahren begabte "Gemeinwohl". 9. Die Verfassung des Pluralismus beruht auf letztlich nur kulturwissenschaftlich zu erschließenden Zusammenhängen, die der Jurist nicht allein erarbeiten kann (s. aber auch die Erziehungsziele). Ihr Minimal- bzw. Grundkonsens (z.B. auf Respektierung der Gemeinwohl-)Verfahren, auf Minderheitenschutz, Gewaltverbot und Toleranz) wurzelt in diesen Bezirken. Hier ist das heutige Gemeinwohlverständnis angesichts besonderer Krisen und Gefahren auf die Probe gestellt. 10. Während das verfassungsstaatliche Gemeinwohlverständnis immer neu Instrumente und Verfahren erarbeiten muß, um Gemeinwohldefizite zu verhindern (Konsumenten, Steuerzahler, Minderheiten der Minderheiten, Verbandsklage?), hat sich die interdisziplinäre Gemeinwohldiskussion auf gewaltige Herausforderungen ideeller und materieller Art gefaßt zu machen (z.B. in Sachen „nachhaltige Entwicklung"). Das offene Gemeinwohlverständnis steht und fällt mit der Verfassung des Pluralismus und mit der Fruchtbarkeit des Dialogs unter den Einzeldisziplinen.
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c) Staatsaufgaben Im folgenden seien Umrisse einer Verfassungstheorie der Staatsaufgaben angedeutet615. Zum Teil überschneidet sie sich mit der Gemeinwohlfrage, auch wenn die neuen Verfassungstexte heute etwas seltener von "Gemeinwohl" sprechen. Während die "Staatsaufgaben" direkt staatsbezogen sind, greift das Gemeinwohl weiter aus, z.B. auf den Bürger und die Gruppen. (1) Eine verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre sollte von vornherein interdisziplinär ansetzen: Die Philosophie, die Politikwissenschaft, die Nationalökonomie, Soziologie und sogar die Theologie sind gefordert, die (begrenzten und zu begrenzenden) Beiträge zur Sprache zu bringen, die sie z.T. seit langem in Sachen "Staatsaufgaben" leisten 616 . Die Verfassungslehre hat sie zu integrieren, so wie sie auch sonst Forum für Einzelwissenschaften ist. So sind Klassikertexte der Staatsphilosophie ebenso einzuschmelzen617 wie solche der Nationalökonomie 618 oder der katholischen Soziallehre, die alte Tradition der Staatszwecklehre 619, Geschichte und Gegenwart der Gemeinwohldiskussionen 620 ebenso wie ihre Perversion etwa im NS-Reich 621 als Beispielsform für den totalitären Staat, die als Lehrmaterial vom Negativen her zugleich dem Typus "Verfassungsstaat" dienlich ist.
6,5 Zum folgenden im Ansatz schon P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgaben lehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. S. auch: J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, HdBStR Bd. III (1988), S. 3 ff; M.W. Hebeisen,, Staatszwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, 1996; H. Schulze-Fielitz, Staatszwecke im Verfassungsstaat, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1 (1990), S. 23 ff. Der Begriff "public interest" kommt in Osteuropa verstärkt vor: z.B. Art. 20 Abs. 2 S. 1 Verf. Slowakei (1992), Art. 59 Abs. 3 Verf. Polen (1997): Sie verwendet die Gemeinwohlidee prominent in ihrer Präambel („common good Poland"). 616 Teilnachweise bei K. Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben..., in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1984, S. 5 ff. 6.7 Zur kulturwissenschaftlichen Methode vgl. mein Berliner Vortrag Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, sowie auch die Studie Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, (Vorauflage) 1982.- Von "Klassikern der Moralphilosophie" spricht BVerfGE 69, 1 (82). 6.8 Dazu treffend J. Starbatty, Die englischen Klassiker der Nationalökonomie, 1985. 619 Dazu K. Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, 1964. 620 P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; H.P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1972; H. H. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977; E. Denninger, Menschenrechte und Staatsaufgaben - ein "europäisches" Thema, JZ 1996, S. 585 ff.; D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1996. 621 Dazu M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, s. auch meine Besprechung in: AöR 101 (1976), S. 292 ff.
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(2) "Staatsaufgaben" sind von vornherein vom Typus des Verfassungsstaates her zu denken, d.h. vom allein durch die Verfassung konstituierten politischen Gemeinwesen her. Er ist im historischen und kontemporären Verfassungstextvergleich zu erarbeiten, auch in seinem Wandel. Das bedeutet konkret den "Abschied" von allen offenen oder verdeckten "Anleihen" an den Staat der "Allgemeinen Staatslehre". Vor allem sollten weder der Begriff der "geborenen" "Kern-" oder "Primäraufgaben" übernommen werden, noch der des "regelungsintensiven Industriestaates" (R. Zippelius). Dieser ist abzulehnen, da er die grundsätzliche Differenz zwischen dem totalitären Staatstypus und dem Verfassungsstaat überdeckt. Von "geborenen" oder "Primäraufgaben" sollte deshalb nicht gesprochen werden, weil dadurch neuere, den Verfassungsstaat in seiner heutigen Entwicklungs- bzw. Textstufe mit legitimierende Aufgaben (wie sie in der Sozial- oder Kulturstaatsklausel sowie in Umweltartikeln zum Ausdruck kommen) ungebührlich abgewertet erscheinen. Auch die "klassischen" Staatsaufgaben sind Ergebnis einer historischen Entwicklung; auch die neueren sind - in der jüngeren Entwicklungsphase - "geboren" und in der weiteren Entwicklung wandelbar. Man tradiert (unbeabsichtigt) Kategorien der an den (absoluten) "Staat" anknüpfenden Allgemeinen Staatslehre, wenn man diese Unterschiede einführt. Vor allem macht man mit der Einsicht, daß der Verfassungsstaat in allem, auch in den Aufgaben, durch die Verfassung konstituiert wird, letztlich doch nicht ernst. Der Verfassungsstaat unterscheidet sich vom "absoluten Staat" ebenso wie vom totalitären auch in der Konzeption der Staatsaufgaben. In der Tat ist primär aus der "Warte der Verfassung und nicht des Staates" (K. Stern) zu arbeiten, gegen ihn ist dieser Ansatz auch bei der "Einteilung" der Staatsaufgaben zu Ende zu führen. Auch die klassischen nicht "staatlich". Staatsaufgaben legitimieren sich heute verfassungssteàtXìoh, Der Verfassungsstaat gliedert sich nicht in eine staatliche "Geburt" bzw. "Natur" (bzw. "geborene" Staatsaufgaben) und verfassungsrechtliche Geschichte bzw. Kultur ("situationsbedingte Aufgaben"). Er ist im heutigen Verständnis "Zwischenergebnis" bzw. Respekt erheischende Entwicklungsstufe kultureller Prozesse. Insbesondere wird durch spezifisches "Notwendigkeitsdenken" zu erarbeiten sein, welche Staatsaufgaben "notwendig" und auch "möglich" sind. Dabei ist sowohl vom Typus Verfassungsstaat aus wie vom einzelnen nationalen Beispiel aus zu argumentieren. (3) Inhalte, Einteilungen und Grenzen der verfassungsstaatlichen Staatsaufgaben erschließen sich zum einen durch den Vergleich der Textstufen älterer und neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen. Zum anderen werden empirische Bestandsaufnahmen des tatsächlich Geleisteten erforderlich. Was den Verfassungstextvergleich angeht, so zeigen sich bemerkenswerte Entwicklun-
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gen 622 . Die neueren Verfassungen in der Schweiz, in Portugal (1976/92) 623 und Spanien (1978) 624 neigen dazu, ausdrücklich eine Vielzahl von einzelnen "Staatszielen", "Staatszwecken" etc. zu normieren - man mißtraut offenbar der "(nach) absolutistischen" "General- und Blankovollmacht" i.S. H. Krügers. M.a.W., es zeigen sich intensive Wachstumsvorgänge in Sachen Staatsaufgaben - da sie in den Verfassungstexten fest- bzw. fortgeschrieben sind, handelt es sich zugleich um einen Normativierungs- oder Konstitutionalisierungsvorgang des Themas Staatsaufgaben 625. (4) Staatsaufgabenkataloge wachsen textlich wie wissenschaftlich in die Grundrechtsteile hinüber 626 bzw. umgekehrt diese in jene. M.a.W.: ein starrer Dualismus zwischen Staatsaufgaben einerseits und Grundrechten andererseits läßt sich nicht mehr vertreten. So finden sich in den Staatsaufgabenkatalogen
622 Dazu für die Schweiz mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (311 ff., 371 ff). Jüngst P. Häberle, Die Kunst kantonaler Verfassunggebung - das Beispiel St. Gallen, Schweizer ZB1. 1997, S. 97 ff. 623 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.- Vgl. Art. 9 Verf. Portugal: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: a) die nationale Unabhängigkeit zu gewährleisten und die zu ihrer Förderung erforderlichen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu schaffen; b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten ... c) die politische Demokratie zu verteidigen ... d) das Wohlbefinden und die Lebensqualität des Volkes, die tatsächliche Gleichheit zwischen den Portugiesen und die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu fördern ... e) das Kulturgut des portugiesischen Volkes zu verteidigen und zu mehren, die Umwelt und die Natur zu schützen und die natürlichen Ressourcen zu erhalten." Darüber hinaus finden sich in "Teil I - Grundrechte und Grundpflichten" thematisch spezielle Staatsaufgaben, z.B. Art. 59 Abs. 3 (Vollbeschäftigungspolitik), Art. 63 Abs. 2 ("Aufgabe des Staates zum Ausbau des Sozialversicherungssystems"), Art. 64 (Schaffung eines nationalen Gesundheitswesens), Art. 65 (staatliche Wohnungspolitik), Art. 78 (Förderung und Schutz des Kulturgutes).- Ein Aufgabenkatalog: Art. 5 Verf. Äquatorial-G. (1991). 624 Zit. nach JöR 29 (1980), S. 209 ff. 625 Die vielleicht beste Fassung eines allgemeinen Staatszweckartikels findet sich im Privatentwurf Kölz/Müller (1984): Art. 2: "Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit der Heimat nach außen, Sicherung des friedlichen Zusammenlebens im Inneren, Bewahrung und Stärkung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, Schutz der Menschenrechte und Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt." Das schließt spezielle Staatsaufgaben nicht aus (z.B. ebd. Art. 34 (Umweltschutz, Naturschutz), Art. 36 (Tierschutz), Art. 44 (Konsumentenschutz), Art. 58 (Förderung des Sports)). 626 Z.B. Art. 19 Verf. Niederlande von 1983 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 277): Abs. 1: "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates...".- Abs. 3 ebd.: "Das Recht jedes Niederländers auf freie Wahl der Arbeit wird anerkannt...".- Verf. Griechenland (1975), (zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.), Art. 16 Abs. 2: "Die Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates ...", Abs. 4: "Alle Griechen haben das Recht auf kostenlose Bildung..."; Art. 22 ebd.: "Die Arbeit ist ein Recht und steht unter dem Schutz des Staates, der für die Sicherung der Vollbeschäftigung sorgt."
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z.T. typische Grundrechtsthemen (z.B. Art. 2 Abs. 2 VE Schweiz von 1977: "Der Staat schützt die Rechte und Freiheiten der Menschen und schafft die erforderlichen Grundlagen für ihre Verwirklichung"); so gibt es "allgemeine Grundrechtslehren", die die Grundrechte nicht nur als "Grenze" des Verfassungsstaates begreifen (das bleiben sie auch), sondern auch als Aufgaben 627 , d.h. Staatsaufgaben und Grundrechte sind sich "näher" gekommen als im älte628
ren ("nur liberalen") Staatstypus Dogmatisch wird sowohl ein "Schrankendenken" als auch "Aufgabendenken" erforderlich: Grundrechte normieren nach wie vor Grenzen des Verfassungsstaates, auch für seine "Staatsaufgaben"; sie umschreiben aber auch positiv Aufgaben für ihn ("grundrechtsorientiertes Kompetenzdenken"629). (5) Einteilungen" der verfassungsstaatlichen Staatsaufgaben empfehlen sich nach der thematischen Seite hin: etwa innere und äußere Sicherheit 630 , "Wirt-
627 Zu den so verstandenen "Grundrechtsaufgaben" im Leistungsstaat mein Regensburger Koreferat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (103 ff.). 628 Besonders prägnant ist die Verklammerung in Verf. Schweden (1974/76, zit. nach JöR 26 (1977)): "Grundlagen der Staatsform", § 2: "Die öffentliche Gewalt soll mit Respekt für den gleichen Wert aller Menschen und für die Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen ausgeübt werden.- Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grundsätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen. Es obliegt besonders dem Gemeinwesen, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern und für soziale Fürsorge und Sicherheit und für einen guten Lebensstandard zu sorgen"... S. auch KV Uri (1984), Art. 2 (Staatsziele): "Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an, a) eine gerechte Ordnung für das friedliche Zusammenleben der Menschen zu schaffen; b) Rechte und Freiheiten des einzelnen und der Familie zu schützen und Grundlagen für deren Verwirklichung bereitzustellen; c) die Voraussetzungen für ein menschengerechtes Dasein herzustellen." 629 Der Typus "sozialistischer Verfassungen" lieferte hier viel negatives Anschauungs- und Abgrenzungsmaterial. Zum einen überwucherte die Idee von Grundpflichten die Grundrechtskataloge und in ihnen den status negativus so sehr, daß das für den Verfassungsstaat typische Verhältnis der "Asymmetrie" zwischen Grundrechten und Grundpflichten (dazu H Hofmann, VVDStRL 41 (1983), S. 42 (56 f., LS 6, 54, 81)) entfällt. (Z.B. Art. 25 Abs. 4 S. 3 Verf. DDR (1974): "Alle Jugendlichen haben das Recht und die Pflicht, einen Beruf zu erlernen".) Zum anderen sind den Grundrechtsgarantien textlich und real so viele Staatsaufgaben angefügt, daß für Schrankendenken gegenüber diesen Staatsaufgaben kein Raum mehr bleibt. Repräsentativ war z.B. Art. 47 Abs. 1 Verf. UdSSR (1977): "Entsprechend den Zielen des kommunistischen Aufbaus (!) wird den Bürgern der UdSSR die Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens garantiert." 610 Z.B. Art. 2 BV Schweiz: "Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Inneren, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt."
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schaft" 631 , "Kultur" 6 3 2 , "Natur" bzw. "Umwelt" 6 3 3 , "Gesundheit" und Sport 634 . Da viele dieser Themen auch Grundrechtsbereiche betreffen, ergeben sich manche Überschneidungen (z.B. Kulturauftrag des Staates bzw. kulturelle Freiheiten der Bürger und Gruppen 635 ). Dabei liegen Zielkonflikte auf der Hand: z.B. zwischen Ökologie und Ökonomie 636 . (6) Zu unterscheiden ist zwischen Staatsaufgaben, öffentlichen Aufgaben und privaten Aufgaben - entsprechend der "republikanischen Bereichstrias" 637. Staatliche Aufgaben werden kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung vom Staat erfüllt, "öffentliche Aufgaben" von nichtstaatlichcn Gruppen, Einrichtungen oder einzelnen (z.B. von der Presse, von den Tarifvertragsparteien, von den Kirchen 638 ). Inwieweit öffentliche oder gar private Aufgaben "verstaatlicht" werden dürfen, entscheidet die Verfassung (begrenzend z.B. via Grundrechte),
631 Z.B. Art. 40 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewaltenfördern die dem sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt... günstigen Bedingungen im Rahmen einer Politik der wirtschaftlichen Stabilität." 632 Z.B. Art. 44 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten fördern und schützen den Zugang zur Kultur, auf die alle Anspruch haben" oder Art. 7 Abs. 1 Verf. SchleswigHolstein (1949): "Das Land fördert und schützt Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre." Mitunter normieren Verfassungstexte in einem einzigen Artikel die Aufgabe des Natur- und Kulturschutzes: Art. 150 Abs. 1 WRV: "Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates." 633 Z.B. Art. 24 Verf. Griechenland.- Vgl. auch 8. Abschnitt Verf. Brandenburg (1992): "Natur und Umwelt" (ebenso 4. Abschnitt Verf. Thüringen von 1993). 634 Z.B. Art. 22 Abs. 1 Verf. Niederlande; Art. 43 Verf. Spanien; Art. 68 Verf. Polen (1997).- Art. 30 Abs. 3 Verf. Thüringen (1993): "Der Sport genießt Schutz und Förderung durch das Land und seine Gebietskörperschaften." 635 Z.B. Art. 73 und 79 Verf. Portugal. 636 Eine Harmonisierungs-Maxime findet sich in § 112 KV Basel-Landschaft (1984), Abs. 1 : "Kanton und Gemeinden streben ein auf die Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen den Naturkräften und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits, sowie ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits an." 637 Vgl. dazu P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, (2. Aufl. 1996), S. 193, 244 f. Ferner oben VII. 638 Auch hier sind neuere Verfassungstexte ergiebig, z.B. Art. 15 Verf. Griechenland, Abs. 2 a.E.: "Dabei haben sie (sc. Hörfunk und Femsehen) in ihren Sendungen einen ihrer sozialen Aufgabe entsprechenden Qualitätsstand zu wahren, um die kulturelle Entwicklung des Landes zu fördern." - § 37 KV Aargau (1980): "Der Kanton erläßt ein Gesetz über die Massenmedien, insbesondere um die Vielfalt der Informationen zu fördern." Art. 46 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Der Kanton unterstützt die Unabhängigkeit und Vielfalt der Informationen." 56 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
in ihrem Rahmen der politische Prozeß (z.B. Art. 14 Abs. 3 GG). Eine verfassungsstaatliche Theorie des Privaten hätte Einzelfragen zu klären 639 . (7) In der pluralistischen Demokratie trifft die Verfassung materiell- und verfahrensrechtliche Aussagen zu den Staatsaufgaben 640: materiellrechtliche, indem sie inhaltliche Aufgaben nennt (allgemein z.B. in der Sozialstaatsklausel oder speziell 641 ). Viele Staatsaufgaben werden als solche bzw. zu solchen erst via Verfahren (d.h. im politischen Prozeß): weil das - pluralistische - Gemeinwohl offen ist. Hier herrscht der unentbehrliche Spielraum für ein Mehr oder Weniger an "Staat" oder "privat", "Staat" oder "mehr Markt" bzw. Verstaatlichung oder Privatisierung (die neueren Beispiele in England und Frankreich, auch in ihrem "Hin und Her", halten sich innerhalb einer verfassungsstaatlichen Staatsaufgabenlehre; die derzeitige Privatisierungseuphorie in Deutschland könnte indes an eine sozialstaatliche und kulturstaatliche Grenze geraten). Gegenüber einem etwaigen "Zuviel" an Staatsaufgaben ist an die Schrankenfunktion der Grundrechte zu erinnern, gegenüber einem "Zuwenig" an Staatsaufgaben an ihre kompetenzbegründende Kraft ("Freiheit durch den Verfassungsstaat"). Orientierungsmaxime ist (historisch wandelbar) das Subsidiaritätsprinzip. Im Rahmen der verfassungsstaatlichen Verfassung läßt sich von einer begrenzten Offenheit der Staatsaufgaben sprechen - Grenzen ziehen neben den Grundrechten die mehr oder weniger "bestimmten" verfassungsrechtlich verwendeten Allgemein- oder Einzelbegriffe von Staatsaufgaben. (8) Im geschichtlichen und kontemporären Vergleich ist den Prozessen der Expandierung, Intensivierung und Differenzierung nachzugehen, die die Staatsaufgaben des Typus "Verfassungsstaat" wachsend kennzeichnet642. Vor allem ist herauszuarbeiten, in welchem textlichen Gewand Staatsaufgaben im Verfassungsstaat normiert sein können. Dabei zeigt sich eine große Variationsbreite.
619 Zu diesem Desiderat meine Bemerkungen, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, aaO., S. 193.- Zur privaten Seite und Funktion der Grundrechte meine Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 335 ff. S. noch oben VII Ziff. 2. 640 Zu diesem Ansatz P. Häberle, Öffentliches Interesse, aaO, S. 18 ff., 708 ff. und ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 328 f. jeweils für das "Gemeinwohl". 641 Z.B. Art. 9 Verf. Italien, Abs. 1: "Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung sowie die wissenschaftliche und technische Forschung." - Art. 108 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): "Die Erwachsenenbildung ist zufördern". (Ähnlich Art. 29 Verf. Thüringen von 1993). Zur "Aufnahme von Staatszielbestimmungen in die Verfassungen": H Simon, FS Mahrenholz, 1994, S. 443 ff; zuletzt K-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997. 642 Dazu mit Vergleichsmaterial für die Schweiz: P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (311 ff., 370 ff).
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Sie reicht von ausdrücklichen Staatsaufgabennormen über "bloße" Kompetenzen 643 bis hin zu Grundrechten 644 . Besonders in ihnen verbergen sich heute von der Lehre und Rechtsprechung unterstützt - "Staatsaufgaben": erinnert sei an die Konzeption von "Grundrechtsaufgaben' ,645. Grundrechte und Staatsaufgaben stehen in einem ambivalenten Verhältnis: Einerseits können in Grundrechten Verfassungsaufträge zur Erfüllung von Staatsaufgaben "verborgen" sein - aktiviert in dem Wort von der "leistungsstaatlichen Seite" der Grundrechte -, andererseits ist immer wieder an die die Staatsaufgaben begrenzende Funktion der Grundrechte zu erinnern. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, diese beiden Seiten bewußt zu machen. In dem Maß, wie die Grundrechtsdogmatik die klassische staatsabwehrende Dimension ergänzt hat durch die objektivrechtliche, leistungsstaatliche, schutzrechtliche und prozessuale, haben sich die Staatsaufgaben intensiviert und differenziert. Der Verfassungstextgeber zieht entsprechend nach. Dies ist ein Grund für die "Vermehrung" der in Verfassungstexte gefaßten Staatsaufgaben. Umfangreiche und differenzierte Staatsaufgabenkataloge sind ein Charakteristikum der neuen Verfassungstextentwicklung. Hatten ältere Verfassungen wie die Schweizer BV von 1874 oder die Bismarck-Verfassung von 1871 lapidar gearbeitet (Präambel Verf. 1874: "Absicht, den Bund der Eidgenossen zu festigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fordern"; Vorspruch der Bismarck-Verf. 1871: "ewiger Bund zum Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes") und verbarg sich die Fülle der Staatsaufgaben eher unter bloßen Kompetenzverteilungsvorschriften 646, so kann die Textstufenanalyse folgendes beobachten: Im Geiste des vordringenden "Aufgabendenkens" kommen Staatsaufgaben in vielen Feldern der Verfassung gleichzeitig vor: von der Präambel über den Grundrechts- bis zum organisatorischen Teil; viele Themen, die letztlich den Grundrechten zuzuordnen sind, werden zum Gegenstand von Staatsaufgaben (als "Grundrechtsaufgaben"); oft in Gestalt von "Katalogen" normiert, wird der Kanon der Staatsaufgaben immer umfangreicher und differenzierter - Portugal (Art. 9, 81 Verf. 1976/92) bietet hier das prägnanteste, aber auch extremste Beispiel, die Schweiz hält die "gute Mitte", die Niederlande sind mit ihren "Sorge-Artikeln"
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Z.B. Art. 10 B-VerfG Österreich (1920): "Bundessache ist...". Z.B. Art. 6 Abs. 5 GG. 645 Dazu mein Mitbericht Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (103 ff.). Vgl. oben Ziff. 1 d. 646 Nachweise in meinem Beitrag Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, in: FS Häfelin, 1989, S. 225 (240 ff.); s. den Aufsatz Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. sowie Fünfter Teil VII 2. 644
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eher zurückhaltend (vgl. Art. 19, 20, 21), selbst in die österreichischen Verfassungstexte ist das Aufgabendenken ein- bzw. vorgedrungen 647 . Auch in den Ländern bzw. Kontinenten, in denen seit einigen Jahren besonders lebhafte Werkstattarbeit in Sachen Verfassungsstaat geleistet wird, in Osteuropa und Asien sowie im südlichen Afrika, lassen sich extensive und intensive Wachstumsprozesse bei den "Staatsaufgaben" beobachten. Die neue Verf. Slowenien (1991) 648 verlangt bereits in den "Allgemeinen Bestimmungen" den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der autonomen Volksgruppen, der Auslandsslowenen sowie die Bewahrung der Naturgüter und des kulturellen Erbes- und all dies im selben (!) Artikel (5) -,was spätere spezielle Staatsaufgaben-Artikel z.B. zum Umweltschutz und zur Wahrung des Natur- und Kulturerbes nicht ausschließt (Art. 72 und 73). Die Verf. Estlands (1992) bekennt sich schon in ihrer Präambel 649 zum Schutz des inneren und äußeren Friedens und zu "general benefit of present and future generations, which shall guarantee the preservation of the Estonian nation and its culture throughout the ages" - eine neue Textstufe in Sachen generationenorientiertem nationalen Kulturschutz! Die Verf. Turkmenistan (1992) 650 reichert ihren Abschnitt "Grundlagen des Rechts, der Freiheiten und Pflichten des Einzelnen und der Bürger" im Kontext der Grundrechte jeweils mit annexen Staatsaufgaben an (z.B. Art. 36), wobei schon der Grundlagen-Artikel 3 Abs. 2 auffällt: "Der Staat ist gegenüber dem Bürger verantwortlich und ist auf die Schaffung von Bedingungen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit bedacht". In der Verfassung Litauens (1992) 651 finden sich reichlich Staatsaufgaben, besonders im Kapitel "Society and State" (z.B. in Sachen Kultur: Art. 42 und "National economy and Labour" (z.B. in Sachen Konsumentenschutz: Art. 46 Abs. 5) 6 5 2 .
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Vgl. Art. 4 Verf. Niederösterreich von 1979: "Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet wird".- Art. 1 Abs. 2 Halbs. 2 Verf. Burgenland von 1981: "es (sc. Burgenland) schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft". S. auch die neue Präambel Verf. Tirol von 1980.- Art. 19 Verf. Niger (1996): Sorge für die älteren Menschen. 648 Zit. nach JöR 42 (1994), S. 88 ff. 649 Zit. nach JöR 43 (1995), S. 306.- Art. 6 Abs. 2 Verf. Polen (1997) erfindet das neue Staatsziel „provide assistance to Poles living abroad to maintain their links with the national cultural heritage". 650 Zit. nach JöR 42 (1994), S. 674 ff. 651 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 360 ff. 652 Die Verf. von Aserbeidschan (1995) ist an vielen Stellen von Aufgabendenken, Staatsaufgaben und Gemeinwohldirektiven durchzogen: So in der Präambel ("construire
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Die Verf. der Tschechischen Republik (1992) 653 hat nicht nur ihre Präambel mit umfassenden Staatszielen (wohl auch Gemeinwohlzielen aller) angereichert ("entschlossen, den geerbten natürlichen und kulturellen, materiellen und geistigen Reichtum gemeinsam zu hüten und zu entfalten"), sie kennt auch einzelne Schutz-Klauseln wie Art. 7 ("Der Staat achtet auf schonende Nutzung der natürlichen Ressourcen und auf den Schutz des Naturreichtums"). Da die Verf. in Art. 3 die EMRK en bloc rezipiert, sind keine grundrechtsnahen Staatsziele normiert - ihre Entwicklung dürfte Sache der künftigen Verfassungspraxis sein. Ganz anders geht Verf. Slowakische Republik (1992) vor 6 5 4 . Während der Grundrechtsteil textlich fast ohne Staatsaufgaben bleibt, finden sich solche ausgiebig im Abschnitt "Ökologische, soziale und kulturelle Rechte" (Art. 35 ff.) sowie im Kontext von Rechten im Abschnitt "Schutz der Umwelt und des kulturellen Erbes" (Art. 44, mit einem Umweltinformationsrecht: Art. 45). Die Verf. Rußlands (1993) 655 fügt jeweils punktuell in ihrem Grundrechtskatalog Staatsaufgaben hinzu: z.B. Art. 38 (Schutz von Mutterschaft, Kindheit und Familie) oder Art. 43 (Recht auf Bildung: "Die Russische Föderation unterstützt verschiedene Formen der Bildung und Selbstbildung") sowie Art. 48 Abs. 1 (Recht auf "Erhalt einer qualifizierten juristischen Hilfe"). Aber auch in anderen Kapiteln der Verf. finden sich Staatsaufgaben (z.B. Art. 68 Abs. 3: Schaffung von Einrichtungen für das Erlernen und die Entwicklung der Mut-
un État de droit, laïc"), in den "Allgemeinen Bestimmungen" am Anfang (Art. 12 Abs. 1 : "La garantie des droits et libertés de l'homme et du citoyen est le but supérieur de l'Etat".- Art. 15: "Le développement économique et l'Etat".- Art. 16 Abs. 1: "La République azerbaïdjanaise se soucie de l'élévation du bien-être du peuple et de chaque citoyen, de su protection sociale et d'un niveau de vie digne." Abs. 2 ebd.: Verpflichtung auf die Entwicklung der Kultur, der Natur und des "historischen, materiellen und kulturellen Erbes der Nation") sowie im Grundrechtsteil (z.B. beim "Recht auf Arbeit nach Art. 35, bei der sozialen Sicherheit nach Art. 38 oder beim Recht auf juristische Hilfe nach Art. 61).- Auch die Verf. der Mongolei (1992) piaziert im Ersten Kapitel Staatsaufgaben, wie den Schutz des "historischen, kulturellen, wissenschaftlichen und intellektuellen Erbes der Nation" (Art. 7 Abs. 1). Ihr Grundrechtskatalog (Art. 16) fügt den Einzelfreiheiten immer wieder korrespondierende Staatsaufgaben hinzu (zu Ziff. 11, 13). Eine umfassende Grundrechts- bzw. Aufgabenklausel normiert Art. 19 Abs. 1: "The State shall be responsible to the citizens for the creation of economic, social, legal and other guarantees ensuring human rights and freedoms, for the prevention of violations of human rights and freedoms and the restoration of infringed rights" - eine neue Textstufe! 653
Zit. nach JöR 44 (1996), S. 458 ff. Zit. nach JöR 44 (1996), S. 478 ff. 655 Zit. nach J.Ch. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 381 ff. 654
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tersprache, Art. 74 Abs. 2: Schutzgesetze im Interesse "der Gesundheit von Menschen, der Umwelt und der kulturellen Werte") 656 . Ein kurzer Blick auf neue Verfassungen im südlichen Afrika findet viel einschlägiges Material: Die Verf. Namibia (1990) 657 sagt schon in der Präambel "desire to promote amongst all of us dignity of the individual", womit eine neue Textfigur sichtbar wird, die über die klassischen Staatsaufgaben hinausgeht. Art. 14 Abs. 3 gibt der Familie einen Schutzauftrag seitens "Gesellschaft und Staat". In Kapitel 11 findet sich dann aber ein neuartiger Text: "Principles of State Policy" 6 5 8 , wobei Art. 95 dem Staat eine Fülle von Aufgaben stellt, etwa die Fürsorge für Gesundheit und Wohlergehen der Arbeiter, die Sicherung des Zugangs zu öffentlichen Einrichtungen für alle Bürger, die Ermöglichung von Rechtsschutz, die Sicherung eines angemessenen Mindestlohns und einer 656
Auch die Verf. Ukraine (1996) "denkt" in Aufgaben: schon im Grundlagen-Teil (Art. 11 in Bezug auf Kultur und nationale Minderheiten), im Grundrechtskatalog (im Kontext der wirtschaftlichen Freiheit figuriert z.B. der Konsumentenschutz (Art. 42 Abs. 4), auch Gesundheitsschutz und Sportförderung kommen vor (Art. 49). Schließlich sei der Kulturgüterschutz erwähnt (Art. 54), wobei sogar Rückführungsmaßnahmen genannt sind. Im Rahmen der Umschreibung des Status der Krim kommen in Gestalt der Kompetenzverteilung eine Fülle von heutigen Staatsaufgaben zum Vorschein (Art. 137: von der Landwirtschaft bis zur Kulturpolitik). 657 Zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff. 658 Hier dürfte über die Kontinente und Meere hinweg das Vorbild der Verf. der Philippinen (1986) gewirkt haben. In Art. II ("Declaration of Principles and State Policies") findet sich in Sec. 7 bis 28 ein umfangreicher Aufgaben-Katalog (vom Schutz der Menschenwürde und Gesundheit zum Schutz der Eingeborenen-Kulturen). Erst danach figuriert die Bill of Rights (Art. III), die gleichwohl auf punktuelle Staatsaufgaben nicht verzichtet. In Art. XII, XIV und XV finden sich überdies in Sachen Wirtschaft, Erziehung, Wissenschaft und Kultur, auch Sport und Familie große Felder für Staatsaufgaben. In Art. II See. 5 geht all dem eine Gemeinwohlklausel voraus ("promotion of the general welfare").- Die Verf. von Uganda (1995) ist in ihrer gesamten Struktur vom Aufgabendenken her geprägt. Das zeigt sich in dem großen Abschnitt "National, objective, and directive Principles of State Policy", in dem der Staat für (fast zu) viel Aufgaben in Anspruch genommen wird. Dies rangiert unmittelbar nach der Präambel und noch vor dem Kapitel "Verfassung, Bürgerrecht" und dem Grundrechtskatalog. Im Grund wird hier ein neues Verfassungsbild in Sachen "Policy" sichtbar.- Demgegenüber bleibt die Verf. von Guinea (1991) dem klassischen französischen Leitbild eines Grundrechtskataloges ohne konnexe Staatsaufgaben treu. Ähnliches gilt für die Verf. Niger (1992), die freilich einen fast einzigartigen Kooperations-Artikel (121) enthält, der viele Staatsaufgaben als Thema von Kooperationen mit anderen Staaten enthält und eine neue Textstufe in Sachen "kooperativer Verfassungsstaat" einleitet. Dazu Vierter Teil VII.Die Verf. von Malawi (1994) schickt ihrem Grundrechtskatalog detallierte "principles of State policy" voraus (Art. 13 mit allen klassischen und neuen Themen (z.B. Schutz der Behinderten und Alten)). Ein neuartiger Anwendungs-Artikel (14) verstärkt sogar ausdrücklich ihre dirigierende Kraft im Interpretationsprozeß der Gerichte.- Eine fragwürdige Differenzierung der Bindung von Grundrechten und Staatszielen findet sich demgegenüber in Art. 3 Verf. Sachsen-Anhalt (1992).
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ausreichenden Grundernährung, schließlich die Erhaltung eines ausgeglichenen Ökosystems unter Einschluß von Maßnahmen, die die Ablage ausländischen atomaren und äußerst gefährlichen Mülles verhindern (ähnl. Art. 29 Verf. Benin (1990))- damit ist ein neues Thema zum Verfassungstext geronnen. Das Aufgaben-Denken prägt die Verf. Südafrikas (1996/97) mehrfach: so schon in der Präambel ("to improve the quality of life of all citizens and free the potential of each person") - was als Ziel aller im Gemeinwesen gelten darf-, sodann im Eingangs-Artikel der "Bill of Rights" (Art. 7 Abs. 2: "The state must respect, protect, promote, and fulfill the rights in the Bill of Rights"), in Sachen "Housing" (Art. 26 Abs. 2). Innovativ ist der Grundwerte-Katalog, den Kap. 10 für die "public Adminstration" festschreibt: z.B. "efficient, economic and effective use of resources" oder "People's needs must be responded to" (Art. 195). Die Verf. der Provinz Kwazulu Natal (1996) "intoniert" das Aufgabendenken schon in ihrer Präambel ("government which shall serve their individual and their collective physical and their spiritual needs (sc. the people of this Province)), schon im Kapitel "Fundamental principles" findet sich ein reicher Katalog der "social responsiblity to endeavour" (wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Schutz von Natur und Konsumenten, Schutz des kulturellen Erbes in seiner Vielfalt, Schutz der Familie und der Kinder etc.). (9) Für den Verfassungsstaat ist eine Lehre zu entwickeln, die dartut, in welchen Prozessen sich in der "Verfassung des Pluralismus" Staatsaufgaben zu solchen entwickeln. Das "prozessuale, pluralistische Gemeinwohlverständnis" stellt ein Theorieangebot dar 659 . Die Verfassungslehre kann durchaus verallgemeinernde inhaltliche Maßstäbe und vor allem differenzierte Verfahren nennen, in denen Gemeinwohlaufgaben in der Form von Staatsaufgaben entworfen und dann im einzelnen erfüllt werden. Die neuen "State-Policy"-Klauseln im südlichen Afrika bleiben bemerkenswert. (10) Eine verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, die sich am Typus "Verfassungsstaat", wie er vor allem im Spiegel seiner Texte greifbar wird, orientiert, sollte auch Direktiven für die Verfassungspolitik entwerfen - so wie dies die Verfassungslehre für andere Themen versucht 660 . Verfassungspolitik in Sachen Staatsaufgaben hätte folgendes zu bedenken:
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Vgl. meine Freiburger Habilitationsschrift: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 sowie das Buch Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 322 ff., 328 f. und oben Ziff. 6 a) und b). 660 Vgl. für das Thema "Arbeit" meinen Beitrag Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff; parallel für die Eigentums-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit in: AöR 109 (1984), S. 36 ff. bzw. AöR 110 (1985), S. 329 (333 ff.), S. 577 (580 ff). Zum Ganzen Fünfter Teil X.
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(a) Staatsaufgaben sollten redaktionell grundsätzlich einen eigenen Textabschnitt erhalten (so Verf. Sachsen-Anhalt von 1992: "Dritter Abschnitt: Staatsziele") oder doch in einem Grundsatzartikel "am Anfang" normiert werden ("schon" in der Präambel, so in der Präambel der Verf. Spanien von 1978: "dem Wohl aller ihrer Bürger forderlich zu sein...., den Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um eine würdige Lebensqualität für alle zu sichern ..." oder der Verf. von Nordrhein-Westfalen von 1950: "... dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen ..., 661 oder in einem Eingangsartikel, so neben Art. 2 Schweizer B V 6 6 2 und § 2 Verf. Schweden die Verf. Portugal in Art. 9: "Grundlegende Staatsziele"663). Die hochrangige Plazierung kann sich also steigern zu einer Nennung der Staatsaufgaben "schon" in der Präambel (jüngst z.B. K V Aargau von 1980: ..."Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen, die Wohlfahrt aller zu fördern" 664). Oder es können einzelne Staatsaufgaben schon in den Eingangsartikeln besonders hervorgehoben sein (so unter "Grundprinzipien" Art. 9 Abs. 1 Verf. Italien von 1947: "Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung sowie die wissenschaftliche und technische Forschung"). Die typisch werdende verfassungsstaatliche Verknüpfung von Grundrechten und Staatsaufgaben spiegelt sich bereits im Abschnitt "Grundbestimmungen" sehr allgemein in Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland von 1975: "Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen" (!) - das Vorbild des Art. 1 Abs. 1 GG wird hier greifbar.
661 Als älteres Beispiel vgl. Vorspruch der Bismarck-Verf. von 1871: "ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes...".- Jetzt Präambel Verf. Brandenburg (1992): "Natur und Umwelt zu bewahren und zu schützen". 662 Art. 2 Schweizer BV (1874): "Der Bund hat zum Zweck...". 663 So normiert Art. 9 Verf. Portugal (1976/92) im Rahmen der "Grundsätzlichen Bestimmungen": "Wesentliche Aufgaben des Staates sind ...". Er geht dabei ebenso grundsätzlich wie detailliert vor.- Umgekehrt verfährt Verf. Bremen (1947): Vorweg sind die Grundrechte und Grundpflichten normiert, als Dritter Hauptteil figurieren "Aufbau und Aufgaben des Staates" (s. den Art. 65: "Staatsziele": Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung). 664 Ähnlich Präambel KV Uri von 1984, VE Solothum 1984, alle zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.; s. auch den Auftrag in Präambel Verf. Bremen von 1947: "... eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen",... in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird."S. noch Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen (1950): "... dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen"; Verf. Irland (1937), zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975: "... unter Beachtung von Klugheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das allgemeine Wohl zu fördern...".
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(b) Staatsaufgaben können blankettartig 665 , im Insbesondere- oder BeispielStil 6 6 6 oder "taxativ", d.h. erschöpfend aufgezählt sein. Sie sollten die Verfassung aber nicht "überwuchern", d.h. inflationär normiert werden. Als konkrete Arbeitsfelder geben sie zwar dem Verfassungsstaat inhaltliche Konturen von seinen Aufgaben her, doch sind die Staatsaufgaben wie der Verfassungsstaat und sein Recht im ganzen begrenzte Ordnung: auf der Basis der Menschenwürde als Prämisse 667. (c) Staatsaufgaben mit direktem Grundrechtsbezug sollten auch im Grundrechtsteil von Verfassungen erkennbar werden, so wie beim Schutzauftrag in Sachen Menschenwürde (in Art. 1 Abs. 1 GG). Insgesamt müßte es aber Sache der Wissenschaft und Rechtsprechung bleiben, "im Laufe der Zeit" (für jedes Grundrecht gesondert) Grundrechtsdimensionen zu entwickeln, die als objektivrechtliche, schutzrechtliche oder verfahrensorientierte auch Relevanz für bzw. als Staatsaufgabe(n) gewinnen. Nur allgemein (so Art. 24 Totalrevision VE Schweiz von 1977: "Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen" 6 6 8 , ähnlich Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern von 1993), oder punktuell bei Einzelgrundrechten (z.B. Art. 6 Abs. 4, 5 GG 6 6 9 ) sollte die Staatsaufgabendimension der Grundrechte textlich festgelegt werden (z.B. beim Datenschutz), der
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Z.B. KV Aargau (1980), § 25 Staatsziele, Abs. 1: "Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit...". Präambel Verf. Brandenburg (1992): "... das Wohl aller zu fördern...". 666 Z.B. Art. 67 Abs. 2 Verf. Portugal: "Zum Schutze der Familie obliegt dem Staat insbesondere ...".- Art. 81 ebd.: "Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat der Staat vorrangig die folgenden Aufgaben ...".- KV Uri (1984), Art. 2 (Staatsziele): "Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an...". 667 Z.B. Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen" (ähnlich jetzt Art. 30 Verf. Polen von 1997); s. auch Art. 25: Staatsschutz der Menschenrechte. 668 Bemerkenswert im Teil "Grundprinzipien" Verf. Italien (1947): Art. 3 Abs. 2: "Es ist Aufgabe der Republik, die Hindemisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und die Gleichheit der Bürger tatsächlich begrenzen, und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern." - Ähnlich Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien (1978): "Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind, die Hindemisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung unmöglich machen oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen." - In beiden Artikeln werden Grundrechte und Staatsaufgaben prinzipiell miteinander verknüpft. 669 Vgl. auch Art. 16 Verf. Griechenland: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei; deren Entwicklung und Förderung sind Verpflichtung des Staates."
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status activus und negativus der Bürger und Gruppen könnten sonst überrollt werden (hier bleibt "Schrankendenken" notwendig!). Klüger ist es, wenn in ausdrücklichen Staatsaufgabenabschnitten Themen der Grundrechte genannt werden, die zuvor in klassischen Grundrechtskatalogen behandelt sind - dies bildet vor allem das neuere Modell Schweizer Verfassungen! 670 Auch hier sind viele Varianten im Rahmen des einen Typus "Verfassungsstaat" möglich. Die Lehre von der "guten" Verfassung bzw. der optimalen Textgestaltung von Staatsaufgaben sollte im intensiven Gespräch mit Erkenntnissen der Klassiker (und "Gegenklassiker") bleiben 671 . Die Gemeinwohltradition und Staatszweckdiskussion hat schon in den bisherigen Epochen zu bestimmten Verfassungstexten geführt, sie kann die Verfassungspolitik auch für neuere Fragen sensibilisieren. So ist das Prinzip der Subsidiarität eine klassische und wiederentdeckte Gestaltungsmaxime672, gewiß mit vielen Insich-Varianten, aber doch auch mit bleibendem Aussagewert. Vor allem ist die Staatsaufgabenlehre bzw. Gemeinwohltradition inhaltlich und prozessual so anzureichern, daß die Grundrechte bzw. die Grundrechtsdogmatik und "Grundrechtspolitik" von manchen Funktionen entlastet werden, die sie wegen des Fehlens einer verfassungsrechtlichen Staatsaufgabenlehre im Rahmen des GG seit Jahrzehnten mit übernommen haben. Das bedeutet kein "modisches" Plädoyer für ein Zurückdrehen der "Grundrechtsentwicklung", sondern nur einen Appell, die Staatsaufgabenlehre auf den "Stand zu bringen" bzw. hier "aufzuholen": Die Verfassungstexte sind in diesem Punkt z.T. schon weiter als die Wissenschaft! Einen bemerkenswerten Versuch, Grundrechte und Staatsaufgaben auf einen allgemeinen "Nenner" zu bringen, wagt Art. 2 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz (1947): "Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen und der
670 Exemplarisch Art. 26 VE Schweiz (1977): "Der Staat trifft Vorkehren a) damit jedermann sich nach seinen Fähigkeiten und Neigungen bilden und weiterbilden kann c) damit jedermann an der sozialen Sicherheit teil hat." - Art. 36 ebd. Abs. 1: "Der Staat fördert das kulturelle Schaffen und erleichtert jedermann den Zugang zum kulturellen Leben." - Abs. 2: "Mit seiner Kulturpolitik soll der Staat vor allem ..."; z.B. § 25 Abs. 2 KV Aargau (1980): "In Beachtung der Verantwortung des Einzelnen trifft er (sc. der Staat)... Vorkehren, damit jedermann...". 671 Dazu allgemein P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 20, 45 f., sowie Fünfter Teil VIII. 672 Eine vorbildliche Formulierung findet sich in VE Solothurn (1984), Art. 93 (Eigenverantwortung): "Kanton und Gemeinden erfüllen ihre Aufgaben in Ergänzung der privaten Verantwortung und Initiative" (zit. nach JöR 34 (1985), S. 497 (508), ähnlich Art. 30 Abs. 2 Verf. Bern (1993)). S. oben Fünfter Teil VII Ziff. 6.
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innerstaatlichen Gemeinschaften durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern". 673 (d) Denkbar und auch praktisch nachweisbar ist die "redaktionelle" Bewältigung des Problems der Staatsaufgaben in der Weise, daß ihnen eigene Abschnitte gewidmet sind. So kennt K V Aargau (1980) einen besonderen Abschnitt "Die öffentlichen Aufgaben". Er gliedert sich in die beiden Teile "Allgemeines" und "Die einzelnen Aufgaben". Dort finden sich ausdrücklich "Staatsziele" (§ 25 Abs. 1: "Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit"), aber auch für die Schweiz redaktionell so typische grundrechtliche Einfärbungen wie: "In Beachtung der Verantwortung des Einzelnen trifft er (sc. der Staat) Vorkehren, damit jedermann: a) sich nach seinen Fähigkeiten und Neigungen bilden und weiterbilden kann." Der neuere Verfassunggeber kann die einzelnen Staatsaufgaben im übrigen sehr detailliert und gegliedert nach den verschiedenen, zahlenmäßig zunehmenden Sachbereichen umschreiben: So finden sich in der K V Basel-Landschaft (1984) etwa folgende Stichworte: "Öffentliche Sicherheit und Katastrophenvorsorge", "Bildung und Kultur", "Soziale Sicherheit", "Gesundheit", "Umwelt und Energie", "Raumordnung und Verkehr", "Wirtschaft" 674 (ähnlich Verf. Bern (1993): "öffentliche Aufgaben", z.B. "Verkehr, Wasser, Energie, Abfall" oder "Medien", "Wirtschaft": Art. 31 ff.). (e) Eine weitere erwägenswerte Textvariante ist es, die "Staatsaufgaben" jeweils in dem einschlägigen thematisch relevanten konkreten Kontext zu regeln. Normierungstechniken sind der staatsbezogene Verfassungsauftrag bzw. (blasser) die staatsbezogene Kompetenznorm. So findet sich etwa in Art. 39 Abs. 1 Verf. Spanien im Rahmen des Kapitels "Die Leitprinzipien der Sozialund Wirtschaftspolitik" der Satz: "Die Staatsgewalten sichern den sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Schutz der Familie." So bestimmt Art. 16 Abs. 2 Verf. Griechenland schon im Teil "Individuelle und Soziale Rechte": "Die 673
Originalitätswert besitzt Art. 1 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953): "Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei (sc. bei der Entfaltung seiner Gaben in Freiheit etc.) zu dienen. Er faßt die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen, gewährt ihnen Schutz und Förderung und bewirkt durch Gesetz und Gebot einen Ausgleich der wechselseitigen Rechte und Pflichten." Verf. Bayern (1946) bringt als ersten Hauptteil "Aufbau und Aufgaben des Staates" mit der Gemeinwohlklausel in Art. 3, erst im zweiten und dritten Hauptteil finden sich die klassischen und neueren Grundrechte, die punktuell mit Staatsaufgaben angereichert sind (z.B. Art. 140 Abs. 1: "Kunst und Wissenschaft sind von Staat und Gemeinde zu fördern"). 674 S. auch Abschnitt III Verf. Jura (1977): "Les Tâches de l'Etat", Art. 17-54, z.B. Art. 18 Abs. 1: "L'Etat et les communes favorisent le bien-être général et la sécurité sociale"; im ganzen sind 12 Teilbereiche von Staatsaufgaben normiert.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates" (im Kontext des Grundrechts der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre), und so nennt Art 81 Verf. Portugal eine Fülle von "vorrangigen Aufgaben des Staates" im Teil "Wirtschaftsordnung". Diese Plazierung der Staatsaufgabentexte im jeweils thematisch relevanten Kontext hat Vor- und Nachteile. Einerseits: Die Verfassung umschreibt die Aufgaben damit präziser als die etwa vorangestellten sehr allgemein gehaltenen Staatsaufgabenkataloge in Generalklauselgestalt und wehrt dadurch etwaigen Mißbräuchen. Andererseits besteht eine Gefahr darin, daß so die Staatsaufgaben die gesamte Verfassung "durchziehen", ja überwuchern. Zwar ist es gerade Kennzeichen der modernen verfassungsstaatlichen Entwicklung, daß die Staatsaufgaben allgemein und speziell zunehmen, indes sollte dieser Prozeß auch an Grenzen stoßen: So ist die Verf. Portugal (1976/92) in Sachen "Staatsaufgaben" wohl zu üppig geraten (ebenso Verf. Brasilien von 1988). Es gilt die allgemeine verfassungspolitische Maxime, daß der Verfassunggeber nur das ihm "Wichtige" normieren sollte, um im übrigen dem politischen Prozeß Gestaltungsfreiheit zu lassen. Die Schweizer Kantonsverfassungen gehen hier einen klugen mittleren Weg (vorbildlich Verf. Bern von 1993: Art. 29 f. bzw. Art. 31 bis 54). (11) Im ganzen: Das Thema "Staatsaufgaben" kann heute weder von der Verfassungslehre noch von Verfassungstextgebern ausgeblendet werden. Es ist so "wichtig", daß es den Rang materiellen Verfassungsrechts verdient und damit eine - variable - Normgestalt in der Verfassungsurkunde (mit neuen Themen wie Gesundheit, Umwelt, Medienpolitik, Verbraucherschutz 675 etc.). 675
In neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen wird der Verbraucherschutz vielgestaltig zum Thema: Verf. Spanien (1978) im Kapitel: "Die Leitprinzipien der Sozialund Wirtschaftspolitik" (zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.): Art. 51: 1. "Die Staatsgewalten garantieren den Schutz der Verbraucher und Benutzer, indem sie deren Sicherheit, Gesundheit und legitime wirtschaftliche Interessen durch wirksame Maßnahmen schützen." - 2. "Die Staatsgewalten fördern die Information und Bildung der Verbraucher und Benutzer sowie deren Organisationen und hören diese in sie betreffenden Fragen, nach Maßgabe des Gesetzes." - 3. "Im Rahmen des durch die vorstehenden Absätze Festgelegten regelt das Gesetz den Binnenhandel und die Zulassungsordnung für kommerzielle Produkte." - Verf. Portugal (1976/82, zit. nach JöR 32 [1983], S. 446 ff), Art. 81 : "Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat der Staat vorrangig die folgenden Aufgaben: a)... j) Den Verbraucher zu schützen." - Art. 31 s e x i e s Schweizer BV (Volksabstimmung 1981): "Der Bund trifft unter Wahrung der allgemeinen Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft und der Handels- und Gewerbefreiheit Maßnahmen zum Schutz der Konsumenten.- Den Konsumentenorganisationen stehen im Bereich der Bundesgesetzgebung über den unlauteren Wettbewerb die gleichen Rechte zu wie den Berufs- und Wirtschaftsverbänden.- Die Kantone sehen für Streitigkeiten aus Verträgen zwischen Letztverbrauchern und Anbietern bis zu einem vom Bundesrat zu bestimmenden Streitwert ein Schlichtungsverfahren oder ein einfaches und rasches
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Es gibt viele Regelungsvarianten: Nicht wenig spricht für eine "Grundlegung" schon in der Präambel oder in Eingangsartikeln (so in Präambel Verf. SachsenAnhalt von 1992 oder Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993: u.a. Schutz der "Schwachen"). Doch sollte den Grundrechten auch äußerlich textlich der "Vorrang" gelassen werden: zuerst ist die verfassungsstaatliche "Prämisse" der Menschenwürde zu "setzen". Manches spricht für einen eigenständigen Abschnitt "Staatsaufgaben" - nach einem "klassischen" Grundrechtsteil. Denkbar ist aber auch, die Grundrechte mit Staatsaufgaben gezielt anzureichern, in diesem Fall könnte auf eigene Staatsaufgabenabschnitte verzichtet werden. Insgesamt ist aber vor einer Überwucherung der Gesamtverfassung mit einem "Strauß" zu detaillierter Staatsaufgaben zu warnen. Die Verfassungslehre darf in solchen verfassungspolitischen Maximen ohnedies nicht zu konkret werden: sie kann und soll die Innovation des politischen Prozesses nicht zu stark präjudizieren. Es ist gerade ein Kennzeichen der Offenheit der Verfassung, hier ein Sowohl-Als-auch zu empfehlen: einerseits "anregende", aber auch begrenzende Verfassungstexte zum Thema "Staatsaufgaben", andererseits aber auch Zurückhaltung statt "Reglementierungs-" und "Normierungswut". Die erwähnten neueren Verfassungen bieten viel Belegmaterial für gelungene Lösungen, aber auch manche Übertreibung und Anlaß zu Kritik. Sie spiegeln hier nur die Dringlichkeit einer weiter entwickelten verfassungsstaatlichen Staatsaufgabenlehre. Die Erarbeitung des Grundrechtsbezugs der Staatsaufgaben, aber auch des Staatsaufgabenbezugs der Grundrechte bleibt ein Desiderat der Forschung. Beide Aspekte leisten ein wesentliches Stück Legitimation des Verfassungsstaates als Typus wie seiner konkreten Gestalt. Staatsaufgaben sind ein unverzichtbares Element des "Staatsbildes" (genauer: des Verfassungsstaatsbildes) eines politischen Gemeinwesens676. Dieses "Bild" baut auf dem "Menschenbild' des Verfassungsstaates als Typus auf. Staatsaufgaben sind dabei wie die Verfassung insgesamt in kulturellen Ent-
Prozeßverfahren vor." - Kantonsverfassung Jura (1977, zit. nach JöR 34 [1985], S. 424 ff), "III. Les Tâches de L'etat 1. ... 10. La protection des consommateurs"; Art. 52: L'Etat considère les intérêts des consommateurs." - Schweizer Privatentwurf Kölz/Müller (1984), Art. 44 Konsumentenschutz: "1. Der Bund schützt die Konsumenten und setzt der Werbung, insbesondere der Suchtmittelwerbung, Schranken.2. Er setzt einen Preisüberwacher ein, welcher mißbräuchliche Preise und Kapitalzinsen herabsetzen kann.- 3. Die Konsumentenorganisationen haben in allen Verfahren Parteistellung." (Ähnlich Art. 46, 3. Aufl. 1995.) 676 Zu Fragen des "Staatsbildes": P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 363 ff.; K. Stern, aaO, S. 23 f., spricht ebenfalls vom "Staatsbild" mit dem Zusatz, das BVerfG habe bisher nur vom "Menschenbild" gesprochen. Art. 3 Verf. Ukraine (1996) verbindet Staats- und Menschenbild.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
wicklungsprozessen und entsprechenden "Textstufen" zu sehen (auch in eine offene Zukunft hinein). Der Reichtum der Formen, Verfahren und Inhalte ist groß, der Typus "Verfassungsstaat" gibt viel Gestaltungsspielraum, er normiert aber auch Grenzen: sie sind letztlich in der Würde, Freiheit und Gleichheit der Bürger zu suchen. Insofern führt alles Denken und Handeln über Staatsaufgaben doch wieder zur kulturanthropologischen Prämisse des Verfassungsstaates zurück: zur Menschenwürde 677 . Die jüngst häufiger werdenden beliebten Statepolicy-Klauseln sollten im Verfassungsbild der europäischen Verfassungsstaaten nicht rezipiert werden.
7. Arbeit und Wirtschaft, Verfassungstheorie des Marktes, soziale und ökologische Marktwirtschaft a) Die Aktualität des Themas "Arbeit" Das Thema "Arbeit" ist ebenso klassisch wie aktuell. Die große Politik und viele Einzelwissenschaften nehmen sich seiner heute immer intensiver an, und vielleicht wird seine politische, sozial- und individualethische Behandlung zu einer der Bewährungsproben für den Verfassungsstaat, ebenso wie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Impulse zum Thema "Arbeit" kommen immer wieder aus der katholischen Soziallehre: Die Enzyklika "Laborem Exercens" Johannes Paul II. (1981) entfaltet hier große Ausstrahlung, und der Nestor der katholischen Sozialwissenschaft in Deutschland, O. von Nell-Breuning, hat den arbeitenden Menschen nicht nur theoretisch zu seinem Lebens-Thema gemacht 678 , sondern seinerzeit sogar in die politische Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche konkret handfest eingegriffen: mit der These vom "Klassenkampf der Arbeitsplatzbesitzer gegen die von Arbeitsplatz entblößten Nur-Arbeitslosen" 679 ; Solidarität wäre es, wenn Arbeitnehmer mit 40 Wochenstunden fünf davon nebst Lohn an arbeitslose Kollegen abtreten würden!
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Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR Bd. I, 1987 (2. Aufl. 1995), S. 815 ff. sowie Sechster Teil VIII 1. 678 Eindrucksvoll O. von Nell-Breuning, Worauf es mir ankommt. Zur sozialen Verantwortung, 1983. S. dazu auch G. Müller, Gedanken zu Laborem exercens, RdA 1983, S. 65 ff. 679 SZ vom 29. März 1984, S. 8. S. auch die Verlautbarung des Münchner Erzbischofs F. Wetter, das Doppelverdienen von Eheleuten sei angesichts der gegenwärtigen Arbeitsplatzsituation "nicht verantwortbar" (zit. nach Nordbayer. Kurier vom 4. April 1984). Ein Parallelproblem zur Doppelverdiener-Ehe ist die Frage, inwieweit Beamten in Zukunft Nebentätigkeit noch erlaubt sein soll. In der Republik Österreich wurde seinerzeit ein Gesetzentwurf diskutiert, der den Nebenverdienst von pensionierten Be-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Ein Grundsatz-Thema wie die Sache Arbeit, das in vorletzte Fragen des Selbstverständnisses sowohl des einzelnen Bürgers als auch des politischen Gemeinwesens im ganzen führt, wird damit zu einer Verfassungsfrage. Als solche ist es interdisziplinär anzugehen, zugleich "spezifisch verfassungsrechtlich", d.h. im Kontext einer ganzheitlich betrachteten Verfassung, die vom GG als Beispiel für den Typus "Verfassungsstaat" ausgeht. Während "Arbeit" als Thema der vergleichenden Verfassungslehre noch nicht behandelt ist, bereichern interdisziplinäre Bemühungen zunehmend das Bild: So kam es im Frühjahr 1983 an der Hochschule St. Gallen zu einem von Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern gestalteten Seminar, dessen Ergebnisse unter dem Titel "Krise des Arbeitsmarkts - Arbeitslosigkeit" von R. Zäch (1984) publiziert worden sind, und in Deutschland ist ein interdisziplinärer Zugriff auf das The680
ma Arbeit geglückt
.
b) Auf dem Weg zu einer Verfassungslehre
der Arbeit
Notwendig wird eine breitere Bestandsaufnahme verfassungsrechtlicher 681 Normierungen des Problems Arbeit . Ein etwaiges "Recht auf Arbeit" kann nur im gesamten Kontext der jeweiligen Verfassungen konstituiert werden: als Recht der Arbeit, nicht als einklagbares Grundrecht. (1) Entwicklungs- und Wachstumsprozesse des Verfassungsrechts der Arbeit (a) "Textstuferi'
in historischer und kontemporärer
Verfassungsvergleichung
In historischer und kontemporärer Rechtsvergleichung anhand vieler Beispiele aus Geschichte und Gegenwart verfassungsstaatlicher Verfassungen lassen sich im Blick auf den Typus des Verfassungsstaates Entwicklungs- und amten einschränken will (FAZ vom 30. März 1984, S. 4).- Rechtsvergleichend: B. Nenninger, Das Recht auf Arbeit in Japan und Deutschland, Eine rechts- und kulturvergleichende Untersuchung, 1994. 680 In dem Band: H. Ryffel/J. Schwartländer, (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Arbeit, 1983. S. auch die Göttinger Staatsrechtslehrertagung: Art. 12 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985) mit Referaten von H.-P. Schneider und H. Lecheler (S. 7 ff); zuletzt: M. Hebendahl, Grundrecht auf Arbeit im marktwirtschaftlichen System, ZRP 1991, S. 257 ff. 681 T. Ramm, Das Recht auf Arbeit und die Gesellschaftsordnung, in: Ryffel/Schwartländer, aaO., S. 65 ff. leistet hier manche Vorarbeit, doch argumentiert er nicht auf der ganzen Bandbreite verfassungsstaatlicher Verfassungen.- Einiges an Rechtsvergleichung findet sich in der Sachverständigenkommission "Staatszielbestimmungen.. 1983, S. 74 f., doch ist ihr Beispielfeld zu schmal.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Wachstumsprozesse des "Verfassungsrechts der Arbeit" beobachten: Die Verfassungsurkunden reichern sich mit immer mehr Teilaspekten der Sache Arbeit an und dies in den unterschiedlichsten Formen. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" gewinnt intensivere und extensivere Gestalt: teils im Grundrechts-, teils im Kompetenzteil, teils an sonstigen "Plätzen" 682 . Im folgenden seien typologisch die wichtigsten Erscheinungsformen und "Textstufen" dieser Vorgänge exemplarisch festgehalten. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" gewinnt dabei vor allem in Konkurrenz und gelegentlich erkennbar auf Kosten des Verfassungsrechts "Eigentum" Konturen. Es kann teils eigene Abschnitte "erobern", teils sich an das materielle Eigentum "anlagern", etwa als "geistiges Eigentum". Unter den geltenden Verfassungen dürfte die des GG zu den an geschriebenem "Verfassungsrecht der Arbeit" relativ armen Beispielen gehören - ganz 683
anders viele deutsche Landesverfassungen nach 1945 - , doch haben Wissenschaft und Rechtsprechung vor allem des BVerfG und BAG viel ungeschriebenes Verfassungsrecht der Arbeit "heranwachsen" lassen684. A u f der anderen Seite der Skala steht die Verfassung Portugals (1976/92); sie nimmt sich des Verfassungsrechts der Arbeit in ihrer Urkunde besonders vielfältig an, wobei die Frage bleibt, was heute "lebende Verfassung" der Arbeit ist. Beide Beispiele zeigen, welchen Spielraum der Typus Verfassungsstaat "in Sachen Arbeit" hat und läßt. Dieser Gestaltungsraum muß auch bestehen bleiben; denn es hängt viel von der Individualität eines Volkes und seiner besonderen ge682 Z.B. in Präambeln oder Erziehungszielen oder auch in Form sozialethischer Aussagen über den Rang der Arbeit und dies jeweils in verschiedenen Techniken. Grundrechte und Kompetenzen (Staatsaufgaben, Verfassungsaufträge u.ä.) sind dabei die äußersten Pole, zwischen denen es viele Übergänge gibt: Gelegentlich erscheint das Grundrecht der Arbeit im Kontext von Staatsaufgaben, Staatszielen oder "bloßen" Kompetenzbestimmungen (z.B. "Arbeitsrecht"), die es zum "Maßgabegrundrecht" machen, teils sind dem Grundrecht der Arbeit Staatsaufgaben bzw. Kompetenzen und Verfassungsaufträge "angelagert", teils verbinden sich mit der einen oder anderen Form Konnexgarantien (wie "Sozialversicherung"), teils ist eine Pflicht zur Arbeit normiert. Zu unterscheiden ist also zwischen den Orten, an denen die Sache Arbeit (oder der Status des Arbeitnehmers) oder Teilelemente von ihr in den Einzelverfassungen piaziert sind und den Techniken oder Kodifikationsformen, in denen sie auftreten. Auch das Grundrecht "der" Arbeit ist als solches noch recht selten ausdrücklich und im ganzen normiert. Meist sind nur einzelne Aspekte garantiert: das Abwehrrecht der Berufsfreiheit, das Teilhabegrundrecht auf Ausbildung, ein Element des Grundrechts "auf Arbeit in Gestalt von Kündigungsschutz und damit zugleich ein objektivrechtlicher Aspekt, meist der "status corporativus" in Gestalt der Koalitionsfreiheit bis hin zu Arbeitskampfgarantien wie dem Streikrecht etc. 683 Dazu meine Nachweise in dem Beitrag: Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 (354 f.). 684 Ebd., S. 352.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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schichtlichen Identität ab, auch von seiner konkreten Verfassungskultur, wie intensiv und extensiv es das Verfassungsrecht der Arbeit normiert und praktiziert. Ein Minimum dürfte aber unverzichtbar sein: Der betreffende Verfassungsstaat vermöchte sonst nicht zu überleben, zu tief ist das Problem "Arbeit" mit dem im politischen Gemeinwesen vergesellschafteten Menschen und Bürger verknüpft und zu zentral ist es heute für Legalität und Legitimität des Verfassungsstaates in jedweder nationalen Erscheinungsform. Darum ist die heutige Massenarbeitslosigkeit in einigen Ländern Europas so prekär. Eine Geschichte des "Verfassungsrechts der Arbeit" bzw. eine "Verfassungsgeschichte der Arbeit" müßte herausfinden, welche Querverbindungen" 685 zwischen den einzelnen Neuregelungen von Aspekten des Verfassungsrechts der Arbeit nachweisbar sind, etwa ob und wie die UN-Menschenrechtserklärung (1948) oder der UN-Menschenrechtspakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) das innerstaatliche Verfassungsrecht der Arbeit "von außen" her beeinflußt haben: ganz i.S. des "kooperativen Verfassungsstaates" 686 . In der EU von heute steht die Aufnahme von sozialen Rechten auf der Tagesordnung. 685 Pionierleistungen sind hier der "Erklärung von Philadelphia" vom 10. Mai 1944 zu verdanken (zit. nach AR-Blatt D I Internationale Arbeitsorganisation Anhang 1). Hier findet sich der große Satz: "Arbeit ist keine Ware" (I a), wird das "Hauptziel" der "sozialen Gerechtigkeit" formuliert (II), werden Programme gefordert, die Ziele wie "Vollbeschäftigung", "gerechter Anteil an den Früchten des Fortschritts hinsichtlich der Löhne", das "Recht zu Kollektivverhandlungen", soziale Sicherheit, Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer etc. anstreben. 686 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. sowie Vierter Teil VII.- Wesentliche Elemente des in neueren westlichen Verfassungsstaaten "wachsenden" Verfassungsrechts der Arbeit finden sich in internationalen Menschenrechtstexten (zit. nach F. Berber/A. Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 2. Aufl. 1979). So enthält die Allg. Erklärung der Menschenrechte (1948) Dimensionen der Grundrechte der Arbeit im "Recht auf Arbeit", "auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit" (Art. 23 Ziff. 1), auf Lohngleichheit, Freizeit und Urlaub (Art. 23 Ziff. 2, 3 und Art. 24), auf soziale Sicherheit (Art. 25 Ziff. 1). Der korporative Aspekt ist als "Recht, zum Schutz seiner Interessen Berufsvereinigungen zu bilden und solchen beizutreten" geschützt (Art. 23 Ziff. 4). Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1951) enthält Artikel zur "Erwerbstätigkeit" insbesondere die "nichtselbständige Arbeit" (Art. 17) sowie zu "Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit" (Art. 24). Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) regelt im Kontext des Rechts, "sich frei mit anderen zusammenzuschließen" das Recht, "zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten" (Art. 22 Abs. 1), und im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) figuriert als erstes Grundrecht in Teil III das "Recht auf Arbeit", das von programmatischen Staatszielen (wie Vollbeschäftigung) flankiert wird, die diesem Recht zur vollen Verwirklichung verhelfen sollen (Art. 6 Abs. 1). Im übrigen kehren die bekannten arbeitsverfassungsrechtlichen Themen der Erklärung von 1948 wieder, wobei das Recht der und zu Gewerkschaften ausgebaut ist 57 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Als äußere Gestalt dieser Wachstumsprozesse des Verfassungsrechts der Arbeit kommen "Verfassunggebung" und "Verfassungsänderungen" in Frage. Verfassungswandel als solcher läßt sich hier nicht weiter verfolgen, so sehr er i.S. eines "Verfassungsrechts der Arbeit" durch Korrekturen am Privateigentum und Konkretisierung seiner Sozialpflichtigkeit (heute auch zugunsten des Umweltschutzes) effektiv geworden ist. Innerhalb der Bundesstaaten sind die Prozesse wechselseitiger Beeinflussung der gliedstaatlichen Verfassungen untereinander, aber auch im Verhältnis zum Bund besonders intensiv 687 . Zu prüfen wäre, auf wessen "Kosten" (in einem vordergründigen Sinne) sich das Verfassungsrecht der Arbeit durchsetzte; passiv betroffen sind vor allem die klassische Eigentumsgarantie, aber auch die Grundrechte der Handels- und Gewerbefreiheit. (b) Eine typologische Einzelanalyse (aa)Die französische Verfassungsgeschichte wurde für das "Verfassungsrecht der Arbeit" in vielem folgenreich: sowohl in den Normierungstechniken als auch inhaltlich 688 . Schon in der Verfassung von 1793 erscheint die Sache Arbeit bezeichnenderweise zuerst im Kontext des Eigentums 689 . Aber auch die Fürsorge für den Arbeitslosen ist bereits normiert 690 . Ins Zentrum der Verfassung und des Staates rückt "Arbeit" in der Verfassung von 1848. In ihrer Präambel heißt es (sub IV Abs. 2): "Elle (La République) a pour base la Famille, le Travail, la Propriété, l'Ordre public". Damit wird, soweit ersichtlich, Arbeit erstmals in einer Verfassungspräambel vorangestellt! Im übrigen garantiert Art. 13 "aux citoyens la liberté du travail et de l'industrie". In der VichyVerfassung (1940) wird diese Tradition insofern übernommen, als ihr (erster) "Article unique" in Satz 2 normiert: "Cette Constitution devra garantir les droits du Travail, de la Famille et de la Patrie". Art. 4 legitimiert den Eigentumsschutz von der Arbeit her ("Acquise par le travail et maintenue par l'épargné und das Streikrecht genannt wird (Art. 8). Zur ESC (1961) vgl. deren Art. 1 (Teil II): "Recht auf Arbeit" oder Art. 6: "Das Recht auf Kollektivverhandlungen". 687 Zum Problem meine Besprechung von JöR 29 (1980) in: AöR 107 (1982), S. 640 (insbes. 645 ff.). 688 Text zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979. 689 Art. 16: "Le droit de propriété est celui qui appartient à tout Citoyen de jouir et de disposer à son gré de ses biens, de ses revenus, du fruit de son travail et de son industrie." 690 Art. 21 S. 2 "La société doit la subsistance aux citoyens malheureux, soit en leur procurant du travail, soit en assurant les moyens d'exister à ceux qui sont hors d'état de travailler".
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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familiale, la propriété est un droit inviolable justifié par la fonction sociale qu'elle confère a son détenteur"). Im Verfassungsentwurf vom April 1946 finden sich im Abschnitt "wirtschaftliche und soziale Rechte" Pflicht und Recht auf Arbeit (Art. 26) sowie arbeitsverfassungsrechtliche Konnexgarantien zum Arbeitsschutz (Art. 27: "vie familiale du travailleur"; Lohngleichheit, Mitbestimmung (Art. 31), Arbeitslosenunterstützung (Art. 34)). Arbeit erscheint aber auch als "Zugangsrecht" zum Eigentum (Art. 35 S. 2: "Tout homme doit pouvoir y accéder par le travail et par l'épargné"). Die Verfassung vom Okt. 1948 sieht Pflicht und Recht zur Arbeit im Rahmen ihrer in der Präambel enthaltenen wirtschaftlichen und sozialen Prinzipien vor, auch Gewerkschaften, Streikrecht und Mitbestimmung. Die Verfassung von 1958 knüpft daran in ihrer Präambel an. Im Rahmen der in Art. 34 umschriebenen Gesetzgebungsmaterien tauchen u. a. auf: die fundamentalen Grundsätze "du droit du travail, du droit syndical et de la sécurité sociale" 691 . (bb) Die arbeitsverfassungsrechtlichen Bestimmungen der WRV (1919) seien im folgenden nach Normierungstechniken und -inhalten so aufgeschlüsselt, wie dies im Rahmen einer Verfassungslehre der Arbeit möglich wird, die sich an unterschiedlichen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart "sättigt". Dabei sollte auch die verfassungsstaatliche Entwicklungsgeschichte des Verfassungsrechts der Arbeit sichtbar werden: zumal vieles an dieser "Verfassungsgeschichte der Arbeit" auf arbeitsrechtswissenschaftlicher bzw.-dogmatischer Ebene, auf der Ebene der Rechtsprechung und in den Texten deutscher Bundesverfassungen, aber auch im "einfachen" Arbeitsrecht sehr lebendig ist.
691 In den USA ist das Thema "Arbeit" in den einzelstaatlichen Verfassungen z.B. wie folgt behandelt: Maryland, Constitution of 1864 (mit späteren Änderungen), "Declaration of Rights", Art. 1: "... unalienable rights, among which are life, liberty, the enjoyment of the proceeds of their own labor..." (zit. nach W.F. Swindler (ed.), Sources and documents of United States Constitutions, 1975, Bd. 4, S. 417). Ähnlich North Carolina, Constitution of 1868, Art. I. "Declaration of Rights", Sec. 1: "... life, liberty, the enjoyment of the fruits of their own labor ..." (zit. nach Swindler, Bd. 7, 1978, S. 414).- Georgia, Constitution of 1868, Art. I "Declaration of Fundamental Principles", Sec. 30: "Mechanics and laborers shall have liens upon the property of their employers for labor performed or material furnished, and the legislature shall provide for the summary enforcement of the same" (zit. nach Swindler, aaO., Bd. 2, 1973, S. 499). Wyoming, Constitution of 1889, Art. I, Sec. 22: "The rights of labor shall have just protection through laws calculated to secure to the laborer proper rewards for his service and to promote the industrial welfare of the State" (zit. nach Swindler, aaO., Bd. 10, 1979, S. 470). Ein besonders detaillierter Arbeitsartikel findet sich in der Verfassung Utah (1895): Art. XVI: "Labour" (zit. nach Swindler, aaO., Bd. 9 (1979), S. 462) z.B. mit Sätzen wie "The legislature shall provide by law for a board of labour, conciliation, and arbitration, which shall fairly represent the interests of both capital and labour".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
(1) Zunächst ein Wort zu den Normierungsorten, d.h. zur systematischen Plazierung der Sache "Arbeit" im Rahmen der Gesamtverfassung. Vorweg ist festzustellen, daß Arbeit nicht in der Präambel (wie in einigen französischen Texten) auftaucht und daß sie in den klassischen Grundrechtsteil nur insofern einrückt, als Art. 118 Abs. 2 von der Meinungsfreiheit sagt, an diesem Recht dürfe den Deutschen "kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern". Eine bedeutsame mittelbare Aussage liegt darin, daß die Eigentumsgarantie aus dem klassischen Grundrechtsteil herausgenommen und in den Abschnitt "das Wirtschaftsleben" verlagert ist (Art. 153), wo sie sich zusammen mit vielen "Arbeits-Artikeln" findet. Bereits in den Eigentumsartikeln selbst machen sich 692
Elemente des "Verfassungsrechts der Arbeit" geltend , die das Eigentum i.S. der Verfassung begrenzend treffen. Schon insofern wird die Komplementarität von Arbeit und von Eigentum "als Verfassungsproblem" sichtbar. Schließlich fehlt eine auf den 1. Mai bezogene Feiertagsgarantie wie sie viele spätere (Landes-)Verfassungen kennzeichnet - der "Tag der Arbeit" ist in der kulturellen Tiefendimension ein wesentliches Stück "Verfassungsrecht der Arbeit". Nur mittelbar klingt das Problem in Art. 139 WRV an 6 9 3 . (2) Sodann zu den Normierungstechniken und -inhalten: Vom "Grundrecht der Arbeit" her gedacht 694 lassen sich viele seiner derzeit entfalteten fünf Schutzdimensionen in nuce schon ausmachen: Der Abwehraspekt bricht in Art. 116 Abs. 1 S. 2 mit "unmittelbarer Drittwirkung" durch. Gleiches gilt für die Freistellung im Interesse öffentlicher Ehrenämter (Art. 160); er zeigt sich auch in der "Freiheit des Handels und Gewerbes" (Art. 151 Abs. 3). Der objektivrechtliche, institutionelle Aspekt des Grundrechts der Arbeit wird in Schutzaufträgen des Arbeitsrechts greifbar 695 , beim - geistigen - Eigentum erweitert in Gestalt des Staatsziels in Sachen "geistige Arbeit" 6 9 6 . Eine institutionelle Konnexgarantie steckt in dem Verfassungsauftrag nach Art. 161,
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Art. 155 Abs. 3 S. 2: Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne Arbeits- oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, "ist für die Gesamheit nutzbar zu machen"; Art. 156 Abs. 2: gemeinwirtschaftliche Zusammenschlüsse mit dem Ziel, "die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Verwaltung zu beteiligen ...". 693 "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe ...".- G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., 1933, Ziff. 1 zu Art. 139 WRV: "sozialpolitische Erwägungen". 694 Dazu P. Häberle, Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 (350 ff.). 695 Art. 157: "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs". 696 Art. 158 Abs. 1 : "Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder und der Künstler genießt den Schutz und die Fürsorge des Reichs".
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"ein umfassendes Versicherungswesen" zur "Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit" zu schaffen. Teilhabeaspekte mit Tendenzen zum Grundrecht auf Arbeit hat die Arbeitslosenversicherung in Art. 163 Abs. 2 6 9 7 . Während Elemente des Grundrechts der Arbeit in seiner organisatorisch-prozessualen Dimension noch nicht normiert sind (in nuce allenfalls in Art. 165 "versteckt"), ist die gruppenrechtliche Dimension ausgebaut: als Koalitionsfreiheit in Art. 159 W R V 6 9 8 ("status corporativus"). Die kompetentielle Seite der Arbeit als Staatsaufgabe kommt an mehreren Stellen zum Ausdruck, direkt etwa im Auftrag nach Art. 162, wonach das Reich für eine zwischenstaatliche Regelung der Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer eintritt, "die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt" - ein bemerkenswerter Entwurf im Blick auf ein universales Verfassungsrecht der Arbeit, das dem heutigen kooperativen Verfassungsstaat entspricht! Aber auch in den Normierungen des Grundrechts der Arbeit stecken mitunter Staatsziele im Interesse der Arbeit! Gesetzgebungsaufträge verbergen sich in den arbeitsverfassungsrechtlichen Schutzaufträgen, die bereits dem "Grundrecht der Arbeit" zugeordnet wurden 699 , und die Arbeit als Staatsaufgabe ist schließlich in Art. 163 Abs. 2 S. 2 greifbar 700 . An die Grundlagen des rechtlichen und kulturellen Selbstverständnisses eines Verfassungsstaates führen seine ausdrücklichen Erziehungsziele 701. So wie die Arbeit in einer Reihe von Erziehungszielkatalogen (west)deutscher Länderverfassungen nach 1945 ihren Platz hat 7 0 2 , so figuriert modellhaft ein Stück 703
Verfassungsrecht der Arbeit schon in Art. 148 WRV 697
"Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt". 698 Die "sittliche Pflicht zur Arbeit" (Art. 163 Abs. 1) sei als Teil der "konstitutionellen Programmatik" (H. Hofmann) nicht vergessen. 699 Art. 157: besonderer Schutz der Arbeitskraft, Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts; Art. 158: Schutz der geistigen Arbeit. 700 Art. 163 Abs. 2: "Jedem Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben". 701 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in FS H. Huber, 1981, S. 211 ff. sowie VIII Ziff. 2 und 3. 702 Nachweise in meinem Beitrag "Arbeit als Verfassungsproblem", JZ 1984, S. 345 (354 Anm. 84). 703 "In allen Schulen ist... persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben".
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(3) Im ganzen zeigt sich, daß die Wachstumsprozesse des Verfassungsrechts der Arbeit in der WRV eine "schulbildende Etappe" erreicht haben. Der Regelungsgegenstand "Arbeit" ist in einer für spätere verfassungsstaatliche Verfassungen (vor allem der deutschen Länder nach 1945) vorbildlichen Weise erweitert und vertieft worden: Die Instrumente sind verfeinert, neue Bereiche wie Erziehungsziele, Grundrechte und Staatsaufgaben (bzw. Kompetenzen) erschlossen. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" hat sich intensiviert und ist in neue Bereiche expandiert - ohne den Verfassungsstaat als Typus zu verlassen, so unverkennbar mittelbare und unmittelbare Korrekturen an anderen Prinzipien, etwa dem "Eigentum i.S. der Verfassung", textlich sind. Bemerkenswert "arm" an Aspekten des Verfassungsrechts der Arbeit sind die Verfassungsurkunden der deutschen Landesverfassungen der Weimarer Zeit 7 0 4 ; zum Teil erklärt sich dieses "Aschenputteldasein" wohl aus dem großen Engagement, mit dem sich die WRV des Themas annimmt (Art. 157-163, 165). In den ersten ostdeutschen Verfassungen nach 1945 deuten sich symptomatische Akzentverlagerungen in Sachen "Verfassungsrecht der Arbeit" an 7 0 5 . Es 704 Zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder, 1926. Die Sache Arbeit bzw. die Person des Arbeiters ist geregelt z.B. in Verf. Bremen (1920) in § 84: "Als Vertretung der Arbeiter besteht die Arbeiterkammer"; Art. 66 Abs. 1 Verf. Hessen (1919): "Zur Ausführung der reichsrechtlichen Vorschriften werden ein Arbeiterrat... gebildet." - Relativ eingehend normiert die Verfassung des Freistaats Mecklenburg-Schwerin (1920): § 14 Abs. 1: "Frei ist das Recht staatsbürgerlicher Betätigung für alle Beamten, Angestellten und Arbeiter in Staat oder Selbstverwaltung". Abs. 2 S. 2: Insbesondere ist ein Kündigungsrecht wegen der politischen Gesinnung des Arbeitnehmers ausgeschlossen".- § 15: "Frei sind Arbeit und Erwerb. Nur das Gesetz darf sie beschränken".- Die Verf. Württemberg (1919) nimmt sich der Arbeit in ihrem Abschnitt "Wirtschaftsleben" an: § 61: "Die Arbeitskraft der Arbeiter und Angestellten ist gegen Ausbeutung und Gefährdung sicher zu stellen".Intensiv und extensiv befaßt sich Verf. Danzig (1920/22) mit Aspekten des Verfassungsrechts der Arbeit: "Invaliden der Arbeit" sind bei dem zu schaffenden Heimstättenrecht "ganz besonders zu berücksichtigen" (Art. 111 Abs. 1 S. 2), "Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet" (Art. 113 Abs. 1 S. 1), "Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit ... schafft der Staat ein umfassendes Versicherungswesen ..." (Art. 114), "Betriebsausschüsse" für Arbeiter und Angestellte zur "Mitwirkung an den Lohn- und Arbeitsbedingungen" (Art. 115 Abs. 1 S. 1), Bildung einer "Kammer der Arbeit" für Arbeiter und Angestellte zur "Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen und zwecks Förderung der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte" (Art. 115 Abs. 3 ebd.). 705 Texte zit. nach B. Dennewitz, aaO.- In Verf. Mark-Brandenburg (1947) sind die Mitbestimmungsrechte in Art. 5 noch vor dem Grundrechtskatalog in Art. 6 piaziert; dieser enthält auch die "Freiheit des Streikrechts". Noch anschaulicher ist der Text der Verfassung Mecklenburg-Vorpommern (1947). In ihrem Katalog der Grundrechte und Grundpflichten ist in Art. 15 das Recht jeden Bürgers auf Arbeit vor die Freiheit der Berufswahl gerückt. Als S. 3 folgt das Staatsziel, "durch Wirtschaftslenkung jedem Bür-
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wächst seiner Bedeutung nach und zwar in "intensiver" und "extensiver" Weise, hält sich aber textlich noch im Rahmen des Typus westlicher Verfassungen. Die Verfassungen der 5 neuen Bundesländer nehmen sich des Themas Arbeit besonders engagiert an. Art. 46 Verf. Brandenburg (1992) verpflichtet das Land, "im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen". Vorsichtiger verlangt Art. 17 Abs. 1 S. 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993): "Das Land trägt zur Erhaltung und Schaffimg von Arbeitsplätzen bei". Eine neue Textstufe erfindet Art. 39 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1992): "Das Land wirkt darauf hin, daß sinnvolle und dauerhafte Arbeit für alle geschaffen wird und dabei Belastungen für die natürlichen Lebensgrundlagen vermieden werden". Denn hier wird die Spannung zum Umweltschutz angedeutet. Verf. Thüringen (1993) behandelt in ihrem fünften Abschnitt "Eigentum, Wirtschaft und Arbeit" und qualifiziert selbst das "Staatsziel" Arbeit als solches. (cc)Nun zu geltenden ausländischen Verfassungen im Überblick: Im folgenden seien einige Beispiele zum "Verfassungsrecht der Arbeit" westlicher Verfassungsstaaten, vor allem aus der Zeit nach 1945 gebracht. Eine Auswahl muß genügen. Belegen lassen sich, wie schon in der "Verfassungsgeschichte der Arbeit", bestimmte im Grundtypus parallele, aber variationenreiche Normierungstechniken und -inhalte 706 . (aaa) Die Verfassung des Königreichs Dänemark (1953) verknüpft eine Staatszielbestimmung mit einem Aspekt des Grundrechts der Arbeit 7 0 7 . Die Verfassung Finnlands (i.d.F. von 1972) geht ebenfalls von der staatlich kompetentiellen Seite aus 708 . Die Verfassung Irland (1937/1992) postuliert im Rahmen der "Leitsätze zur Sozialpolitik" die Aufgabe des Staates (Art. 45 Abs. 4 Ziff. 2) sicherzustellen, "daß die Kraft und die Gesundheit der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte ... nicht mißbraucht werden und daß die Bürger
ger Arbeit und Lebensunterhalt zu sichern". Art. 16 handelt von den Konnexgarantien wie Recht auf Urlaub und Erholung sowie von der Staatsaufgabe Sozialversicherung. In Art. 75 Abs. 3 geht es um Schutz und Fürsorge für die "geistige Arbeit". Parallel strukturiert ist die Verfassung Sachsen (1947, Art. 16-18, 22). 706 Texte, soweit nichts anderes vermerkt, zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl., 1975. 707 § 75 Abs. 1 : "Zwecks Förderung des Gemeinwohls ist anzustreben, daß jeder arbeitsfähige Bürger die Möglichkeit hat, unter Bedingungen zu arbeiten, die sein Dasein sichern." 708 § 6 Abs. 2 (im Anschluß an Absatz 1, der Leben, persönliche Freiheit und Eigentum schützt!): "Die Arbeitskraft des Staatsbürgers steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Die Staatsgewalt muß bei Bedarf dafür Sorge tragen, daß für einen finnischen Staatsbürger die Möglichkeit besteht, einer Arbeit nachzugehen ...".
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nicht aus wirtschaftlicher Not gezwungen werden, Berufe auszuüben, für die sie... ungeeignet sind". Die Verfassung Italiens (1947/1993) behandelt das Thema "Arbeit" besonders vielseitig und vielfältig. Schon in ihren einleitenden "Grundrinzipien" kommt die Teilhabeseite des Grundrechts der Arbeit zur Sprache (Art. 3: "Es ist Aufgabe der Republik ... die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes..."). Art. 34 wagt ein "Recht auf Arbeit" 7 0 9 . Art. 1 gründet die Republik „auf die Arbeit" (nicht auf den Markt!). Im Titel III ("Wirtschaftliche Beziehungen") nimmt sich die Verfassung zuerst der Arbeit und erst dann des Eigentums an. Umfassend geschützt wird die Arbeit gleich eingangs 710 . Im übrigen begegnen die bekannten Teilelemente des Grundrechts der Arbeit mit ihren verschiedenen Schutzdimensionen711. (bbb) Die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen nehmen sich des Themas Arbeit zunehmend an. Sie werden hier untersucht, um etwaige Wandlungen in Kodifikationsstil, -technik und -Inhalten des "Verfassungsrechts der Arbeit" zu erkennen. Art. 22 Verf. Griechenland (1975) 712 lautet in Abs. 1:
709 Abs. 1 : "Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts." Abs. 2 verpflichtet den Staatsbürger auf eine Tätigkeit, "die zum materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft beiträgt". 710 Art. 35 Abs. 1: "Die Republik schützt die Arbeit in allen ihren Formen und Anwendungen." 711 Art. 36 Abs. 1: "Jeder Arbeitende hat das Recht auf eine Entlohnung, die ... in jedem Fall ausreichen muß, ihm und seiner Familie ein freies und menschenwürdiges Dasein zu sichern"; Abs. 3 ebd.: Recht jedes Arbeitenden auf Urlaub; Art. 37: Lohngleichheit von Mann und Frau; Art. 38: Recht jedes Arbeitenden auf Sozialversicherung (Invalidität, Arbeitslosigkeit etc.); die korporative Seite ist in Art. 39 (Gewerkschaften) und Art. 40 (Streikrecht) garantiert.- Die "soziale Funktion" des nachrangig piazierten Eigentums (Art. 42 Abs. 2) ist gewiß auch von diesen Elementen des Verfassungsrechts der Arbeit her zu erfüllen! - Luxemburg (1868/1996) nimmt sich des Verfassungsrechts der Arbeit im Grundrechtskatalog noch vor der Handels- und Eigentumsfreiheit an: Art. 11 Abs. 4: "Der Staat gewährleistet das Recht auf Arbeit"; Abs. 5: "Das Gesetz trifft Vorsorge für die soziale Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Ruhe der Arbeiter und gewährleistet die gewerkschaftlichen Freiheiten". Damit sind im selben Artikel das Grundrecht der Arbeit und Gesetzgebungsaufträge normiert.- Verf. Norwegen (1814/1967) nimmt sich erst am Schluß der Grundrechte der Arbeit an: § 110: "Es obliegt den Behörden des Staates, derartige Verhältnisse zu schaffen, daß jeder Arbeitsfähige sich sein Auskommen durch seine Arbeit schaffen kann." 712 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.
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"Die Arbeit ist ein Recht und steht unter dem Schutz des Staates, der für die Sicherung der Vollbeschäftigung und für die sittliche und materielle Förderung der arbeitenden ländlichen und städtischen Bevölkerung sorgt." Damit ist der klassische Doppelweg: grundrechtliche und kompetentielle Seite beibehalten. Abs. 4 lautet: "Der Staat sorgt für die Sozialversicherung" das ist mehr als bloße Kompetenz, es ist Verfassungsauftrag. Art. 23 gewährleistet die Koalitionsfreiheit (Abs. 1); die Garantie des Streikrechts (Abs. 2) ist insofern besonderer Art, als von "allgemeinen Arbeitsinteressen der Arbeitenden" die Rede ist, also nicht nur von wirtschaftlichen Interessen 713. In der neuen Verfassung Spanien (1978) 714 ist das Thema Arbeit auf verschiedene Artikel "verteilt". Im Abschnitt "Die Grundrechte und die öffentlichen Freiheiten" finden sich "das Recht auf literarische, künstlerische, wissenschaftliche und technische Produktion und Schöpfung" (Art. 20 Abs. 1 Ziff. b), das Recht aller "auf freie Bildung von Gewerkschaften" (Art. 28 Abs. 1 S. 1) sowie das "Recht der Arbeitnehmer auf Streik zur Verteidigung ihrer Interessen" (Abs. 2), "die Pflicht zu arbeiten und das Recht auf Arbeit, auf die freie Wahl des Berufes oder Gewerbes, auf sozialen Aufstieg mittels der Arbeit" (Art. 35 Abs. 1 S. 1). Nach Art. 37 Abs. 1 gewährleistet das Gesetz "das Recht auf kollektive Arbeitsverhandlung zwischen den Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber". Abs. 2 anerkennt das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf "kollektive Arbeitskampfmaßnahmen" - Ausprägung des status corporativus oder collectivus! Von der staatlichen kompetentiellen Seite her sind Aspekte des "Verfasungsrechts der Arbeit" geregelt im Kapitel I I I (Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik). Eigentums- bzw. Einkommenspolitik und "Arbeitspolitik" stehen speziell in Art. 40 im gebotenen Zusammenhang, so sehr man zweifeln mag, ob Vollbeschäftigungspolitik als solche heute noch das "richtige" Staatsziel ist 7 1 5 .
713 Abs. 2: "Der Streik ist ein Recht und wird zur Bewahrung und Förderung der wirtschaftlichen und allgemeinen Arbeitsinteressen der Arbeitenden von den gesetzmäßig gebildeten Gewerkschaften geführt." Der grundrechtliche status corporativus der Arbeit ist hier insofern verstärkt! Zu ihm oben VII Ziff. 5. 714 Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. 715 Art. 40 Abs. 1: "Die Staatsgewalten fördern im Rahmen einer wirtschaftlichen Stabilitätspolitik die für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt günstigen Bedingungen und eine gerechte Verteilung des regionalen und persönlichen Einkommens. Ganz besonders führen sie eine auf Vollbeschäftigung ausgerichtete Politik durch." Abs. 2: "Die Staatsgewalten fördern gleichfalls eine auf die Gewährleistung der Berufsausbildung und -umschulung zielende Politik; sie sorgen für Arbeitssicherheit und hygiene und garantieren die notwendige Ruhezeit durch Arbeitszeitbegrenzung sowie regelmäßig bezahlten Urlaub und die Förderung entsprechender Erholungsstätten."
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Ein neuer, durch die Gastarbeiter-Bewegung entstandener Aspekt ist geregelt in Art. 42: "Der Staat wacht besonders über die Wahrung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte der spanischen Arbeitnehmer im Ausland und orientiert seine Politik auf deren Rückkehr." Die Verfassung der Niederlande (1983) 716 befaßt sich mit dem Thema Arbeit in der Weise, daß der staatlich kompetentielle und der grundrechtliche Aspekt im selben Artikel normiert sind: Staatszielbestimmung und Grundrecht wachsen zusammen, nachdem sie in vielen neueren Verfassungen getrennt sind 717 . Die (revidierte) Verfassung von Portugal (1976/92) 718 ist in "Sachen Arbeit" ergiebig wie kaum eine andere neuere westliche Verfassung. Das zeigt sich in der Systematik und in den Überschriften ebenso wie in der Sache selbst. So hat die Eigentumsgarantie ihre herkömmliche Vorrangstellung aufgeben müssen; sie erscheint nicht mehr im Kapitel "Rechte, Freiheiten und Garantien", sondern figuriert fast als eine Art Appendix im Kapitel "Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten" im Abschnitt "Wirtschaftliche Rechte und Pflichten" am Schluß als Art. 62. Statt dessen ist dem Kapitel "Rechte, Freiheiten und Garantien" ein neuer Abschnitt "Freiheiten und Garantien der Arbeitnehmer" hinzugefügt mit den Themen "Sicherung des Arbeitsplatzes", "Arbeiterausschüsse", "Gewerkschaftsfreiheit", "Rechte der gewerkschaftlichen Vereinigungen und Tarifverträge" sowie "Streikrecht und Aussperrungsverbot". Das Kapitel III "Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten" wird in Art. 59 vom "Recht auf Arbeit" eröffnet, die "Pflicht zur Arbeit" ergänzt und durch detaillierte Staatsziele angereichert (z.B. Vollbeschäftigungspolitik, "kulturelle, fachliche und berufliche Ausbildung der Arbeiter"); ein großer Katalog zu den Rechten der Arbeiter (z.B. auf Erholung und Freizeit) und zu weiteren Staatsaufgaben (z.B. auf Begrenzung der Arbeitszeit) kommt hinzu. Ein Charakteristikum der portugiesischen Verfassung
Art. 41: "Die Staatsgewalten unterhalten ein öffentliches System der sozialen Sicherheit für alle Bürger, das im Bedarfsfall ausreichenden Beistand und soziale Leistungen garantiert, vor allem im Falle der Arbeitslosigkeit." 716 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff. 717 Art. 19 lautet: "1. Die Schaffnung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates und der anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften. 2. Vorschriften über die Rechtsstellung derjenigen, die Arbeit verrichten, über den Arbeitsschutz und über die Mitbestimmung werden durch Gesetz erlassen. 3. Das Recht jedes Niederländers auf freie Wahl der Arbeit wird anerkannt, unbeschadet der Einschränkung durch Gesetz oder Kraft eines Gesetzes." 7,8 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff. Ergiebig auch Art. 25 Verf. ÄquatorialGuinea.
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ist schließlich die mehrfache besondere Herausstellung des Arbeiters als solchen: vor allem im Zusammenhang mit kulturellen Rechten 719 . Die Verfassung der türkischen Republik 720 ragt durch eine besonders intensive und extensive Regelung der "Sache Arbeit" aus dem typischen Bild westlicher Verfassungsstaaten heraus. Soweit ersichtlich kommt ihr textlich nur die revidierte Verfassung Portugals nahe. Im Abschnitt "Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten" findet sich ein eigener Artikel (48) unter der Überschrift "Arbeits- und Vertragsfreiheit" in der thematisch sehr weiten Fassung: "Jedermann besitzt die Freiheit, auf dem von ihm gewünschten Gebiet zu arbeiten und Verträge abzuschließen". Der neue Unterabschnitt "Vorschriften über die Arbeit" gliedert sich in "Recht und Pflicht zur Arbeit" 7 2 1 , ferner in Arbeitsbedingungen und Recht auf Arbeitsruhe, Recht auf Gründung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und "Gewerkschaftliche Betätigung". Weitere Partien befassen sich mit "Gesamtarbeitsvertrag, Streikrecht und Aussperrung" sowie mit der "Gewährleistung der Lohngerechtigkeit" (Art. 53-55). Ein Abschnitt über "Soziale Sicherheitsrechte" flankiert dieses türkische Verfassungsrecht der Arbeit. Ein Blick auf die Normierungsinhalte des Verfassungsrechts der Arbeit in Schweizer Kantonsverfassungen ergibt ein facettenreiches Bild 7 2 2 . Dabei wäre es von eigenem Reiz zu untersuchen, wie sich die innerschweizerischen Prozesse der Verfassungsgebung und -änderung hier gegenseitig beeinflußt haben. Erst allmählich entwickelten sich Teilthemen des Verfassungsrechts der Arbeit. Herkömmlich gab es nur die klassischen Eigentums-, Handels- und Gewerbefreiheitsgarantien. So finden sich als Teilelemente eines Grundrechts der Arbeit jetzt Aspekte des "Schutzes der Arbeiter" 723 .
719 Art. 78 Abs. 2: "In Zusammenarbeit mit allen Kulturträgem obliegt es dem Staat: a) Den Zugang aller Bürger, insbesondere der Arbeiter, zu den Möglichkeiten und Mitteln kultureller Betätigung zu gewährleisten...". S. auch Art. 70: Jugendliche, vor allem jugendliche Arbeiter..., femer Art. 76: Anregung und Begünstigung des Hochschulzugangs von "Arbeitern und Kindern von Arbeitern". 720 1982, zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff. 721 Bemerkenswert ist die Aussage, der Staat treffe die erforderlichen Maßnahmen "zur Erhöhung des Lebensstandards der Arbeitenden, zum Schutz der Arbeitenden hinsichtlich der Entwicklung ihres Arbeitslebens, zur Herstellung einer Atmosphäre, die geeignet ist, die Arbeitsmöglichkeit zufördern und der Arbeitslosigkeit vorzubeugen", auch wird der "Arbeitsfriede" als Schutzgut genannt. 722 Zit. nach "Systematische Sammlung des Bundesrechts". 723 (Alte) KV Appenzell A. Rh.: Art. 30 Ziff. 4; Art. 13 Abs. 1 KV St. Gallen: "Der Staat schützt die Arbeitskraft, insbesondere auch diejenige von Frauen und Kindern...".
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Am weitesten in Richtung auf ein "Recht auf Arbeit" stößt die K V Jura (1977) vor 7 2 4 . Primär von der staatlich-kompetentiellen Seite her findet sich die Skala von der bloßen Kompetenznorm in Sachen Arbeit 7 2 5 über den Verfassungsauftrag 726 bis zur Garantie von Institutionen wie der Arbeitsgerichte 727 oder der "Bestände der Arbeiter-Krankenkassen" 728. Mitunter gehen der primär grundrechtliche und der primär kompetentielle Aspekt des Verfassungsrechts der Arbeit eine eigene Synthese ein 7 2 9 . Verfassungspolitisch ist hier einiges in Gang gekommen 730 .
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Im Abschnitt "La sécurité sociale" normiert Art. 19 ("Droit au travail"): "Le droit au travail est reconnu... Avec le concours des communes, l'Etat s'efforce de promouvoir le plein emploi. 3) Chaque travailleur a droit au salaire qui lui assure un niveau de vie decent. 4) L'Etat encourage le reclassement professionnel. 5) Il favorise l'integration économique et social de handicapés."- Art. 20 ("Protection des travailleurs") enthält einen ganzen Katalog von Staatsaufgaben (z.B. Arbeitslosenversicherung, Mitbestimmung, Lohngleichheit etc.). 725 Z.B. KV Zürich: Art. 23 S. 2: "Er (der Staat) erläßt auf dem Weg der Gesetzgebung die zum Schutz der Arbeiter nötigen Bestimmungen".- (Alte) KV Bern: "Der Staat trifft ... schützende Bestimmungen gegen gesundheitsschädliche Arbeitsüberlastung".· (Alte) KV Solothum: Art. 63: "Abweichung von den ordentlichen Steuergrundsätzen zur Erfüllung außerordentlicher Aufgaben der Arbeitsbeschaffung in Zeiten der Not". 726 Z.B. Art. 30 Ziff. 4 (alte) KV Appenzell A. Rh: "öffentliche Arbeitsbeschaffung"; § 27 Abs. 1 (alte) KV Thurgau: "das Wohl und die Gesundheit der arbeitenden Klassen zu schützen und zu fördern" als Aufgabe der Gesetzgebung. 727 Z.B. KV Solothum: Art. 40 Abs. 2. 728 KV Solothum: Art. 71 Abs. 4. 729 So in Art. 14 KV Wallis: "Der Staat erläßt Vorschriften betreffend Arbeiterschutz und Sicherung der Arbeiterfreiheit". Einen besonderen Aspekt trifft KV Uri. Im Rahmen seines Gemeinwohlartikels 44 werden als Ziele u.a. genannt: "Verhaltung arbeitsscheuer und liederlicher Personen zur Zwangsarbeit". 730 So findet sich in § 17 Verfassung des Kantons Basel-Landschaft (1984), zit. nach JöR 34 (1985), S. 451 ff, im Rahmen der "Sozialrechte" ein "Recht auf Bildung, Arbeit und Wohnung" in Gestalt eines an den Staat gerichteten Verfassungsauftrags. Das subjektive Jedermann-Grundrecht in Sachen Arbeit ist in einen Verfassungsauftrag eingeschmolzen, dies aber so, daß zwar kein Recht auf Arbeit, aber wohl Aspekte des Grundrechts der Arbeit sichtbar werden (Urlaubsanspruch, Lohngleichheit etc.). Manche Parallelen, aber auch Varianten finden sich im VE Solothum (1984). Ein Stück Verfassungsrecht der Arbeit klingt schon in der Präambel an ("... Gesellschaftsordnung anzustreben, die der Entfaltung und der sozialen Sicherheit des Menschen dient"). Weitere Aspekte kommen in Gestalt klassischer Grundrechtsgarantien ins Blickfeld (Art. 18 Abs. 1 : Jeder kann seinen Beruf, seine Ausbildungsstätte und seinen Arbeitsplatz frei wählen"; Abs. 3: "Die Ausübung des Streikrechts ist im Rahmen der Rechtsordnung gewährleistet"), aber auch in typisch leistungsstaatlicher Formulierung in Maßgabe-Form; so wenn es in Art. 25 heißt: "In Ergänzung der persönlichen Verantwortung und Initiative des einzelnen strebt der Kanton danach, daß im Rahmen seiner Zuständigkeit und der verfügbaren Mittel ... jeder seinen Unterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedin-
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(ccc) Ein Blick in die Verfassungswerkstatt der jüngsten Zeit ergibt für Verfassungen in Übersee folgenden Ertrag: Die Verf. der Philippinen (1986) nimmt sich des Themas "Arbeit" systematisch in vielen verschiedenen Kontexten an: in Art. II See. 18 (The State "shall protect the rights of workers and promote their welfare"), im Rahmen von Art. X I I I ("Social justice and Human Rights") in Gestalt eines eigenen Abschnitts "Labour", in dem - "kontinental" gesprochen - in Sachen Arbeit Staatsaufgaben, Grundrechte, Teilhaberechte, Schutzpflichten und beide flankierende Konnexgarantien miteinander verwoben sind. Auch finden sich Spezialregelungen zugunsten der Farmarbeiter (sec. 5 und 6 ebd.). Überspringen wir Meere und Kontinente in Richtung auf das südliche Afrika - und bei mehreren Themen wird der weltweite Wirkungszusammenhang zwischen den neueren Verfassungen gerade zwischen den Philippinen und Südafrika besonders greifbar -, so finden wir in der Verf. Südafrikas (1996/97) bereits in der "Bill of Rights" einen Abschnitt 23 "Labour relations" mit detallierten Grundrechten wie: "the right to fair labour practices", "to participate in the activities and programmes of a trade union", "to strike", "to bargain collectively" etc. Die dogmatische Figur des "Grundrechts der Arbeit" dürfte diesem Katalog gerecht werden. Ähnlich geht Verf. der Provinz Kwazulu Natal (1996) vor: in einem detaillierten Rechte-Katalog "Labour Relations" in Art. 21 7 3 1 . Die Verf. der Republik Guinea (1991) eröffnet ihren Arbeits-Artikel 18 mit dem großen Satz: "Le droit au travail est reconnu à tous." Um relativierend hinzuzufügen: "L'Etat crée les conditions nécessaires à l'exercise de ce droit", ähnlich Art. 25 Verf. Niger (1996). Die Verfassungen in Osteuropa und Asien seit 1989 haben es schwer, das Thema Arbeit "richtig" zu behandeln. Denn sie müssen und wollen sich einerseits von dem sozialistischen (den Menschen instrumentalisierenden) Ver-
gungen bestreiten kann und gegen willkürliche Entlassung geschützt ist, jeder für gleichwertige Arbeit gleichen Lohn erhält und in den Genuß bezahlter Ferien und ausreichender Erholungsmöglichkeiten gelangt". Obwohl hier schon der StaatsaufgabenAspekt angelegt ist, kehrt das Thema Arbeit im Rahmen des Abschnitts "Staatsaufgaben" bzw. des Unterabschnitts "Soziale Sicherheit" noch einmal wieder: Art. 98 Arbeit: S. 1: Der Kanton erläßt im Rahmen des Bundesrechts Vorschriften über das Arbeitsverhältnis und den Schutz der Arbeitnehmer." 731 Die Verf. Uganda (1995) rückt ähnliche Grundrechte des arbeitenden Menschen in Art. 40 ein, wobei in dem großen Eingangsabschnitt "National objectives and directive principles of State Policy" eine neue Grundrechteverwirklichungsklausel steht V. (i): "by providing them with adequate resources to function effectively" und auch punktuell an das Thema Arbeit gedacht ist (z.B. Χ IV (b).- Auch die Verf. Malawi (1994) integriert das Thema Arbeit in das Kapitel Menschenrechte (Art. 31) und zählt einige Themen wie Recht auf faire und gesunde Arbeitsbedingungen, Lohngleichheit etc. auf.
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ständnis lossagen, andererseits ist die "Sache Arbeit" schon aus historischen Gründen so "wichtig", daß sie auch in den postkommunistischen Reformstaaten zum "Regelungsoptimum" ihrer Verfassungen gehört. Eine Auswahl möge das verdeutlichen. Dabei ist zu fragen, ob und wie die Reformstaaten die westlichen Verfassungsthemen in Sachen Arbeit nur "nachgeholt" haben, ob sie eigenständige Regelungen entwickeln, die ihrerseits später vorbildhaft auf Verfassungen in Europa zurückwirken könnten und sollten. Bei aller vergleichenden Bestandsaufnahme ist freilich zu bedenken, daß neue Normen nicht von heute auf morgen eine "Kultur der Arbeit" im Rahmen einer freien bzw. sozialen (und ökologischen) Marktwirtschaft begründen können. Die prekäre Transformationsphase 732 mag verhindern, daß die Normen sogleich "greifen". Die Kultur einer freien Arbeitsgesellschaft muß wachsen (können), das braucht Zeit. Unter diesem Vorbehalt seien einige Verfassungstexte der Reformstaaten in Osteuropa und Asien untereinander ins Gespräch gebracht - wie dies eine vergleichende Verfassunglehre wissenschaftlich vermitteln kann. Den ersten Blick verdient - schon wegen 1989 - Polen. Bereits der erste Verfassungsentwurf von 1990 733 postuliert in Kap. 1 Art. 32 Abs. 1: "Le travail est protégé par l'Etat". Im folgenden werden Arbeitsschutzpflichten des Staates z.B. bei Krankheit und Invalidität nach dem Vorbild der westlichen Verfassungen normiert, auch das Streikrecht (Art. 33). Ein Verfassungsentwurf von 1991 formuliert genauer und inhaltsreicher, indem Art. 26 Abs. 2 bestimmt: "The state promotes politics in favour of the implementation of the right to work, assists in finding employement" - damit ist die "Staatsaufgabe Arbeit" normiert, zugleich das einklagbare Grundrecht auf Arbeit indes verneint. Die Gewerkschaftsfreiheit (Art. 29) und das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 30) figurieren in besonderen Artikeln. Der Verfassungsentwurf des polnischen Senats (1991) sagt in Art. 40 Abs. 1: "Chaque citoyen a le droit à la protection de son travail par l'Etat." Deutlicher vom Thema "Arbeit" gekennzeichnet ist der Verfassungsentwurf der "Solidarität" vom Juni 1994. Schon in der Präambel heißt es: "Desiring the founding of a Poland strengthened by the intelligence, labour and patriotism of its citizens...". Konsequent zu dieser ersten "Intonierung" in der Präambel bestimmt Art. 7 S. 1: "Labour shall be the foundation of the development of the State. The Republic shall protect the right to work, ownership and succession". Schließlich nehmen sich die Art. 36 bis 44 aller bekannten Themen in Sachen 732 Dazu mein Beitrag, Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Transformationsforschung, in: FS Mahrenholz, 1994, S. 133 ff; I. Slawinski/M. Geistiinger (Hrsg.), Probleme der Rechtsüberleitung in der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakischen Republik, 1996. 733 Zit. nach JöR 43 (1995), S. 184 ff, dort auch die folgenden Texte.
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Arbeit an, zum Teil schaffen sie auch Neues: so das Recht des Arbeiters, sich in nationalen "und internationalen" Arbeitsorganisationen zusammenzuschließen (Art. 41), oder die Festsetzung des Mindestlohnes durch eine DreiparteienKommission (Art. 43). In der Verfassung Polens von 1997 findet sich das Arbeitsverfassungsrecht vor allem in Art. 65 bis 67, Teilaspekte sind schon in Art. 12 (Gewerkschaften) und Art. 24 (Arbeitsschutz) geregelt. Die Baltenländer beschäftigen sich mit dem Thema "Verfassungsrecht der Arbeit" ebenfalls vielgestaltig. So hält sich Verf. Estland (1992) 734 im Rahmen der bekannten Normenensembles, sagt aber zusätzlich in Art. 29 Abs. 3: "The state shall organize vocational education and assists in finding work for persons seeking imployment". Verf. Litauen (1992) geht ausführlicher auf das Thema ein und zwar in einem eigenen Kapitel "National economy and Labour" (Art. 46 bis 54). Neben Festlegungen auf die "Wohlfahrt des Volkes", den Schutz des Marktes gegen Monopolbildungen und neben dem Verbraucherschutz finden sich alle modernen Verfassungsthemen in Sachen Arbeit: vom Streikrecht bis zu sozialen Schutzrechten. Ähnliches gilt für die Verfassung Lettland von 1991 (Art. 19 bis 27), wobei den "convicted people" bei aller Arbeitspflicht garantiert ist: "the exercise of established cultural values, education and personal development." Soweit ersichtlich ist damit ein anderwärts nur gesetzlich oder durch die Praxis geregeltes Thema neu auf die Verfassungstufe angehoben. Die Verf. der Slowakischen Republik (1992) nimmt sich des Themas im Abschnitt "Ökonomische, soziale und kulturelle Rechte" an (Art. 35 bis 39) und rezipiert hier im Grunde den Worten und dem Inhalt nach die westlichen Standards, dies freilich ungewöhnlich detailliert (z.B. Art. 36 b: Kündigungsschutz). Die Verf. Rumänien (1991) fällt dadurch auf, daß sie die "syndicats" und ihre Rechte schon im Grundlagenteil definiert (Art. 9), während das Verfassungsrecht der Arbeit später unter Stichworten wie "Le travail et la protection sociale du travail" folgt (Art. 38). Λ Zuletzt ein Blick auf die Reformstaaten in Asien: Die frühe Verf. Turkmenistan (1991) 735 geht fast "minimalistisch" vor. Nur in zwei Artikeln wird das Recht jeden Bürgers auf Arbeit und konnexe Garantien wie das Recht auf Erholung garantiert (Art. 31 und 32). Demgegenüber nimmt sich die Verf. Ukraine (1996) des Themas ausführlich und substantiell an (Art. 43 bis 46). Gleiches gilt für die Verf. von Aserbeidschan (1995), die eine neue Textstufe erfindet in den Worten: "Le travail est le fondement du bien-être personnel et social" (Art. 35 Abs. 1). Das läßt eine Wahlverwandtschaft zur Lehre vom "Doppelcharakter" der Arbeit - personale und soziale Funktion - erkennen, wie sie der 734 735
Ebenfalls zit. nach JöR 43 (1995), S. 306 ff. Zit. nach JöR 42 (1994), S. 674 ff.
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Sozialenzyklika "Laborem exercens" von Papst Johannes Paul II. (1981) zu verdanken ist. Allzu dürftig nimmt sich demgegenüber Art. 23 Verf. Rußland (1993) aus, in der es nur heißt: "Die Arbeit ist frei. Jeder hat das Recht über seine Erwerbstätigkeiten zu verfügen, die Art der Tätigkeit und den Beruf frei zu wählen.- Zwangsarbeit ist verboten." Die sozialen Schutzrechte in Art. 44 Abs. 2 und 46 decken kaum das ganze Feld des verfassungsstaatlichen Standards in Sachen Arbeit ab. Wieder einmal zeigt sich, daß keine - neue - Verfassung alle optimalen Regelungen zugleich enthält. Sie in Raum und Zeit vergleichend zu erarbeiten, kann nur der Verfassungslehre gelingen. Manche Verfassunggeber in Osteuropa und Asien haben Neues geschaffen, dieses wissenschaftliche Innovationspotential ist im Sinne der Textstufenanalyse "aufzuschließen". Der "internationale Wirkungszusammenhang der Verfassungen" ist ein solcher der Verfassungstexte, der Wissenschaft und der Judikatur, der Verfassungstheorie und der Verfassungspraxis. (2) Theorieelemente einer "Verfassungslehre der Arbeit" Die historische und kontemporäre Rechtsvergleichung, weit über das "Recht der Arbeit" hinaus, führt zu folgenden theoretischen Stichworten: 1. Arbeit und Eigentum stehen im inneren und äußeren, sachlichen und funktionellen Zusammenhang, so gegensätzlich sie sich in der Verfassungsund Sozialgeschichte oft darstellen 3 6 . Kulturell gehören beide in einen großen Kontext, teils in Rivalität, teils in Konkurrenz, teils in Komplementarität. Die Kulturgeschichte variiert dieses Verhältnis ständig neu. Das Verfassungsrecht, mit dem einfachen Recht zusammengesehen, spiegelt wichtige Aspekte dieses Zusammenhangs. 2. In einem Verfassungsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland intensiviert sich dieser Zusammenhang737. Eigentum "i.S. der Verfassung" und Arbeit "i.S. der Verfassung" konstituieren sich wechselseitig mit. Die Gegensätze und "Konkurrenzverhältnisse" zwischen Eigentum und Arbeit werden abgebaut. Beide wachsen schon textlich zusammen. Verschränkungen werden sichtbar in Gestalt von "neuem" oder "Quasi-Eigentum" einerseits, dem besonderen Verfassungsschutz "erarbeiteten" Eigentums andererseits. Die Sozialbindungen des
736
Dazu der Band H. Ryffel/J. Schwartländer (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Arbeit, 1983: Schwartländer, S. 3; Klages, ebd. S. 18; Ryffel, S. 212. 737 Vgl. schon F. Böhm, Der Zusammenhang zwischen Eigentum, Arbeitskraft und dem Betreiben eines Unternehmens, in: FS Kronstein, 1967, S. 11 ff.
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Eigentums verstärken sich im Interesse von Arbeitnehmern, zugleich kommt es zu Formen von "mehr Eigentum für alle" aus Arbeit. Verfassungsstaatliche Verfassungen bringen diesen Zusammenhang von Arbeit und Eigentum zunehmend dadurch zum Ausdruck, daß sie beides im selben Abschnitt regeln, wobei mitunter der Eigentumsartikel aus dem klassischen Grundrechtskatalog zum Arbeits-Verfassungsrecht "wandert". Zum Teil figuriert die Sache Arbeit, dann hier sogar "aufgewertet", vor dem Eigentum. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" "wächst", ohne jedoch wie in sozialistischen Verfassungen "allgegenwärtig" zu werden - und werden zu dürfen: es sprengte sonst die "Verfassung des Pluralismus". 3. Nicht nur Eigentum, auch und gerade die "Arbeit" ist mit "menschlichen Wesensbestimmungen"738 in Verbindung zu bringen. Beide, Eigentum und Arbeit, gehören zur "conditio humana", zur personalen Freiheit und Menschenrechtswürde (Freiheit zu arbeiten als "Persönlichkeitsentfaltung" 739), darum ist für beide nach einer "möglichen Einheit" als Menschenrecht zu fragen. Der kulturanthropologische Ansatz ist heute letztlich auf der Ebene einer als Kulturwissenschaft entwickelten (aber ideal- und realtypisch von sozialistischen und fundamentalistisch islamischen Verfassungen unterschiedenen) Verfassungslehre zu erfüllen 740 . Die wechselvolle "Verfassungsgeschichte der Arbeit und des Eigentums" allein sozialwissenschaftlich "nachzuschreiben", wäre zu eng: zu wenig Gewicht hätten dabei die folgenreichen religiösen und theologischen Berufsauffassungen 741, zu eindimensional würde die "idealistischganzheitliche Berufsauffassung" "erklärt", die die "gesamte Bildungsschicht der deutschen Gesellschaft" beeinflußt und bis heute fortwirkt 742 . 4. Ist Arbeit - zusammen mit dem Eigentum - in dieser Weise im Zentrum der Identität des heutigen Menschen und Bürgers und seiner Freiheit angelegt, so hat dies im Verfassungsstaat Konsequenzen für viele Teilbereiche der Verfassungstexte und für die Verfassung im ganzen. Es ist also nicht nur punktuell nach der Normierung eines Rechts auf Arbeit zu fragen, sondern ganzheitlich (entsprechend variationenreich sollten die Normierungstechniken und -inhalte
738
So Klages in dem oben zitierten Sammelband, S. 18, unter Hinweis auf J. Locke. Τ : Ramm, ebd., S. 93; s. auch W. Brugger, ebd., S. 128; "menschenbildender Charakter der Arbeit": Ryffel, ebd., S. 215. 740 Dazu meine Studie "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft", (Voraufl.) 1982. Eine Ausarbeitung für Eigentum und Arbeit auch in meinem Baseler Vortrag (1983): Vielfalt der Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 ff. S. noch unten e) Inkurs. 741 Dazu Fürstenberg, ebd., S. 56 f., auch A. Baruzzi, S. 192 ff, zugleich mit einem "theologischen Berufsschema", S. 194 ff. 742 Fürstenberg, ebd., S. 57. 739
58 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gestaltet sein): Arbeit - von vornherein im kulturellen Zusammenhang bzw. "Kon-Text" mit Menschenwürde, Freiheit und Eigentum zu sehen - hat einen Platz im Rahmen der Erziehungsziele und der Staatsaufgaben, d.h. kompetentiell einerseits, grundrechtlich in Gestalt eines (viel-dimensionalen) Grundrechts der Arbeit mit "Konnexgarantien" wie Gesundheitsschutz, gerechte Arbeitsbedingungen etc. andererseits. Die Konzeption eines komplex strukturierten Grundrechts der Arbeit 7 4 3 relativiert die (vermeintlich "klassische") Dichotomie von Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten 744, so wie Aspekte der Staatsaufgabe "Arbeit" und "Arbeitsschutz" in grundrechtliche Dimensionen hinüber reichen. Dieses Verständnis des Grundrechts der Arbeit und der Staatsaufgabe Arbeit als "Etappen" oder "Stadien" auf einer ganzen Skala von Normierungsinhalten und -techniken ermöglicht letztlich auch eine differenzierte Zusammenschau der Sache Arbeit mit anderen "Themen" verfassungsstaatlicher Verfassungen (insonderheit mit Menschenwürde, Freiheit und Eigentum) sowie des Arbeiters als Menschen mit seinen und seiner Mitmenschen "Parallel-Grundrechten" (z.B. denen des Eigentümers). Dieser "Verbundist letztlich (und erstlich!) in dem auf Freiheit, Eigentum und Arbeit gerichteten Gesellschaftsvertrag hergestellt und immer neu zu schaffen. Sozialethisch wird die viel berufene "Solidarität" so eingelöst: ebenso "praktisch" wie "theoretisch". 5. So hoch die Sache Arbeit und die Person des Arbeitnehmers damit verfassungstheoretisch piaziert wird und so hochrangig alle über die einzelnen Verfassungstextstellen verteilten Aspekte des Verfassungsrechts der Arbeit heute entwickelt sind (von den Präambeln über Erziehungsziele, - sie enthalten ein "Ethos der Arbeitsgesellschaft" 745 -, über Grundrechtskataloge, Staatsaufgabennormen und Abschnitte zu Wirtschaft und Kultur (dies beim "geistigen Eigentum" bzw. bei geistiger Arbeit!)) - die auf Eigentum und Arbeit bezogene Leistung im verfassungsstaatlichen Alltag wird vor allem vom einfachen Recht und seinen Interpreten erbracht: "Konkretisierungen des Rechts auf Arbeit" finden sich so im Arbeitsrecht 746 höchst vielfältig, aber auch im sonstigen einfachen Recht, z.B. im Sozialrecht, Steuerrecht, etc. Beteiligt hieran sind alle in der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Erforderlich wird ein Kulturgespräch vieler Einzelwissenschaften über die Sache "Arbeit" und die
743
Dazu mein Beitrag: Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 (350 ff). Siehe schon meinen Regensburger Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 43 bes. 90 ff. 745 Vgl. die Formel von T. Ramm, aaO., S. 90. 746 Dazu Thiele, in dem erwähnten Sammelband: Das Recht des Menschen auf Arbeit, S. 97. 744
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Person des arbeitenden Menschen sein - nicht zuletzt um zu erkennen, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Ob dieses Kulturgespräch dazu fuhrt, einen Weg zu finden aus der im 17. Jahrhundert begonnenen theoretischen Verherrlichung 747 , ja Verabsolutierung der Arbeit, die jetzt als "Krise der Arbeitsgesellschaft" an ihre Grenzen stößt 748 , bleibe hier offen. Sicherlich muß das Bewußtsein dafür wachsen, daß es auch "höhere" und "sinnvolle" Tätigkeit jenseits bezahlter Arbeit gibt (z.B. das Ehrenamt). Der westliche Verfassungsstaat steht hier vor noch kaum erkennbaren Herausforderungen, aber auch Chancen. Eine kulturell bedingte Wandlung des Arbeitsbegriffs könnte so just in dem Augenblick akut werden, da die kulturwissenschaftliche Verfassungslehre Arbeit als Teilproblem formuliert hat. 6. Arbeit ist ein Aspekt kulturwissenschaftlicher Aktualisierung des Gesellschafts- bzw. Verfassungsvertrags: Zur Trias von "Freiheit, Eigentum und Arbeit" nun folgendes: "Arbeit" nimmt heute sowohl in der Sicht des einzelnen (besonders des jungen) Bürgers als auch in der Gemeinschaft von Freien und Gleichen einen so hohen Rang ein, daß es nötig wird, sie in der theoretischen Rekonstruktion des Verfassungsstaates bzw.-vertrags entsprechend fundamental zu piazieren 749 . Geschehen kann dies dadurch, daß die berühmte Formel von "Freiheit und Eigentum" 750 erweitert wird um die Dimension der Arbeit 751 . Nur so wird ernst 747
Ein oft zitierter Klassikertext zur "Theologie der Arbeit" ist ein dictum von Zwingli, in: "Ermahnung an die Eidgenossen" (1524): "Und doch ist die Arbeit ein so göttlich Ding; hütet vor Mutwillen und Lastern, gibt gute Frucht, daß der Mensch ohne Sorgen seinen Leib reichlich speisen mag, nicht fürchten muß, daß er sich mit dem Blut der Unschuldigen speise und beflecke. Sie macht den Leib frisch und stark und verzehrt die Krankheiten, so aus dem Müßiggang erwachsen".- Zum ganzen zuletzt: H. Maier, Gebet und Arbeit, Ein benediktisches Programm und seine Verwandlungen in der Moderne, FS Lobkowitz, 1996, S. 79 ff. 748 Dazu H. Arendt, Vita activa, 1960, bes. S. 11 f.- Ein Klassiker seines Gegenstands ist auch das Buch von T. Vehlen, Theorie der feinen Leute, 1958 ("The Theory of Leisure Class"). 749 Mit Recht spricht Β. Rüthers, Das Arbeitsrecht im Wandel der Industriegesellschaft, in: B. Rüthers/T. Tomandl, Aktuelle Fragen des Arbeitsrechts, 1972, S. 10, schon 1971 vom Arbeitsrecht als "materiellem Eckstein der Verfassungsordnung". S. auch S. 12: "fundamentale Bedeutung des Arbeitsrechts für die Stabilität und Entwicklung der Staatsverfassung und der Sozialordnung"; S. 21: Arbeitsrecht als "Baustein der politischen Gesamtverfassung"; S. 22: "In der Industriegesellschaft ist das Arbeitsrecht ein Eckstein der materialen Verfassungsordnung". 750 Vgl. auch die Formulierung von J. Schwartländer, in: Ryffel/Schwartländer, aaO., S. 3, Eigentum und Arbeit gehörten beide zur "conditio humana". Zur Arbeit als "Ausdruck von Freiheit", ders., ebd. S. 8.- H. Ryffel, ebd., S. 211 (212) sieht den "engen Zusammenhang von Arbeit und Eigentum anthropologisch begründet".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gemacht mit der philosophischen Einsicht, daß "Arbeit eine existenzielle Grundkategorie der Praxis des vergesellschafteten Menschen ist" 7 5 2 , daß "unveräußerlich individuelle menschliche Arbeit" zugleich der Faktor der Konstituierung von Gesellschaft ist 7 5 3 . Das Verständnis der Verfassung als prozeßhaftes immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller legt die Fortschreibung des klassischen Vertragsmodells nahe: Schutz von Freiheit, Eigentum und Arbeit als "Grundnorm und Aufgabe", als immer neu zu aktualisierender Basiskonsens der offenen Gesellschaft eines Verfassungsstaates. Dieser bedarf der über bloße Verfahren hinausreichenden kulturellen Grundierung durch Inhalte. "Freiheit, Eigentum und Arbeit" sind heute solche miteinander aufs engste verknüpfte legitimierenden Sachgehalte. Das zeigt sich an Formeln wie "Eigentum und Arbeit als geronnene Freiheit", "Eigentum durch Arbeit", "Eigentum ist Freiheit" (G. Dürig), an N. Blüms auf K. Marx hin geprägte Wendung "Mensch durch Arbeit", an A. Baruzzis "Menschenrecht auf Arbeit als Realisierung der Freiheit" 754 sowie an der Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und -nehmern i.S. der katholischen Soziallehre 755 . Der Arbeiter wird zum Mitbürger so wie er in einem tieferen Sinn Mit-Eigentümer ist.
751 Zu diesem Vorschlag mein Basler Vortrag (1983): Vielfalt der Property Rights..., AöR 109 (1984), S. 36 ff.- Programmatische Aussagen der (west)deutschen Landesverfassungen wie: "Jedermann" habe das Recht, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen (z.B. Art. 166 Abs. 2 Verf. Bayern, ähnlich Art. 28 Abs. 2 Verf. Hessen) und "Es ist eine das ganze Volk verbindende (!) Sozialversicherung zu schaffen" (Art. 35 Abs. 1 S. 1 Verf. Hessen, ebenso Art. 57 Abs. 1 Verf. Bremen, Art. 53 Abs. 3 Verf. Rheinl.-Pf.: "eine dem ganzen Volk zugängliche Sozial- und Arbeitslosenversicherung") sind zusammenzulesen: sie deuten so auf den das Volk und jeden einzelnen umschließenden Gesellschaftsvertrag, in den "Arbeit" einbezogen ist. 752 So mit Recht P. Badura, Grundfreiheiten der Arbeit, in: FS Berber, 1973, S. 12. 753 Grundlegend.//. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 94, der später (S. 98) von der Auslegung der neuzeitlichen bürgerlich-demokratischen Verfassungen verlangt, daß sie "den Pakt der die Verfassung konstituierenden und dadurch die nationale Einheit weiterführenden politischen Kräfte nicht verdunkelt". 75 4 A. Baruzzi, Recht auf Arbeit und Beruf?, 1983.- Wegweisend schon P. Badura, aaO., in: FS Berber, aaO., S. 33 f.: "Freiheit (ist) in der im sozialen Rechtsstaat demokratisch organisierten Industriegesellschaft im Regelfall nicht eine Funktion des Eigentums, sondern eine Funktion der Arbeit und der die Bedingungen ihres Ertrags unablässig beeinflussenden Gesetzgebung und Verwaltung." S. auch meinen Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (101). 755 Vgl. O. von Nell-Breuning, Arbeitskraft und Kapital für den Partner Unternehmer, FR vom 14. März 1983, S. 14.- Zur Rolle der Förderung der "inneren Verbundenheit der Arbeitnehmer mit dem Werk und (der Förderung) des Gedankens der Partnerschaft": BVerfGE 12, 354 (369) (Belegschaftsaktien).
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Solche - letztlich kulturellen - Leitbilder 756 können freilich nicht von der Rechtsordnung, auch nicht von der "positiven" Verfassungsordnung juristisch plötzlich erzwungen werden. Sie müssen von allen langfristig gelebt und täglich neu hart erarbeitet werden - auch in der Generationenperspektive 757. Der sozialethische Solidaritätspakt, der "Freiheit, Eigentum und Arbeit" - wie skizziert - auf neue Weise „zusammenstimmt" und "Arbeit als Kultur" konstituiert 758 , kann Denkmodell und wissenschaftlicher Orientierungsrahmen sein: nicht mehr, aber auch nicht weniger. 756 In diesen kulturellen Zusammenhang gehören landesverfassungsrechtliche Bestimmungen wie: Der 1. Mai ist als gesetzlicher Feiertag "Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit..." (Art. 55 Abs. 1 Verf. Bremen) oder "Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes" (Art. 166 Abs. 1 Verf. Bayern), "Der Mensch steht höher als Technik und Maschine" (Art. 12 Abs. 1 Verf. Bremen), "Der Schutz der Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes" (Art. 24 Abs. 1 S. 2 Verf. NRW) sowie die zit. Erziehungsziele, die die "Arbeit" zum Gegenstand haben.- Auch die Programme politischer Parteien gehören mit ihrem starken Engagement für die Arbeit (Übersicht in Staatsziele-Kommission, aaO., S. 76 f.) in die Dimension vorformulierter kultureller Leitbilder.- Der Sache nach kulturwissenschaftlich (bzw. kulturgeschichtlich) gearbeitet ist der Beitrag von H. Ryffel, Philosophisch-anthropologische Aspekte der Arbeit..., in: Ryffel/Schwartländer (Hrsg.), aaO., S. 211 ff. 757 Die Erziehungsziele in den (west)deutschen Länderverfassungen nach 1945 thematisieren die Arbeit vielfältig. Sie verweisen damit auf sozialethische Schichten und kulturelle Zusammenhänge, die der vorherrschenden Interpretation "positiver" Verfassungstexte oft verborgen bleiben (dazu mein Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: (zweite) FS Huber, 1981, S. 211 ff, bes. S. 232 ff., 238 f.). Prägnante Beispiele sind: Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern: "Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreude"; Art. 26 Ziff. 2 Verf. Bremen: "Die Erziehung zu einem Arbeitswillen, der sich dem allgemeinen Wohl einordnet..."; Art. 7 Abs. 1 Verf. NRW: "Bereitschaft zum sozialen Handeln"; Art. 33 Verf. Rheinl.-Pfalz: Erziehungsziel "berufliche Tüchtigkeit"; Art. 30 Verf. Saarland: "soziale Bewährung".- Auch die Grundpflichten zur Übernahme von Ehrenämtern (z.B. Art. 121 Verf. Bayern) sind eine sozialethische Erscheinungsform von "Arbeit" und dürften bei der heutigen Suche nach Alternativformen zur bezahlten Arbeit in den Vordergrund rücken.- Eine Gesellschaft, die ihre (jungen) Bürger in der Arbeitslosigkeit läßt, desavouiert ihre eigenen Erziehungsziele und damit sich selbst. 758 Arbeit "für alle" als kulturelle Aufgabe und kultureller Prozeß (mindestens so wichtig wie "Eigentum für alle") läßt sich nicht auf einen Vorgang des "Gebens" hier und des "Nehmens" dort reduzieren. Zumal der Generationenzusammenhang, in dem jeder Arbeit "geber" steht, läßt ihn als Arbeit "nehmer" erscheinen. Umgekehrt machen die Kommunikationsvorgänge, aus denen erst Arbeit real wird, auch die sog. Arbeitnehmer zu einem Stück Arbeitsgeber". Arbeit ist nichts Fertiges, sondern Aufgabe und Prozeß. Auf dem Hintergrund einer Kulturgemeinschaft ist Arbeit ein viele mit vielen verbindender Vorgang, in dem Geben und Nehmen vielfältig miteinander verknüpft sind. Das "Grundrecht der Arbeit" setzt sich z.B. nicht nur in Art. 14 GG (Renten!) in der erwähnten Weise fort und bildet mit diesem insofern einen inneren Verbund. Art. 12 GG steht auch mit Art. 14 GG in einem diesen begrenzenden funktionellen Zusammenhang; höchstrichterlich anerkannt ist dies seit dem Mitbestimmungsurteil des BVerfGE 50, 290 (348 f., 364 f.); aus der neueren Rechtsprechung siehe z.B. E. 84, 133 (157).
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Nicht nur Eigentum (wie im 19. und auch im 20. Jahrhundert), auch Arbeit macht den Bürger (heute) zum Aktivbürger. Wie das 19. Jahrhundert das Problem der Selbstverwirklichung des Menschen über und durch Eigentum lösen mußte und zu lösen versuchte, so muß dies im 20. Jahrhundert für die Arbeit geschehen: Die Arbeit ist auf dieser Zeitachse das soziale Äquivalent des Ei759
gentums . Eine wissenschaftlich ausgewiesene und politisch glaubwürdige Verfassungslehre ist heute ohne die skizzierte Integration der "Arbeit" nicht denkbar. Es gibt keine im Zusammenhang gedachten Menschenwürde-Konzepte und Grundrechtstheorien, keine Demokratie-, Staatszweck- (bzw. Gemeinwohl-) und Demokratielehren, auch keine Eigentumstheorie mehr ohne Den Arbeiter als Mitbürger und "Mit"Arbeit als Verfassungsproblem". Eigentümer" verfassungstheoretisch ernst zu nehmen, kann um so eher gelingen, als das Arbeitsrecht (vor allem dank der Arbeitsrechtsprechung und -Wissenschaft) scheinbar von unten her, in der Sache aber schon als "werdendes Verfassungsrecht" das Thema Arbeit in einer dem sozialen Rechts- und Kulturstaat gemäßen Weise aufbereitet hat. Verfassungsstaatliche Verfassungen 760 sichern so ein Stück ihrer eigenen Zukunft, nicht zuletzt dank eines "Verbundes" zwischen Arbeitsrechts- und Verfassungsrechtswissenschaft. Und nur
759 Eine historische Textstufen-Analyse des verfassungsstaatlichen Eigentumsbegriffs in meinem Basler Vortrag (1983): Vielfalt der Property Rights, AöR 109 (1984) S. 36 ff. Die Errichtung der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Art. 95 GG) ist eine "Stufe" in der Integration der "Arbeit" in den Verfassungsstaat; Grundsätzliches zur Arbeitsgerichtsbarkeit bei K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 66 ff. 760 Verfassungspolitisch erschiene es in einer verfassungsstaatlichen Verfassung am besten, das Thema "Arbeit" wie folgt zu piazieren: 1) in der Präambel (als einer "Verfassung der Verfassung") vorweg, so wie Freiheit und Menschenwürde zuweilen schon hier im Grundsätzlichen auftreten; 2) sollte das Thema Arbeit in Gestalt eines "Grundrechts der Arbeit" normiert sein, möglichst im Kontext der Menschenwürde und noch vor einer Eigentumsgarantie (Art. 12 ist Art. 1, 2 GG allzu fem); 3) ist Arbeit als Kompetenz bzw. Staatsaufgabe in speziellen Abschnitten im Zusammenhang mit der "Wirtschaft", aber in Vorordnung ihr gegenüber (wie in Hessen, Art. 28 ff., anders Art. 151 ff. Bay. Verf.), sowie in etwaigen Abschnitten über "Kultur" zu piazieren, soweit es um "geistige Arbeit" geht (z.B. Art. 40 Abs. 2 Verf. Rheinl.-Pf.), und in Gestalt von Erziehungszielen (z.B. Art. 26 Ziff. 2 Verf. Bremen). Auf diese Weise wäre zum Ausdruck gebracht, daß Arbeit als personales Problem und anthropologisches Bedürfnis des Menschen unseres Kulturzustands und Arbeit als soziales Phänomen und gesellschaftliches Problem an der Basis allen Verfassens steht und in der Verantwortung aller (auch in der Generationenfolge) liegt. Mochte der westliche Verfassungsstaat historisch erst nach und nach in die Probleme der "Arbeit" hineinwachsen, heute bedarf es ihrer ebenso grundsätzlichen wie vielfältigen textlichen Normierungen, deren Varianten zeitlich und räumlich von Verfassungsstaat zu Verfassungsstaat flexibel sein müssen.
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so kann die Verfassung des Pluralismus ein Maß des Menschen sein und bleiben: des Menschen als Bürgers und Arbeiters 761 . Damit wird aber auch offenkundig, was Massenarbeitslosigkeit im Verfassungsstaat von heute heißt: sie trifft ihn im Kern und macht ihn unglaubwürdig, wenn er sie nicht abzubauen weiß. Sie ist eine Infragestellung des beschriebenen Gesellschaftsvertrags - ähnlich einer Massenauswanderung. Zugleich muß aber auch daran erinnert werden, daß der Mensch nicht nur ein "Faktor Arbeit", ein "Wirtschaftsfaktor" oder eine Größe im "Wirtschaftsstandort Deutschland" ist - so unverzichtbar es ist, jetzt die Wirtschaft in das Koordinatensystem dieser Verfassungslehre einzuordnen. c) Das Thema "Wirtschaft
"
Speziell beim Thema "Wirtschaft" läßt sich das Verfassungstextmaterial unter ganz bestimmten Gesichtspunkten befragen und typologisch aufschlüsseln762. Schon vom bloßen Text her ist hier ein recht tiefer "Einstieg" in die Sache möglich: Der "Idealtypus" Verfassungsstaat wird durch einen Vergleich vieler seiner (nationalen) Beispiele in seiner textlichen Existenz im Blick auf etwas sehr "Reales", die Wirtschaft, höchst anschaulich, und die Entwicklungsprozesse des "Verfassungsrechts der Wirtschaft" lassen sich hier plastisch dokumentieren: auf der Folie der "klassischen" Zurückhaltung des liberalen Verfassungstypus in Sachen Wirtschaft. Mancher wird einwenden, noch weniger als bei anderen Themen, etwa bei der Kultur 7 6 3 , vermöchten die Verfassungstexte bei der Wirtschaft die volle Wirklichkeit einzufangen. In der Tat: die "ganze Wirklichkeit" schließen sie nicht ein oder auf. In der größeren Zeitdimension verglichen, erlauben sie aber doch viele Rückschlüsse auf die sich wandelnde Wirklichkeit des Verfassungsstaates "in Sachen Wirtschaft". Textstufen im historischen Prozeß wirtschaftlicher Evolution 764 lassen ja nicht nur aktive Steuerungsfunktionen der 761
Ein bleibender Klassikertext: "Die Arbeit hält drei große Übel von uns fem: die Langeweile, das Laster und die Not." (Voltaire, Candide oder der Optimismus, InselAusgabe 1972, S. 183). 762 Dazu die Belege in meinem Beitrag "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 ff. 763 Vergleichende Textanalysen bei P. Häberle, in: ders., Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht (Hrsg.), 1982, S. 1 (8 ff); ders., Das Kulturverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte Β 28/85 vom 13. Juli 1985, S. 11 (20 ff.). S. auch Dritter Teil. 764 Speziell für die Entwicklung der Eigentumsartikel: P. Häberle, Vielfalt der Property Rights..., AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.) sowie unten e), Inkurs.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Verfassungstexte im Blick auf die Wirtschaft von heute erkennen, sie spiegeln auch "Antworten" des Verfassungsstaates (i.S. von "trial and error") auf Probleme der Wirtschaft und in der Wirtschaft in vorausgegangenen verfassungsgeschichtlichen Perioden wider. Insofern eröffnet die Textstufenanalyse eben doch einen vielleicht zunächst unerwarteten Zugang zur (vergangenen und heutigen) Wirklichkeit des Verfassungsstaates und "seiner" Wirtschaft: Die Wirtschaftsverfassungstexte spiegeln also nicht nur "Oberfläche", sie bleiben nicht im "Semantischen". Es sind die Vorgänge kultureller Produktion und Rezeption der verschiedenen Verfassungsstaaten untereinander, die auch die "Sache Wirtschaft" umschließen und die mittelbar sogar die "gelebte" Wirtschaftsverfassung in der "Aggregatform" der Verfassungs-Texte erkennen lassen. Verfassungstexte machen (wenigstens ausschnittweise) die Wirtschaftswirklichkeit sichtbar. Ein solcher Vergleich neuerer mit älteren Verfassungstexten "in Sachen Wirtschaft" zeitigt folgende Ergebnisse: 765 Auffällig sind extensive und intensive Wachstums- und Differenzierungsprozesse in Gestalt der Erweiterung und Anreicherung der Grundrechtsgarantien um wirtschaftsrechtliche und -politische Themen sowie wirtschaftliche Freiheiten bzw. "wirtschaftliche Rechte" mit Teilhabestrukturen, aber auch die Intensivierung der Bindungen wirtschaftlicher Freiheiten über Gerechtigkeits- und Gemeinwohlklauseln sowie Menschenwürdepostulate; auffällig sind ferner die Entwicklung allgemeiner wirtschaftlicher Fortschrittsklauseln (z.T. schon in Präambelform oder in Gestalt von Grundsatznormen systematisch in der Nähe der klassischen Staatszielbestimmungen), aber auch spezielle Wirtschaftsförderungsaufträge oder sonstige wirtschaftliche Teilziele (von bloßen Kompetenznormen bis zu Verfassungsaufträgen), schließlich die Normierung neuer Konnex- bzw. Konfliktthemen (wie "Wirtschaft und Arbeit" 7 6 6 , "Wirtschaft und Soziales", "Verbraucherschutz und Umwelt"). Insgesamt hat der Typus Verfassungsstaat in seiner neueren Gestalt eine Fülle von allgemeinen und speziellen "Wirtschaftsartikeln" erfirn-
765 Belege in der Abhandlung: "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 (578 ff.).- Herausragend ist der Passus in der Präambel (!) der (alten) Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641): "Entschlossen, den Aufbau einer gerechten Gesellschaft zu fördern.... in der die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht und nicht der Mensch im Dienste der Wirtschaft, eine offene Gesellschaft mit höheren Formen des Zusammenlebens und fähig, den Einfluß der wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Revolution, die die Welt verändert, aufzunehmen und zu nutzen...". 766 Offenkundig am Vorbild (Art. 1 Abs. 1 Verf.) Italien (1947) orientiert: Art. 79 (alte) Verf. Peru (1979): "Peru ist eine demokratische und soziale, unabhängige und souveräne, auf die Arbeit gegründete Republik".
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den. Sogar die (wiederentdeckte) "Wirtschaftsethik" 767 kann auf textliche "Vorformen" verweisen und sich durch solche "Textspuren" ermutigt fühlen 768 . Mögen viele dieser Verfassungstexte als solche zunächst noch keine "sicheren" Aussagen zum Ist-Zustand der Wirtschaft, Wirtschaftspolitik und wirtschaftlichen Freiheiten im jeweiligen Land machen können und viel Programmatisches enthalten: sie umschreiben doch Perspektiven des Soll-Zustandes. Darüber hinaus fangen sie ein Stück Wirklichkeit ein: da die jüngeren Verfassungstexte im Rahmen der allgemeinen Textstufenentwicklung des Typus Verfassungsstaat dank der von den modernen Verfassunggebern ganz offenkundig praktizierten Rechtsvergleichung auch "Spiegelcharakter" in bezug auf die Verfassungswirklichkeit älterer Verfassungsstaaten so mancher westlicher Demokratie haben, ist mittelbar doch eine Aussage zum heutigen Ist-Zustand der Sache Wirtschaft in diesem Land sowie im Verfassungsstaat als Typus erkennbar - das gilt etwa für die viel berufene "Ausweitung der Staatstätigkeit" im wirtschaftlichen Bereich, die sich z.B. im GG-Text noch zu wenig wiederfindet. Die Verfassungslehre wird so über das Medium der Texte zur Wirklichkeitswissenschaft\ Freilich sei an die nationalen Varianten der einzelnen Verfassungsstaaten "in Sachen Wirtschaft" erinnert - es gibt sie trotz all ihrer Zugehörigkeit zum Verfassungsstaat als Typus. Man denke an die Sozialisierungsartikel, die in der Schweiz bzw. in ihren älteren und neueren (Bundes- wie Kantons-)Verfassungen bewußt fehlen, die in der Bundesrepublik Deutschland zwar "gelten", von denen hier aber kein Gebrauch gemacht wird (Art. 15 GG), und die in Spanien (seit der Verf. von 1978) sowie im Frankreich Mitterrands (nach 1981) praktisch angewandt wurden, was z. T. wieder rückgängig gemacht worden ist 7 6 9 . Offenbar profilieren sich die einzelnen Verfassungsstaaten speziell hier
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Zur Wirtschaftsethik aus der Literatur: A. Rieh, Wirtschaftsethik, 1984; G. Enderle, Sicherung des Existenzminimums im nationalen und internationalen Kontext eine wirtschaftsethische Studie, 1987; P. Koslowski, Prinzipien der Ethischen Ökonomie, 1988; A. Klose, Untemehmerethik, 1988; R. Klump (Hrsg.), Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung, 1996; P. Hacks , "Schöne Wirtschaft". Ästhetisch-ökonomische Fragmente, 1997. 768 Vgl. z.B. Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern (1946): "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten". 769 In vielen Verfassungsstaaten gibt es ein Hin und Her zwischen Verstaatlichung und Privatisierung (Entstaatlichung). So kam es in der bundesdeutschen Regierung H. Kohl nach 1983 zu einer Teilprivatisierung der "Veba" (1997: Vollprivatisierung der Lufthansa), während Art. 15 GG bis heute eine nicht praktizierte Verfassungsnorm blieb. So setzte in Spanien die sozialistische Regierung F. Gonzales 1983 die Verstaatli-
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
wie sonst in Sachen Wirtschaft höchst "eigen". Die Verfassungslehre kann und soll aber den Rahmen entwickeln, der dieser "Individualität" Raum läßt und sie eher anregt als einschränkt. Der Verfassungsstaat weist sowohl in seiner Textgestalt als Typus - und zum Typus verdichtet - als auch in seinen zahlreichen nationalen Beispielfällen, d.h. in den einzelnen freiheitlichen Demokratien, Mischstrukturen i.S. der Lehre von der "gemischten Wirtschaftsverfassung" (E. R. Huber) 770 auf. "Reine Modelle" kommen nicht vor. Das Sowohl-Als-auch von wirtschaftlichen Freiheiten ("Markt", Wettbewerb) und sozialem Ausgleich (z.B. durch sozialstaatliche Kompetenz von der Demokratie zu leisten) - insoweit der "historische Kompromiß" - bildet sein "Markenzeichen". Elemente dieser "gemischten Wirtschaftsverfassung" aller Verfassungsstaaten sind (bei vielen Akzentunterschieden): Dezentralität, Pluralität und Konkurrenz 111. Ein Wort zur Auswahl der Texte. Primärer Gegenstand einer "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" ist im Problemfeld der "Sache Wirtschaft" wie sonst der Verfassungstext im engeren Sinne, d.h. der "positivierte" Verfassungstext 772 . Verfassungstexte im weiteren Sinne 773 , d.h. Klassikertexte eines J. chung des Rumasa-Konzems durch, die später durch eine Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts, wenn auch knapp, gebilligt wurde (Frankfurter Rundschau vom 9. Dez. 1983, S. 9). 77 0 E. R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht, DÖV 1956, S. 97 ff., 135 ff, 172 ff.; im Spiegel der neuen Verfassungstexte nachgewiesen in meinem Beitrag "Wirtschaft" ..., JURA 1987, S. 577 ff.- Ein geglückter Versuch war Art. 115 (alte) Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Die Privatinitiative ist frei. Sie wird in einer sozialen Marktwirtschaft ausgeübt. Der Staat schafft Anreize und Regelungen für ihre Ausübung, um diese mit den gesellschaftlichen Interessen in Einklang zu bringen". 771 Vorbildlich Art. 112 (alte) Verf. Peru (1979), zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.: "Der Staat garantiert den wirtschaftlichen Pluralismus. Die nationale Wirtschaft stützt sich auf die demokratische Koexistenz verschiedener Eigentums- und Unternehmensformen. Die staatlichen, privaten, genossenschaftlichen, selbstverwalteten, gemeindlichen oder sonstigen Unternehmen sind mit der Rechtsfähigkeit ausgestattet, die das Gesetz im einzelnen bestimmt". Der den Verfassungsstaat kennzeichnende wirtschaftliche Trägerpluralismus könnte kaum besser zum Ausdruck gebracht werden! 772 Auf der Mikroebene ("unterhalb" der Texte bzw. in der Arbeit mit ihnen) gibt es schon viel bewährtes Zusammenwirken zwischen Juristen und Ökonomen. Man denke an die "wirtschaftliche Betrachtungsweise" im Steuerrecht (aus der Lit. z.B. T. Rittler, Die Auslegung der Steuergesetze in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes, 1987, S. 36 ff, 181 ff.), an den Vorstoß zur Einfuhrung einer "economical question-Theorie" (aus der Lit.: H. Spanner, DÖV 1972, S. 216 ff.) oder die Bildung einer eigenen Teildisziplin "Wirtschaftsrecht" (mit so großen Werken wie W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, 1983, und F. Rittner, 1979). Schon diese Auswahl zeigt, wie groß der "Vorrat an Gemeinsamkeiten" zwischen Juristen und Ökonomen ist. Nur fehlt bislang auf der Seite der Staatsrechtslehre eine Aufarbeitung der Makrostrukturen - sei es der
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Locke oder Montesquieu, I. Kant oder G. Radbruch sind als "anregende" KonTexte indes, wo möglich und nötig, "mitzuführen" 774 . Entsprechendes gilt beim Thema "Wirtschaft" für die älteren oder neueren Klassikertexte der Nationalökonomie von A. Smith 7 7 5 bis F. List, von W. Eucken über Franz Böhm bis zu anderen "Grundtexten zur Sozialen Marktwirtschaft" 776 sowie heute große 777
778
Namen von J. M. Keynes über F. A. von Hayek bis J. M. Buchanan . Und selbst die Texte von (Wirtschafts)-Programmen der politischen Parteien sind vereinzelt "mitzulesen" 779 . Verfassungslehre ist Textkulturwissenschaft, so wie ihr Gegenstand, die verfassungsstaatliche Verfassung, (auch) Textkultur ist. Sie lebt aus einem kom-
verfassungstheoretisch aufgeschlüsselten Verfassungstexte, sei es der Grundsatzdiskussion im Blick auf J. M. Buchanan (Die Grenzen der Freiheit: Zwischen Anarchie und Leviathan, 1984), F. A. v. Hayek (Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl. 1983). 773 Zu dieser Unterscheidung mein Berliner Vortrag: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. 774 Aus der Fülle neuerer wirtschaftswissenschaftlicher Grundlagenliteratur, die sowohl historisch ihre eigene Geschichte aufarbeitet als auch Brücken zu den Nachbardisziplinen baut und damit Materialien für jede Thematisierung der Wirtschaft im Rahmen einer Verfassungslehre liefert: D. Bell/I. Kristol, Die Krise in der Wirtschaftstheorie, dt. 1983; G. Ambrosius/W.H. Hubbard , Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, 1986; A.E. Ott/H. Winkel, Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre, 1985, J. Klaus/A. Maussner, Grundzüge der mikro- und makroökonomischen Theorie, 1986; R.J. Barro , Makroökonomie, dt. 1986. 775 Zu A. Smith: D. Brühlmeier, Die Rechts- und Staatslehre von Adam Smith und die Interessentheorie der Verfassung, 1988. 776 So der gleichnamige Band von 1981 (Hrsg. von W. Stützel u.a.). S. auch W. KruckJF. Oppenheimer - Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Selbsthilfegesellschaft, 1997. 777 Zu fragen wäre, inwiefern die Theoriekämpfe der Wirtschaftswissenschaftler die Verfassunggeber beeinflußt haben. Wenn in den 30er Jahren die Weltwirtschaftskrise die Auseinandersetzung mit der damals vorherrschenden neoklassischen Lehre und ihrem Glauben an die Selbstregulierungskraft der Märkte provozierte und ein J.M. Keynes dem die Theorie von der Steuerbarkeit der Wirtschaft durch den Staat entgegensetzte und wenn diese Theorie die Wirtschaftspolitik der meisten westlichen Industrieländer bis in die 70er Jahre bestimmte, so dürfte dies auch die neuen Verfassungstexte mitgeprägt haben (z.B. Art. 109 GG). 778 Vgl. ihre schon klassischen Werke, wie F.A. von Hayek , Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl. 1983, ders., Gesetzgebung und Freiheit - 3 Bände, Bd. 1 : Regeln und Ordnung, 1980; Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981; Bd. 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, 1981; J.M Buchanan, Die Grenzen der Freiheit: zwischen Anarchie und Leviathan, 1984; vgl. weiterhin auch E. Hoppmann, Freiheit und Ordnung in der Demokratie, FS G. Winterberger, 1982, S. 179 bis 197. 779 Für die Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen: R. Kunz/H. Maier/T. Stammen, Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2, 3. Aufl. 1979; Erg.-Bd. 1983.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
plexen Kraftfeld von geschriebenen und ungeschriebenen, von älteren und neueren, von positivierten Rechts- und Wissenschaftstexten, das als kompliziertes Ensemble den Verfassungsstaat konstituiert, wandelt und bewahrt, entwickelt und darin bewährt. Im Problembereich "Wirtschaft" gilt nichts anderes. Freilich ist im Rahmen einer Verfassungslehre zum Thema "Wirtschaft" der "Makrokosmos" vergleichend erschlossener einschlägiger Verfassungstexte ebenfalls der primäre Forschungsgegenstand. Mit anderen Worten: die Verfassungslehre hat Kontexte der Wirtschaftswissenschaften nach ihren eigenen (nicht deren!) Maßen, in ihre eigenen "Raster" bzw. Koordinaten zu integrieren. Die - rechtlich verbindlichen - Verfassungstexte "in Sachen Wirtschaft" müssen in der Weise der Verfassungslehre verarbeitet werden. Obwohl die Wirtschaftswissenschaften ihre eigenen "Klassikertexte" haben, werden sie nicht in gleicher Weise von positiven Texten "dirigiert" wie die - juristische Verfassungslehre. So sehr die Verfassungslehre Methoden und Inhalte, Fragestellungen und Problemlösungen der neueren Wirtschaftswissenschaften zur Kenntnis nehmen und verarbeiten soll, etwa die "ökonomische Analyse des 780
781
Rechts'" 0 " oder gar der Verfassung , so sehr sie sich auf das interdisziplinäre Gespräch mit einem Buchanan oder F.A. von Hayek und die Paradigmen von Menschenbild 782 und (Gesellschafts)Vertrag 783, Verfassunggebung und Wirtschaften, Markt und Demokratie, von ökonomischen und politischen "Abstimmungen" etc. einlassen sollte: es ist immer das spezifische Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft und als Lehre verbindlicher Verfassungstexte einschließlich ihrer kulturellen Kontexte, das auch den Gegenstand "Wirtschaft" prägt. Wirtschaft ist in einem weiteren Sinne gewiß auch "Kultur", Wirtschafts(verfassungs)geschichte ein Stück Kulturgeschichte, und Wirtschaft hat ihren Platz im Übergreifenden der Kultur und der sie als Verfassungslehre
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Das Schrifttum ist kaum mehr zu überblicken: G. Calabresi , Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts, Yale Law Journal, 70 (1961), S. 499 ff; RH. Coase, Das Problem der sozialen Kosten, in: H. D. Assmann/C. Kirchner/E. Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, 1978, S. 146 ff.; R. Posner, Economic Analysis of Law, 3. Aufl. 1986; R. Behrens, Aspekte einer ökonomischen Theorie des Rechts, Rechtstheorie 12 (1981), S. 472 ff.; M. Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums· und Verfügungsrechte, 1984; K.-H. Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law, JZ 1986, S. 817 ff; T. Petersen, Prinzipien und Grenzen der ökonomischen Theorie der Verfassung, in: Der Staat 35 (1996), S. 411 ff. 781 Vgl. R. Eschenburg, Der ökonomische Ansatz zu einer Theorie der Verfassung, 1977. 782 Dazu meine Schrift: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 67 ff. 783 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 213 ff.
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aufarbeitenden Wissenschaft 784. Obgleich Wirtschaft in den Prozessen der Verfassungsgeschichte ihre eigene Motorik und Dynamik entfaltet und oft genug als Ferment und Vehikel kultureller Vorgänge wirkt: sie ist nicht "das Schicksal" und nicht "die Basis" i.S. der marxistischen Überbau-Lehren. Es kommt also nicht etwa der Form, der Sache, den Methoden oder Inhalten nach zu einer "Verfassungslehre als Wirtschaftswissenschaft". Es bleibt bei der These von der Verfassungslehre als juristischer Text- und Kultur-Wissenschaft und zwar 785
auch dort, wo es speziell um die "Sache Wirtschaft" geht beim Thema "Markt". d) Verfassungstheorie
, auch und gerade
des Marktes
Die "soziale Marktwirtschaft" (gelegentlich ergänzt um die "ökologische", vgl. Art. 38 Verf. Thüringen von 1993) ist mittlerweile ein zentrales Element des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe: ungeschrieben oder geschrieben. Darum ist es hohe Zeit für die Verfassungslehre, den "Markt" in das Koordinatensystem staats- und rechtsphilosophischen Grundsatzdenkens einzubauen. Dabei wird die klassische Diskussion um Gesellschaftsvertrag und Menschenbild ebenso relevant wie die Deutung des Marktes in kulturwissenschaftlicher Sicht. Das Jahr 1989 hat die "Weltstunde" des Verfassungsstaates eingeläutet: Das fast globale Scheitern des Marxismus-Leninismus hat viele seiner Strukturelemente, vor allem die Menschenrechte, die Demokratie, den Rechtsstaat und 784 Der Verfassungsstaat stand von Anfang an in allen seinen Entwicklungsstufen in Korrespondenz zu bestimmten Entwicklungen der nationalen Wirtschaft der einzelnen Länder, schärfer gesagt: die Kräfte der Wirtschaft trieben nicht selten die Entwicklung des Verfassungsstaates in bestimmten Bereichen voran (die wirtschaftliche Emanzipation des Bürgertums beförderte z.B. die Demokratisierung der Staatsgewalt etwa in Frankreich von 1789). Heute treiben die wirtschaftlichen Kräfte die Sache "Europa" voran und in ihr die verfassenden Elemente dieser Gemeinschaft. "1989" wurde durch wirtschaftliche Faktoren mitbestimmt. 785 Es geht um die Bereitschaft, die Ökonomie als Teil der Kultur zu begreifen. Max Weber hatte mit seiner Publikation über Kapitalismus und protestantische Ethik (1904/05) den Blick für die Rolle nichtökonomischer Faktoren in Wirtschaftsformen bleibend geschärft: vgl. etwa den Tagungsbericht von M. Siemons "Markt ohne Moral? Eine Tagung über Ethik der Leistung" in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Juni 1987, S. 31 mit Hinweisen auf die "heute wuchernde Rede von Wirtschaftsethik und Unternehmenskultur", die das Moralische zu einem Element effizienten Wirtschaftens machten. Nach einem Vortrag von P. Koslowski (ebd.) sei die Formel von Mandeyille ("private vices - public benefits") plastischer Ausdruck jenes Purismus, der die Ökonomie von allen moralischen Zwecken freizuhalten suche. M. Siemons selbst warnt bei wirtschaftsethischen Bemühungen, "zu kurz zwischen Markt und Moral" zu schließen (ebd.).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
auch die (soziale) Marktwirtschaft weltweit positiv ins Bewußtsein gerückt und als große Reformziele in Osteuropa legitimiert. Nicht zuletzt die Erfolgsgeschichte der "Marktwirtschaft" übt eine Faszination aus, die von den einzelnen Wissenschaften erst noch analysiert und erklärt werden muß, auch und gerade jetzt, im Jahre 1997, in dem sich in Osteuropa drastisch zeigt, wie schwer die Umstellung von der Kommandowirtschaft auf die soziale Marktwirtschaft praktisch ist: personell, institutionell und rechtlich, aber auch psychologischmental und "moralisch". Das Entstehen eines riesigen einzigen Weltmarktes über alle Staatsgrenzen hinweg liefert einen weiteren Grund, nach dem Markt, einem trotz aller Popularität recht "unbekannten Wesen" in der Breite vieler Teildisziplinen und der Tiefe jeder einzelnen sehr prinzipiell zu fragen. Die Verfassungslehre ist hier umso mehr gefordert als im Westen ein neuer Ökonomismus bzw. Materialismus um sich greift (Vermarktung fast aller Lebensbereiche), Ökologie und Ökonomie verknüpft werden müssen und verfassungspolitisch in allen heutigen Prozessen der Verfassunggebung (z.B. in Osteuropa und zuvor Ostdeutschland) praktisch zu entscheiden ist, was in Sachen Markt und Marktwirtschaft wie und 786
auf welche Verfassungstexte gebracht werden soll
.
(1) Der Markt in kulturwissenschaftlicher Sicht - die "Zweihände-Lehre" Markt/Recht - das integrierende Verfassungsverständnis Der "Markt" sei im ersten Zugriff mit Hilfe des Alltagsverständnisses lexikalischer Stichworte erschlossen: "Unter dem Markt ist die Ebene des Leistungsaustausches von Angebot und Nachfrage zu verstehen" 787 , Markt = "ökonomischer Ort des Tausches, an dem sich durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage Preise bilden" 7 8 8 oder Markt = "Prozeß, durch den in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden arbeitsteiligen Wirtschaft (Marktwirtschaft) die Erzeugung in die Wege gelenkt wird, auf denen sie der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Verbraucher
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Im folgenden ist nur eine Skizze möglich, die an frühere Arbeiten des Verf. anknüpft, diese aber jetzt systematisiert: P. Häberle, Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates ..., in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 (443 ff); ders., Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, in: AöR 117 (1992), S. 169 (178 ff.); ders., Grundrechte in pluralistischen Gesellschaften, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 421 ff. 787 Art. Markt, Münchener Rechtslexikon Bd. 2, 1987, S. 891. 788 Art. Markt, Gabler Wirtschaftslexikon, 2. Band, 12. Aufl., 1988, S. 283 - Wirtschaft ist zu verstehen als "Erzeugung, Austausch und Konsum von Gütern" (C. Beutler).
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789
am besten dient" . Die Einzelwissenschaften - gerade hier zu arbeitsteiliger Interdisziplinarität aufgerufen - haben tiefer um die Eigenart des Marktes gerungen: Erwähnt sei das jetzt geflügelte Wort F. A. von Hayeks vom Markt als "Entdeckungsverfahren" bzw. "Wissensgewinn aus trial and error" 790 oder die fragwürdige These vom Markt als Raum des "Dialogs über Werte" 791 . Dieser Idealisierung des Marktes 792 steht die anfechtbare Dämonisierung seitens des Marxismus gegenüber (Markt als Naturzustand für menschliche Wolfsnaturen, die einseitig das Recht des Stärkeren durchsetzen). Verkannt ist, daß der Markt im Verfassungsstaat weder rechts- noch staats- und ethikfreier Raum ist. Die 793
"invisible hand" des Marktes (A. Smith) und die "sichtbare Hand des Rechts" (E.-J. Mestmäcker) 794 sind gleichzeitig zu denken. Das Netz von Millionen von rechtlich geordneten Verträgen, die Vertrauen voraussetzen und schaffen, ähnelt jenem Gesellschaftsvertrag, der aus dem Urzustand ("status naturalis") in den "status civilis vel culturalis" herausführt und für den Verfassungsstaat im Ganzen charakteristisch ist: als immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller Bürger. Der Markt ist ein Sektor dessen, was der Gesellschaftsvertrag umfaßt: life, liberty, estate, property, Arbeit aller gleichen Vertragspartner. Das empirisch nachweisbare Vertragsverhalten im Markt ("Marktpartner") sollte den Anschluß suchen im Verhältnis zu den klassischen und neueren Vertragstheorien (und Gerechtigkeitslehren bis hin zu J. Rawls). Der Markt ist im Verfassungsstaat wie alles gesellschaftliche Leben strukturiert, funktionalisiert und normativ geprägt, d.h. konstituiert. Er ist realiter und ideell vom Naturzustand in den Kulturzustand transformiert: z.B. durch die materiellen und prozessualen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlpostulate der Verfassung und die 789
Art. Markt, in: HdSW 7. Bd., 1961, S. 131. F.A. von Hayek , Die Verfassung der Freiheit, 1991; ders., Der Weg zur Knechtschaft, 1991, zuletzt ders., Die Anmaßung des Wissens, 1996. Eine gute Einführung in das Lebens werk von Hayeks gibt jetzt die Sondernummer Heft 5 a (1992) der Schweizer Monatshefte In memoriam F. A. von Hayek 1899 bis 1992, dort auch zu seinem Verhältnis zu Popper (S. 106 ff.); femer M. Streit, Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung, in: ORDO Bd. 43 (1992), S. 1 ff.; R. Kley, F.A. Hayeks wissenschaftliche Verteidigung des Liberalismus, ZfP 1993, S. 30 ff. 791 So W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. 1 (1983), S. 10. 792 Bekannt geworden ist die liberale Lehre von den "Drei Marktplätzen" (wirtschaftlicher, politischer und geistig-kultureller Wettbewerb). 793 Der "locus classicus" findet sich in A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, hrsg. von H.C. Recktenwald, 1986, S. 371: "Und er wird in diesen wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zufördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat". 794 Vgl. E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl., 1984; ders., Wirtschaftsrecht, RabelsZ 54 (1990), S. 409 ff; ders., Die sichtbare Hand des Rechts. Über das Verhältnis von Rechtsordnung und Wirtschaftssystem, 1978. Weiterführend K.-W. Fezer, Verantwortete Marktwirtschaft, JZ 1990, S. 657 ff. 790
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Rechtsordnung im ganzen. Seine Freiheiten sind - auch durch die geschichtliche Entwicklung belegbar - von vornherein kulturelle, nicht natürliche Freiheiten. Und gerade einer Verfassungstheorie des Marktes muß es gelingen, im Prinzipiellen Rousseau's "Zurück zur Natur" das "Zurück zur Kultur" (A. Gehlen) entgegen zu setzen. Der Verfassungsstaat nimmt die spezifischen Leistungen des Marktes in seinen Dienst als unverzichtbares materielles Substrat seiner ideellen, auf die Menschenwürde und die Demokratie gerichteten Ziele. Weder die Dämonisierung noch die Idealisierung des Marktgeschehens wird diesem gerecht. Der realistische Blickwinkel auf einer mittleren Linie ist gefordert. Dadurch bleibt Raum fur die Differenzierung nach Teilmärkten: wie den "Kunst-", Medien-, auch "Meinungsmarkt" hier, den Arbeits- und Kapitalgütermarkt dort 7 9 5 , wobei heute die Europäisierung und Globalisierung der Märkte neue Herausforderungen an die Theorie des kooperativen Verfassungsstaates stellen. Gleiches gilt für die großen Verantwortungszusammenhänge, in die die nationalen und internationalen Märkte wegen des Umweltschutzes geraten 7 9 6 . Das "Prinzip Verantwortung" (H. Jonas) nimmt sie verfassungsstaatlich wie auf dem Forum der Menschheit in "weltbürgerlicher Absicht" spezifisch neu in Dienst. Der Markt ist als Teil der offenen Gesellschaft von deren Verfassung (aus)gestaltet: als solcher nicht "naturwüchsig" vorgegeben, sondern verfaßt, nicht Reservat oder ausgegrenzt, sondern ein gesellschaftlicher Bereich, in dem sich die Ausübung vieler Grundrechte durch viele trifft: in Konkurrenz und Partnerschaft, in Austausch und Bündelung, im Mit- und Gegeneinander. Diese Kommunikationsvorgänge sind nicht "wild", ein Freiraum ungezügelter Egoismen, die bürgerkriegsähnlich aufeinander prallen, sondern buchstäblich "kultiviert"- ein Stück Kultur. Damit werden die harten Interessengegensätze und Auseinandersetzungen der Marktbürger und ihrer (durch gewaltenteilende Strukturen disziplinierten) Gruppen nicht geleugnet, aber das Gewaltmonopol 795
Dementsprechend hat das sich in der Geschichte ändernde Erscheinungsbild des Marktes bzw. der Wirtschaft Teil einer Kulturgeschichte zu sein. Die Geistesgeschichte hat mit keinem geringeren als Aristoteles zu beginnen: vgl. H. Flashar/O. Issing/S. Todd Lowry/B. Schefold, Aristoteles und seine "Politik", Vademecum zu einem Klassiker des antiken Wirtschaftsdenkens, 1992; E. Salin, Politische Ökonomie, Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Piaton bis zur Gegenwart, 5. Aufl., 1967; B. Schefold (Hrsg.), Die Darstellung der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaften in der Belletristik, 1992. Kulturwissenschaftlich arbeitet auch E. Heuss, Evolutorik und Marktwirtschaft, Jöhr-Vorlesung St. Gallen, 1992, S. 11 ff.; P. Koslowski, Politik und Ökonomik bei Aristoteles, 1993. 796 Aus der jetzt schon kaum mehr überschaubaren Lit.: U. Hampicke, Ökologische Ökonomie. Individuum und Natur in der Neoklassik, 1992; M. Hauff/U. Schmid (Hrsg.), Ökonomie und Ökologie - Ansätze zu einer ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft, 1992.
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des Verfassungsstaates, das sich vielfältig ausdifferenzierende (oft genug auch verfehlte) Verbot des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht (z.B. in den Generalklauseln des BGB), das Einfordern von Sozialpflichtigkeit und Gemeinsinn, insgesamt das subtile Gebäude der lange gewachsenen Rechtskultur eines Volkes prägen das Markt- bzw. Wirtschaftsleben und machen es zu einem inneren Bestandteil der lebenden Verfassungsordnung. Die Intensität des Verfassens der Marktwirtschaftsvorgänge unterscheidet sich zwar in Raum und Zeit von Nation zu Nation im Laufe der Geschichte, und die große Bandbreite wird sogar innerhalb desselben Verfassungsstaates z.B. durch Frankreichs (an "trial and error" orientiertes) Pendeln zwischen Planwirtschaft und Sozialisierung bzw. Marktwirtschaft und Privatisierung unter den Präsidenten de Gaulle 797
und F. Mitterrand illustriert . Gleichwohl vollzieht sich all dies auf dem Boden und im Rahmen einer die Marktkräfte und ihre Leistungen nutzenden Verfassung: jedenfalls im Lichte des hier vertretenen Verfassungsverständnisses. Danach ist Verfassung "rechtliche Grundordnung" von Staat und Gesellschaft, sie dient nicht nur der Beschränkung und Rationalisierung von Macht"prozessen", sie konstituiert diese auch. Sie vergegenwärtigt den nationalen Grundkonsens, ist "Norm und Aufgabe" (U. Scheuner), "Anregung und Schranke" (R. Smend), ein öffentlicher Prozeß. Das "gemischte" Verfassungsverständnis greift viele Teilaspekte der bisherigen Diskussion auf und unternimmt eine pragmatische Integration von Theorieelementen. Vor allem setzt es kulturwissenschaftlich an. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives "Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffhungen 798 . Einbezogen in all diese Zusammenhänge ist der Markt im ganzen wie im einzelnen: in seinen Strukturen und Funktionen, aber auch in seinen Grundrechtsbezügen, d.h. seiner Bedeutung für die Realisierung der Grundrechte und umgekehrt in seinem KonstituiertWerden durch die Grundrechte der einzelnen und Gruppen. In der Tiefe, letztlich und erstlich sind die "wirtschaftlichen Freiheiten" kulturelle: Freiheiten im Kulturzustand, zu dem auch die Wirtschaft gehört, obschon sie sich von den klassischen Kulturfeldern Religion und Bildung, Kunst und Wissenschaft unterscheidet 799. Republiken gründen sich auf Arbeit bzw. Kultur, nicht auf Märkten! 797 So gibt es die italienische Variante der (sozialen) Marktwirtschaft mit dem (noch) hohen Anteil an Staatswirtschaft, die französische mit viel "Industriepolitik" oder den englischen "Thatcherismus". 798 Vgl. dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982, S. 19. 799 Vgl. L. Raiser , Wirtschaftsverfassung als Rechtsproblem, FS J. von Gierke, 1950, S. 181 (188), Wirtschaft und Recht seien "Teilbereiche ein und derselben Kultur, 59 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (2) Der Markt im Koordinatensystem staats- und rechtsphilosophischer Klassiker-Texte: Menschenbild - Gesellschaftsvertrag - Erziehungsziele und Gewaltenteilung im wirtschaftlichen Bereich
Eine Verfassungstheorie des Marktes hat sich den Paradigmen der klassischen Rechts- und Staatsphilosophie ganz unmittelbar zu stellen. Dies ist, soweit ersichtlich, bislang nicht geschehen. Es kann hier nicht "nachgeholt", kaum begonnen werden. "Auf den Schultern von Riesen" wären Gipfelgespräche unter den Klassikern selbst - mit Blick auf die Verfassung - erforderlich 800 . Denn der Markt ist mit den Grundfragen sozialen Zusammenlebens eng verknüpft (z.B. mit "Menschenbild" und "Gesellschaft") und er bleibt dem Gerechtigkeits- und Gemeinwohlpostulat ebenso unterworfen wie andere Teilbereiche einer pluralistischen Demokratie. Nicht zuletzt ist die Frage nach den Strukturen und Funktionen des Marktes auch eine Frage nach dem "richtigen" Verfassungsverständnis. In dem Maße, wie die Rechts- und Staatslehre heute in die Lehre vom Verfassungsstaat zu integrieren ist, wird eine Verfassungstheorie des Marktes erforderlich, die diesen im ganzen und im einzelnen erfaßt. Hier einige Stichworte: Der als Teil der pluralistischen Gesellschaft zu sehende Markt ist wie diese verfaßt, d.h. er meint den Menschen nicht im Naturzustand ("status naturalis"), sondern im "status civilis", d.h. Kulturzustand. Der Markt darf kein "bellum omnium contra omnes" sein bzw. werden, kein Feld für die vielleicht wirklich ζ. T. wölfische Natur des Menschen, so wie der Verfassungsstaat ja auch nicht von T. Hobbes, sondern von J. Locke her konstruiert und i.S. I. Kants ein Gesellschaftsvertrag fingiert wird. Das "gedämpft optimistische Menschenbild", nicht das pessimistische, auf den Erfahrungen des Bürgerkriegs beruhende von T. Hobbes, prägt den Verfassungsstaat ganz allgemein wie auch das Verständnis seines "Marktbürgers" 801 . A. Smith hat sein Menschenbild ebenso realistisch umschrieben wie klassisch formuliert 802 : "Dagegen
Schöpfungen eines Geistes, Glieder einer Wertwelt, Zeugnisse eines Gesamtstils ihres Volkes".- S. auch W. Röpke (1944), zit. nach Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, 1981, S. 229: "Sie (sc. die lebensfähige und befriedigende Marktwirtschaft) ist vielmehr ein kunstvolles Gebilde und ein Artefakt der Zivilisation, ..."; "...daß auch der Ablauf der so eingerahmten und überwachten Marktwirtschaft bestimmter wohldosierter und wohlerwogener Eingriffe des Staates bedarf." 800 Eine reiche Fundgrube wirtschaftswissenschaftlicher Klassikertexte stellt für die Verfassungslehre der Band dar: Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, 1981 (hrsg. von W. Stützel u.a.). Jüngere Aufsätze enthält der Band: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, hrsgg. von U. Scheuner, 1971. 801 Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988. 802 A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, hrsg. von H.C. Recktenwald, 1986, S. 17.
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ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, das zu tun, was er von ihnen wünscht... . Wir wenden uns nicht an ihre Menschen -, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil." Dieser Menschenbildaspekt ist der vom Verfassungsstaat auch im Blick auf den Markt gemeinte. In seinen Prinzipien, die das Wirtschaftsleben prägen, kommt dies immer wieder zum Ausdruck: etwa dank der Garantie des Privateigentums (bis hin zur Testierfreiheit) in Gestalt der "Privatnützigkeit" 803 . Dieses Menschenbild des "privatnützigen" Bürgers ist aber mit der Kunstfigur des viel zitierten "homo oeconomicus" 804 nicht identisch. Der "rationale Nutzenmaximierer" trifft nur einen Teilaspekt: denn weder ist der Mensch selbstsüchtig nur am ökonomischen Nutzen und Gewinnstreben orientiert, noch wird er allein vom Rationalen motiviert 805 . Die "frei und gleich an Würde und Rechten" geborenen, mit "Vernunft und Gewissen begabten", auf den "Geist der Brüderlichkeit" verpflichteten Menschen (vgl. Art. 1 AllgErklMenschenR der UN von 1948) sind in ihrer "Natur" - und Kultur - viel zu komplex (auch emotional,
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Dazu BVerfGE 31, 229 (240); s. auch E 83, 201; 88, 366 (377); 89, 1 (7); 91, 294 (307 f.); 93, 121 (137). S. noch meinen Basler Vortrag: Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff (1984), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 484 ff.- Vgl. W. Euchen (1952): "Nur im Rahmen der Wettbewerbsordnung gilt der viel genannte Satz, daß Privateigentum nicht nur dem Eigentümer, sondern auch dem Nichteigentümer Nutzen bringe" (zit. nach Grundtexte, aaO., S. 153). 804 Dazu aus der Lit.: W. Heinrichsmeyer/O. Gans/J. Evers, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 6. Aufl. 1985, S. 38, 166; W. Meinhold, Grundzüge der allgemeinen Volkwirtschaftslehre, 1972, S. 31 f.; G. Kirchgässner, Homo oeconomicus, 1992, S. 12 ff.- Klassisch W. Röpke: Ethik und Wirtschaftsleben (1955), zit. nach Grundtexte, aaO., S. 439 ff. (insbes. S. 441: "Es gibt einen Ökonomismus, der das Mittel zum Zweck macht und nur an das Brot denkt..."; S. 447: "Ein solcher 'homo oeconomicus' existiert aber als Durchschnittstyp so wenig wie die Helden und Heiligen"; S. 448: "das Wirtschaftsleben spielt sich nicht in einem moralischen Vakuum ab. Es ist vielmehr dauernd in Gefahr, die ethische Mittellage zu verlieren ..."); zuletzt H.A. Simon, Homo rationalis, 1993. 805 Philosophisch ist das Modell des "homo oeconomicus" zu kritisieren, weil es die sozialen Bezüge übersieht, in denen jeder Einzelne von vornherein steht; ethisch verkennt es die Bindung des Menschen an überideelle Werte; empirisch übersieht es, daß der Mensch nicht nur rational ist und seine Präferenzen nicht immer dieselben sind. Schließlich ist mit W. Röpke (1955) daran zu erinnern, daß der Gewinnmaximierer den Markt untergräbt, weil Markt und Wettbewerb nur "von moralischen Ressourcen zehren, selbst aber keine schaffen" (zit. nach Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, 1981, S. 439(448)).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
auch altruistisch, auch idealistisch), als daß sie sich auf solche simplen Formeln bringen ließen. Vor allem besteht die kulturelle Leistung des Verfassungsstaates gerade darin, die Vielfalt der Menschenbildelemente zur Kenntnis zu nehmen, sie zu schützen, auf sie zu setzen und sie zu "bilden und zu bessern". In seinen Erziehungszielen werden Teilaspekte "seines" Menschenbildes sichtbar. So soll nach Art. 26 Ziff. 2 der erwähnten AllgErklMenschenR die Ausbildung die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die "Stärkung der Achtung der Menschenrechte" sowie "Verständnis und Duldsamkeit" zum Ziele haben; so verlangt z.B. Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen (1947) die "Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung, die auf der Achtung der Würde jedes Menschen und auf dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit und politischer Verantwortung beruht" 806 . Im übrigen sollte ein Stück der anthropologischen Weisheit fruchtbar gemacht werden, die Montesquieu 1748 dazu veranlaßt hat, seine Gewaltenteilungslehre zu "erfinden": Der Mensch neigt von Natur aus dazu, Macht zu mißbrauchen. Das gilt nicht nur für den Menschen in staatlichen Ämtern und öffentlicher Verantwortung; es gilt auch für den am Marktgeschehen teilnehmenden Bürger. Darum ist der Verfassungsstaat immer wieder gefordert, zur Eindämmung von Vermachtungsprozessen die Gewaltenteilung im engeren (d.h. auf den Staat bezogenen) Sinne zu erweitern im Blick auf den gesellschaftlichen und das bedeutet auch wirtschaftlichen Bereich! (Staatliche Wettbewerbspolitik dient dem.) Die Gewaltenteilung in diesem "weiteren Sinne" bildet die Grundidee, die viele verfassungsstaatliche Prinzipien in Sachen Markt hervorgebracht hat: von der Festlegung der "sozialen Funktion" des Privateigentums (Art. 42 Abs. 2 Verf. Italien von 1947) über die Staatsaufgabe "Verteilung des Wohlstandes" (Art. 20 Verf. Niederlande 1983) bis zum Verbot des "Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht" (Art. 81 lit. e Verf. Portugal von 1976) und aller "unsittlichen Rechtsgeschäfte" (Art. 151 Abs. 2 S. 2 Verf. Bayern 1946).
806 Hier wird W. Röpkes Lehre von der "Asymmetrie der Marktwirtschaft" einschlägig: Der Markt ist selbst auf außermarktliche Bedingungen angewiesen. Dazu gehören Gesetze und Vorschriften, aber auch die kulturellen und moralischen Voraussetzungen. "Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen jene sittlichen Reserven nicht. Sie setzen sie voraus und verbrauchen sie". Röpke zählt zu den Normen einer Marktwirtschaftsethik "Selbstdisziplin, Gerechtigkeits- und Gemeinsinn, Ehrlichkeit, Fairness, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen, das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, bevor sie auf den Markt gehen" (zit. nach Grundtexte, aaO., S. 448).
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(3) Der Markt im Spiegel verfassungsstaatlicher Verfassungstexte: Die Aussagekraft der Textstufenentwicklung Teilerkenntnisse über den Stellenwert von Markt und Marktwirtschaft (und ihrer Korrelatbegriffe wie Wettbewerbsfreiheit und Sozialpflichtigkeit) in pluralistischen Demokratien finden sich in den Texten ihrer Verfassungen. Raum/zeitlich, d.h. rechtsvergleichend und historisch zugleich betrachtet bzw. systematisiert, bringen sie Wesentliches prägnant und konzentriert zum Ausdruck: was die jeweils nationalen Verfassunggeber in Sachen Wirtschaft denken und wie sie sie im Verhältnis zu den anderen Verfassungswerten wie Menschenwürde und individuelle Freiheit, Mißbrauchsgrenzen, Rechtsstaat und Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Wohlstand, Demokratie und politische Willensbildung einordnen. Die an anderen Verfassungsthemen erprobte Textstufenanalyse 807 erlaubt mittelbar sogar Aussagen über ältere und neuere Verfassungswirklichkeit; sie ist gegen den Vorwurf bloßer Semantik oder Programmatik von Texten gefeit, so sehr es immer Steuerungsdefizite in der Verfassung als öffentlicher Prozeß gibt. Das folgende ist nur eine Auswahl aus der Fülle des einschlägigen Textmaterials (aus dem eine Verfassungslehre in Sachen Wirtschaft erarbeitet werden kann). Der - formal und inhaltlich beste - Pioniertext für die Reformziele im Osteuropa von heute findet sich in der Präambel der Verf. Ungarn von 1949/89: "Zur Förderung des friedlichen politischen Übergangs zu einem das Mehrparteiensystem, die parlamentarische Demokratie und die soziale Marktwirtschaft verwirklichenden Rechtsstaat...". Der Verfassungsentwurf der Russischen Föderation vom 13. Nov. 1992 versucht sich in Art. 9 Abs. 1 sogar an einer Legaldefinition: "The social market economy where there is freedom of economic activity, entrepreneurship and labor, diversity and equality of forms of property, their legal protection, fair competition, and public benefit shall constitute the basis of the economy of the Russian Federation". Andere Entwürfe verwenden nicht den Begriff "soziale Marktwirtschaft", doch sie normieren eine auch auf das Ökonomische bezogene Pluralismus-Klausel 808. Alle Entwürfe nehmen sich der Konnexthemen wie wirtschaftliche Freiheiten einerseits, soziale Grundrechte der Arbeitnehmer andererseits an, wobei sie "neu" den Umwelt-
807 Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff., besonders in Sachen Wirtschaft: S. 14 ff. Vierter Teil VII. 808 Vgl. Art. 6 Abs. 1 Verf. Entwurf Ukraine vom 10. Juni 1992: "Social life in Ukraine is based on the principles of political, economic and ideological pluralism." Vgl. jetzt Art. 15 Verf. von 1996, der statt von "pluralism" von "diversity" spricht.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
schütz bzw. die Generationenperspektive einbauen 809 . Art. 9 Abs. 3 Entwurf Rußland (1992) schafft einen neuartigen Partnerschaftsartikel: "Economic relations shall be built on social partnership between man and the State, the worker and the employer, the producer and consumer." Den Verfassunggebern in Osteuropa genügt also nicht die Aufzählung der einzelnen Elemente einer Marktwirtschaft (wie Privateigentum und Vertragsfreiheit) bzw. ihrer Begrenzungen (wie Streikrechte sowie soziale Sicherheit), sie ringen um verallgemeinernde Prinzipien wie "soziale Marktwirtschaft" (jetzt Art. 20 Verf. Polen von 1997) oder "wirtschaftlicher Pluralismus". Das bestätigt die politische "Wichtigkeit" des Themas als großes Reformziel heute. Zugleich manifestiert sich darin eine neue Phase der Textstufenentwicklung des modernen Verfassungsstaates überhaupt. Sie zeichnet sich bereits früher in jüngeren Verfassungen (nicht zuletzt der Entwicklungsländer) ab. So bestimmt Art. 80 lit. a Verf. Portugal (1976) die "Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt"; so normiert Art. 38 Verf. Spanien (1978): "Die Unternehmerfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt"; so sagt Art. 19 Abs. 1 Verf. Niederlande (1983): "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates...". Und die (alte) Verf. Peru (1979) wagt den Präambeltext: gerechte Gesellschaft, "in der die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht und nicht der Mensch im Dienste der Wirtschaft" und zugleich Art. 115: "Die Privatinitiative ist frei. Sie wird in einer sozialen Marktwirtschaft ausgeübt. Der Staat schafft Anreize und Regelungen für ihre Ausübung, um diese mit dem gesellschaftlichen Interesse in Einklang zu bringen". Einen eigenen Akzent setzt Art. 101 Verf. Guatemala (1985): "Arbeit ist ein Individualrecht und eine soziale Verpflichtung. Das Arbeitsleben des Landes muß in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit organisiert werden". Art. 7 Abs. 3 Verf. Tirol (1989) bestimmt: "Das Land Tirol hat die freie Entfaltung der Wirtschaft unter Wahrung der Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft zu fördern". Zum Vergleich sei an Stichworte der älteren Textstufen des Verfassungsrechts in Sachen Wirtschaft erinnert: an Art. 151 Abs. 1 WRV ("Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In 809
Teilnachweise in meiner Tübinger Gedächtnisvorlesung: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, AöR 117 (1992), S. 169 (179). Besonders eingehend etwa Art. 79 bis 83 Entwurf Ukraine (1992): "Ecological Safety".- Verf. Turkmenistan (Mai 1992): Art. 9 Abs. 1 : "gleichberechtigter Schutz und gleiche Bedingungen für die Entwicklung aller Formen von Eigentum", Art. 10: "Bewahrung der natürlichen Ressourcen".- Art. 57 Abs. 1 Entwurf Rußland (1992): "Property in all its forms - private, state and other shall be recognized and guaranteed. The use of the right to property shall not contradict public weal".- Art. 10 Verf. Angola (1992): Koexistenz von Eigentumsformen.
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diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern"), an das Erziehungsziel "berufliche Tüchtigkeit" (Art. 148 Abs. 1 ebd.), an Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946 ("Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten") oder an Art. 55 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947 ("Die Arbeitsbedingungen sind so zu gestalten, daß sie die Gesundheit, die Würde, das Familienleben und die kulturellen Ansprüche der Arbeitnehmer sichern"). Zuletzt sei Art. 43 Verf. Brandenburg erwähnt (1992), der das Wirtschaftsleben auf eine "sozial gerechte und dem Schutz der natürlichen Umwelt verpflichtete 810
marktwirtschaftliche Ordnung" festlegt . Schon diese kleine Auswahl von Verfassungstexten zeigt, wie sehr die pluralistischen Verfassunggeber das Thema "Markt" und "Marktwirtschaft" immer wieder beschäftigt und wie intensiv sie diese zum integrierenden Bestandteil ihrer Werke machen. Im Grunde sind bereits all die Problemfelder benannt, die eine Verfassungstheorie des Marktes aufzuarbeiten hätte. So punktuell hier die einzelnen Prinzipien in Gestalt unterschiedlicher Texte aufgelistet sind: "zusammengelesen" öffnen sie den Blick auf das breite Panorama der Stichworte, in denen sich das Denken über die Wirtschaft als Verfassungsproblem spiegelt und bewegt. Die Verfassungstexte bilden einerseits kulturelle Kristallisationen, Verdichtungen der bisherigen wissenschaftlichen und politischen Diskussion, auch das Echo auf ökonomische und sozialethische Klassikertexte; andererseits können sie als Ausgangspunkt für die künftige Theoriedebatte in Sachen Verfassungstheorie des Marktes dienen und so manches Werkstück liefern. M.a.W.: Man sollte nicht nur die Lehrbücher der ja immer widersprüchlichen Ökonomen befragen, sondern auch die positiven Verfassungstexte ernst nehmen (die ja meist Ausdruck harten Ringens um politische Kompromisse auf der Suche nach "praktischen Konkordanzen" (K. Hesse) sind): jedenfalls gilt dies für das Forum der Verfassungslehre. Darum erscheint es als legitim, im folgenden immer wieder direkt auf Verfassungstexte als Argument und zur "Abkürzung" der Diskussion zurückzugreifen. Sie ersetzen zwar nicht die wissenschaftliche Begründung, aber sie bereichern diese und bilden oft genug die vorläufige Quintessenz einer breiten und langen Kontroverse der Klassiker, auch der Parteiprogramme und der einzelnen Wissenschaftler.
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Der deutsch/deutsche Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (1990) hat bezeichnenderweise erstmals in Deutschland die soziale Marktwirtschaft auf hoher Textebene garantiert (Präambel und Art. 1 Abs. 3). Dazu M Schmidt-Preuß, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz ..., DVB1. 1993, S. 236 ff. Die "Prinzipien des freien Marktes" und die Erfordernisse der "sozialen Entwicklung" sucht Art. 26 Verf. Äquatorial-Guinea (1991) zu verbinden.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (4) Marktwirtschaft und Demokratie - ein Analogon?
Vieles deutet auf einen inneren Zusammenhang von Demokratie und Marktwirtschaft: die Gleichzeitigkeit, mit der sie beide in den Revolutionen Osteuropas seit 1989 gefordert werden, die erwähnten Texte demokratischer Verfassungsstaaten, die die (soziale) Marktwirtschaft als Staatsziel normieren, aber auch darüber hinausgehende, die etwa eine "Verbindung der politischen Demokratie mit den Ideen der wirtschaftlichen Demokratie" wollen (Präambel Verf. Hamburg 1952), die auf die Verwirklichung einer "wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Demokratie" zielen (Art. 2 Verf. Portugal) oder die innerbetriebliche Mitbestimmung verlangen (Art. 47 Abs. 2 Verf. Bremen von 1947, Art. 26 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950). Parallelisierungen zwischen Markt und Demokratie liegen bereits aus historischen Gründen nahe, ist doch 1776 sowohl das Jahr der Virginia Bill of Rights als auch der Veröffentlichung von A. Smith's "The Wealth of Nations". Die späteren Klassiker vertiefen die Analogie: F. Böhm 8 1 1 vergleicht den Markt mit idealen Formen der plebiszitären Demokratie, mit täglichen Abstimmungen, Konsumentensouveränität, alltäglichen Wahlmöglichkeiten aller, und bereits J. A. Schumpeter 812 hat den Satz diskutiert: "Es gibt keine demokratischere Institution als einen Markt" 8 1 3 . Provozierend wirkt schießlich der Satz von F. Tönnies 814 : der Markt sei die "Waage" der ökonomischen Justitia. Hat der Markt im Verfassungsstaat 815
aber wirklich die Gestalt einer ökonomischen Form der Demokratie? . Hier bedarf es einer differenzierenden Antwort: Nur die soziale Marktwirtschaft 816 kann Gegenstand einer begrenzten Analogie zur pluralistischen . 811 F. Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937; ders., Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950; ders., Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, Ordo XVII (1966), S. 75 ff. 812 J.A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946, S. 294. 813 S. auch die These "liberaler Demokraten" (zit. nach H. Krüger, Sozialisierung, in: K.A. Bettermann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte III, 1, 1958, S. 267 (273)), der Markt sei eine Demokratie, "auf dem jeder Pfennig, der ausgegeben wird, einen Stimmzettel darstellt".- Vgl. aber auch J. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Politik, in: H. Münkler (Hrsg.), Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, 1992, S. 11 ff. 814 Vgl. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Aufl 1935 (Nachdruck 1963), S. 42. 815 Der Markt ist "der messende, wägende, wissende Richter, welcher das objektive Urteil fällt. Dieses müssen alle anerkennen... also denselben Maßstab gebrauchen, mit derselben Waage wägen." 816 Nach A. Müller-Armack besteht der Grundgedanke der Sozialen Marktwirtschaft darin, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" (zit. nach Grundtexte, aaO., S. 85); vgl. noch A. Müller-Armack, Die Wirt-
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Demokratie sein, so daß die "Marktbürger" die "Demokratiebürger" sind. Die über das Sozialstaatsprinzip vermittelten Gerechtigkeitslehren von Aristotels bis J. Rawls prägen die Marktwirtschaft des Verfassungsstaates mit: z.B. in Form von "Verbraucherschutz" (vgl. Art. 51 Verf. Spanien), von "sozialen Minimalrechten für die Arbeitsgesetzgebung" (vgl. Art. 102 Verf. Guatemala), von Ansprüchen auf "soziale Sicherheit" (vgl. Art. 20 Abs. 2 Verf. Niederlande), von Gewerkschaftsfreiheit und Streikrecht (vgl. Art. 23 Abs. 2 Verf. Griechenland). Die Verfassungslehre steht vor der Aufgabe, die Strukturen und Funktionen, die wohlstandsfördernden Leistungen und Grenzen von Markt und Marktwirtschaft in ihr offenes Koordinatensystem zu integrieren. Die Enzyklika von Papst Johannes Paul II. "Centesimus annus" (1991) 817 liefert dazu manche Stichworte, sofern sie als Modell für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ein Wirtschaftssystem bezeichnet, "das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft" anerkennt. Die politische (und das heißt demokratische) Freiheit und die wirtschaftliche sind - auch als Ausdruck der einen Würde des Menschen - gewiß "unteilbar", insofern gehören soziale Marktwirtschaft und freiheitliche Demokratie im Verfassungsstaat unteilbar zusammen 818 . Indes bedarf es kräftiger "Rahmenbedingungen" (besser: Konstitutionsbedingungen), ja rechtlicher Kontrollen und nicht weniger sozialstaatli-
schaftsordnung, sozial gesehen (1947), in: E. Tuchtfeld/E. Dürr (Hrsg.), Genealogie der sozialen Marktwirtschaft, 1974, S. 73 ff.; vgl. zu A. Rüstow als Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft: K. Meier-Rust, A. Rüstow, Geschichtsdeutung und liberales Engagement, 1993. Aus der Sekundär-Lit.: G. Ambrosius, Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland, 1945 - 1949, 1977. 817 1991 hat auch die EKD für die "Soziale Marktwirtschaft" plädiert: vgl. die Denkschrift: "Gemeinwohl und Eigennutz. Soziale Marktwirtschaft als Chance für zukunftsfähiges wirtschaftliches Handeln"; in ihr wird die Effizienz des Marktes positiv bewertet, doch ist den klassischen Zielen der Marktwirtschaft (Vollbeschäftigung, Geldstabilität, Wirtschaftswachstum und gerechte Eigentumsverteilung) das neue Ziel "Erhaltung der natürlichen Umwelt" hinzugefügt.- Bemerkenswert ist die Erklärung zur Volkskammerwahl 1990 seitens des gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer Christen in der DDR vom Febr. 1990 (zit. nach FAZ vom 22. Februar 1990): Erkenntnis der katholischen Soziallehre, "daß freie Marktwirtschaft nicht sozusagen im Selbstlauf Wohlstand für alle bringt, sondern diese zwingend eines ausgebauten Systems sozialer Sicherheiten und wechselseitiger Unterstützung als fester Komponente bedarf, um zur sozialen Marktwirtschaft zu werden". 818 Vgl. als jüngere Stimme: E. Hoppmann, Freiheitliche Wirtschaftspolitik und Verfassung, Jenenser Vorträge, 1992, S. 7: "Eine Wirtschaftsordnung freier Menschen ... umfaßt zweierlei: Erstens die freiheitssichemden Verhaltensregeln und zweitens die aus diesen herauswachsenden konkreten Marktprozesse, die ein selbstregulierendes, evolutorisches System bilden. Freiheit und Marktwirtschaft sind insofern miteinander verknüpft...".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
eher "Eingriffe" im Rahmen der Gerechtigkeit, z.B. zum Schutze der Schwächeren 819 , um Markt und Demokratie in Analogie zu bringen 820 . Die Leistung des demokratischen Verfassungsstaates besteht gerade darin, Marktwirtschaft und den sozialen Rechtsstaat in der Geschichte Stück für Stück in "praktischer Konkordanz" entwickelt zu haben. Die offene Gesellschaft besitzt ihr Pendant in der Offenheit und Freiheit der Märkte. Die soziale Marktwirtschaft ist verfassungsimmanentes Prinzip des Typus "Verfassungsstaat" geworden. Sie verbindet Wettbewerb mit sozialem Ausgleich. Der wohl reifste Text ist Art. 20 Verf. Polen (1997) geglückt: "A social market economy, based on the freedom of economic activity, private ownership, and solidarity, dialogue and cooperation between social partners, shall be the basis of the economic system of the Republik of Poland". (5) Drei Grenzen des Prinzips "Markt und Marktwirtschaft" 821 Obwohl das "Markt-Bild" seit dem "Schwellenjahr" 1989 tendenziell immer mehr Bereiche beansprucht, ja mitunter ausufert, insofern nicht nur von "Meinungs-" und "Kunstmarkt" die Rede ist, sondern eine ganze Nation als "Supermarkt" (M. Ruthven) bezeichnet wird und der seit 1993 gemeinsame Binnenmarkt in der EG/EU das Europa der Kultur "marktschreierisch" zu überdecken scheint: Es wird hohe Zeit, daß die Verfassungslehre entschlossen an die Grenzen erinnert. Der Markt ist nicht das Maß aller Dinge und schon gar nicht das Hauptmaß des Menschen. Nicht alles menschliche Zusammenleben
819 Vgl. Art. 45 Abs. 4 Nr. 1 Verf. Irland (1937/72): "Der Staat gelobt, die wirtschaftlichen Interessen der wirtschaftlich schwächeren Gruppen der Gemeinschaft mit besonderer Sorgfalt zu schützen, sowie, wo es notwendig ist, zum Unterhalt der Kranken, Witwen, Waisen und Alten beizutragen".- Ähnlich nennt W. Röpke (1950), zit. nach Grundtexte, aaO., S. 49 (60 f.) unter den "nichtwirtschaftlichen Bereichen" u.a. "die sozialen Fragen der Korrektur der Einkommensverteilung, der Sicherheit und des Schutzes der Schwachen." Dies ist ein Beleg unter vielen für die Parallelität von Klassikertexten der Lit. und Verfassungstexten! 820 Speziell die Texte zur "wirtschaftlichen Demokratie" (oben unter (4)) sind mißverständlich und treffen nicht das hier Gemeinte. Auch die wirtschaftliche Mitbestimmung ist kein Demokratie-, sondern ein Grundrechtsproblem; dazu schon P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat (1972), später in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 ff.- Eine wichtige Frage stellt O. Depenheuer: Setzt Demokratie Wohlstand voraus?, Der Staat 33 (1994), S. 329 ff. 821 Vgl. die Fragestellung von W. Röpke (1950): "Grenzen der Marktwirtschaft", "die nichtmarktwirtschaftlichen Bereiche" (zit. nach Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, aaO., S. 49 (56 ff, 60 f.)).- Aus Anlaß der neuen rundfunkrechtlichen Literatur stellte früh eine Gretchenfrage: J. Wieland, Markt oder Staat als Garanten der Freiheit?, Der Staat 23 (1984), S. 245 ff.
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ist unter Marktgesichtspunkten zu ordnen und zu bewerten. Im Verfassungsstaat ist immer wieder an die in Texten greifbare instrumentale Natur zu erinnern ("Wirtschaft im Dienst des Menschen", Dienst am Gemeinwohl, insbesondere an der Menschenwürde, allmähliche Wohlstandsmehrung, Dienst an der sozialen Gerechtigkeit u.ä.). Bereichs- und funktionsspezifisch lassen sich die Grenzen von Markt und Marktwirtschaft wie folgt konkretisieren: Zum einen ist das Marktmodell in bestimmten kulturellen Bereichen wie der Erziehung, Bildung und Ausbildung, z. T. auch der Forschung sowie der Familie, in sozialen wie den Kernbereichen des Arbeitsrechts gerade nicht anwendbar. Der Verfassungsstaat muß sensibel dafür bleiben, ob die einzelnen gesellschaftlichen Felder marktfähig bzw.-bedürftig sind oder nicht, wobei sich in der geschichtlichen Entwicklung Veränderungen ergeben können (in Deutschland: neben dem öffentlich-rechtlichen gibt es auch privates Fernsehen, soziales Mietrecht, staatliches Gesundheitswesen und die staatliche Dominanz bei der Arbeitsvermittlung etc.). Zum anderen ist bei aller ordoliberalen Einsicht in die "Interdependenz der Ordnungen" bzw. die Unteilbarkeit politischer und wirtschaftlicher Freiheit die Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses 822 (als Teil der Verfassung des Pluralismus) durchzusetzen. Dem dient das Verfassungspostulat "Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt" (Art. 80 lit. a Verf. Portugal 823 ) und das Verbot jeden Mißbrauches der wirtschaftlichen Freiheit ("insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht": Art. 39 Abs. 1 Verf. Hessen; ähnlich Art. 81 Verf. Portugal). Schließlich findet die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen ihre Grenze "in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls" (Art. 151 Abs. 2 S. 3 Verf. Bayern, ähnlich Art. 52 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz 8 2 4 ) . Hier ist der Ort 822
Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 12. 823 S. auch Art. 38 Abs. 4 Verf. Portugal: "Der Staat gewährleistet die Freiheit und Unabhängigkeit der Massenkommunikationsmittel gegenüber der politischen Gewalt und der wirtschaftlichen Macht". 824 Provozierend: R. Dahrendorf in: Der Spiegel Nr. 3/1993 vom 18. Jan. 1993, S. 21 (23): "Es stellt sich heraus, daß Demokratie und Marktwirtschaft kalte Projekte sind, eisige Projekte ... Der Versuch, Demokratie oder Marktwirtschaft herzerwärmend zu ideologisieren, ist ein Irrtum. Beide bieten Mechanismen, Konflikte gewaltlos zu bewältigen, mehr nicht". S. aber auch den Beitrag von C.C. von Weizsäcker, "Bedroht der Kapitalismus die offene Gesellschaft?", in: Die Zeit vom 31. Januar 1997, S. 36, der die moderne Demokratie für die Übertragung der Wettbewerbsgedanken auf die Politik hält und den "sozialen Ausgleich" allein durch das allgemeine Wahlrecht geleistet sieht, Poppers "piecemeal engineering" mit v. Hayeks "Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" parallelisiert; von übergreifenden Grundwerten und Gerechtigkeitsprinzipien, von Menschenwürde und staatlich geschaffenem sozialen Ausgleich, dirigiert von Verfassungsprinzipien, ist aber nicht die Rede. Auch nicht von den Haltemächten der Kultur.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
für die minimalethischen Gehalte der bürgerlichen Rechtskultur 825 (von der Generalklausel "Treu und Glauben" bis zum "ehrbaren Kaufmann") - deren Fehlen sich im Aufbau einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung in den postkommunistischen Gesellschaften in Osteuropa derzeit so schmerzlich bemerk826
bar macht . Dem Verfassungsstaat bleibt die Aufgabe, den viel berufenen "Marktkräften" Einhalt zu gebieten, wo sie seine eigenen Grundwerte wie Menschenwürde, offene Willensbildungsprozesse etc. gefährden. Das muß auch angesichts der "Globalisierung" verlangt werden. (6) Die soziale Marktwirtschaft als "dritter Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus: die Kulturleistung des Verfassungsstaates Auf dem Forum des Verfassungsstaates wird die Kontroverse "Kapitalismus oder Sozialismus" gegenstandslos: denn er hat sich in seiner langen Textstufenentwicklung idealiter und realiter durch die Schaffung des Arbeits- und Sozialverfassungsrechts im Kontext zum Wirtschaftsverfassungsrecht die soziale Marktwirtschaft als solche voll integriert. Sie bildet den so oft berufenen "dritten Weg" (O. Schlecht 827 ) und stellt eine kulturelle Leistung von Rang dar. Es wäre falsch, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus vor allem in Osteuropa (1989) das "kapitalistische System" 828 als das "siegreiche" zu bezeichnen.
S. demgegenüber M. Gräfin Dönhoff, Wo bleibt das Ethos? An purem Egoismus geht jede Gesellschaft zugrunde, in: Die Zeit vom 5. Juli 1996, S. 7; dies., Zivilisiert den Kapitalismus, Entfesselte Freiheit und Geld sind nicht genug, Die Zeit vom 30. Aug. 1996, S. 6. 825 Vgl. dazu W. Röpke, Ethik und Wirtschaftsleben (1955), zit. nach Grundtexte, aaO., S. 439 (449): "Wenn wir eine solche Ordnung als eine "bürgerliche" im weitesten Sinne bezeichnen, so ist dies der Untergrund, auf dem das Ethos der Wirtschaft ruhen muß".- S. noch K.H. Biedenkopf, Über das Verhältnis wirtschaftlicher Macht zum Privatrecht, 1965.- Vorbildlich: BVerfGE 89, 214. 826 Neben diese "indirekte" Wirtschaftsethik tritt das heutige Ringen um Wirtschaftsethik insgesamt: A. Rieh, Wirtschaftsethik, 1984; s. auch P. Koslowski, Gesellschaftliche Koordination. Eine ontologische, kulturwissenschaftliche Theorie der Marktwirtschaft, 1991; AT. W. Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, 1992; KG. Nutzinger, Das System der natürlichen Freiheit bei A. Smith und seine ethischen Grundlagen, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 9 (1991), S. 79 ff.; R. Klump (Hrsg.), Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnng. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung, 1997.- Theoretisch systematisch ist sie eine eigene Form der Begrenzung der wirtschaftlichen Freiheit und ein Stück Konstitutionalisierung des Marktes im Verfassungsstaat. 827 Vgl. O. Schlecht, Grundlagen und Perspektiven der Sozialen Marktwirtschaft, 1990. 828 Neuere Lit. zur Versöhnung bzw. Verdammung des "Geistes des demokratischen Kapitalismus": M. Novak, Der Geist des demokratischen Kapitalismus, 1992 bzw. Κ
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"Siegreich" ist der Typus Verfassungsstaat, und dies nicht zuletzt deshalb, weil er es verstanden hat, für die soziale Frage gerechte Lösungen auf den Weg zu bringen. Gewiß, in der Frage, wie soziale Gerechtigkeit mit der, zuweilen ggf. auch gegen die Wirtschaft verwirklicht wird, gibt es große Unterschiede: etwa im Vergleich zwischen den USA und Deutschland (man denke hier an die "dynamische Rente" und das Mitbestimmungsrecht (vgl. BVerfG E 50, 290)). Tendenziell aber hat der "Kapitalismus" in keinem europäischen Verfassungsstaat überlebt. Wo er in seiner Frühform wiederzukehren scheint, etwa in der heutigen Transformationsphase mancher postkommunistischer Gesellschaften wie in Rußland, ist sein wölfisches Aussehen erschreckend genug, und gerade im Kontrast läßt sich erkennen, wie weit sich das verfassungsstaatliche Wirtschaftsleben vom "Kapitalismus" entfernt hat. Auch dort, wo die soziale Marktwirtschaft nicht das ausdrückliche Verfassungsziel bildet, ist sie der Sache nach durch ihre "Mosaiksteine" wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Freiheiten bzw. das Arbeits- und Sozialverfassungsrecht gleichwohl garantiert. Grundrechte "der" Arbeit, etwa Kündigungsschutz, Recht auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Sozialversicherung (auch "Sozialpolitik") formen die Marktwirtschaft zur "sozialen" um und sie vermitteln dadurch dem Verfassungsstaat ein wesentliches Stück seiner Legitimation. Der Markt ist zum sozialen und kulturellen Raum geworden, in dem Menschenwürde nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert wird. Der Verfassungsstaat weist in den Strukturen, die er für "seinen" Markt entwickelt hat, in den positiven Funktionen, die er durch die leistungsfähige Marktwirtschaft erfüllen läßt und den Korrekturen, die er immer wieder anbringen muß, durch materielle und prozessuale Prinzipien den "dritten Weg" zwischen "Staatsversagen" und "Marktversagen" in den bekannten Streitparolen. Die in Gestalt der Tarifautonomie gefundene, stets neu gefährdete Balance der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen bildet dabei ein Fundament seiner "sozialen" Marktwirtschaft. Die angelsächsische Idee der "caring, sharing society" sollte freilich stärker rezipiert werden. (7) Verfassungspolitische Folgerungen: die "soziale Marktwirtschaft" als Verfassungsziel oder die Konstitutionalisierung ihrer Einzelprinzipien? Verfassungstheoretische Erkenntnisse müssen praktisch werden können, d.h. sie sollten zu konkreten verfassungspolitischen Folgerungen führen. Das gilt auch für Markt und Marktwirtschaft. Nachdem sie sich in ihren normativen Strukturen und positiven Funktionen als integrierender Bestandteil der pluraliAssmann/F.J. Hinkelammert, Götze Markt, 1992.- Vgl. jetzt O. Negt, Staat und Kapital, FAZ vom 15. Jan. 1997, S. 12: "Notwendig ist ein kulturelles Umdenken, was die Ökonomie wiederum in menschliche Zwecksetzungen einbezieht."
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
stischen Gesellschaft des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe (auch im "Außenverhältnis") erwiesen haben und zudem ihre Grenzen (zum Schutz "des anderen" und des politischen Prozesses) sichtbar wurden, stellt sich die Frage, wie sich die Verfassunggeber heute dieses Themas annehmen sollen. Gewiß, die Variationsbreite und Gestaltungsfreiheit der einzelnen Nationen und Völker ist je nach Geschichte und "Temperament", geographischer Lage und individueller Verfassungskultur groß, dennoch können einige Maximen "guter Verfassungspolitik" in Sachen Markt und Marktwirtschaft genannt werden: auf dem Erfahrungs- und Anschauungsmaterial der bisher geschaffenen Texte und im Lichte der verfassungsstaatlichen Grundrechte bzw. Theorien. Die Hauptfrage ist, ob die "soziale Marktwirtschaft" als großes Verfassungsziel vorweg in einer Präambel (wie in Ungarn 1989) bzw. im Kanon der "Staatsziele" etwa im Verbund mit Demokratie, Rechtsstaat und Umweltschutz im Grundlagenabschnitt der Verfassung figurieren soll (so jetzt in Art. 20 Verf. Polen von 1997). Die Form der auf die Wirtschaft mitbezogenen generellen Pluralismus-Klausel kommt ebenfalls in Betracht (so Entwurf Ukraine, 1992). So groß die Bandbreite der möglichen Ausgestaltungen der "sozialen Marktwirtschaft" als solcher ist und so sehr das Soziale von der Seite des Arbeitsund Sozial-, jetzt auch Umweltverfassungsrechts her "erfüllt" werden muß: m. E. spricht vieles für eine generalklauselartige Verankerung des Prinzips in den Verfassungsurkunden. Das gilt jedenfalls für die Reformstaaten Osteuropas, für die Markt und Wettbewerb bzw. das, was diese leisten können, das "andere Ufer", die große Hoffnung sind. Im übrigen mögen für sie wie für die Entwicklungsländer der Dritten Welt (zusätzliche) Elemente der "gemischten Wirtschaftsverfassung" (E.R. Huber) 829 empfehlenswert sein (z.B. in Gestalt des Pluralismus der Eigentumsformen). So gesehen hat Verf. Portugal von 1976 (Art. 80 bis 95) zu viel an Verfassungsrecht in Sachen Wirtschaft auf den Text gebracht, (fragwürdig ist der Begriff "wirtschaftliche Demokratie" in Art. 2), das deutsche GG aber zu wenig 830 . Unverzichtbar bleibt in jedem Falle 829
Vgl. das "Zeit"-Gespräch von J.K. Galbraith: Ein gemischtes Wirtschaftssystem ist auf Dauer unausweichlich, in: Die Zeit Nr. 17 vom 23. April 1993, S. 34 mit Sätzen wie: "enorme Schwierigkeiten der ehemaligen Sowjetunion auf dem Weg vom umfassenden Sozialismus zu einem Marktsystem - nicht zu einem reinen Kapitalismus, den haben wir ja selbst nicht, sondern zu einer pragmatischen gemischten Ökonomie... . Insofern aber der neoklassische Ansatz dem Markt alles überläßt und keine - auch nur eine minimale - Rolle für den Staat vorsieht, ist er selbstverständlich tot. Denn eines wissen wir über den modernen Kapitalismus: Er funktioniert nur mit einer pragmatischen Verbindung aus staatlichem Handeln und Marktanreizen.... Ich war immer davon überzeugt, daß eine gemischte Ökonomie unausweichlich ist." 830 Vgl. meine Forderung nach einer Aufnahme der sozialen Marktwirtschaft in das revidierte GG als Verfassung des vereinten Deutschlands, JZ 1990, S. 358 (361).- Zu meinen Vorschlägen für Polen: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996,
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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eine Normierung der konstituierenden Elemente des Verfassungsprinzips "Markt": d.h. der wirtschaftlichen Freiheiten (z.B. Eigentums-, Vertrags-, Koalitions-, Unternehmerfreiheit) einerseits, der Grundrechte der Arbeit und der sozialen Sicherheit (z.B. Streikrecht, Menschenwürdeklauseln für Arbeitnehmer, Kündigungsschutz) und Umweltschutzaufträge andererseits. Die Grundrechts-Seite des Verfassungsproblems Markt (einschließlich der "Mißbrauchsgrenzen") und die korrelative Staatsziele-Seite (Arbeit, Soziales, Umwelt) müssen gleichermaßen zu Wort kommen bzw. auf Verfassungstexte gebracht werden. Jeder Verfassunggeber sollte sich für Neuerungen (z.B. Art. 80 lit. a Verf. Portugal: Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt; Art. 12 Abs. 1 Verf. Bremen: "Der Mensch steht höher als Technik und Maschine"; Art. 24 Abs. 1 S. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen: "Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen"; Art. 124 Abs. 1 S. 2 Verf. Peru: "Der Staat fördert den Zugang zum Eigentum in allen seinen Erscheinungsformen") offen halten. Vielleicht darf die Verfassungstheorie des Marktes in Teilen sogar in den Kanon der Erziehungsziele ausgreifen: Das geschieht mittelbar schon, insofern einzelne deutsche Landesverfassungen neuerdings "Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt" (vgl. Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 28 Verf. Brandenburg) in ihren Kanon aufgenommen haben. Aber auch so altmodisch erscheinende Erziehungsziele wie "sittliche Haltung und berufliche Tüchtigkeit" (Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz) oder die Vorbildwirkung "großer Wohltäter der Menschheit, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur" (Art. 56 Abs. 5 Verf. Hessen), "Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit" (Art. 56 Abs. 4 ebd.) oder neuere wie die Menschenrechte (Art. 72 Verf. Guatemala) prägen das Verfassungsrecht in Sachen Marktwirtschaft mit. Das Menschenrechtsethos sollte vor dem Wirtschaftsleben nicht Halt machen. Die Wirtschaftskultur des Verfassungsstaates setzt eine Minimalethik als Gegenseitigkeitsordnung voraus, wie sie in der bürgerlichen Rechtskultur z.B. in Generalklauseln zur Sittlichkeit bzw. Treu und Glauben selbstverständlich, auch in Wirtschaftsdelikten sichtbar sind. Dazu muß auch "erzogen" werden. In all dem bestätigt sich die These vom Markt als Teil des "status civilis culturalis". Die Hochschätzung des Marktes - und der Wirtschaft - darf nicht zu einem "neuen Materialismus" führen, der bei K. Marx Ideologie war - ausgerechnet in der Weltstunde, in der der Verfassungsstaat über den Marxismus gesiegt hat.
S. 735 ff - Jetzt: H.H. Rupp, Die soziale Marktwirtschaft in ihrer Verfassungsbedeutung, HdbStR Bd. IX, 1997, S. 129 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (8) Ausblick
Markt und Marktwirtschaft bilden heute ein zentrales, "inneres" Verfassungsproblem. Klassikertexte von A. Smith bis Sir Popper, hier als Verfassungstexte im weiteren Sinne verstanden 831, und die Entwicklungsstufen der (mit ihnen oft verknüpften) geschriebenen Verfassungstexte im engeren Sinne liefern mehr als bloße Problemhinweise. Sie zeigen - ganzheitlich betrachtet -, daß es im Wirtschaftsleben um ein Stück verfaßter Freiheit - und Verantwortung -, einen Ausschnitt der kulturellen Freiheit, um Gemeinwohl und Gerechtigkeit geht, und beweisen, daß der Verfassungsstaat nicht "natürliche" Räume umhegt, sondern kulturelle Bereiche konstituiert. Anders gesagt: Die pluralistische Gesellschaft verfaßt sich auch in der Weise immer neu, daß sie für das Wirtschaften Rahmenordnungen und rechtliche Institute schafft, mit dem rechtsethischen Konsens (der auch ein Stück indirekter "Wirtschaftsethik" ist) vor allem im einfachen Recht Ernst macht und das Sozialstaatsprinzip (z.B. im Sozial- und Arbeitsrecht) so verwirklicht, daß die Marktwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft als Gemeinwohlaspekt wird. Markt und Wettbewerb bedeuten für die offene Gesellschaft viel, wenngleich nicht alles. Der "homo oeconomicus" ist nur eine Teilwahrheit. Die viel berufene Offenheit des Verfahrens der demokratischen Willensbildung darf nicht durch ökonomische Vermachtungsprozesse verfälscht werden, denn die offene Gesellschaft ist kein "ökonomisches Gewinnspiel". Gewaltenteilende Strukturen, vom Staat auf die Wirtschaft übertragen (z.B. Kartellgesetze, Pressefusionsgesetze bzw. Höchstgrenzen im Bereich privater Fernsehfusionen!), müssen dem vorbeugen. Wettbewerbspolitik ist insofern "Demokratiepolitik", zugleich Dienst an der sozialen Marktwirtschaft. Eine Verfassungstheorie des Marktes steht heute vor neuen Herausforderungen, so vieles bisher erreicht ist: Die Ökologie muß zur Ökonomie in ein Verhältnis "praktischer Konkordanz" wachsen, wie dies manche Staatsziele programmatisch fordern (zuletzt Verfassung Thüringen vom Oktober 1993, Art. 38: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens hat den Grundsätzen einer sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft zu entsprechen"). Und: Die pluralistische Demokratie überlebt nur dann, wenn sie sich in einer Verantwortungsbereitschaft mit den "werdenden" Verfassungsstaaten Osteuropas weiß und die dortigen Transformationsprozesse unterstützt 832 . Die Verfas-
831
Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, sowie oben Fünfter Teil VIII. 832 Vgl. dazu mein Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, AöR 117 (1992), S. 169 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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sungstheorie des sozial abgefederten und dem Umweltschutz verpflichteten Marktes sollte weltweit zur gelebten Verfassungspraxis werden. Der gemeineuropäisch/atlantische Verfassungsstaat hätte dann einmal mehr bewiesen, daß er die Menschenwürde zur kulturanthropologischen Basis hat, die pluralistische Demokratie als deren Konsequenz begreift und am Ziel des "Wohlstands der Nationen" gerechtigkeits- und gemeinwohlorientiert arbeitet, ohne einem "Ökonomismus" anheimzufallen. Dieser verbietet sich schon wegen der (relativen) Moralität und Idealität, die das republikanische Zusammenleben der Bürger in einem Verfassungsstaat und dank des Verfassungsstaates auszeichnet. Und er mißachtete auch, was die Menschen in Osteuropa in meist friedlichen Revolutionen 1989 gewagt haben: vielleicht sogar schon in "weltbürgerlicher Absicht"; jedenfalls mit weltbürgerlichen Konsequenzen. Ein Pfeiler des verfassungsstaatlich eingebundenen "Marktes" ist das Privateigentum - entwicklungsgeschichtlich wie heute. Ihm gilt die folgende kulturwissenschaftliche Aufbereitung. e) Inkurs: Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtl iche Eigentums begriff 933 (1) Einleitung "Die SPD hat als eine Partei von Hausbesetzern begonnen": Dieses G. Grass-Dictum ist ein Beleg für die Wandlungsfähigkeit (und Wandlungsbedürftigkeit) politischer Parteien, zugleich Ausdruck einer Fragestellung, in deren Folge sich bestimmte Nutzungsmöglichkeiten des Eigentums ändern könnten. "Der Himmel gehört allen, die Erde wenigen": Dieses suggestive AntiFinck-Plakat K. Staecks erinnert an das eigentumskritische Engagement der bildenden Kunst und zeigt, wenn auch in zynischer Weise, die Differenzierung zwischen "Gemeineigentum" und "persönlichem Eigentum". "Mein und Dein wird abgeschafft": Dieser Kehrreim aus deutschen Schulbüchern erinnert an das populäre, seit ihrer Gründerphase vor allem von den „Grünen" reaktivierte Potential an Eigentumskritik, das in Proudhon seinen Klassikertext besitzt, aber in der Kontinuität des Hin- und Herschwankens zwischen Eigentumskritik (vgl. Buchtitel wie „Fetisch Eigentum", 1972, hrsg. von E. Spoor) 834 und „Eigen833 Zum folgenden mein (hier fortgeschriebener) gleichnamiger Beitrag in AöR 109 (1984), S. 36 ff. mit umfassenden Literaturnachweisen. Zuletzt: J. Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996; W. Leisner, Eigentum, Schriften zum Eigentumsgrundrecht und zur Wirtschaftsverfassung 1970-1996, 1996, mit Stichworten wie "marktoffenes Verfassungsrecht": S. 695 ff. 834 Fetisch Eigentum, hrsg. von E. Spoor , 1972. 60 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
tumsverteidigung" (so G. Dietzes „Aufruf' von 1978 835 ) nur eine besonders bekannte Station ist. Die Beispiele demonstrieren auf verschiedenen Ebenen, daß Eigentum nicht immer gleich Eigentum ist. Je nach Standort gibt es "schlechtes" (-'wirtschaftliches") und "gutes" Eigentum, auch "großes" und "kleines, genutztes und ungenutztes Eigentum, erarbeitetes und ererbtes, beschränktes und unbeschränktes. Zeigt sich dabei gar eine gewisse sozialethische Konvergenz zum "persönlichen Eigentum" hin, das in (ehemals oder noch immer) sozialistischen Ländern vom Eigentum Privater - kümmerlich genug - übrig geblieben ist bzw. war, oder ist es nicht doch die Eigentumsfrage, die bis 1989 Ost und West, aber auch heute noch Nord und Süd kategorisch trennt? Die verfassungsstaatlichen Demokratien definieren sich als "Verfassung der Freiheit" nicht zuletzt aus ihrem "klassischen" Schutz des Eigentums Privater - allen Wandlungen und notwendigen Fortschreibungen zum Trotz bzw. gerade "in" ihnen. Und sie konstituieren sich auch dadurch, daß sie in jeder Epoche die Spannungen des Eigentums und im Eigentum neu ausgehalten haben und seine Ordnung in Zukunft sozialgerecht gestalten: weil Eigentum ein Stück Freiheit ist und bleibt! Diese Spannungen führen immer wieder zu stillen oder spektakulären, in der offenen Gesellschaft von vielen mitbewirkten Wandlungen im rechtlichen Verständnis des Eigentums. Das deutsche Recht demonstriert dies an der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie (1949) gegenüber der Regelung des § 903 BGB von 1900. Art. 14 Abs. 2 GG normiert: "Eigentum verpflichtet"; zum Gesetzespostulat des § 903 BGB, einem Stück Selbstverständnis der von Zweifeln noch wenig berührten bürgerlichen Gesellschaft, tun sich hier zunächst Abgründe auf. Liest man allerdings weiter, so sind die Abgründe nicht ganz so tief, so stark die Korrekturfunktion von Art. 14 Abs. 2 GG gegenüber dem Eigentum des Privatrechts ist. Die folgenden Paragraphen enthalten Regelungen über Immissionen, Nachbarrechte, Beeinträchtigungen Dritter u.ä. Das Eigentümerbelieben war also schon in der "wr"-bürgerlichen Gesellschaft kein einheitliches "Monstrum" (als welches es in § 903 BGB erscheint), und es ist später unter dem Druck sozialer und ökonomischer Fragestellungen, insbesondere von Knappheiten und technischem Wandel, von Rechtsprechung und Wissenschaft (greifbar jetzt im Ausspruch W. v. Simsons: "Eigentum jenseits von Martin W o l f f ' 8 3 6 ) zu einem Bündel von Rechten verschiedenen Umfangs weiter ausdifferenziert worden. Dabei steht das Eigentum heute offenbar in zwei gegenläufigen Entwicklungsprozessen: in dem der verstärkten Sozialbin-
835
G. Dietze, Die Verteidigung des Eigentums, 1978. W. von Simson, Das Eigentum jenseits von Martin Wolff, in FS von Caemmerer, 1978, S. 241 ff. 836
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen dung einerseits, der gegenständlichen und inhaltlichen Erweiterung und sonstigen Effektuierungen andererseits 837, auch der personalen Verbreiterung seiner Geltung: reale Eigentumschancen für alle als Teilziel von "Eigentumspolitik" z.B. im VE Schweiz (1977) 838 . Eigentum "i.S. der Verfassung", so immer wieder die Formulierung des BVerfG, bleibt auf der Tagesordnung der GGInterpretation 839 . Die Rechtsprechung des BVerfG zeigt bei einer synoptischen Betrachtung, daß für das Problem des Eigentums Rechts- und Wirtschaftsgeschichte nur je unterschiedlich zentrierte Geschichtsschreibung ein- und desselben Prozesses in der Lebenswirklichkeit sind: man denke aus der frühen Zeit an die Entscheidung zum Investitionshilfegesetz (E 4, 7), später dann an das Mitbestimmungsurteil (E 50, 290), aber auch an Judikate, denen in der Tagespresse weniger Publizität zuteil wurde, die indes für den Prozeß der Ausdifferenzierung des verfassungsrechtlichen Eigentums zentral sind: so z.B. auf der einen Seite die sich zwischen spezifischer Sozialbindung und Eigentumsschutz einen Weg suchende Rechtsprechung zum "geistigen Eigentum" als Teil der gemeinsamen Kultur des Gemeinwesens (von gewissen Durchbrechungen des Urheberrechts bei Schulbüchern über patentrechtliche Fragen bis hin zur Ablieferungspflicht für Verlage); so auf der anderen Seite z.B. an die den Schöpfern des BGB noch selbstverständliche, heute aber problematische Grundwassernutzungsbefugnis eines Grundeigentümers. Das BVerfG entschied sich gegen die unbegrenzte Grundwassernutzungsmöglichkeit des Grundeigentümers. Ökonomisch gesprochen: Es sonderte aus dem Bündel überkommener Nutzungsmöglichkeiten eine Rechtskomponente aus (E 58, 300 - Naßauskiesung).
837
Zur verstärkten Sozialbindung: BGHZ 23, 30 (32 f.); 30, 338 (342 ff.).- Zur Eigentumseffektivierung im Nachbarrecht: BVerwGE 32, 173 (178); 50, 282 (287); aus der Lit. dazu: R. Breuer, Baurechtlicher Nachbarschutz, DVB1. 1983, S. 431 ff - BGHZ 64, 220 (227) argumentiert mit der "Wohnfunktion des Eigentums".- Aus der Kommentarlit. zur Sozialbindung: J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 14 Rn. 24, 67, 82 f. Zuletzt: BVerfGE 95, 64 (84 f.). 838 Vgl. Art. 30 des Verfassungsentwurfes der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision, Text abgedruckt in AöR 104 (1979), S. 475 ff.- Aus der Lit.: P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, ebd. S. 345 (357 f.); M. Lendi/R. Nef, Staatsverfassung und Eigentumsordnung, 1981; D. Brühlmeier, Gesetzgeberrecht vs. Richterrecht in der Eigentumskonzeption des VE, in: Eigentum und seine Gründe, hrsg. von H. Holzhey u.a., 1983, S. 267 ff.; G. Müller, Der Streit um die Eigentumsordnung des VE 1977, ebd., S. 249 ff- S. auch Art. 41 Abs. 3 Verf. Brandenburg (1992): "Das Land fördert eine breite Streuung des Eigentums...". 839 Die Formel "Eigentum im Sinne der Verfassung" findet sich immer wieder z.B. BVerfGE 31, 229 (240 f.); 42, 263 (293); 52, 1 (27); 53, 336 (349): Eigentum "im Sinne des Grundgesetzes".- Lit. zum BVerfG: P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 183 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (2) Möglichkeiten und Grenzen der "Property Rights"-Lehre als einer "juristisch-ökonomischen" Theorie des Eigentums
Inwieweit lassen sich die Bemühungen um die "Property Rights" 840 - wegen des im Vergleich zum juristischen Eigentumsbegriff weiteren Verständnisses am besten mit "Handlungsrechte" oder "Verfügungsrechte" übersetzt - fruchtbar machen? Hier begegnen wir dem Problem der Übertragbarkeit: Auf der einen Seite steht die juristische Konstruktion des Eigentums, mit einem verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff an der Spitze und einem institutionellen Unterbau, der durch das bürgerliche Recht, das Handels- und Gesellschaftsrecht sowie sonstige Rechtsgebiete (wie das Arbeitsrecht) ausgeformt und weiter differenziert wird: mit dem BVerfG ist dem verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff eine Steuerungsfunktion zuzuweisen, er entwirft gewissermaßen das Entwicklungsprogramm des Eigentums Privater in der bürgerlichen Gesellschaft. Auf der anderen Seite steht die Lehre der "Verfügungsrechte", geboren aus dem Versuch einer Erfassung der Interdependenz von Recht und Wirtschaft, von law and economics: Für viele allgemeine und spezielle Fragen haben die unterschiedlichsten Forschungsarbeiten unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Effizienz wichtige Resultate erbracht. Erinnert sei an den grundlegenden Aufsatz von R. Coase zum Problem sozialer Kosten, an die zahlreichen Studien zum Problem der Haftung, verbunden mit Namen wie G. Calabresi, H. Demsetz, R.A. Posner; erwähnt seien die Untersuchungen zum Problem der Umweltverschmutzung, verknüpft mit Namen wie Dorfman und Michelman in der amerikanischen, L. Wegehenkel in der deutschen Literatur. Verwiesen sei weiter auf die unterschiedlichen Ansätze zur Organisationsforschung vom Standpunkt der Verfügungsrechte aus, verbunden mit Namen wie Alchian, Manne, Demsetz in der amerikanischen und Schüller, Ridder-Aab und, von betriebswirtschaftlicher Seite, A. Picot in der deutschen Literatur, ganz zu schweigen von den allgemeinen Arbeiten, bei denen zusätzlich noch an E.G. Furubotn, S. Pejovich, an H. Leipold, Schenk, R. Eschenburg, Buhbe und juristisch an Assmann/Kirchner/Schanze zu erinnern ist. Es handelt sich um eine mikroökonomische Theorie, die versucht, die Auswirkungen unterschiedlicher Verteilung von Verfügungsrechten auf die wirtschaftlich relevanten Verhaltensweisen der beteiligten, eigeninteressierten sowie nutzenmaximierenden Individuen zu erfassen: die Theorie der Verfügungsrechte untersucht also die institutionelle Umwelt des Wirtschaftsprozesses, die die Einführung und Aufrechterhaltung sowie die neue Ausdifferenzierung eines Rechtssystems oder einzelner Regelungen im Vergleich zum 840
Zur Literatur mein Beitrag, aaO., S. 39 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Zustand der (relativen) Regellosigkeit verursachen. Die Transaktionskosten bilden dabei das zentrale Kriterium der ökonomischen Beurteilung einer Verfügungsrechtsstruktur. Das Problem dieses Ansatzes und der Einzeluntersuchungen besteht aber darin, daß ihre Ergebnisse oft nicht ohne weiteres verfassungsrechtlich übernommen werden können: sie vermitteln wichtige Daten als Grundlage eines rationalen Entscheidens; aber ist ökonomische Rationalität und Effizienz mit jener Rationalität identisch, die Teil der kontinuierlichen Neukonstitution der Verfassung im fortlaufenden Integrationsprozeß des verfassungsrechtlichen Alltags ist? Effizienz läßt sich nicht normativ aus dem Nichts bestimmen 841 . Die erste Einschränkung vorweg ist genereller Natur: Die Theorie der Verfügungsrechte ist ihrer Anlage nach "konkreter" als das Verfassungsrecht und ihre Ergebnisse werden sich daher eher auf der Ebene der einfachen Gesetze anwenden lassen. Das schließt eine Übertragbarkeit allerdings nicht aus: So ist z.B. die "Belegexemplar-Entscheidung" des BVerfG (E 58, 137) zur Ablieferungspflicht eines Stückes neu erschienener Druckwerke an öffentliche Bibliotheken ein Beispielsfall für die Frage der Umlegung sozialer Kosten und hätte von Coase ohne weiteres als solcher verwendet werden können; die "Naßauskiesungs"-Entscheidung des BVerfG (E 58, 300) ist ein Beispiel für jenen Prozeß der Entstehung neuer Knappheiten (des Grundwassers), in dessen Folge die Höhe der Transaktionskosten die Ausdifferenzierung einer neuen Rechtskomponente sinnvoll macht. Jenseits dieser generellen Einschränkung ermöglicht die Theorie der Verfügungsrechte: (1) eine ökonomische "Nachschreibung" der Rechtsgeschichte im Blick auf 842
den Wandel des Eigentums
841
;
Zum Effizienzbegriff mein Beitrag "Effizienz und Verfassung" (1973) m.w.N, jetzt in: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, (2. Aufl. 1996), S. 290 ff. Zuletzt: H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 1995. 842 Und natürlich auch Wirtschaftsgeschichte; s. z.B. zur Problematik institutionellen Wandels G. Gäfgen, Institutioneller Wandel und ökonomische Erklärung, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 2 (1983), S. 19 (27 f., 34 ff.); allg. s. D.C. North, Structure and Performance: The Task of Economic History, in: J. of Economic Literature 16 (1978), S. 963 ff. (z.B. 964, 968, 971 f.- allerdings ohne sich explizit mit der Theorie zu beschäftigen); die dynamische Komponente, die Möglichkeit, eine besondere Art von Geschichte zu schreiben, kommt aber vor allem in allgemeineren Untersuchungen zum Ausdruck, s. z.B. B. Pejovich, Towards an Economic Theory of the Creation and Specification of Property Rights, in: H.G. Manne, The Economics of Legal Relationships, 1977, S. 37 (42 ff., 51); s. im übrigen auch K. Borchardt , Der Property Rights-Ansatz in der Wirtschaftsgeschichte - Zeichen für eine systematische Neuorientierung des Faches?, in: J. Kocka (Hrsg.), Geschichte und Gesellschaft, 1977, S. 140 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
(2) eine ökonomische Rekonstruktion der verschiedenen Textstufen verfassungsrechtlicher Eigentumsgarantien in historischer Sicht sowie vor allem, angesichts der Unbestimmtheit verfassungsrechtlicher Formulierungen, eine ökonomische Rekonstruktion des rechtlich-institutionellen Unterbaus verfassungsrechtlicher Eigentumsgewährleistungen (man denke an das BImSchG, das StBauFG (jetzt BauGB), an das Sozialrecht); (3) die Abwägung rechtlicher Äquivalente unter £#îz/eflzgesichtspunkten, bezogen auf handelnde Individuen in zwischenmenschlichen Beziehungen, was letztlich der Grundstruktur der Verfassung mit den Grundrechten als dem Herz (besser gesagt einer Herzkammer) der Verfassung entspricht; (4) die Einsicht, daß es keine "natürlichen" Kostenzuweisungen gibt, sondern daß die Kostenzuweisung für Handlungen an Individuen durch die situativ zu stellende folgenorientierte Frage danach gelöst werden kann, wie hoch die Gesamtkosten für die Volkswirtschaft, die sozialen Kosten sind; (5) einen Abschied von der Furcht, durch neue Ausdifferenzierungen und Beschränkungen des Eigentums die Identität des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs zu gefährden: die Theorie zeigt, daß die Ausdifferenzierung von Verfügungsrechten, d.h. Endogenisierung exogener Größen letztlich als solche schon in einem umfassenden Bündel von Verfügungsrechten (das wiederum auch das Eigentum im juristischen Sinne umschließt) angelegt ist; die Identität des Eigentums wird aber nicht gefährdet, vielmehr werden je immer schon vorhandene Möglichkeiten aktualisiert; (6) angesichts der Notwendigkeit institutioneller Änderungen eine vielleicht genauere Erfassung der wirtschaftlichen Kosten rechtlicher Regelungen. Ohne hier auf die ökonomische Kritik einzugehen, erscheinen dem ökonomisch dilettierenden Juristen vier Punkte problematisch: (1) Der erste Kritikpunkt betrifft die Theorie der Verfügungsrechte als eine mikro-ökonomische, also vom handelnden Individuum ausgehende Theorie: Inwieweit kann ein solcher theoretischer Ansatz das erfassen, was in der Soziologie mit "aggregierten Effekten" menschlichen Verhaltens bezeichnet wird und was in der Ökonomie - neben den makro-ökonomischen Ansätzen - z.B. von Schelling untersucht worden ist 843 ?
843
Dazu T.C. Schelling, Micromotives and Macrobehavior, 1978, bes. mit der Darstellung der allgemeinen Überlegungen S. 11 ff; aus der Soziologie s. für alle das Dictum von L. Pye, daß die reine Summe von einzelnen Verhaltensweisen etwas anderes sei als aggregierte Verhaltensweisen, ders., Culture and Political Science, Soc. Sc. Qu. 53 (1972), S. 285 (292).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen (2) Inwieweit geht der "homo oeconomicus", nutzenmaximierend wie er sicherlich (auch!) ist, bei allem (noch ungenutzten) Potential der Konzeption der Nutzenmaximierung an den identitären Möglichkeiten handelnder Personen letztlich doch vorbei? Die Erinnerung an den "Kampf aller gegen alle" von T. Hobbes sei nicht verschwiegen, und die Fragestellung von Nutzenmaximierung und Altruismus - verwiesen sei z.B. auf Margolis 844 - erfordert, so scheint es, zumindest ein sehr breites Konzept von Nutzenmaximierung. Inwieweit entsprechen sich die Rationalität der Ökonomie und die Rationalität der Verfassung? (Ihr Schutz der Menschenwürde - koste es, was es wolle - und der Schutz anderer Grundrechte, Garantie von Stabilität und Rechtssicherheit, andere Gerechtigkeitsaspekte wie Praktikabilität und Akzeptanz, auch Sozialstaat und Gewaltenteilung): Es gibt Grenzen für eine Ökonomisierung der Rechtsverhältnisse; sie liegen in den Wertsetzungen der Verfassung! (3) Kann in das ökonomische Kalkül von Kostenrechnung und Nutzenmaximierung der Zeithorizont, können vor allem die Langzeitfolgen menschlichen Handelns in zufriedenstellender Rationalität integriert werden? (4) Geht nicht die Theorie der Verfügungsrechte am "Uraltproblem" der (nicht nur) bürgerlichen Gesellschaft, der gerechten Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, z.B. auch der Arbeit, und dem Schutz des Schwächeren vorbei? Diese Vorteils-/Nachteilsbilanz aus verfassungsrechtlicher Sicht ist aber selbst nichts weiter als eine theoretische und vorläufige juristische Nutzenmaximierung der Theorie der Verfügungsrechte 845. Näheres soll das Folgende zeigen.
844 H. Margolis, Selfishness, Altruism and Rationality. A Theory of Social Choice, 1982, mit der Unterscheidung Nutzen vom Standpunkt reinen Eigeninteresses und Nutzen vom Standpunkt reinen Gruppeninteresses, s. bes. S. 14 ff.: beide Nutzenfunktionen bestimmen die Entscheidung des Individuums. 845 Was im übrigen die interessante Frage nach der wirtschaftlichen Vernunft des BVerfG stellt; für die amerikanische Rechtsprechung ist hier zu differenzieren: zum einen die Untersuchung ökonomischer Effizienz des common law, durchweg mit positiven Ergebnissen: s. z.B. Posner, Economics of Justice, S. 102 ff.; P.M. Rubin, Why is Common Law Efficient, J. of Legal Studies 6 (1977), S. 51 ff, sowie G.L. Priest, The Common Law Process and the Selection of Efficient Rules, J. of Legal Studies 6 (1977), S. 65 ff. ; für das Verfassungsrecht ist die Frage nicht so klar zu beantworten, s. dazu den gründlichen, durch die Untersuchungen zum Common Law initiierten Aufsatz von F.I. Mie he Iman, Constitutions, Statutes, and the Theory of Efficient Adjudication, J. of Legal Studies 9 (1980), S. 431 (445 - mit einer Diskussion unterschiedlicher Ansätze einer ökonomischen Begründung der Verfassung, 455): "... economic reasoning cannot determine constitutional foundations but only at best build upon them" - zum Problem der Meinungsäußerungsfreiheit.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (3) Verfassungsrechtswissenschaft und Theorie der Verfügungsrechte: Fragen, Antworten und Fragen
Eingangs- oder Erstthesen Die Eingangs- oder Erstthesen steuern diesen Abschnitt auf allen Ebenen der Eigentumsproblematik, auf der kulturwissenschaftlichen 846, der verfassungstheoretischen und der grundrechtsdogmatischen; fünf Thesen seien formuliert: 1. Eigentum und Person im kulturellen Kontext: Ausgangspunkt ist weniger eine anthropologisch "naturhafte" Fundierung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Eigenem und Eigentum als die Einsicht, daß die spezifisch kulturelle Ausformung westlicher Verfassungsstaaten ohne Eigentum einzelner (Privater) heute nicht denkbar ist. Die verfassungsstaatliche Verfassung muß den Eigentümern als Menschen unseres Kulturzustandes nehmen; zu seiner Personwerdung gehört die Aneignung und Nutzung von Objekten über gewisse Grundbedürfnisse hinaus. Der Mensch unserer Kulturentwicklung will etwas "sein Eigen" nennen können: Haben-wollen und Haben-können ist insofern ein Stück kulturell geprägten humanen Seins (Art. 1 GG, Menschenwürde, Zusammenhang von Menschenbild und Eigentumsverständnis, "Freiheit aus Eigenem" (H.F. Zacher 847 ). Eigentum als Möglichkeit solcher personaler Selbstverwirklichung (ähnlich der Arbeit) und Eigentum als Sicherheit kommt aber ohne "Du-Bezug" zum Mitbürger nicht aus: dieser ist in einem weiteren und tieferen Sinne "Miteigentümer" (so wie er MY-Freiheit hat, so wie aus Eigentum durch (Mit-)Arbeit anderer Eigentum wird). Konkretes Eigentum und abstrakte Eigentumsgarantie erwachsen erst aus bürgerlichem Miteinander. Der Verfassungsstaat konstituiert und definiert sich selbst, indem er das Eigentum privater einzelner und Gruppen garantiert und im Miteinander seiner Bürger differenziert. Dieser Vorgang ist historisch wie heute letztlich ein kultureller Prozeß; für die "Theorie der kulturellen Evolution" hat F. A. von Hayek an die Rolle der Entwicklung des Sondereigentums erinnert 848 . Das Wagnis der Eigentumskritik, die Fähigkeit zur Eigentumsreform und die Kunst der Eigentumsbewahrung sind unverzichtbare Aspekte verfassungsrechtlicher Eigentumsentwicklung und -bewährung.
846
1979.
847
I.S. der Arbeiten des Verf. seit 1979: beginnend mit "Kulturpolitik in der Stadt",
H.F. Zacher, VVDStRL 39 (1981), S. 388 (Diskussion): "Daß man nur aus dem 'Eigenen' frei leben kann und daß das Leben aus dem 'Zugeteilten' a priori gegen die Freiheit verstößt, dem würde ich nicht zustimmen." 848 F.A. von Hayek , Sitte, Ordnung und Nahrung, FAZ vom 30. Juli 1983, S. 11.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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2. Freiheit, Eigentum und Arbeit als Grundelemente des Gesellschaftsvertrages: Verfassungstheoretisch ist die traditionelle "Freiheits- und Eigentumsklausel" des 19. Jahrhunderts und das klassische Gesellschaftsvertragsmodell mit den zwei Elementen Freiheit und Eigentum zur "Trilogie" oder "Trikolore" des Verfassungsstaates zu erweitern: Freiheit, Eigentum und Arbeit (bzw. ihre Surrogate) sind die Grundpositionen jeden Bürgers in der Verfassung als (Generationen-)Vertrag. Das Modell des Vertrages, d.h. das dynamisch gesehen immer neue Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller Bürger 849 , dieser gelebte Grundkonsens verlangt die Einbeziehung der Arbeit (z.B. als "Staatsziel"). Was historisch Korrektur, ja Provokation am Eigentum als Grundrecht einer bestimmten Schicht (der Gesellschaft der Eigentümer) war Arbeitsrecht, Arbeitsschutz und Sozialversicherung -, ist im heutigen Verfassungsstaat ein Stück "weitergedachter" Freiheits- und Eigentumsformel. O. Neil-Breunings "umfassende und ausbaufähige Interessenverbundenheit zwischen Kapital und Arbeit" 8 5 0 setzt sich grundrechtsdogmatisch ins BVerfGWort vom "funktionell aufeinander Bezogensein" von Art. 12 und Art. 14 GG 851
um Mögen die klassischen Positionen den Bürger als Arbeiter zugunsten des Bürgers als Eigentümer ausgeklammert oder ignoriert haben: der Grundkonsens des heutigen Verfassungsstaates 852, sein sozialer Zusammenhalt basieren auf der Arbeitsbereitschaft des einzelnen und der Verantwortungsbereitschaft der Gemeinschaft als dem Wesen sozialer Solidarität. Die historische Grammatik des bürgerlichen Verfassungsstaates entdeckt eine neue Konjugation: Freiheit, Eigentum und Arbeit sind die "Tätigkeitswörter" des Verfassungsstaates der Gegenwart. 3. Eigentum und Arbeit: Eigentum ist ein Stück "geronnene Arbeit" (G. Dürig) 8 5 3 . Der Faktor Arbeit - Synonym persönlicher Leistung - wirkt dabei in zwei Richtungen: Einerseits erweitert er den Inhalt der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie über die Schleuse persönlicher Leistung, vom besonderen, begrenzten Eigentumsschutz öffentlich- bzw. sozialrechtlicher Positionen bis
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Zur Verfassung als (Generationen-)Vertrag: P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff. m. w. N. sowie oben Sechster Teil V. 850 O. von Nell-Breuning, Arbeitskraft und Kapital für den Partner Unternehmer, Dokumentation eines Referates in FR vom 14. März 1983, S. 14. 851 BVerfGE 50, 290 (365); 84, 133 (157). 852 Grundlegend zur Problematik des Grundkonsenses: U. Scheuner, in: Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 ff. 853 G. Dürig, Der Staat und die Vermögenswerten öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in FS W. Apelt, 1958, S. 13 (31).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
hin zum zeitgemäßen Schutz des geistigen Eigentums; andererseits wirkt der Faktor Arbeit als Begrenzung des Eigentums etwa beim Produktiveigentum, wie das Mitbestimmungsurteil des BVerfG zeigt 854 : die Arbeitswelt strahlt in die Eigentums weit aus! Verfassungsrechtliche Kodifizierungen des Prinzips "Arbeit" (z.B. in den Verfassungen von Bayern und Bremen) 855 aktualisieren insoweit nur eine immer schon existente soziale Eingebundenheit des Eigentums. 4. Die Grundnorm der Wirtschaft: Art. 14 GG ist das Grundrecht des homo oeconomicus und die Strukturnorm des Wirtschaftssystems: Die Grundrechte stellen insgesamt die Normierung der Handlungsmöglichkeiten des Individuums (und der Gruppen) dar: Sie beginnen mit den allgemeinen Prinzipien "Menschenwürde" (Art. 1 Abs. 1 GG) und "allgemeine Handlungsfreiheit" (Art. 2 Abs. 1 GG) und konkretisieren im Anschluß unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, von der religiösen Betätigung (Art. 4) zum Grundrecht des Berufs und der Arbeit (Art. 12), von der Meinungsfreiheit (Art. 5) als dem Grundrecht des Staatsbürgers bis zu Art. 13 GG als dem Grundrecht des Privatbürgers. Art. 14 GG ist die ergebnisorientierte ökonomische "Auffangstation" oder der ökonomische "Appendix" der zuvor geregelten Handlungsmöglichkeiten des Individuums oder der Gruppen (als korporativer Wirtschaftssubjekte). Wo menschliches Verhalten seinen Schwerpunkt im wirtschaftlichen Bereich hat, wo es sich ökonomisch am Ertrag orientiert, da ist Art. 14 GG Thema 856 : Als simultane Strukturnorm des Wirtschaftssystems 854
BVerfGE 50, 290, bes. S. 341, 348 f., 364 f. Vgl. Art. 151 bis 157 Verf. Bayern (1946): "Wirtschaft und Arbeit"; Art. 37 bis 58 Verf. Bremen (1947): "Arbeit und Wirtschaft".- Aus Ostdeutschland: Verf. Brandenburg: 9. Abschnitt: "Eigentum Wirtschaft, Arbeit und soziale Sicherung"; Art. 17 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993); "Arbeit, Wirtschaft und Soziales." - Texte zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995. 856 Das BVerfG kommt dem nahe: vgl. E 30, 292 (335): "Art. 14 Abs. 1 GG schützt das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung, Art. 12 Abs. 1 GG dagegen den Erwerb, die Betätigung selbst"; S. 334: "objektbezogene Gewährleistungsfunktion", S. 335: "sachliches Substrat des ... Gewerbebetriebs".- Die erfolgsorientierte (mikro)ökonomische Deutung des Art. 14 GG schlägt vor allem beim "geistigen Eigentum" durch, vgl. BVerfGE 31, 229 (240 f.): "grundsätzliche Zuordnung des Vermögenswerten Ergebnisses der schöpferischen Leistung an den Urheber"; s. auch E 49, 382 (392).- Bei all dem bleibt Art. 14 GG eine Norm der Verfassung, muß der Schutzgegenstand des Eigentums (verfassungs)rechtlich vermittelt werden, muß es um einen "vorhandenen Vermögenswerten Rechts- oder Güterbestand" gehen (vgl. BVerfGE 45, 142 (171)). Die rechtliche Wertung bleibt bei aller "wirtschaftlichen Betrachtungsweise" (z.B. BGHZ 23, 157 (163): "Wirtschaftlich wertende Beurteilung"; ähnlich BGHZ 45, 150 (154)) dçr "springende Punkt", der die Quantität des Ökonomischen in die Qualität des Eigentumsrechtlichen umschlagen läßt. Ansätze dazu: BVerfGE 28, 119 (142): "Interessen, Chancen, Verdienstmöglichkeiten werden durch Art. 14 GG nicht geschützt"; s. auch E 30, 292 (335); femer BVerfGE 45, 142 (171): "Außerhalb des von der Eigentumsgarantie 855
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen bildet er das Programm wirtschaftlich sinnvollen, "erfolgreichen" Handelns. Insofern ist die "wirtschaftliche Betrachtungsweise" Art. 14 GG immanent; er bildet die grundrechtliche Kontaktnorm zum Ökonomischen und den Eckstein der "Dezentralisierung der Verfügungsrechte" (F. A. von Hayek) 857 . 5. Das in sich ausdifferenzierte Eigentum i.S. der Verfassung: Die verfassungsstaatliche Eigentumsentwicklung befindet sich auf dem Weg des Wandels weg von der traditionellen Technik der Beschränkung eines mehr oder weniger vorgegebenen ("bürgerlichen") Eigentumsbegriffs hin zum in sich ausdifferenzierten offenen Eigentumsbegriff der Verfassung; er teilt ihren Prozeßcharakter. Es gibt insofern nicht "das" Eigentum im Singular, es gibt vielmehr verschiedene Arten von Eigentum Privater "schon" auf Verfassungsebene: Eigentum im Plural 858 . Diese Ausdifferenzierung wird erarbeitet durch: a) andere Normen des GG, sowohl aus dem Bereich der Grundrechte (Art. 1 und Art. 2 - Persönlichkeitsnähe -, Art. 12 - Beruf und Arbeit, Art. 5 Abs. 3 Wissenschaft und Kunst) als auch durch die Integrierung der eigentumsmitbestimmenden Kompetenznormen in die Interpretation des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffes: Art. 74 Ziff. 11, 12, 16 - Wirtschaftseigentum -, Art. 74 Ziff. 18, 75 Ziff. 4 Bodeneigentum -, Art. 73 Ziff. 9 - geistiges Eigentum ("mittelbare Eigentumsartikel"), b) durch die sonstige einfachgesetzliche Gesetzgebung: Wirtschafts- und Kartellrecht, Bodenrecht, Arbeits-, Sozial- und Betriebsverfassungsrecht, Urheber· und Patentrecht usw., c) durch die deutschen Länderverfassungen, die jenseits des Satzes "Bundesrecht bricht Landesrecht" Fragen ganz eigener Art an den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff stellen: Art. 161 Abs. 2 Verf. Bayern - Nutzbarmaumfaßten Gewerbebetriebs in seiner konkreten Gestaltung verbleiben aber die Gegebenheiten und Chancen, innerhalb derer der Unternehmer seine Tätigkeit entfaltet." Vgl. vor allem die Rechtsprechung des BVerfG (E 51, 193 (218 m.w.N.)), wonach bei der Frage, "welche Vermögenswerten Rechte als Eigentum i.S. des Art. 14 GG anzusehen sind, auf den Zweck und die Funktion der Eigentumsgarantie unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge der Verfassung abgestellt werden" muß. Zuletzt E 83, 201 (208). 857 Vgl. von Hayek , aaO.: "... daß die unter Millionen von Menschen verstreuten Kenntnisse der konkreten Umstände von Ort und Zeit nicht durch Zentralisierung dieser Kenntnisse, sondern nur durch Dezentralisierung der Verfügungsrechte unter jene genützt werden können ..., wenn ihnen die Marktpreise sagen, wie wichtig die verschiedenen Informationen sind." 858 Diese Eigentumsdifferenzierung zeigt sich sowohl am institutionellen Neben- und Unterbau der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie als auch in jenen Konkretisierungen, die durch die Rechtsprechung, die Verfassungsrechtswissenschaft und durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit geleistet werden.
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chung einer nicht aus Arbeit oder Kapitaleinsatz entstandenen Steigerung des Bodenwertes für die Allgemeinheit; Art. 47 Abs. 2 Verf. Hessen - besondere Berücksichtigung erarbeiteten Vermögens und Einkommens bei der Besteue859
rung ; Art. 40 Verf. Brandenburg: Nutzung des Bodens ist "in besonderem Maße den Interessen der Allgemeinheit und künftigen Generationen verpflichtet"; Art. 31 Abs. 1 S. 2 Verf. Sachsen (1992): Der Gebrauch des Eigentums soll "insbesondere die natürlichen Lebensgrundlagen schonen", d) durch die Rechtsprechung in ihren großen und kleinen Entscheidungen: "Situationsgebundenheit" des Eigentums (BGH), besondere Behandlung von Grund und Boden, der "weder volkswirtschaftlich noch in seiner sozialen Bedeutung mit anderen Vermögenswerten ohne weiteres gleichzustellen ist" (BVerfG) 860 , e) durch die Rechtswissenschaft in ihrer vom Druck richterlichen Entscheiden-Müssens entlasteten systematischen Tätigkeit, f) durch die (organisierte und nichtorganisierte) gesellschaftliche Öffentlichkeit: Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Klassiker(texte) und der einzelne Bürger als gleichberechtigte Mitglieder der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (z.B. Ο. v. Neil-Breunings "uralte Frage nach der eigentumsschaffenden Kraft der Arbeit" 8 6 1 ). Erst und eben diese vielfältige Differenzierung sichert jene feine Differenziertheit, die den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff angesichts neuer (und alter) Knappheiten zu einem verfassungs- (und wirtschafts-)gerechten Eigentum macht 862 .
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Eine Einbeziehung landes verfassungsrechtlicher Normen im Blick auf (auch) bundesverfassungsrechtliche Fragen in meinem Diskussionsbeitrag: VVDStRL 39 (1981), S. 406. Vgl. auch H.P. Ipsens Hinweis (ebd. S. 367 f.): "sie (sc. die Bestimmung nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) ist eine qualitative mit der besonderen Freiheit des Gesetzgebers, auch in den Eigentumsarten zu differenzieren, z.B. ererbtes Eigentum steuerlich anders zu behandeln als normal erworbenes ...". 860 Vgl. BGHZ 73, 161 (169 f.); 77, 351 (353 f.) bzw. BVerfGE 21, 73 (83) - hier der im Text zit. Passus - sowie BVerfGE 58, 300 (335): "Belange der Allgemeinheit - in die vor allem jeder Grundstückseigentümer eingebunden ist. 861 Differenzierte Antwort bei O. von Nell-Breuning, Über das Lohnarbeitsverhältnis hinaus?, in: FS W. Herschel, 1982, S. 303 (304 ff.). 862 Das Postulat der Gerechtigkeit bringt das BVerfG für die Eigentumsordnung immer wieder ins Spiel, vgl. E 21, 73 (83); 25, 112 (117); 37, 132 (140) m.w.N.; 52, 1 (29, insbes. 33); 55, 249 (258); 56, 266 (275): SV Dr. Böhmer, 84, 90 (121).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen (4) Kulturwissenschaftliche Rekonstruktion des Eigentumsbegriffs (a) Explikation des Ansatzes "Verfassung" - als Ergebnis mehrjähriger Arbeit 8 6 3 - sei verstanden als konkreter Kulturzustand und Kulturprozeß, der weit über das juristische Regelwerk hinausgreift und auch dem Irrationalen im Handeln der Bürger Platz einräumt. Verfassungsrechtliche Begriffe sind also kulturell geprägt und kulturwissenschaftlich rekonstruierbar 864. Gerade die Verfassungsgeschichte kann diese offenlegen bzw. leisten. Eingrenzung des Gegenstandes: Als Teil einer kulturwissenschaftlichen Rekonstruktion des Eigentumsbegriffs wäre es an dieser Stelle notwendig, geistesgeschichtlich die Relevanz von Klassikertexten 865 (und "Gegenklassikern") 866 als kulturelle Determinanten der Eigentumsentwicklung darzutun, speziell von J. Locke, eines Wegbereiters des Verfassungsstaates, der unter "property" nicht nur Eigentum, sondern auch "Leben und Freiheit" verstand: "a mutual preservation of their lives, liberties and estates, which I call by the
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P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979; Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 ff; Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, (Vorauflage) 1982; Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997). 864 Einschlägig wäre auch die Aufarbeitung des Eigentumsverständnisses in der (neueren) katholischen Soziallehre (Stichworte: naturrechtliches Verständnis des "Rechts zum Besitz privaten Eigentums", "Individual- und Sozialnatur des Eigentums", breitere Streuung des Eigentums, Hochstufung der Arbeit, vgl. Texte zur katholischen Soziallehre, 5. Aufl. 1982) sowie in der Denkschrift der EKD ("Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung", 1962). Als "Rohmaterial" für eine kulturwissenschaftlich nachgezeichnete Eigentumsentwicklung erweisen sich auch Teile der Programme politischer Parteien als ungemein aussagekräftig (vgl. die Texte bei R. Kunz/H. Maier/T. Stammen, Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1975). Hier ist jedoch nur eine verfassungsgeschichtliche, im Lichte der Property Rights-Lehre "aufgehellte" Rekonstruktion des Eigentumsbegriffs möglich, die an der Schwelle zur Gegenwart zugleich Element der verfassungsrechtlichen Konstruktion des verfassungsstaatlichen Eigentums heute wird. 865 Dazu mein Berliner Vortrag: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, sowie Fünfter Teil VIII. 866 Ein Beispiel fur das Zitat eines einschlägigen "Gegenklassikers": K. Marx, Das Elend der Philosophie, 6. Aufl. 1919, S. 141: "Eine Definition des Eigentums als eines unabhängigen Verhältnisses, einer besonderen Kategorie, einer abstrakten und ewigen Idee geben zu wollen, kann nichts anderes sein als eine Illusion der Metaphysik oder der Jurisprudenz." - Aus der Lit.: P. Gey, Der Begriff des Eigentums bei Karl Marx, 1980.
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general name property" 867 , und der (nach Macpherson) 868 darauf beharrt, daß die Arbeitskraft eines Menschen sein eigen sei. Die naturrechtliche, individualbezogene Begründung von Privateigentum aus Arbeit geht auf ihn zurück (J. Meyer-Abich) 869 . (b) Konstanten und Varianten verfassungsstaatlicher Textstufen der Eigentumsentwicklung
Eigentumsgarantien:
Die Eigentumsgarantie ist klassischer Bestandteil des Typus "Verfassungsstaat", sie hat dessen Wachstumsprozesse auf ihre Art auch in entsprechenden Wandlungen der Eigentumsgarantie mitgemacht. Die Überlegungen zur - und gegen die - Theorie der Verfügungsrechte strukturieren die folgenden Erwartungen in mehrfacher Hinsicht: Als erstes Potential des Ansatzes vermuteten wir die Möglichkeit der ökonomischen Nachschreibung von Rechtsgeschichte; diese Geschichte der Ausdifferenzierung immer neuer Rechtskomponenten müßte im historischen Verfassungsvergleich sich als Ausdifferenzierung der Eigentumsgarantie bemerkbar machen. Die zweite mit der Theorie der Verfügungsrechte parallel laufende Vermutung betraf die Endogenisierung exogener Größen wie etwa der Umwelt oder auch der kulturellen Eingebundenheit von Eigentum: Die Textbewegung des historischen Verfassungsvergleichs müßte also, neben der Ausdifferenzierung des "bekannten" Eigentums auch eine Integration "neuer Werte" - d.h. knapper Ressourcen - zeigen. Drittens bestand einer unserer Vorbehalte im (möglichen) Auseinanderfallen von ökonomischer Effizienz und Gerechtigkeit. Da die Sozialgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte um das Problem der gerechteren Verteilung gesellschaftlichen Reichtums kreist, bietet sich eine "Vermutung der Zähmung" und sozialen Einbindung des Eigentums an 8 7 0 . Als zusätzlichen Merkposten behalten wir
867 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (ed. W. Euchner), 1977, Second Treatise: § 123. 868 C.B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 2. Aufl. 1980, S. 249. 869 J. Meyer-Abich, Der Schutzzweck der Eigentumsgarantie, 1980, S. 28 ff. 870 Siehe z.B. Art. 160 Abs. 2 BayV (1946): Verstaatlichungsmöglichkeiten ("Gemeineigentum"); Art. 161 Abs. 2: Nutzbarmachung von Bodenwertsteigerungen ohne Arbeit für die Allgemeinheit; Art. 41, 42, 45 Verf. Bremen (1947): Unzulässigkeit von Monopolen/Sozialisierung/Bodenreform; ähnl. Art. 39, 41, 42 Verf. Hessen (1946); Art. 27, 24 Abs. 1 S. 2 (Vorrang der Arbeitskraft) Verf. Nordrh.-Westf. (1950); Art. 51 Abs. 1, 61, 62, 64 Verf. Rheinl.-Pfalz (1947) - s. aber ebd., Art. 60 Abs. 1 S. 1: Eigentum als Naturrecht; Art. 43 Abs. 2, Art. 52 Verf. Saarl. (1947); Art. 8 Abs. 2, 20--24 Verf. Württ.-Bad. (1946); Art. 15, 98, 99 Verf. Württ.-Hohenzollern (1947); Art. 15; 45, 46, 47 Verf. Baden (1947), zuletzt Art. 41 Abs. 5 Verf. Brandenburg (1992), Art. 32
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen dabei die historische Kontextgeprägtheit von Verfassungstexten als gewisse Relativierung der Textstufenanalyse im Auge: man denke an die "sozialistischen Elemente" der deutschen Länderverfassungen nach dem 2. Weltkrieg 871 . Die "Primärverteilung" des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs des bürgerlichen Staates normiert das Eigentum als grundlegendes Menschenrecht und Strukturprinzip des bürgerlichen Rechtsstaates; seine Grenzen hat es nicht in konkreter Sozialbindung, sondern nur in den anderen grundlegenden Werten der Verfassung wie Gleichheit, Freiheit und (vernachlässigt) Brüderlichkeit (Schwesterlichkeit). Das Eigentum gilt, soweit es gilt, schrankenlos ("absolut"); es kann jedoch - gegen angemessene Entschädigung entzogen werden. Bemerkenswert ist im übrigen die Absage an die Sozialbindung der Vergangenheit, an 872
die feudalistischen Beschränkungen bürgerlicher Eigentumsfreiheit . Vor allem in der 2. Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die unbeschränkte Eigentumsgarantie in der Folge der wirtschaftlichen und Abs. 2 Verf. Sachsen (1992). Die Länderverfassungen sind zitiert nach C. Pestalozza, aaO., sowie B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, 1948. 871 Zum Staatsbild der Länderverfassungen nach 1945 s. die gleichnamige Schrift von B. Beutler, 1973. 872 Klassisch hier, sowohl bezüglich der unbeschränkten Geltung als auch der Enteignungsmöglichkeit, Art. 17 Erklärung der Menschenrechte von 1789: "Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem entzogen werden, es sei denn, daß die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit es klar erfordert und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung"; im übrigen stellt sich das Eigentum auch als eine Prämisse des politischen Zusammenschlusses dar, Art. 2 ebd.: "Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen die Unterdrückung." (Ähnl. auch Art. 2 Verf. 1793.) Diese unbeschränkte Eigentumsgarantie findet sich weiter in Art. 9 französische Charte von 1814, Art. 63 des acte additionnel von 1815, Art. 8 Verf. 1830, Art. 11 Verf. 1848; Art. 11 belgische Verf. von 1831; § 30 Verf. Württemberg von 1819; § 164 Paulskirchenverf. vom 1849; Art. 16 Verf. Luxemburg von 1868; Art. 165 Verf. Niederlande von 1815; Art. 31 Abs. 1 Verf. Sachsen von 1831.- Absagen an die feudalistische Vergangenheit finden sich z.B. in § 166 Verf. Paulskirche von 1849: "Jeder Untertänigkeits- und Hörigkeitsverband hört für immer auf'; s. a. ebd., § 169 Abs. 1: "Im Grundeigentum liegt die Berechtigung zur Jagd auf eigenem Grund und Boden"; ähnl. z.B. § 33 Abs. 1 Verf. Hessen (1831); vgl. auch Art. 7 österreichisches Staatsgrundgesetz von 1867: Aufhebung von Hörigkeit und Schuldigkeit auf Liegenschaften. Die Texte (hier sowie in der Folge) sind zitiert nach: J. Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979; P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975; E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961; Bd. 3, 1966; O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetz des Deutschen Reichs und der Deutschen Länder, 1926; B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, 1948; A. Thomashausen, Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Portugal, 1981; A. Weber, Die Spanische Verfassung von 1978, JöR 29 (1980), S. 252 ff.; Text der griechischen Verfassung: JöR 32 (1983), S. 361 ff.
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sozialen Entwicklung dysfunktional: Sie wird auf unterschiedliche Weise abgeschwächt, ausdifferenziert und sozial eingebunden. Hier sind mehrere Entwicklungsstränge zur Verwirklichung verschiedener Zielvorstellungen zu unterscheiden. Das erste Ziel ist die Anpassung des Eigentums an die Bedürfhisse eines funktionierenden Marktes, also das, was die Theorie der Verfügungsrechte untersucht: Dies wird zunächst dadurch erreicht, daß dem Staat eine 873
einfachgesetzliche Ausgestaltungsbefugnis eingeräumt ist, und später durch eine Betonung der wirtschaftlichen Einbindung: sei es durch eine Normierung als wirtschaftliches Grundrecht, sei es durch Regelung in Wirtschaftskapiteln 8 7 4 . "Unökonomisches" Eigentümerverhalten und der Versuch der Vermeidung "ungerechter" Eigentumsnutzung führen in einer zweiten Textstufe, gegenüber der Möglichkeit gesetzlicher Ausgestaltung nur leicht verschoben, zu sozialen Bindungsklauseln mit der allgemeinen Verpflichtung daß der Gebrauch des Eigentums nicht "sozial schädlich" sein dürfe 875 i 7 6 . Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums erfährt in der Folge als dritte Textstufe zwei zu873 Diese allgemeine gesetzliche Ausgestaltungsbefugnis wird oft auch nur in Nebensätzen erwähnt; vgl. z.B. Art. 59-61 Verf. Württ. (1919); Art. 43 Verf. Irland (1937); Art. 42 Verf. Italien (1947); Art. 33 Abs. 2 Verf. Spanien (1978); Art. 21 Verf. Aargau (1980); Art. 12 Nr. 1 Verf. Kanton Jura (1977).- Deutlich Art. 18 Abs. 1 S. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1992). 874 Siehe z.B. die Verf. Italien: Wirtschaftsteil; Verf. Portugal (1976); Kap. "wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten; Weimarer Reichsverfassung: "Das Wirtschaftsleben"; Verf. Danzig (1920/22): "Wirtschaftsleben"; Verf. Württ. (1919): "Wirtschaftsleben"; Verf. Bay. (1946) / Verf. Saarl. (1947) / Verf. Württ.-Bad. (1946) / Verf. Württ.-Hohenzollern (1947) / Verf. Bremen (1947): Doppelte Normierung im Kapitel über die Grundrechte und Grundpflichten sowie im Kapitel über "Wirtschaft und Arbeit". Verf. Hessen (1946): "Wirtschaftliche Rechte und Pflichten"; Verf. Nordrh.-Westfalen (1950): "Arbeit und Wirtschaft"; Verf. Rheinl.-Pfalz (1947): "Wirtschafts- und Sozialordnung". 875 Ein sehr frühes Beispiel der Normierung von Sozialpflichtigkeit s. in Art. 8 Verf. Frankreich (1795) - die Regelung des Eigentums im Kapitel über die Pflichten; s. im übrigen Art. 33 Abs. 2 Verf. Spanien (1978); Art. 14 Abs. 2 GG; 17 Verf. Griechenland (1975); Art. 43 Abs. 2 Verf. Irland (1937); Art. 2 Abs. 4 VE Schweizer Totalrevision (1977); Art. 30 f. Charta der Spanier (1945/1967); Art. 44 Verf. Italien (1947) - Bodenverteilung zur Schaffung gerechter sozialer Verhältnisse; ähnl. auch (als Teil einer Enteignungsklausel) § 10 Verf. Mecklenburg-Schwerin (1920); s.a. Art. 12 Abs. 1 Verf. Kanton Jura (1977): private und soziale Funktion; Art. 36 Verf. Frankreich (1946). 876 ...- bis hin zu Sozialisierungsmöglichkeiten: Art. 15 GG; deutsches Sozialisierungsgesetz vom 23. 3. 1919 (also vor der Weimarer Reichsverfassung); Art. 43 Verf. Italien (1947); Präambel der Verf. von Frankreich von 1946; Art. 50, 82 Abs. 2, 85, 96, 99, 107 Abs. 3 Verf. Portugal (1976); Art. 7 Ziff. 13 WRV - Kompetenzen zur Vergesellschaftung von Bodenschätzen; §§ 59 f. Verf. Württ. (1919); Art. 160 Abs. 2 Verf. Bay. (1946); Art. 39 f. Verf. Hessen (1946); Art. 24 Abs. 1 S. 2, Art. 27 Verf. Nordrh.Westf. (1950); Art. 61, 62, 64 Verf. Rheinl.-Pfalz (1947); Art. 52 Verf. Saarland (1947); Art. 98, 99 Verf. Württ.-Hohenzollern (1947); Art. 45, 46, 47 Verf. Baden (1947).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen sätzliche Konkretisierungen: Zum einen - dies ist die zuerst erkannte Knappheit - wird das Eigentum kulturell eingebunden (Denkmalschutzklauseln, kulturelles Erbe-Klauseln) 877 . Die nächste erkannte Knappheit sind Umwelt und Natur mit entsprechenden Beschränkungen fur das Eigentum oder auch der Normierung eigener "Umweltrechte", nicht überraschend nur in recht neuen Verfas878
sungen Die Textstufenfolge (z. T. in Form einer "Wanderung" vom Grundrechts- in andere Teile) von unbeschränktem Eigentum/Ausgestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers/allgemeiner Sozialbindung/spezifischer Sozialbindung ist indes nicht die alleinige Technik der Ausdifferenzierung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs. Parallel läuft eine Ausdifferenzierung nach besonderen Eigentumsobjekten einerseits (Stichwort: Grund und Boden, Produktiveigentum, persönlich genutztes Eigentum) 879 und eine Relativierung der Kraft des Grundrechts andererseits 880 (Stichwort: Normierung beschränkender Grundrechte, Recht auf Wohnung; Normierung beschränkender Strukturprinzipien, Begrenzung wirtschaftlicher Macht im politischen Bereich) 881 . Besondere Er877
Siehe z.B. die Denkmalschutzklauseln (die interessanterweise oft auch allgemeine Naturschutzklauseln oder auch Naturschutzklauseln bzgl. besonderer landschaftlicher Schönheiten enthalten) in Art. 150 WRV; Art. 109 Abs. 1 Verf. Danzig (1920/22); Art. 34 Abs. 2 S. 1 Verf. Saarland (1947); Art. 40 Abs. 3 Verf. Rheinl.-Pfalz (1947); Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien (1947); Art. 24 s e x , e s Abs. 3 Verf. Schweiz.- Auch die Klauseln gegen eine Abwanderung von Kulturgut ins Ausland werden z.T. in den Grundrechten, öfter aber in den Kompetenzvorschriften geregelt: Zu einer Regelung direkt beim Denkmalschutz s. Art. 109 Abs. 2 Verf. Danzig (1920/22). 878 Zu Umwelt-Natur-Schutzvorschriften s. z.B. Art. 109 Verf. Danzig (1920/22); Art. 34 Verf. Saarland (1947); Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien (1947); Art. 24 s e x , e s Abs. 3 Verf. Schweiz.- Art. 39 Abs. 7 S. 2 Verf. Brandenburg (1992); Art. 31 Abs. 2 S. 2 Verf. Sachsen (1992); Art. 18 Abs. 2 S. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1992). 879 Zur Sonderbehandlung von Grund und Boden - dies kann von einer Bodenreform bis hin zur besonderen Beziehung von "Bauer und Scholle" reichen - s. z.B. Art. 96, 99 Verf. Portugal (1976): Bodenreform; Art. 155 f. WRV: S. a. die kompetenziellen Möglichkeiten in Art. 10 Ziff. 4 WRV; Art. 111 Verf. Danzig (1920/22); Art. 161 f. Verf. Bay. (1946); Art. 60 Verf. Württ. (1919) "volkswirtschaftlich schädlicher Großgrundbesitz"; Art. 44 Verf. Italien (1947); Art. 12 Nr. 5 Verf. Kanton Jura (1977). 880 Zur Einbindung des Eigentums in das Wirtschaftssystems s. BVerfGE 30, 292 (334 A); auch E 31, 229 (240 f.); E 49, 382, (392); E 45, 142 (171); zuletzt E 83, 201 (208). 881 Siehe z.B. Art. 151 WRV: Gerechtigkeit/menschenwürdiges Dasein und dann in der Folge, Art. 153 f., die unterschiedlich gebundenen Eigentumsartikel; Art. 111 Verf. Danzig, Art. 155 Abs. 3 WRV, Art. 45 Ziff. 4 Verf. Bremen: allgemeine Nutzbarmachung von Wertsteigerungen von Grund und Boden ohne Arbeit, d.h. aber: höhere Wertung des Prinzips Arbeit; ähnl. für die persönliche Beziehung zu Grund und Boden die Art. 163 f. Verf. Bay. (1946); deutlich auch die prägende "Würdeklausel" (für die Wirtschaftsordnung) in Art. 27 Verf. Hessen; besonders klar die Höherbewertung der Arbeitskraft gegenüber dem materiellen Besitz in Art. 24 Abs. 1 S. 2 Verf. 61 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
wähnung verdient die Aufwertung der Arbeit, sei es als "Gegenprinzip" zum Eigentum wie schon im deutschen Vormärz, sei es auch als eigens eingeführtes Bewertungskriterium für die Persönlichkeitsnähe des Eigentums 882 . Eine Sonderstellung nimmt das geistige Eigentum ein, sowohl ökonomisch als auch juristisch. Die kodifikatorische Entwicklung des geistigen Eigentums ist (vielleicht) paradigmatischer Vorgriff auf die textliche Entwicklung eines Grundrechts der Arbeit in westlichen Verfassungen. Die Entwicklungsstufen lauten: textliche Nichtberücksichtigung/interpretative bzw. einfachgesetzliche Erschließung/Berücksichtigung in besonderen Grundrechten wie etwa der Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Erfindertum. Simultan mit dem Schutz geistigen Eigentums entsteht zunächst eine kulturelle Bindung, die der Allgemeinheit Zugang zu "ihrer" Kultur sichert, und, jetzt noch ganz in den Anfängen, eine "haftungsähnliche Sozialbindung": man denke an die Bemühungen einer rechtlichen Erfassung "gefährlicher" Erkenntnisse der Wissenschaft 883. Der historische Verfassungsvergleich hat die eingangs geäußerten drei Hypothesen bestätigt. Die Textstufen der Eigentumsgewährleistung in den westlichen Verfassungsstaaten zeigen scheinbar eine Entwicklung vom unbeschränkten zum beschränkten Eigentum: in Antwort auf die Erfordernisse des Wirtschaftssystems einerseits, auf die Umverteilung gesellschaftlichen Reich-
Nordrh.-Westf. (1950); s. im übrigen noch Art. 43 Abs. 2 Verf. Saarl. (1947); Art. 8 Abs. 2 Verf. Württ.-Baden (1946): besonderer Schutz für "durch Arbeit und Sparsamkeit" erworbenes Eigentum. 882 Siehe z.B. Abschnitt IV der Präambel der Verf. von Frankreich von 1848: Arbeit und Eigentum (neben anderen Grundwerten wie Familie usw.) als den Grundprinzipien des Staates; s. weiter die Beschlüsse des Vorparlaments der Frankfurter Paulskirche (1848), Art. 10 des Programms der südwestdeutschen Demokraten vom 10. Sept. 1847, sowie das Manifest des Berliner Arbeiterkongresses an die deutsche Nationalversammlung 1848 (zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 1, 1961); s. in der italienischen Verf. von 1947 die Priorität der Arbeit unter "wirtschaftlichen Beziehungen". Interessant auch Art. 1 Abs. 1 S. 1 des vor der WRV ergangenen "deutschen Sozialisierungsgesetzes" vom 23. März 1919; aus der Zeit der WRV bemerkenswert Art. 113-115 Verf. Danzig (1920/22) sowie §§ 59, 61 Verf. Württ. (1919). Aus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart s. z.B. Art. 28-37 Verf. Hessen (1946); Art. 20-24 Verf. Württ.-Baden (1946); Art. 51-61 Verf. Portugal (1976). 883 Zum geistigenfeigentum s. z.B. Art. 158 Abs. 1 WRV; Art. 162 Bay Verf. (1946); Art. 16 Verf. Baden (1947); Art. 46 Verf. Hessen (1946); Art. 40 Verf. Rheinl.-Pfalz; s. aber auch die Bindungsklauseln "Einschränkungen und Entziehungen" ebd., Art. 60 Abs. 3 S. 1, 2; besonders interessant und früh die Bindung in Art. 12 Abs. 2 Verf. Bremen (1947): "Zum Schutz der menschlichen Persönlichkeit und des menschlichen Zusammenlebens..." - ein Vorläufer des umstrittenen § 6 HUG (dazu BVerfGE 47, 327). Aus der Lit.: P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Gehalt geistigen Eigentums, FS Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1639 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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turns andererseits. Das Spezifische der verfassungsrechtlichen Garantie des Eigentums besteht in einer Delegation der Problematik ökonomischer Rationalität an den Alltag, d.h. an den einfachen Gesetzgeber und vor allem an die ökonomisch (hoffentlich) rational handelnden Subjekte des Wirtschaftssystems. Die Verfassungen, das zeigen die Textstufen, setzen hier nur allgemeine Richtlinien etwa durch Normierung von Sozialpflichtigkeit und Ausgestaltungsbefugnissen. Ist die ökonomische Rationalität der handelnden Wirtschaftssubjekte fragwürdig, dann können Verfassungen, können Verfassungsgerichte oder Rechtswissenschaft als Promotoren des Verfassungswandels durch klare Akzentsetzung - man denke an Umweltschutz oder kulturelle Bindungsklauseln - die ökonomische Rationalität mit der verfassungsrechtlichen auffrischen. (5) Das "optimale Modell" verfassungsrechtlicher Eigentumsgarantien, ihre dreifache Verankerung "Optimale" Eigentumspolitik auf Verfassungsebene - schließlich ist die Formulierung "guter" Normtexte vorrangige Juristenpflicht - sollte m. E. in dreifach differenzierter Gestalt geschehen: (1) Das Eigentum Privater hat seinen ersten Platz im klassischen Grundrechtsteil fast klassizistisch 884 zu behaupten. Darin kommt sein personaler Aspekt in der Dimension von Menschenwürde und Freiheit zum Ausdruck ("Eigentum als Freiheit"), aber auch ein Verständnis von Verfassung als Normierung des politisch Wichtigen. Für eine Normierung des Eigentums "erst" am Schluß der anderen speziellen Freiheitsrechte (wie im GG) spricht die These vom Eigentum als (Auffang-)Garantie des wirtschaftlichen Erfolges (Ertrages) menschlichen Verhaltens. Rechtstechnisch gebührt dem Eigentum primär die Gestalt eines subjektiven Abwehrrechts bzw. einer objektiv-rechtlichen Garantieform, während die Gestalt des Eigentums als Verfassungsauftrag (i.S. von "breiter Eigentumsstreuung") eher in spätere Abschnitte (wie "Wirtschaft und Arbeit") gehört (z.B. Art. 41 Abs. 3 Verf. Brandenburg von 1992). (2) Ein zweiter Platz gebührt dem Eigentum seiner differenzierten Struktur und Funktion gemäß im Abschnitt "Wirtschaft und Arbeit". Vorbild ist hier die Bayerische Verfassung (1946: elementare Eigentumsregelung im Grundrechtsteil/spezielle Fragen im 4. Hauptteil "Wirtschaft und Arbeit"). Inhaltlich ist diese zweite Eigentumsplazierung aus doppeltem Grund geboten: zum einen, 884 "Klassizistisch" ist die Eigentumsplazierung im herkömmlichen Grundrechts- und neuen Wirtschafts-, Arbeits- und Kulturteil der Verfassungen (wie in Bayern, 1946, und im Saarland, 1947).
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
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weil die Eigentumsgarantie auch Strukturnorm
der Wirtschaft ist (i.S. G. Mül-
88S
lers "Ansporn- und Dezentralisierungsfunktion" ). Der andere Grund ist der Zusammenhang von Eigentum und Arbeit (Regelungen wie die Künstlersozialversicherung werden so verständlich 886 ). (3) Der dritte und (vorläufig) letzte Ort ist der Abschnitt "Kultur". Zwei Problemfelder sind zu unterscheiden: Zum einen der sinnvolle Schutz der "Kreativität", das geistige Eigentum (s. Art. 40 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz, Kap. "Kulturpflege"). Schon der zur Schutzfristengrenze des geistigen Eigentums verdichtete "Kulturvorbehalt" lenkt den Blick auf den anderen, nicht minder intensiven Zusammenhang von Eigentum Privater und Kultur. Das kulturell spezifisch geschützte bzw. eingebundene Eigentum als spezielle Eigentumsart verlangt einen "besonderen" Platz. Gemeint ist das Eigentum Privater an besonders exponierten Kulturgütern (z.B. Denkmalschutz, Schutz natio887
nalen Kulturgutes gegen Abwanderung) . Die Natur - heute selbst zum Kulturgut geworden - gehört in Gestalt von Natur- und Landschaftsschutz ebenfalls hierher. Nur diese dreifach differenzierte Verankerung des Eigentums wird seiner historischen Entwicklung, seinen mannigfachen Funktionen und heutigen Herausforderungen (etwa im Arbeits- und Kulturbereich) gerecht. Das hier entworfene "optimale" Modell sucht den Grundsatz der Differenzierung des Eigentums Privater, seine historisch beschreibbaren und wirtschaftswissenschaftlich erklärbaren Entwicklungen vom Eigentum im Singular zum Eigentum im Plural zu verbinden mit dem notwendigen Mindestmaß an Einheitlichkeit des Eigentums "i.S. der Verfassung". (Eine beispielhafte, nicht erschöpfende Aufzählung verschiedener Eigentumsarten empfiehlt sich.) Insgesamt im Rückgriff auf J. Locke weitergedacht: Property als Leben, Freiheit, Eigentum und Arbeit sowie als Teilhabe an Natur und Kultur.
885
(76 f.). 886
G. Müller,
Privateigentum heute, Schweizer Juristenverein 115 (1981), S. 13
Sie gehört in das Kraftfeld (geistiger) Arbeit, d.h. des Art. 12 und 5 Abs. 3 GG sowie der Kulturstaatsklausel einerseits, in ihrem wirtschaftlichen Substrat in das des Art. 14 GG i. V. m. Art. 20, 28 GG (Sozialstaat) andererseits. 887 Vgl. Art. 141 Verf. Bayern, Art. 75 Abs. 1 Ziff. 3 GG bzw. Art. 75 Abs. 1 Ziff. 6 GG.- S. auch Art. 11 Abs. 3 S. 2 Verf. Sachsen (1992): "Für ihr Verbleiben (sc. der Denkmale und anderer Kulturgüter) in Sachsen setzt sich das Land ein".
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen (6) Schlußthesen und Schlußftagen: Ausblick Eigentum ist ein Ordnungsprinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen: Stellt man sich die Gesellschaft als tabula rasa vor und denkt man dementsprechend über Äquivalente des Ordnungsprinzips "Eigentum" nach, so wird offensichtlich, daß (ein) Kern des Problems die Zuordnung von Handlungsmöglichkeiten ist. Die Alltagsassoziation des Eigentums mit dem "Haben" erinnert, so gesehen, ein wenig an das Höhlengleichnis von Plato: Die soziale Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit läßt uns die Gestalt Eigentum/Handlungsmöglichkeiten auf dem Kopf stehend sehen. Es ist ein Verdienst der Theorie der Verfügungsrechte, ganz "unkompliziert" sich um das ökonomische Substrat des Eigentums zu bemühen und auch beiläufig einen Teil seines sozialen Substrats zu benennen. Als kostenlose und daher umso erfreulichere (!) Beigabe liefert sie uns die Möglichkeit, die gesamtgesellschaftlichen Kosten dieser Zuordnung von Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen und, sofern keine anderen Gesichtspunkte dagegen streiten, entsprechend zu verteilen. Es scheint eine Eigenart der Juristen zu sein, oft das Richtige zu tun, ohne eigentlich zu wissen, warum. Für den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff gilt dies in mehrfacher Weise: Zum einen segelt unter der scheinbar falschen Flagge eines einheitlichen Eigentumsbegriffs ein Bündel je funktional sinnvoll eingebundener Handlungsmöglichkeiten; die Theorie der Verfügungsrechte liefert simultan eine rechtfertigende Genealogie der Flaggenbenutzung und eine ökonomisch rationale Konstruktion des schwimmfähigen Schiffskörpers. Zum anderen gilt das aber auch für die im weiten Sinne sozialen Unter-, Ober- und Nebentöne des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs: Das Eigentumselement "Haben" ist, sicherlich geleitet vom für das Ungleichgewicht der sozialen Wirklichkeit sensiblen "Gerechtigkeitsjudiz", durch die Untertöne der Arbeit, die Obertöne der Kultur und die Zwischentöne von Umwelt und Natur sozial eingebunden und harmonisiert worden. Das so erreichte Gleichgewicht ist gewiß letztlich nicht völlig ausgewogen und durch die sozialen Probleme der Gegenwart - vordergründig vor allem Arbeit und Umwelt, hintergründig die in der Moderne kaum noch zu lösende Sinnfrage - immer neu bedroht. Versteht man Verfassung als die Grundordnung von Staat und Gesellschaft, so ist der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff eine soziale Kategorie, die letztlich nur analytisch, nicht aber in der sozialen Wirklichkeit aus dem Gesamthandlungszusammenhang des Menschen herausdifferenziert werden kann. Als analytische Kategorie - und d.h.: als Grundrecht des homo oeconomicus und als Strukturnorm des Wirtschaftssystems - ist er das Feld, auf dem (auch) die Theorie der Verfügungsrechte der Rechtswissenschaft Fragen stellt und Antworten liefert; in seiner sozialen Eingebundenheit ist der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff allerdings jene Größe, die den "homo oecono-
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
micus" wieder zum "homo socialis" und "culturalis" macht und die Nationalökonomie als Gesellschaftswissenschaft durch den Mund des Verfassungsjuristen neu fordert.
8. Präambeln von Verfassungen a) Problem, Bestandsaufnahme Mehr oder weniger bewußt haben die Schöpfer verfassungsstaatlicher Verfassungen in den Präambeln 888 schon sprachlich das Richtige getroffen: Als "Einstimmung" 889 auf den folgenden positiven Verfassungstext und als politische und kulturelle "Wegweisung" heben sich Präambeln sprachlich ab. Sie sind (wie der Verfassungsstaat) für den Menschen da, gehen auf ihn ein, wollen ihn "gewinnen". Kommunikation, Integration und Möglichkeiten der Identifikation ("Internalisierung") für den Bürger und damit Legitimation des Verfassungsstaates sind die Hauptfunktionen von Verfassungspräambeln. Für sie ist der Bürger, nicht der Jurist der "Ansprechpartner"; dem Bürger müssen sie Übersetzungsleistungen erbringen - mit den Konsequenzen einer bürgernahen, nicht "zunftmäßigen" Sprache: Die Präambel umreißt den Basiskonsens in einer direkt an alle Bürger (das ganze Volk) 8 9 0 gerichteten und darum möglichst allgemein verständlichen Weise. Dementsprechend kompromißhaft und harmonisierend sind Präambeln oft verfaßt: Gerade deshalb können sie sich an Bürger und Juristen wenden (bürgernahe Sprachkultur als Verfassungskultur).
888
Das Nähere zum Folgenden (m.w. Beispielen bis 1982) in meinem Beitrag: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ffEntgegen der Logik des Verfassungsstaates und der folgenden Ausführungen sind die Überlegungen zu den Präambeln im Rahmen dieser Darstellung mit Absicht nicht am Anfang der Exemplifizierungen piaziert: sie sollten die inhaltlich primären Eingangsabschnitte über "kulturelle Freiheit" etc. (oben Ziff. 1) nicht zu stark präjudizieren. 889 Sprachlich verweist das Wort "Präambel" auf eine Art "Vorlauf 1, eine Art Einstimmung, Intonation. Die Grundstimmung des folgenden Werkes soll umschrieben werden: vgl. Duden, Fremdwörterbuch, 3. Aufl. 1974, S. 582: "1. Einleitung, feierliche Erklärung als Einleitung einer (Verfassungs-)Urkunde od. eines Staatsvertrages. 2. Vorspiel in der Lauten- und Orgelliteratur." - Brockhaus-Enzyklopädie. Bd. 15, 1972, S. 75: "1. allgemein: Vorrede, Vorspruch. 2. evang. Kirchen Verfassungen: ... 3. Musik: ... 4. Staatsrecht: ...".- Einem kulturwissenschaftlichen Ansatz nahe kommt G. Schwalm, Gedanken über Gemeinsamkeiten zwischen der juristischen und der musikalischen Interpretation, in: FS E. Dreher, 1977, S. 53 ff; ebd. S. 63 ein Hinweis auf Präambeln. 890 So wie der einzelne Mensch ein Stück seiner Identität in der Muttersprache findet, so kann ein ganzes Volk einen Teil seiner Identität in seiner Verfassung, und in ihr insonderheit in der Präambel (als "Geburtsurkunde") finden.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Die nicht im engeren Sinne juristischen Inhalte und Formen von Präambeln und die Bürgerorientierung ihrer Aussagen geben den Blick frei für die oft verdeckten kulturellen Schichten eines Verfassungswerkes. Die - notwendige "Positivität" des Rechts - in Artikeln und Paragraphen - hat ihren kulturwissenschaftlich zu erschließenden Wurzelgrund in Höhen bzw. Tiefen der Präambel. Präambeln gehören zur sprachlichen "Schauseite" von Verfassungen. Gewiß wird sanktionsartig die Verpflichtung der Bürger durch die Präambel letztlich erst über den Juristen und seine Interpretation eingelöst. Ihre Kulturgehalte vermitteln den Präambeln aber eine tiefere Geltungsweise und einen auf eine Art höheren Verbindlichkeitsanspruch als dies der herkömmlich (verfassungs-)juristische Ansatz zu erkennen vermag. Neben den Erziehungszielen, Feiertagsgarantien und kulturellen Grundrechten sind Präambeln das Erkenntnisfeld für kulturwissenschaftliches Denken im Verfassungsrecht. Prämisse ist ein bestimmtes Verständüis von Verfassung; es sei hier abkürzend wiederholt durch die Stichworte: Verfassung als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, Verfassung als öffentlicher Prozeß, als Rahmen für immer neues Sich-Vertragen der Bürger, als Legitimierung, Beschränkung und Rationalisierung staatlicher sowie gesellschaftlicher Macht und als Ausdruck des kulturellen Entwicklungszustandes eines Volkes. Dieses juristische und kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis, in dieser Verfassungslehre durchweg praktiziert, bewährt sich spezifisch in der Analyse von Präambeln. Für den Inhalt von Präambeln ist charakteristisch die Formulierung von Werthaltungen, ("hohen") Idealen 891 , Überzeugungen, der Motivationslage, kurz des Selbstverständnisses der Verfassunggeber. Dieses Bekenntnishafte, der "Glaube" (so ausdrücklich z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950), tritt neben, gelegentlich an die Stelle von "Erkenntnissen". Mitunter finden sich euphorische, fast hymnische Züge, die den Charakter einer Einstimmung vermitteln und überhaupt "Glanz" ausstrahlen 892. Wo auf diese Weise "letzte" und "erste" Dinge verhandelt werden, stellt sich naturgemäß sehr rasch ein Hauch von Pathos ein. Das Bekenntnishafte, mitunter Fiktive führt in die Tiefenschichten eines verfaßten und auch nach der Verfassunggebung immer neu sich verfassenden Volkes. Rudolf Smend hat sie in seiner Lehre von der Integration auf seine Weise
891
Verf. Japan 1947, Verf. Frankreich 1958. Z.B. Verf. Türkei (1961): "begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus", "... in der Überzeugung, daß ihre (sc. der Verfassung) Hauptgarantie im Herzen und Willen der Bürger liegt" - ein Beleg für den Bürgerbezug! (zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nichtkommunistischen Staaten Europas, 2. Auf. 1975). 892
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
behandelt 893 . Der demokratische Verfassungsstaat kann auf diese mehr gefühlsmäßigen Bindungen seiner Bürger an ihn, auf die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten für den Bürger und auf seine eigene Bindung an und Verantwortung vor höheren Instanzen und Zusammenhänge(n) nicht verzichten. Auch und gerade eine kulturwissenschaftliche arbeitende Verfassungstheorie des Kritischen Rationalismus kann und will diese eher irrationalen Bereiche nicht leugnen; sie liegen in der anthropologischen Prämisse begründet, daß der Mensch auch irrational strukturiert ist. Die offene Gesellschaft und der Verfassungsstaat grundieren und befestigen sich durch derartige inhaltliche Bekenntnisse, sofern nur Garantien wie Freiheit und Gleichheit, Toleranz und Offenheit bewahrt bleiben. Regelmäßige Bauelemente von Präambeln sind Ausformungen der Zeitdimension: einmal in der Abkehr von einer bestimmten Vergangenheit oder in der Wiederanknüpfung oder "Erinnerung" (z.B. Präambel Verfassung Irland, 1937) an bestimmte Überlieferungen und Perioden (Geschichtsbezug z.B. Türkei: "im Laufe ihrer Geschichte"; Bayern: "mehr als tausendjährige Geschichte"; Verfassung Bremen 1947: "jahrhundertealte Freie Hansestadt Bremen"); sie wollen die Vergangenheit negativ (polemisch) oder positiv beschwören 894. Präambeln können sich ferner auf die Gegenwart beziehen, gelegentlich in Wunschorientierung, z.B. Berlin: "In dem Wunsch, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben". Sie können schließlich Gegenwart und Zukunft als solche in den Blick nehmen 895 oder gerade die Zukunft "gewinnen" wollen 8 9 6 . 893
Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 (bes. 160 ff, 215 ff., zur Präambel etwa S. 216 f.); s. auch Hsü Dau-Lin, Formalistischer und antiformalistischer Verfassungsbegriff, in: AöR N. F. 22 (1932), S. 27 (51). 894 Vgl. Bayern: "Trümmerfeld" bzw. Verf. Baden von 1947: "Treuhänder der alten badischen Überlieferung"; s. auch Präambel EMRK 1950: "gemeinsames Erbe an geistigen Gütern und Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes". Vgl. auch Präambel Verf. Sachsen von 1992: "ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft, eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit...". 895 So Hessen, 1946; Nordrhein-Westfalen: "... die Not der Gegenwart in gemeinsamer Arbeit zu überwinden"; s. auch Präambel ESC von 1961: "Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten". S. auch Präambel Verf. Brandenburg von 1992: "Entschlossen, das Bundesland Brandenburg als lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland in einem sich einigenden Europa und in der einen Welt zu gestalten". Zuletzt eindrucksvoll Präambel Verf. Appenzell A. Rh. von 1995: "Wir ... wollen die Schöpfung in ihrer Vielfalt achten. Wir wollen, über Grenzen hinweg, eine freiheitliche, friedliche und gerechte Lebensordnung mitgestalten...". 896 Z.B. Rheinland-Pfalz, 1947: "ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen"; femer die Fortschrittsklausel: Verf.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Präambeln sind folglich der Versuch, die Verfassung "in der Zeit" zu halten: zwischen kulturellem Erbe und kultureller Zukunft, zwischen Tradition und Fortschritt etc. Dieser "großen" Dimension entspricht eine "große" Sprache! Der Verfassunggeber ordnet sich dadurch in größere zeitliche Zusammenhänge ein und begreift sich insofern nicht als "autonom" 897 . Diese Verpflichtung mag theoretisch und formal eine Selbstbindung und Selbstverpflichtung sein: materiell und praktisch ist sie eine treuhänderische Einbindung 898 , ohne die die konkrete Verfassung nicht zu leisten gewesen wäre, und eine Umschreibung des kulturellen und historischen Kontextes der Verfassung. Präambeln sind also auch eine Essenz des Kontextes der Verfassung. Zugleich können sich ihnen als Bestandteilen des Textes der Verfassung präzise differenzierbare juristische Inhalte entnehmen lassen 899 .
Baden-Württemberg 1953, Präambel Verf. Baden von 1947: "... beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten"; vgl. auch Präambel EMRK von 1950: "die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie". Präambel der Verfassung der USA von 1787: "... uns selbst und unseren Nachkommen". 897 Vgl. auch H. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, S. 270 f. 898 Vgl. die Präambel der Verfassung des Landes Baden (1947), zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, 1948: "Im Vertrauen auf Gott hat sich das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Überlieferung, beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten, folgende Verfassung gegeben".- Präambel Verf. Venezuela (1961): "...in representation of the Venezuelan people, for whom it invokes protection of god Almighty...". 899 Vgl. für das GG: BVerfGE 5, 85 (126 ff.); 31, 58 (75 f.); 36, 1 (16); 77, 137 (149).- Die theoretisch nicht so tief wie in den deutschen und französischen 20er Jahren arbeitende und weitgehend einer positivistischen Tradition verhaftete französische Staatsrechtslehre und höchstrichterliche Rechtsprechung erkennen heute die normative Kraft der Präambeln von Verfassungen an. Die erste wichtige Entscheidung des Conseil constitutionnel auf diesem Weg vom 16. Juli 1971 über die Vereinigungsfreiheit (Journal Officiel, 18. 7. 1971, S. 7114; L. Favoreu und L. Philip, Les Grandes Décisions du Conseil constitutionnel, 2. Auflage 1979 [zitiert: G. D.], Nr. 21, S. 235 ff.) bezog die "principes fondamentaux reconnus par les lois de la république" der préambule der Verfassung vom 27. Okt. 1946 in den Prüfungsmaßstab der Verfassungsmäßigkeit ein. Die zweite wichtige Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 28. Nov. 1973 über freiheitsberaubende Maßnahmen (Journal Officiel, 6. Dez. 1973, S. 12949 = G. D., Nr. 24, S. 275 ff.) erweiterte den "bloc de constitutionnalité" um die "droits de l'homme" der déclaration von 1789, auf die die préambule von 1946 Bezug nimmt (bestätigend: Entscheidung vom 27. Dez. 1973, "Taxation d'office", Journal Officiel, 28. Dez. 1973, S. 14004; Entscheidung vom 15. Jan. 1975, "Interruption volontaire de grossesse", Journal Officiel, 16. Jan. 1975, S. 671 = G. D., Nr. 26, S. 299 ff.; weitere Entscheidungs-Nachweise in: F. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980, S. 173 f. Fn. 1).- Freilich stellt sich die Frage der Vergleichbarkeit von Präambeln der französischen Verfassungen und denen anderer Verfassungsstaaten gerade angesichts unterschiedlicher kultureller Kontexte. Die an sich überraschende normative Aufwertung der
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Im folgenden hier ein Blick auf Beispiele in den Entwicklungsländern, zunächst in den lateinamerikanischen, obwohl sie schon oben ins Bild kamen. Peru (alte Verf. von 1979) 900 fällt schon äußerlich durch eine sehr festliche, inhaltsreiche, die nachstehende Verfassung vorwegnehmende, barocke Präambel auf. Näher betrachtet, rezipiert sie manche Elemente aus der klassischen Präambeltradition, sie fugt aber auch Neues und Eigenes hinzu. Typisch sind Textpassagen wie: "Im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person und daran, daß alle Menschen die gleiche Würde und Rechte universeller Gültigkeit besitzen, die vor dem Staat bestanden"... "Daß die Gerechtigkeit der oberste Wert des Lebens in der Gemeinschaft ist und die soziale Ordnung sich auf das allgemeine Wohl und die menschliche Solidarität gründet". Eine neue Dimension eröffnet sich in dem Satz von der Wirtschaft, die "im Dienste des Menschen steht und nicht der Mensch im Dienste der Wirtschaft"; gleiches gilt für das Leitbild "offene Gesellschaft mit höheren Formen des Zusammenlebens und fähig, den Einfluß der wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Revolution, die die Welt verändert, aufzunehmen und zu nutzen". Entwicklungsländerspezifisch dürfte der Satz sein von der "schöpferischen Würde der Arbeit", auch der Passus: "Teilhabe aller am Genuß des Reichtums, die Beseitigung der Unterentwicklung und der Ungerechtigkeit". Geschichte der Entwicklungsländer wird verarbeitet in den Worten: "Überzeugt von der Notwendigkeit, die Integration der lateinamerikanischen Völker voranzutreiben und ihre Unabhängigkeit gegen jeglichen Imperialismus zu behaupten" sowie in dem Bekenntnis: "Getragen von dem Vorsatz, die historische Persönlichkeit des Vaterlandes, die sich aus den vornehmsten Werten vielerlei Ursprungs zusammensetzt und aus ihnen hervorgegangen ist, aufrechtzuerhalten, ihr kulturelles Erbe zu verteidigen", auch in dem Satz: "Eingedenk der gerechtigkeitsverpflichteten Errungenschaften unserer eigenständigen Vergangenheit", in der Berufung auf Persönlichkeiten wie Tupac Amaru, Bolivar und Sânches Carrion sowie in dem Wort vom "langen Kampf des Volkes für eine Herrschaftsordnung der Freiheit und Gerechtigkeit". Die Präambel Perus läßt schon erkennen, wie wichtig dem Verfassunggeber die Bewußtmachung der nationalen kulturellen Identität ist (vgl. auch die kulturelles-ErbeKlausel schon in der Präambel!) - bei aller Berufung auf klassische verfassungsstaatliche Elemente wie "Brüderlichkeit aller Menschen", "volle Geltung Präambeln von 1958 bzw. 1946 in Frankreich mag auch damit zusammenhängen, daß die beiden Verfassungen von 1958 bzw. 1946 nur in den Präambeln Grundrechtsbezug haben. Gerade die Sensibilisierung der Franzosen für den Rechtsgehalt ihrer Präambeln ist eine kulturelle Leistung. Aus der Lit. zuletzt: J. Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 11. Aufl. 1991, S. 110 ff.; C. Grewe/H.R. Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995, S. 42 f. 900 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen der Menschenrechte", "Befreiung von jeder Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, des Glaubens" etc. und bei aller Betonung der Gerechtigkeit und der Integrierung neuer Texte wie "offene Gesellschaft" oder "wissenschaftliche, technologische, wirtschaftliche und soziale Revolution, die die Welt verändert". Im ganzen ergibt sich das Bild einer grundwerthaft aufgeladenen Präambel, die um eine Synthese zwischen verfassungsstaatlicher Präambel-Tradition und entwicklungsländerspezifischen Elementen ringt - so wie dies der nachstehenden Verfassung im ganzen und einzelnen gelingt. So sehr etwa in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich die normative Bedeutung erst durch BVerfG und Conseil Constitutionnel erarbeitet werden mußte 901 , die z.T. schon sehr präzisen Begriffe wie Menschenwürde, Schutz der Familie, Menschenrechte, "Unterwerfung der Regierenden und Regierten unter die Verfassung und das Gesetz" legen es nahe, daß Peru selbst seine Präambel nicht nur rhetorisch, sondern auch normativ deutet. Man kann die (alte) peruanische Präambel als allzu barock kritisieren (die neue von 1993 ist denkbar knapp), Guatemala 902 ist 1985 eine ungemein konzentrierte Präambel geglückt, die fast lehrbuchartig knapp die Fundamente eines verfassungsstaatlichen Entwicklungslandes behandelt - gäbe es eine alles umfassende vergleichende Verfassungslehre. Hier die Stichworte: "Wir, die Vertreter des guatemaltekischen Volkes, frei und demokratisch gewählt", in ihrer Bekräftigung des "Vorrangs der menschlichen Person als Träger und Ziel der sozialen Ordnung", der Anerkennung der "Familie als erste und grundsätzliche Quelle aller geistigen und moralischen Güter der Gesellschaft", des Staates als "Verantwortlichen für die Förderung des Allgemeinwohls", als "Verantwortlichen für die Befestigung der Herrschaft des Rechts, der Sicherheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Freiheit und des Friedens". Die Zeitdimension und das Ringen um kulturelle Identität finden sich in dem Passus: "Wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an". Die Präambel der neuen Verfassung Brasiliens von 1988 903 ist ähnlich strukturiert und "gestimmt". Bemerkenswert ist etwa das "Ziel, die Ausübung der sozialen und individuellen Grundrechte, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand, Entwicklung (!), Gleichheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten, als höchste 901
Vgl. BVerfGE 5, 85 (126 ff.) und st. Rspr. (z.B. E 77, 137 (149); 84, 90 (122)).Zum Conseil Constitutionnel die Nachw. in: P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, aaO., 3. Aufl. 1983, S. 280 ff. 902 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. Geglückt: Präambel Verf. Madagaskar (1995). 903 Zit. nach JöR 38 (1989), S. 462 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Werte einer brüderlichen, pluralistischen und vorurteilsfreien Gesellschaft, die auf sozialer Harmonie ... aufbaut". Nicaragua 904 (1986) ist schon in der Präambel ein Sonderfall. Ein Blick auf francophone Entwicklungsländer und ihre Präambeln ergibt: Die Präambel der sich zum Marxismus-Leninismus bekennenden Verfassung von Benin 9 0 5 (1977) beruft sich immerhin auch auf die Universale Erklärung der Menschenrechte der UN. Doch seien im folgenden nur die sich nicht primär als sozialistische Volksdemokratien definierenden Staaten erwähnt 906 . Burundi beginnt seine Verfassungspräambel von 1981 mit den Worten: "Confiant dans ses valeurs de culture et d'identité propres, dans son unité et sa cohésion séculaire ainsi que dans ses traditions de lutte pour sa dignité nationale". Es spricht von "réhabilitation" und "revalorisation de la culture nationale", bekennt sich zur Menschenwürde und zum Schutz der Rechte des Menschen und der Völker sowie zur Einheit Afrikas ("Conscient des liens et impératifs historiques, moraux et matériels qui unissent les Etats d'Afrique"), z.T. anders Verf. von 1992. Ähnliche kulturelle Identitätselemente formuliert die Präambel der Republik Cameroun (1972/84) gleich zu Beginn: "Fier de sa diversité culturelle et linguistique, élément de sa personnalité nationale" und sie bekennt sich allgemein zu den unveräußerlichen Menschenrechten wie sie - ebenfalls noch in der Präambel (!) - einen detallierten Grundrechtskatalog normiert (ebenso 1996). Die Elfenbeinküste hat in der Verfassung von 1960/80 eine besonders konzentrierte verfassungsstaatliche Präambel in den Worten geschaffen: "Le peuple de Côte d'Ivoire proclame son attachement aux principes de la Démocratie et des Droits de l'homme, tels qu'ils ont été définis par la Déclaration des Droits de l'homme et du citoyen de 1789, par la déclaration universelle de 1948 et tels qu'ils sont garantis par la présente Constitution; il affirme sa volonté de coopérer dans la 904
Zit. nach JöR 37 (1988), S. 720 ff.: Verf. Nicaragua von 1986 bekennt sich zwar schon in der Präambel zur "absoluten Respektierung der Menschenrechte", auch garantiert sie nominell "die Existenz des politischen Pluralismus" (Art. 5 Abs. 1 und 2), sie legt einen ausgefeilten Grundrechtskatalog vor, der aber verräterische Passagen wie Art. 68 Abs. 1 ("Die Massenmedien dienen den nationalen Interessen") enthält. Der Abschnitt "Ausbildung und Kultur" garantiert teils verfassungsstaatliche kulturelle Freiheiten (Art. 127), teils gibt er dem Staat zu starke Kompetenzen bis hin zu Indoktrinierung in den Erziehungszielen (Art. 116, 117). Der Auftrag zur "Bewahrung, Entwicklung und Stärkung der nationalen Kultur" (Art. 126) sowie zum Schutze des archäologischen, historischen, sprachlichen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Nation" (Art. 128) sei positiv vermerkt. 905 Die folgenden Texte sind zit. nach Constitutiones Africae, hrsg. von F. Reynitiens, 1988, bzw. H. Baumann/M. Ebert, aaO., 1997. 906 Zu "Westafrikanischen Verfassungsentwicklungen 1970, Obervolta, Dahomey, Volksrepublik Kongo": K. Rabl, VRÜ 6 (1973), S. 191 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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paix et l'amitié avec tous les peuples qui partagent son idéal de justice, de liberté, d'égalité, de fraternité et de solidarité humaine." (Vgl. auch Verf. von 1995.) b) Verfassungstheoretische
Einordnung
(1) Die Präambel als Grundlegung und Bekenntnis Für den Inhalt von Präambeln sind - das sei an dieser Stelle nochmals wiederholt - charakteristisch die Formulierung von Werthaltungen, ("hohen") 908
"
Idealen , Uberzeugungen, der Motivationslage, kurz des Selbstverständnisses der Verfassunggeber. Dieses Bekenntnishafte, der "Glaube" (so ausdrücklich z.B. die Menschenrechtskonvention), tritt neben, gelegentlich an die Stelle von "Erkenntnissen". Mitunter finden sich euphorische, fast hymnische Züge, die den Charakter einer Einstimmung vermitteln und überhaupt "Glanz" ausstrahlen 909 . Wo auf diese Weise "letzte" und "erste" Dinge verhandelt werden, stellt sich naturgemäß sehr rasch ein Hauch von Pathos ein. Die hohe Wertintensität von Präambeln zeigt sich auch darin, daß sie gerne auf (ontologische) Vorgegebenheiten wie Gott oder Christus verweisen (z.B. Australien 1900, Indonesien 1945, Argentinien 1853) 910 bzw. sie anrufen (z.B. Irland). Die - fast heilige - Selbstverpflichtung ihm gegenüber, gelegentliche Beschwörungen bzw. Anrufungen 911 sind wiederkehrende formale und inhaltliche Elemente und Momente. Präambeln erweisen sich also in Teilen als
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Die Verf. der Republik Senegal (zit. nach Blaustein/Flanz, The Constitutions of the Countries of the World, Bd. XIV) von 1963/84 bzw. 1992 beruft sich in ihrer Präambel auf die Menschenrechtserklärung (1789) und die Universale Erklärung von 1948 und bestimmt: "... conscient de la nécessité d'une unité politique, culturelle, économique et sociale, indispensable à l'affirmation de la personalité africaine; conscient des impératifs historiques, moraux et matériels qui unissent les Etats de l'Ouest Africain...". 908 Verf. Japan 1947, Verf. Frankreich 1958. Der universal-menschheitliche Aspekt (z.B. Japan 1947: „allgemein gültige Prinzip der Menschheit") findet sich meist bei verfassungsstaatlichen Grundsätzen, z.B. den Menschenrechten. K. Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 15, sieht vor allem in der Präambel des GG und Art. 1 Abs. 1 GG das „Pathos eines Manifestes". 909 Z.B. Verf. Türkei (1961): "begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus", "... in der Überzeugung, daß ihre (sc. der Verfassung) Hauptgarantie im Herzen und Willen der Bürger liegt" - ein Beleg für den Bürgerbezug! 910 Zit. nach A.J. Peaslee (Ed.), Constitutions of Nations. Rev. 3 ed., Volume I-IV, The Hague 1965-1970 -1: Africa, II: Asia, Australia, Oceania; IV: The Americas in two parts; - Rev. 4 ed., The Hague 1974,1: Africa. 911 Selten ist die Bezugnahme auf das Richteramt Gottes wie in Präambel Verf. Württemberg-Hohenzollern 1947, zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, 1948.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"Glaubenssätze" eines politischen Gemeinwesens, und zwar nicht nur bei Bezugnahmen auf Gott und die Verantwortung vor ihm und den Menschen 912 , sondern auch bei anderen Bekenntnisklauseln913, die ausdrücklich ihren "tiefen Glauben an diese Grundfreiheiten" bekräftigen (so Präambel Europäische Menschenrechts-Konvention von 1950), bekenntnisnahe Willensbekundungen objektivieren 914 oder subjektive Wünsche und Hoffnungen (z.B. Verfassung Berlin 1950: "In dem Wunsche, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben" - heute Realität) bzw. Überzeugungen 915 und Willensbekundungen 9 1 6 normativieren. Das Bekenntnishafte, mitunter Fiktive fuhrt in die Tiefenschichten eines verfaßten und auch nach der Verfassunggebung immer neu sich verfassenden Volkes. Rudolf Smend hat sie in seiner Lehre von der Integration auf seine Weise behandelt 917 . Der demokratische Verfassungsstaat kann auf diese mehr gefühlsmäßigen Bindungen seiner Bürger an ihn, auf die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten für den Bürger und auf seine eigene Bindung an und Verantwortung vor höheren Instanzen und Zusammenhängen nicht verzichten. Präambeln verweisen jedenfalls auf vorpositive Basis- und/oder Glaubenswahrheiten eines politischen Gemeinwesens; in manchem umschreiben sie ein Stück der "religion civile" 9 1 8 . Vermutlich enthalten auch Verfassungen ohne 912
So beim GG (vgl. dazu E. Behrendt, Gott im Grundgesetz, 1980), in der Bad.Württ. Verf. (1953), in Verf. NRW (1950); vgl. auch Verf. Bayern (1946) in kritischer Absetzung von einer "Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott".- Besonders eindrucksvoll - und theologisch - ist hier der Vorspruch der Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft", vgl. dazu auch A. Süsterhenn/H. Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1950, S. 22 ff, 62 f. (62: "Pflicht zur Unterwerfung unter Gottes Gebot auch für den staatlichen Bereich bejaht"). 913 Vgl. Verf. Bad.-Württ. von 1953: "in feierlichem Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten". 914 Wie Vorspruch Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern" etc.; s. auch Präambel EMRK von 1950: "... als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind". 915 Vgl. Präambel Verf. Hessen von 1946: "In der Überzeugung, daß Deutschland nur als demokratisches Gemeinwesen eine Gegenwart und Zukunft haben kann...". 916 Vgl. Präambel Verf. Bremen von 1947: "... sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden". 917 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 119 (bes. 160 ff, 215 ff, zur Präambel etwa S. 216 f.); s. auch Hsü Dau-Lin, Formalistischer und antiformalistischer Verfassungsbegriff, in: AöR N.F. 22 (1932), S. 27 (51). 918 Vgl. auch die Deutung der Präambeln als Bestätigung eines durch Zivilreligion konstituierten "religiösen Staatsrechts" durch H. Lübbe, Staat und Zivilreligion, Ein
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen ausdrückliche Präambeln solche "Glaubenswahrheiten", die ihren Rechtssätzen vorausliegen, denn jede positive Rechtsordnung reicht in solche tieferen Schichten 919 . Präambeln suchen diese zu rationalisieren und zur Sprache zu bringen - teils in säkularisierter Form, teils in "noch-theologischer" Gestalt. Dieses Grundlegende im Selbstverständnis (in der Identität) eines politischen Gemeinwesens, das Konzentrat, ist das alle Bürger Verpflichtende - fast wie ein "Glaubensbekenntnis", das in den Präambeln sozusagen "vor die Klammer gezogen" und oft vertragsähnlich (im Sinne der Verfassung als Vertrag) formuliert ist. (2) Die Brückenfunktion in der Zeit Regelmäßige Bauelemente von Präambeln sind Ausformungen der Zeitdimension: einmal in der Abkehr von einer bestimmten Vergangenheit oder in der Wiederanknüpfimg oder "Erinnerung" (z.B. Präambel Verfassung Irland) an bestimmte Überlieferungen und Perioden (Geschichtsbezug z.B. Türkei: "im Laufe ihrer Geschichte"; Bayern: "mehr als tausendjährige Geschichte"; Verfassung Bremen 1947: "jahrhundertealte Freie Hansestadt Bremen"); sie wollen die Vergangenheit negativ (polemisch) oder positiv beschwören 920 bzw. verarbeiten. Präambeln können sich ferner auf die Gegenwart beziehen, gelegentlich in Wunschorientierung, z.B. Berlin: "In dem Wunsch, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben" - heute Realität. Sie können schließlich Gegenwart und Zukunft als solche in den Blick nehmen 921 oder gerade die 922
Zukunft "gewinnen" wollen
.
Aspekt politischer Legitimität, in: N. Achterberg/W. Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 40 (46 ff.). 9,9 Vgl. in diesem Zusammenhang auch P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, in: AöR 104 (1979), S. 345 (376 ff.). 920 Vgl. Bayern: "Trümmerfeld", bzw. Verf. Baden von 1947: "Treuhänder der alten badischen Überlieferung"; s. auch Präambel EMRK 1950: "gemeinsames Erbe an geistigen Gütern und Überlieferungen. Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes".- S. auch Sachsen (1992): "gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte... eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit". 921 So Hessen, (1946); Nordrhein-Westfalen: "... die Not der Gegenwart in gemeinsamer Arbeit zu überwinden"; s. auch Präambel ESC von 1961: "Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten". Zuletzt Thüringen (1993): "Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden"; Mecklenburg-Vorpommern (1993): "den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern". 922 Z.B. Rheinland-Pfalz, 1947: "ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen"; femer die Fortschrittsklausel: z.B. Verf. Baden-Württemberg 1953, EWG-Vertrag 1957; Präambel Verf. Baden von 1947: "... beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsät-
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Soweit Präambeln "Geschichte" erzählen und Bekenntnisse zu ihr ablegen, möchten sie dem menschlichen Bedürfnis nach historischer Vergegenwärtigung und Identität Rechnung tragen, nicht im Sinne wissenschaftlicher Aufbereitung für ein Fachpublikum als vielmehr im Sinne einer Geschichte, "die sich dem Laien verpflichtet fühlt" 9 2 3 . Hier kann es zwischen Bekenntnissen und Erkenntnissen in Präambeln zu Konflikten kommen: So hält etwa die Präambel des Grundgesetzes einer historisch-kritischen Überprüfung in manchen Partien nicht stand 924 . Soweit Präambeln sich der Zukunft zuwenden - so wie etwa die künftigen Generationen in der bayerischen Verfassung (1946) im Gesichts- und Verant925
wortungskreis des Verfassunggebers stehen - oder Wünsche und Hoffnungen ausdrücken, enthalten sie einen konkret-utopischen Überschuß: Insofern steckt in der Präambel ein (Zukunfts-)Entwurf 926 . Er trägt ein Stück jener fruchtbaren Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit in die Verfassung (und Politik), wie sie auch in anderen Partien eines Verfassungstextes, z.B. bei Verfassungsaufträgen, nachweisbar ist. Oft muß ein Volk Geduld haben im Blick auf die Wünsche und Hoffnungen der Präambel. Ein geglücktes Beispiel liefert die Präambel des GG von 1949 in Sachen Wiedervereinigung (1990); es ist zugleich Beleg für die Erfolgsgeschichte des deutschen Grundgesetzes.
zen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten"; vgl. auch Präambel EMRK von 1950: "die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie". Präambel der USA von 1787: "... uns selbst und unseren Nachkommen". 923 Vgl. Gordon A. Craig , Das Gedächtnis der Welt am Leben erhalten. Der Historiker und sein Publikum: Plädoyer für eine Geschichte, die sich dem Laien verpflichtet fühlt, in: Die Zeit vom 13. Nov. 1981, S. 36. 924 Dazu D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 80 ff; vgl. allgemein: A. Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987, S. 211 ff., 407 u.ö. 925 Auch die Hessische Verfassung (1946) läßt den Zukunftsaspekt schon in der Präambel und damit sehr grundsätzlich anklingen: "In der Überzeugung, daß Deutschland nur als demokratisches Gemeinwesen eine Gegenwart und Zukunft haben kann ...".Schon die Präambel der hessischen Verfassungsurkunde von 1831 dachte in weiten Zukunftsräumen: "Als festes Denkmal ... noch in späten Jahrhunderten bestehen...", "segensreiche Zukunft". Ihr Schlußsatz spricht von "bleibender Grundverfassung, die zu allen Zeiten treu und unverbrüchlich beachtet werde". Solche Verheißungen von Dauerhaftigkeit in Präambeln werden geschichtlich oft widerlegt, in diesem Sinne: U. Scheuner, Die Funktion der Verfassung für den Bestand der politischen Ordnung, in: W. Hennis/P. Graf Kielmannsegg/U. Matz (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. 2, 1979, S. 102 (insbes. 113). 926 Vgl. R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 34.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen c) Inhaltliche Konkordanzen mit anderen Verfassungsnormen (insbesondere Erziehungszielen, Feiertagsgarantien, Eidesklauseln und Bekenntnisartikeln) Auch "innerhalb" der Verfassungen gibt es Passagen, die in ihrer eher feierlichen Sprache eine spezifische Nähe zu Präambeln aufweisen, ebenfalls zur bürgernahen, primär kulturwissenschaftlich zu erschließenden "Schauseite" der Verfassungen gehören und die nicht-juristische (Ver-)Fassung des Gemeinwesens konstituieren. Gemeint sind vor allem Erziehungsziele und Feiertagsgarantien, Eidesklauseln und Bestimmungen über Flaggen, Wappen und Hymnen. Auch sie nehmen auf die Bewußtseins- und Seelenlage des Verfassunggebers bzw. des Volkes und der Bürger Bezug; auch sie spiegeln etwas von ihrer Psyche wider 9 2 7 und strukturieren Irrationales. Ihre parallelen Inhalte und ihr Bekenntnischarakter zeigen einen direkten Zusammenhang und Gemeinsamkeiten mit den Kulturgehalten der Präambeln: Sie sind aus demselben "Geist und Stojf\ aus dem Präambeln stammen. Die Berufung auf eine bestimmte Geschichte des Volkes verbindet die Präambel innerlich mit bestimmten Feiertagen 928 desselben Volkes. Feiertagsgarantien sind sprachlich und sachlich in derselben kulturell-politischen Tiefenschicht angelegt. Sie bleiben teils eher vergangenheitsorientiert - so der noch heute in Belgien und seit Staatspräsident Mitterrand (1981) wieder in Frankreich gefeierte 11. November (als Tag des Waffenstillstands des 1. Weltkrieges); sie veranschaulichen wie Präambeln die geschichtliche Bewußtseinslage eines Volkes und zeigen, wie Geschichte in Völkern nachwirkt und kraft Verfassunggebung auch nachwirken soll: sie "transportieren" Geschichte, und sind, ebenso wie Erziehungsziele oder Flaggenartikel, geronnene und je neu gerinnende Geschichte. Feiertagsgarantien besitzen - wie Präambeln - auch eine zukunftsorientierte Dimension; sie zeigt sich am deutlichsten an einem Feiertag wie dem 1. Mai, 927 Gerade die Präambeln gebrauchen immer wieder Wendungen wie "erschüttert" (Bremen, 1947), "willens" (Bremen 1947), "beseelt" (z.B. Baden-Württemberg, 1953; Rheinland-Pfalz, 1947), "in der Überzeugung" (Hessen, 1946), "Entschluß" (Bayern, 1946). 928 Treffend W. Wiegand im Blick auf Frankreich (FAZ vom 23. Juli 1981, S. 21): "Feste aber sind ritualisierte Ausnahmesituationen, sind Ausdruck der Freude über endlich versöhnte Gegensätze, sind Vergewisserungen der Gemeinsamkeit und im tiefsten Wesen wohl auch Eingeständnis der Vergänglichkeit".- Zu Sonn- und Feiertagen s. m.w.N. den gleichnamigen Beitrag von H.-W. Sirätz, in: HdbStKirchR, Bd. 2, 1975, S. 801 ff.; Bayer. VerfGH, in: BayVBl. 1982, S. 273 ff.; jetzt K -Η. Kästner, Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage, in: HdbStKi, 2. Aufl., 2. Bd. 1996, S. 337 ff. Weiteres unter Ziff. 11. 62 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
der in sich Geschichte und Zukunft, Erbe und Auftrag verknüpft und Arbeiterbewegung bzw. freie Gewerkschaften stets neu in den Verfassungsstaat (mit-) integriert. Anschaulich formuliert Art. 32 Verfassung Hessen (1946): "Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag aller arbeitenden Menschen. Er versinnbildlicht das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung". Dies geschieht in einem von der Verfassung Hessen durchgehaltenen Gleichklang mit anderen Garantien; auch sie sind aus einem "Geist" gearbeitet: der Gedanke der "sozialen Gerechtigkeit" prägt nicht nur den Abschnitt "soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten" der Hessischen Verfassung allenthalben (vgl. besonders Art. 28, 30, 38, 47). Das Leitziel "Frieden" und "Völkerverständigung" bestimmt auch die Erziehungsziele in 929
Art. 56 Verf. Hessen (besonders Absatz 4 und 5) Eine ähnlich deutliche innere Verbindung zwischen Präambeln und Staatszielen, Erziehungszielen 930 und Feiertagsbekenntnis läßt sich an der Verfassung Bremen (1947) belegen: Die Präambel formuliert auf dem Hintergrund der "autoritären Regierung der Nationalsozialisten", die Bürger des Landes seien "willens", eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, "in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird". Sofort in Art. 1 ist die Thematisierung von Menschlichkeit in der Präambel aufgegriffen (Bindung aller drei Gewalten an die "Gebote der Sittlichkeit und Menschlichkeit"). In den Erziehungszielen kehrt nicht nur die "Würde des Menschen" aus der Präambel wieder, der Friedensgedanke findet sich als Toleranzgebot wieder. Noch verblüffender ist die Konkordanz zwischen der Präambel und der Feiertagsgarantie bzw. den Staatszielen sowie den Erziehungszielen. Art. 55 bestimmt den 1. Mai als "Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, zu Frieden und Völkerverständigung" - gerade die Völkerverständigung prägt auch Erziehungsziele von Art. 26 Ziff. 1 und 4 Verf. Bremen! Art. 65 formuliert eine allgemeine Staatszielbestimmung in Gestalt des Bekenntnisses zu "Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung". Inhaltliche Konkordanzen zwischen Präambeln und anderen Normen wie Feiertagsgarantien und Erziehungszielen finden sich teils schon dem Wortlaut nach, teils in der Sache, auch in den Verfassungen von Baden-Württemberg (1953), Bayern (1946), Rheinland-Pfalz (1947) oder Nordrhein-Westfalen (1950). Ihre Themen und Ziele, die in Grundrechtsgarantien ebenso berührt
929 Vgl. auch den ähnlichen Zusammenhang zwischen Art. 40 und Art. 26 Verfassung Baden (1947). 930 Vgl. schon P. Häberle, Erziehungsziele, aaO., S. 75 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen werden wie in Erziehungszielen, in Normen zu "Arbeit und Wirtschaft" wie in den Feiertagsgarantien, belegen einen spezifischen Zusammenhang zwischen Präambeln einerseits, Erziehungszielen, Feiertagsgarantien sowie anderen Bekenntnisartikeln (wie Flaggen, Hymnen) und Eidesklauseln (z.B. Art. 56 GG, Art. 48 Verf. Baden-Württemberg, Art. 53 Verfassung Nordrhein-Westfalen) andererseits 931. Gerade beim Amtseid des Lehrers auf die Verfassung, die er z.T. als Erziehungsziele) pädagogisch vermitteln soll (vgl. Art. 36 Verfassung RheinlandPfalz), wird augenfällig, wie der Eid Verfassungsbewußtsein schafft, (Teil-) Identifikation mit der Verfassung - gerade in und für Krisenzeiten - feierlich aktualisiert und zur immer neuen Gewinnung der Jugend beitragen will, wie dies über Feiertage und Erziehungsziele geschehen soll. d) Interpretationsfragen So sehr Präambeln die "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" angehen und damit jeden Bürger, so sehr entfalten sie auch in der Hand des Verfassungsinterpreten im engeren Sinne normative Kraft 9 3 2 . Im folgenden werden ergänzend die Umrisse einer eher juristischen Interpretationstheorie skizziert. (1) Der innere Zusammenhang der verschiedenen Normierungstechniken Ausgangspunkt ist der Tatbestand, daß die auf die Präambel nachfolgenden Verfassungsartikel oft inhaltlich Teile der Präambel ausformulieren, konkretisieren, positivieren, wenn man will: in juristisch-technische Form hinüberführen. Aus Bekenntnissen zu Menschenrechten werden konkret formulierte Menschenrechte und Erkenntnisse 933 , aus globalen Bekenntnissen zu Werten wie
931 Zum Eid: E. Friesenhahn, Der politische Eid, 1928 (Neudruck Darmstadt 1979); BVerfGE 33, 23 (26 ff., 31); 79, 69 (76). 932 Zur Terminologie P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff, auch ders, in: Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. S. schon oben Fünfter Teil III Ziff. 1, samt Inkurs A. 933 Die Menschenrechtspakte der UN von 1966 enthalten Erkenntnisklauseln, die sich z.T. auf dieselben Inhalte richten, die deutsche Verfassungen in Bekenntnisform und präambelhaft voranschicken ("In der Erkenntnis, daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten"). Das GG enthält sogar in Art. 1 Abs. 2 eine Bekenntnisklausel (zu den Menschenrechten), ein Beleg für die Austauschbarkeit von Präambelinhalten und Artikeln.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"Friede" werden einzelne Erziehungsziele wie Toleranz etc. Mit dem Anspruch der Präambel wird also schon im (folgenden) Verfassungstext ernst gemacht 934 . Beispiele sind der Menschenwürdesatz in der Präambel Verfassung Bayern und ihr Art. 100; nicht nur die Verfassung Berlin (1950) formuliert einen "Vorspruch", der im Grundrechtsteil (Art. 6 - 24) speziell geschützt wird; der "Friede" wird durch einen fast präambelartigen "Spezialartikel" (Art. 21 Abs. 1) gesichert. Ein Beispiel aus dem Grundgesetz ist/war der Auftrag zur deutschen Einheit in der Präambel und die Normierung in Art. 146 a. F. Grundgesetz, die "zusammenzulesen" sind 935 bzw. waren. Auf andere Passagen der Präambeln wird mitunter in den anschließenden Verfassungsartikeln nicht eingegangen. Die Präambel der Verfassung Hamburg (1952) etwa normiert die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken; auch ist die "Arbeitskraft" unter den Schutz des Staates gestellt. In den folgenden Verfassungsartikeln werden diese Gedanken aber nicht ausdrücklich aufgegriffen; es gibt insbesondere keinen Abschnitt über Grundrechte und Grundpflichten. Ein Vergleich mit Art. 117, 151 Verfassung Bayern oder mit Art. 9, 38 Verf. Bremen zeigt indes, daß das, was Hamburg (nur) in (s)einer Präambel regelt, in anderen Verfassungen auch in den "eigentlichen" Verfassungsartikeln normiert sein kann. Umgekehrt enthalten manche deutsche Landesverfassungen gar keine Präambel, kommen aber gleichwohl zu Verfassungsgarantien, die das konkretisieren, was andere (west)deutsche Länderverfassungen nach 1945 präambelartig voranschicken.
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Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Verfassung von 1791 bildete noch einen selbständigen Vorspann vor der Verfassung und deren Präambel, während in der folgenden Verfassung von 1793 diese (nun umformulierte) Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zum alleinigen Vorspann und - obwohl in Artikel gegliedert - präambelartig erscheint. Diese historisch erklärbare Technik, die Menschenrechte, "nur" in der Präambel zu verankern, prägt die französische Tradition der Verfassunggebung z.T. bis heute (Verf. von 1958).- Eine ausführliche Präambel ("à toujours") enthält die charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814: die französische Verfassung von 1848 normiert ausdrücklich eine in I bis VIII gegliederte "Préambule", die folgenden Artikel greifen einzelne ihrer Prinzpien auf (die beiden letzten Zitate nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979). 935 S. schon U. Scheuner, Art. 146 und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, in: DÖV 1953, S. 581 (581, 583); femer K. Doehring, Die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Integration als Inhalte der Präambel des Grundgesetzes, in: DVB1. 1979, S. 633 ff., der (S. 635) einen "Hinweis" für den Rechtscharakter des Wiedervereinigungsgebots der Präambel in Art. 146 GG sah und überdies die Integration Europas als "rechtliches" Ziel und Gebot der Präambel deutete.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Nach allem führt der gemeinsame kulturelle Regelungsgehalt zu unterschiedlichen Normierungstechniken, die teilweise vertauschbar erscheinen 936. Dies wird etwa daran sichtbar, daß eine karge Präambel in späteren Teilen der Verfassung sehr grundsätzliche oder präambelartig gehaltene Artikel notwendig machen kann 937 . Auch das Denkspiel, Verfassungen ohne Präambel (z.B. von Schleswig-Holstein) eine adäquate Präambel vorauszuschicken oder umgekehrt bei Verfassungen mit Präambeln diese für Erziehungsziele fruchtbar zu machen, belegt jene Zusammenhänge erneut. Charakteristisch für den inhaltlichen Zusammenhang sind sog. "Im GeisteKlauseln" (z.B. Präambel Abs. 1 und 5 Hamburg). Ihre Essenz der Einstellung und Werthaltung, aus der heraus das Verfassungs- oder Vertragswerk geburtsurkundenähnlich entworfen ist, soll seine späteren Einzelregelungen prägen. Doch auch ohne ihre ausdrückliche Verwendung sind Präambeln der Sache nach "Im Geiste-Klauseln" par excellence, insofern sie das Bewußtsein, die "Seelenlage", die Willensinhalte, auch Emotionen des konkreten Verfassunggebers zum Ausdruck bringen und den Brückenschlag zu dem aus diesem "Geist" positivierten Verfassungswerk leisten möchten 938 . Diese Suche nach normtechnischen Zusammenhängen und funktionalen Äquivalenten für Präambeln will nicht die je konkrete und höchst individuelle Architektur der einzelnen verfassungsstaatlichen Verfassungen vernachlässigen; sie vermag aber (vor allem "gemeindeutsch") weiterzuhelfen, soweit Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht sinnvoll ist 9 3 9 (was immer mehr der Fall wird): Diese kann hier ein Argument für die rechtliche Gleichrangigkeit unterschiedlicher Normierungstechniken sein.
936
Eine solche Vertauschbarkeit besteht mitunter auch zwischen dem ersten Artikel einer Verfassung und der Präambel, vgl. Art. 1 Abs. 1 Verf. Württemberg-Baden von 1946 (zit. nach Dennewitz, Verfassungen, aaO.), mit der Verfassungspräambel von Hamburg (1952). Es ist bemerkenswert, daß mehrere neue Verfassungen in Afrika die Präambel ausdrücklich zum (integrierenden) Bestandteil ihrer selbst erklären, was sich der Lehre und Judikatur in älteren Verfassungsstaaten annähert, die den Präambeln volle normative Kraft beilegen (BVerfGE 36, 1): vgl. Präambel Verf. Burkina Faso (1997), Art. 65 Verf. Kamerun (1996), Präambel Verf. Togo (1992), Präambel Verf. Tschad (1996) - alle Texte zit. nach: H. Baumann/M. Ebert, Die Verfassungen der francophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrika, 1997. 937 Vgl. z.B. den "restraint" in Präambel-Poesie der Verf. Hessen (1946) mit der detaillierten Ausgestaltung von Grundrechten und Demokratieprinzip im Verfassungstext. 938 Vgl. auch BayVerfGHE, N.F., 9, 147 (154).- Weitere "Im Geiste-Klauseln": Art. 134, 136 Abs. 2 Verf. Bremen (1947). 939 Vgl. bes. J.M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 99 (1974), S. 193 ff. Allgemein oben Fünfter Teil IV.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (2) Die normative Bindungswirkung von Präambeln
Ein Wort zur normativen Bindungswirkung von Präambeln 940. Ihre wissenschaftliche Strukturierung muß differenzieren: zu unterschiedlich und reich gegliedert ist die "Landschaft" der einzelnen Präambeln. Generell haben sie Ähnlichkeit mit den Planungszielen941. Wie diese formulieren sie Zielvorgaben, die zum Teil so komplex sind, daß sie sich nicht in Wenn-Dann-Sätzen, also nicht konditional formulieren lassen 942 . Sie bedeuten aber kein Aliud gegenüber dem Normativen. Versteht man Verfassung als normativen Gesamtplan943, so fügen sich Präambeln in dieses Konzept durchaus ein: Sie sind "Leitmotiv der Verfassung" 944. Präambeln entziehen sich jedenfalls der für sie unangemessenen Alternative: Programmsatz oder unmittelbar bindendes positives Verfassungsrecht. Sie sind auch als "programmatische" Sätze "schon" von positiver Wirkung 945 . Ihre je konkrete Ausformung in den nachfolgenden Verfassungsartikeln erschöpft nicht ihre Bedeutung. Es bleibt immer ein Stück "überschießender Tendenz" bei aller späteren Positivierung. So war z.B. das grundgesetzliche Gebot deutscher Einheit in manchen Perioden zum Teil eher im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit, dann rückte es wieder stärker ins Bewußtsein, heute ist es erfüllt.
940 Vgl. /. von Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., 1981, (4. Aufl. 1992), Präambel/Rdnr. 2 und 3 m.w.N.; femer D. Zais, Rechtsnatur und Rechtsgehalt der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Diss. jur. Tübingen 1973, S. 9 ff., 31 ff.; H Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Rd. Nr. 8 ff.; B. Wiegand, Das Prinzip Verantwortung und die Präambel des Grundgesetzes, JöR 43 (1995), S. 31 ff. Überholt, aber historisch aufschlußreich D. Wilhelm, Ist die Präambel des Bonner Grundgesetzes abänderbar?, ZRP 1986, S. 267 ff. S. auch W. Geiger, Zur Genesis der Präambel des GG, EuGRZ 1986, S. 121 ff. 941 Dazu W. Schmitt Glaeser, Konflikt und Planung, in: Die Verwaltung 15 (1981), S. 277 (289 ff.) m.w.N. 942 Vgl. auch K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, 1. Aufl. 1977 (jetzt 2. Aufl. 1984), S. 104. 943 Dazu A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: W. Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1969, S. 37 ff. 944 So BayVerfGHE, N. F., 9, 147 (194) im Anschluß an H Nawiasky/C. Leusser, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 1948, Vorspruch / Erl. 3, S. 78; T. Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl., 1978, Vorspruch / Rdnr. 2 (S. 61) entnimmt der Präambel für die Auslegung der Verfassung "rechtserhebliche Grundsätze"; ebenso ders., 4. Aufl. 1992, ebd. S. 67. 945 Vgl. für die Präambel des GG auch W. Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, 1957, S. 154: Die Präambel enthalte keinen Rechtssatz, sei aber für die Gesetzesauslegung "allgegenwärtig".
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Diese rechtliche Bindung besteht unabhängig von den jeweiligen Sprachschichten in der Präambel und läßt sich als Tableau einer unterschiedlichen Intensität des normativen Wirkens und einer unterschiedlichen Geltungsebene von Präambeln zeichnen: 1. Manche (Teile von) Präambeln wirken in Verbindung mit nachfolgenden Verfassungsartikeln. Beispiele sind bzw. waren die Präambel des Grundgesetzes (Einheit Deutschlands) in Verbindung mit Art. 146 a.F. Grundgesetz oder Präambel Verf. Bayern (Würde des Menschen) in Verbindung mit Art. 100 ebenda 946 : jüngst die Verpflichtung auf den Umweltschutz (Präambel Verf. Brandenburg bzw. Art. 2 Abs. 1, Art. 30 und 40) oder die Beschwörung der "europäischen Völkergemeinschaft" (Präambel Mecklenburg-Vorpommern und das Europa-Ziel in Art. 11 ebd.). 2. Manche Präambeln entfalten allein und als solche ohne die Konkretisierung in nachstehenden Artikeln normative Kraft. Das gilt etwa für die Präambelteile der Verfassung Hamburg "Friede" und Völker-Mittlerin. Sie vermögen in Hamburg die Kraft von Erziehungszielen zu entfalten, und der hamburgische Schulgesetzgeber hat dies auch so verstanden 947. Diese Präambelgehalte können ferner in den Ermessensbereich staatlichen Handelns determinierend hineinwirken, etwa bei der Subventionsvergabe im Kulturbereich. 3. Präambeln können Interpretationstopoi (ohne Zwischenschaltung von Verfassungsartikeln) für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts sein und kombiniert mit Verfassungsartikeln und Gesetzesrecht auf den Interpretationsprozeß der Verwaltung und der Justiz wirken. 4. Gestaltungsspielräume des Staates in allen seinen drei Funktionen werden aus Präambeln inhaltlich gespeist. Hier verbinden sich Momente "bloßer" Programmatik mit Positivität. Selbst die Außenpolitik wird hier rechtlich gebunden (man denke für die Deutschlandpolitik an das Grundlagenvertragsurteil: BVerfGE 36, 1, s. auch E 77, 137 (149 f.)). Bei den Adressaten von Präambeln ist zu differenzieren: Ohne zusätzlichen staatlichen Positivierungsakt, sei es des Gesetzgebers, sei es der Verwaltung oder des Richters, sind Präambeln für den Bürger "nur" moralischer Appell
946 S. auch Verf. Baden-Württemberg (Präambel: "Verantwortung vor Gott") in Verbindung mit dem Erziehungsziel "Ehrfurcht vor Gott" in Art. 12 Abs. 1; das Rechtsgut "Friede" in Präambel Bremen i.V.m. dem Erziehungsziel "friedliche Zusammenarbeit" (Art. 26 Ziff. 1) sowie dem Staatsziel "Frieden" (Art. 65). 947 Nachweise in: P. Häberle, Verfassungsprinzipien, aaO, FS Huber, S. 227.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
ohne unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit 948 - so sehr sie ihn sprachlich in (sozial-)ethischer Hinsicht wie "soft law" "ansprechen" wollen. Präambeln sind im Blick auf den Bürger grundsätzlich nicht "seif executing", weil für ihn zu allgemein, zu politisch oder zu "kulturell".- Für die staatlichen Funktionen aber - also den verfassungsändernden Gesetzgeber ebenso wie den Gesetzgeber, die Exekutive wie die Rechtsprechung - besitzen die Präambeln in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Folgenwirkung die skizzierte normative Bindung: von der "bloßen Programmatik" über den Interpretationstopos 949
und das Erziehungsziel bis zum Verfassungsauftrag (wie dem seinerzeitigen Wiedervereinigungsgebot in Deutschland) und "positiven" Rechtssatz. Präambeln fundieren das geltende Verfassungsrecht, sie bekräftigen es, sie "dirigieren" das untergesetzliche Recht und sie determinieren flexibel politisches Handeln. Letztlich sind sie eine Art Normativitätsreserve. e) Präambeländerung ohne Verfassunggebung? Ein Sonderproblem ist die Frage, ob Präambeln im Wege bloßer Verfassungsänderung modifiziert werden können oder ob sie wegen ihres Grundlagencharakters eigentlich nur in die Kompetenz des Verfassunggebers fallen. Aktuell war das Problem in Deutschland im Blick auf die von linken Gruppierungen noch Mitte der 80er Jahre immer wieder geforderte Streichung des 950
Wiedervereinigungsauftrags des Grundgesetzes 948
Weitergehend aber T. Maunz, in: Maunz/Dürig, aaO., Präambel Rdnr. 9 (betr. das seinerzeitige Wiedervereinigungsgebot), vgl. zur jetzigen Rechtslage ebda., Stand 1996, Präambel Rdnr. 35. 949 Zu Verfassungsaufträgen: P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven. Zu den "nicht erfüllten Gesetzgebungsaufträgen", in: AöR 90 (1965), S. 341 ff; E. Wienholtz, Normative Verfassung und Gesetzgebung. Die Verwirklichung von Gesetzgebungsaufträgen des Bonner Grundgesetzes, 1968; ders., Arbeit, Kultur und Umwelt als Gegenstände verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, AöR 109 (1984), S. 532 ff.; R. Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR 112 (1987), S. 26 ff. Zum Ganzen schon Fünfter Teil VIII Ziff. 6. 950 Es war schon aktuell bei der Aufhebung der Präambel der Verf. Saarland vom 15. Dez. 1947 (ABl. S. 1077). "In Vollzug" der Volksbefragung vom 2. Okt. 1955 hat der saarländische Landtag mit der für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheit in § 1 des Gesetzes Nr. 548 vom 20. Dez. 1956 (ABl. S. 1657) kurzerhand normiert: "... Die Präambel kommt in Fortfall...". Diese voluminöse Präambel hielt sich sprachlich an das klassische Muster ("berufen", "durchdrungen", "vertrauend"). Inhaltlich betonte sie die Hinwendung nach Frankreich einerseits, die Abwendung von der Vergangenheit andererseits. Sie verankerte "Freiheit", "Menschlichkeit", "Recht und Moral" als "Grundlagen des neuen Staates" sowie Völkerverständigung, "Ehrfurcht vor Gott" und Friedensdienst.- In Portugal planten die Regierung Balsemao und die sozialistische
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Anders als bei einem Gesetz ohne Präambel 951 gilt für eine Verfassung mit Präambeln 952 , daß hier der "ganze Unterbau von Absichten und Wünschen" des Verfassunggebers (zum Teil als "Überbau"!) in Gestalt eines Rechtstextes lebendig und manifest bleibt. Sicher will sich der Verfassunggeber durch die Wahl einer besonders feierlichen Sprache nicht nur selbst eine besondere Dignität und Weihe geben: Inhaltlich möchte er seinen Willen und sein Selbstverständnis verdeutlichen, um sie der weiteren Entwicklung der Verfassung als Mahnung und Verpflichtung, aber auch als Legitimation auf den Weg zu geben. Insofern stehen Präambeln "zwischen" dem subjektiven Willen und Bewußtsein des Verfassunggebers und dem objektivierten Verfassungstext: als eine Art "Urquelle" wie der "pouvoir constituant" überhaupt. Hier wird eine gewisse Nähe zu Art 79 Abs. 3 Grundgesetz sichtbar 953 . Gewiß "hält" die Verfassung wesentlich durch eigene Kraft und Schwere, hat sie ihre Wachstumsprozesse etc., aber sie lebt sie zusammen mit der Präambel und ihrer GeOpposition die Streichung von Präambelsätzen, die für Portugal den Sozialismus als Endziel vorschreiben (zit. nach Archiv der Gegenwart 51 (1981), Folge 28, S. 24674). Noch heute spricht indes die Präambel vom "sozialistischen Gesellschaftssystem" (zit. nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl. 1996).- Zur Änderung der Präambel des GG im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung: H Dreier, aaO. Rn. 11 ff. 951 Um mit K. Binding , Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 454, zu sprechen: "Mit dem Moment der Gesetzespublikation verschwindet mit einem Schlag der ganze Unterbau von Absichten und Wünschen des geistigen Urhebers des Gesetzes, ja des Gesetzgebers selbst; und das ganze Gesetz ruht von nun an auf sich, gehalten durch die eigene Kraft und Schwere, erfüllt von eigenem Sinn...". 952 Die Beratungen zu den deutschen Länderverfassungen nach 1945 zeigen, wie wichtig die Präambeln politisch und normativ genommen wurden, wie stark die Beteiligten um ein bestimmtes Staats- und Menschenbild in ihnen rangen und wie sehr das Ergebnis meist ein Kompromiß war, vgl. die Belege bei B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973, S. 63 f., 84 f., 99 f., 112 f., 128 f., 148 f., 164 f , 179 f. Zu einigen dieser Präambeln als Ausdruck überpositiven Verfassungsdenkens ders., Die Länderverfassungen in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, in: JöR, N. F, 26 (1977), S. 1 (7). Zu Hamburgs Präambel als "Verfassung in Kurzform" ders., ebda. S. 26. Inhaltlich und rechtlich folgt Beutler einer "mittleren Linie": Präambeln sollen allgemeine Grundsätze der Auslegung der Verfassung enthalten, die weder bloß unverbindliches Programm noch Rechtssätze sind, auf die sich der einzelne berufen könnte (ebda, S. 31, unter Hinweis u.a. auf Bay VerfGHE, N. F, 9, 147 (154); 22, 26).- Die Landesverfassungen in Ostdeutschland nach 1945 bis zur Wiedervereinigung (z.B. Brandenburg und Sachsen: 1947) hatten keine Präambeln (zit. nach Dennewitz, Bd. II, aaO.). 953 S. auch Grimmer, Demokratie, aaO, S. 179.- Art. 129 Abs. 2, 136 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz wendet sich ausdrücklich gegen verfassungsändernde Gesetze, welche die im Vorspruch niedergelegten Grundsätze verletzen. Art. 176 Abs. 1 Verf. Türkei (1982, zit. nach JöR 32 (1983), S. 593) rechnet die "Präambel, welche die der Verfassung zugrundeliegenden Hauptgesichtspunkte und Prinzipien klarlegt", ausdrücklich "zum Text der Verfassung". Vgl. schon oben Anm. 936.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
schichte. Die "Absichten" und "Wünsche" des Verfassunggebers werden der Verfassung in der Präambel spezifisch mit auf den Weg gegeben: sprachlich schon an Formulierungen wie "in der Absicht", "im Wunsche", "in der Erkenntnis" etc. erkennbar. Freilich: auch die Gehalte von Präambeln können sich im Kräfteparallelogramm der Zukunft wandeln 954 . Daraus ergibt sich für die Frage der Präambeländerung folgendes: Wo sich Abschnitte der Präambel klar unterscheiden lassen und sich nur auf ein bestimmtes Ziel ausrichten, mag man dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Kompetenz zusprechen (Partialrevision!). Wo aber Präambeln in ihrer Eigenart als Quintessenz der Verfassung als Ganzes geändert oder gestrichen werden sollen, steht eine solche "Totalrevision" nur dem Verfassunggeber zu 9 5 5 . f)
Verfassungspolitische
Konsequenzen
Präambeln sind nach allem für verfassungsstaatliche Verfassungen grundsätzlich wünschenswert. Die Erarbeitung von Kriterien für ihre optimale Gestaltung und ihren überlegten Einsatz kann zwar nur kulturspezifisch gelingen, z.B. in Deutschland anders als in der Schweiz; dennoch läßt sich ein Modell oder Idealtypus der Präambel einer verfassungsstaatlichen Verfassung gewinnen, wenn man sich zunächst der Gefahren bewußt wird. Präambeln dürfen den nachfolgenden Verfassungstext nicht überwuchern und detailliert vorwegnehmen wollen. Sie dürfen, ja müssen oft Kompromisse formulieren, nicht aber ein Konglomerat letztlich unlösbarer Gegensätze. Vor allem sollten Präambeln keine theologieähnlichen Ansprüche an die Verfassung und ihre Interpreten stellen: Gerade über Präambeln drohen Ideologisierungen des Rechts9 6 . Totalitäre Staaten von rechts und links neigten nicht zufällig dazu, sich der Präambel in barocker Fülle zu bedienen 957 . Dadurch wird das übrige Recht potentiell aufgeweicht, auch verbogen und unsicher.
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Bedenken gegen den Begriff "Verfassungswandel" als solchen bei P. Häberle, Zeit und Verfassung (1974), in ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, 2. Aufl. 1996, S. 59 (82 f.). 955 Vgl. aber auch H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953), jetzt in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 95 f.: Das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des GG sei keine verfassungsimmanente Grenze der Verfassungsänderung. 956 Vgl. allgemein W. Maihofer (Hrsg.), Ideologie, aaO. 957 Vgl. die überlange, redefreudige und dadurch vage Präambel zu Francos Verfassungsgesetzen, abgedruckt bei P.C. Mayer-Tasch, Verfassungen, aaO., oder die fast vier Seiten lange Präambel der seinerzeit neuen Verfassung der UdSSR (1977), s. die deutsche Fassung des Progress-Verlags, Moskau 1977. Auch die meisten seinerzeitigen
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Demgegenüber verlangt die Positivität des Verfassungsrechts als eine Errungenschaft des Verfassungsstaates, daß Willens- und Wunschkundgebungen, wie sie für Präambeln typisch sind, nur auf das für das politische Gemeinwesen Notwendige und Wichtige beschränkt bleiben. Barocke, "überladene", überfrachtete Präambeln wie etwa die der Verfassung Japans958 sind zu vermeiden. Ein Übermaß an Bekenntnissen und eine Überfülle von Postulaten kann verwirren und ihre Glaubwürdigkeit behindern, so wenn die Präambel der (alten) Verfassung von Südafrika von 1961 959 fast zur Hälfte aus Anrufungen Gottes besteht: Sie erschwert es Nicht-Gläubigen, sich mit der Verfassung zu identifizieren, und die Religionsfreiheit ist ja eine wesentliche Errungenschaft des Verfassungsstaates 960. Umgekehrt sollten Präambeln auch nicht zu spartanisch sein. Schon die der Verfassung Hessen (1946) ist vielleicht zu knapp geraten, zumal sie später an Bekenntnisartikeln und Erziehungszielen mit Recht nicht spart; die Niedersächsische Verfassung von 1951 enthält praktisch keine Präambel - aus ihrem Selbstverständnis als vorläufige Verfassung heraus mag dies erklärlich sein 961 (anders jetzt Verf. von 1993/94).
Verfassungen der übrigen kommunistischen Staaten (zit. nach der gleichnamigen Ausgabe von G. Brunner und Boris Meissner, 1980) enthalten überladene Präambeln bzw. "Einführungen" (z.B. Albanien, 1976; Bulgarien, 1971; Jugoslawien, 1974; Vietnam, 1959; Kambodscha, 1976; geltend Kuba, 1976). Nur Rumänien (1965) begann seine Artikel ohne Vorspruch.- So sehr die Eigenart verfassungsstaatlicher Verfassungen Präambeln nahelegt, so zurückhaltend ist ihr Nutzen bei Gesetzen zu beurteilen. Ein abschreckendes Beispiel ist die Präambel des EnergiewirtschaftsG (1935), jetzt die der EG-KartVO Nr. 17 (1962). Präambeln sollte der demokratische Gesetzgeber je nach Sachgebiet und Adressatenkreis, wenn überhaupt so differenziert verwenden: Straf-, Steuer- und Polizeigesetze und zugehörige RVO sollten ohne Präambel sein, ebenfalls aus rechtsstaatlichen Gründen sollte das Privatrecht im ganzen präambellos bleiben. Für Plangesetze, auch programmatische Raumordnungs- und Sozialgesetze mag anderes gelten. Der Sache nach enthalten sie oft im Eingangsartikel bzw.-paragraphen Präambelartiges (vgl. das Beispiel bei H. Höger, Die Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, 1976, S. 31). Zweckbestimmungen vor oder in Gesetzen bleiben aber wegen ihrer Ideologisierungen latent gefährlich. Ausgefeilte Gesetzgebungskunst sollte sie nur selten und gezielt einsetzen. 958 Zit. nach Franz, Staatsverfassungen (aaO.). 959 Zit. nach Peaslee (Ed.), Constitutions (aaO.). 960 Bemerkenswert aber der Generationenbezug: "... God, ... Who has guided them from generations to generations". 961 Im Schlußbericht der Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bd. VI, 1973, S. 59 ff, wird die Frage einer Präambel für die Schweiz eingehend erörtert. Ihre Neuformulierung (ebda, S. 61) lautet u.a.: "... entschlossen ... die Würde und die Rechte der Menschen zu wahren, bestrebt, einen dauernden Beitrag an die Förderung der Wohlfahrt und des Friedens im Lande und in der Völkergemeinschaft zu leisten...". Einen Überblick über die weitere Diskussion gibt der Bericht der Expertenkommission, Bern 1977, S. 18 ff. Bemerkenswert ebda, S. 19: "Die Präambel nimmt in dieser Dialektik von Geist und Buchstaben eine Sonderstellung
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Ein sprachliches und inhaltliches Optimum ist die Präambel von A. Muschg für den Schweizer Verfassungsentwurf von 1977; geglückt ist auch die Präambel der Verfassung Indiens von 1949 962 sowie Venezuelas von 1961; beide beweisen positive Kriterien für "gute" Präambeln. Rechtstechnisch liegt die überlegte Verwendung von "Im Geiste-Formeln" nahe - zur Anknüpfung an fundierende Traditionen einerseits (kulturelles ErbeKlauseln), Hoffnungen und Wünsche eines Volkes andererseits ("Fortschrittsund Wunschklauseln"). Ein Stück "konkreter Utopie" erscheint als verfassungsadäquat: Es ist sogar gefordert! Der Auftrag zur deutschen Einheit in der Präambel des Grundgesetzes ist auch ein Stück solcher Utopie (geworden) und hat sich dann (doch) erfüllt. "Sprachpolitisch" und sprachästhetisch sollten gute Präambeln am besten Stilelemente aller drei Spracharten (nämlich die Feiertags-, Alltags- und Fachsprache) verbinden: entsprechend den verschiedenen Funktionen und Primäradressaten von Präambeln. Doch darf das Feiertags- und Alltagssprachliche im Vordergrund stehen; das zunftmäßig Juristische ist nicht zwingend geboten. Die Sache, die Verfassungspräambeln zur Sprache bringen, sind ein Stück "Botschaft" 963 . Eine Annäherung der Präambelsprache an die juristisch-technische Fachsprache oder an eine gehobene mittlere Umgangssprache brächte die Präambeln um ihr Proprium 964 . Ihre bürgerintegrierende Funktion läßt sich
ein", "... Ziel der Präambel wird es sein müssen, einen Minimalkonsens auszudrükken...". "Er ist die Basis und damit der Stolz eines freiheitlichen Staatswesens. Er verdient demzufolge eine Formulierung, die seiner besonderen Würde entspricht". Zur Diskussion der Präambel auch P. Dürrenmatt, Die Totalrevision der Bundesverfassung, in: Verfassung mit halber Substanz..., Zürich o.J., S. 16 ff - A. Muschgs Präambelentwurf lautet: "Im Namen Gottes des Allmächtigen! Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiß, daß frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht,/ und daß die Stärke des Volkes sich mißt am Wohl der Schwachen;/eingedenk der Grenzen aller staatlichen Macht/ und der Pflicht, mitzuwirken am Frieden der Welt..." (zit. nach JöR 34 (1985), S. 536). 962 Zit. nach Peaslee, (Ed.), Constitutions, aaO.: "We, the People of India, having solemnly resolved to constitute India into a Sovereign Democratic Republic and to secure to all its citizens: Justice, social, economic and political; Liberty of thought, expression, belief, faith and worship; Equality of status and of opportunity; and to promote among them all Fraternity assuring the dignity of the individual and the unity of the Nation; In our Constituent Assembly this twenty-sixth day of November, 1949, do hereby Adopt, Enact and Give to Ourselves this Constitution". 963 Historisch mögen sich Verbindungslinien zu theologischen Texten ziehen lassen: vgl. die Vorrede zur Confessio Augustana (1530). 964 Siehe auch die Präambel zum Entwurf einer Verfassung für Europa (1951), abgedruckt in P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Verfassungen (aaO., S. 832 ff). Zum ganzen noch Fünfter Teil X.- Zu „Inhalte(n) und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages" jetzt gleichnamig: A.-C. Kulow, 1997.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen gerade nicht dadurch erreichen, daß sie dem "banalen" Alltagsdeutsch folgt. Es ist dann Sache der Juristen, die inneren Verbindungslinien zwischen der Präambel als Essenz der Verfassung bzw. ihren Grundsätzen, Bekenntnissen, Wünschen und Hoffnungen einerseits und den übrigen juristischen Texten der Verfassung andererseits herauszuarbeiten. Der Einsatz von Präambeln ist mithin ein Stück rationaler Verfassungskunst, auch soweit es um Irrationales, um "Glaubensbekenntnisse" geht. Er sollte sich kodifikatorisch und interpretatorisch an folgenden Anforderungen orientieren: (1) Präambeln wollen als "Orientierungsrahmen" die staatlichen Funktionen, den Bürger und das Gemeinwesen im ganzen je unterschiedlich in Pflicht nehmen. Empfehlenswert ist, die Präambel als Forum der Verantwortung zu gebrauchen: wenn nicht vor Gott oder der „Schöpfung", so doch vor vorstaatlich gedachten Prämissen (wie den heutigen und künftigen "Generationen" oder dem Gewissen). Mindestens eine Art "Selbstbindung" der staatlichen Gewalt und des Menschen bzw. Bürgers sollte formuliert werden: ein Minimum an Sozialethik gehört hierher. (2) Präambeln stehen wie jede Verfassung im Spannungsfeld von Geschichte, Gegenwart und Zukunft und sollten daher alle drei Zeit-Dimensionen 965
- prägnant - ins Auge fassen . (3) Präambeln sollen thematisch eine Art Quintessenz einer Verfassung sein und die besonders wichtigen "Grundsätze" enthalten (z.B. ein Bekenntnis zu Menschenrechten, zur Einheit etwa Irlands, zur europäischen Option, zur Völkerfamilie), sich aber nicht in Einzelheiten verlieren. (4) Die Inhalte von Präambeln müssen in adäquater Form gefaßt sein: Ihrer spezifischen Aufgabe gemäß sollten Gesichtspunkte des Feierlichen, aber auch des Bürgernahen durch Verwendung von allen drei Sprachebenen des Feierlichen, des Alltäglichen und des Fachlich-Juristischen berücksichtigt werden; Klang und "Wort-Laut" sind dabei sehr ernst zu nehmen. Zusammenfassend: Präambeln sind ein Appell an alle Bürger und eine Weisung für den Juristen. Sie bilden (sofern positiviert) ein Herzstück verfassungsstaatlicher Verfassungen, eine Verfassung (in) der Verfassung. Sie stellen
965
Bemerkenswert der Präambel-Passus aus Verf. Bayern (1818): "Endlich eine Gewähr der Verfassung, sichernd gegen willkürlichen Wechsel, aber nicht hindernd das Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen". Dazu K. Möckl, Der Moderne Bayerische Staat, 1979, S. 238; ebda, S. 152 auch zur Präambel der Konstitution von 1808.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
der Theorie und Praxis noch viele Aufgaben 966 . Sie sind aber auch eine große Chance: weil sie über scheinbar äußerliche Momente der Sprache zu tieferen Inhalten und Funktionen von Verfassungen führen. Präambeln gehören zum Feiertag und Alltag eines Verfassungsstaates. Daß sie der Sprache und dem Verständnis des Bürgers nahekommen, ist eine oft erfüllte Forderung. Daß sie gleichwohl für die Fachsprache und die praktische Aufgabe des Juristen ergiebig sind, sucht diese Arbeit zu belegen. So führen Präambeln in exemplarischer Weise alle Interpreten einer offenen Gesellschaft zusammen. g) Neueste Präambelentwicklungen Auch die neuesten Verfassungen und Verfassungsentwürfe bedienen sich gerne der "Kunstform" der Präambel. Um im deutschsprachigen Raum zu beginnen: Verf. Bern (1993) stimmt sich bzw. ihre Bürger in den Worten ein: "In der Absicht, Freiheit und Recht zu schützen und ein Gemeinwesen zu gestalten, in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammenleben, gibt sich das Volk des Kantons Bern folgende Verfassung:" Die neue Verfassung Appenzell A. Rh. (1995), die im übrigen in vielen Teilen Bern schöpferisch rezipiert 967 , geht durchaus eigene Wege der Fortentwicklung gemeinschweizerischer Präambelkultur in den Worten: "Im Vertrauen auf Gott wollen wir, Frauen und Männer von Appenzell Außerrhoden, die Schöpfung in ihrer Vielfalt achten. Wir wollen, über Grenzen hinweg, eine freiheitliche, friedliche und gerechte Lebensordnung mitgestalten. Im Bewußtsein, daß das Wohl der Gemeinschaft und das Wohl der Einzelnen untrennbar miteinander verbunden sind, geben wir uns folgende Verfassung:" Mehr als bloßes "Baumaterial" liefert zur jüngsten Präambel-"Bewegung" in der Schweiz der Privatentwurf A. Kölz/J.P. Müller 1984, 3. Aufl. 1995) in den Worten: "Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk, 966 Zwei hintereinander geschaltete Präambeln enthält die Verf. Kanada vom Dezember 1981: neben der allgemeinen ("Considérant: ... certains droits et libertés fondamentaux ...") auch eine dem Grundrechtskatalog vorangeschickte ("Attendu que le Canada est fondé sur des principes qui reconnaissent la suprématie de Dieu et la primauté du droit:"). Zit. nach JöR 32 (1983), S. 639. 967 Dazu P. Häberle, Die Kunst der Verfassunggebung - das Beispiel in St. Gallen, Schweiz. ZB1. 1996, S. 97 ff.; s. auch D. Thürer, "...die Männer und Frauen" - Ein Porträt der jüngsten schweizerischen Kantonsverfassung, Schweiz ZB1. 1996, S. 433 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern und die Freiheit vor Übergriffen der Macht zu schützen, in der Absicht, ein Gemeinwesen zu gestalten, in dem die Menschen solidarisch in einer gerechten Ordnung zusammenleben, im Bewußtsein der Verantwortung für die Bewahrung einer gesunden und lebenswerten Umwelt auch für die kommenden Generationen, in der Bereitschaft, mitzuwirken an der Linderung von Hunger und Armut auf der Welt und am Frieden zwischen den Völkern, gibt sich die folgende Verfassung:" In ähnlichem "Ton" klingt die Präambel des Verfassungsentwurfs des Kantons Tessin (1994) 968 : "Il popolo ticinese cosciente delle sue responsabilità verso il creato e le generazioni future; consapevole che libero rimane solo chi usa della sua libertà; convinto che la forza di un populo si commisura al benessere del più debole dei suoi membri; memore dei limiti si qualsiasi potere statale; si dà la seguente Costituzione:" Bemerkenswert ist in diesen neuen Präambeltexten u.a., daß der Umweltschutz so ranghoch figuriert, er, der in "alten" Verfassungen wie Bayern (1946) via Verfassungsänderung nicht in die Präambel aufgenommen wurde, sondern in den Kontext der Erziehungziele (Art. 131 Abs. 2 a.E.) bzw. in einen eigenen Umweltschutz-Artikel (Art. 141). Neue ostdeutsche Länderverfassungen gehen z.T. dreifach vor: sie erwähnen den Umweltschutz schon in der Präambel (Verf. Brandenburg, 1992; Verf. Sachsen von 1992), sodann in den Erziehungszielen (Art. 28 Verf. Brandenburg), schließlich auch noch in eigenen Umweltschutz-Artikeln (Art. 39 Verf. Brandenburg; Art. 10 Verf. Sachsen) ein Beleg für die hier entwickelte flexible Präambeltheorie. Lenken wir den Blick auf Verfassungen der Reformstaaten in Osteuropa und Asien, so mag zunächst die Verfassung der Slowakischen Republik (1992/ 1993) 969 zu Wort kommen, folgt sie doch ganz den klassischen Linien der Verarbeitung von Geschichte bzw. einer Erbes-Klausel und des Entwurfs von Zukunft, der Festlegung von Prinzipien und dem Postulat bürgernaher, klangvoller Form bzw. Sprache:
968 Zit. nach J.-F. Aubert u.a., La revisione totale delle costituzione ticinese, 1996, S. 81. Vgl. auch Verfassungsentwurf Waadtland (1997): "Désireux de former une société juste, harmonieuse et fraternelle, soucieux de nouer avec les autres peuples des relations ouvertes, pacifiques et fécondes, convainu que la liberté de chacun repose sur la dignité de tous et que les droits des personnes limitent le pouvoir de l'Etat, conscient des ses devoirs envers les faibles et de des responsabilités a l'égard des générations futures, le peuple du canton Vaud...". 969 Zit. nach Osteuropa-Recht, 1993, S. 167 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft "Wir, das slowakische Volk, eingedenk des politischen und kulturellen Erbes unserer Vorfahren und jahrhundertelanger Erfahrungen aus den Kämpfen um nationale Existenz und eigene Staatlichkeit, im Sinne des cyrillo-methodeischen geistigen Erbes und des historischen Vermächtnisses des Großmährischen Reiches, ausgehend vom Naturrecht der Völker auf Selbstbestimmung, gemeinsam mit den Angehörigen der nationalen Minderheiten und ethnischen Gruppen, die auf dem Gebiet der Slowakischen Republik leben, im Interesse einer dauerhaft friedlichen Zusammenarbeit mit den übrigen demokratischen Staaten, im Streben, eine demokratische Regierungsform und Garantien für ein freies Leben und der Entfaltung der geistigen Kultur und wirtschaftliche Prosperität durchzusetzen, beschließen als Bürger der Slowakischen Republik durch unsere Vertreter diese Verfassung:"
Die Ersetzung des "Volkes" durch die Bürger wird auch in den folgenden Artikeln durchgehalten, wenn es in Art. 2 Abs. 1 heißt: "Die Staatsgewalt rührt von den Bürgern her, die sie durch ihre gewählten Vertreter oder unmittelbar ausüben". Die Verfassung ist also in sich konsistent. Der Hinweis auf die Minderheiten dokumentiert im weltweiten Präambel-Vergleich eine neue Textstufe! Die Verfassung Turkmenistans (1992) 970 arbeitet mit Stichworten wie "ausgehend von der Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft des Vaterlandes", "Treue zum Leben der Vorfahren", "die nationalen Werte und Interessen wahrend" und - eine neue Wendung - : "Das Recht und die Freiheit eines jeden Bürgers garantierend und auf den inneren Frieden und die nationale Übereinstimmung bedacht, um die Säulen des Rechtsstaates und der Volksgewalt zu festigen". Die Aufnahme des Rechtsstaatsprinzips in die Präambel verdient besondere Beachtung. Sie erklärt sich aus der totalitären Vergangenheit. Drei weitere Beispiele müssen genügen, um darzutun, wie "wichtig" den postsozialistischen Reformstaaten Form und Inhalt von Präambeln sind und wie "konzentriert" sie hierbei vorgehen: teils in der Manier klassischer Verfassungsstaaten, teils neue Elemente entwickelnd. Die Verfassung von Aserbeidschan (1995) nennt Stichworte wie "assurer le bien-être des tous et de chacun", "Justice, la liberté et la sécurité"; sie bekennt sich zur "Verantwortung vor den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen" und u.a. zur Demokratie, zum Rechtsstaat, zum "Etat laïc" sowie zur "primauté des lois en tant qu'expression de la volonté du peuple". Eine neue Wendung findet sich in dem Textensemble: "en conservant l'attachement aux
970
Zit. nach JöR 42 (1994), S. 674 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen valeurs communes à l'humanité" - die Menschheit wird so zu einem verfassungsstaatlichen Grundwert! Und in bezug auf andere Völker wird die "coopération mutuellement avantageuse" zum Ziel gemacht - ein Stück "kooperativer Verfassungsstaat" in Präambelform bzw. die Idee einer völkerverbindenden Gegenseitigkeitsordnung wie sie sonst in Erziehungszielen anklingt (z.B. Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen von 1947: Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern; Art. 22 Verf. Thüringen von 1993: Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker). Die Verfassung der Ukraine (1996) spricht bildhaft von "providing for the strengthening of civil harmony on Ukrainian land" und sie erfindet eine neue Wendung in Sachen Demokratie und Rechtsstaat ("striving to develop and strengthen a democratic, social, law based state"). Besonders schöpferisch ist sie aber bei der Formulierung der Instanzen, gegenüber denen Verantwortung zu tragen ist: "recognizing our responsiblity before God, our own conscience, past, present and future generations". Diese denkbar glückliche Reihung und Reihenfolge sollte Schule machen. Auf weitere geglückte Präambeltexte sei verwiesen 971 . Der Verfassungsentwurf von Weißrußland (1994) beginnt sogar mit der Weltorientierung in der vierten Zeile "recognizing ourselves as a subject, with full rights, of the world community and confirming our adherence to values common to all mankind". Erst dann folgen bekannte Aussagen wie "unveräußerliches Recht der Selbstbestimmung", "jahrhundertelange Geschichte der Anwendung weißrussischer Staatlichkeit", Garantie der Rechte und Freiheiten jeden Bürgers, stabile Demokratie und "a state based on the rule of law". In Polen schmückt sich der jüngste Verfassungsentwurf von Seiten der "Solidarität" (Juni 1994) mit einer Präambel, was um so auffälliger ist, als die meisten älteren Entwürfe noch keine Präambel hatten 972 . Diese Präambel charakterisiert sich durch eine besonders breite und tiefe Darstellung der (Verfassungs-)Geschichte und hieraus erwachsener Grundwerte bzw. das kulturelle Erbe, die Berufung auf Naturrecht sowie die Erstellung des Gottesbezugs. Das 971 Vgl. Verf. Bulgarien, zit. nach JöR 44 (1996), S. 497 ff.: "declarant notre fidélité aux valeurs universelles: liberté, paix, humanisme, égalité, équité et tolérance" sowie das Ziel der Schaffung eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates. Verf. Tschechien von 1992, zit. nach JöR 44 (1996), S. 458 ff, mit Elementen wie: "freien und demokratischen, auf der Achtung der Menschenrechte und den Prinzipien der Bürgergemeinschaft begründeten Staat und Bestandteil der Familie der Demokratien Europas und der Welt", "entschlossen, uns nach allen bewährten Grundsätzen des Rechtsstaates zu richten". Bemerkenswert auch Verf. Kasachstan (1995), die in ihrer Präambel die Begriffe Selbstverständnis und Zivilgesellschaft rezipiert: "... aus dem Selbstverständnis einer friedliebenden Zivilgesellschaft, die den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Eintracht zugewandt ist,...". 972 Dazu meine Dokumentation und Kommentierung in JöR 43 (1995), S. 184 ff. bzw. S. 105 ff, Ausnahme war der Entwurf des Senats (ebd, S. 231). 63 Häberle
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft zeigt sich in den Stichworten "almost one thousand year history", "our Christian faith and cultural heritage" und "the reversed Constitution of the 3rd of May". Verwiesen wird auf die Zweite Republik und ihre beiden Verfassungen, auf den Kampf gegen die Invasoren im Zweiten Weltkrieg und sogar auf die "legitimen Autoritäten der Republik" im Ausland sowie im polnischen "Untergrund", auf den patriotischen Widerstand von 1944 bis(!) 1989 und auf die "peaceful endeavours of the Solidarity". Schließlich findet sich die Formel "under the protection of law created by them, derived from the principles of the natural law" sowie der Gottesbezug ("in the name of God"). Einen hohen Reifegrad erreicht die Präambel Verf. Polen (1997) 973 . Sie ist überdies kulturwissenschaftlich besonders ergiebig: "Having regard for the existence and future of our Homeland, Which recovered, in 1989, the possibility of a sovereign and democratic determination of its fate, We, the Polish Nation - all citizens of the Republic, Both those who believe in God as the source of truth, justice, good and beauty, As well as those not sharing such faith but respecting those universal values as arising from other sources, Equal in rights and obligations towards the common good - Poland, Beholden to our ancestors for their labours, their struggle for independence achieved at great sacrifice, for our culture rooted in the Christian heritage of the Nation and in universal human values, Recalling the best traditions of the First and the Second Republic, Obliged to bequeath to future generations all that is valuable from our over one thousand years' heritage, Bound in community with our compatriots dispersed throughout the world, Aware of the need for cooperation with all countries for the good of the Human Family, Mindful of the bitter experiences of the times when fundamental freedoms and human rights were violated in our Homeland, Desiring to guarantee the rights of the citizens for all time, and to ensure diligence and efficiency in the work of public bodies, Recognizing our responsibility before God or our own consciences, Hereby establish this Constitution of the Republic of Poland as the basic law for the State, based on respect for freedom and justice, cooperation between the public powers, social dialogue as well as on the principle of aiding in the strengthening the powers of citizens and their communities. We call upon all those who will apply this Constitution for the good of the Third Republic to do so paying respect to the inherent dignity of the person, his or her right to freedom, the obligation of solidarity with others, and respect for these principles as the unshakeable foundation of the Republic of Poland." Wie nah sich die Kontinente in Sachen Verfassungspräambel heute sind, kann ein Blick auf Afrika belegen. Die Verfassung Namibias (1990) 974 orien973
Entwurf der Präambel von Tadeusz Mazowiecki.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen tiert sich am klassischen Kanon verfassungsstaatlicher Präambeln, sie geht aber auch neue eigene Wege, wobei die Präambelform von Staaten mit kolonialer bzw. autoritärer Vergangenheit wohl sehr bewußt als Konzentrat der neuen Grundwerte und geschichtlicher Zäsur gewählt wird. Gleich eingangs ist der Grundwert "recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human familiy" postuliert. Sodann werden die Rechte auf "life, liberty and the pursuit of happiness" einbezogen - eine Anleihe bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Unmittelbar hinzugefügt ist die neue Textstufe "regardless of race, colour, ethnic origin, sex, religion creed or social or economic status". Diese Rechte werden - laut Präambel - am effektivsten in einer "demokratischen Gesellschaft" geschützt, in der "die Regierung frei gewählter Repräsentanten des Volkes verantwortlich ist". Die Rede ist überdies - neu - von "operating under a sovereign constitution and a free and independent judiciary". Erst danach folgt die Verarbeitung von Geschichte ("finally emerged victorious in our struggle against colonialism, racism and apartheid") und das Bekenntnis zu Verfassungszielen wie "dignity of the individual and the unity and integrity of the Namibian nation among and in association with the nations of the world" sowie "justice, liberty, equality and fraternity", womit auch noch die Brüderlichkeit von "1789", ein in den francophonen Staaten Afrikas besonders traditionsreicher Grundwert integriert ist 9 7 5 . Damit ist Namibia eine Textstufe geglückt, die das Jahr 1776 mit dem Jahr 1789 in seiner Präambel zusammenführt und den Verfassungsstaat als amerikanisch-europäisch kulturelle Errungenschaft - jetzt auch in Afrika bezeugt. Diese Präambel leistet textlich insoweit etwas, was die vergleichende Verfassungslehre - mühsam genug - wissenschaftlich erst erarbeitet. Der Prozeß der Verfassunggebung in Südafrika hat zwei Präambeltexte hervorgebracht, die sich unterscheiden. Dabei ist der endgültigen Verfassung von 1996/97 eine Verdichtung, inhaltliche Anreicherung und sprachliche Verbesserung geglückt. Denn der Entwurf vom November 1993 ("Act to introduce a new Constitution") beginnt mit der leicht variierten "invocatio dei": "In humble submission to almighty God, We the people of South Africa declare that". Die Verfassung von 1996/97 trennt beide Präambelelemente. Einleitend steht das US-amerikanische Element "We, the people of South Africa" und erst am Schluß kommt Gott ins Bild: "May God protect our people" - dieser abgeschwächte Gottesbezug ist wohl eine gewisse Konzession an die säkulare Welt. Nicht mehr "im Namen Gottes" oder "in Verantwortung vor Gott", sondern nur 974
Zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff. Geglückt auch Präambel Niger (1996). Zu "1789": P. Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1989), S. 35 ff. (auch in: H. Krauß (Hrsg.), Folgen der Französischen Revolution, 1989, S. 61 ff.). 975
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
noch die Bitte um Gottes Schutz. Diese Textstufenentwicklung von GottesKlauseln im Verfassungsstaat ist im Auge zu behalten 976 . Der Entwurf von 1993 läßt das frühe Stadium seiner Entstehung insofern erkennen, als zuerst von der Errichtung einer neuen Ordnung die Rede ist ("common South African citizenship in an sovereign and democratic constitutional state") und sogleich auf die Gleichheit aller Menschen und Rassen Bezug genommen wird. Auch ist das Ziel der "nationalen Einheit" betont. Die endgültige Verfassung kann sich nachdem die nationale Einheit in den drei vergangenen Jahren vorangetrieben wurde - dem zuwenden, was jetzt das "Land im Innersten zusammenhält": im Blick zurück und im Blick voraus. Ein inhaltlicher und sprachlicher Reifungsprozeß in Sachen Verfassungspräambel ist dabei unverkennbar. Die Geschichte wird in dem "Dreizeiler" verarbeitet: "Recognize the injustices of our past; Honour those who suffered for justice and freedom in our land; Respect those who have worked to build and develop our country". Das erinnert an den ParallelPassus Brandenburgs von 1992 ("leidvolle Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft, eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit") oder Thüringens von 1993 ("leidvolle Erfahrungen mit überstandenen Diktaturen"), läßt aber auch die "Wahrheitskommission" als Konse977
qenz der Verfassung erscheinen . Die regional/föderative Vielfalt klingt an in der Präambelzeile: "Believe that South Africa belongs to all who live in it, united in our diversity" - eine kreative Textstufe. Die Dialektik von aus der Vergangenheit stammenden und die Zukunft betreffenden Verfassungszielen ist schließlich in den vier Forderungen erkennbar, die zugleich die Grundwerte der Verfassung umreißen: "Heal the violations of the past and establish a society based on democratic values, social Justice and fundamental human rights; Lay the foundations for a democratic and open society in which government is based on the will of the people and every citizen is equally protected by law; Improve the quality of life to all citizens and free the potential of each person; Build a united and democratic South Africa able to take its rightful place as a souvereign state in the family of nations." Mit dem Präambelstück "open society" ist der Klassikertext Poppers vom Verfassungstext im weiteren Sinne zu einem solchen im engeren Sinne geworden 978 , wie vordem bereits in der Präambel der (alten) Verfassung Perus von 1979 979 . Eine sprachlich neue Wendung ist in dem Begriff "potential of each 976
Näheres unten VIII Ziff. 9. Zuletzt Präambel Madagaskar (1995). Zu ihr: P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 20 f. 978 Dazu Fünfter Teil VII. 979 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641. Peru spricht auch von "Gottes Schutz anbefohlen", wahlverwandt zu Südafrika ist "God protect our people", auch ist von der "Brüderlichkeit aller Menschen" die Rede. S. auch Präambel Verf. Brasilien (1988), zit. 977
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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person" geglückt, während die Einordung als "souvereign state in the family of nations" in anderen Präambeln ein Gegenstück hat (z.B. Namibia: "in association with the nations of the world"), ähnl. Elfenbeinküste (1995). Von der Verfassungstextform "Präambel", die durchaus als "Kunstform" gelten darf, führt der Weg zu Gottes-Klauseln in verfassungsstaatlichen Verfassungen.
9. Gottes-Bezüge a) Problem Legitimation und Interpretation von "Gottes-Klauseln" in verfassungsstaatlichen Verfassungen lassen sich ebenfalls nur im kulturwissenschaftlichen Ansatz 980 bewältigen. Es hängt jeweils von der individuellen Kulturgeschichte eines Volkes ab, ob und wie es in seinen positiven Verfassungstexten auf Gott Bezug nimmt. Die Verfassungslehre als Wissenschaft vom Typus "Verfassungsstaat" kann schwerlich allgemein sagen, welches Gottes-Verständnis das "richtige", d.h. jeweils verfassungskonforme ist, wohl aber muß sie im Blick auf die "Essentialia" ihres Typus, nämlich Grundsätze wie Verfassungsstaat als "Heimstatt aller Bürger" (BVerfGE 19, 206 (216)), Verfassung als "Verfassung des Pluralismus" und der "Offenheit" 981 , individuelle und korporative Relinach JöR 38 (1989), S. 462: "höchste Werte einer brüderlichen, pluralistischen und vorurteilsfreien Gesellschaft".- Die neue Verfassung von Äthiopien (1994) enthält ebenfalls eine Präambel, die im Kontext der nachstehenden Prinzipien steht. Ihr ging eine "Interimsverfassung" von 1993 voraus ("Transnational Period Charta", 1993). Sie enthielt vorwegnehmend wichtige Prinzipien wie föderative Ausgestaltung, das Selbstbestimmungsrecht der äthiopischen Nationen und Nationalitäten, das Bekenntnis zu Menschenrechten. Die endgültige Verfassung von 1994 enthält u.a. die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Ethnizität und Self-determiation, Menschenwürde als Grundlage der Freiheit und Menschenrechte, Trennung von Staat und Religion und Religionsfreiheit sowie "Supremacy" des Verfassungsrechts. Dazu H. Scholler, Die neue äthiopische Verfassung, KAS-Auslandsinformationen, 12, 1996, S. 85 ff. 980 Dazu meine Schrift: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982. Zum folgenden mein Beitrag, Gott im Verfassungsstaat?, in: FS Zeidler, 1987, S. 3 ff, mit einer Typologie der Gottesklauseln bis 1986. Auffällig: Präambel Verf. Kanada (1981): "supremacy of God and the rule of law"; Präambel Verf. Costa Rica (1949): "im Namen Gottes und im Vertrauen auf die Demokratie..."; Präambel Togo (1996): "Schutz Gottes".- Aus der Lit. zuletzt: H. Dreier, aaO., Rdnr. 14 ff.; K. Lehmann, Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen - Demokratie und Menschenbild, FS H. Maier, 1996, S. 571 ff.; H.-G. Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung. Die Volksinitiative zur Novellierung der Niedersächsischen Verfassung, 1995. 981 Vgl. BVerfGE 41, 29 (50): "Der 'ethische Standard' des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser An-
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft gionsfreiheit (BVerfGE 24, 236 (246 f.); 30, 112 (120); 70, 138 (160 f.)), einschließlich der dem Verfassungsstaat möglichen Modelle von "Staatskirchenrecht" (besser: "Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft" bzw. "Religionsverfassungsrecht") 982, bestimmte Direktiven aufstellen: Will der Verfassungstyp als solcher seine Identität nicht verlieren, dürfen über Gottes-Klauseln, welcher Art auch immer, nicht bestimmte Inhalte und Zwänge ins Spiel kommen, die der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe gerade überwunden hat: indem er die offene Gesellschaft konstituiert und "Toleranz" garantiert 983 . Das schließt über Gottes-Klauseln grundierte Kulturgehalte und -traditionen nicht aus. Doch dürfen sie keine Wege öffnen für erklärte oder versteckte "Restaurationen" von Varianten des "christlichen Staates"984, von "Staatsreligionen", von Staatskirchentum ("Thron und Altar") etc. Daß im Rahmen der Verfassung des Pluralismus nach wie vor mehrere Modelle von "Staatskirchenrecht", besser
schauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität." 982 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in DÖV 1976, S. 73 ff. 983 Vgl. BVerfGE 52, 223 (237): "Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht auf die Glaubenswahrheit, und ist damit auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. Zu diesem Faktor gehört nicht zuletzt der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende." S. auch E 41, 65 (84): "Zweifellos ist das Christliche - als Ganzes gesehen - ein Stück abendländischer Tradition. Die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam sind, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet werden, äußern aus der gemeinsamen Vergangenheit des abendländischen Kulturkreises eine gewisse verpflichtende Kraft." - Ein gelungenes Beispiel "praktischer Toleranz" auf Verfassungstexthöhe findet sich in Art. 12 Abs. 6 rev. Verf. Nordrhein-Westfalen: "In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen." 984 Anders E.L. Behrendt, Gott im Grundgesetz, 1980, S. 286, die die "Wertgrundlage des christlichen Gottes von der Präambel an das gesamte Verfassungswerk vermittelt" sieht. Treffend BVerfGE 19, 206 (216): Das GG "verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Priviligierung bestimmter Bekenntnisse. Aus dieser Pflicht zur religiösen und konfessionellen Neutralität folgt..." (vgl. auch BVerfGE 12, 1 (4); 18, 385 (386)). S. auch C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 3. Aufl., 1985, Präambel Rdn. 25: "Mit der Formel als Motivation ist weder eine Verpflichtung auf das Christentum oder auf einen persönlichen Gott zum Ausdruck gebracht noch die Bundesrepublik als christlicher Staat charakterisiert."
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen von "Religionsverfassungsrecht" Platz haben können, sei eigens in Erinnerung gerufen 985 . b) Verfassungspolitische
Fragen
Ein Wort zu den verfassungspolitischen Fragen: Es ist Sache des Verfassunggebers und das heißt der am Verfassungskompromiß pluralistisch Beteiligten, zu entscheiden, ob und wie und an welchen "Stellen" ihres Verfassungstextes sie auf "Gott" Bezug nehmen wollen. Die Entstehungsgeschichte der deutschen Länderverfassungen nach 1945 belegt nachhaltig, wie intensiv zwischen den politischen Parteien und Gruppen (auch Kirchen) sowie Einzelpersönlichkeiten im Nachkriegs-Deutschland in diesen Fragen gerungen wurde. Meist kam es gerade in der Formulierung der Gottesbezüge in der Präambel dieser Verfassungstexte zu einem Kompromiß zwischen den politischen Parteien 9 8 6 , aber auch die Fassung der Erziehungsziele hat "in Sachen Gott" Kom987
promißcharakter
. Letztlich führt die Verantwortungsklausel direkt zur Men988
schenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG . Die Verfassungen der neuen Bundesländer haben z.T. auf Gottes-Klauseln verzichtet (s. aber Präambel Thüringen von 1993, Präambel Verf. Sachsen-Anhalt von 1992; Präambel Verf. Sachsen von 1992: "Bewahrung der Schöpfung" 989 ). Von den fünf neuen Landesverfassungen wagen nur Sachsen-Anhalt und Thüringen eine Bezugnahme auf "Gott". Das erklärt sich zum Teil mit der spezifisch ostdeutschen Befindlichkeit. Die Verfassunggeber glauben, auf einen "Gottesbezug" verzichten zu sollen, da die (evangelische) Kirche nur noch vergleichsweise geringen Rückhalt in der Bevölkerung findet. Und dies trotz der positiven Rolle der Kirchen in der Wende von 1989 - man erinnere sich der Friedensgebete. Der Staatsatheismus der DDR hat die allgemeine Säkularisierung beschleunigt, darum wohl haben Brandenburg und Sachsen auf Gottes985
Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 (385 ff.). 986 Besonders greifbar für die Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950, dazu B. Beutler, Das Staatsbild..., aaO., S. 179 f. 987 Nachweise bei B. Beutler, aaO., S. 182 für den späteren Art. 7 Verf. NordrheinWestfalen: "Ehrfurcht vor Gott" einerseits, Erziehung zur "Achtung vor der religiösen Überzeugung" des anderen andererseits. 988 Dieser Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG klingt auch an bei D. Blumenwitz, Gott im Grundgesetz, in: E.L. Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christentum, Bd. I, 1982, S. 127(135). 989 Zu den Gottesklauseln in den Verfassungen von Sachsen-Anhalt und Thüringen meine Ausführungen in: Die Schlußphase der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, JöR 43 (1995), S. 355 (361).
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Klauseln 990 verzichtet. Mecklenburg-Vorpommern erfand jedoch eine Art säkularisierte Fassung der klassischen Gottes-Klausel. Es spricht vom "Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns". Dies ist eine glückliche Neuformulierung des Problems. Denn damit ist eine Funktion der herkömmlichen Gottesklausel erreicht: den Menschen und die Amtsträger an ihre Begrenztheit zu erinnern, und dies vor einer metaphysischen Instanz. Gerade nach der Überwindung totalitärer Regime sind solche Formeln am Platze. Wenn andere Verfassungen Gottes-Klauseln wagen, so unterliegen diese freilich den Kunstregeln der Verfassungsinterpretation. Das bedeutet z.B., daß (in Deutschland) nicht exklusiv der christliche Gott gemeint ist, trotz der Bedeutung des Christentums als "Kulturfaktor" (vgl. BVerfGE 52, 223 (240)); gemeint ist der Gott der drei monotheistischen Weltreligionen i.S. der "Ring-Parabel" von G.E. Lessing, vielleicht sogar i.S. einer Offenheit des verfassungsstaatlichen Gottesbegriffs auch anderes (etwa die "Transzendenz" sehr fremder Religionen, etwa des Buddhismus). Im geschichtlichen Kontext wird sehr wohl verständlich, daß die Berufung auf Gott (besonders in Präambeln) nach 1945 vor allem ein symbolisches und inhaltliches Mittel war, sich gegenüber dem vorangegangenen Nazi-Totalitarismus abzugrenzen 991. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß nun auch in Zukunft jeder Verfassungsstaat textlich Gottesbezüge herstellen muß, um sich gegen Nicht-Verfassungsstaaten abzusetzen: Daß die beiden iberischen Verfassungsstaaten mit ihren Verfassungen in der 2. Hälfte der 70er Jahre ohne Gottes-Klauseln auskommen, obwohl sie gegen Formen autoritärer bzw. totalitärer Herrschaft (Salazar-Portugal und Franco-Spanien) siegreich wurden, ist ein
990 Aus der Lit.: P. Häberle, "Gott" im Verfassungsstaat?, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 3 ff.- Gott als oberste Orientierungsinstanz für Staat und Gesetzgebung anzuerkennen, führt weit über das christliche Erbe zurück: Die Antike Athens und Roms kannte die Furcht vor den Göttern, und es gibt große Klassikertexte von Sophokles und Piaton bis zu Cicero (Cicero, Über den Staat, Reclam-Ausgabe, 1977, Drittes Buch, Ziff. 22, S. 112: "... Die Völker werden... dieses eine Gesetz als ewiges und unveränderliches umfassen und einer wird gleichsam der gemeinsame Lehrer und Gebieter über alle sein: Gott. Er ist der Erfinder dieses Gesetzes, der Schiedsrichter, der Schöpfer."). Vgl. die in der FAZ begonnene Diskussion nach dem Leitartikel von K. Reumann, "Ohne Gott ist alles erlaubt" (FAZ vom 10. Januar 1994, S. 1), nachdem die CDU in Niedersachsen eine Volksinitiative aufgreift und den Gottesbezug in der Verfassung Niedersachsens herstellen will (FAZ vom 23. Dezember 1993, S. 4): sie hatte Erfolg! - Schwer verständlich ist das Fortleben der "Jugendweihe" in Ostdeutschland, dazu etwa C. Geyer, In der Mitte bleibt ein Hohlraum, FAZ vom 18. Juni 1994, Beilage. 991 In den Verfassungsberatungen in Württemberg-Hohenzollern (1946) wurde die vergangene Katastrophe anläßlich der Arbeit an der Präambel ausdrücklich auf die "Gottesentfremdung" zurückgeführt (Beutler, aaO, S. 85); s. entsprechend für die Verfassungsberatungen in Bayern von 1946 (dazu B. Beutler, aaO, S. 138).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen schlagender Beweis für die Verzichtbarkeit von Gottes-Texten992. GottesKlauseln sind ein möglicher, aber nicht notwendiger Bestandteil von verfassungsstaatlichen Verfassungen. Es hängt von der jeweiligen kulturgeschichtlichen Tradition und Situation ab, ob und wie sie in ihren Verfassungstexten Gottesbezüge herstellen und wie sie diese interpretieren sollen. Für GG und deutsche Länderverfassungen bedeuten aber die Gottesbezüge in den Präambeln auch heute, daß damit kulturell dem totalitären Staatsmodell "ewig" und "symbolisch" eine Absage erteilt und das Recht in überpositive Zusammenhänge gerückt wird 9 9 3 , dies auch gegenüber einem voluntaristischen Volkssouveränitätsdenken. Im übrigen "transportieren" Gottestexte, wenn vorhanden, bestimmte Kulturgehalte, die je konkret zu ermitteln und auch wandelbar sind. Sie bilden ein Stück "Religionsverfassungsrecht" und stehen unter Vorbehalt des verfassungsstaatlichen "Toleranzgebots" 994. Zugleich sind sie eine "Erinnerung" daran, daß der Mensch religiöse "Bedürfhisse", besser: Dimensionen 995 hat, die der Verfassungsstaat als solcher respektiert, ohne daß er sich mit je einer Religion identifiziert und ohne daß er das Toleranzgebot des Typus Verfassungsstaat aufgibt. Vordergründig mag man im Toleranzgebot eine "Relativierung" der Gottestexte erblicken, doch ist es auch denkbar, im heutigen Entwicklungszustand des Denkens über Religionen in der Toleranz die "Erfüllung" und eine "höhere Stufe" von Religionsverfassungsrecht zu sehen:
992
Das Gesagte steht nicht im Widerspruch dazu, daß im Franco-Spanien (unter I. 3. Charta der Arbeit von 1938, zit. nach P. C. Mayer-Tasch, aaO., S. 682: "Das Recht auf Arbeit ist Ausfluß der dem Menschen von Gott aufgegebenen Pflicht..." sowie in den Grundsätzen der Nationalen Bewegung von 1958, zit. nach Mayer-Tasch, ebd., S. 703: "Ich,... Franco ... verkünde im Bewußtsein meiner Verantwortung vor Gott und der Geschichte...") und im Salazar-Portugal (Art. 45 Verf. 1933/71: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen sichert der Staat die Freiheit des Kultus... zu ...", zit. nach Mayer-Tasch, aaO., S. 508) Gottestexte vorkamen: Vielleicht haben die iberischen verfassungsstaatlichen Verfassunggeber sie 1978 bzw. 1976/82 gerade deshalb nicht rezipiert, weil ihre Verwendung in den autoritären Vorgängertexten sie spezifisch diskreditiert hatte! 993 Treffend v. Mangoldt/Klein/Starc/:, GG, aaO., Präambel, Rdn. 25: "Der Staat soll begrenzt sein und soll nicht mehr über alles verfügen dürfen." Vgl. auch die parallelen Erörterungen in der politischen Philosophie, dazu etwa H. Scheit, "Zivilreligion" Liberalitätsgarant des Staates?, PVS 25 (1984), S. 339 (344 f.), in Auseinandersetzung mit H. Lübbe.- Zuletzt P.M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Präambel, 1996, Rdnr. 36: Absage an alle Formen totalitärer Ideologien. 994 Dazu BVerfGE 52, 223 (247, 250 ff.); s. schon E 32, 98 (108); 41, 29 (51 f.); 47, 46 (75 ff.). 995 Ähnlich C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Präambel, Rdn. 26: Verbot einer Politik, "die den im Menschen steckenden homo religiosus nicht anerkennt, der nach Anfang, Ende oder Sinn des Daseins fragt, der rational nicht erklärbares Vertrauen und Hoffnung hat".
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft weil sie dem Individuum die Freiheit läßt, sich auf Gott zu beziehen oder auch nicht. Ein Blick in die Verfassungswerkstatt der jüngsten Zeit ergibt: Auch manche jüngere Verfassungsentwürfe und Verfassungen wagen Gottesbezüge. Während in Osteuropa Polen an Gott "festhält" (vgl. zuletzt Verfassungsentwurf der "Solidarität" vom Juni 1994: Präambel: "... We hereby, in the name of God..."), sagt die Verf. von 1997 immerhin in der Präambel "recognizing our responsiblity before God or our own consciences", wogegen etwa in Asien die neue Verfassung der Mongolei (1992) sich jeden Gottesbezugs enthält. Die Präambel Verf. Polen (1997) normiert den Gottesbezug überdies kompromißhaft alternativ: "Both those who believe in God as the source of truth, justice, good and beauty...". Die Verf. Aserbeidschan (1995) verzichtet in der Präambel auf Gott, bekennt sich aber zu einer Verantwortung vor den "vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Generationen" - ein bemerkenswerter Austausch! Neue Wege geht zum Teil das südliche Afrika. Südafrika ruft in der Präambel der Verfassung von 1996/97 aus: "Möge Gott unser Volk schützen". Nicht mehr die Gewissheit der alten "invocatio dei" wie in der Schweiz oder anderen Gottesbezügen, sondern der Wunsch, der Konjunktiv kennzeichnet den Gottesbezug! Mehr wagt die Verfassung der Provinz Kwazulu Natal von 1996. Sie eröffnet ihre Präambel mit den Worten: "In humble submission to the almighty God, We, the people of Kwazulu Natal ..." Ähnlich hatte schon die Präambel der Verf. der Philippinen (1986) intoniert: "We, the sovereign Filipino people, imploring the aid of Almighty God..." 996 , s. auch Verf. Äquat.-Guinea, 1991. Als verfassungspolitisch-systematische Maxime liegt es speziell im deutschsprachigen Bereich nahe, Gottesbezüge997, wenn überhaupt, so nur an vier
996
Im Nov. 1996 wurde in Polen noch gestritten, ob Gott in die Präambel aufgenommen werde oder nicht (vgl. SZ vom 12. Nov. 1996). Gleichzeitig wird in Irland von einer Kommission zur Revision der Verfassung vorgeschlagen, Gott aus der Verfassung zu streichen (FAZ vom 6. Juli 1996, S. 6). 997 Bemerkenswert SV Dr. v. Schlabrendorff, BVerfGE 33, 35 (40): "Daraus (sc. aus dem Präambel-Passus 'Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen') ergibt sich: Auch unsere Verfassung kennt und bejaht Gott und damit das ganz Andere. Es ist also nicht so, daß die Tendenz des Säkularismus in unserem Volke den Begriff Gott ausgelöscht hat." - Anders das Mehrheitsvotum BVerfGE 33, 23 LS 1: "Der ohne Anrufung Gottes geleistete Eid hat nach der Vorstellung des Verfassunggebers keinen religiösen oder in anderer Weise transzendenten Bezug." - Zur Diskussion um eine (abgelehnte) Streichung der Bezugnahme auf Gott in der Präambel des GG: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission (1993), Zur Sache 5/93, S. 219 f. Dazu auch U. Berlit, Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 44(1996), S. 17(68).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "Stellen" vorzusehen: in den Präambeln, im Kontext der Erziehungsziele 998, in Eidesklauseln und im "Staatskirchenrecht" 999. Das Postulat des "weltanschaulich konfessionell neutralen Staates" verlangt indes, daß das Erziehungsziel "Ehrfurcht vor Gott" (i.S. deutscher Länderverfassungen, z.B. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern) nicht religionsstaatlich im Geist einer bestimmten Gottesvorstellung indoktriniert werden darf und insbesondere der Religionsunterricht nicht obligatorisch ist; es verlangt ferner, daß (Amts-)Eide auch "ohne religiöse Beteuerung" möglich sind (vgl. Art. 48 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg, 1953) oder ausdrücklich gesagt wird: "Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig" (vgl. Art. 42 Abs. 2 WRV). Im übrigen bilden verfassungstextliche Gottesbezüge eine mögliche Erscheinungsform von "Religionsverfassungsrecht" im Verfassungsstaat. Zweierlei folgt aus diesem Vergleich. Zum einen: Das Fehlen textlicher Gottesbezüge schließt nicht aus, bestimmte Religionen, etwa das Christentum, als "Kulturfaktor" im Wege der Verfassungsinterpretation zu berücksichtigen, solange nur die verfassungsstaatlichen Postulate der Offenheit und Toleranz im oben gekennzeichneten Sinne beachtet werden 1000 . Und: Ausdrückliche Gottesklauseln im Text einer Verfassung wie des GG oder der deutschen Länderverfassungen, auch der Schweizer Bundesverfassung und der Kantonsverfassungen (zuletzt Präambel K V Appenzell A. Rh. von 1995), dürfen und können die religiös-weltanschauliche Offenheit und Toleranz 1001 als essentielle kulturelle Errungenschaft des Verfassungsstaates nicht in Frage stellen (vgl. auch Präambel Verf. Tirol (1953/1989): "Die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe").
998
Allgemein P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, femer oben, VIII 2. 999 Der Sache nach stehen hinter einzelnen Feiertagsgarantien religiöse, insbesondere christliche Traditionen. Plastisch Art. 3 Verf. Baden-Württemberg (1953): "(1) Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage stehen als Tage der Arbeitsruhe und der Erhebung unter Rechtsschutz. Die staatlich anerkannten Feiertage werden durch Gesetz bestimmt. Hierbei ist die christliche Oberlieferung zu wahren." - Art. 147 Verf. Bayern (1946): "Die Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe gesetzlich geschützt." - Ähnlich Art. 41 Verf. Saarland (1947).- Zu den "Wurzeln" des "Sonn- und Feiertagsrechts" bzw. den "kirchenpolitischen Forderungen": G. Dirksen, Das Feiertagsrecht, 1961, S. 8 ff. 1000 I.S. der Rechtsprechung des BVerfG, z.B. E 52, 223 (237); 41, 65 (84), zuletzt E 93, 1 (19, 23). 1001 Diese Toleranz als Verfassungsprinzip ist wohl weniger eine solche christlicher Tradition und Lehre (so aber wohl E. Behrendt, Gott im Grundgesetz, 1980, z.B. S. 135) als vielmehr die von einem Voltaire (dazu K.R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 215 ff.) und Lessing als Klassiker der Aufklärung auf den Weg gebrachte.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft c) Das Gottesverständnis
im Verfassungsstaat
Ein letztes Wort zu dem Problem, welche "konkrete" Gottesvorstellung eine bestimmte Verfassung wie das GG meint und wie sie interpretativ zu erschließen ist. M.E. ist auch hier mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz 1002 ernst zu machen. Die Verfassungsinterpretation hat zu erarbeiten, ob Gottesvorstellungen einer, zweier oder aller drei monotheistischen Weltreligionen gemeint sind (Judentum, Christentum 1003 , Islam) und ob auch anderen "GottesVerständnissen" Raum zu geben ist. Mag herkömmlich in Deutschland das christliche "Gottesbild" das kulturell gemeinte sein 1004 : In dem Maße, wie sich in der Bundesrepublik Deutschland dank der Zuwanderung z.B. von Moslems eine "multikulturelle Gesellschaft" zu entwickeln beginnt, wird sich das christliche Gottesverständnis des historischen Verfassunggebers von 1949 einer Vielfalt zu öffnen haben 1005 . Der Verfassunggeber wollte nicht sein Gottesbild festschreiben und z.B. gegen veränderte Sichtweisen der Theologien immunisieren. Freilich hat diese "Offenheit" des Gottesverständnisses ihre Grenzen: Eine "Theologie ohne Gott" kann die Gottesklauseln der Verfassungen (auch kulturell) zu Leerformeln degradieren und den Verfassungstext ad absurdum führen.
1002
Ähnlich wohl auch C. Starck,, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (1985), Präambel, Rdn. 26: "Diese Absage an jeden prometheischen Größenwahn und Mahnung zur Bescheidenheit verbieten z.B. eine Politik, die den Menschen kulturrevolutionär verändern... will". 1003 Eine Etappe auf diesem Weg ist die Formulierung in BVerfGE 52, 223 (241), die Schüler, die dies wollen, könnten "ihren religiösen Glauben - wenn auch nur in der eingeschränkten Form einer allgemein gehaltenen und überkonfessionellen Anrufung Gottes - bekennen".- Femer BVerfGE 41, 29 (62 f.): "Das gemeinsame christliche Leitbild, welches das Schulleben bestimmt, ist geprägt durch die Anerkennung der Glaubensverschiedenheiten der beiden christlichen Konfessionen und die Offenheit sowie Toleranz gegenüber nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen." 1004 Weitergehend und daher fragwürdig Behrendt, aaO, S. 159: "Der christliche Gott ist der integrierende Pol unseres pluralistisch verfaßten Staates." - Bemerkenswert für das gewandelte evangelische (Selbst-)Verständnis aber die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland: "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", 1985, S. 12: "Die Verantwortung vor Gott und den Menschen (sc. laut GG-Präambel) gilt der in der Verfassung niedergelegten Ordnung der staatlichen Aufgaben" (es folgt ein Hinweis auf Art. 33 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 3 GG!). S. femer S. 14 ebd.: "Auch die Demokratie ist keine 'christliche Staatsform'". 1005 Dies kann etwa bei einer Bestimmung wie Art. 148 Abs. 1 Verf. Bayern (1946) praktisch werden: "Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgemeinschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang femzuhalten ist." Ähnlich Art. 48 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz (1947).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Die Verfassungskultur des GG bezieht sich in ihren Gottestexten auch nicht auf passiven oder aggressiven (Staats-)Atheismus 1006, wohl aber läßt die "Verfassung des Pluralismus" Raum für negative Religionsfreiheit und damit auch für Atheismus als Form individueller oder korporativer Grundrechtsbetätigung. Ob der Verantwortungsformel in verfassungsstaatlichen Präambeln wie denen des GG oder der Schweizer Tradition seit dem Bundesbrief von 1291 1007 im ganzen ein übergreifendes "Staatsprinzip Verantwortung" zu entnehmen ist 1 0 0 8 , bleibe hier offen. d) Zusammenfassung Im ganzen: Soweit textlich vorhanden, repräsentieren Verfassungklauseln mit Gottesbezügen keineswegs eine "überwundene", anachronistische, "atypische" Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Verfassungsstaates. Sie sind Ausdruck von "Religionsverfassungsrecht" und damit eines Bildes vom Menschen, das diesen - und auch das Volk (!) - historisch wie aktuell in höheren Verantwortungszusammenhängen sieht: Staat und Recht werden als begrenzte, ethisch fundierte Ordnungen bekräftigt, was ohnedies für den Typus Verfassungsstaat charakteristisch ist. So gesehen besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den gottbezüglichen (oder/und schöpfungsbezüglichen) Verantwortungsklauseln und der Menschenwürde, aber auch dem verfassungsstaatlichen Toleranzprinzip, wie überhaupt die Gottestexte in die als Einheit verstandene Verfassung zu integrieren sind 1 0 0 9 . Die epochale Entwicklung zum säkularisierten Verfassungsstaat wird damit nicht rückgängig gemacht, denn das Verfassungsrecht des Verfassungsstaates zwingt niemanden zum "Gottesdienst" via Gottes-Texte. Doch ist der Mensch als homo religiosus kulturell ernst genommen bis hin zur Garantie seiner Freiheit, sich a-religiös oder gar anti-religiös zu verhalten. Es ist dieser kulturelle Hintergrund, der Gottestexte im Verfassungsstaat historisch und aktuell rechtfertigt, freilich auch begrenzt. 1006
I. von Münch, Rdn. 7 zu Präambel, in: von Münch, GG-K., Bd. 1, 2. Aufl. 1981, (s. auch ders., 4. Aufl. 1992, Rdn. 7 bis 10) spricht von "bekräftigter Absage an den Atheismus als Staatsreligion, was aber nicht als allgemeine prochristliche Auslegungsvermutung mißdeutet werden" dürfe.- Die Kulturgehalte der Anrufung Gottes übersieht wohl M. Zuleeg, AK-GG, Bd. I (1984), B: Rechtslage Deutschlands, Rdn. 21: "Die Formel leitet daher in die Irre und entbehrt eines rechtlichen Sinngehalts." 1007 Dazu Expertenkommission, Bericht 1977, aaO., S. 18. 1008 Dies ist die zentrale These des Buches von P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 23 f., 38 f. und passim. 1009 Dazu allgemein (d.h. ohne Zitierung der Gottestexte): K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 27.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Die Bandbreite verfassungspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten ist groß: von Verfassungsstaaten mit klassischem "Staatskirchenrecht 1' hier (z.B. im Staats-Luthertum in Skandinavien) 1010 oder der "invocatio dei" (wie in der Schweiz von 1874) bis zu Verfassungsstaaten, die im Rahmen der strikten Trennung von Staat und Kirche (z.B. in Frankreich) mit manchen Zwischenformen (z.B. in Gestalt der "hinkenden Trennung" i.S. der WRV und des GG) "Religionsverfassungsrecht" nur noch in Form der Garantie der Religionsfreiheit, Klauseln zur "Verantwortung vor Gott bzw. der Schöpfung", Eidesformeln mit der Möglichkeit religiöser Beteuerung und gottbezüglichen Erziehungszielen kennen. M.a.W.: Es gibt keine "Verfassungsstaaten" ohne jedes Religionsverfassungsrecht: Die Garantie individueller und kollektiver Religionsfreiheit ist eine historisch vielleicht "letzte", in der Sache aber erstrangige und unverzichtbare Erscheinungsform von "Religionsverfassungsrecht". Wohl aber gibt es Verfassungsstaaten ohne Gottes-Texte. Ausdrückliche Gottestexte sind eine mögliche, aber nicht unentbehrliche Form von Religionsverfassungsrecht. Ob und wie sie vom Verfassunggeber gestaltet und danach allseits interpretiert werden, hängt von historischen und aktuellen Kulturzusammenhängen ab. Gottes-Texte, wenn positivrechtlich vorhanden, beruhen auf einer kulturanthropologischen Aussage und insoweit sind sie ernst zu nehmen. So wie die Garantie der Religionsfreiheit eine kulturanthropologische Dimension besitzt und zwingend aus der Menschenwürde als "Prämisse des Verfassungsstaates" folgt 1 0 1 1 , so können ausdrückliche Gottes-Texte diese Dimension bekräftigen und spezifisch einfärben. Wenn islamische Staaten in ihren neueren Verfassungen Gottesbezüge fast demonstrativ einbauen 1012 , so ist dies für die Verfassungslehre eine doppelte 1010
Dazu A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 222, 3. Aufl. 1996, S. 390 ff. 1011 Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 815 ff. (2. Aufl. 1995). 1012 Z.B. Verf. des Königsreichs Marokko vom 15. März 1972, Art. 7: "... The Motto of the Kingdom shall be: GOD, COUNTRY, KING." - Femer Verf. Pakistan (1973): "In the name of Allah, the Beneficent, the Merciful - The constitution of the Islamic republic of Pakistan - Preamble: Whereas sovereignity over the entire Universe belongs to Almighty Allah alone...".- Verf. Ägypten (1980): "... We, the Egyptian people, in the name of God and by his assistance...".- Verf. des Staates Kuwait (1962): "In the name of Allah, the Beneficent, the Merciful...".- Die Verf. der Iranischen Republik (1980) ist besonders reich an Gottes-Texten: in der Präambel ("In the Name of God, The Merciful and the Beneficent"), Art. 2 ("One God... and the exclusive sovereignity of God...The Justice of God in creation and in Divine Law"), Art. 18 ("God is Great"), Art. 56 etc. (alle zit. nach A.P. Blaustein/G.H. Flanz, Constitutions of the countries of the world). Weitere Texte bei H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995 (dazu meine Besprechung in AöR 122(1997), Heft 2, S. 294 ff.).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Herausforderung: Zum einen kann und muß sie begründen, warum und inwieweit sich in ihrem Rahmen der Verfassungsstaat nicht mit einer bestimmten Religion identifiziert; anders die Islamischen Staaten mit ihrem typischen "Staatskirchentum" 1013 . Das moslemische Verfassungsrecht von heute entspricht offenbar noch einer älteren Stufe des "Staatskirchenrechts" der deutschsprachigen christlichen Länder Europas. Dieser Differenzpunkt zum heutigen weltanschaulich konfessionell neutralen Verfassungsstaat mit seiner wachsenden Distanzierung vom "Staatskirchenrecht" und seiner Entwicklung in Richtung auf "Religionsverfassungsrecht" 1014 kann gar nicht stark genug betont werden. Zum anderen hat der Typus "säkularer Verfassungsstaat" im Rahmen seiner "werdenden" multikulturellen bzw. multireligiösen Entwicklungen die religiösen Bezüge der Islamischen Staaten zur Kenntnis zu nehmen - in dem Maße, wie Moslems auch in ihm "Heimstatt" finden wollen und können, soweit sie dem Toleranzgebot des Typus "Verfassungsstaat" gerecht werden.
10. Konstitutionelles Religionsrecht im Verfassungsstaat ("Religionsverfassungsrecht") Nur stichwortartig sei im folgenden aufgelistet, wie die vergleichende Verfassungslehre das Thema "konstitutionelles Religionsrecht" ("Religionsverfassungsrecht") aufzuschlüsseln hat. Dank der Textstufenanalyse werden hier schon prima facie intensive Entwicklungen sichtbar, die in Europa den langen Weg vom christlich geprägten Staat zur säkularen Gesellschaft widerspiegeln. (Darum sollte die Verfassungslehre den Begriff "Staatskirchenrecht" aufgeben 1 0 1 5 .) Speziell für die Schweizer Kantone wurde diese typologische Analyse 1013 Z.B. Verf. Marokko, aaO.: Präambel: "the Kingdom of Marocco, a sovereign muslim State." Art. 6 ebd.: "Islam shall be the religion of the State, which shall guarantee freedom of worship for all." Art. 19: "The King... shall ensure that Islam and the Consitution are respected." Art. 101 : "The State monarchy and the provisions relating to the Muslim religion may not form the subject of a revision of the Constitution."- S. auch Verf. Pakistan (1973), Art. 2: "Islam shall be the State religion of Pakistan." 1014 Dazu mein Beitrag: Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff, wiederabgedruckt in: P. Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 452 ff. Zur Geschichte: B. Jeand'Heur, Der Begriff der "Staatskirche" in seiner historischen Entwicklung, Der Staat 30 (1991), S. 442 ff. 1015 Aus der jüngeren deutschen Grundlagenliteratur zum deutschen Staatskirchenrecht: K. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, HdBStKiR Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 521 ff.; A. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, HdBStR Bd VI 1989, S. 471 ff.; K.G. Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979; E. Fischer, Volkskirche Ade! Trennung von Staat und Kirche, 4. Aufl. 1993; H. Maier, Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, HdBStKiR Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 85 ff.; M. Heckel, Die religions-
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft schon 1985 unternommen 1016 . Sie muß sich hier verallgemeinern, aber zugleich kurz fassen und kann - auch als Handreichung für künftige Verfassungspolitik nur in Stichworten arbeiten. Folgende Fragen stellen sich: a) Die systematische Plazierung des konstitutionellen
Religionsrechtes
Wie ist das Verhältnis Staat/Kirche bzw. Religionsgesellschaften systematisch piaziert? Schon eingangs, in den Grundlagen-Artikeln der Verfassung oder in eigenen (späteren) Abschnitten oder nur punktuell? Hier einige Beispiele in Auswahl: Ganz vorn, in Art. 3 piaziert Verf. Griechenland (1975) einen Abschnitt "Beziehungen zwischen Kirche und Staat". Anders geht Verf. Portugal (1976) vor, die in Art. 41 im Rahmen des Grundrechtskataloges das Trennungsprinzip aufstellt (Abs. 4), während Spanien (1978) zwar das Thema ebenfalls im Grundrechtsteil abhandelt (Art. 16), dem Satz "Es gibt keine Staatsreligion" aber den 2. Satz anschließt: "Die öffentliche Gewalt berücksichtigt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft und unterhält die entsprechenden kooperativen Beziehungen zur Katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen". Systematisch anders ist Verf. Italien (1947) strukturiert. Schon in den "Grundprinzipien" wird die korporative Seite der Religionsfreiheit geregelt (Art. 8 Abs. 1), auch wird die Möglichkeit von "Vereinbarungen" eröffnet (Abs. 2). Dänemark erklärt in Kap. I § 4 seiner Verf. von 1953 lapidar: Die evangelisch-lutherische Kirche ist die dänische Volkskirche, während Finnland (1919/1995) erst gegen Ende der Verfassung einen Abschnitt "IX. Die Religionsgemeinschaften", regelt. Verf. Irland (1937) überschreibt einen (späten) Art. 44 mit "Religion".
rechtliche Parität, ebd. S. 589 ff.; K. Schiaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, ebd. Bd. II, 1996, S. 131 ff.- Es ist zu hoffen, daß die Rechtsvergleichung in Sachen Religionsverfassungsrecht ihre Zukunft noch vor sich hat; Ansätze bei A. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 385 ff. Spätestens durch "Europa" wird sie erzwungen. Dazu grundlegend: A. Hollerbach, Europa und das Staatskirchenrecht, ZevKR 35 (1990), S. 263 ff; s. auch G. Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995; Ch. Link, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, ZeuKR 42 (1997), S. 130 ff. In Italien: FM Broglio/C. Mirabelli/F. Onida, Religioni e sistemi giuridici, 1997. Vgl. jetzt Erklärung zur Schlußakte in Amsterdam (1997): „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, so daß diese nicht beeinträchtigt sind." (zit. nach FAZ vom 19. Juni 1997, S. 2). 1016 ρ N e u e r e Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (390 ff).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Bereits diese Analyse zeigt, wie unterschiedlich die "Religionskultur" der einzelnen Verfassungsstaaten ist und wie unterschiedlich "wichtig" die "Sache Religion" genommen wird 1 0 1 7 . Eine Analyse der neuesten Verfassungen, auch im Kontext ihrer etwaigen Gottesbezüge, Feiertagsregelungen, Eidesklauseln und Erziehungsziele bleibt ein Desiderat. Ein kurzer Blick gelte Osteuropa. Verf. Slowakei (1992) sagt schon in Art. 1 S. 2: "It is not tied to any ideology or religion". Verf. Bulgarien (1991) formuliert im Grundlagenteil in Art. 13 Abs. 2: "Les institutions religieuses sonst separées de l'Etat". Art. 14 Verf. Rußland (1993) bestimmt ebenfalls schon im Grundlagen-Artikel 14 Abs. 1: "Die russische Föderation ist ein säkularer Staat". Die Verf. (1996) garantiert die Religionsfreiheit individuell und kollektiv (Art. 35), unbeschadet ihres Bekenntnisses zur Verantwortung vor Gott (Präambel). Ein eigener "Geist" kommt im Verfassungsentwurf der "Solidarität" in Polen (1994) zum Ausdruck, insofern dort im Grundlagenteil gesagt ist (Art. 6 Abs. 1): "The State shall guarantee the autonomy of churches and confessional organisations recognized by law." Verf. Polen (1997) regelt den Status der "Kirchen und anderen Religionsgesellschaften" in Art. 25 (Grundlagenteil). Frankreich definiert sich schon in Art. 1 Verf. 1958 als eine "laizistische Republik". Dem folgt etwa Verf. Mali (1992) bereits in der Präambel ("laïcité"), ebenso Verf. Guinea (1991) in Art. 1 Abs. 1. Im übrigen Afrika schreibt z.B. Verf. Niger (1992) die Trennung von "Staat und Religion" fest (Art. 4), ebenso Art. 1 Verf. Tschad (1996). Verf. Madagaskar (1992) bekräftigt in seiner Präambel den Glauben an "Dieu Créateur", verbietet aber bereits im Grundlagenteil jede Diskriminierung wegen der Religion (Art. 8 Abs. 2). Art. II See. 6 Verf. Philippinen (1986) - sie strahlt bei manchen Themen intensiv nach Afrika aus - normiert: "The separation of Church and State shall be inviolable". Art. 288 lit. c. Verf. Portugal (1976/92) nimmt die "Trennung von Kirche und Staat" sogar in seine Ewigkeitsklauseln auf (ebenso Art. 159 Verf. Angola). b) Verfassungsstaatliche
Nähe- und Ferne- Verhältnisse
Wie intensiv ist die "Nähe" zwischen Staat und Kirche, anders gesagt: gibt es "Brückenelemente" zwischen ihnen wie Konkordate, Religionsunterricht in staatlichen Schulen, Staatsleistungen bzw. wie strikt ist die Trennung ("Wall of separation")? Die bisherigen Beispiele etwa aus Italien und Spanien geben da1017
Vorbildlich statuiert Verf. Schweden (1975) einen religiösen Minderheitsschutz schon in Kap. § 2 Abs. 4.- Zu „Staat, Kirchen, Religionsgesellschaften und Religionsfreiheit" in den Philippinen: J. Bair, Republik der Philippinen, 1997. 64 Häberle
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft rauf schon eine (variantenreiche) Antwort. Die deutschen "Brückenelemente" sind bekannt (Art. 140 GG bzw. Art. 137 Abs. 5, 6 und Art. 138, 139 WRV). Von den ostdeutschen Landesverfassungen sei der geschriebene Öffentlichkeitsauftrag im eigenen Abschnitt "Kirchen und Religionsgemeinschaften" in Verf. Brandenburg (1992) erwähnt (Art. 36 Abs. 3), auch das Kirchensteuerrecht auf staatlichen Listen (Abs. 4). Art. 9 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993) baut ein Brückenelement in Gestalt der Einrichtung theologischer Fakultäten an den Landesuniversitäten ein. Ein Blick auf das südliche Afrika: Die Bill of Rights von Südafrika (1996/97) ermöglicht in ihrem Artikel zur Religionsfreiheit (Art. 15) vorsichtig "Berührungen" zwischen Staat und Religionen ("Religious observances may be conducted at state or stateaided institutions provided that - a) those observances follow rules made by the appropriate public authorities..."). Ähnliches bestimmt Verf. Kwazulu Natal von 1996 (vgl. Kap. 3 Art. 8 Abs. 2). Statt der "konstantinischen Nähe" darf heute von "verfassungsstaatlicher Nähe" gesprochen werden, die freilich eine große Variationsbreite hat und bis zur "Ferne" von Staat und Religionen führen kann, schlösse nicht die gewordene Kultur und die pluralistisch verfaßte Gesellschaft die "absolute Ferne" als gegenteiliges Extrem aus. c) Eine religionsverfassungsrechtliche
Themenliste (Momentaufnahme)
Welche religionsverfassungsrechtlichen Themen werden behandelt? Neben der individuellen Glaubensfreiheit auch das, was die deutsche Lehre "institutionelles Staatskirchenrecht" nennt? Diese Liste wird heute kleiner. Konnte noch 1985 für die Schweizer Kantonsverfassungen eine relativ reiche Themenliste erstellt werden 1018 mit Themen wie Bistumsfragen, Fragen des Religionsunterrichts, Kirchengut-, Feiertagsgarantien, Kirchenaustrittsregelungen, Beziehungen zu Universitäten, Möglichkeiten der vertraglichen Regelung zwischen Staat und Kirchen, Staatsleistungen, so schrumpfen heute die religionsverfassungsrechtlichen Gegenstände in dem Maße, wie der Verfassungsstaat säkularer wird und die christlichen Kirchen sich allen anderen Religionsgemeinschaften annähern (müssen). "Textes incontestables" im gekennzeichneten Sinne bleiben aber die individuelle und korporative Religionsfreiheit, ihre pri-
1018
Vgl. meinen Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, in JöR 34 (1985), S. 303 (403). Aus der späteren Lit.: D. Kraus, Schweizerisches Staatskirchenrecht, 1993. Tief- und ausgreifend: F. Hafner, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 1992. Zuletzt: M. Grichting, Kirche oder Kirchenwesen?, 1997.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen vaten wie öffentlichen Äußerungsformen, auch Eidesklauseln mindestens mit der religionsrechtlichen Variante (vgl. Art. 56 Abs. 1 bzw. 2 GG, Art. 88 Verf. Brandenburg von 1992, Art. 130 a. E. Verf. Polen von 1997). Auch die Verfassungen der älteren Entwicklungsstufe wie die skandinavischen Länder werden ihre "Staatskirchen"- bzw. "Volkskirchen"-Artikel mittelfristig der Sache nach revidieren müssen. Das Christentum wird wohl immer stärker zum (bloßen) "Kulturfaktor" (BVerfG), was die sich zu allen Weltreligionen öffnenden Gottesklauseln nicht ausschließt 1019 . Ein "neues" Thema könnte die repräsentative Beteiligung der Religionsgemeinschaften in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen werden (offenbar noch nicht in Art. 39 und 40 Verf. Portugal, wohl aber möglich nach Art. 20 Abs. 3 Verf. Spanien). So verlangt Art. 12 Verf. Thüringen (1993) in Sachen "Rundfunkversorgung" in den Aufsichtsgremien die "politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen" zu beteiligen. Im ganzen dürfte die in der Praxis zunehmende Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften 1020 auch verfassungstextlich Gestalt gewinnen. Das könnte den Reichtum des Verfassungsstaates an korporativen Strukturen i.S. des "status corporativus" erhöhen. Damit sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften zwar nicht den ("weltlichen") Verbänden einfach gleichgestellt; doch werden sie zu einer Ausdrucksform des verfassungsstaatlichen Pluralismus: im Geistig-Kulturellen, und damit Gegenstand der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Rei /gzora·verfassungsrecht ist spezielles £w//wrverfassungsrecht! So kann Art. 109 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992) gut sagen: "Die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt" (ebenso Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlberg 1984). Und so erscheint das "Recht, zu öffentlichen Angelegenheiten Stellung zu nehmen" (Art. 32 Abs. 1 S. 2 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992) nur konsequent. Aber auch das jederzeitige Austrittsrecht (vgl. Art. 124 Abs. 2 Verf. Bern von 1993) ist Ausdruck der Religionsfreiheit im Verfassungsstaat, ebenso wie die "konfessionale Neutralität" des Unterrichts (vgl. Art. 43 Abs. 1 ebd.), die die viel zitierte prätorisch entwickelte deutsche "weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates"
1019 Immerhin gibt es auch in neueren Verfassungen noch typische "KirchenArtikel" (so etwa Art. 37 Verf. Guatemala von 1985, z.B. in Sachen Kirchengrundbesitz, Steuerfreiheit bei karitativen Zwecken). S. auch Art. 25 Abs. 4 Verf. Polen von 1997 (Verträge zwischen der Republik Polen und dem „Heiligen Stuhl"). 1020 Dazu G. Robbers, aaO., S. 353.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (BVerfGE 19, 206 (216) 1 0 2 1 ) auf den Text und Punkt bringt: eine erneute Bestätigung der Textstufenanalyse. Dieser allgemeine Blick auf das Religionsverfassungsrecht als spezielles Kulturverfassungsrecht führt notwendig zu einem Thema, in dem sich der Kulturaspekt des Verfassungsstaates ebenfalls besonders intensiv niederschlägt: den Feiertags- und Sonntagsgarantien.
11. Feiertage/Sonntage a) Feiertage (1) Problem Feiertagsgarantien gehören zu einer oft vernachlässigten "Schicht" von Verfassungsnormen, die ins Zentrum der kulturellen Identität des jeweiligen Verfassungsstaates 1022 und des Verfassungsstaates als Typus reichen. Sie stammen aus dem "Stoff', aus dem mitunter auch (zunächst nur) "Träume" - etwa in Sachen "deutsche Einheit", die 1990 Realität geworden ist -, vor allem aber Grundwerte sind (bzw. waren), die neben der ratio die emotio des Menschen und Bürgers im Verfassungsstaat "ansprechen": Hymnen, Flaggen 1023 , Erzie-
1021 Hierzu zuletzt M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. I 1996, Art. 4 Rdnr. 121 ff. Ein Folgeproblem bei St. Muckel, Muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, DÖV 1995, S. 311 ff- Von "Neutralität" spricht jetzt Art. 25 Abs. 2 Verf. Polen (1997). 1022 Bemerkenswerte../. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 193: "Besondere Feierlichkeiten tragen viel dazu bei, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Daher haben praktisch alle modernen Nationen ihre besonderen Feiertage, keine aber besitzt deren mehr als die Amerikaner. Wenn auch derartige patriotische Anlässe für viele Intellektuelle oft etwas Irritierendes haben (man denke nur an die abfälligen Bemerkungen über die 'Rhetorik des Vierten Juli'), so versinnbildlichen sie doch die Verbundenheit mit der großen Gemeinschaft... ". 1023 Vgl. R. Smend, Art. Integrationslehre (1956), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 475 (477): "Daher ist hier (sc. bei der sachlichen Integration) z.B. der systematische Ort für die Theorie der Symbole des politischen Wertganzen, Fahnen, Wappen, Staatshäupter, politische Zeremonien, nationale Feste, die die Totalität des staatlichen Sinngehalts erfaßbar und dem Erlebnis zugänglich machen - Zu den "staatlichen Symbolen" der Bundesrepublik Deutschland (Bundesflagge, Bundesfarben, Bundeswappen, Nationalhymne, Feiertage und Bundeshauptstadt): K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1984, S. 278 ff, sowie tiefdringend: H. Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, 1984. Zu "Staatssymbolen" zuletzt: P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, S. 251 ff.- Auch Gedenkstätten gehören in das Gesamtbild: So kristallisiert sich ein Stück Verfassungskultur in der und um die in
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen hungsziele wie "Liebe zu Volk und Heimat" (z.B. Art. 33 Verf. RheinlandPfalz (1947)) oder "Völkerversöhnung" (z.B. Art. 25 Abs. 2 Verf. NordrheinWestfalen) sowie Denkmale. National-Hymnen bedeuten wie National- bzw. Feiertage ein Stück kollektiver Erinnerung eines Volkes, wobei sich ein Wandel vollziehen kann: Kaum ein Franzose denkt bei der "Marseillaise" heute noch an ihren blutrünstigen Inhalt. Solche eher "emotionalen Konsensquellen" dürfen neben den eher rationalen (wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie) nicht unterschätzt werden - schon die positiven Verfassungstexte schließen dies aus. In Feiertagsgarantien spiegelt sich ein Stück Selbstverständnis des Verfassungsstaates, aber auch ein Teil des "Bildes", das sich seine Bürger von ihm und das er sich von seinen Bürgern machen darf und soll. Erst der kulturwissenschaftliche Ansatz vermag Möglichkeiten und Grenzen von Feiertagen im Verfassungsstaat auszuleuchten, der staatsrechtliche Positivismus bleibt ihnen gegenüber eher ratlos. In einem tieferen und weiteren Sinne sind alle lebenden Feiertage "Verfassungstage" - weil sie jeweils unterschiedliche Elemente des ganzen Verfassungsstaates ins Bewußtsein rücken wollen. Zunächst Elemente einer Bestandsaufnahme: (2) Die Zeit-Dimension: Vergangenheits- bzw. Zukunftsorientierung Eine erste "Gruppe" von verfassungsstaatlichen Feiertagen läßt sich durch ihren spezifischen Zeit-Bezug unterscheiden. Sie ist charakterisiert durch Ereignisse, die den jeweiligen Verfassungsstaat in der Geschichte betreffen, also z.B. Staatsgründungstage wie der 1. August (1291) in der Schweiz, oder die an revolutionäre Vorgänge erinnern wie der 4. Juli 1776 in den U S A 1 0 2 4 und der 14. Juli 1789 in Frankreich. Die Nationalstaaten feiern gerne - gewonnene Schlachten, sofern nach ihrem Selbstverständnis in ihnen ein Stück ihrer kulturellen Identität und Individualität geformt wurde (so einst der "Sedanstag" des Bismarck-Reiches 1025 ), oder sie wollen durch die Bezugnahme auf bestimmte -
Südafrika auf der Robben-Island errichtete Gedenkstätte des Freiheitskampfes (FAZ vom 3. Jan. 1997, S. 4). 1024 Zum 4. Juli 1986 in den USA vgl. den Bericht von W. Seuss, Patriotisches auf dem T-Shirt stört nicht, FAZ vom 7. Juli 1986, S. 3: "Der 4. Juli, der Unabhängigkeitstag, ist ein Volksfest und keine Staatsaktion". Immerhin wurde die Unabhängigkeitserklärung von 1776 verlesen, intonierte M. Rostropovich die Nationalhymne, die Hunderttausende in Washington am Kapitol sangen. 1025 Zum "Sedanstag" etwa T. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 2. Aufl. 1957, S. 381. Ebd. auch zum 11. August als gesetzlichem Feiertag in Weimar (Inkrafttreten der WRV von 1919), "ohne daß er vom Volk als solcher angesehen wude." Zu beiden Tagen umfassend: H. Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, 1984, S. 107 ff. bzw. 116 ff.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft "historische" - Persönlichkeiten der Vergangenheit ein Vermächtnis für eine bestimmte Sache bzw. Idee für die Zukunft "aufheben" im Sinne von tradieren (ein Beispiel bildet der neue Martin Luther King-Tag der USA). Die Zeit spielt im Sinne der These von "Zeit und Verfassungskultur" indes nicht nur "im Blick zurück" eine Rolle; Feiertage wirken hier als eine Art besondere "kulturelles Erbe-Klausel" 1026 . Sie prägt auch solche Feiertage, die ein in der Zukunft erhofftes Ereignis im betreffenden Verfassungsstaat für so "wichtig" halten, daß sie ihm einen Feiertag widmen. Herausragendes Beispiel bildete der 17. Juni 1 0 2 7 in der Bundesrepublik Deutschland als "Tag der Deutschen Einheit". Hier wie bei allen zunächst an die Vergangenheit anknüpfenden Feiertagen zeigt sich eine typische Verschränkung der Zeit-Ebenen: Jedes durch einen eigenen Feiertag ausgezeichnete Denken an ein bestimmtes historisches Ereignis der Vergangenheit erinnert an dieses nicht um seiner selbst willen; vielmehr will der Feiertag das Ereignis bzw. die hinter ihm stehende Sache wie die Staatsgründung oder die Rassenintegration in die verfassungsstaatliche Gegenwart und Zukunft "transportieren". Konkret: Die Eidgenossenschaft ist keine "abgeschlossene", einst vertragliche Gründung der Verfassungsgeschichte; sie will auch in Zukunft konsentierte Einheit sein: dank immer neuen SichVertragens und Sich-Ertragens ihrer Bürger. Die USA nehmen das Lebenswerk von Martin Luther King symbolisch als Vermächtnis für die Zukunft: weil seine Ideen bis heute nur zum Teil erfüllte Aufgaben stellen. Im Rückblick auf den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 1028 in Ostberlin und dann in der ganzen "DDR" wollte dieser Feiertag bei uns das Ziel der deutschen Einheit wach-
1026
Dazu mein Münchner Vortrag: Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, hrsg. von A. Mohler/A. Peisl, 1983, (3. Aufl. 1992), S. 289 (295 ff.). Zu "Tradition und Verfassung" gleichnamig: A. Blankenagel, 1987.- Die kaltblütige Abschaffung des Bußund Bettags in Deutschland (1994) ist ein negatives Lehrstück für die Mißachtung von kulturellen Feiertagstraditionen zugunsten des Ökonomismus. Treffend K.-H. Kästner, Sonn- und Feiertage zwischen Kultus, Kultur und Kommerz, DÖV 1994, S. 464 ff. 1027 Der gemeinsame Rückblick auf ein Datum der (Verfassungs-)Geschichte wie dieses geschah nicht um seiner selbst willen, er wollte in der Gegenwart und in die Zukunft wirken: in concreto im Blick auf die "nationale Einheit", die auch den heutigen und künftigen Generationen mit auf den Weg gegeben werden soll. Der neue Feiertag am 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit trat dann auch konsequent an die Stelle des alten. Zu kulturwissenschaftlich zu betrachtenden Rechtsfragen der Präambel bzw. der (damals noch nicht gewonnenen) deutschen Einheit: P. Häberle, Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, ZSR NF 105 (1986), S. 195 (227 f.). 1028 Dazu H.-W. Strätz, Sonn- und Feiertage, in: HdRStKirchR Bd. II, 1975, S. 801 (S. 805 Anm. 22).- Zum bundesgesetzlich bestimmten (damaligen) Tag der deutschen Einheit, dem 17. Juni, und seiner Rechtsgrundlage ("Natur der Sache zur Nationalen Repräsentation") auch Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 281, sowie Hattenhauer, aaO., S. 129 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen halten - jener Einheit, die in der Präambel des GG beschworen w i r d 1 0 2 9 und 1990 glücklich erreicht wurde. Auch dieser Feiertag rührte an "Grundlagen" des Selbstverständnisses unserer Republik - das zeigte sich nicht zuletzt im seinerzeit immer wieder aufbrechenden Streit um seinen "Sinn". Im ganzen spiegelt sich die Individualität und Identität des einzelnen Verfassungsstaates in den spezifisch zeitbezogenen Feiertagen in besonderer Weise. Bestimmte - zu feiernde - Sachgehalte integrieren die verschiedenen Generationen übergreifend 1030 . Die einschlägigen Feiertage wirken als das Emotionale und Rationale verbindende Elemente der sich in Entwicklungs- und Wachstumsprozessen darstellenden Verfassungskultur. Zu den - glücklichen - Verfassungsstaaten, die "ihren" Tag sowohl als Nationalfeiertag als auch als Verfassungstag begehen können und bis heute begehen, gehört Norwegen 1031 . Gefeiert wird am 17. Mai. Es ist der Tag, an dem 1814 die Vertreter des Reiches in dem Städtchen Eidsvoll die norwegische Verfassung verabschiedet haben - sie gilt mit Änderungen noch heute und bekanntlich hat sie in ihrem § 112 die wohl erste "Ewigkeitsklausel", den deutschen Art. 79 Abs. 3 GG vorwegnehmend, geschaffen 1032 . Norwegen erarbeitete damals eine der ersten demokratischen Verfassungen Europas und tat zugleich einen wichtigen Schritt zur vollständigen nationalen Unabhängigkeit, die dann 1905 erreicht wurde 1 0 3 3 . Heute wird dieser Tag in einzigartiger Weise begangen 1034 : Der König grüßt vom Balkon seines Schlosses die vorbeiziehen1029 Zur Normativität von Präambeln meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln in Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1981, S. 211 ff. Vgl. oben Ziff. 8. 1030 Zum "Hambacher Fest" (1832) als "Akt politischer Repräsentation": KR. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, 1960, S. 133 ff. Zur Geschichte der Gedenkfeiern für 1848/1849: J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 67, 123 f , 128, 141, 143, 452. 1031 Vgl. H. Bacia , Die Kinderwagen sind beflaggt, Norwegens fröhlicher Nationalfeiertag, FAZ vom 20. Mai 1986, S. 9. 1032 Dazu mein Beitrag: Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, FS Haug, 1986, S. 81 (84) sowie Fünfter Teil III Ziff. 2. 1033 Wie bekannt, war Norwegen 400 Jahre Teil Dänemarks; nach den Napoleonischen Kriegen sollte es an Schweden fallen. Dagegen wehrten sich die Norweger, der neue schwedische König Bernadotte ließ sich auf Waffenstillstandsverhandlungen ein. Die Norweger erkannten die Union mit Schweden an, sie verlangten als Gegenleistung die Zusicherung des Herrschers, ihre Verfassung zu respektieren (1814). 1905 erklärte das norwegische Parlament die Union mit Schweden für beendet und wählte den Dänenprinzen Karl zum neuen König. Zur Geschichte Stichworte bei P.C. MayerTasch, in: ders, (Hrsg.), Die Verfassungen der nichtkommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 402 f.; eingehend zur Verfassung von 1814: G.-C. von Unruh, Eidsvoll, Das norwegische Grundgesetz von 1814 als konstitutionelles Modell, 1977. 1034 Vgl. den Bericht von Bacia in FAZ, aaO.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
den fahnenschwingenden Schulkinder, sodann folgen: Spielen der Nationalhymne, fröhliche Gemeinschaft der Erwachsenen bzw. Eltern, Volksfeststimmung auf einem Platz zwischen Nationaltheater und Storting. (3) Feiertagsgarantien als Ausdruck der - geschichtlich geglückten Integrierung von Bevölkerungsteilen in den Verfassungsstaat Feiertagsgarantien können Ausdruck der gelungenen oder doch erhofften Integrierung einer Bevölkerungsgruppe in das gesamte Volk sein: Beispiele bilden im Blick auf die Arbeiterschaft die Garantien zum 1. Mai, wobei gelegentlich große Ziele, die die verfassungsstaatliche Verfassung auch sonst prägen (z.B. als allgemeines Staatsziel oder spezielles Erziehungsziel), hinzugefügt sind. Repräsentativ wirkt hier Art. 3 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953): "Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag. Er gilt dem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung" 1035 . Das wohl eindrucksvollste und zugleich jüngste Beispiel für diesen Typus bildet der neue Feiertag, den die USA zu Ehren des Bürgerrechtlers Martin Luther King, erstmals 1986, geschaffen haben. Mag dies auch nicht in Gestalt einer formellen Verfassungsänderung ("amendment") geschehen sein: in der Sache handelt es sich um materielles Verfassungsrecht. Der neue Feiertag bzw. Martin Luther King-Tag ist der symbolische Abschluß eines langen Kampfes der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Gleichstellung und Integrierung der "Farbigen". Wenn der große Verfassungsstaat USA den Geburtstag dieses Repräsentanten des gewaltlosen Widerstandes ebenso wie zuvor nur für G. Washington als Feiertag anerkennt, so bedeutet dies viel: der Januar-Tag wird zu einer Art "Verfassungstag"; er ist das Forum, auf dem sich alle Bürger der USA als Freie und Gleiche ideell treffen. Der Martin Luther King-Tag bedeutet einerseits eine historische "Erinnerung" an diesen großen Bürger, aber zugleich die Vergegenwärtigung von zukünftigen Aufgaben: auf dem "ewigen Weg" zum Abbau etwa noch vorhandener gesellschaftlicher Rassendiskriminierung.
1035
S. auch Art. 55 Abs. 1 Verf. Bremen (1947): "Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag als Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, zu Frieden und Völkerverständigung".· Diese Inhalte finden sich auch im Staatszielekatalog (Art. 65) wieder.- Art. 32 Verf. Hessen (1946): "Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag aller arbeitenden Menschen. Er versinnbildlicht das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden und Völkerverständigung". Festlegung des "Nationalfeiertages" z.B. in Art. 3 Verf. Togo (1992) und Art. 2 Verf. Gabun (1994).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Eine nur positivistisch betriebene Staatsrechtslehre 1036 kann diese Zusammenhänge und Tiefendimensionen nicht erschließen. Die symbolhafte, integrierende, den Bürgern Identifikation ermöglichende Kraft von Feiertagsgarantien vermag nur die kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungslehre 1037 aufzudecken. Vergleicht man die erklärten Feiertagsziele deutscher Länderverfassungen nach 1945 (vor allem Baden-Württembergs, Bremens und Hessens) untereinander und mit anderen Aussagen ihrer Texte 1 0 3 8 , so ergeben sich überraschende Zusammenhänge: "soziale Gerechtigkeit", "Frieden", "Freiheit", "Völkerverständigung" sind "Verfassungsziele", die in den Texten auch an anderen Stellen als grundlegend ausgewiesen werden: vor allem als Staatsziel oder als Erziehungsziel 1039 . So finden sich in Art. 12 Verf. Baden-Württemberg das Erziehungsziel "Brüderlichkeit aller Menschen und Friedensliebe", auch "freiheitliche demokratische Gesinnung", in Art. 26 Verf. Bremen der "Wille zu sozialer Gerechtigkeit" und "zur friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern" ebd. als "Staatsziele" in Art. 65 ("soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung"), und Art. 56 Verf. Hessen postuliert als Erziehungsziel den "selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit". "Völkerverständigung" ist als Verfassungsziel in Art. 69 ebd. normiert.
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Typisch ist die im recht Vordergründigen bleibende Kommentierung von G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 139. Immerhin weist Anschütz auf die "sozialpolitische" ("Arbeitsruhe") und "ethische" Seite ("seelische Erhebung") hin (ebd. in Nr. 1), vor allem aber auf die "kirchenpolitische": Staat als "advocatus Ecclesiae". Aufschlußreich T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, S. 57: "Der Verfassungstag ist kein Nationalfeiertag; doch wird an öffentlichen Gebäuden am 23. Mai geflaggt". Prägnanter hätte das "deutsche Defizit" kaum formuliert werden können.- Bemerkenswert für Weimar: A. Graf zu Dohna, Die staatlichen Symbole und der Schutz der Republik, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. von G. Anschütz und R. Thoma, 1. Band 1930, S. 200: "Heute aber macht sich die Tendenz bemerkbar, das Staatssymbol zu vergeistigen, es in verfassungsmäßigen Institutionen und Zwecksetzungen, in national bedeutsamen historischen Gegebenheiten, in Hymnen und Feiertagen aufzustöbern". Aufschlußreich für Weimar: G. Anschütz, Der Nationalfeiertag, in: Frankfurter Zeitung v. 13. Juli 1927: Kompetenz des Reichs aus Art. 9 Nr. 1 WRV. 1037 Dazu meine Schrift: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, (Vorauflage) 1982. 1038 T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 541, beobachtet in der Feiertagsregelung "nach ihrer exzessiven Ausnutzung im Sinne der herrschenden Staatsideologie 1933 - 1945 nach dem Kriege eine deutliche Rückbesinnung auf die traditionelle Motivierung .., die einerseits kirchlich religiös, andererseits sozial orientiert war." 1039 Dazu mein Beitrag: Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: (zweite) FS H. Huber, 1981, S. 211 ff. sowie oben VIII Ziff. 2.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft In all dem zeigt sich, daß manche Feiertagsgarantien aus verfassungsrechtlichem "Grundstoff' gewebt sind. Wenn der Verfassungsstaat " feiert" bzw. feiern "läßt", so im Dienst bestimmter Ziele. Und diese Ziele sind grundlegender Art - nur so kann die Ausnahme vom normalen Arbeits- und Lebensgang, der Feier-Tag - legitimiert werden. Die Geschichte des 1. M a i 1 0 4 0 zeigt aber auch, wie der ursprünglich nur einem Teil des Volkes "gehörende" - oft blutige - Kampf-Tag zum - friedlich gewordenen - Tag aller Bürger "umgedacht" wurde: Er bezeugt und bekräftigt die Integrierung der (deutschen) Arbeiterschaft in den Verfassungsstaat im Zeichen großer Ideen. Speziell der "1. Mai" ist sowohl ein Stück "Arbeitsverfassungsrecht" 1041 materiell, weil er der Arbeiterschaft ermöglicht, sich in der Verfassung mit "ihrem" Tag wiederzufmden, formell, weil er als gesetzlicher Feiertag "Arbeitsruhe" unter Fortbestehen des Lohnanspruchs gewährt. Er bildet zugleich ein Stück Kulturverfassungsrecht: weil er Verfassung und Kultur spezifisch verbindet: "Arbeitsruhe" eröffnet die Möglichkeit, die sinnstiftende Seite der Arbeit zu erkennen, zugleich sich anderen kulturellen Tätigkeiten zuzuwenden. Arbeit und Freizeit sind gleichermaßen ein Stück Kultur, darum auch das sie ausgestaltende Recht. (4) Die Persönlichkeits- bzw. Sachorientierung Die Feiertagsgarantien lassen sich unter einem weiteren Aspekt systematisieren: je nachdem, ob sie bestimmte Persönlichkeiten oder bestimmte "Sachen", d.h. Ideen, Vorgänge, Hoffnungen etc. zum Gegenstand haben. Sieht
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Dazu P. Häberle, Feiertagsgarantien, aaO., S. 51 f. Zu diesem Thema (verfassungsvergleichend) mein Beitrag "Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit", AöR 109 (1984), S. 630 ff. sowie VIII Ziff. 7.- Ein Blick auf die ostdeutschen Verfassungen nach 1945: Sie enthalten Sätze wie: "Der Sonntag, der 1. Mai und die anderen gesetzlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe geschützt" (so z.B. Art. 7 Verf. Brandenburg von 1947, zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Band, 1948; ähnlich Art. 16 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1947, zit. ebd., Art. 17 Abs. 3 Verf. Sachsen von 1947, ebd., Art. 18 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt von 1947, ebd.); während die eben erwähnten Verfassungstexte dieses Thema systematisch bald im Kontext des "demokratischen Aufbaus" (so Mark Brandenburg), der Grundrechte (so MecklenburgVorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt) regeln, wählte die Verf. Thüringen von 1946 noch den älteren bzw. "klassischen" Ort des Abschnittes "Religionsgesellschaften" für seine Feiertagsgarantie (in Art. 73 Abs. 3, zit. wie ebd.). Vgl. jetzt Art. 14 Abs. 2 Verf. Brandenburg (1992): "Die mit Sonn- und Feiertagen verbundenen Traditionen sind zu achten".- Verf. Sachsen (1992), Sachsen-Anhalt (1992) und Mecklenburg-Vorpommern (1993) verweisen jeweils auf Art. 139 WRV, so daß insoweit der Schutz von Sonn- und Feiertagen gilt. Art. 40 Verf. Thüringen rezipiert ausdrücklich Art. 140 GG. 1041
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen man einmal von "Kaisers Geburtstag" im Deutschland und Österreich von früher ab, so sind hier der George Washington-Tag der USA bzw. der Martin Luther King-Tag als Beispiele zu nennen. Der "1. Mai" hat dagegen einen anderen, von vornherein objektiveren, sachlichen, überpersönlichen Hintergrund. Freilich erweist sich diese Einteilung als eher "oberflächlich": Letztlich stehen in Verfassungsstaaten als freiheitlichen Demokratien auch hinter konkreten Persönlichkeiten abstrakte Ideen bzw. Sachgehalte. Ein Martin Luther King hat Gleichheit der Menschen, Humanität und Toleranz wie wenig andere persönlich vorgelebt und mit seinem Leben bezahlt. Doch meint ein Verfassungsstaat wie die USA letztlich diese Ideen - Grundwerte der Verfassung! wenn er den Martin Luther King-Tag jüngst zum nationalen Feiertag erhoben hat. Umgekehrt können hinter sach- bzw. themenorientierten Feiertagen Personen stehen: So wird man sich in Feiern zum 1. Mai nicht selten großer Arbeiter» bzw. Gewerkschaftsführer erinnern: weil sie die Arbeiterschaft in den Verfassungsstaat integriert haben, was bekanntlich nicht ohne Blutvergießen geglückt ist. Vielleicht verstärkt es sogar die kulturelle Vitalität eines Feiertags, wenn sich mit ihm sachliche Themen und bestimmte Menschen assoziieren - so wie "Kultur" im allgemeinen Persönlichkeiten und sie beglaubigende Ideen, Inhalte, Werke braucht bzw. sich in ihnen äußert. Beide Arten von Feiertagen haben Symbolcharakter, betreffen das Ganze des Verfassungsstaates. Sie schaffen "kulturelle Grundierung", geben den offenen Gesellschaften "gründende" Inhalte, wollen Konsens - bei allem sonst bestehenden Dissens. (5) Feiertage mit spezifischem Bezug zum Typus Verfassungsstaat bzw. allgemein kulturgeschichtlich begründete Feiertage Eine weitere Einteilung der Feiertage knüpft an die Frage an, ob sie einen spezifischen Bezug zum Verfassungsstaat als Typus aufweisen, auch seine konkreten Beispiel-Nationen, ihre Gründung, (Verfassungs-)Geschichte, Weiterentwicklung und Zukunft betreffen, oder ob sie durch eher allgemeine kulturgeschichtliche Zusammenhänge und Vorgänge geprägt werden, die z.B. historisch in weit vorverfassungsrechtlicher Zeit ihren Grund haben. Gemeint sind hier im traditionell christlichen Deutschland das Weihnachtsfest, die beiden Osterfeiertage, auch der früher "staatlich" gefeierte Reformationstag und der Sonntag. Die christliche Tradition, das Christentum als "prägender" Kulturfaktor i.S. der Judikatur des BVerfG zur Gemeinschaftsschule (BVerfGE 41, 29 (52)) sind es, die diese Tage als Feiertage tragen. Ein konkreter Bezug zum Grundgesetz, der diese Tage zum Gegenstand von "Verfassungspatriotismus"
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft i.S. von D. Sternberger machen könnte, besteht hier nicht 1 0 4 2 ; indes haben solche spezifisch religiös motivierten und heute (noch) kulturell legitimierten Feiertage 1043 mittelbar doch einen Verfassungsbezug: weil und insofern sie dem Volk teuer sind, das diesen konkreten Verfassungsstaat bildet (oder doch grossen Teilen von ihm). Ein Wort zu den Feiertagen mit spezifischem Verfassungsstaatsbezug. Hier mag man unterscheiden zwischen Feiertagen, die dem konkreten Verfassungstaat im ganzen gelten und zwar als historisch gewordener und sich weiterentwickelnder Einheit, und solchen Feiertagen, die einzelne Prinzipien betreffen: wie der 1. Mai die Arbeit, der Martin Luther King-Tag die Rassenintegration. Indes sind die Übergänge fließend. Bezüglich der Inhalte ließe sich weiter differenzieren je nach dem in Frage stehenden Gefühlswert - bis hin zum kollektiv Bewußten und Unbewußten einer Nation 1 0 4 4 . So könnte man nach Trauer-Tagen bzw. Freuden- und Hoffnungs-Tagen unterscheiden - die ad hoc Staatstrauer-Tage, etwa aus Anlaß des Todes von Bundespräsident T. Heuss, und die damit verknüpfte besondere Problematik seien hier nur vermerkt 1045 . Oft verbindet sich beides, Trauer und 1042 Ein Wort zum Muttertag. "Erfinderin" ist eine Amerikanerin namens Anna Jarvis. Der Todestag ihrer Mutter, der zweite Sonntag im Mai, wurde 1914 von USPräsident W. Wilson als Muttertag proklamiert. Während aber die unermüdliche Vorkämpferin dieses Tages ihrer Mutter und allen Müttern ein idealistisches Denkmal setzen wollte, bemächtigte sich die Geschäftswelt in den USA mit Erfolg dieses Tages, der seinen Siegeszug um die ganze Welt antrat. Der Muttertag ist zum einen Beispiel für einen "universalen" Gedenktag, zum anderen aber auch ein Beispiel dafür, wie sich Gedenktage von den Ideen ihrer "Erfinder" lösen: Frau Jarvis prozessierte vergeblich in den USA gegen die ihren Tag usurpierende Geschäftswelt, sie verstarb verarmt in einem Altersheim.- Stichworte zur Geschichte des Muttertags: Art. Muttertag in: Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl. 1971; s. auch Art. Muttertag, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 16, 1976, korrigierter Nachdruck 1981, S. 672 (mit Lit.).Im übrigen sei an die UN-Praxis erinnert, bestimmte im Zeichen einer Idee stehende Jahre - wie das "Jahr der Behinderten" oder der "Kinder" - auszurufen. 1043 S. aber die Probleme, die sich aus der Entwicklung zur "multikulturellen Gesellschaft" ergeben. Diese "multikulturelle Gesellschaft" wird vor allem dann auch im Feiertagsrecht neu herausgefordert sein, wenn immer mehr Moslems als Gastarbeiter oder sonst dauernd im Lande sind. So wie manche deutschen Feiertagsgesetze israelische Feiertage rechtlich "umhegen" (z.B. Art. 6 Bayerisches Feiertagsgesetz, § 9 Feiertagsgesetz von NRW), werden mittelfristig parallele Normen für den Islam erforderlich werden; einige Aspekte des Problems der "multikulturellen Gesellschaft" in anderem Zusammenhang bei M. Zuleeg, Der unvollkommene Nationalstaat als Einwanderungsland, ZRP 1987, S. 188 (189 f.) sowie T. Fleiner-Gerster (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, 1995. 1044 Dazu H Marti, Urbild und Verfassung, 1958. 1045 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 435 Anm. 69, S. 572 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Hoffnung, weil die großen Daten der Verfassungsgeschichte ebenso ambivalent sind wie das Menschsein: Der Martin Luther King-Tag ist ein Trauertag, weil er an die Ermordung dieses Bürgerrechtlers erinnert; er wirkt als ein Tag der Hoffnung, weil er den USA die beispielhaften Fortschritte in Sachen Rassenintegration bewußt und weiter verpflichtend macht. Bei Staatsgründungstagen, die zugleich mindestens in nuce Verfassungsstaaten hervorgebracht haben man denke an den 14. Juli in Frankreich -, wird meist nur noch das Positive gefeiert; der historische Preis ("Blut, Schweiß und Tränen") wird eher verdrängt. (6) Einteilungen nach der systematischen Plazierung von Feiertagsgarantien in den Verfassungstexten Die Beispielsformen von Feiertagsgarantien in Verfassungsstaaten lassen sich nicht nur nach ihren Motiven und Inhalten klassifizieren, auch der systematische Ort, Art und Form ihrer Plazierung in den Texten ermöglicht "Einteilungen". Es ist bezeichnend, daß die Feiertagsgarantien in den deutschen Verfassungsurkunden systematisch 1046 an unterschiedlichen "Stellen" normiert sind, wobei sich Mischformen finden. In Baden-Württemberg (1953) figuriert die Feiertagsgarantie im Ersten Hauptteil "Vom Menschen und seinen Ordnungen" schon unter dem ersten großen Abschnitt "Mensch und Staat"; Art. 3 1 0 4 7 ebd. lautet: "Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage stehen als Tage der Arbeitsruhe und der Erhebung unter Rechtsschutz". Das Emotionale kommt im Worte "Erhebung" prägnant zum Ausdruck. Wenn der Verfassungstext fortfährt: "Die staatlich anerkannten Feiertage werden durch Gesetz bestimmt. Hierbei ist die christliche Überlieferung zu wahren", so wird die Zeitdimension besonders greifbar: Die christliche Überlieferung als eine bestimmte kulturelle Tradition prägt die Feiertage mit - dieselbe Tradition, auf die
1046 Die Systematik spielt für das Verständnis der Feiertagsgarantie eine Rolle z.B. in BayVerfGH, BayVBl. 1982, S. 273, LS 2: "Art. 147 BV soll vor allem die Religionsausübung und die Belange der Religionsgemeinschaften schützen. Dies entspricht der geschichtlichen Entwicklung des Feiertagsrechts und ergibt sich auch daraus, daß Art. 147 im Abschnitt 'Religion und Religionsgemeinschaften' der Bayerischen Verfassung enthalten ist". 1047 Vgl. jetzt die Kommentierung in: P. Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, S.75 ff. (durch A. Hollerbach); s. auch G. Huttner, Sonnund Feiertagsrecht in Baden-Württemberg, 1980.- Im Blick auf Art. 3 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg spricht L· Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 214, Anm. 351 von "vorsichtig säkularisierender und zugleich bewahrender Formulierung im Abschnitt 'Mensch und Staat"'.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft sich die Verfassung im Erziehungsziel "Geist der christlichen Nächstenliebe" (Art. 12 ebd.) einläßt 1048 . Anders piazieren sonstige deutsche Länderverfassungen nach 1945 die Feiertagsgarantien. Dabei lassen sich zwei Typen unterscheiden. Eher "weltlich" geht zunächst Verf. Hessen (1946) vor. Im Abschnitt "Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten" sind (als Art. 31 S. 2) zuerst Sonntage und gesetzliche Feiertage als "arbeitsfrei" garantiert; danach folgt in Art. 32 der Schutz des "1. Mai" - inhaltlich ausgerichtet auf "das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung" 1049 . Im Abschnitt "Staat, Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften" folgt dann der Schutz der Feiertage im staatskirchenrechtlichen Kontext: Art. 53 normiert: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt". Bayern (1946) verfährt systematisch anders. Es piaziert die "allgemeine" Feiertagsgarantie (ähnlich wie die Weimarer Reichsverfassung) im Abschnitt "Religion und Religionsgemeinschaften". Art. 47 lautet: "Die Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe gesetzlich geschützt". Eine spezielle Garantie des 1. Mai kennt Bayern auf Verfassungsebene weder hier noch im "Vierten Hauptteil. Wirtschaft und Arbeit" 1 0 5 0 . Den zweiten, systematisch eigenen Normierungstypus von Feiertagsgarantien repräsentiert Verf. Nordrhein-Westfalen (1950). Im Abschnitt "Arbeit und Wirtschaft" findet sich die allgemeine Feiertagsgarantie in den Worten des Art. 25 Abs. 1 : "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage werden als Tage der Gottesverehrung, der seelischen Erhebung, der körperlichen Erholung und der Arbeitsruhe anerkannt und gesetzlich geschützt". In Absatz 2 folgt
1048 Der spezielle Feiertag des 1. Mai ist in Art. 3 Abs. 2 "angehängt" und zwar mit den Bekenntnisinhalten "soziale Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung". 1049 Verf. Berlin (1950/1994) schützt in Art. 22 Abs. 2 den 1. Mai ohne solche Bekenntnisinhalte. 1050 Ähnlich Art. 41 Verf. Saar (1947).- Eine Feiertagsgarantie wie Art. 147 Verf. Bayern (1946) ist eine "institutionelle Garantie" i.S. der in Weimar entwickelten Lehre von C. Schmitt; BayVerfGH, BayVBl 1982, S. 273 (274) spricht ungenau von "Institutsgarantie"; nicht die einzelnen Tage, sondern eine "angemessene Zahl kirchlicher Feiertage" (so zu recht BayVerfGH ebd.) sind anzuerkennen. Der VerfGH arbeitet mit Recht (kultur)geschichtlich (arg.: "geschichtliche Entwicklung", "in Bayern bestehende Tradition", "christliche Tradition Bayerns").
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen der "1. Mai", der zu dieser systematischen Plazierung der allgemeinen Feiertagsgarantie wohl Anlaß gab 1 0 5 1 . Auf "Mischformen" in der verfassungsrechtlichen Plazierung der Feiertagsgarantie sei verwiesen 1052 . Schon dieser Vergleich zeigt, daß sich hinter den Textvarianten tiefere Wandlungsprozesse verbergen: Traditionell ist das Feiertagsrecht ganz vom christlichen - Sonntag 1053 her konzipiert: darum findet sich die allgemeine Feiertagsgarantie herkömmlich im Kontext des Staatskirchenrechts bzw. des Abschnitts "Religion" etc. Manche Landesverfassungen denken an das Feiertagsrecht auch oder sogar nur im Abschnitt "Wirtschaft und Arbeit": sei es, weil sich der Feiertag als "arbeitsfreier" Tag vor allem wirtschaftlich und arbeits1051
Zwar ist in Art. 22 und damit im Zusammenhang mit staatskirchenrechtlichen Regelungen auf Art. 140 GG (und damit auch auf Art. 139 WRV) verwiesen. Doch bleibt auffällig, daß Nordrhein-Westfalen die Feiertagsgarantie (im Vergleich mit Weimar) in den Abschnitt "Arbeit und Wirtschaft" "hinüberwandern" läßt (ebenso Art. 21 Abs. 1 und 2 Verf. Württemberg-Baden (1946) und Art. 91 Abs. 2 und 3 Verf. Württemberg-Hohenzollern (1947)) - ein typischer "Textstufen"-Vorgang! (Diese Texte sind zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Band, 1948.) 1052 Verf. Rheinland-Pfalz (1947) normiert i.S. eines Sowohl-Als-auch. Im Abschnitt "Kirchen und Religionsgemeinschaften" heißt es in Art. 47: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage sind als Tage der religiösen Erbauung, seelischen Erhebung und Arbeitsruhe gesetzlich geschützt"; in Art. 57 Abs. 2 ist dann im Rahmen des Abschnitts "Wirtschafts- und Sozialordnung" der 1. Mai garantiert.- Verf. Baden (1947) piaziert die allgemeine sozusagen formalisierte Feiertagsgarantie im Abschnitt "Kirchen und Religionsgemeinschaften" (Art. 36: "Der Schutz der Sonntage und der staatlich anerkannten Feiertage wird gewährleistet"). Im Abschnitt "Wirtschaft und Arbeit" findet sich dann der spezielle Feiertag des 1. Mai "staatlich anerkannt": (Art. 40, mit dem Zusatz "Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerversöhnung" - Ziele, die die Verfassung auch sonst prägen, vgl. die "soziale Gerechtigkeit" in der Präambel, die "Gerechtigkeit" als Maxime der Wirtschaftsordnung (Art. 43), die Völkerverständigung als Erziehungsziel (Art. 26).- Die Unterschiede in den einzelnen deutschen Bundesländern sind Beweis fur die Vitalität dieser Länder und ihre kulturelle Vielfalt. 1053 Aus der Literatur zum Sonn- und Feiertagsrecht: O.J. Voll, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, 1985, S. 308 ff. mit dem Hinweis, dem Schutz der Sonn- und Feiertage durch die Verfassung lägen "religiöse und sozialpolitisch-ethische Gesichtspunkte zugrunde"; J. Splett/A. Pahlke/R. Richardi, Der Schutz der Sonn- und Feiertage, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 24, 1990, S. 4 ff; K-H. Kästner, Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage, HdBStKiR, 2. Aufl., 2. Bd. 1996, S. 337 ff- Zur Geschichte des "Sonntages": O.J. Voll, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, 1985, S. 308.- Zur Geschichte des Feiertagsrechts in Österreich: /. Gampl, Staat - Kirche - Individuum in der Rechtsgeschichte Österreichs zwischen Reformation und Revolution, 1984, z.B. S. 19, 29, 59 f , 96; H. Magenschab, Josef II, 3. Aufl. 1981, S. 214.- Zum Sabbat der Juden: Max Wiener, in: Jüdisches Fest, Jüdischer Brauch, hrsg. von F. Thieberger, 3. Aufl. 1985, S. 71 ff.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft rechtlich auswirkt, sei es im Blick auf den "Tag der Arbeit", d.h. den 1. Mai. Aus dem "Ort", an dem der Verfassunggeber den Feiertag normiert, lassen sich also tiefere kulturelle Vorgänge und Inhalte erkennen. "Idealtypisch" sind drei Normierungsarten unterscheidbar: 1. Eine allgemeine Feiertagsgarantie, vorweg, in der Nähe der Grundlagenregelungen der ersten Verfassungsartikel (Beispiel: Verf. Baden-Württemberg von 1953). 2. Allgemeine und zugleich spezielle Feiertagsregelungen, im Sachzusammenhang "Staat, Religion, Weltanschauungsgemeinschaften": dies ist die historisch ältere Form (z.B. Weimarer Reichsverfassung von 1919). 3. Allgemeine und spezielle Feiertagsgarantien im Zusammenhang mit dem Thema "Arbeit und Wirtschaft" 1054 - dies ist eine neuere Form, in dem Maße wie der 1. Mai für den Verfassungsstaat wichtig geworden ist und in die Verfassungstexte eingefügt wurde (z.B. Verf. Bremen von 1947) 1055 . (7) Unterschiedlich formell bzw. "hoch" gewichtete Feiertage Ein weiteres Einteilungskriterium für Feiertage folgt aus der Intensität ihrer Formalisierung bzw. aus der Art ihrer rechtlichen Institutionalisierung 1056 . Die 1054
Regionale und universale Menschenrechtserklärungen nehmen sich der Feiertagsproblematik unter dem Stichwort "Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen" an: so die Europäische Sozialcharta (1961), zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, in Art. 2 Ziff. 2 ("Um die wirksame Ausübung des Rechts auf gerechte Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien ... bezahlte öffentliche Feiertage vorzusehen"); ähnlich Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) in Art. 7 d ("Recht eines jeden auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen", durch die insbesondere gewährleistet wird: "Arbeitspausen, Freizeit, eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, regelmäßiger bezahlter Urlaub sowie Vergütung gesetzlicher Feiertage"). 1055 Allgemeines zur "Textstufen"problematik in meinem Beitrag: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff. sowie Fünfter Teil VI. 1056 Als eine Art "gemeindeutschen Feiertagsrechts" (zur Problematik gemeindeutschen (Verfassungs-)Rechts: P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz ..., JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff.)) kann der in den Feiertagsgesetzen der deutschen Länder fast stereotyp wiederkehrende Satz gelten: "An Sonnund Feiertagen sind alle öffentlich bemerkbaren Arbeiten verboten, die geeignet sind, die äußere Ruhe des Tages zu stören" (vgl. § 3 Feiertagsgesetz NRW vom 22. Februar 1977 (GV NW, S. 98), § 4 Abs. 1 Niedersächsisches Feiertagsgesetz vom 29. April 1969 (GVB1., S. 113), § 6 Bad.-Württ. Feiertagsgesetz vom 28. November 1970 (GVB1. 1971, S.l), Art. 2 Abs. 1 Bayerisches FTG vom 21. Mai 1980 (BayRS 1131-3-1), § 3 Abs. 2 Feiertagsgesetz von Rheinland-Pfalz vom 15. Juli 1970 (GVB1., S. 225)).- So-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen am höchsten gewichtete Feiertagsform ist diejenige, bei der verfassungsgesetzlich Arbeitsruhe verordnet wird, so etwa für den 1. Mai in den meisten Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt jedoch auch Tage, die weniger stark institutionalisiert sind, man denke an den nur im Bundestag bzw. durch Fahnenschmuck 1057 an öffentlichen Gebäuden gefeierten Tag des Inkrafttretens des deutschen Grundgesetzes von 1949, den 23. Mai, oder den informellen Gedenktag zu Ehren der Männer und Frauen des gescheiterten Aufstandes gegen Adolf Hitler (20. Juli 1944). Genug der - nicht erschöpfenden - Beispiele. Ihre Systematisierung erfüllt keinen Selbstzweck. Sie dient lediglich dazu, die Vielfalt der Inhalte, Erscheinungsformen, Zwecke, Motive und Hintergründe von Feiertagen in Verfassungsstaaten zu veranschaulichen. Überdies konnte sie in einem ersten Durchgang "ahnen" lassen, nach welchen Methoden eine als Kulturwissenschaft betriebene Verfassungslehre ihren Gegenstand ins Auge faßt. (8) Das "Altern" staatlicher Feiertage, das Werden alternativer Oppositionstage Vielleicht unterliegt der staatlich "verordnete" Gedenk- oder Feiertag im Verfassungsstaat einem Prozeß des "Alterns": Die pluralistische Öffentlichkeit läßt sich ungern "von oben" ein Feiern "befehlen". Staat bzw. staatliches Gebot und Gesellschaft bzw. ihr Handeln fallen hier signifikant auseinander. Der Bürger will keinen staatlichen Feiertag, selbst wenn dieser an den Grundwerten der Verfassung orientiert ist; er möchte auch hier "autonom" sein. Indes sollten sich die Bereitschaft des Bürgers staatliche Feiertage "mitzumachen", und seine viel berufene "Mündigkeit" jedenfalls dann nicht ausschließen, wenn der Feiertag
weit einige Feiertagsgesetze der deutschen Länder Schutzbestimmungen zugunsten weiterer kirchlicher Festtage enthalten (z.B. §§ 8, 9 Feiertagsgesetz NRW; §§ 7 bis 12 Niedersächsisches FeiertagsG, §§ 3 bis 6 Bayerisches FeiertagsG; § 9 Rheinlandpfälzisches FeiertagsG), handelt es sich um differenziert abgestufte, ins Arbeitsrecht, Gewerberecht und Schulrecht reichende Normen, die dem Schutz des Gottesdienstes bzw. der Befreiung von Arbeit und Schule dienen. Im Grunde gestaltet der Verfassungsstaat hier sein "Religionsrecht" (Art. 4, 140 GG) aus. Vgl. zuletzt: U. Karpen/A. Mattner (Hrsg.), Hamburgisches Sonn- und Feiertagsrecht, 1993. 1057 Aufschlußreich ist die Preußische Verordnung über das öffentliche Flaggen vom 29. Juni 1929, zit. nach JöR 21 (1933/34), S. 9 f., z.B. § 2: (1) "Die staatlichen und kommunalen Dienstgebäude sowie die Gebäude der öffentlichen Schulen sind zu beflaggen: a) am Verfassungstag (11. August) ohne besondere Anordnung; b) aus besonderen Anlässen, die für das ganze Land oder einzelne seiner Teile von allgemeiner politischer Bedeutung sind, auf Anordnung des Staatsministeriums; c) aus örtlichen Anlässen von nicht politischer Bedeutung auf Anordnung der örtlich zuständigen Dienststellen... ". Zur Verfassungsgeschichte der Flaggen in Deutschland: H. Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, 1984, S. 9 ff. 65 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Ausdruck von Grundwerten der Verfassung ist. Pluralistische Verfassungsstaaten bzw. Demokratien brauchen symbolische Ausdrucksformen für kollektives Bewußtsein und kollektives Handeln: Feiertage können dies leisten. Heute zeichnen sich weltweit ganz neue, wenn man will "alternative 11 Formen einer auf Grundwerte des Verfassungsstaates als Typus gerichteten Praxis ab. Beispiele finden sich in (halb)autoritären Staaten wie Südkorea oder (früher) Chile, in denen die mehr oder weniger halblegale demokratische Opposition etwa im Namen der Menschenrechte "gesellschaftliche" Erscheinungsformen der Demonstration hervorbringt 1058 , die sich ausdrücklich an "nationalen Tagen" orientieren. So organisierte die Opposition in Südkorea im Januar 1987 mit Beteiligung der Religionsgemeinschaften einen Kampftag unter der Bezeichnung "Nationaler Volkstrauertag" um damit gegen den Mord zu demonstrieren, den die Polizei an einem zuvor gefolterten Studenten begangen hatte 1059 . Demonstrationsrecht und -praxis übernehmen hier - in NochNicht-Verfassungsstaaten - Funktionen, die sonst, d.h. in realen Verfassungsstaaten z.B. ein "Menschenrechtstag" oder ein staatlicher "Volkstrauertag" erfüllen. So paradox es erscheint: Selbst in diesem spontan ausgerufenen "Nationalen Volkstrauertag" in Südkorea offenbart sich ein Bedürfnis für "besondere" Tage und ihre Symbolik. Übrigens hatte der südkoreanische Staatspräsident Tschon nach dem Rücktritt des verantwortlichen Innenministers Bedauern geäußert über den "unerwarteten Zwischenfall während angestrengter Bemühungen um den Aufbau einer demokratischen Polizei, welche die Führung beim Garantieren der Freiheiten des Volkes und seiner Rechte übernimmt" 1 0 6 0 . In Chile kam es 1986 und 1987 ebenfalls zu Menschenrechts- bzw. Oppositionstagen. Im Südafrika der Apartheidszeit beging die schwarze Bevölkerung den 16. Juni als informellen "Soweto-Tag". Es gibt weitere Beispiele dafür, daß offiziellen Feiertagen ein inoffizieller gegenübergestellt wird. So rief etwa der "Solidaritäts"-Begründer Lech Walesa
1058 Man fühlt sich daran erinnert, daß auch im geschichtlichen Werden des deutschen Verfassungsstaates die ersten politischen Feiern wie das Wartburgfest von 1817 und das Hambacher Fest von 1832 "Akte der verfassungsoppositionellen Repräsentation" waren (so ER. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, 1960, S. 134). 1059 Vgl. FAZ vom 14. Februar 1987, S. 10: "In Südkorea auswegloser." Später hat sich aber der (damals) neue südkoreanische Ministerpräsident Lee für den Foltertod des Studenten am 14. Januar 1987 in Seoul bei der Bevölkerung entschuldigt ("Beschämung, daß sich ein derart tragischer Vorfall in einem Land ereignete, das sich der Demokratie verschrieben hat und die Menschenrechte achtet", zit. nach FAZ vom 1. Juni 1987, S. 6). Der informelle Oppositionstag hat also etwas "bewegt". 1060 Zit. nach FAZ, aaO.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Ende April 1987 zu unabhängigen Maifeiern in Polen auf 1 0 6 1 . Die Gewerkschaftsführer sollten auf örtlicher Ebene die jeweiligen Möglichkeiten prüfen, um die "wahren Bestrebungen der Arbeiterklasse zum Ausdruck zu bringen". Der 1. Mai wird hier zum Tag der Opposition gegenüber der Zwangsherrschaft des polnischen Einparteienstaates. (9) Die anthropologische Dimension, Feiertage als (Verfassungs-)Kultur Feiertage erschließen sich aus einer anthropologischen Dimension. Mensch und Bürger haben im Zeichen bestimmter Werte ein Bedürfnis zu feiern: um sich mit ihrer Umwelt in Übereinstimmung zu bringen, ein Stück Gemeinschaft zu sein. Das rückblickende Innehalten und Gedenken sowie das vorausblickende Hoffen und Wünschen gehören zur "conditio humana" - so oft dieses Bedürfnis in der Geschichte von Tyrannen und Despoten mißbraucht worden ist. Feiertagsrecht hat letztlich mit dem Menschenbild des Verfassungsstaates zu tun. Dieses ist so komplex wie der Mensch. Wissenschaft und Politik können nur Teilaspekte benennen: den rational handelnden "Nutzenmaximierer", in den Wirtschaftswissenschaften als "homo oeconomicus" stilisiert und gelegentlich übersteigert, aber auch den emotional konstituierten Menschen: Der Verfassungsstaat bedarf rationaler und emotionaler Konsensquellen; Feiertagsgarantien sind Ausdruck von beiden. Der "Mensch im Recht", jetzt genauer im Verfassungsstaat ist "homo ludens" und "homo faber" - und auch diese Facetten können sich in Feiertagen widerspiegeln. Mögen die Unterschiede in ihrer Zugehörigkeit zum Kernbereich des Typus "Verfassungsstaat" und zur Individualität des jeweiligen Volkes groß sein: Einige Feiertage bilden so sehr integrierende Bestandteile der verfassungsstaatlichen Verfassung, daß sie über ihre formale Einordnung hinaus "Verfassungstage" sind. Das gilt, wie sogleich kulturwissenschaftlich am Beispielsmaterial belegt wird, für den 1. Mai, und es gilt für die jeweiligen Staatsgründungstage, etwa für Norwegens 17. Mai. Der neue Martin Luther KingTag in den USA dürfte ebenfalls hierher gehören: als Symbol für die Rassengleichheit. Der Symbolgehalt von Feiertagen 1062 ist freilich im Verfassungsstaat nur ein "Angebot" für Bürger und Gruppen: er kann vorgeschlagen, aber nicht erzwun-
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FAZ vom 25. April 1987, S. 2.- Der 3. Mai war für Polen bis zum 2. Weltkrieg nationaler Feiertag, vgl. S. Grodziski, Die Verfassung vom 3. Mai 1791, in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 25. Juli 1987, S. 40 (46). 1062 Vielleicht liegt auch in den Bestimmungen mancher deutscher Landesverfassungen nach 1945: "Der Wahltag muß ein Sonntag sein", ein Stück Feierlichkeit und
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft gen werden. Die individuelle Verfassungskultur, Ergebnis meist langer Verfassungsgeschichte eines Volkes, weist hier große Unterschiede und Variationsmöglichkeiten auf. Man denke an den 1. August in der Schweiz und den (früheren) 17. Juni in der Bundesrepublik Deutschland. In einer offenen Gesellschaft leisten Feiertage ein Stück unverzichtbarer kultureller Grundierung 1063 . Sie tradieren und vermitteln Inhalte, in denen große Teile des Volkes bewußt oder unbewußt einig sein können. Doch bedürfen sie der Aktualisierung in der Zeitdimension: durch eine Vielzahl von Pluralgruppen, deren Kreis offen ist und Wandlungen unterliegt. Thematisch mag es Zonen intensiven Grundkonsenses 1064 im Verständnis der einzelnen Feiertage Symbolik, ganz abgesehen von dem Schutz der Interessen des Arbeitnehmers, die sicher auch zu einem solchen Verfassungssatz gefuhrt haben.- Beispiele: Art. 58 Abs. 3 Verf. Baden von 1947, zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Band 1948; ebenso Art. 22 Abs. 2 Verf. Württemberg-Hohenzollern (1947): "Das Volk stimmt und wählt an einem Sonntag"; Art. 3 Abs. 2 Verf. Schleswig-Holstein (1949): "Die Wahlen finden an einem Sonntag oder öffentlichen Ruhetag statt" (zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995). Freilich darf diese deutsche Plazierung des Wahltags im Sonntag nicht für den Typus Verfassungsstaat überhaupt in Anspruch genommen werden: In Großbritannien etwa finden die Unterhauswahlen selbstverständlich an Werktagen statt. Hier hängt alles vom konkreten Verfassungsstaat, seiner Geschichte und seinem Wahl- wie Sonntagsverständnis ab. 1063 Lebende Feiertage sind ein Stück des von G. Dürig beim Namen genannten "Kultur-Besitzes", verstanden als "in der Materie verkörperlichten Niederschlags des Geistes; also reichend vom aufgeschriebenen Volkslied bis zur Symphonie, von der Hausgiebelform bis zum Münster, vom Volksmärchen bis zum Drama" (G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 15 (1955), S. 27 (45)). Kongenial fortgeführt in "Wappen" (wiederabgedruckt in: G. Dürig, Gesammelte Schriften, 1952 1983, 1984, S. 423: "W. gehören wie Flaggen, Farben, Siegel, Titel, Orden, Ehrenzeichen, Namen ... Eide, Gelöbnisse zu den Symbolen"); s. auch T. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Art. 22 (1966), Rdnr. 1: "staatliche Symbole als vergeistigte Ausdrucksformen der Staatsexistenz und des Staatsbewußtseins, insbesondere national bedeutsame historische Ereignisse und Gelegenheiten, Hymnen, Feiertage und Orden." - Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1984, S. 277: "Ihnen (sc. den nationalen Feier- und Gedenktagen) wohnt die gleiche politische Zielsetzung inne; sie sollen das wahrnehmbare Staatssymbol noch verstärken, erlebbar machen und damit die politische Integration des Volkes herbeiführen: Gemeinschaftsgefühl und Festigung der Verbundenheit mit dem Staat".- AK-GG Preuss, 1984, Bd. 2, Art. 140 GG / Art. 139 WRV, Rz. 69 (ebenso 2. Aufl. 1989) verneint einen institutionellen Schutz des Feiertags ohne nähere Begründung. Dagegen mit Recht: A. Hollerbach, in: P. Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, Rdnr. 10 zu Art. 3. Zwar ist in der Tat kein "fester Bestand an Feiertagen" gewährleistet (so Hollerbach ebd.), die deutschen Länder unterscheiden sich auch in ihrer "Feiertagsfreundlichkeit", doch darf die Institution "Feiertag" nicht leerlaufen. Sie ist aus den Gründen und nach Maßgabe des Textes ein Prinzip des Verfassungsstaates. 1064 Nach T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 538, sind Flaggen und Farben, die verschiedenen Arten von Hoheitszeichen, die Nationalhymne und die Be-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen geben, doch kann eine res publica auch friedlich formulierten Dissens ertragen. Die Themen- und Beteiligtenfrage, ebenso die denkbaren Alternativen zu herkömmlichen Formen, sind für jeden Feiertag gesondert zu diskutieren. Indes sollte der formalisierte Feiertag nicht zur Privat- oder Partikular-Angelegenheit weniger werden: Das schadete dem Feiertag als Einrichtung des Verfassungsstaates, in der sich dieser zu sich selbst in bezug setzt. Im übrigen verbindet sich in den einzelnen Feiertagen das Idealtypische des Verfassungsstaates als solchem mit dem Realtypischen seines konkreten nationalen Beispiellandes zu einer unauflöslichen Einheit. Was in der Bestandsaufnahme analytisch zergliedert wurde, gehört jetzt zusammen: die Zeitdimension in ihren Phasen der Vergangenheits- und Zukunftsorientierung, das pluralistische Volk, dessen Teile (z.B. die Arbeiter am 1. Mai) integriert wurden (heute vielleicht im Blick auf die Arbeitslosen in eine neue sozialethische Dimension zu stellen!), die eher Persönlichkeits- bzw. sachorientierten Feiertagsaspekte, die spezifisch verfassungsstaatlich und eher allgemein kulturell fundierten Feiertage. Feiertage können im Glücksfall wie in manchen Verfassungsstaaten zum kulturellen Patrimonium, zum wertvollen "Erbe der Nation" werden bzw. gehören. Sie veranschaulichen, versinnbildlichen und verlebendigen Grundwerte 1065 : seien es Ideen, historische Vorgänge oder Persönlichkeiten. Der 14. Juli ist in Frankreich ein solcher Tag. Verfassungsstaatliche Verfassungen können durchaus von der Möglichkeit Gebrauch machen, schon in ihrer "formellen" Verfassungsurkunde die eine oder andere Feiertagsgarantie aufzunehmen: speziell, im übrigen institutionell offen; zu unterscheiden ist also zwischen der allgemeinen Feiertagsgarantie (i.V.m. der Sonntagsgarantie) als institutioneller Garantie nach dem Vorbild von Art. 139 WRV i.V.m. Art. 140 GG einerseits und speziellen Feiertagsgarantien, etwa zum 1. Mai andererseits. Doch sei Zurückhaltung empfohlen. Nur die Feiertage, die wirklich ein Stück gewordener Identität und lebendiger Individualität des jeweiligen Verfassungsstaates ausmachen (z.B. der 14. Juli in Frankreich), sollten namentlich in der formellen Verfassung konkret "festgeschrieben" werden. Im übrigen genügt eine allgemeine Feiertagsgarantie. Dabei empfiehlt sich eine Erwähnung der Ziele bzw. Bekenntnisinhalte, die die Verfassung mit dem jeweiligen konkreten Feiertag verbindet: etwa Grundwerte wie "soziale Gerechtigkeit", "Völkerverständigung", "nationale Einheit" etc.
Stimmung der Feiertage diejenigen Symbole, "in denen sich am augenfälligsten die Einheit und Zusammengehörigkeit aller Teile des Gemeinwesens manifestieren". 1065 Allgemein dazu mein Buch: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981 sowie oben VIII Ziff. 2.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Durch solche Ziele wird das Positive von Feiertagen bewußt gemacht: Sie bedeuten nicht nur negativ "Freiheit von Arbeit", sondern schaffen den Rahmen für positive Inhalte, in denen sich das - arbeitende - Volk von Verfassungs wegen einig sein will und vergemeinschaftet: soziale Gerechtigkeit, Völkerfreundschaft, Menschenwürde, nationale Einheit, "seelische Erbauung". Feiertage, so verstanden, gehören zu den Schichten der verfassungsstaatlichen Verfassung, die stärker durch "emotio" denn durch "ratio" gekennzeichnet sind. Hier offenbaren sich Verbindungslinien zu Präambeln, nationalen Symbolen wie Flaggen und Nationalhymnen etc. 1 0 6 6 : als "emotionalen Konsensquellen" (K. Eichenberger). In ihrem Kontext können auch die allgemeinen Feiertagsgarantien institutionell normiert sein. Sie deuten auf "Grundlegendes" - insofern bestehen Verbindungen zu Präambelinhalten und Erziehungszielen, auch Staatszielen. Der "Stoff', aus dem Feiertagsgarantien sind, verbindet sie mit diesen Tiefendimensionen "benachbarter" verfassungsstaatlicher Texte und Themen. Im weltanschaulich-konfessionell neutralen Verfassungsstaat empfiehlt es sich, allgemeine "institutionelle" Feiertagsgarantien gedanklich-systematisch nicht dem "Staatskirchenrecht" oder dem Thema "Arbeit und Wirtschaft" zuzuordnen, jenes auch dann nicht, wenn das Staatskirchenrecht textlich wie inhaltlich weitere Etappen auf dem Weg zum "Religionsverfassungsrecht" zurückgelegt hat 1 0 6 7 . "Arbeit und Wirtschaft" sind wie "Religion und Kultur" die Sachbereiche, in die die entsprechenden Feiertagsgarantien gleichermaßen hingehören. Konkret: der "1. Mai" sollte nicht gegen christlich bzw. religiös motivierte Feiertage ausgespielt werden, so konfliktreich früher das Verhältnis zwischen großen Teilen der (sozialdemokratischen) Arbeiterschaft und den (Amts-)Kirchen im deutschen Verfassungsstaat gewesen sein mag. Doch darf er als spezielle Feiertagsgarantie systematisch im Abschnitt "Arbeit und Wirtschaft" piaziert sein. So stark in Feiertagsgarantien christliche Traditionen und andere kulturelle Überlieferungen wirksam sind und bleiben dürfen: Feiertagstexte sollten nicht zu "status quo-Garantien" versteinern. Es zeugt von der Vitalität eines Verfassungsstaates wie den USA, daß hier in unserer Zeit ein neuer Feiertag entstan-
1066 Die Flaggen und Nationalhymnen sind von der deutschen Staatslehre bisher durchaus behandelt worden - ein Spiegel des politischen "Flaggenstreits": vgl. R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 93 f., 163, 217, 241, 260 f., 267; Herb. Krüger, Von der Staatspflege überhaupt, in: H. Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977, S. 47. 1067 Dazu mein Aufsatz "Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff., wieder abgedruckt in: P. Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 452 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen den ist, der einem "Verfassungstag" gleichkommt: in Gestalt des Martin Luther King-Tages. Seine Rassenschranken niederreißende Kraft, die Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung, in denen dieser Tag zu dem geworden ist, was er heute rechtlich bedeutet, beweisen die Offenheit und Lebenskraft der Gesellschaft der USA, auch ihre Fähigkeit, sich auf bestimmte - neue - Inhalte zu einigen. Mehr kann eine Verfassungslehre als Kulturwissenschaft zum Problembereich "Feiertagsgarantien" nicht beitragen. Denn es ist Sache des je individuell gestalteten, in konkreten historischen Prozessen so gewordenen und sich weiter entwickelnden konkreten Verfassungsstaates, welche Feiertage mit welchen Bezügen und Inhalten und in welchem konkreten Sachzusammenhang er in den formellen Verfassungstext aufnimmt, oder, wo nicht (d.h. wo einfachgesetzlich normiert), welche er der Sache nach als ein Stück materielle Verfassung lebt. Doch das allgemein für den "Typus" Verfassungsstaat in Sachen Feiertage Gesagte ist schon einiges: Feiertage berühren die Grundlagen einer Verfassungskultur. Darum empfiehlt sich ihre behutsame Einführung und Änderung: Die pluralistischen Prozesse der Verfassunggebung 1068 bzw. Verfassungsrevision, selbst die der Einführung im "einfachen" Gesetzgebungsverfahren, sollten tunlichst allen Gesichtspunkten des Pro und Contra Raum geben, der Konsens muß möglichst breit, d.h. ein Stück "Grundkonsens" sein. Hektische Abschaffungen und voreilige Revisionen verbieten sich ebenso wie tagespolitisch bedingte Neuschaffungen: Zu viel steht in Feiertagsgarantien für die Verfassung als Ganzes auf dem Spiel. (10) Das Beispiel "Osteuropa" Ein Wort zu der Bedeutung von Symbolen, wie Flaggen, Wappen und Hymnen in Osteuropa: Der Aujbxuch und £//wbruch in Osteuropa (1989) wurde von Anfang an vom Wechsel der Staatssymbole begleitet. Waren sie im Marxismus-Leninismus von oben oktroyiert, buchstäblich "aufgepflanzt", als sozialistische "Zeichen" in Hammer und Sichel, roten Sternen u.ä., in bestimmten neuen Feiertagen der Machtergreifung oder umfunktionierten klassischen Fei-
1068 Dazu allgemein mein Beitrag: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff. sowie Fünfter Teil III 3.- Die rücksichtslose Abschaffung des Büß- und Bettages in Deutschland (1994) geschah aus rein ökonomischen Nutzen-/Kostenrechnungen (Pflegeversicherung) und zeigte, wie wenig die politischen Kräfte an die kulturelle Tiefendimension der Frage dachten. Ermutigend sind die in Gang kommenden Initiativen, den Feiertag wieder einzuführen. Die bayerischen Protestanten sammelten Ende 1996 206 000 Unterschriften, und die bayerische Staatsregierung plant eine Bundesratsinitiative (Nordbayer. Kurier vom 28./29. Dez. 1996).
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ertagen wie dem 1. Mai greifbar, so wurden sie beim Übergang zum Verfassungsstaat jetzt meist von Anfang an geändert: oft durch Rückgriff auf die unterdrückte Verfassungsgeschichte der jeweiligen osteuropäischen Nation. Auch und besonders in pluralistischen Demokratien bedarf es der Staatssymbole als kulturellen Identitätselementen des Verfassungsstaates; selbst und gerade in offenen Gesellschaften braucht der Bürger in und für sein politisches Gemeinwesen konsensstiftende Identifizierungs-Zeichen bzw. Bekenntnis-Artikel. R. Smends Integrationstheorie 1069 liefert die bis heute gültigen Stichworte. Symbole sollen das Geschehene den Zeitgenossen sinn- und augenfällig machen und es dem "kollektiven Gedächtnis" der Nachwelt überliefern. Sie sagen oft mehr über den "Geist" eines Volkes aus als manche Rechtsnormen. So werden Feiertage verkündet, Denkmäler errichtet, Straßen benannt, Flaggen geschaffen und gegrüßt, Hymnen gesungen. So wird Geschichte verarbeitet und Zukunft gewagt. Hier die Beispiele aus den jüngsten Entwicklungen; sie belegen, daß der Sturz der Staatssymbole den juristischen Detailnormierungen meist vorausgeht - so groß ist die zeichensetzende Kraft dieser Symbole. Und es ist auch kein Zufall, daß die verfassungsstaatlichen Verfassungsurkunden den Symbolen oft einen vorderen Platz in den Grundlagen-Artikeln einräumen (z.B. Art. 3 WRV von 1919; Art. 5 Verf. Venezuela von 1961; Art. 11 Verf. Portugal von 1976; Art. 4 Verf. Spanien von 1978; Art. 2 Abs. 2 und 3 Verf. Frankreich von 1958; Art. 1 Abs. 2 und 3 Verf. Bayern von 1946; jetzt Art. 28 Verf. Polen von 1997, Art. 1 Verf. Elfenbeinküste (1995), Art. 4 Verf. Madagaskar (1995)). Polen hat 1990 erstmals wieder seinen nationalen Feier- und Verfassungstag am 3. Mai im Blick auf seine erste Verfassung von 1791 begangen. Zum Jahreswechsel 1989/90 erhielt in Polen der weiße Adler im polnischen Nationalwappen seine Krone zurück 1 0 7 0 . Auch wird die "Republik Polen" in Verfassungsänderungen als "demokratischer Rechtsstaat" definiert, der sich von gesellschaftlicher Gerechtigkeit leiten läßt. Die regenerierte bzw. teilrevidierte Verfassung Ungarns von 1949/89, eine Übergangs- und eher Verlegenheitslösung, regelt in Kap. X I V die Hauptstadt und die nationalen Symbole der Republik Ungarn: die Nationalhymne (Art. 75). In Art. 76 heißt es: "Staatswappen und Nationalfahne der Republik Ungarn sowie der Gebrauch dieser Nationalsymbole regelt ein Gesetz mit verfassungsrechtlichem Inhalt". In dem Formerfordernis "Verfassungsgesetz" kommt die Wichtigkeit des Ge-
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R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 (170). 1070 Zit. nach FAZ vom 2. Januar 1990, S. 2. Vgl. jetzt Art. 28 Abs. 1 Verf. Polen aus dem Jahre 1997.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen genstands zum Ausdruck. Am 2. Mai 1990 verabschiedet das ungarische Parlament eine Entschließung, in der der Volksaufstand von 1956 als revolutionärer Freiheitskampf gewürdigt wird. Der 23. Oktober, Jahrestag des Ausbruchs der Revolution, soll künftig ein Feiertag sein 1071 . Wenn Ungarn noch vor kurzem drei Wappen zusammenfügen wollte - das "Kossuth-Wappen" (1848/49), das sozialistische Emblem (1948) und das "Kronen-Wappen" (Königreich Ungarn bis 1945) -, so rang und ringt es hier um eine Aussöhnung mit sich und seinen wechselvollen verfassungsgeschichtlichen Perioden: im Wege einer "produktiven Rezeption", die an sein kulturelles Erbe anknüpft 1072 . Jetzt ein Wort zum Sonntag: b) Sonntage und Sonntagskultur im Verfassungsstaat, Sonntagsverhalten in der Freizeitgesellschaft, Sonntagswirklichkeit (1) Der Sonntag verlangt eine von den Feiertagen gesonderte Behandlung. So häufig sie in einer "Doppelgarantie" zusammengebunden sind, der Unterschied bleibt: Der "Sonntag" ist mehr als ein Jahrtausend alt. Weder die Französische Revolution von 1789 und die russische Oktoberrevolution von 1917 1073 , noch Mao Tse-tung in China konnten ihn abschaffen oder verdrängen. Fast weltweit behauptet er sich als solcher 1074 . Im einzelnen zu Sonntagen und Sonntagskultur im Verfassungsstaat: Die klassische Gestalt 1075 begegnet in Art. 139 WRV mit der doppelten Ausrichtung 1071
Zit. nach NZZ vom 3. Mai 1990, S. 3. Dazu m.N. P. Häberle, Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte.., in: FS Schindler, 1989, S. 701 ff. 1073 Dazu G. Dirksen, Das Feiertagsrecht, 1961, S. 27.- Neuere Lit.: P. Kunig, Der Schutz des Sonntages im verfassungsrechtlichen Wandel, 1989; K -Η. Kästner, Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage, HdBStKi, 2. Aufl., 2. Bd. 1996, S. 337 ff.; E. Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990; J. Splett/A. Pahlke/R. Ri chardi, Der Schutz der Sonn- und Feiertage, Essener Gespräche 24 (1990), S. 4 ff.; P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1989. 1074 Speziell Ceylon hat 1966 den christlichen Sonntag abgeschafft und an dessen Stelle den buddhistischen Poya-Tag als öffentlichen Ruhetag eingeführt, was angesichts seines vom Buddhismus geprägten Kulturkreises (65 v. H. seiner Einwohner bekennen sich zum Buddhismus) als konsequent erscheint. Dazu J. Listi , Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 211.- Die islamischen Staaten feiern am Freitag. 1075 Zur Rechtsprechung des US-Supreme Court in Sachen "Sunday Closing Laws": Κ Schiaich , Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 214 mit dem bemerkenswerten Zitat aus einer Leitentscheidung: "To say that the States cannot prescribe Sunday as a day of rest for these purposes solely because centuries ago such laws had their genesis in religion would give a constitutional interpretation of hostility to the 1072
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft auf "Arbeitsruhe" und "seelische Erhebung" 1076 . Dogmatisch ist sie 1. eine "institutionelle Garantie" (C. Schmitt) 1077 und damit in ihrem Wesensgehalt gegenüber allen staatlichen Funktionen geschützt (anders die gesetzlich relativierbaren "offenen" Feiertagsgarantien); 2. ist der Sonntagsgarantie ein an den Staat gerichteter Schutzauftrag zu entnehmen! Das einfache Recht gibt all dem weitere Konturen in den Stichworten: grundsätzlich keine "öffentlich bemerkbaren Arbeiten", Schutz des Gottesdienstes der Gläubigen in Gestalt von bestimmten Verboten im Rahmen kollektiver Arbeitsruhe und einer an diesem Tag auf allgemeine "Ruhe" strukturierten Öffentlichkeit, aber Raum für ganz unterschiedliches Freizeitverhalten der Bürger und Gruppen, kurz der pluralistischen Öffentlichkeit. In nicht allein positivrechtlich faßbarer, sondern vertieft kulturwissenschaftlich greifbarer Weise sind es folgende verfassungshohe Grundwerte, die den Sonntag zum vielzitierten "Kulturgut" oder "Verfassungsgut" etc. machen: Strukturierung sowohl des menschlichen Alleinseins als auch des menschlichen Miteinander im 7-Tage-Rhythmus 1078 durch kollektive Arbeitsruhe, damit Spannung/Entspannung, Arbeit/Freizeit bzw. Verpflichtung/ Muße und damit Öffnung zu: (freiwillig wahrgenommenen) Grundwerten wie Ehe und Familie, Nachbarschaft und Verein, Freundschaft und Versammlungen, Religion, Wissenschaft und Kunst, als Beispiele einer grundsätzlichen Möglichkeit zur "seelischen Erhebung" (insofern "Angebotscharakter" des Sonntags) 1079 . (2) Speziell vom deutschen Grundgesetz aus argumentiert bedeutet dies: - Von der subjektiven Grundrechtsseite her gesehen, steht die "institutionelle Garantie" des Sonntags in der Bundesrepublik Deutschland im Kraftfeld von bzw. Näheverhältnis zu kulturellen Grundwerten der Art. 4 (individuelle und kollektive Religionsfreiheit bis hin zur religiösen Versammlungsfreiheit), Art. 6 (Ehe und Familie), auch Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit, Kunstfreiheit)
public welfare rather than one of mere separation of church and State." - Das Problem religiöser Minderheiten bleibt indes. 1076 T r e f f e n c j spricht A. Hollerbach, in: P. Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, Art. 3 Rdnr. 5 von "Doppelfunktionalität des Sonn- und Feiertagsschutzes: "Religionsausübung einerseits, Arbeitsruhe andererseits." 1077 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 171; A. Mattner, Sonntagsruhe .... NJW 1988, S. 2207 (2208). 1078 R. Guardini, Der Sonntag, 1957, S. 7 nennt die Woche einen "kulturellen Rhythmus".- Treffend die Erklärung des ZdK "Zukunft des christlichen Sonntags in der modernen Gesellschaft", 1988, S. 25: "die Kultur des Sonntags" läßt den Werktag bestehen, verknüpft die Arbeitswochen, rhythmisiert den Lebensalltag." 1079 Dazu W. Däubler, Sonntagsarbeit aus technischen und wirtschaftlichen Gründen, Beilage Nr. 7/88 zu: Der Betrieb, S. 5. Zuvor für die Feiertage: P. Häberle, Feiertagsgarantien, aaO., 1987, S. 35.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen und vor allem Art. 9 Abs. 1 GG (Vereinsfreiheit, samt anderen Formen der Vergemeinschaftung, z.B. in Gestalt von Demonstrationen): all diesen Grundrechten gibt das Sonntagsprinzip Raum (ohne daß daraus einfach "auf den Sonntag geklagt" werden könnte!), ja man wird sogar einen Menschenwürdebezug des Sonntags freilegen dürfen 1080 , greifbar in der Dürigschen "Objektformel" fortgedacht: "Der Mensch darf nicht zum Objekt wirtschaftlich-technischer Sachzwänge gemacht werden". M.E. gehören Sonntagsgarantie und Sonntagskultur zum Menschenbild unseres deutschen Verfassungsstaates (Absage an "Ökonomismus"), so offen und wandelbar dieses im übrigen in vielerlei Hinsicht ist und bleiben muß 1 0 8 1 . Das Wie der Gestaltung des Sonntags im Rahmen kollektiver Arbeitsruhe ist dem Individuum zu überlassen (schon das "Ob" seiner "seelischen Erhebung"). Das "Daß" des Sonntags ist ein Stück der "conditio humana". Das "Wie" im Rahmen des Sonntagsverfassungsrechts bleibt in der Freiheit des einzelnen. - Von der objektivrechtlichen Seite her gedacht, steht der Sonntag in den Kraftfeldern des Religionsverfassungsrechts 1082 (als Teil des Kulturverfassungsrechts) und des Arbeitsverfassungsrechts 1083 (beides kommt oft schon in der systematisch wechselnden Plazierung der Sonn- (und Feiertags-)Garantie in deutschen Verfassungen zum Ausdruck 1084 ), letzteres ist ein Indiz für den Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip 1085. Die Verf. Baden-Württemberg (1953) piaziert den Sonn- und Feiertagsartikel sogar ganz grundsätzlich im Abschnitt "Mensch und Staat" (Art. 3) und ordnet ihn damit der "conditio huM
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mana zu Mögen all diese Bezüge bzw. die Näheverhältnisse variieren, dem positivistisch arbeitenden Juristen noch nicht genügen, sie sind gewiß "Topoi" in der
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S. auch R. Guardini, Der Sonntag, 1957, S. 16: Sabbat als "Tag, an welchem der Mensch seiner Würde inne wird: daß er Gottes Geschöpf ist trotz allem". 1081 Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988. 1082 Z.B. Art. 147 Verf. Bayern, Art. 47 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 41 Saarland. 1083 Z.B. Art. 55 Verf. Bremen. 1084 Dazu P. Häberle, Feiertagsgarantien, aaO, S. 20 ff. 1085 Vgl. auch R. Richardis Grenzen industrieller Sonntagsarbeit. Ein Rechtsgutachten, 1988, S. 58, 113. 1086 Zur "notwendigen Gemeinsamkeit" des Sonntags: Däubler, aaO., S. 5: "Gewollt ist nicht nur ein Ausruhen von der Erwerbsarbeit, sondern auch die Gleichzeitigkeit dieses Vorgangs für möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft." Ebd. auch treffende Hinweise auf wichtige Funktionen des Sonntags ("kommunikative Bedürfnisse"), u.a.: bestimmte Teile des Sonntags als "Tabuzonen", "Koordination" von Freizeitaktivitäten, gemeinsame Freizeit als Voraussetzung eines funktionierenden Familienlebens, sozialpsychologische Folgen des gemeinsamen Wochenendes.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
kulturwissenschaftlichen Hintergrundfrage, ob und welche "Sonntagskultur" 1087 es gibt, ob sie in unserer Verfassung geschützt ist, den Gesetzgeber verfassungskräftig bindet und wie die Schutzaufträge vom Staat praktisch einzulösen sind. Der Jurist kann mit den begrenzten Mitteln seiner Rechtssprache und in den an das äußere Erscheinungsbild anknüpfenden Methoden seiner Disziplin das Spezifische des Sonntags und der Feiertage nur "oberflächlich" punktuell umschreiben, nicht in der Tiefe und nicht im ganzen - schon das Wort "seelische Erhebung" bzw. "Erbauung" ist ein Wagnis! Er tut dies - als Gesetzgeber - in Stichworten wie "äußere Ruhe", allgemeine Arbeitsruhe, Verbot "öffentlich bemerkbarer Arbeiten", keine Störung der Gottesdienste, Verbot von Tätigkeiten, die dem Wesen oder ("ernsten") "Charakter" des Sonn- und Feiertags widersprechen - alles Tatbestandselemente aus dem Instrumentarium des Gesetzgebers, die schon deshalb abstrakt-generell bleiben und meist negativ ausgrenzend vorgehen. Eine niederere Konkretisierungsstufe ist allenfalls in den speziellen Verboten etwa von öffentlichen Tanz- und Sport-, öffentlichen Unterhaltungsveranstaltungen, Messen und Märkten, Treibjagden (mit intensiven Verboten an "stillen", "ernsten" Tagen wie dem Volkstrauertag) etc. erreicht. Das Ganze des Sonn- und Feiertags kann der Jurist schon deshalb nicht positiv einfangen, da Recht begrenzte Ordnung ist und es als solche die Fülle der Wirklichkeit nicht einmal eines einzigen Tages (Sonn- oder Feiertages) zu fassen vermag. Die die gesetzlichen Tatbestände konkretisierende Rechtsprechung arbeitet noch ein Stück sach- und fallnäher als der Gesetzgeber. Sie muß und kann es tun. In ihr klingen darum Dimensionen, Bezüge und Inhalte an, die das "rein Juristische" fast schon transzendieren und auf Gehalte der Sonn- und Feiertage verweisen, die heute in der nicht-juristischen Diskussion mit Begriffen wie "Sonntagskultur" umrissen werden. Erinnert sei an Urteilspassagen wie: "mit dem zu wahrenden äußeren Erscheinungsbild der Sonn- und Feiertage ist die normale Werktagsarbeit und der für den Werktag typische Betrieb von Geschäften unvereinbar" 1088 , die "Beurteilung, was der besonderen Natur der Sonn- und Feiertage widerspricht und geeignet ist, die äußere Ruhe dieser Tage zu stören, unterliegt gewiß dem Wandel der Zeit. Es kann jedoch nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem besonderen Charakter der Sonn- und Feiertage
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Siehe auch A. Hollerbach, in: P. Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes BadenWürttemberg, 1987, Art. 3 Rdnr. 9: Sonn- und Feiertage als "notwendige Bestandteile der öffentlichen Ordnung und der politischen Kultur". 1088 OVG Hamburg, GewArch 1985, S. 308 (309) m.w.Nachw.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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... zum Maßstabe genommen werden" 1089 . Besonders weit in die vom Juristen kaum oder doch nur schwer definierbare Sonn- und Feiertagskultur rückt der BayVGH in der Sentenz vor 1 0 9 0 : "... dient das FTG über den akustischen Ruheschutz hinaus auch sozialphysischen und sozialpsychischen Zwecken. Es will ganz allgemein den werktätigen Arbeitsprozeß von äußerlich in Erscheinung tretenden Arbeiten unterbrechen. Dadurch will es gewährleisten, daß der einzelne Werktätige ungestört von äußeren Einflüssen und inneren Skrupeln sich von den Anstrengungen des werktäglichen Gelderwerbs und Konkurrenzdrucks entspannt. Dem Wissen um die für alle geltenden Arbeitsruhe kommt dabei besondere Bedeutung zu. Erst dieses Wissen stellt den einzelnen nämlich von den Zwängen des Werktags frei und versetzt ihn in die Lage, unbelastet seinen persönlichen Interessen durch Teilnahme an kirchlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen, durch Vergnügungen, Pflege und Liebhabereien und in jeder sonstigen Weise nachzugehen, die nur nicht in werktäglicher Arbeit bestehen darf' 1091 . Der geglückte Begriff Dienst an "zeitgebundenen Freizeitbedürfnissen", die Rechtsprechung für an Sonn- und Feiertagen erlaubte Geschäftsbetriebe Blumengeschäfte, Cafés, Tankstellen, Kinos, Bootsverleihe oder Skilifte "Freizeitbedürfnisse des Publikums" geschaffen hat 1 0 9 2 , gehört ebenfalls
den wie für hier-
1089 QYQ Hamburg, ebd.- Zu verwandten Figuren des "aufgeschlossenen Durchschnittsmenschen" in anderen normativen Gemeinwohlfragen: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 410 ff, 425 ff. 1090 GewArch 1985, S. 309 (310). 1091 Treffend auch OVG Rheinland-Pfalz, GewArch 1985, S. 350 ("Der gewerbsmäßige Verleih von Videofilmen ist an Sonn- und Feiertagen auch im Rahmen eines Tankstellenbetriebs unzulässig"): "Mit dem Zustand der äußeren Ruhe bezeichnet das Gesetz eine im öffentlichen Leben spürbare Unterbrechung des werktäglichen Arbeitsprozesses .... 'Sonn- und Feiertags'-Charakter des Besonderen, nämlich ein NichtWerktag zu sein, der der Ruhe und Entspannung dient und die Menschen aus ihrem Alltag herauslöst. Dieser tiefere Sinn der Sonn- und Feiertage kann nur erreicht werden, wenn sich nicht nur der einzelne für sich genommen von seiner Werktagsarbeit distanziert, sondern wenn an diesen Tagen die Arbeit allgemein unterbleibt. Es soll insgesamt gewährleistet sein, daß jeder Bürger ungestört von äußeren Einflüssen, aber auch frei von inneren Skrupeln seinen Freizeitbedürfnissen nachgehen kann, wobei in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dem Wissen um die für alle geltende Arbeitsruhe Bedeutung zukommt. Denn erst dieses Wissen stellt den einzelnen wirklich von den Zwängen des Werktags frei und versetzt ihn in die Lage, unbelästigt seinen persönlichen Neigungen gemäß an kirchlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen bzw. seinen sonstigen Interessen nachzugehen, soweit diese nicht die Merkmale täglicher Arbeit aufweisen ...". 1092 BayVGH, aaO. Siehe aber demgegenüber die Diskussion über das Ladenschlußgesetz im Jahre 1996 und die damit verbundenen Neuregelungen - z.B. Art. 3 des "Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluß und zur Neuregelung der Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien", BGBl. I 1996, S. 1187: "Verkaufsstellen von Betrieben, die Bäcker- oder Konditorwaren herstellen", dürfen an Sonntagen für die Dauer von drei Stunden geöffnet werden.
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft her, er hilft eine Ausweitung der Ausnahmen vom Arbeitsverbot (etwa für gewerblichen Videofilmverleih) zu unterbinden. Ins Sozialpsychische dringt die Judikatur auch dort vor, wo sie von "allgemeiner sonntäglicher Stimmung", "innerer Sammlung" sowie "Entspannung vom beruflichen Konkurrenzkampf' spricht 1093 . Und das BVerwG 1 0 9 4 ringt um die soziale, institutionelle und kulturelle Tiefen- oder Höhendimension der Sonn- und Feiertage, wenn es formuliert: "Schutzgut des Art. 140 GG, 139 WRV ist ... die Institution des Sonntags und der Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, die als ein Grundelement sozialen Zusammenlebens und staatlicher Ordnung verfassungskräftig gewährleistet und dem Schutz der Gesetze überantwortet ist"... "diese Zweckbestimmung (sc. der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung) kann nur verwirklicht werden, wenn die werktäglichen Bindungen und Zwänge entfallen und es den einzelnen dadurch möglich wird, den Sonntag und die Feiertage im sozialen Zusammenleben nach ihren vielfältigen und unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen allein oder in der Gemeinschaft mit anderen ungehindert von den werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen zu begehen. Diese Zweckbestimmung des Sonntags beschränkt sich ... nicht auf den Arbeitsschutz und die Abwehr von Störungen der Religionsausübung" (!). ..."Der Schutz der Sonn- und Feiertage soll das öffentliche Leben soweit möglich seiner werktäglichen Elemente entkleiden und dadurch die Begehung der Sonn- und Feiertage als Nicht-Werktage ermöglichen. Er erfüllt diesen Zweck nur, wenn an den geschützten Tagen die werktägliche Geschäftigkeit ruht, sofern sie nicht gerade zur Befriedigung sonntäglicher (nichtwerktäglicher) Bedürfnisse erforderlich... ist." Die heutige publizistische Diskussion um den Sonntag etwa in Denkschriften der Kirchen, Stellungnahmen von Sozialwissenschaftlern, anderen Ausdrucksformen der pluralistischen Öffentlichkeit schließt fast nahtlos an diese höchstrichterlichen Umschreibungen der Sonn- und Feiertagskultur an. Sie arbeitet sprachlich und sachlich nur weniger juristisch (-formal) und bewußt oder unbewußt stärker kulturwissenschaftlich. Das sei anhand prägnanter Stichworte belegt: zugleich als Beitrag zur Anreicherung des Juristischen um seine kulturellen Kontexte. Zunächst ist es der Zeit- bzw. Rhythmus-Aspekt und die durch ihn Mensch und Gemeinschaft vermittelte Regelhaftigkeit des Lebens, die das Plädoyer für den Sonntag als Grundsatz stützen, in Worten wie: Der fast auf der ganzen
1093
OLG Hamm, GewArch 1985, S. 311. Treffend BayObLG, GewArch 1985, S. 143 (144): "Weite Kreise der Bevölkerung werden in dem Bewußtsein gestört, daß Sonn- und Feiertage für alle verbindliche Ruhetage sind, die in der für die Lebensqualität und die Gesundheit so wichtigen Atmosphäre der äußeren und inneren Ruhe genossen werden können." 1094 DVB1. 1988, S. 744 ff. S. auch seine neuere Judikatur: BVerwG NVwZ 1991, S. 1080 und S. 1079. Dazu R. Jahn, NVwZ 1991, S. 1057 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Welt anerkannte Wochenrhythmus sei geprägt vom Sonntag, der eine frühe soziale Errungenschaft bedeute und noch heute als Phase der Ruhe, der Gemeinschaft und der aktiven Freizeitgestaltung betrachtet werde (so die Gemeinsame Erklärung der drei christlichen Kirchen in der Schweiz von 1986) 1095 . Der Sonntag sei seit über tausend Jahren "das gemeinsame rhythmische Aussteigen aus der Welt der Sachzwänge" 1096 . Der Sonntag stellt sich als unverzichtbare "kulturelle Synchronisation" nicht nur im Verfassungsstaat dar 1 0 9 7 . Er vergemeinschaftet den Menschen vom Zeitfaktor her, selbst dort und dann, wenn er 1098
ihn "allein" verbringt . Ein "gleitender", zeitlich individuell verschieden plazierter Sonntag 1099 (wie ihn etwa Rot-China versucht hatte), träfe den Menschen in seinem Zeiterleben, in seiner kulturellen Bedürfnislage nach Gemeinschaft in Familie, Nachbarschaft, Freundschaft, religiösen und sonstigen sozialen Beziehungen im Kern. Im "gleichen Takt" zu arbeiten und zur Ruhe zu finden 1100 , ist gemeinschaftsstiftend 1101; die kollektive Unterbrechung der Arbeit ist das Sonntägliche. Der Sonntag muß als solcher "öffentlich bemerkbar" sein. 1095
Zit. bei P. Häberle, Feiertagsgarantien, aaO., S. 56. So R. Spaemann, zit. nach FAZ vom 22. Juni 1988, S. 6. 1097 Siehe schon meine Schrift Feiertagsgarantien, aaO., S. 59 Anm. 94. 1098 J.P. Rinderspaeher, Am Ende der Woche, 1987, sieht in der Debatte um den freien Samstag ein Einfallstor für eine sehr viel umfassendere "zeitliche Reorganisation der Gesellschaft" (S. 103 ff.). 1099 Gegen die "gleitende Woche" im Interesse der Familie schon R. Guardini, Sonntag, 1957, S. 28. Siehe auch ders., aaO., S. 32: "Der Sonntag ist nicht nur eine soziologische Einrichtung, die gegenüber technisch-wirtschaftlichen Notwendigkeiten" unwesentlich würde, sondern ein "wichtiges Organ im Gesamtleben." - Es käme zur "Entfremdung" vom Mitmenschen: in Familie und Verein. Diese Argumente konnten auch bei der Neuregelung des Ladenschlußgesetzes im Jahre 1996 nicht übersehen werden. 1100 Dazu A. Sehnorbus, Nicht alle Tage ist Sonntag, FAZ vom 26. März 1988, S. 13. A. Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1988, S. 47 ff. gewinnt unter "arbeitsphysiologischen Erkenntnissen" aus dem Begriff "Arbeitsruhe" zwei Gebote: "zulässig sind nur unbedingt notwendige Arbeiten, die in ihrer Gesamtheit nicht dazu führen, daß die Mehrzahl der Bevölkerung an Sonntagen arbeitet" und "es muß gewährleistet sein, daß der Arbeitsrhythmus des einzelnen zumindest überwiegend an Sonntagen unterbrochen ist (Sozialsynchronisation)". 1101 Siehe auch J.P. Rinder spaeher, Wege der Verzeitlichung, in: D. Henckel (Hrsg.), Arbeitszeit, Betriebszeit, Freizeit, 1988, S. 23 (49): "Außer diesen alltagspraktischen Erfordernissen hat die kollektive Wochenendruhe eine allgemein sozialintegrative Funktion. Mit der Anerkennung des zeitlichen Reglements erfolgt zugleich eine Anerkennung gesellschaftlicher Grundwerte. Zudem bieten die kollektiven Ruhenormen Schutz vor Selbstausbeutung und uneingeschränktem Wettbewerb. Schließlich ist die Animationsfunktion des Wochenendes zu beachten. Die Herausgehobenheit der kollektiven Wochenendruhe stiftet Anlässe für soziale Kontakte und Interaktion." 1096
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (3) Der Sonntag ist auf eine Weise ein" kulturelles Teilhaberecht" des Einzelnen und der Gruppen, vermittelt durch seine gesicherte Teilnahme am Wochenrhythmus zwischen Sonn- und Werktagen 1102 . Der Sonntag betrifft den Menschen in seiner kulturellen Existenz. Vielleicht darf man den einheitlichen Sieben-Tage-Rhythmus sogar zum natürlichen, "biologischen Rhythmus" des Menschen rechnen, der in eineinhalb Jahrtausenden zum kulturellen internalisiert worden ist! Und nicht nur Heiterkeit sollte das Ergebnis einer sog. Repräsentativumfrage des BAT-Freizeit-Forschungsinstituts in Hamburg auslösen, wonach der Sonntag für 2,4 Millionen Deutsche "Schmusetag" sei 1 1 0 3 . Neue Gestaltungsformen des Sonntags können sich in dem Maße herausbilden, wie sich der Arbeitsbegriff wandelt bzw. erweitert. Das sonntägliche Innehalten, zunächst nur als Ruhe von werktäglicher Arbeit verstanden, eröffnet Wege zu einer Vielfalt von anderem. Die verschiedenen Pluralgruppen der offenen Gesellschaft setzen hier argumentatorisch je auf ihre Weise an. Die Christen formulieren mit ihrer christlichen Sonntagstradition 1104 in den Worten der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Kirchen "Unsere Verantwortung für den Sonntag" von 1988 1105 : "Die Feier des Sonntags ermöglicht den Menschen eine elementare Sinnerfahrung." Gedacht ist an die religiöse, doch nicht allein an sie: Die beiden Kirchen sprechen nicht nur vom "religiösen Sinn des Sonntags als Tag des Herren" (ebd.), sie meinen auch den "kulturellen Wert für unser Volk", gipfelnd in dem Satz: "Die Sonntagsruhe ist ein Zentralwert unserer Kultur." Diese Öffnung zu nichtchristlichen, säkularen Sonntagsverständnissen hin erlaubt einen Brückenschlag zu den anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen (z.B. den Gewerkschaften), die dem Sonntag ihren Sinn geben, einen ebenfalls gegen die Verabsolutierung von Wirtschaft und Technik gerichteten. Und die Kirchen bewahren oder retten so ihr religiöses Verständnis, indem sie es ins Kulturelle hinübernehmen: Sie verweisen auf die "wichtige soziale und kulturelle Bedeutung des Sonntags". Sie sprechen von der "Bedeutung dieses Tages für unser Leben, für unsere
1102
Dazu R. Richardi, Grenzen industrieller Sonntagsarbeit.., 1988, der die Sonntagsgarantie als "kulturelles Element" qualifiziert, S. 62, 115; ders., ebd., S. 45, 113, zum "Wochenrhythmus". 1103 Zit. nach Nordbayerischer Kurier von 17. August 1988, S. 3. Danach bleibt für das Faulenzen (13 Millionen) und die Familie (13,5) der Sonntag reserviert, der Samstag ist für 10 Millionen der Hauptausgehtag. Der Sonntag wird auch als Besuchs- und Lesetag praktiziert. Insgesamt ist die Freizeit gut und regelmäßig über die Woche "eingeteilt". 1104 Zum ersten staatlichen Gesetz zum Schutz des Sonntags, durch das bestimmte Tätigkeiten verboten wurden (Konstantin der Große: im Jahre 321): G. Dirksen, aaO, S. 8 f.- Siehe auchÄ Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1988, S. 17 f. 1105 Zit. nach FR vom 13. Februar 1988, S. 10.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Familie und für unsere Kultur" 1 1 0 6 ; sie erklären: "Wichtig für die Gestaltung des Sonntags sind Gemeinschaft und Gemeinsamkeit mit anderen, Austausch, Umgang und Gespräch" (in der Familie, mit Freunden, Verwandten und Bekannten) - man könnte dies das kommunikative Moment der Sonntagskultur nennen! Die beiden Kirchen reichern schließlich den Sonntag als Tag des bloßen Ausruhens von ermüdender Arbeit an um das Element der "Muße und Erholung". "Muße ist eine schöpferische Ruhe von der ständigen Beanspruchung und dem Streß des Alltags. Sonntagsheiligung ist Besinnung und Bewußtwerden des Sinns unseres Daseins." "An Sonn- und Feiertagen sollten wir das tun, was uns Erholung und Freude bereitet. Dazu gehören die Besinnung, die innere Einkehr, die schöpferische Entfaltung, die Erbauung, das Zu-sich-selbstKommen und Abstand-Gewinnen, aber auch das gemeinsame Spiel, die Zerstreuung, die bereichernde Unterhaltung und der spielerische Wettbewerb." Die "conditio humana" klingt schließlich an in der Wendung: "Es wäre ein kultureller Rückschritt, wollten wir die stärkere Berücksichtigung von Freiräumen und humanen Werten im Arbeitsleben, die durch die moderne Technik mit ihren entlastenden Wirkungen für den Menschen ermöglicht werden, gerade jetzt wieder rückgängig machen." Der Menschenwürdebezug wird manifest in dem Schlußsatz der Gemeinsamen Erklärung: Sonntag "der Tag des Herrn, als ein Tag für den Menschen, ein Tag, der dazu dienen soll, daß der Mensch seine Würde und seine Bestimmung erfährt". Dieses Hochhalten des Sonntags in seiner Kulturwertigkeit bedeutet erklärtermaßen und in der Konsequenz eine Frontstellung gegen das verabsolutierte ökonomische Denken, das die Ausnahmen vom sonntäglichen Arbeitsverbot ausweiten will. Die "Erklärung" läßt dies immer wieder durchblicken, so in den Worten: "Produktion und ebenso ein erfolgreiches Wirtschaften sind wichtig, aber sie dürfen nicht auf Kosten einer humanen Lebensgestaltung, auf die uns das Gebot Gottes verweist, gehen." "Rein wirtschaftliche Gesichtspunkte können keine Ausnahmegenehmigungen vom Verbot der Sonntagsarbeit rechtfertigen" - das Ökonomie-kritische Argument, das sich auch gegen eine immer anspruchsvoller und gefräßiger wer-
1106
Siehe auch Bischof K. Lehmann, Hirtenwort Freiwerden für Gott und Freisein für die Menschen, Vom Sinn des Sonntags, 1987, S. 9: "Die Kirche bittet darum die Wirtschaft, im Interesse der arbeitenden Menschen und ihrer Familien die Kultur des Sonntags zu wahren und den Staat, im Namen der Menschlichkeit die bestehenden Verfassungsgebote zu achten und die Grenzen der notwendigen Ausnahmen eng zu ziehen." Von "vielfältiger Sonntagskultur", vom "lebenswichtigen Kulturgut Sonntag", von "Gemeinschaftsformen einer Sonntagskultur" spricht das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken in seiner Erklärung "Zukunft des christlichen Sonntags in der modernen Gesellschaft", 1988, S. 23, 27.- J. Blank, Wenn wir den Sonntag verkaufen, CiG 40 (1988), S. 405 f. 66 Häberle
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft dende Freizeitgesellschaft richtet 1107 . Vom Menschenwürdebezug des Sonntags aus erscheint es m.E. konsequent, ihn als Teil "gerechter (bzw. humaner) Arbeitsbedingungen" zu qualifizieren (vgl. etwa Art. 2 Abs. 5 ESC!) 1 1 0 8 . Vor einer "menschenverachtenden Industriediktatur" (O. Kimminich) ist jedenfalls zu warnen. Beifall verdienen: die ganzheitliche Betrachtung des Sonntags, der Brückenschlag zu anderen, nicht spezifisch christlichen Werten, die kulturelle Einordnung des Sonntags, seine bezugs- und facettenreiche Deutung (Ruhe, Muße, Spiel), die Anerkennung seiner auf das Individuum bezogenen und seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion, seines Menschenwürdebezugs. Die "Erklärung" ist "realistisch" und "idealistisch" zugleich: realistisch, insofern sie die heutigen Gefahren für den Sonntag nennt: "rein wirtschaftliche Gesichtspunkte", Veränderungen im Freizeitverhalten der Bevölkerung, steigende Nachfrage nach freizeitbezogenen Dienstleistungen, aber auch starke Vermehrung von Verkaufsmessen, Sportveranstaltungen, Ausstellungen, Märkten und Volksfesten zu "mehr und mehr rein kommerziellen Zwecken", Deutung des Sonntags als "Last"; idealistisch ist die Erklärung, insofern sie das Geistige, Ethische, Humane, Kulturelle, die Chance der Sinnfindung betont. Die Gemeinsame Erklärung der Kirchen wurde hier deshalb ausführlich wiedergegeben und kommentiert, weil sie die bislang umfassendste Behandlung des Sonntags darstellt. Methodisch arbeitet sie ganzheitlich und mehrdimensional, offen gegenüber den Erkenntnissen vieler Wissenschaften; sie nennt wohl alle einschlägigen Gesichtspunkte, die für den Sonntag und gegen seine "Aushöhlung" sprechen. Die sonstigen Stellungnahmen im Für und Wider heben nur einzelne Aspekte besonders heraus. Das Argumentationsmuster aber ist letztlich dasselbe: es führt in kulturanthropologische Bezirke 1109 . 1107
Vgl. auch Bischof U. Wilckens, Ein Leben für die Arbeit?, "Die Zeit" vom 18. März 1988, S. 38: "Interessen der Arbeitswelt dürfen nicht Vorrang erlangen vor dem entscheidenden Interesse der Bewahrung und Kultur gemeinsamer Freizeit, wie sie allein der Sonntag als Mußetag ermöglicht." 1108 Vgl. Art. 2 Abs. 5 Europäische Sozialcharta (1961, zit. nach P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 811 ff): "Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf gerechte Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien,... 2. bezahlte öffentliche Feiertage vorzusehen; ... 5. eine wöchentliche Ruhezeit sicherzustellen, die, soweit möglich, mit dem Tag zusammenfällt, der in dem betreffenden Land oder Bezirk durch Herkommen oder Brauch als Ruhetag anerkannt ist." - Dazu auch W. Däubler, Sonntagsarbeit..., Beilage zu 7/88 zu: Der Betrieb, S. 10. 1109 Treffend etwa Bischof U. Wilckens, Ein Leben für die Arbeit?, in: "Die Zeit" vom 18. März 1988, S. 38: " ... Wert des Sonntags ... als Tag gemeinsamer Muße, die der Pflege der Gemeinschaft und gegenseitiger Teilnahme und Teilhabe dienen soll. Anders gesagt: als Tag einer Kultur der Muße, in der, herausgenommen aus dem Ar-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen (4) "Sonntagskultur" hat also viele Dimensionen und "Gesichter": sie reicht ins Familiäre, Gesellschaftliche, Soziale und ins Künstlerische. Sie besitzt ihre irdischen Bezüge und ihre transzendenten, religiösen. Das traditionelle "Grau des Alltags" wird durch volkstümliche und poetische Begriffe wie "Sonntagsputz", "Sonntagskleidung", "Sonntagsmiene", "Sonntagsspaziergang" und "Sonntagskind" farbig 1110 . Im "Sonntag" schwingt noch heute etwas von "Freudentag" nach. Und diese Sonntagskultur hat in Erich Kästner 1111 einen augenzwinkernden, in der Droste-Hülshoff und in E. Mörike 1 1 1 2 klassi-
beitsprozeß des Alltags, zur Entfaltung und Gestaltung kommen kann, wozu die Arbeit eigentlich dienen soll - die Menschlichkeit gemeinsamen Lebens." - E. Breit, Wes Herren Tag?: "Die Zeit" vom 26. Februar 1988, S. 23: "Das Wochenende insgesamt und der Sonntag im besonderen prägen den Lebensrhythmus unserer Gesellschaft inzwischen so tief, daß es größerer Erschütterungen bedürfte als der des Mikrochips, um diese "Gesellschaftsordnung" aus den Fugen geraten zu lassen. Kirchen, Sport, Kultur, Politik, Vereine und Familien, sie alle haben das Wochenende zum Fixpunkt. In einer Gesellschaft, die sich nicht mehr verabreden, nicht mehr treffen kann, weil sie über keine gemeinsame freie Zeit verfugt, würden sich Isolierung und Anonymität wesentlich verstärken. Der allseits mobile und allzeit flexible Single kann nicht die Idealfigur des Bundesbürgers sein". Ein Wissenschaftler wie J.P. Rinderspacher spricht vom Wochenende (und damit auch vom Sonntag) als nicht antastbarem Symbol für familiäre, religiöse und kulturelle Gemeinsamkeiten (so J.P. Rinderspacher vor dem bayer. Landtag, 1987, zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 13. März 1987, S. 5). 1110 Begriffe, z.T. auch zit. bei A. Schnorbus, Nicht alle Tage ist Sonntag, FAZ vom 26. März 1988, S. 13. 1111 Erich Kästners "Kleine Sonntagspredigt": "Eifersucht und Niedertracht schweigen fast die ganze Woche! / Aber Sonntag früh bis nacht / machen sie direkt Epoche. Sonst hat niemand Zeit dazu, / sich mit so was zu befassen. / Aber sonntags hat man Ruh, und man kann sich gehenlassen. / Endlich hat man einmal Zeit, / geht spazieren, steht herum, / sucht mit seiner Gattin Streit / und bringt sie alle um." Die klassische Sonntags-Stimmung beschreibt E. Kästner, Kleine Stadt am Sonntagmorgen (zit. nach Gedichte, Reclam, 1987, S. 29): "Das Wetter ist recht gut geraten. / Der Kirchturm träumt vom lieben Gott. / Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten / und auch ein bißchen nach Kompott.- Am Sonntag darf man lange schlafen. / Die Gassen sind so gut wie leer. / Zwei alte Tanten, die sich trafen, / bestreiten rüstig den Verkehr.- Sie führen wieder mal die alten Gespräche, denn das hält gesund. / Die Fenster gähnen sanft und halten / sich die Gardinen vor den Mund." - " ... Die Stunden machen kleine Schritte und heben ihre Füße kaum. / Die Langeweile macht Visite. / Die Tanten flüstern über Dritte. / Und drüben auf des Marktes Mitte / schnarcht leise der Kastanienbaum" (1936). 1112 Auch große Dichtkunst befaßt sich mit dem Sonntag, so das Gedicht "Des alten Pfarrers Woche" von Anette von Droste-Hülshoff mit Passagen wie: "Ach Gott! nur wer jahraus, jahrein / in andrer Dienste allein, weiß, was es heißt, beim Sonntagswein / sich auch ein wenig pflegen." Und: "Ja, wenn ich bin entladen / der Woche Last und Pein, / dann führe, Gott, der Milde, / das Werk nach deinem Bilde / in deinen Sonntag ein." Oder E. Mörikes Sentenz in "Der alte Turmhahn": "Jetzt ist der liebe Sonntag da. / Es läut't / zur Kirchen fem und nah. / Man orgelt schon; mir wird dabei / als säß' ich in der Sakristei, / Es ist kein Mensch im ganzen Haus; / ein Mücklein hör' ich, eine Maus. / Die Sonne sich ins Fenster schleicht...".
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft sehen Ausdruck gefunden, zuvor schon bei L. Uhland und T. Fontane 1113 . Welche dichterischen Ausdrucksformen haben die heutigen Sonntagserlebnisse in unserer Zeit hervorgebracht? 1114 Ein Wort aber zu den Einwänden, die den Sonntag (auch die SonntagsIdylle) heute in Frage stellen bzw. gestellt sehen. So meint etwa Ε. K. Scheuch 1115 : "Es gibt längst keine Sonntagskultur mehr, in deren Zentrum die Religiosität stünde .... Der Sonntag ist heute ein Tag apart als Teil unserer Freizeitkultur." Und noch pro vokativer: "Heilig 1 ist höchstens ein Wochenende, und 'heilig1 ist ausreichend Freizeit", "Samstag und Sonntag sind auswechselbar geworden", "Bei der Arbeitszeitpolitik sollte das Jahr als Einheit gesehen werden, wie es bei den meisten Erwerbstätigen bereits bei ihrer Planung geschieht", "Daneben gilt als wichtigste Planung eher der Monat als die Woche". Eine andere Stimme 1 1 1 6 verweist auf die Tendenz zur Zunahme der Sonnund Feiertagsarbeit im Gesundheitswesen, in Restaurants, Freizeitparks und anderen organisierten Wochenendveranstaltungen, auf die ökonomischen Zwänge aus hohen Kapitalinvestitionen und spricht von der "paradoxen Situation, daß die Wochenarbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich die Verlängerung der Betriebszeiten und Sonntagsarbeit aus ökonomischen Gründen zusätzlich fordert, ja geradezu herausfordert" 1 1 1 7 1 1 1 8 . 1113 Ludwig Uhland: Schäfers Sonntagslied: "Das ist der Tag des Herrn! / Ich bin allein auf weiter Flur; / Noch eine Morgenglocke nur, / Nun Stille nah und fem. / - Anbetend knie ich hier. / Ο süßes Grauen! geheimes Wehn! / Als knieten viele ungesehn / Und beteten mit mir. / - Der Himmel nah und fem, / Er ist so klar und feierlich, / So ganz, als wollt er öffnen sich. / Das ist der Tag des Herrn!" Theodor Fontane, Glück: "Sonntagsruhe, Dorfesstille, / Kind und Knecht und Magd sind aus, / Unterm Herde nur die Grille / Musizieret durch das Haus. / Tür und Fenster blieben offen, / Denn es schweigen Luft und Wind, / In uns schweigen Wunsch und Hoffen, / Weil wir ganz im Glücke sind.- / Felder rings ein Gottessegen / Hügelauf - und -niederwärts, / Und auf stillen Gnadenwegen/ Stieg auch uns er in das Herz." 1114 Siehe immerhin T. Troll, Deutschland deine Schwaben, 1987, S. 48: "... die sonntichs in Sidnei gwä send" - als "schwäbisches Erzählgut". 1115 E.K. Scheuch, Heilig ist nur die Freizeit, Der Sonntag hat seine Sonderstellung weitgehend verloren, in: "Die Zeit" vom 4. März 1988, S. 35. 1116 ^ j, ß e y e r ^ z w e j e r i e i Maß, Die Gegner der Sonntagsarbeit in der Industrie sind inkonsequent, in: "Die Zeit" vom 11. März 1988, S. 41. 1117 Etwas vorsichtiger klingt das Resümee: "Generelle Sonntagsarbeit steht auch aus ökonomischen Gründen niemals zur Diskussion. Doch eine human gestaltete, gelegentliche Feiertagsarbeit mit freiwilligen Interessenten ist ökonomisch unerläßlich und wird es auch bleiben. Das ist kein Privileg der Maschine gegenüber den Menschen, sondern ein Kompromiß aus erwünschter Humanität und notwendiger Effizienz Grundlage unseres Wohlstandes und unserer Zufriedenheit." 1118 Übrigens werden bislang Nacht- und Sonntagsarbeit durch Freizeitausgleich und fehlende Besteuerung "versüßt". Wenn im Rahmen der Steuerreform Nacht- und Sonn-
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Diese Stimmen sind ernst zu nehmen 1119 , vor allem als Frage nach dem "kulturellen Wandel", dem der Sonntag "als Kultur" gewiß ebenfalls unterliegt und den die expandierende "Freizeitkultur" mit bewirkt. Doch zum einen hat der Sonntag nach wie vor Sonderstellung, und zum anderen gibt es Grenzen kulturellen Wandels: die Verfassung bzw. ihr Sonntagsprinzip kann eine solche markieren und Mahnung an die Beteiligten sein, aus guten Gründen nicht alles dem Wandel zu unterwerfen 1120 ! Der Sonntag ist ein Stück "kulturellen Erbes" - in Deutschland.
12. "Republik'T'Verfassungsstaatliche Monarchie" a) Die Wiederbelebung der Republikklausel: ein Beispiel für verfassungskulturelle Wachstumsprozesse Am Beispiel des Verfassungsprinzips "Republik" (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 2 GG) zeigt sich, wie stark das Verfassungsrecht in "kulturelle Wachstumsprozesse" eingebettet ist, wie sehr juristische Interpretationsvorgänge vom Kulturellen, nicht primär Juristischen abhängig sind: sachlich und personal, und wie eine wenig beachtete "formaljuristische" Bestimmung "im Laufe der Zeit" Leben (wieder)gewinnt bzw. aus der kulturellen Ambiance aktualisiert wird, sich aber auch wandelt: als Teil kultureller (Re-)Produktion und Rezeption. Die Republikklausel war seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wissenschaftlich vernachlässigt worden. Ungeachtet verschiedener Wiederbelebungsversuche durch Hinweis auf den Bezug zur "res publica" und "salus tagsarbeit besteuert werden sollten, so ist dies ein Stück mittelbarer Sonntagsschutz via Steuerrecht. Die deutschen Verleger plädierten für eine "mindere Besteuerung" (Nordbayerischer Kurier vom 19. April 1988, S. 2). 1119 Die "Wirtschaft" darf ja nicht einfach gering geachtet werden, ihr Wert gerade auch für das "Durchhaltenkönnen" des Sonntags sei nicht bestritten. Fairerweise muß man daran erinnern, daß eine "florierende Wirtschaft" Grundlage für eigenverantwortliche Lebensgestaltung ist (vgl. H. Wagner, Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27 (1969), S. 47 (72)). Darum könnte der Sonntag in der EU in neue Gefahrenzonen geraten. 1120 So stellt sich für den Sonntag immer wieder neu die Wertfrage, die Frage nach seinem Sinn, nach dem Gewicht von Gewinn und Profit. Auch müssen "ethische Defizite" beim Namen genannt werden. Doch sei wiederholt, daß bei aller Volkssouveränität, Konsumentensouveränität, sonstigen "Souveränitäten" des Individuums (auch Verfügbarkeiten in Sachen Zeit) der Bürger in bezug auf den Sonntag keine "Zeitsouveränität" besitzt. Es gibt Grenzen für seine Beliebigkeiten: letztlich in seinem ureigensten Interesse am 7-Tage-Rhythmus, an der durch ihn vermittelten Stabilität. Der Sonn-/Werktagsrhythmus steht in übergreifend gemeinschaftlichen Zusammenhängen und er stiftet solche immer neu.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
publica" 1 1 2 1 ist die der Allgemeinen Staatslehre entlehnte bloß negative Definition vorherrschend: Republik als "Nichtmonarchie" 1122 . In den 70er Jahren kamen Anstöße aus dem kulturellpolitisch-literarischen Raum, die sich um neue bzw. positive Sinngebung bemühen und den Begriff zu "besetzen" trachten: Denkern und Dichtern gelangen kulturelle Vorleistungen. Erinnert sei an die "Briefe zur Verteidigung der Republik", die weniger Juristen 1123 denn Literaten (namentlich z.B. H. Böll, N. Born, D. Kühn, H.-E. Nossack oder M. Walser) 1 1 2 4 schrieben, oder an W. Jens' "Republikanische Reden" (1979). Erst danach haben sich Juristen wieder der Sinnfülle des Republik-Begriffs erin1125
nert . Sie arbeiten ex post: bewußt oder unbewußt beflügelt durch kulturelle Reproduktion. Darum ist auch das Kulturverfassungsrecht als Umhegung des Schöpferischen so wichtig. Die "Republik" wird jetzt i.S. von "freiheitlich", "demokratisch" und "verantwortlich" verstanden. Einmal so (re)aktiviert, kann die "Republik" von allen Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft gelebt und in allen Formen - als Rechtssatz und als Erziehungsziel - juristisch und pädagogisch verwirklicht werden. Dieses materiale Republikverständnis hat in Europa eine Bewährungsprobe schon bestanden: P. Picasso hatte testamentarisch verfügt, das Bild "Guernica" dürfe erst dann nach Spanien gebracht werden, wenn dort die "Republik" wie1121
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 56 f.; 12. Auflage 1980, S. 50 f., 110; 4. Aufl., 1970, S. 50 f., 103; 1. Aufl. 1967, S. 50 f., 103; P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 708, 728; ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, (2. Aufl. 1996), S. 68, 198, 206, 487. Zum ganzen auch Sechster Teil VII. 1122 Vgl. z.B.G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 5. Neudruck der 3. Aufl. 1928, 1959, S. 711.- Das 74spaltige Sachregister von: Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966 (1028 S.) kennt das Stichwort "Republik" gar nicht. 1123 S. aber die Briefe von Ulrich Klug und Richard Schmid. 1124 Hrsg. von F. Duve, H. Böll und K. Staeck, 1977 (dazu auch die anschließende Kontroverse zwischen K. Sontheimer und J. Habermas, in: SZ vom 26.121. Nov. 1977, jetzt in: J. Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, 1981, S. 387 ff.); vgl. von den gleichen Hrsg. auch den Band: "Kämpfen für die sanfte Republik", 1980; auch in anderen Schriften dieser Verlagsreihe wurde der Topos "Republik" aktiviert: vgl. W. D. Narr (Hrsg.), Wir Bürger als Sicherheitsrisiko. Beiträge zur Verfassung unserer Republik, 1977; s. auch M. Güde, L. Raiser, H. Simon und C.F. von Weizsäcker, Zur Verfassung unserer Demokratie, 4 republikanische Reden, 1978. Inzwischen ist der Begriff "von links" fast gängig, vgl. den Titel von Bd. 1 der Stichworte zur "geistigen Situation der Zeit", hrsg. von J. Habermas, 1979: "Nation und Republik". 1125 Vgl. etwa K. Low, Was bedeutet "Republik" in der Bezeichnung "Bundesrepublik Deutschland"?, in: DÖV 1979, S. 819 ff.; J. Isensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981, S. 1 ff; W. Henke, Zum Verfassungsprinzip der Republik, JZ 1981, S. 249 ff.; P. Häberle, Verfassungsprinzipien..., FS H. Huber, 1981, S. 211 (237 f.); W. Henke, Die Republik, HdBStR Bd I, 1987, S. 863 ff.- Zu den USA: H. von Bose, Republik und Mischverfassung - Zur Staatsformenlehre der Federalist-Papers, 1989.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
1001
der eingeführt sei. Diese Bedingung war von den Nachlaßverwaltern und Erben Picassos zu Recht als Formel "wenn wieder demokratische, freie Verhältnisse herrschen" interpretiert worden, das könne auch in einer parlamentarischen Monarchie - wie dem heutigen Spanien - sein 1126 .- Jetzt zum klassischen "Gegenstück", zur Monarchie. b) "Verfassungsstaatliche
Monarchie"
Die Theorie des Verfassungsstaates wird im deutschsprachigen Schrifttum in diesen Jahren im Blick auf eine Vielzahl seiner einzelnen Elemente vorangetrieben: insbesondere die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Demokratie, die Lehre von den Staatsaufgaben und drei Staatsfunktionen bzw. die Gewaltenteilung, die Minderheitenrechte; auch die Strukturformen wie Föderalismus und (zunehmend) Regionalismus sowie einzelne Themen wie Verfassungsgerichtsbarkeit, Sprachen-Artikel, Feiertagsgarantien etablieren sich als Kapitel einer "allgemeinen" Staatslehre oder demokratischen Verfassungslehre. Fast in allen Literaturgattungen von der Monographie bis zum Handbuch-Artikel figurieren die erwähnten Problembereiche in Österreich, der Schweiz und Deutschland wie Mosaiksteine in einem Gesamtbild des heutigen Verfassungsstaates, wobei der Schwerpunkt bald auf der verfassungsgeschichtlichen, bald eher vergleichenden Darstellungsweise liegt: die Integration beider Dimensionen ist bislang freilich noch nicht geglückt, so dringlich sie wäre. Die folgenden Zeilen wenden sich einem Gegenstand zu, der bislang vernachlässigt wurde 1 1 2 7 : den "Restbeständen" an Monarchie, die sich dem Wort und der Sache nach in gar nicht so wenigen europäischen Verfassungsstaaten finden: 1128
nämlich dank
der Verfassungen
(ungeschrieben)
in Großbritannien
,
1126 Vgl. FAZ vom 23. Januar 1981, S. 21 und vom 2. März 1981, S. 23. Der spanische König Juan Carlos I wird im Ausland gelegentlich als "König der Republik Spanien" bezeichnet (FAZ vom 14. Juli 1997, S. 3). 1127 Die Deutsche Staatsrechtslehrervereinigung behandelte in Referaten von O. Kimminich und P. Pernthaler die Frage "Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie" (und damit auch manche Einzelfragen der Monarchie): VVDStRL 25 (1967), S. 2 ff; aus der übrigen Lit.: U. Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, 1966; W. Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhaupts in der parlamentarischen Demokratie, 1979; Κ Schiaich, Der Status des Bundespräsidenten, HdBStR Bd. II, 1987, S. 529 ff. (2. Aufl. 1996).- Zum italienischen Staatspräsidenten: M. Luciani/M. Volpi (a cura di), Il Presidente della Repubblica, 1997. 1128 Zur "britischen konstitutionellen Monarchie": Κ Doehring, Allgemeine Staatslehre, 1991, S. 92 und J. Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 11. Aufl., 1991, S. 262 ff; K Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, 1967, S. 483 ff., ebd., S. 508 ff. zu "Sachgebieten der königlichen
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
(geschrieben) in Norwegen (1814) 1 1 2 9 , Belgien (1831) 1 1 3 0 , Luxemburg (1868), Liechtenstein (1921) 1 1 3 1 , Dänemark (1953) 1 1 3 2 , Monaco (1962), Schweden (1975) 1 1 3 3 , Spanien (1978) 1 1 3 4 und den Niederlanden (1983) 1 1 3 5 . Republik wird in der klassischen Staatslehre ebenso formal wie kurzschlüssig als "NichtMonarchie" (G. Jellinek) 1136 definiert, und eine Vielzahl von Verfassungsstaaten in Europa sind in der Tat "Republiken". Wie fügen sich aber die nicht wenigen "verbleibenden" Monarchien in das Gesamtbild des europäischen Verfassungsstaates als Typus ein? Welchen spezifischen Beitrag leisten sie im Prozeß der Einigung Europas? Sind sie ein lebendiges Element der "europäischen Rechtskultur" oder bloß formeller historischer "Zierrat"? Bilden sie nur eine "überständige", "überholte" Variante des Typus Verfassungsstaat oder leisten sie einen authentischen Beitrag zu dessen Textstufenentwicklung bis heute? Anders gefragt: Sind Monarchien nur "schlechtere" Republiken? Oder
Prärogative".- Zur Stellung des britischen Monarchen: K.-U. Meyn, Die Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens, 1975, mit dem Resumé (S. 43): "Die einzige noch verbleibende spezifische Funktion der Krone besteht in ihrer integrierenden Wirkung für alle Schichten und Klassen des Volkes". 1129 Vgl. G.-C. von Unruh, Die Eigenart der Verfassung des Königreichs Norwegen, JöR 38 (1989), S. 277 ff. (mit Textanhang, S. 288 ff.). 1130 Aus der Lit.: R. Senelle, Rolle und Bedeutung der Monarchie in einem föderativen Belgien, JöR 36 (1987), S. 121 ff.; C.W. Mütter, Die belgische Staatsreform von 1980, JöR 34 (1985), S. 145 ff. 1131 Zum Einfluß der österreichischen Bundesverfassung 1920 auf die Liechtensteinische Verfassung von 1921: E. Melichar, FS L. Adamovich, 1992, S. 435 ff - Zur Liechtenstein-Literatur vgl. J. Kühne, Zur Struktur des Liechtensteinischen Rechts, JöR 38 (1989), S. 379 ff. (mit Textanhang, S. 409 ff.); G. Batliner, Schichten der Liechtensteinischen Verfassung von 1921, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaat, 1993, S. 211 ff; D. Will owe it, Verfassungsinterpretation im Kleinstaat. Das Fürstentum Liechtenstein zwischen Monarchie und Demokratie, ebd., S. 191 ff.; P. Geiger/A. Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein. Kleinstaat und Interdependenz, 1990. 1132 Aus der Lit.: Ο. Krarup, Zur neueren Verfassungsentwicklung in Dänemark, JöR 37 (1988), S. 115 ff. (mit Textanhang, S. 128 ff.). 1133 Dazu Ν. Stjernquist, Die schwedische Verfassung von 1975, in: JöR 26 (1977), S. 315 ff. (mit Textanhang, S. 369 ff.). 1134 Vgl. P. Cruz Villalón , Zehn Jahre spanische Verfassung, JöR 37 (1988), S. 87 ff. Textanhang der Verfassung von 1978 in: JöR 29 (1980), S. 252 ff. 1.35 Text der Verfassung 1983, in: JöR 32 (1983), S. 277 ff. 1.36 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck 1959, S. 711; ebd. zur Monarchie, ihrem "Wesen" und ihren "Arten" (S. 669 ff. bzw. 687 ff). S. auch Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 581: "Republik heißt Nichtmonarchie".- Eine inhaltliche "Überhöhung" aber bei: J. Isensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981, S. 1 ff.; P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur (1982), später in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 627 ff.
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bedeuten sie mehr als eine "Erinnerung" an die Lehre von der gemischten Staatsform 1137 ? Damit sind erste Fragen formuliert, die hier nur vorläufig beantwortet werden können. Sie dürften aber im sich einigenden Europa von heute wissenschaftlich und politisch Relevanz haben. Mag es nur einer Spielerei gleichen, wenn Tageszeitungen sich schon den Kopf zerbrechen, wer "König" oder "Königin" eines vereinten Europa sein könnte; mag es auch praktisch nie zu einer europäischen Union mit "monarchischer Spitze" kommen: Unverzichtbar ist es, im Konzert der immer näher zusammenrückenden europäischen Verfassungsstaaten zu fragen, was das rund eine Drittel ihrer Monarchien miteinander verbindet oder voneinander trennt und wie eine europäisch gearbeitete Verfassungslehre mit ihnen umzugehen hat. Im ersten Zugriff erschließt sich die Gestalt der einzelnen "monarchischen" Verfassungsstaaten in Europa in der Weise der Textstufenanalyse. Das heißt: Der historische und kontemporär ansetzende Vergleich der Verfassungsstaaten vermittelt erste Fragestellungen und Einsichten. Da die späteren Verfassunggeber nicht nur ältere Textvorbilder "abschreiben", sondern sie, bereichert um die ungeschriebenen Entwicklungen in Lehre, Rechtsprechung und Praxis, auch "fortschreiben", kommt mittelbar sogar ein Stück Verfassungswirklichkeit ins Blickfeld. Die in bezug auf manche Verfassungsstaatselemente bereits erprobte Textstufenanalyse 1138 kann sich schon prima facie auch an monarchischen Verfassungsstaaten bewähren: Bereits ein erster Blick auf die sehr alten Textstufen verpflichtete Verfassung des Fürstentums Liechtenstein 1139 einerseits und auf die sehr moderne Verfassung der Niederlande (1983) andererseits zeigt eine große Bandbreite der Verfassungsstaaten mit monarchischen Elementen im Europa von 1997.
1137
Dazu vor allem A. Riklin, Aristoteles und die Mischverfassung, FS H. Batliner, 1988, S. 341 ff; ders., Mischverfassung und Gewaltenteilung, FS Pedrazzini, 1990, S. 21 ff. 1138 Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. sowie oben Fünfter Teil VII Ziff. 1. 1139 Aus der Lit. zu Liechtenstein: J. Kühne, Zur Struktur des Liechtensteinischen Rechts, JöR 38 (1989), S. 379 ff. (mit Textanhang, S. 409 ff.); G. Batliner, Schichten der Liechtensteinischen Verfassung von 1921, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaat, 1993, S. 211 ff.; D. Willoweit, Verfassungsinterpretation im Kleinstaat. Das Fürstentum Liechtenstein zwischen Monarchie und Demokratie, ebd., S. 191 ff.; P. Geiger/A. Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein, Kleinstaat und Interdependenz, 1990; W. Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, 1994.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1) Elemente einer Bestandsaufnahme
Das umfangreiche Verfassungstextmaterial sei um einzelne Problemkreise gruppiert: um Grundlagen-Artikel in Sachen Monarchie (sog. "Staatsform") einschließlich Eidesklauseln und etwaige "Ewigkeitsgarantien" (a), Verfassungsnormen zur Kompetenzverteilung und sonstige Regelungen (b). Die republikanische Staatsform ist dabei gedanklich der Gegentypus, so fließend manche Übergänge (z.B. zur "republikanischen Monarchie" im Frankreich de Gaulles oder F. Mitterrands bzw. der Verfassung von 1958) sein mögen 1140 . Da Großbritannien keine geschriebene Verfassung hat, wird es nur "mitgedacht", aber an dieser Stelle nicht direkt mitbehandelt. (a) Grundlagen-Artikel
in Sachen Monarchie
(1) Die einzelnen Verfassungen nehmen sich der "Staatsform Monarchie" meist sehr grundlegend an, sie regeln sie nicht nur beiläufig. Systematisch finden sich viele Varianten. Beginnen wir mit Textformen der geltenden Verfassungen; ihnen sei später das eine oder andere Beispiel der älteren Textstufe gegenübergestellt. Verf. Belgien (1831) läßt keinen Zweifel am Träger der Staatsgewalt. Art. 25 dekretiert: "Alle Gewalten gehen von der Nation aus. Sie werden in der durch die Verfassung bestimmten Weise ausgeübt"1141. Erst später folgt ein eigenes Kapitel: "Der König und seine Minister" mit Art. 60: "Die verfassungsgemäße Gewalt des Königs geht durch Erbfolge .... über ...". Art. 32 Verf. Luxemburg (1868) normiert: "Die souveräne Gewalt liegt bei der Nation. Der Großherzog übt sie gemäß dieser Verfassung und den Gesetzen des Landes aus." Einer älteren Textschicht gehört § 2 Verf. Dänemark (1953) an: "Die Regierungsform ist beschränkt-monarchisch. Das Königstum vererbt sich...".
1140
Vgl. P. Zürn, Die republikanische Monarchie, 1965. Dazu aus der Lit.: J. Velu, Droit Public, Tome Premier, 1986, S. 78 ff- Zur historischen Entwicklung und zu "Belgien auf dem Weg zu einerföderativen Monarchie": R. Senelle, JöR 36 (1987), S. 121 (128 ff., 133 f.). 1141
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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§ 3 ebd. lautet: "Die gesetzgebende Gewalt liegt beim König und dem Folketing gemeinsam. Die vollziehende Gewalt liegt beim König. Die rechtsprechende Gewalt liegt bei den Gerichtshöfen." Beides ist in Kapitel I gesagt. Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein (1921) spiegelt diese ältere Textstufe am klarsten wider, wenn es nach der Präambel ("Wir, Johann II. von Gottes Gnaden souveräner Fürst zu Liechtenstein...") in Art. 2 heißt: "Das Fürstentum Liechtenstein ist eine konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage (Art. 70 und 80); die Staatsgewalt ist im Fürsten und im Volke verankert und wird von beiden nach Maßgabe der Bestimmungen dieser Verfassung ausgeübt"1142. Dies ist eine textliche Basis für die Lehre von den "zwei Souveränen", die der amtierende Fürst Adam II. jüngst in seiner Thronrede im Herbst 1992 bekräftigt hat. Art. 7 sagt sogar: "Der Landesfürst ist das Oberhaupt des Staates und übt sein Recht an der Staatsgewalt in Gemäßheit der Bestimmungen dieser Verfassung und der übrigen Gesetze aus." Zuweilen finden sich auch sonst noch Reminiszenzen an "höchste Gewalt"Vorstellungen, wie sie der absoluten Monarchie 1143 geläufig waren. So heißt es in § 12 Verf. Dänemark: "Der König hat mit den in dieser Verfassung festgesetzten Einschränkungen die höchste Gewalt in allen Angelegenheiten des Königreichs und übt diese durch die Minister aus." Solche Artikel sind noch stark vom Denken der konstitutionellen Monarchie geprägt, und bekanntlich wirkt dieses bis in die Gegenwart hinein: in Deutschland in Gestalt der Vor-Ordnung des Staates gegenüber der Verfassung 1144 , die an die "monarchistische Befangenheit" der deutschen Staatsrechtslehre (A. Merkl, 1918/19) erinnert. 1142
Text zit. nach JöR 38 (1989), S. 409 ff. Zur Geschichte und Praxis der Monarchie: J. Kühne, ebd., S. 379 (383 ff., 395 f.). 1143 Prägnant etwa Art. 4 Staatsgrundgesetz von Rußland (1906), zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten (Bd. I, 1947, S. 154 ff): "Dem Kaiser von Rußland gehört die Oberste Selbstherrschende Gewalt. Seiner Gewalt nicht nur aus Furcht, sondern auch aus Gewissenspflichten zu gehorchen, befiehlt Gott selbst". 1144 Aus der Lit. etwa J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HdbStR Bd. I (1987), S. 591 ff. mit Stichworten wie "Staat als Voraussetzung und Gegenstand von Verfassung", Staat als "präkonstitutioneller Grundtypus".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Diese "oberste" Stellung des Monarchen ist etwas zurückgenommen in Art. 56 Verf. Spanien (1978) 1 1 4 5 : "Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer. Er wacht als Schiedsrichter und Lenker über das regelmäßige Funktionieren der Institutionen, vertritt als höchster Repräsentant den spanischen Staat in den internationalen Beziehungen...". Damit fallen Stichworte für die theoretische Einordnung der Aufgaben des Königs in einem Verfassungsstaat - Parallelen zu starken Präsidialregimen wie Frankreich sind nicht zufällig (vgl. Art. 5 de Gaulle-Verf. von 1958). "Klassische" Textspuren finden sich auch in der Verfassung des Königreichs Norwegen (1814). § 1 S. 2 lautet: "Seine (sc. Regierungsform) ist eine beschränkte und erbliche Monarchie" 1146. Ähnlich formuliert Art. 2 Abs. 1 Verf. Monaco (1962/86) 1147 : "Le principe du gouvernement est la monarchie héréditaire et constitutionnelle". Die schwedische Verfassung von 1975 sagt in Kap. 1 § 1 Abs. 1: "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus...". Sie gründet die "schwedische Volksherrschaft" auf "freie Meinungsbildung und allgemeines und gleiches Stimmrecht" (ebd. Abs. 2); doch fällt auf, daß die Staatsform-Klausel ("repräsentative und parlamentarische Staatsform") den König nicht einmal erwähnt. Seine - schwache - Stellung ist erst in Kap. 5 "Das Staatsoberhaupt" geregelt 1148 . 1145
Zur "parlamentarischen Monarchie als Regierungsform" gleichnamig: M.H. Rodriguez de Minóri , in A. López Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993, S. 163 ff. Dort auch zu dem von Art. 78 Verf. Belgien "inspirierten" Art. 56 Verf. Spanien, der klar stelle, daß "es sich nicht um ein rein zeremonielles Amt" handle, sondern um eines, das mit speziellen Zuständigkeiten ausgestattet ist (S. 169 f.). Zur "vermittelnden oder Schiedsrichtergewalt" des Königs nach dem Vorbild der Verf. Brasiliens (1824) bzw. nach dem Modell der parlamentarischen Monarchie Englands: ebd. S. 180.- Art. 98 Verf. Kaiserreich Brasilien (1824) lautete, inspiriert von B. Constant: "Die mäßigende Gewalt ist der Schlüssel der gesamten politischen Organisation, sie ist ausschließlich dem Herrscher als oberstem Chef der Nation und als erstem Vertreter derselben vorbehalten, damit er ohne Unterlaß über die Unabhängigkeit, das Gleichgewicht und die Harmonie der anderen Gewalten wache" (zit. nach J.P. Galvao de Sousa, Verfassungsentwicklung in Brasilien, in: JöR 7 (1958), S. 353 (358)). 1,46 Dazu G.-C. von Unruh, Die Eigenart der Verfassung des Königreichs Norwegen, JöR 38 (1989), S. 277 (282) mit Hinweisen auf constitutional conventions bzw. die Praxis. 1147 Zit. nach A. Blaustein/G.H. Flanz (Hrsg.), Constitutions of the Countries of the world, 1986. 1148 Vgl. N. Stjernquist , Die schwedische Verfassung von 1975, JöR 26 (1977), S. 315 (342): "Der König hat nach der Verfassung keinen politischen Einfluß... . Seine Aufgaben sind hauptsächlich repräsentativ-zeremonieller Art."
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen
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Die Modernisierung des Verfassungsstaates Spanien in Sachen Monarchie 1 1 4 9 könnte nicht augenfälliger sein als dies schon in der Sprache seiner Texte zum Ausdruck kommt. Die Verfassung von 1978, die bereits in der Präambel von der "Herrschaft des Gesetzes als Ausdruck des Volkswillens" spricht, bestimmt in Art. 1 Abs. 2: "Das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Träger der nationalen Souveränität." In Abs. 3 ebd. wird der Satz nachgeschoben: "Die politische Form des spanischen Staats ist die parlamentarische Monarchie" 1150. Ebenfalls klug stellt sich die Verortung der dritten Gewalt in Spanien dar. Art. 117 Abs. 1 Verf. Spanien bestimmt: "Die Rechtsprechung geht vom Volke aus und wird im Namen des Königs von Richtern ausgeübt..." . Eine jüngere Textstufe der Regelung des Monarchie-Problems im heutigen Verfassungsstaat zeigt sich in der neuen Verfassung der Niederlande (1983). Hier ist die Kontroverse Fürsten- oder Volkssouveränität durch den schlichten Satz gelöst: "Die Generalstaaten vertreten das gesamte niederländische Volk" 1149
Während republikanische Verf. die republikanische Staatsform oft von der Verfassungsänderung ausnehmen (vgl. etwa Art. 139 Verf. Italien von 1947; Art. 89 Abs. 5 Verf. Frankreich von 1958; Art. 288 lit. b Verf. Portugal von 1976; Art. 144 Verf. Togo (1992)), finden sich in den geltenden Verfassungen mit monarchischer Spitze m.W. keine ausdrücklichen Ewigkeitsgarantien zugunsten der Monarchie. (Nur § 112 Verf. Norwegen von 1814 mit seinem Urtext in Sachen verfassungsstaatliche Ewigkeitsgarantie ("die nicht den Geist dieser Verfassung verändern") dürfte die "beschränkte und erbliche Monarchie" mit schützen.) Aus der Verfassungstextgeschichte s. aber z.B. Art. 108 § 2 Verf. Griechenland von 1952 (zit. nach JöR 3 (1954), S. 343 ff.): "Niemals können die Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassung, die die Staatsform als eine gekrönte Demokratie feststellen, ... revidiert werden". Vielleicht hat die "Unwirksamkeit" solcher Texte dazu gefuhrt, daß sie nicht wieder normiert wurden. Art. 168 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978 verlangt für Verfassungsänderungen, die sich auf den "Vortitel" berufen (u.a. Art. 1 Abs. 3: "Die politische Form des spanischen Staates ist die parlamentarische Monarchie") eine 2/3 Mehrheit beider Kammern. Zu den verfassungsrechtlichen Ewigkeitsklauseln mein Beitrag in FS Haug (1986), jetzt in: Rechtsvergleichung.., 1992, S. 597 ff. sowie oben Fünfter Teil III Ziff. 2. 1150 Aus der Lit. zur spanischen Krone und den Kompetenzen des Königs: A. Weber, Die spanische Verfassung von 1978, JöR 29 (1980), S. 209 (229 ff.). Zur Praxis: P. Cruz Villalón , Zehn Jahre spanische Verfassung, JöR 37 (1988), S. 87 (108 f.). 1151 Vgl. Art. 30 Verf. Belgien: "Die rechtsprechende Gewalt wird von den Gerichten ausgeübt. Die Entscheidungen und Urteile werden im Namen des Königs vollstreckt" (jetzt Art. 40 Verf. von 1994).- Art. 49 Verf. Luxemburg: "Das Recht wird im Namen des Großherzogs von den Gerichten gesprochen. Die Urteile werden im Namen des Großherzogs vollstreckt...".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
(Art. 50). Zuvor ist in Kap. 2 unter "§ 1 Der König" gesagt: "Die Königswürde geht durch Erbfolge auf die gesetzlichen Nachfolger König Wilhelms I., Prinz von Oranien-Nassau über (Art. 24). Der Begriff "Königswürde" ist eine glückliche Textschöpfung, sofern damit nicht eine nach-absolutistische "Würde des Staates" verknüpft ist 1 1 5 2 . (2) Im historischen Rückblick 1 1 5 3 seien einige repräsentative Texte aus der Entwicklungsgeschichte der Monarchie in Deutschland in Erinnerung gerufen: In der Verfassungsurkunde für das Königreich Baiern (1818) 1 1 5 4 heißt es nach der Präambel ("von Gottes Gnaden König von Baiern") in I. § 1 : "Das Königreich Baiem ... ist ein monarchischer Staat nach den Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde". Die Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg aus dem Jahre 1819 sagt in §4: "Der König ist das Haupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den durch die Verfassung festgesetzten Bestimmungen aus. Seine Person ist heilig und unverletzlich." Eine andere Textstufe repräsentiert § 3 Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen (1831): "Die Regierungsform ist monarchisch und es besteht dabei eine landständische Verfassung".
1152
Dagegen zu Recht D. Tsatsos, Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik, 1987 (dazu mein Besprechungsaufsatz in JZ 1990, S. 227 ff.). 1153 Viele Textelemente hat die Verfassungs-Entwicklung in Frankreich vorgeprägt: neben den Kompetenz-Artikeln (vgl. Kap. II und III Abschnitt III Verf. Frankreich von 1791) Sätze wie Art. 12 Verf. 1830 ("La personne du roi est inviolable et sacrée. Ses ministres sont responsables. Au roi seul appartient la puissance executive"), zit. nach J. Godechot (Hrsg.), aaO. Auch das sog. "monarchische Prinzip", entnommen aus der Präambel der Charte Constitutionnelle Frankreichs von 1814 ("nous avons considéré que, bien que l'autorité tout entière résidât en France dans la personne du roi...") hat in Deutschland Verfassungsgeschichte gemacht, vgl. H. Hofmann , Repräsentation, 1974 (3. Aufl. 1998), S. 416 ff. Aus der französischen Lit.: M Prélot/J. Boulois, Institutions politiques et droit constitutionnel, 11. Aufl. 1990, S. 402 ff.- Art. 57 Wiener Schlußakte (1820) lautete: "Da der Deutsche Bund ... aus souveränen Fürsten besteht, so muß dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben und der Souverän kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden". (Zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 81 ff.). 1154 Zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 141 ff.; ebd. auch die folgenden Texte.
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Die Preußische revidierte Verfassung (1850) spiegelt eine weitere Etappe: Zwar findet sich die Formel "von Gottes Gnaden" im Vorspruch, doch heißt es in Art. 62: "Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt", während Art. 45 dem "König allein" die vollziehende Gewalt zuspricht. Im übrigen verteilt die Verfassung in vielen Artikeln die Kompetenzen (z.B. in Sachen "Oberbefehl über das Heer": Art. 46 oder hinsichtlich der Ausübung der richterlichen Gewalt "im Namen des Königs": Art. 86) 1 1 5 5 . (b) Kompetenz-Artikel
in Sachen Monarchie und sonstige Regelungen
(1) Die geltenden Verfassungen mit monarchischer Staatsspitze regeln deren Kompetenzen bzw. Funktionen sehr variantenreich. Typologisch lassen sich in Europa unterscheiden: 1. Ein geschlossener Katalog der "Vorrechte des Herzogs", wie ihn Art. 33 ff. Verf. Luxemburg aufzählen 2. Spezielle, verstreute Kompetenznormen (z.B. Art. 65, 83, 87, 103, 137 Abs. 2 Verf. Niederlande, Art. 65 bis 76 Verf. Belgien bzw. Art. 85 bis 90 Verf. von 1994, §§ 3 ff. Verf. Norwegen) 3. Allgemeine Kennzeichnungen der Stellung wie "Oberhaupt des Staates" (vgl. Art. 7 Verf. Liechtenstein, Art. 56 Abs. 1 S. 1 Verf. Spanien, zusätzlich mit Schiedsrichterfunktion, S. 2) und General-Kompetenzen in Gestalt von Eidesklauseln (Art. 61 Abs. 1 Verf. Spanien) 4. Mischformen (Sowohl-Als-auch von Generalklauseln und speziellen Kompetenz-Artikeln (vgl. Art. 62, 91, 159 Abs. 1 Verf. Spanien, Art. 7 bis 13, Art. 35 Verf. Liechtenstein). Bemerkenswert sind vor allem die Klauseln, die (ungeschrieben) Restkompetenzen des Königs ausschließen - der deutsche Staatsrechtslehrer denkt hier sogleich an den preußischen Indemnitäts- bzw. Budget-Konflikt, den Bis-
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Aus der Lit. zur Geschichte der Monarchie etwa M. Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, 1993. Aus der älteren Lit.: G. Jellinek, aaO, S. 469 ff, 669 ff. S. dazu auch Κ Loewenstein, Die Monarchie im modernen Staat, 1952; O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 327 ff, 361 ff, 428 ff.; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1990, S. 201 f.; G. de Vergottini, Diritto costituzionale comparativo, 4. Aufl. 1993, S. 386 ff, S. 637 ff.; G. Burdeau , Traité de Science Politique, Tome V, 1985, S. 544 f.
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marck 1863 für sich entschied, auch dank der sog. "Lückentheorie" 1156 . Art. 78 (alte) Verf. Belgien lautet (ebenso Art. 105 Verf. von 1994): "Der König hat keine andere Gewalt als die, die ihm die Verfassung und die aufgrund der Verfassung eigens ergangenen besonderen Gesetze ausdrücklich übertragen." Ähnlich bestimmt Art. 32 Abs. 3 Verf. Luxemburg: "Er (sc. der Großherzog) hat keine anderen Befugnisse als die, welche ihm die Verfassung und die auf Grund der Verfassung erlassenen besonderen Gesetze ausdrücklich verleihen...". Die Monarchie ist damit "konstitutionalisiert". Ein kurzer Blick gelte einigen besonders wichtigen Einzelkompetenzen. Typologisch lassen sich folgende monarchische Beteiligungsformen in bezug auf die Staatsfunktionen unterscheiden: -bei der Gesetzgebung (z.B. Art. 91 Verf. Spanien; s. auch Art. 71 Verf. Belgien: Auflösungsbefugnis in bezug auf beide Kammern), § 21 Verf. Dänemark: Vorlage von Gesetzesentwürfen, ebenso Art. 27 i.V.m. 26 (alte) Verf. Belgien, jetzt Art. 36, 74, 75 Verf. von 1994) -bei der Repräsentanz nach außen (vgl. Art. 56 Abs. 1, 63 Verf. Spanien, § 19 Abs. 1 Verf. Dänemark, Art. 13 Verf. Monaco) - bei der Exekutive (Art. 96 neue Verf. Belgien: Ernennung und Entlassung der Minister, Art. 33 Verf. Luxemburg: Ausübung der vollziehenden Gewalt) -bei der Rechtsprechung "im Namen des Königs" (Art. 117 Abs. 1 Verf. Spanien) bzw. "Großherzogs" (Art. 49 Verf. Luxemburg), des "Prinzen" (Art. 88 Abs. 1 S. 2 Verf. Monaco) -bei Notstandsfällen (Art. 10 Verf. Liechtenstein, § 19 Abs. 2 Verf. Dänemark) - Sonstiges, etwa Oberbefehl über Streitkräfte (Art. 62 Abs. 1 lit. h Verf. Spanien, Art. 68 (alte) Verf. Belgien), das Begnadigungsrecht (Art. 20 Verf. Norwegen, Art. 15 Verf. Monaco) oder Verleihung von Adelstiteln (Art. 40 Verf. Luxemburg), von Orden (Art. 23 Verf. Norwegen). (2) In dieses Bild gehören die Eidesklauseln 1157 . So hat der belgische König vor den vereinigten Kammern den Eid zu leisten (Art. 80) - ähnlich Art. 91 Abs. 2 Verf. von 1994:
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Dazu aus der Lit.: E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3 (1963), S. 305 ff., 333 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "Ich schwöre, die Verfassung und die Gesetze des belgischen Volkes zu achten, die nationale Unabhängigkeit und die Unversehrtheit des Staatsgebietes zu wahren"1 5 8 . Eigene, auch auf den Schutz der Freiheit bezogene Inhalte nennt Art. 5 Abs. 2 Verf. Großherzogtum Luxemburg: "Ich schwöre, die Verfassung und die Gesetze des Großherzogtums zu achten und die nationale Unabhängigkeit und die Integrität des Staatsgebietes sowie die öffentlichen und persönlichen Freiheiten zu wahren." § 9 Verf. Norwegen verlangt vom König vor dem Storting den Eid: "Ich gelobe und schwöre, das Königreich Norwegen in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und seinen Gesetzen zu regieren...". Gemäß Art. 61 Verf. Spanien schwört der König vor den Cortes den Eid, "sein Amt getreu auszuüben, die Verfassung und die Gesetze einzuhalten und fur ihre Einhaltung Sorge zu tragen und die Rechte der Bürger und der Auto1159
nomen Gemeinschaften zu achten" In Art. 32 Verf. Niederlande heißt es: "Er (sc. der König) schwört oder gelobt Treue zur Verfassung und die gewissenhafte Ausübung des Amtes". Diese Varianten des Verfassungseides verdienen alle Aufmerksamkeit. Im übrigen ist die durchgängige Verpflichtung der Monarchie auf die jeweilige Verfassung ein textlicher Ausdruck des Sieges des Verfassungsstaates über die Lehre vom monarchischen Prinzip 1160 . Unabhängig von der in Deutschland für den Bundespräsidenten diskutierten Frage, ob sein Eid konstitutive oder nur deklaratorische Bedeutung hat 1 1 6 1 , formen solche Eidesklauseln einen Mosaikstein im Gesamtbild der Institution des "Staatsoberhauptes". Die "Gegenzeichnung", gekoppelt mit dem Postulat der Unverletzlichkeit des Königs (vgl. §§ 5, 31 Verf. Norwegen; Art. 63 und 64 (alte) Verf. Belgien) gehört in dieses Gesamtbild. In besonders reifer und prägnanter Textstufe sagt hierzu Art. 42
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Verfassungsgeschichtlich findet sich der Verfassungs-Eid des Königs beispielhaft in Kap. II Art. 4 Verf. Frankreich von 1791 (zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979, S. 44). 1158 Zum Staatsgebiet als Problem des Verfassungsstaates mein gleichnamiger Beitrag in: FS Batliner, 1993, S. 397 ff. sowie Sechster Teil VI Inkurs Ziff. 8. 1159 Zur Bedeutung des Eides des spanischen Königs (Art. 61 Verf. von 1978): M.H. Rodriguez de Minóri , Der König - Art. 56 Abs. 1, in: A. Lopez Pina, (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, 1993, S. 163 (193), der zu Recht ganzheitlich materiell interpretiert und Art. 8 und 62 h Verf. Spanien hinzunimmt (ebd. S. 193, Anm. 58). 1160 Zu diesem: E. Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, 1906; F.J. Stahl, Das monarchische Princip, 1845. 1161 Dazu aus der Lit.: Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II 1980, S. 208; aus der älteren Lit.: E. Friesenhahn, Der politische Eid, 1928. 67 Häberle
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Abs. 2 Verf. Niederlande: "Der König ist unverletzlich; die Minister sind verantwortlich". (Ebenso jetzt Art. 88 Verf. Belgien von 1994) (3) Ein Zwischenergebnis lautet: Die inhaltlich älteste, der absoluten Monarchie vergleichsweise nahe, sich als "konstitutionelle Erbmonarchie" deutende Verfassung ist die von Liechtenstein (1921). Die Staatsoberhaupt-Rolle, die Potenz, einer von zwei Souveränen zu sein (Art. 2), die Fülle der Kompetenzen bis hin zum Notstandsrecht (Art. 10) - all das zeigt, wie "alt" Liechtensteins monarchische Strukturen noch 1921 in Verbindung mit durchaus moderen Verfassungsstaatselementen wie dem Grundrechtskatalog (Art. 28 bis 44) geblieben sind. Man mag sich fragen, wann in Vaduz der Weg von T. Hobbes zu J. Locke bis hin zur Charta von Paris (1990) 1 1 6 2 verfassungstextlich und -wirklich "wiederholt" w i r d 1 1 6 3 . Die wohl schwächste monarchische Struktur findet sich demgegenüber in Schweden (Kapitel 5 Verf. von 1975). Die Funktion des Königs ist auf das "Zeremoniell-Repräsentative" abgeschwächt. Dazwischen liegt eine ganze Bandbreite von geglückten Varianten der InDienststellung der Monarchie für den Verfassungsstaat und seine Grundwerte. Die Differenzierungen sind bemerkenswert. Oft lagern sich die einzelnen Textstufen der Verfassungentwicklung in Sachen Monarchie wie Schichten übereinander. Ein ähnlicher Vergleich könnte für den republikanischen Staatspräsidenten fruchtbar sein. Rasch würde sich zeigen, wie dieser in vielen Kompetenzfragen einfach in die Rolle des Monarchen hineingewachsen ist. Doch bleibt ein "Rest". Ihm ist im folgenden Theorie-Teil nachzugehen. (2) Theoretische Aspekte: monarchische Strukturen und Funktionen als "Restbestände" älterer Epochen oder eigenständige Variante des Typus Verfassungsstaat?, "parlamentarische Monarchie", die "verfassungsstaatliche Monarchie" (a) Fragen Aus dem systematisch aufbereiteten Textmaterial lassen sich einige theoretische Einsichten gewinnen, mindestens aber Grundsatzfragen aufwerfen: Ist die "parlamentarische Monarchie" nur eine historische Spielerei, ein jeweils recht zufälliges Überbleibsel älterer Perioden der Entwicklung des Verfas1162 Zit. nach EuGRZ 1990, S. 517 ff.: "Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nation aufzubauen" ... "Demokratische Regierung gründet sich auf den Volkswillen...". 1163 Vgl. schon meine ("Gretchen"-) Fragen in: A. Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaat, 1993, S. 302 f. (Diskussion).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen sungsstaates als Typus? Bildet die "Republik" die "höhere" Entwicklungsstufe oder nur eine "schlechtere" Abart? Ist sie die notwendige Konsequenz der Demokratie als "Herrschaft auf Zeit" oder vermittelt sie dem Verfassungsstaat Elemente einer "gemischten" Staatsform, wie sie z.B. in Verfassungsstaaten mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit eine moderne Entsprechung haben (man denke an das deutsche BVerfG)? Ist die Republik nur "Surrogat" oder "Erbe" der Monarchie, wie man dies vom Weimarer Reichspräsidenten als "Ersatzkaiser" im Blick auf O. von Hindenburg gesagt hat 1 1 6 4 ? Vermittelt die Monarchie vielleicht doch Symbolwerte, wie sie ein nur höchstens einmal wiedergewählter Präsident weder erfüllen kann noch erbringen darf: die persönliche Integrationsleistung des Königs von Belgien Baudouin I. (nicht erst bei seinem frühen Tod 1993 bekannt) 1165 oder des Königs von Spanien Juan Carlos I.dieser hat seine Legitimationsreserve sehr erfolgreich sogar gegen den Putschversuch im Jahre 1981 einsetzen können und damals die Demokratie gerettet. Bleibt die "res publica" eine solche nicht auch in der parlamentarischen Monarchie weil diese dem Gemeinwesen weder die öffentliche Freiheit noch die salus publica nimmt?
1164 Zur "monarchischen Parallele" des unselbständigen Staatspräsidenten: R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 286 ("parlamentarischer Monarch"). Herzog qualifiziert die heute in den demokratischen Verfassungen vorgesehenen Staatsoberhäupter als "demokratisierte Monarchen" (ebd. S. 274). 1165 Der am 31. Juli 1993 verstorbene belgische König Baudouin I. hat in seiner Person die Möglichkeiten, die auch im demokratischen Verfassungsstaat der Monarchie verbleiben, ebenso diskret wie effektiv genutzt. Als Integrationsfaktor war er gerade beim Übergang Belgiens zum Typus des Bundesstaats (1992/93) besonders wichtig. Seine positive Rolle wurde spätestens bei seinem frühen Tod der belgischen und europäischen Öffentlichkeit bewußt. Das spiegelt sich in Schlagzeilen der Presse wie: "Unser Land ist verwaist" (so der belgische Ministerpräsident J.-L. Dehaene, zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 3. August 1993, S. 2); ders., "Wir sollten seinem Aufruf zur inneren Versöhnung, zur Toleranz und zum Bürgersinn folgen"; P. Hort, in: FAZ vom 3. August 1993, S. 3: "Viele Krisen mit Geschick gemeistert", Symbol der Einheit"; ders., in: FAZ vom 6. August 1993, S. 3: "Alle Konflikte zwischen Flamen und Wallonen scheinen vergessen"; "Die Zeit" vom 6. August 1993, S. 5: "Das Land bangt um die Einheit", "Il était un bon roi". Der Pariser "Figaro" nannte Baudouin sogar die "Seele Belgiens" (zit. nach FAZ vom 9. August 1993, S. 2).- Belgiens König hat eine besondere Kompetenz, insofern er nach Neuwahlen einen Politiker mit der Aufgabe des "Sondierers" ("Informateur") einer Koalition beauftragt. Der König bestimmt auch, wer dann die Regierung bilden soll ("Formateur"). Baudouin I. hat auch die bekannte Verfassungskrise von 1990 gemeistert: Der König weigerte sich, das vom Parlament bereits erlassene Abtreibungsgesetz zu unterzeichnen.- Zur "parlamentarischen Monarchie belgischen Stils" schon C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 290.- Zum Sonderfall Frankreich bzw. F. Mitterrand: J. Le Goff, Eine republikanische Monarchie, F. Mitterrands Größe lag in seiner Verfügung über die Traditionen Frankreichs, FAZ vom 15. Mai 1995, S. 33.
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(b) Antworten Angesichts der Tatsache, daß es in Europa 10 Verfassungsstaaten gibt, die an ihrer "Spitze" einen Monarchen haben bzw. eine dynastisch geregelte Thronfolge vorsehen, muß sich eine rechtsvergleichend gearbeitete Verfassungslehre dieser monarchischen Strukturen annehmen. Ist die Erbmonarchie nur eine "andere Form" des republikanischen Staatspräsidenten, der auf begrenzte Zeit (wieder-)gewählt wird? Denkt man allein von den verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen her, so deutet viel daraufhin, daß ein Präsident ohne weiteres an die Stelle des Monarchen, Fürsten oder Großherzogs treten könnte - nur für Großbritannien dürfte angesichts der "königlichen Privilegien" Besonderes gelten. Man kann es auch anders wenden: Der republikanische Präsident ist im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates weitgehend in die tendenziell sich immer stärker abschwächenden Kompetenzen des Monarchen eingerückt. Von der Gewaltenteilung her gedacht, stellt sich die Institution des Monarchen bzw. seiner analogen Erscheinungsformen wie des "Fürsten" (in Liechtenstein) als eine unter mehrere "Gewalten" dar, die in das subtile Funktionsgefüge des Verfassungsstaates integriert ist. Bei dieser eher formalen Betrachtungsweise kann es jedoch nicht bleiben: Es sind ganz spezifische Repräsentations- und Integrationsfunktionen, die die Erbmonarchie erfüllt 1 1 6 6 . Nachdem fast alle europäischen Verfassungsstaaten mit Ausnahme Liechtensteins vom "monarchischen Prinzip" abgerückt sind und schon textlich mehr oder weniger eindeutig sich dessen Gegenstück, der Volkssouveränität, verschrieben haben, kommt es zur Frage, wie sich das Volk repräsentiert - und integriert. Hier kann der Monarch viel leisten. Gewiß, auch der - wechselnde - Präsident 1167 vermag dem Integrations-
1166 Vgl. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 (145): "Die Besonderheit der monarchischen Integration beruht darin, daß der legitime Monarch vor allem den geschichtlichen Bestand staatlicher Gemeinschaftswerte symbolisiert, also zugleich einen Fall der Integration durch sachliche Werte darstellt". Vgl. auch ebd. S. 220 ff.- Nach K. Loewenstein, aaO, Bd. I, 1967, S. 530 unterscheidet sich die britische Monarchie "von den anderen sechs westeuropäischen Monarchien" durch den "Stil, in dem sie geführt wird." Mythologie und Magie des Königtums würden "mit diskreter Beharrlichkeit gepflegt" (ebd. S. 531). S. auch ebd. S. 534: "Bilanzmäßig sind die Aktivposten der britischen Monarchie beträchtlich". Seit kurzem ist dies für das "Haus Windsor" fraglich. 1167 Zur "Darstellung der politischen Einheit" bzw. "Integrationsfunktion" des deutschen Bundespräsidenten: K. Schiaich, Die Funktionen des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge, HdbStR Bd. II (1987), S. 541 (563 ff.). S. auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 229, 275: Wahrung und Repräsentation der staatlichen Einheit.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen und Repräsentationsbedürfnis zu entsprechen - man denke nur an den Präsidenten der USA oder Frankreichs, auch Österreichs 1168 . Doch deutet vieles darauf hin, daß sich der Symbolwert eines Königshauses oder einer Großherzogsfamilie schon der Dauerhaftigkeit wegen höher veranschlagen läßt 1 1 6 9 . Bereits die Verfassungstextanalyse hat ergeben, wie sehr sich die Verfassunggeber des Repräsentations- und Integrationswertes bzw. der Symbolkraft des monarchischen Elements im betreffenden Verfassungsstaat bewußt sind 1 1 7 0 . Und die Monarchie-Texte der geschriebenen Verfassungen dürfen ohne weiteres jener Artikel-Gruppe zugerechnet werden, die in die irrationalen Tiefenschichten eines Volkes reichen: analog der Verfassungsnormen zu Feiertagen, zur Hauptstadt, zur Sprache, auch zu Eidesklauseln 1171 . Ja die "einrahmenden" und auf spezifische Weise grundlegenden Präambeln 1172 gehören ebenfalls hierher. Kurz: Monarchien reichen gerade auch in Verfassungsstaaten in die Tiefenschicht der "irrationalen Konsensquellen" (K. Eichenberger) des Staates. Der Verfassungsstaat ist auf sie besonders angewiesen, muß in ihnen buchstäblich "wurzeln", da er sonst so sehr und mit Recht auf Rationalität setzt. Der Mensch hat auch als Bürger rationale und emotionale Seiten. Das "liturgische", um nicht zu sagen "rituelle" Moment kann in einer monarchischen res publica in spezifischer Weise befriedigt werden. Gewiß, auch die modernen (parlamentarischen) Monarchien wachsen in die Funktion des "Dienstleistungsbetriebes" hinein, wie man etwa von Bekenntnissen aus dem spanischen Königshaus weiß. Doch zeigt gerade die moderne Monarchie Spaniens, wie gekonnt und wirksam eine Gestalt (hier König Juan Carlos I.) die
1168 "Zum Amtsverständnis des österreichischen Bundespräsidenten" gleichnamig: H Schambeck, FS für R. Kirchschläger, 1990, S. 181 ff.; s. dazu auch R. Kirchschläger, Zwölf Jahre im Amt des Bundespräsidenten - ein Rückblick, FS L. Adamovich, 1992, S. 202 ff. 1169 Dem steht nicht entgegen, daß in einigen Ländern das "letzte Wort" bei beendeter Thronfolge oder Vakanz das Parlament hat: vgl. etwa Art. 85 Verf. Belgien; Art. 53 Abs. 3 Verf. Spanien.- Dieser "irrationale Rest" ist in der Gestalt des belgischen Königs Baudouin I. greifbar geworden in dem Satz des Kardinals Danneels anläßlich der Trauerfeier (zit. nach FAZ vom 9. August 1993, S. 3): Baudouin sei ein König nach dem Herzen der Menschen gewesen. "Der König hatte ein Herz, so weit wie der Sand am Meer. Er hat uns geliebt, so wie wir ihn geliebt haben. Und er hat uns einander näher gebracht." 1,70 Vgl. Art. 56 Abs. 1 S. 1 Verf. Spanien: Der König "als Symbol seiner Einheit und Dauer" (sc. des Staates). 1171 Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 199 ff., 297 ff; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. S. auch oben Ziff. 11. 1172 Dazu meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen (1982), in: Rechtsvergleichung, aaO., S. 176 ff. Oben Ziff. 8.
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Nation auf Kulturveranstaltungen, Olympiaden, Weltausstellungen (wie 1992), aber auch im Kleinen in den Regionen und Provinzen "darzustellen" weiß und buchstäblich "verkörpert". Sicherlich, an die "Kosten" monarchischer Strukturen im Verfassungsstaat ist ebenfalls zu erinnern: Gemeint sind nicht die finanziellen Kosten 1173 , sondern anderes: etwa das Entstehen privilegierter Eliten ohne Leistungen, nicht öffentlich verantworteter Beziehungs- und Einflußgeflechte (Stichwort: "Hofschranzen"). Obwohl es solche auch an Präsidentensitzen gibt: die zeitliche Unbegrenztheit derartiger "Substrukturen" schafft in "Nicht-Republiken" Gefahren eigener Art. "Herrschaft auf Zeit" bleibt ein unverzichtbarer Aspekt des demokratischen Verfassungsstaates. Und ein Stück "Herrschaft" wird eben auch durch noch so "bloß repräsentativ" ausgestaltete parlamentarische Monarchien ausgeübt. Insofern bleibt ein unauflösbares Restproblem in all den europäischen Verfassungsstaaten, die an monarchischen Elementen festhalten. Man mag mit D. Sternberger daran erinnern, daß "nicht alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht", man mag sich gewisse aristokratische Elemente vergegenwärtigen, wie sie sich in Ländern mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit oder mit "Senaten" finden, um die monarchischen Strukturen und Funktionen von heute in das Ganze des Typus "Verfassungsstaat" einzuordnen 1174 ; dennoch bleiben Spannungen und Widersprüche. So verstehen sich diese Überlegungen auch nicht als Beitrag zu einer eigenen "Verfassungstheorie der Monarchie", sondern als Versuch, die vorhandenen monarchischen Strukturen in einzelnen Verfassungsstaaten Europas zu erklären, in das theoretische Koordinatensystem des Typus Verfassungsstaat einzuordnen und als eine denkbare Variante auszuweisen, die sich "sehen" lassen kann und keine bloße "Abart" oder gar anachronistisch ist oder ein zu belächelndes Überbleibsel einer vergangenen Epoche darstellt. Je nach Geschichte, Selbstverständnis und Kultur eines Landes stellen sich (parlamenta-
1173 Sie sind in Gestalt der "Zivilliste" berücksichtigt (vgl. Art. 77 (alte) Verf. Belgien, Art. 43 Verf. Luxemburg, § 10 Verf. Dänemark, Art. 40 Verf. Niederlande, Art. 40 Verf. Monaco). In der Verf. Liechtensteins findet sich keine entsprechende Regelung. Der Fürst bestreitet die "ihm aus seiner Aufgabe zufallenden Kosten aus dem Privatvermögen", worauf Fürst Hans Adam II. in seiner Thronrede vom Herbst 1992 ausdrücklich hinwies. 1174 Zur "Stellung des Monarchen in der modernen Verfassung": C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 288 ff, der in vergleichender Staats- und Verfassungsgeschichte Stichworte findet wie "Monarch als Repräsentant" (S. 205, 211), als "Gott" (S. 282), als "Vater" (S. 283), als "Chef der Exekutive" (S. 286), als "pouvoir neutre" (S. 287), als "Subjekt der verfassunggebenden Gewalt" (S. 80 f.). K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 58 Anm. 9, schreibt der Monarchie "auch heute noch erhebliche Bedeutung" zu.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen rische) Monarchien als legitime Variante zur Alternative "Republik" dar 1 1 7 5 . Sie sind keine Gegenveranstaltung zum Typus Verfassungsstaat, so sehr Monarchien dies geschichtlich oft waren und so intensiv sie sich im Laufe der Zeit "konstitutionalisieren" lassen mußten ("konstitutionelle Monarchie") 1176 . Im ganzen ist es Zeit, vom Begriff der "konstitutionellen Monarchie" Abschied zu nehmen. Er ist geschichtlich belastet und heute überholt, da er an die nachträgliche verfassungsrechtliche Beschränkung "ursprünglich" vorgefundener monarchischer Staatlichkeit erinnert. Heute gibt es aber nur konstituierte Staatlichkeit. An die Stelle der "konstitutionellen Monarchie" ist in der historischen Entwicklung in Europa die verfassungsstaatliche Monarchie - als eine Möglichkeit des Typus Verfassungsstaat - getreten. Im Verfassungsstaat ist eine etwaige verfassungsrechtlich vorgesehene Monarchie ein "Verfassungsorgan" jenseits eigener irgendwie gearteter "Souveränität" 1177 . Liechtenstein bildet die atypische Ausnahme. Eine "nachholende Revolution" (besser: Entwicklung) steht diesem Land noch bevor, sofern sie nicht schon dank seiner Eingliederung in EMRK und KSZE (jetzt OSZE) begonnen hat. Begriff und Sache "Fürstensouveränität" sind auch in verfassungsstaatlichen Monarchien dem Text oder dem Inhalt nach von der Volkssouveränität abgelöst worden (so ausdrücklich in Spanien). Heute ist sogar zu fragen, ob nicht auch die "Volkssouveränität" innerstaatlich überholt ist: weil die Menschenwürde der Bürger kulturanthropologische Prämisse auch der Demokratie ist 1 1 7 8 . Der Begriff "verfassungsstaatliche Monarchie" umschreibt nur das Grundmuster. Wie die Textanalyse zeigt, gibt es indes viele Varianten zu Stellung, Kompetenzen und Funktionen des Monarchen: man vergegenwärtige sich die Bandbreite von Belgien und Spanien bis Dänemark und Schweden. Jedes Land 1175 Bemerkenswert K. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, 1967, S. 530, für den die Monarchie als Staatseinrichtung auch in den anderen Ländern Westeuropas, in denen sie "den stürmischen Drang zur Republikanisierung hat überstehen können", gefestigter erscheint als seit langer Zeit (Ausnahme: Griechenland). 1176 Zum Konstitutionalismus in Deutschland: E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1967, S. 652 ff.; M Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band, 1992, S. 103 ff. 1177 Eher retrospektiv ist das Wort des Vorsitzenden der belgischen Abgeordnetenkammer C.-F. Nothomb nach der Vereidigung des neuen Königs Albert II. (1993): "Majestät, ... auf diese Weise ist die Union zwischen dem König und der Nation besiegelt, der konstitutionelle Pakt zwischen Land und Dynastie bestätigt" (zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 10. August 1993, S. 3). Eine "Krönung" wurde von einem Sprecher des Palastes abgelehnt mit den Worten: "Eine Krone ist ein Symbol aus alten Zeiten und paßt nicht zu einer relativ jungen Monarchie" (ebd.). 1178 Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdbStR Bd. I, 1987, S. 815 (846 ff.) sowie oben VIII Ziff. 1.
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kann in Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit "seine" Monarchie in eigenen Formen und Farben ausgestalten: so ist im Blick auf Belgien das glückliche Bild der "föderativen Monarchie" (R. Senelle) 1179 geprägt worden: es deutet die spezifische Aufgabe und Leistung des belgischen Königs (Baudouins I.) bei der Herausbildung und Bestandssicherung des Bundesstaates Belgien (Klammerfunktion im Blick auf Flamen und Wallonen) an - das bekannte Wort vom Monarchen als "pouvoir neutre" 1180 wäre hier zu wenig. Andere verfassungsstaatliche Monarchien wie die schwedische, lassen sich "nur repräsentativ" kennzeichnen, da keine aktive Teilhabe an der "obersten Staatsleitung" möglich ist. Wie beim Staatspräsidenten 1181 hängt bei der Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Funktionen freilich viel von der jeweiligen Person des Monarchen bzw. seiner Autorität ab. (3) Zukunftschancen im europäischen Verfassungsstaat Monarchien wurzeln wie wenig anderes in der Geschichte eines Landes. Sie lassen sich kaum je neu begründen, jedenfalls nicht auf dem Forum eines von einem konkreten Verfassunggeber geschaffenen Verfassungswerkes und schon gar nicht in unseren Tagen. Spanien bildet eine Ausnahme, weil hier die Monarchie 1975 glückhaft der Übergangspfeiler von einem autokratischen System (Francos) in einen Verfassungsstaat war und blieb und an die Thronansprüche einer Dynastie angeknüpft werden konnte. Erinnert sei aber auch daran, daß das italienische Königshaus nach dem 2. Weltkrieg (1946) abgeschafft wurde und sich Griechenland (1974) in einer Volksabstimmung für die Republik entschied. In Liechtenstein schwelt seit Herbst 1992 eine Verfassungskrise, die auch das Fürstenhaus in Frage stellen kann; jedenfalls ist kaum anzunehmen, daß Liechtenstein auf unbegrenzte Zeit mit "zwei Souveränen" (Fürst und durch den Landtag repräsentiertes Volk) leben will und kann. Im ganzen ist schwerlich zu erwarten, daß ein Verfassungsstaat in Europa neu auf die "Staatsform" der (parlamentarischen) Monarchie zurückgreifen will. (Das gilt wohl auch für Griechenland, Rumänien, Albanien, Serbien und Bulgarien. 1182 ) 1179
Vgl. JöR 36 (1987), S. 121 (133f.). Dazu O. Kimminich, aaO., VVDStRL 25 (1967), S. 2 (38 ff.), sowie P. Pernthaler, ebd. S. 95 (146 ff.). 1181 Vgl. dazu Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 275. 1182 Das vorbildliche Wirken des "guten Königs" und "guten Menschen" Baudouin I. hatte schon kurz nach seinem Tode politische Auswirkungen: Der griechische Exkönig Konstantin sagte (zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 10. August 1993, S. 3): "Wenn das griechische Volk eine konstitutionelle Monarchie haben will und mich dafür wünscht, stehe ich zur Verfügung". Baudouins einheitsstiftende Kraft könnte aber auch 1180
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Indes könnten sich Zukunftschancen der Monarchie im Blick auf das sich einigende Europa ergeben. Bedarf die Europäische Union einer monarchischen Spitze? Könnte die Monarchie ein Thema der werdenden "Verfassung Europas" bilden? Meines Erachtens kann die Antwort nur lauten: Nein! Die Verfassungslehre hat zwar immer auch in der Dimension "wissenschaftlicher Vorratspolitik" zu denken; darum erscheint die hier gewagte Frage legitim. Bei näherer Betrachtung spricht aber alles gegen den in manchen Medien gern erörterten "sensationellen" Gedanken einer "europäischen Monarchie". Monarchien können nur aus der Tiefe der Geschichte einzelner Völker wachsen. Sie lassen sich nicht von heute auf morgen schaffen. So beliebt die einzelnen Königshäuser in den erwähnten europäischen Verfassungsstaaten sein mögen, keines könnte wohl die Repäsentations- und Integrationsfimktionen in bezug auf "ganz Europa" erfüllen. Auch keine europäische verfassunggebende Versammlung vermöchte die Kraft aufbringen, eines der bestehenden Häuser zum "europäischen Fürstenhaus" zu machen. Das "europäische Haus" ist im tiefen Sinne republikanisch zu verfassen. Im "europäischen Konzert" nehmen sich die einzelnen Monarchien einzelner Häuser bzw. Länder als willkommene Farbtupfer und Belege für die Vielfalt der nationalen Verfassungskulturen aus, aber auf der Ebene Europas sollte eine republikanische Repräsentanz geschaffen werden - sofern sie sich als nötig erweist. Vordringlich bleibt die Beseitigung des viel beklagten Demokratiedefizits und dieses ist auf dem Forum des europäischen Parlaments und durch "europäische Öffentlichkeit" zu beheben. Dem Europäischen Parlamentspräsidenten sollten also für die "Union" jene Integrationsund Repräsentationsfünktionen zuwachsen, derer sie heute bedarf. Die "Verfassung Europas" sollte republikanisch sein: formell wie materiell.
13. Das Alter(n) des Menschen als Verfassungsproblem a) Problem Ein auffallendes "neueres" Thema, von der Staatsrechtslehre bislang kaum beachtet, ist das Problem des Alterns bzw. des Alters der Menschen. Während der "Jugendschutz" seit längerem fester Bestandteil verfassungsstaatlicher Ver-
ein Lehrstück für so manche auseinanderstrebende Nationalismen in Europa sein. Der neue belgische König Albert II. sprach nach seiner Vereidigung anknüpfend an die letzte Rede Baudouins von der Toleranz und dem Bürgergeist, mit denen Flamen und Wallonen aufeinander zugehen sollten (FAZ vom 10. August 1993, S. 5).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
fassungen ist 1 1 8 3 , kann gleiches vom Altern und Alter (noch) nicht gesagt werden. Ungeschrieben, vor allem aber auf einfachgesetzlicher Ebene, in Parteiprogrammen und in der pluralistischen Öffentlichkeit mag dieses hier zu erörternde Thema zwar seit längerem als "wichtig" empfunden werden; ehe ein Verfassungsproblem aber zur entsprechenden Textgestalt "gerinnt", auch "reift", kann längere Zeit vergehen. Zu vermuten ist, daß im offenen Kanon der Verfassungsthemen "Altern" und "Alter" heute immer wichtiger werden, ja dramatische Aktualität gewinnen, und sich die Verfassunglehre, aber auch die "Verfassungstexter" ihrer dringend grundsätzlich annehmen müssen 1184 . Erste Anzeichen und Textelemente gibt es schon, sie sind nur noch nicht vergleichend beim Namen genannt und nicht im Zusammenhang bzw. im Kontext einer verfassungsstaatlichen Theorie behandelt worden. Diesem Ziel dient der folgende Versuch. Erste Stichworte mögen die Brisanz und Aktualität, aber auch die Grundsatzbedeutung des Themas für den Verfassungsstaat und seine offene Gesellschaft belegen. Demographisch ist die Einsicht, daß es dank der höheren Lebenserwartung immer mehr alte Menschen gibt, ein Gemeinplatz, entsprechend wachsen die Spannungen zwischen jung und alt. Befürchtet werden Verteilungskämpfe, etwa im Blick auf die Sozialversicherung, wo in Zukunft immer mehr ältere Menschen von den jüngeren "unterhalten" werden müssen: der "Generationenvertrag" ist neu zu durchdenken. Die viel zitierte "Alterspyramide" ändert sich heute fast spektakulär 1185 . Politisch ist das Aufkommen der sog. "Grauen Panther" ein Signal, speziell in der Bundesrepublik intensiviert sich die Diskussion um private Altersvorsorge; die Pflegeversicherung für den Fall eines Pflegebedarfs im Alter wurde Gesetz. Symptomatisch ist, daß die wissenschaftliche Altersforschung stärker ins öffentliche Bewußtsein rückt und z.B. im Bonner Ministerium für Familie und Gesundheit in Gestalt von Frau Prof. U. Lehr eine Altersforscherin als Ministerin Platz genommen hatte (bis 1990). Bekannt ist das Wort vom "sozialen Tod" dessen, der in den Ruhestand tritt, und die Schwierigkeiten geistiger, sozialer Orientierung im Alter sind
1183 Vgl. etwa Art. 122 WRV von 1919.- Zum „Kind als Grundrechtsträger": BVerfGE 84, 168 (183), eine Tendenz, die sich auch verfassungstextlich verstärkt (vgl. z.B. Art. 72 Verf. Polen von 1997). 1184 Die Allgemeine Staatslehre liefert historisch einige Stichworte: etwa zum "Ahnenkult" (vgl. T. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1980, S. 14, 16, 18), zum Ältestenrat (ebd. S. 13, 19, 21, 205, 418, ebenso ders., 2. Aufl. 1995). 1185 Die Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland zeigt das Schaubild in: Statistisches Jahrbuch 1989, S. 51 bis 53, gemeinhin mit dem Bild von der "Pyramide" über die "Glocke" bis zur "Zwiebel" gekennzeichnet; vgl. auch Art. Altersgliederung, Brockhaus Enzyklopädie, 1. Band 1986, S. 437.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen jedem gegenwärtig 1186 . Im Alter Lebenssinn zu finden, ist ein allgemein menschliches Problem, an dem ein Verfassungsstaat, der auf der Menschenwürde aufbaut und sich als Demokratie mit "aktiven Bürgern" organisiert, nicht vorübergehen kann. Mit dem Hinweis auf die schöpferischen Spitzenleistungen, die große Dichter und Denker gerade im Alter hervorgebracht haben, ist es nicht getan. Ein J.W. von Goethe und T. Fontane sind und bleiben Ausnah1187
men . Der Verfassungsstaat muß an die Normalität des Menschen und Bürgers, nicht an die Genialität einzelner anknüpfen. Er soll "Heimstatt aller Staatsbürger" 1188 , d.h. auch der alten Menschen sein (können). Mit Hilfe welcher inhaltlichen Rechtsprinzipien und Verfahrensvorkehrungen er dies tut, bleibt zu erarbeiten. Sicher ist, daß jedenfalls schon jetzt das Problem des Alterns und des Alters in "letzte" Grundsatzfragen der Gerechtigkeit, des Gemeinwohls, der Menschenwürde bzw. der Grundrechte und der Demokratie und damit des Verfassungsstaates führt. Die Integrierung der alten Menschen, die Korrektur der gesellschaftlich oft zu beobachtenden Ausgrenzung oder gar Diskriminierung des Alters wird zu einer spezifischen Aufgabe des heutigen Verfassungsstaates. Dabei geht es um mehr als bloßen "Minderheiten"schutz: Das Problem der alten Menschen ist keine Frage der Zahlen, sondern der Normalität und Qualität humanen Lebens. Es geht um den Menschen als "Teilhaber" am Gesellschaftsvertrag, als Teilnehmer am immer neuen "SichErtragen und Sich-Vertragen aller Bürger" - wie es die verfassungsstaatliche Verfassung ermöglichen muß. Der Verfassungsstaat ist ja eine "Solidargemeinschaft" so selten dies heute bewußt und so schwer dies rechtsethisch greifbar wird. Der alte Mensch ist ein "Nächster" - mindestens so nahe wie das Kind in der Dritten Welt oder das ungeborene in der alten Welt. Da die engere Solidargemeinschaft "Familie" gegenüber dem alten Menschen angesichts der Entwicklung zur Kleinfamilie zurücktritt bzw. oft versagt, ist die gemäß der Subsidiaritätsmaxime nächst höhere Einheit gefordert: in der Bundesrepublik Deutschland die Gemeinde, das Land oder der Bund, kurz: das politische Gemeinwesen. Die die res publica betreffenden Grundsatz-Fragen gehören in die Kompetenz der Verfassungslehre. Sie muß in ihren spezifischen Methoden und Verfahren und mit Hilfe ihrer Prinzipien auf ihrem Forum Fragen wie die hier zur Diskussion gestellten verarbeiten.
1186 Ein Fanal ist die Nachricht: "Immer mehr alte Menschen bringen sich um" (FAZ vom 24. Oktober 1990, S. 10). 1187 Zu Selbstportraits alter Maler, etwa Leonardos, Rembrandts, Tintorettos: S. de Beauvoir , Das Alter, 1972, S. 255 f.; zu Michelangelo ebd. S. 439 ff.; zu Verdi: ebd. S. 443 ff. 1188 Vgl. BVerfGE 19, 206 (216).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft b) Das Altern des Menschen im Spiegel von VerfassungsRechtstexten - Bestandsaufnahme
und
Erste Erkenntnisse in Sachen "Altern" lassen sich aus einer Analyse einschlägiger juristischer Texte des positiven Rechts gewinnen. Angesichts der wachsenden Bedeutung des Problems "Alter" ist zu vermuten, daß auch und vor allem die Verfassungen bereits "reagiert" haben; überdies könnte es sein, daß sie in Sachen Alter nicht nur re-agieren, sondern schon agieren (indem sie etwa Programme entwerfen). A u f Verfassungsstufe mit einer strukturierenden Analyse zu beginnen, empfiehlt sich nicht nur wegen des "Vorrangs der Verfassung" 1189 . Es ist auch zu vermuten, daß sich hier erste besonders prägnante Aussagen zum Thema finden, wozu schon die Verfassungstextform zwingt. Wenn es zutrifft, daß Verfassungen das "für das politische Gemeinwesen Wichtige" zum Ausdruck bringen, dann dürfte das Thema "Alter" heute in jüngeren Verfassungen bereits textlichen Niederschlag und erste Problemformulierungen gefunden haben. Im übrigen ist die geschichtlich und kontemporär vergleichend arbeitende Textstufenanalyse der vielversprechende Weg: Er greift in Zeit und Raum aus, um eine Grundfrage des Typus Verfassungsstaat von heute (und morgen) in den Griff zu bekommen 1190 . Freilich ist das Rechtsmaterial der einfachen Gesetzesstufe ebenfalls zu befragen (im folgenden wegen der Fülle des Materials auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt). Hier dürfte das Thema "Alter" seit längerer Zeit, detaillierter und zugleich diffuser, Gestalt angenommen haben. Erst die Zusammenschau des verfassungstextlichen und einfachrechtlichen Materials bereitet das Thema als Ganzes so auf, daß es den theoretischen Überlegungen zugänglich wird.
1189 Vgl. ausdrücklich dazu Art. 87 Abs. 1 (alte) Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.). Ebenso Art. 2 Verf. Südafrika (1996/97): "Supremacy of Constitution"; ebenso Art. 9 Verf. Äthiopien (1994), Art. 8 Abs. 1 Verf. Polen (1997); ähnlich Art. 1 Abs. 6 Verf. Namibia (1990); Art. 8 Abs. 2 Verf. Ukraine: "The Constitution is the highest legal authority". Ähnlich Art. 3 Abs. 2 Verf. Benin (1990). 1190 Zu dieser Methode der Textstufenentwicklung mein Beitrag in FS Partsch, 1989, S. 555 ff., später in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. sowie oben Fünfter Teil VII Ziff. 1.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen (1) Verfassungstexte zum Thema "Altern" Als vorbildlich 1 1 9 1 erweist sich Art. 72 Verf. Portugal von 1976/92. Er ist ebenso allgemein wie speziell, abstrakt und konkret, im Abschnitt "Soziale Rechte und Pflichten" piaziert; und er ist das wohl ausgebauteste Beispiel für "Alters-Verfassungsrecht" : "(1) Alte Menschen haben das Recht auf wirtschaftliche Sicherheit und auf Wohnungsbedingungen und Möglichkeiten des familiären Zusammenlebens und des Gemeinschaftslebens, durch die ihre Isolierung oder soziale Abdrängung verhindert oder überwunden werden. (2) Die Altenpolitik umfaßt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Maßnahmen, die darauf abzielen, den alten Menschen Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung durch aktive Beteiligung am Gemeinschaftsleben zu eröffnen." Art. 50 Verf. Spanien von 1978 geht sehr ähnlich vor, hat aber auch eigene Text-Varianten geschaffen: "Die öffentliche Gewalt gewährleistet den Bürgern im Ruhestand das wirtschaftliche Auskommen durch angemessene und periodisch angepaßte Renten. Außerdem fördert sie, unabhängig von familiären Verpflichtungen, ihr Wohlergehen durch ein System sozialer Leistungen, das ihre spezifischen Gesundheits-, Wohnungs-, Kulturund Freizeitprobleme berücksichtigt." Bemerkenswert ist Art. 61 Abs. 3 Verf. Türkei von 1982 1192 : "Die alten Menschen sind von Seiten des Staates in Obhut zu nehmen. Die Staatshilfe für die Alten und die ihnen zu gewährenden anderen Rechte und Erleichterungen werden durch Gesetz bestimmt." Sehr allgemein formuliert Art. 77 Verf. Nicaragua von 1986 1193 : "Senioren haben einen Anspruch auf Schutz seitens der Familie, der Gesellschaft und des Staates." Einen beachtlichen "Alten-Artikel" hat die neue Verf. von Brasilien (1988) 1 1 9 4 geschaffen. Am Ende eines eigenen Kapitels "Familie, Kind, Jugend und Alter" heißt es in Art. 230:
1191 Früh normiert Art. 21 Abs. 3 Verf. Griechenland (1975): "Der Staat sorgt für die Gesundheit der Bürger und trifft besondere Maßnahmen zum Schutze der Jugend, des Alters, der Versehrten und für die Pflege Unbemittelter." 1192 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff. 1193 Zit. nach JöR 37 (1988), S. 720 ff. 1194 Zit. nach JöR 38 (1989), S. 462 ff.- S. dazu auch Art. 3 IV ebd.: "(Fundamentale Ziele ... sind): Beförderung der Wohlfahrt aller Menschen ohne Ansehen von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Alter oder anderer Formen der Diskriminierung."
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"Die Familie, die Gesellschaft und der Staat sind verpflichtet, den Alten beizustehen, ihnen ihre Teilnahme an der Gemeinschaft zu gewährleisten, ihre Würde und ihr Wohlbefinden zu verteidigen und ihnen das Recht auf Leben zu garantieren." Im folgenden § 1 steht: "Maßnahmen der Altenhilfe werden vorrangig in deren eigener Wohnstätte durchgeführt", in § 2: "Personen, die das 66. Lebensjahr erreicht oder überschritten haben, ist kostenlose Beförderung in den kollektiven städtischen Transportmitteln gewährleistet". Dieser besonders "altenfreundliche" Zug der Verf. Brasiliens kommt auch an anderen Stellen zum Ausdruck, und zwar in einem Artikel, der, soweit ersichtlich, erstmals in Verfassungstextform ein Stück des Generationenvertrags darstellt. Art. 229 lautet: "Die Eltern sind verpflichtet, minderjährigen Kindern beizustehen, und ihre Erziehung zu gewährleisten, so wie es die Verpflichtung der volljährigen Kinder ist, den Eltern im Alter, in Notsituationen oder bei der Krankheit zu helfen und Beistand zu leisten." Die kleinere Einheit, die Familie, ist hier auf eine Solidarität zwischen Eltern und Kindern bis ins Alter hin ausgerichtet, auf die Gesellschaft und Staat in Art. 230 verpflichtet werden. Art. 229 und 230 liefern wohl erstmals verfassungstextliche Anhaltspunkte für einen Gesellschaftsvertrag zwischen Jung und Alt1195. In Deutschland war es eine Pionierleistung des Verfassungsentwurfs des "Runden Tisches" der Noch-DDR im April 1990 1196 , die Textstufenentwicklung in Sachen Altersverfassungsrecht eröffnet zu haben. Schon im MenschenWürde-Artikel 1 heißt es in Abs. 2 als S. 2: "Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung,... seiner sozialen Stellung, seines Alters, seiner Behinderung ... benachteiligt werden." Art. 23 Abs. 1 lautet: "Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung." und in Art. 27 Abs. 5 heißt es: "Lehrlinge, Schwangere, ...Werktätige mit Behinderung und ältere Werktätige genießen erweiterten Kündigungsschutz." 1195
Verf. Brasilien denkt auch sonst an das Alter, vgl. Art. 203 I: "Schutz der Familie, der Mutterschaft, der Kindheit, der Jugend und des Altems" als Aufgabe der Sozialhilfe und Art. 8 VII: "... im Ruhestand befindliche Mitglieder haben das Recht zu wählen und in die gewerkschaftliche Organisation gewählt zu werden" - ein Stück status activus für alte Menschen! 1196 Dazu P. Häberle, Der Verfassungsentwurf des "Runden Tisches", JöR 39 (1990), S. 319 ff.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Auch die späteren Entwürfe neuer ostdeutscher Landesverfassungen nehmen sich des Themas "Alter" variantenreich an. Vgl. II. überarbeiteter Entwurf der Verf. für das Land Brandenburg (Sept. 1990): Dritter Hauptteil, 2. Abschnitt: Fürsorge im Alter und bei Behinderung: Art. 25 (Gleichstellung): "(1) Das Gemeinwesen achtet auf das Alter und nimmt Rücksicht auf Behinderung. (2) Das Gemeinwesen sichert die rechtliche Gleichstellung und fördert die soziale Integration alter und behinderter Menschen in der Gesellschaft." Der Verfassungsentwurf Sachsen-Anhalt (2. Entwurf, Okt. 1990): Art. 32 (Soziale Sicherungssysteme): "(1) Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung. Jeder hat das Recht auf menschenwürdiges Dasein."1197 Der Verfassungsentwurf Mecklenburg-Vorpommern (Juli 1990) 1198 : Art. 64: "(1) Zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte werden Bürgeranwalt, Kinderanwalt, Seniorenanwalt und Beauftragte für Fragen der Gleichstellung von Mann und Frau ... bestellt. Sie werden vom Landtag auf die Dauer von sechs Jahren mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder gewählt."1199 Privatentwurf Riege Verf. Thüringen (Mai 1990) 1200 , Art. 23: "(1) Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung. Jeder hat das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein." Verfassungsentwurf Thüringen (August 1990) 1201 , Art. 19: "(1) Das Gemeinwesen achtet das Alter 1202 ." Die später in Kraft gesetzten Verfassungen Ostdeutschlands folgen den Entwürfen nur abgeschwächt (vgl. Art. 45, 48 Verf. Brandenburg von 1992; Art. 17 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993; Art. 7 Abs. 2 Verf.
1197
Ebenso schon Art. 32 Abs. 1 VE Sachsen-Anhalt, erster Entwurf, zit. nach JöR 39(1990), S. 455 ff. 1198 Zit. nach JöR 39 (1990), S. 399 ff. 1199 In Art. 7 (Sozialer Rechtsstaat) heißt es in Abs. 3: "Lehrlinge, Schwangere, Alleinerzieher, Kranke, Arbeitnehmer mit Behinderung und ältere Arbeitnehmer genießen erweiterten Kündigungsschutz." 1200 Zit. nach JöR 39 (1990), S. 468 ff. 1201 Zit. nach JöR 39 (1990), S. 480 ff. 1202 Vgl. auch Art. 6 Abs. 4 Verf. Berlin (1948/1990), zit. nach JöR 39 (1990), S. 373 ff: "Die Förderung und Unterstützung der Jugend, älterer und behinderter Menschen ist Aufgabe des Staates und jedes einzelnen".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Sachsen von 1992; Art. 38 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992: "Ältere Menschen und Menschen mit Behinderung stehen unter dem besonderen Schutz des Landes. Das Land fordert ihre gleichwertige Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft" 1203 ). Ein Blick auf die Internationalen Menschenrechtswerke ergibt: Unter den internationalen Menschenrechtserklärungen geht die Afrikanische Banjul-Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27. Juni 1982 1204 auf das Alter ein. Im "Familien-Artikel" 18 heißt es als Abs. 4: "Die Alten und Behinderten haben Anspruch auf besondere Hilfsmaßnahmen gemäß ihren körperlichen und sittlichen Bedürfnissen." Die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 sieht dergleichen noch nicht vor (vgl. Art. 17); entsprechendes gilt für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Immerhin hat schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in Art. 25 Ziff. 1 jedem Menschen "das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter ..." zugesprochen. Die Gleichheitsartikel dieser Erklärungen, die die Verbotsgründe in Sachen Diskriminierung wie "Rasse, Hautfarbe, Sprache" etc. aufzählen (vgl. z.B. Art. 2 Abs. 2 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, Art. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, Art. 2 Allgemeine Menschenrechtserklärung der U N von 1948), nennen das Alter noch nicht ausdrücklich. Erst jüngste Verfassungen haben diesbezüglich die Textstufenentwicklung vorangetrieben. Hält man inne, um sich die Textstufendifferenzierung des "Verfassungsrechts des Alters" zu vergegenwärtigen, so wird schon an diesen Beispielen sichtbar, welche Dynamik dieses Problem und dieses Material erfaßt hat. Art. 72 Verf. Portugal und Art. 229 und 230 Verf. Brasilien lassen bereits die Konturen eines eigenen Gebietes "Verfassungsrecht des Alters" sichtbar werden - der Weg von älteren Klauseln, die sich nur um soziale Sicherheit auch im Alter kümmern 1 2 0 5 , bis zu Grundsatzregelungen nach Art von Portugal und
1203
Art. 46 Abs. 1 Verf. Ukraine (1996) denkt auch an die soziale Sicherheit der Bürger in "old age". Ein ähnlicher sozialer Schutz-Artikel findet sich in Art. 44 Abs. 1 Verfassungsentwurf der polnischen "Solidarität" (Juni 1994) sowie in Art. 47 Verfassungsentwurf Weissrußland (März 1994). S. auch Art. 52 Verf. Litauen, zit. nach JöR 44 (1996), S. 360 ff: "The State shall guarantee the right of citizens to old age and disability pension." 1204 Zit. nach Menschenrechte, Ihr internationaler Schutz, 2. Aufl. 1985. 1205 Vgl. Art. 25 Nr. 1 Allg. Erkl. MenschenR der UN von 1948; s. auch Präambel der Verfassung der französischen Republik von 1946: "Jeder Mensch, der wegen seines
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Brasilien ist weit und doch wurde er in wenigen Jahren zurückgelegt. In Sachen "Alter" scheint sich der Wachstumprozeß bzw. die Textstufenentwicklung des Verfassungsstaates als Typus beschleunigt zu haben - entsprechend der Dringlichkeit des Problems. Nimmt man alle Erscheinungsformen des neuen Verfassungsrechts zum Thema "Alter" vorläufig zusammen, so hat man bereits ein recht intensives und extensives "Angebot" an Textvarianten und Textalternativen vor Augen. Teils sind sie ein "Konzentrat" dessen, was in vielen Verfassungsstaaten schon erreicht ist - auf einfachgesetzlicher Ebene, etwa im System der sozialen Sicherheit -, teils umschreiben sie Verfassungsaufträge, die in Zukunft erst noch zu erfüllen sind. Beides ist Anlaß genug, Alter als Problem des Verfassungsstaates auf dem Hintergrund des Beispielsmaterials der Texte prinzipiell zu untersuchen, verfassungstheoretisch und besonders kulturwissenschaftlich. Denn in den Texten steckt schon mehr Aussagekraft als bei einem oberflächlichen Blick erkennbar ist; vor allem liefern sie "Beweismaterial" eigener Art, das von der Wissenschaft auszuwerten ist. Soweit ersichtlich, ist sie hier wieder einmal im Verzug. (2) Gesetzestexte Das einfache Gesetzesrecht nimmt auf die verschiedenen Altersstufen vielfältig Bezug. Eine Tafel "Lebensalter im Recht" 1 2 0 6 führt z.B. vom 6. Lebensjahr (Schulpflichtbeginn) über das 10. (Anhörungsrecht zum Bekenntniswechsel, §§ 2, 3 G über die religiöse Kindererziehung) zum 14. Lebensjahr (bedingte strafrechtliche Verantwortlichkeit, §§1,3 JGG), vom 18. Lebensjahr (Volljährigkeit, § 2 BGB) zum 25. Lebensjahr (Mindestalter für Adoptionen und das Schöffenamt, das als Altersgrenze das 70. Lebensjahr kennt, vgl. § 33 Ziff. 2 GVG) 1 2 0 7 . Erwähnt sei aber auch das 40. Lebensjahr (im Volksmund: "Schwabenalter" genannt), das Richter des BVerfG vollendet haben müssen, Alters, seines körperlichen oder geistigen Zustandes... arbeitsunfähig ist, hat das Recht, von der Gemeinschaft angemessenen Unterhalt zu erhalten...".- Art. 53 Abs. 3 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Der Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, dem Schutz der Mutterschaft, der Versorgung gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche... dient eine dem ganzen Volk zugängliche Sozial- und Arbeitslosenversicherung".- Ähnlich Art. 46 Verf. Saarland von 1947. 1206 Vgl. etwa Brockhaus Enzyklopädie 1. Band, Mannheim 1986, S. 426; T. Ramm, Jugendrecht, 1990, S. 13 ff. Neu ist das kommunale Wahlrecht für Jugendliche ab 16 Jahren in Niedersachsen (1996). 1207 S. auch die Altersgrenzen in §§ 25 BRRG, 41 BBG, 45 SoldG, 5 BundespolizeibeamtenG.- Zu "Altersgrenzen in Tarifverträgen" gleichnamig W. Gitter/D. Boerner, RdA 1990, S. 129 ff. und H.-D. Steinmeyer, RdA 1992, S. 6 ff. 68 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
(vgl. § 3 Abs. 1 S. 1 BVerfGG), und das GG verlangt dieselbe Altersstufe vom Bundespräsidenten (Art. 54 Abs. 1 S. 2). Das einfache Recht befaßt sich z.B. in §1571 BGB mit dem Unterhalt des geschiedenen Ehegatten wegen Alters 1 2 0 8 . Im Arbeits- und Sozialrecht finden sich viele altersbezogene Regelungen 1209 . Es gibt im deutschen Recht zwar ein Mutterschutz-, ein Schwerbehindertenund ein Jugendarbeitsschutzgesetz, aber kein entsprechendes "Altersschutzgesetz". Nur in einzelnen Gesetzen finden sich spezielle Schutznormen 1210 .- Auf den Ältestenrat (§ 6 ff. GeschOBT) und den Alterspräsidenten (§ 1 Abs. 2 ebd.) sei verwiesen. Inkurs: Parteiprogramme in Deutschland Verfassungstexte und Verfassungsprobleme haben ihre "Vorgeschichte". Sie begegnet in vielerlei Gestalt, z.B. in Form von Programmen politischer Parteien, Denkschriften der Kirchen, Memoranden u.ä. An vielen Themen ließe sich zeigen, daß Denkschriften der beiden Kirchen in Deutschland sensible Frühindikatoren, "platonische" Vorstufen für werdende Verfassungsprobleme waren und sind. Eine intensive, sehr reale Vorstufe für Verfassungstexte bilden aber 1208 S. auch § 1578 Abs. 3 BGB: Unterhalt umfaßt auch "Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall des Alters". 1209 So im Kündigungsschutz: bei betriebsbedingter Kündigung ist das Alter des Arbeitnehmers ein abwägungs-relevanter sozialer Gesichtspunkt (§ 1 Abs. 3 KSchG; das Alter ist relevant für die Höhe der Abfindung (§ 10 Abs. 2 KSchG); s. femer das Vorruhestandsgesetz und §§ 19 a, 19 b SGB I (Vorruhestandsleistungen), G zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand ("AltersteilzeitG" vom 20. Dezember 1988, BGBl. I 2348), G über eine Altershilfe für Landwirte (G vom 14. September 1965, BGBl. I 1449), G zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. Dezember 1974 (BGBl. I 3610). Zu den Altersgrenzen (normale: 65 J, flexible: 63 J, vorgezogene 60 J.): W. Gitter, Sozialrecht, 3. Aufl., 1992, S. 175 f. 1210 Vgl. etwa § 75 Abs. 1 S. 2 BetrVG: keine Benachteiligung von Arbeitnehmern wegen Überschreitung bestimmter Altersstufen; § 80 Abs. 1 Nr. 6 ebd.: Betriebsrat hat die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer im Betrieb zufördern; § 14 BSHG (Kosten für angemessene Alterssicherung als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt), § 75 ebd.: besondere zusätzliche Altenhilfe; § 19 AbgG (Altersentschädigung, wenn Abgeordneter das 65. Lebensjahr vollendet und dem Bundestag 6 Jahre angehört hat). Schutzcharakter hat auch das Heimgesetz (zu seiner Novellierung 1990: E. Wiedemann, NJW 1990, S. 2237 f.). Auf Bundesebene ist ein "Altenpflegegesetz" in Arbeit (ebd. S. 2238)- vgl. jetzt die Pflegeversicherung. In der Rspr. des BVerfG finden sich zahlreiche Entscheidungen, die mit altersrechtlichen Fragen zu tun haben, z.B. E 9, 338 (Altersgrenze für Hebammen); E 64, 72 (Altersgrenze für Prüfungsingenieure); E 35, 23 (Emeritierungsbezüge); E 67, 1 (Herabsetzung des Emeritierungsalters); E 30, 90 (Kürzung des Besoldungsdienstalters); E 31, 94 (Kürzung des Witwengeldes einer jüngeren Witwe); E 25, 314 (Altershilfe für Landwirte); E 68, 311 (betriebliche Altersversorgung); E 80, 257 (Höchstalter); E 81, 156 (Altersruhegeld).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen die Programme politischer Parteien, gehen sie doch auf reale Bedürfnisse der Menschen gezielt und werbend ein. Sie gleichen oft "Materialien" für werdende Verfassungstexte. Beim Umwelt-Thema ließe sich dies besonders deutlich nachweisen. Die Verfassungslehre als Wissenschaft muß grundsätzlich bereit und in der Lage sein, derartige Programme systematisch in ihre "Vor-Arbeiten" einzubeziehen 1211 . Zwar gibt es in Deutschland noch keine eigene Alten-Partei, die "Grauen Panther" blieben 1990 erfolglos. Doch finden sich in einzelnen Programmen wachsend Problemhinweise und "Spuren-Elemente" zum Thema. Ja, es zeigt sich, wie das Thema "Alter" in den Programmen der politischen Parteien im Laufe der Zeit immer größeren Raum einnimmt und sich zu Stichworten verdichtet, die Jahrzehnte vor den Verfassungstextgebern Wesentliches auf den Punkt gebracht haben. Man darf von einer "Entwicklungsgeschichte" des Problems Alter im Spiegel der Parteiprogramme sprechen, denen gegenüber die Verfassungstexte erst mit beträchtlicher Phasenverzögerung "nachziehen". Im einzelnen: In der Frühzeit der bundesdeutschen Parteien fordern die "Politischen Leitsätze" der SPD von 1946 1212 (unter IV) eine einheitliche Sozialversicherung "zur Vorsorge gegen wirtschaftliche Folgen von Alter und Unfällen". Die CDU formuliert in ihrem "Hamburger Manifest" von 1957: "Die Politik der Union dient dem Wohle aller Schichten unseres Volkes in Stadt und Land, den Männern und Frauen, den Jungen und Alten". Für den Bildungsbereich wird im "Berliner Programm" von 1971 gefordert, daß "im Rahmen ihrer Altersstufe die Begabungen und Fähigkeiten ein individuell zu nutzendes Angebot vorfinden" sollen (Ziff. 29), auch die Erwachsenenbildung ist betont (Ziff. 39), ebenso die betriebliche Altersversorgung (Ziff. 97). Im Rahmen der Postulate zur Kriegs- und Wehrdienstopferversorgung heißt es (Ziff. 103): "Dabei ist den sich aus dem steigenden Lebensalter von Beschädigten, Kriegswitwen und Kriegseltem ergebenden Bedürfnissen Rechnung zu tragen". In der Frühzeit spricht immerhin die CSU in ihrem Gesamtprogramm von 1946 (unter II 1) vom "Anspruch jedes einzelnen auf ausreichende Arbeit, auf
1211 Dazu etwa die Beispiele in meiner Studie: Verfassungsschutz der Familie, 1983, S. 36 ff; zum Grundsätzlichen meine Besprechung von K. Doehring in: DÖV 1980, S. 928 ff. 1212 Zit. nach R. Kunz/H. Maier/T. Stammen (Hrsg.), Programme politischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1975. Auch die folgenden Zitate stammen aus diesem Band.
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Familiengründung und ein sorgenfreies Alter" 1 2 1 3 . Die FDP nennt in ihren "Programmatischen Richtlinien" von 1946 ein "Menschenrecht auf Arbeit und auf Schutz der Alten, Schwachen und Kranken" (Nr. 4); ihr Berliner Programm von 1957 erwähnt die "Förderung der privaten und freiwilligen Altersvorsorge". Eine neue Periode beginnt Anfang der 70er Jahre. Das Wahlprogramm der SPD von 1972 formuliert: "Der Kernpunkt der Rentenreform ist die flexible Altersgrenze". Sie solle es dem Menschen ermöglichen, früher aus dem Arbeitsleben auszuscheiden, auch solle die betriebliche Altersversorgung reformiert werden. In ihrer Mannheimer Erklärung von 1975 umschreibt die CDU als "Neue soziale Frage" die Erkenntnis, daß die nichtorganisierten alten Menschen, Mütter mit Kindern oder die nicht mehr Arbeitstätigen" den organisierten Verbänden in aller Regel unterlegen seien (unter 2.2). Ebenda findet sich das Wort von der "Wahrung der Menschenwürde im Alter" 1 2 1 4 . In den 80er Jahren wird das Thema Alter neu und verstärkt akzentuiert 1215 . So steht im Wahlprogramm der CDU/CSU für die Bundestagswahl 1980 (unter Punkt 2.6):
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Im Grundsatzprogramm der CSU von 1957 heißt es (Ziff. II 9): "Der soziale Rechtsstaat muß für ein Alter ohne Not sorgen". S. auch das Wort vom durch Sozialrenten zu ermöglichenden "sorgenfreien Lebensabend". Bemerkenswert früh formulierte ein bayerischer Staatsminister Ziele einer "Altenpolitik", so P. Held, Der Staat und der ältere Mensch, in: Der ältere Mensch und das Recht, Tagung in Weltenburg, 1973, S. 8 ff. mit Forderungen wie: Altenhilfe muß vorrangig Hilfe zur Selbsthilfe sein, Altenpolitik muß sich aller alten Menschen annehmen, offene Altenhilfe ist auch Familienpolitik, Altenpolitik verlangt nach neuen finanziellen Prioritäten. 1214 Im Grundsatzprogramm der CDU von 1978 (zit. nach H. Maier, Parteien und Programme, 1979) heißt es: "Das Alter hat wie jede andere Lebensphase seinen eigenen Wert, eigene Bedürfnisse und eigene Verantwortung. Eine Gesellschaft ist nur dann human, wenn sie allen Mitbürgern ein gesichertes und sinnerfülltes Leben in einem der Menschenwürde entsprechenden Rahmen ermöglicht. Unsere Gesellschaft kann auf die Dienste und Leistungen älterer Menschen, ihre Urteilskraft, ihre Lebenserfahrung und Verständigungsbereitschaft in der Familie, im Rahmen der Nachbarschaftshilfe und im sozialen Bereich nicht verzichten. Älteren Menschen müssen mehr Felder der Betätigung erschlossen werden. Nicht Konflikt, sondern Verständnis muß das Zusammenleben von Jüngeren und Älteren bestimmen."- Die CSU schreibt in ihrem Grundsatzprogramm von 1977 (zit. nach H. Maier, aaO.): "Für die CSU ist der alte Mensch ein Staatsbürger, der seinen Beitrag für die Gesellschaft geleistet hat, immer noch leistet und gebraucht wird. Den alten Menschen muß eine selbständige und eigenverantwortliche Lebensführung ermöglicht werden. Der Familie kommt in der Betreuung alter Menschen eine Aufgabe zu, die ihr nicht einfach abgenommen werden kann. Moderne Altenhilfe muß vorrangig Hilfe zur Selbsthilfe und daher offene Hilfe sein." 1215 Die folgenden Zitate nach H. Heppel/G. Hirscher/R. Kunz/T. Stammen (Hrsg.), Programme der politischen Parteien, Ergänzungsband 1983.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "Die Union will den Generationenvertrag durch Wachstums- und umweltfreundliche Wirtschaftspolitik, eine neue und bessere Familienpolitik und eine verläßliche Rentenpolitik sichern". Zur "neuen sozialen Frage" wird gesagt (unter 2.7): "Die Zahl der hilfsbedürftigen und isolierten, der kranken und älteren Menschen wächst". Das Wahlprogramm der CDU/CSU von 1983 richtet sich noch stärker auf die älteren Mitbürger als Zielgruppe aus, in den Sätzen: "Wir brauchen die Solidarität der Generationen. Keine Generation lebt fîir sich allein. Wir haben der Nachkriegsgeneration, unseren Müttern und Vätern, viel zu danken... . Die Union ist der Anwalt der älteren Mitbürger... . Unsere älteren Mitbürger brauchen nicht nur eine gute Rente, sondern ebenso das Verständnis und die Zuwendung ihrer Mitmenschen, so wie wir Jüngeren nicht auf ihre Lebenserfahrung verzichten können. Wir wollen eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, in der die Generationen wieder mehr aufeinander zugehen und sich gegenseitig helfen. Eine Gesellschaft ist nur dann human, wenn sie allen älteren Mitbürgern ein gesichertes und sinnerfülltes Leben ermöglicht". Auch die SPD trägt ihre größer gewordenen Stichworte zum Alters-Thema bei. In ihrem Wahlprogramm 1983 heißt es (in Ziff. 16): "Deshalb kann ohne die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme die Generationensolidarität nicht erhalten werden. Eine entsprechende Konzeption muß auf soziale Ausgewogenheit und Verläßlichkeit der Generationensolidarität besonders achten". In Ziff. 38 ist noch dezidierter gesagt: "Den alten Menschen geben wir unser Wort: sie können sich darauf verlassen, daß wir den Vertrag der Generationen einhalten und weiter ausgestalten. Gerade sie spüren jeden Tag aufs neue, wie wichtig mehr Gemeinsamkeit, mehr Miteinander und mehr Menschlichkeit ist" 1 2 1 6 . Die FDP nimmt sich des Themas in ihrem Bundestags-Wahlprogramm von 1980 ebenfalls auf neue Weise und besonders ausführlich, ja prägnant an: "Das Alter aktiv erleben. Die Entwicklung der Industriegesellschaft hat zur Auflösung der Großfamilie in ihrem Drei-Generationen-Haushalt geführt. Dadurch ist eine weitgehende Trennung 1216
Die SPD trifft in ihrem kommunalpolitischen Grundsatzprogramm von 1975 (zit. nach H. Maier, aaO.) folgende Aussagen: "Wir müssen dafür sorgen, daß ältere Menschen gesellschaftlich gleichberechtigt anerkannt werden. Die Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben erfordert, alle diejenigen Einrichtungen und Dienste vorzuhalten, die geeignet sind, die altersbedingten Defizite abzugleichen. Sozialdemokratische Politik für die Senioren wird durch die Zielsetzung bestimmt, Hilfen für die Selbständigkeit zu bieten, nach Möglichkeit die Kontinuität der Lebenssituation zu gewährleisten...".
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von jung und alt erfolgt, die über die räumliche Distanz in vielen Fällen auch zu einem Rückgang der Beziehungen zwischen den Generationen geführt hat. Viele alte Menschen wurden durch diese Entwicklung isoliert. Die moderne Gesellschaft trägt eine große Verantwortung für die Teilhabe der alten Menschen am Leben in Arbeit und Freizeit. Liberale Politik für die Alten will Wege aufzeigen, um deren Isolation zu überwinden. Dabei ist für uns der Grundsatz der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung besonders wichtig. Um alten Menschen auch die materielle Basis für ein Engagement in eigener Sache zu geben, setzt sich die F.D.P. nach wie vor für eine Alterssicherung ein, die die finanzielle Grundlage für ein Leben in Würde und für individuelle Entfaltungsfreiheit garantiert." 1217 Das Grundsatzprogramm des DGB von 1981 formuliert im Abschnitt 16 (Ausbau des "Systems der sozialen Sicherung"): "Grundlage der Alterssicherung, die alle Erwerbstätigen einschließt, ist der Generationenvertrag. Um ihn zu gewährleisten, fordern die Gewerkschaften eine umfassende Pflichtversicherung aller Erwerbstätigen... . Als Gemeinschaftsaufgabe müssen neben der materiellen Sicherung im Alter Dienste und Hilfen bereitgestellt werden, die zur Lebensbewältigung erforderlich sind und den erweiterten arbeitsfreien Raum im Alter mit sinnvollem Leben erfüllen helfen. Es muß ein ausreichendes Angebot an Dienstleistungen vorhanden sein, das den älteren Menschen hilft, ihre Sozialbeziehungen aufrechtzuerhalten und ein Leben in Selbständigkeit zu führen. Dies erfordert auch ein solidarisches Verhalten der Mitmenschen."
1217 S. auch eine andere Aussage des FDP-Wahlprogramms 1980: "Ebenso wichtig ist die Teilhabe am Leben der Gesellschaft insgesamt. Alte, Kranke und Behinderte haben einen Anspruch darauf, nicht als Nummer in einer Versorgungsmaschine behandelt zu werden, sondern als Individuen mit eigener Persönlichkeit und allem Recht auf eigene Entscheidungen."- S. auch Wahlprogramm der FDP von 1980: "Kulturelle Bildungspolitik muß im gesamten Bereich der Bildung - von der frühkindlichen Erziehung bis zur Altenbetreuung - dazu beitragen, die verschütteten musischen Fähigkeiten, Phantasie und Kreativität freizulegen und zu fördern. In allen Institutionen, in denen Menschen über längere Zeit direkter staatlicher Betreuung unterliegen, ist Kultur vielseitig anzubieten bzw. sind vorhandene Initiativen zu fördern... . Dies gilt auch für die Bundeswehr, die Anstalten des Gesundheitswesens und der Altenpflege...".- Im Sofortprogramm der "Grünen" von 1983 heißt es: "Weil für viele ältere Arbeitskräfte ein früheres Ausscheiden aus anstrengender und ungesunder Arbeit sinnvoll und erstrebenswert ist, befürworten wir die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze... . Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit... ist für uns kein akzeptables Mittel zur Umverteilung der Arbeit...".- Im Programmentwurf der "Grünen" in der Fassung nach dem Parteitag in Saarbrücken im März 1980 (zit. nach H. Maier, Parteien und Programme, 1980) heißt es: "Abschieben in Altersheime, Isolierung von der sozialen Umwelt und zweitklassige Behandlung ist heute das Schicksal vieler alter Menschen. Wir treten für ein menschenwürdiges Altwerden ein und werden uns einsetzen, rechtlich-soziale und auch die baulichen Voraussetzungen zu schaffen, um ein Zusammenleben von verschiedenen Generationen zu schaffen."
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen c) Der kulturwissenschaftliche Ansatz: "Platz" und Schutz alter Menschen im Verfassungsstaat und seiner offenen Gesellschaft Die Bestandsaufnahme hat so viel Material zu Tage gefördert, daß im folgenden eine kulturwissenschaftlich-verfassungstheoretische Skizze unseres Themas gewagt werden kann. Da schon jetzt nicht wenig gelebter altersverfassungsrechtlicher "Stoff' vorliegt, sei es in Gestalt rudimentärer Verfassungstexte in vielen außerdeutschen Ländern, in einfacher Gesetzesform (auch bei uns) oder auch nur als Einzelpunkte in Parteiprogrammen oder in sonstigen "kulturellen Kristallisationen" (z.B. in Gestalt nichtjuristischer wissenschaftlicher Literatur), ist das Problem Alter so "präformiert", daß die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft mit einer Aufarbeitung beginnen kann. Getragen ist dies vom kulturwissenschaftlichen Konzept des Verfassungsstaates: Es arbeitet in und an Texten, ohne ihre Kontexte zu vernachlässigen; es arbeitet vor allem an einem aus der Geschichte und Rechtsvergleichung gewonnen Konzentrat dessen, was den Verfassungsstaat als Typus ausmacht 1218 . Die Verfassungstexte werden dabei als Problemhinweise verstanden, mitunter auch schon als Problemlösungen. Verfassungslehre als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" kann sich am Problem des Alters sogar besonders bewähren: weil hier vieles erst und noch kulturell im Werden ist, weil vieles eben noch nicht auf Texthöhe und Textbegrifflichkeit gebracht ist. Umso wichtiger wird das Vor-Arbeiten für neue - auszudifferenzierende - Texte. (1) Die kulturanthropologische Dimension Was der alte Mensch einem politischen Gemeinwesen "wert" ist und was dieses ihm bedeutet, läßt sich nur kulturanthropologisch erschließen. In Raum und Zeit variiert das Ansehen, der Rang, das Sozialprestige, die "Wichtigkeit" des Alters: man denke an die traditionell große Autorität der alten Menschen in der Kultur Chinas einerseits 1219 und den "Jugendkult" in den USA von heute andererseits, in denen sich der einzelne alte Mensch so schwer und ungern zu seiner spezifischen Würde bekennt und der junge (auch in der Konsumwelt) im Vordergrund steht. Man braucht nicht an die indische Witwenverbrennung oder an das Sterben des alten Indianers zu erinnern, um sich zu vergegenwärtigen, wie "relativ" bzw. kulturkreisbedingt die Wertschätzung des Alters war und ist.
1218 ρ
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage 1982. Dazu S. de Beauvoir , Das Alter, 1972, S. 77 f.; in Japan gibt es einen "Tag des Respekts vor dem Alter", vgl. FAZ vom 15. September 1997, S. 39. 1219
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Der politische Rang des "Senats" im klassischen Rom 1 2 2 0 gehört ebenso hierher wie die Autorität des Dorfältesten in Afrika oder die Herrschaft des Göttervaters Zeus in Griechenland. Der kulturanthropologische Ansatz ist heute, da auch die offene Gesellschaft durch eine bestimmte Kultur grundiert sein muß, der richtige - bei allen je verschiedenen nationalen Einfärbungen. Dies bedeutet, daß der Verfassungsstaat als Typus und in seinen jeweiligen nationalen Beispielformen ganz bewußt an die Kultur anzuknüpfen hat, um dem "Alter" gerecht zu werden. Da es aber der alte Mensch ist, der seinen Platz im politischen Gemeinwesen haben soll, kann es nur der kulturanthropologische Ansatz sein, der politisch wie wissenschaftlich weiterhilft. Der Verfassungsstaat basiert auf der Menschenwürde als kulturanthropologischer Prämisse, und diese Würde ist für jeden Menschen - auch jeder Altersstufe - gleich, so unterschiedlich die Schutzbedürftigkeit je nach Altersstufe sein mag. Das Menschenwürdekonzept 1221 ist also der theoretische Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Alter und zum Altern als Verfassungsproblem 1222. Eine Kulturgeschichte des Alters kann hier nicht vermittelt werden. Doch seien einige nichtjuristische Texte angeführt, die zum Ausdruck bringen, wel-
1220
Vgl. £ de Beauvoir , ebd., S. 96 f. Zur Menschenwürde mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR Bd. I (1987), S. 815 ff. sowie oben Sechster Teil VIII unter Ziff. 1. 1222 Wissenschaftliche Pionierleistungen enthält die (Rundfunk-)Vortragsreihe: "Der alte Mensch in unserer Zeit", Kröner Verlag 1966, mit Beiträgen wie "Lob des Alters" (T. Litt), "Altsein als Aufgabe" (E. Spranger). Schon 1957 fanden in Kiel "Universitätstage" zum Problem des Alters statt, vgl. F. Blättner, Vom Sinn des Alters, 1957. Wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswert ist, daß es sehr heterogene Foren waren, die sich des Themas bei uns zunächst annahmen.- Aus der nicht-juristischen wissenschaftlichen Literatur: H. und H. Reimann, (Hrsg.), Das Alter, Soziale Probleme 1, 1974, mit Beiträgen u.a. über "Alter und Altem in industrieller Gesellschaft", "Interaktion und Kommunikation im Alter", "Psychische Probleme des Berufsaustritts", "Moderne Formen der offenen Altershilfe". S. etwa U. Lehr, Psychologische Aspekte des Altems, in: H. und H. Reimann, (Hrsg.), aaO., S. 103 ff.- Bemerkenswert aus der jüngeren Lit.: H. Franke, Das Altersantlitz, Medizinische, kosmetische, psychologische und kunsthistorische Aspekte, 1990; M. Steinhardt, Altem, 1990.- Als Klassiker darf wohl gelten: S. de Beauvoir, Das Alter, 1972, mit der These (S. 184 ff): "Alle Welt weiß es: die Lage der alten Menschen ist heutzutage skandalös", aber auch (S. 464): "Wollen wir vermeiden, daß das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung, nämlich weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben einen Sinn verleihen: das hingebungsvolle Tätigsein für einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit."- Interdisziplinär ist der Band: H. Konrad (Hrsg.), Der alte Mensch in der Geschichte, 1982.- S. weiterhin P. Borscheid, Geschichte des Alters, vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert, 1987 (TBAusg. 1989); M.J. Flessner, Ältere Menschen, demographische Alterung und Recht, 1996; E. Jaeggi, Viel zu jung, um alt zu sein, 1996. 1221
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che menschlichen Probleme Altern und Alter mit sich bringen. So wie es legitim ist, die Dichter zu befragen, was das Eigene, Besondere des Sonntags aus1223
macht , darf eine kulturwissenschaftliche Behandlung des Alters als Verfassungsproblem auch bei Nicht-Juristen nachfragen. Große Literatur findet sich bei Cicero (De senectute) 1224 , große Literatur zum Thema Alter ist Shakespeares "King Lear" 1 2 2 5 . Goethe knüpft daran an, wenn er ein Gedicht beginnen läßt mit den Worten: "Ein alter Mann ist stets ein König Lear!" F. Hölderlin sagte: "In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh, des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin, beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch heilig und heiter ist mir sein Ende." Die Idee einer Gemeinschaft von jung und alt klingt an in P. Heyses Vierzeiler: "Soll das kurze Menschenleben immer reife Frucht dir geben, mußt du jung dich zu den Alten, alternd dich zur Jugend halten". Hoffnung scheint für den alten Menschen auf in Goethes Dictum: "Der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag, ein letztes Glück und einen letzten Tag." Versöhnlich stimmt auch die Erkenntnis von S. de Beauvoir: "Altern heißt, sich über sich selbst klar werden und sich beschränken" 1226 . 1223
Vgl. P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988, S. 58 f.; konsequent sind nun auch in den Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche, Der Schutz der Sonn- und Feiertage, 24 (1990), S. 222 ff. "Gedichte zum Sonntag" mit abgedruckt. Vgl. oben Ziff. 11 b. 1224 Vgl. M.T. Ciceronis Cato Major De senectute, zit. nach Tusculum Bücherei, 1980, mit so klassischen Einsichten wie "Lob der Philosophie: Wer ihr ergeben ist, kann jedes Lebensalter ohne Kummer verbringen" (S. 9), "alle wünschen es zu erreichen (sc. das Alter); haben sie es dann erreicht, dann beklagen sie sich darüber" (S. 11), "wer nämlich im Alter anspruchslos, leutselig und freundlich ist, der kann es ganz gut aushalten" (S. 15), "Die besten Waffen gegen die Beschwerden des Alters, ... sind die Wissenschaften und die praktische Verwirklichung sittlicher Werte." (S. 17).- Die These von Terenz (150 v.Chr.) "Senectus ipsa morbus" wird heute für falsch erachtet (vgl. H. Kaiser, Biologie des Alters, in: H. und H. Reimann, (Hrsg.), Das Alter, Soziale Probleme 1, 1974, S. 159 (162)).- Vgl. U. Lehr, Psychologische Aspekte, in: H. und H. Reimann, (Hrsg.), Das Alter, aaO, S. 103 (118): "Jede Form von Altershilfe sollte nie eine Passivität des Älteren begünstigen, sondern vielmehr Hilfe zur Eigenaktivität sein." - In der Tradition Ciceros jetzt N. Bobbio, De senectute, 1996. 1225 Zu Shakespeare bzw. seinem King Lear: S. de Beauvoir , Das Alter, 1972, S. 141 f.: "Das Alter wird nicht als Grenzfall des menschlichen Daseins gewertet, sondern als seine Wahrheit: von ihm aus ist der Mensch und sein irdisches Abenteuer zu begreifen." 1226 S. de Beauvoir , Der Lauf der Dinge, 1966, S. 620.
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Gibt es von I. Kant eine wahrlich philosophische Sentenz 1227 , so von F. von Logau eine ironische 1228 , auch von La Rochefoucauld 1229 und Nestroy 1230 . Spezifischen Sinn gewinnt etwa Hermann Hesse 1231 dem Alter ab.
/. Kant, Werke in 6 Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Band 6, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 1964, IV, S. 376: "Im Alter sich zu pflegen oder pflegen zu lassen, bloß um seine Kräfte, durch die Vermeidung der Ungemächlichkeit (z.B. des Ausgehens in schlimmem Wetter) oder überhaupt die Übertragung der Arbeit an andere, die man selbst verrichten könnte, zu schonen, so aber das Leben zu verlängern, diese Sorgfalt bewirkt gerade das Widerspiel, nämlich das frühe Altwerden und Verkürzung des Lebens." 1228 Friedrich v. Logau, Das menschliche Alter, zit. nach Echtermeyer/B.ν. Wiese (Hrsg.), Deutsche Gedichte, 1956, S. 88: "Ein Kind weiß nichts von sich, ein Knabe denket nicht,/ Ein Jüngling wünschet stets, ein Mann hat immer Pflicht,/Ein Alter hat Verdruß, ein Greis wird wieder Kind:/ Schau, lieber Mensch, was dies für Herrlichkeiten sind." 1229 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, Reclam (UB 678), 1977, S. 16: "Die Greise geben gern gute Lehren, um sich darüber zu trösten, daß sie nicht mehr imstande sind, schlechte Beispiele zu geben." Ebd., S. 64: "Das Alter ist ein Tyrann, der uns die Freuden der Jugend bei Todesstrafe verbietet."- S. auch Vauvenargues, Reflexionen und Maximen, in: Die französischen Moralisten, TB 1974 (2 Bde.), hrsg. v. Fritz Schalk, Bd. 1, S. 172: "Die düsteren und kalten Herbsttage sind ein Symbol des nahenden Alters; es gibt nichts in der Natur, das nicht ein Gleichnis des menschlichen Lebens wäre, denn das menschliche Leben ist selbst ein Bild aller Dinge, und das ganze Universum ist von einheitlichen Gesetzen beherrscht." 1230 IN. Nestroy, Umsonst (1857 1/5), zit. nach G. Ried (Hrsg.), Nestroy-Brevier, 1981, S. 86: "Das ist ja das Vergnügen der alten Tage, daß man alles besser einsieht, daß man sich einbild't, g'scheiter zu sein, und daß man sich mit dem Gedanken foppt: wenn ich noch einmal jung werd', jetzt tät' ichs anders handeln.- Dieses Vergnügens beraubte man sich offenbar, wenn man in der Jugend schon gescheit und vernünftig wär\" 1231 Hermann Hesse, Über das Alter, in: Mit der Reife wird man immer jünger, 1990, S. 68 ff. (68 f.): "Kurz gesagt: um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muß man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muß Ja dazu sagen. Ohne dieses Ja, ohne Hingabe an das, was die Natur von uns fordert, geht uns der Wert und Sinn unserer Tage - wir mögen alt oder jung sein - verloren, und wir betrügen das Leben."- Hermann Hesse, Mit der Reife..., aaO., S. 37: "Altem"/ "So ist das Altem: was einst Freude war,/ wird Mühsal, und der Quell rinnt trüber,/ Sogar der Schmerz ist seiner Würze bar -/ Man tröstet sich: bald ists vorüber./ Wogegen wir uns einst so stark gewehrt:/ Bindung und Last und auferlegte Pflichten,/ Hat sich in Zuflucht und Trost verkehrt:/ Man möchte doch ein Tagwerk noch verrichten./ Doch reicht auch dieser Bürgertrost nicht weit,/ Die Seele dürstet nach beschwingten Flügen./ Sie ahnt den Tod, weit hinter Ich und Zeit,/ Und atmet tief ihn ein in gierigen Zügen."- Hermann Hesse, Mit der Reife..., aaO., S. 22: "Altwerden"/ "All der Tand, den Jugend schätzt,/ Auch von mir ward er verehrt,/ Locken, Schlipse, Helm und Schwert,/ Und die Weiblein nicht zuletzt./ Aber nun erst seh ich klar,/ Da für mich, den alten Knaben,/ Nichts von allem mehr zu haben./ Aber nun erst seh ich klar,/ Wie dies Streben weise war./ Zwar vergehen Band und Locken/ Und der ganze Zauber bald;/ Aber was ich sonst gewonnen,/ Weisheit, Tugend, warme Socken,/ Ach, auch das
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen (2) Die verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche Dimension Die kulturwissenschaftliche Dimension ist zunächst auf einer eher abstrakten Ebene angesiedelt, konkreter muß jetzt die - mit ihr verknüpfte - verfassungstheoretische Fragestellung bis hin zum positiven Verfassungsrecht des Alters im Verfassungsstaat werden. Dabei ist das rechtsvergleichend gewonnene Beispielsmaterial zu integrieren: es gibt bereits gute Hinweise auf Probleme und Problemlösungen des "Verfassungsrechts des Alters". Zwei Prinzipien sind es, die in ihrer den Verfassungsstaat fundierenden Kraft auch das theoretische "Raster" für das Problem "Alter" liefern: die Menschenwürde und das Verständnis der Verfassung als Vertrag. Zunächst zur Menschenwürde: Menschenwürde als Verfassungsprinzip begründet das Zusammenleben im politischen Gemeinwesen für jeden Menschen, ob schwarz oder weiß und - eben - jung oder alt. Die verfassungsstaatliche Demokratie ist die „menschenwürdigste Staatsform". Der Verfassungsstaat hat einen spezifischen rechtlich umzusetzenden Schutzauftrag in bezug auf die Menschenwürde von jedermann. Ihm ist der alte und der junge Mensch gleich (viel) wert, der Verfassungsstaat muß "Heimstatt aller Bürger" sein. Die konkrete Schutzbedürftigkeit der Menschenwürde via einzelner Rechtsnormen variiert in Raum und Zeit. Entscheidend ist nur, daß das personale Schutzdenken als "Direktive" allen Rechts wirkt 1 2 3 2 . Immer dann und überall da, wo angesichts neuer Entwicklungen Menschenwürdeschutz notwendig wird, ist der Verfassungsstaat und sein Recht gefordert. Mag es seiner früheren Text- und Entwicklungsstufe entsprechen, daß nur der junge Mensch besonders schutzbedürftig war, so kommt es heute dazu, daß (auch) der ältere Mensch gerade in offenen Gesellschaften schutzbedürftig geworden ist: etwa weil die Familie als "Schutzraum" schwächer wird, im Zuge der Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie sogar ganz ausfällt oder schlicht deshalb, weil rein physisch gesehen die Menschen ein höheres Alter erreichen als früher, oder auch, weil die soziale Marktwirtschaft den älteren Menschen ebenso voreilig wie brutal "ausscheidet" - da sie offenbar seine spezifischen Qualitäten selbst in ihren Arbeitsprozessen noch nicht erkannt hat oder mit Hilfe von vorgezogenen Ruhe-
ist bald zerronnen, / Und auf Erden wird es kalt./ Herrlich ist für alte Leute/ Ofen und Burgunder rot/ Und zuletzt ein sanfter Tod -/ Aber später, noch nicht heute!". 1232 Zu diesem "Direktiven"-Verständnis P. Lerche, z.B. Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff: "Die Grundsätze inmitten der dirigierenden Verfassung"; ders., Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1985), S. 341 ff- Zum "personalen Schutzdenken" bzw. zur Maxime "grundrechtssichernder Geltungsfortbildung": P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (74).
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standsregelungen dem Problem der Arbeitslosigkeit zu Leibe rücken will. (Erst heute bahnt sich ein Umdenken an.) Darum also die immer häufiger werdenden Altersschutzklauseln in neueren Verfassungen und Verfassungsentwürfen. Sie sind eine gerechte "Reaktion" des Verfassungsstaates auf neue Probleme bzw. Gefahren (wie man ja "Verfassung" überhaupt als "Schutz des Schwachen" denken mag). Die individuelle Biographie des mit gleicher Menschenwürde begabten Menschen hat sich im Laufe der Zeit bis heute gewandelt, der Verfassungsstaat antwortet hierauf, und er soll hierauf mit seinen Mitteln und Medien, mit seinen inhaltlichen und prozessualen Prinzipien antworten. Das "Verfassungsrecht des Alters" ist so gesehen Menschenwürde-Recht und es muß sich in seinen variablen Textstufen dementsprechend weiterentwickeln: sensibel, einfallsreich, gerecht. A l l dies geschieht zugleich um des Du-Bezugs allen Verfassungsrechts und aller Freiheit willen: Der ältere Mensch ist auch und gerade in der offenen Gesellschaft ein "Nächster". Die "Rechte des anderen" (i.S. etwa von Art. 2 Abs. 1 GG) meinen auch die Rechte des anderen als Älteren. Der Sozialbezug der Freiheit, die von vornherein ein Miteinander der Menschen meint und dies im Menschenbild des GG anspricht 1233 , ist auch ein solcher zu älteren Menschen hin. Sie dürfen sich nicht ausgegrenzt fühlen und sie dürfen nicht ausgegrenzt werden: weder rechtlich noch sozialpsychologisch. Sie verlören sonst ihre Identität, d.h. ihre Würde. Damit ist die Richtung zum zweiten Theorie-Ansatz gewiesen, der kulturanthropologisch neben (bzw. mit) der Menschenwürde das Verfassungsrecht des Alters "dirigiert". Es ist der verfassungsvertragstheoretische bzw. das Paradigma vom "Generationenvertragder seinerseits nichts anderes als den in die Zeitachse gedachten klassischen Gesellschaftsvertrag darstellt. Verfassung ist ein "immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller". Was sich an Kontraktuellem in der Wirklichkeit der offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates nachweisen läßt, wenn auch in nationaler Unterschiedlichkeit - man denke an die "Konkordanzdemokratie" der Schweizer "Eid-Genossenschaft" hier, an die scharfe Mehrheitsdemokratie Großbritanniens dort -, hat vor allem seine theoretische Bedeutung. Seit I. Kant ist der Gesellschaftsvertrag als Fiktion ein maßgeblicher Gedanke für die (Re)Konstruktion des Staates. Die Verfassungstheorie heute muß ihren Gegenstand, den Verfassungsstaat, so denken und bauen, "als ob" er auf Vertrag beruhe - auf einem sich ständig erneuernden Vertrag i.S. des "plébiscite de tous les jours" (A. Renan). Dieser vertragstheoretische Ansatz kann sich neuerdings auf J. Rawls Gerechtig1233 Dazu meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; s. auch D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen keitslehre und auf daran anknüpfende Entwürfe stützen 1234 . Er ist Ausdruck der Menschenwürde als kulturanthropologischer Prämisse des Verfassungsstaates, als deren organisatorische Konsequenz sich die Demokratie - Staatsform der Freien und Gleichen - darstellt. Die vertragstheoretische Konstruktion wurde herkömmlich klassisch "punktuell" gedacht, d.h. nicht spezifisch in die Zeitdimension erstreckt. Dieses Denken aber steht heute an: der Generationenvertrag versinnbildlicht es 1 2 3 5 . Im Sozialversicherungsrecht längst geläufig und ständig praktiziert, bildet der Generationenvertrag m.E. das Theorie-Raster, aus dem und in dem heute die Verfassungsprobleme des Alters zu behandeln sind. Es ist nur zu verallgemeinern: die Programme mancher politischer Parteien sind diesen Weg bereits gegangen. Die gelebte Verfassung umschließt alle lebenden Bürger, vielleicht sogar die "werdenden", z.B. noch ungeborenen Kinder. Jedenfalls ist Verfassung auch ein "Generationenvertrag": zwischen Jung und Alt, zwischen allen einzelnen Altersstufen 1236 . Die Vertragskonstruktion ist ein Mittel, Gerechtigkeit allen Beteiligten zu sichern. Das muß sie auch in der Zeitachse leisten, d.h. zwischen den Generationen. Jede kann - und soll - ihren spezifischen - kulturellen - Beitrag erbringen. Auch die junge Generation wird einmal alt, auch die ältere war einmal jung (Eigennutz und Nächstenliebe verschränken sich also!). Trug die ältere vordem die "Lasten" des Jugendschutzes, muß später die jüngere Generation die "Lasten" des Altenschutzes übernehmen. Es geht um Herstellung von Gerechtigkeit zwischen den Generationen ganz allgemein, wie sie eben im Sozialversicherungsrecht bereichsspezifisch verwirklicht wird und heute in Deutschland in der Pflegeversicherung geglückt ist. Die Integrierung der älteren Menschen sollte als Gewinn für die "Verfassung als Kultur" verstanden werden - Lebenserfahrung, Lebensleistung, Maß, ja Weisheit, sind menschliche Beiträge, die in einer humanen Gesellschaft unverzichtbar bleiben. Der Verfassungsstaat und seine Gesellschaft sollten versuchen, diese Zusammenhänge ins allgemeine Bewußtsein zu heben und entsprechende Formen und Verfahren zu entwickeln, die dem gerecht werden: Das 1234 P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (372 ff.); P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff; P. Koller, Neue Theorie des Sozialkontrakts, 1987; R. Saage, Vertragsdenken und Utopie, 1989; G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992. 1235 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Peisl/Mohler, Die Zeit, 1. Aufl. 1983, S. 289 (335 ff.), 3. Aufl. 1992, S. 289 (335 ff.) sowie hier Sechster Teil V. 1236 Vgl. schon Adam Müller, zit. nach H. von Hofmannsthal, Buch der Freunde, 1965, S. 65: "Der Staat ist eine Allianz der vorangegangenen Generationen mit den nachfolgenden und umgekehrt" (1809).
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Verfassungsrecht des Alters könnte sich so herausbilden. Leitgedanke ist die schlichte Einsicht, daß sich jung und alt wechselseitig brauchen. An die Vorbildfunktion Älterer sei erinnert. Gerechtigkeit zwischen den Generationen stellt sich nicht von allein her, sie muß täglich erarbeitet, vielleicht sogar erkämpft werden; letzteres im politischen Streit; insofern haben Parteien wie die "Grauen Panther" sogar begrenzte Daseinsberechtigung, auch wenn es im Verfassungsstaat besser wäre, wenn sich alle politischen Parteien (schon programmatisch) um das Alter kümmerten, um offenen oder verdeckten Klassenkampf zwischen den Generationen zu vermeiden. Im übrigen muß sich die Verfassungslehre, die ja die Rechts- und Staatsphilosophie zu integrieren hat 1 2 3 7 , auf die Gerechtigkeitslehren seit der griechischen Antike besinnen, etwa auf Aristoteles "ausgleichende" und "austeilende" Gerechtigkeit. Sie ist eine Direktive bei der Gestaltung des Verfassungsrechts des Alters und des dieses konkretisierenden einfachen "Altersrechts". Verfassungsrecht des Alters ist ein Stück "Zwischengenerationenrecht" . Wie Gerechtigkeit zwischen jung und alt herzustellen ist, muß abgesehen von den erwähnten Direktiven der Verfassung in den Kontroversen der offenen Gesellschaft ausgetragen werden. Die Verfassungslehre kann hier nicht zu weit ins Konkrete gehen. Einige theoretische Vorgaben - unterfüttert durch das bislang vorliegende Rechtstext-Material - sind indes zur Sprache gebracht worden. (Hierher gehört auch der „Familienlastenausgleich": BVerfGE 82, 60 (81 f.)). Der Generationenvertrag ist denkbar weit und tief zu verstehen. Er stellt sich als ein kultureller Generationenvertrag dar. Vielleicht kann man sogar die Aussage wagen, die Kultur eines verfassungsstaatlich konstituierten Volkes ist ein Generationenvertrag. Das Volk lebt aus den Generationen einschließlich der Ungeborenen 1238 , aber auch der Verstorbenen. Man vergegenwärtige sich, wie die bisherigen kulturellen Leistungen Handwerk, Kunst und Wissenschaft prägen, wie sie im "kollektiven Gedächtnis" gespeichert sind und als "kulturelle Kristallisationen" die einzelnen Menschen und Bürger, aber auch das Volk im ganzen sozialisieren und einbinden. Der kulturelle Generationenvertrag verknüpft etwa Meister und Gesellen, wissenschaftliche Lehrer und Schüler ganz konkret und persönlich; die Hervorbringungen von kulturellen Freiheiten, die 1237
Dazu mein Diskussionsbeitrag in: VVDStRL 47 (1989), S. 74 f. sowie die Abhandlung Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, in: FS Kitagawa, 1992, S. 179 ff. 1238 Daß die ungeborenen kommenden Geschlechter bereits von Verfassungs wegen zu schützen sind, illustriert die Diskussion um die spätere Generationen gefährdende Lagerung von Atommüll und die übermäßige Staats Verschuldung: zu diesen Beispielen - auch verfassungstheoretisch - vgl. meinen Münchner Vortrag: Zeit und Verfassungskultur, aaO., S. 335 ff sowie Sechster Teil V.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Werke, verbinden aber auch abstrakt und objektiv. So gesehen ist der hier aktualisierte Generationenvertrag zwischen jung und alt nur ein Teilaspekt sehr viel weitreichenderer und tiefergründender Zusammenhänge. Eben dies gibt ihm aber auch Legitimation. Das Generationen-Band darf freilich nicht überanstrengt werden, weder ökonomisch noch sozialpsychologisch oder ganz allgemein kulturell. Überfordern die Älteren die Jüngeren mit unbescheidenem Anspruchsdenken, droht das Band bzw. der Bund zu zerbrechen. Konkret heißt dies: Aggressivität der "Grauen Panther" führt zu entsprechenden Reaktionen auf Seiten der Jugend und umgekehrt. Im übrigen sei auf die den neueren Verfassunggebern in Gestalt von Umweltschutzklauseln bewußt gewordene Generationenperspektive verwiesen 1239 . d) Differenzierte Verfassungspolitik für das Alter: Textvarianten und -alternativen Die Verfassungslehre hat eine eminent politische Dimension, konkret heißt dies, sie muß Textalternativen und -Varianten bereithalten, "wissenschaftliche Vorratspolitik" leisten, um praktisch das jeweilige Thema auf ihrem Forum zu verarbeiten. Die Frage lautet: In welcher Form, in welchen Rechtsfiguren, an welchem systematischen Ort ist das Thema "Alter" verfassungstextlich wie zu gestalten? Hier einige Vorschläge: Zu denken ist an eine Altenschutzklausel, systematisch in der Nähe der Menschenwürdegarantie - das entspräche der Erkenntnis, daß das Alter in seiner Würde geschützt werden muß, daß die Menschenwürde im Alter ganz spezifischen Gefahren ausgesetzt ist, gegen die sich das politische Gemeinwesen auf seiner höchsten Stufe eben schon in der Form eines Verfassungstextes schützen muß 1 2 4 0 . In jedem Fall sollte eine Altenschutzklausel innerhalb des Grundrechtsteils vorgesehen werden. Denkbar wäre, Altenschutz als Pendant zum Jugendschutz zu normieren - als normale, aber heute zunehmend gefährdete
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Zu den vielfältigen Textfiguren des neuen Umweltschutzverfassungsrechts mit Klauseln wie "eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen" (vgl. Art. 141 Abs. 1 S. 1 n. F. Verf. Bayern) vgl. P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 (318, 419 ff.). Jetzt Art. 74 Abs. 1 Verf. Polen (1997): „Politik, die den jetzigen und künftigen Generationen ökologische Sicherheit gewährleistet". Oben Sechster Teil V. 1240 Vorbildlich insofern Art. 23 Abs. 1 Privatentwurf Riege Verf. Thüringen von 1990 (zit. nach JöR 39 (1990), S. 468 ff.): "Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung. Jeder hat das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein."
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Phase in der Biographie des Menschen 1241 . Schließlich kann das Alter in den Katalog der Diskriminierungsverbote aufgenommen werden - ein Beispiel liefert Art. 1 Abs. 2 VE Runder Tisch (1990) 1 2 4 2 : "Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung..., seiner sozialen Stellung, seines Alters, seiner Behinderung... benachteiligt werden". Derselbe Verfassungsentwurf hat auch eine beispielhafte Textvariante geschaffen, indem er im Kontext des Rechts auf Leben (Art. 4 Abs. 1) von der Achtung "der Würde im Sterben" spricht 1243 . Neben dieser eher allgemeinen Thematisierung des Alters kommen in verfassungsstaatlichen Verfassungen zwei speziellere Problembereiche in Frage: zum einen das Kulturverfassungsrecht, zum anderen das Sozialverfassungsrecht. Wie gezeigt, geht es heute vor allem um Fortbildung im Alter. Hier liegt die Schaffung von "Altenuniversitäten" nahe, auch andere Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind denkbar. So wären im Abschnitt "Kulturverfassungsrecht" entsprechende Verfassungsaufträge, gerichtet auf Schaffung solcher Einrichtungen, einzubauen (als Fortschreibung der "Erwachsenenbildung") 1244 . Konsequent wäre es, in die Erziehungsziele einen Passus wie "Erziehung zur Achtung vor den alten Menschen" aufzunehmen. Angesichts des engen Zusammenhangs von Erziehungszielen und Verfassungsprinzipien bildet ein solches Erziehungsziel den adäquaten in den Schulen vorzubereitenden Altenschutz von der pädagogischen Seite her - ein Zusammenhang, der jüngst etwa im Umweltschutz erkannt wurde. Der juristische Umweltschutz z.B. in Art. 141 Abs. 3 n.F. Verf. Bayern hat seine Entsprechung im Umweltschutz als
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Vorbildlich ist insofern Art. 21 Abs. V Verf. Griechenland von 1975: "Der Staat sorgt für die Gesundheit der Bürger und trifft besondere Maßnahmen zum Schutze der Jugend, des Alters, der Versehrten und für die Pflege Unbemittelter". 1242 Zit. nach JöR 39 (1990), S. 350 ff. 1243 Ebenso Art. 4 Abs. 1 Privatentwurf G. Riege Verf. Thüringen von 1990, zit. nach JöR 39 (1990), S. 468 ff. 1244 Ein eigenes Wort verdient das Problem sog. "Seniorenuniversitäten". Eine solche besteht z.B. in Basel seit dem Wintersemester 1979/80; sie ist allen offen, die das 60. Lebensjahr überschritten haben; angeboten werden zweimal wöchentlich Vorträge mit Themen aus den verschiedenen Fakultäten. In Frankreich gibt es die Idee der "Université du Troisième Age". M.E. sollten die deutschen Bundesländer in "kulturstaatlichem Wettbewerb" Pionierarbeit leisten: Altenuniversitäten werden heute in dem Maß notwendig, wie die Lebensarbeitszeit verkürzt wird. Diese "Umverteilung von Arbeit" an Jüngere läßt den Älteren Zeit und Raum für ein spätes (ggf. zweites) Hochschulstudium. Vor allem sollten als Dozenten emeritierte Hochschullehrer eingesetzt werden. Verfassungspolitisch ließe sich an eine Fortentwicklung der Volkshochschule bzw. Erwachsenenbildung denken (vgl. Art. 139 Bayr.Verf). Im Kontext solcher Verfassungsnormen könnten Altenuniversitäten ein neues Element im Wachstumsprozeß des Kulturverfassungsrechts der Länder werden.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Erziehungsziel (Art. 131 Abs. 2 n.F. Verf. Bayern) als "soft law" 1 2 4 5 . Und es sind ja gerade die heutigen Spannungen zwischen jung und alt, die am besten schon dank der Erziehung in den Schulen vermindert werden sollten. Im Rahmen des Sozialverfassungsrechts und des hier erforderlichen Altenschutzes hat der VE Runder Tisch von 1990 Pionierleistungen erbracht 1246 . Als Eröffnung formuliert der Artikel, der das Recht auf soziale Sicherheit normiert (Art. 23), in Abs. 1 vorweg: "Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung". Man mag streiten, ob der Behindertenschutz in den unmittelbaren Zusammenhang der Achtung vor dem Alter gehört, wichtig ist, daß das Alter überhaupt Gegenstand eines solchen Schutz-Artikels ist. Der Entwurf der damaligen Noch-DDR beläßt es auch nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen, er wird konkreter. Im Zusammenhang mit dem sozialen Grundrecht auf angemessenen Wohnraum bzw. dem Auftrag zur staatlichen Wohnraum-Förderung heißt es in Art. 25 Abs. 2 S. 2: "Der Staat ist besonders zur Förderung altersund behindertengerechten Wohnraums verpflichtet". Vorbildliches Textmaterial liefert bereits Art. 51 Verf. Guatemala (1985) 1 2 4 7 : "Der Staat schützt die physische, geistige und moralische Gesundheit der Minderjährigen und der Alten. Er garantiert das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Sicherheit im Alter" 1248 . Ein letzter rechtspolitischer Normierungsvorschlag in Sachen "Alter als Thema von Verfassungen" zielt auf die ausdrückliche Erwähnung bestimmter Altersgremien. Wie bekannt, finden sie sich realiter bereits in den verschiedensten Bereichen: als Ältestenrat in den Bundes- und Landes-Parlamenten sowie auf kommunaler Ebene 1249 . Zwar bedeutete es eine Überfrachtung der idealtypisch ja am besten sich nur auf "Wesentliches" beschränkenden Verfassungsurkunde, doch ist es m.E. durchaus diskutabel, als Zeichen des allgemeinen Bewußtwer1245
Zur theoretischen Grundlegung: P. Häberle, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS H. Huber, 1981, S. 211 ff.; ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; oben VIII Ziff. 2. 1246 S. schon meinen Beitrag in JöR 39 (1990), S. 319 ff. 1247 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.; s. auch H.F. Zacher (Hrsg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, 1991. 1248 In nuce enthält Art. 13 (alte) Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.) ein Stück "Altenverfassungsrecht" in den Worten: "Gegenstand der sozialen Sicherheit ist die Abdeckung der Risiken von Krankheit... Unfall, Alter, Tod, Verwitwung...". Es ist zu vermuten, daß aus solchen speziellen Alterssicherheitsklauseln nach und nach das ganze Spektrum von Altersschutzklauseln erwächst. Hier gibt es auch schon älteres Textmaterial: z.B. Art. 63 Abs. 4 Verf. Portugal: "Das Sozialversicherungssystem schützt die Bürger im Falle von Krankheit, Alter, Invalidität..."- Zu Art. 72 Verf. Portugal oben unter b (1). 1249 Dazu W. Grasser, Der kommunale Ältestenrat, BayVBl. 1990, S. 334 ff. 69 Häberle
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dens der Alten- und Altersprobleme heute wenigstens ein schon existierendes repräsentatives Gremium älterer Menschen als Beispiel für Wert und Würde des Alters auch im Verfassungstext zu erwähnen. Hier bietet sich vor allem der Ältestenrat des Parlaments an - man kann ihn in Deutschland nicht "Senat" nennen, da dieser Begriff vieldeutig ist 1 2 5 0 , so sehr in diesem Begriff die kulturgeschichtliche Tradition der Achtung vor einem Altersgremium bzw. seiner Weisheit, Erfahrung, Ausgeglichenheit, Sachkenntnis, mitschwingt. Doch sollte die Verfassungspolitik an solche noch nicht ganz verschütteten Bewußtseinsinhalte gezielt anknüpfen. Die Nennung des in der Parlamentspraxis ja gelebten und sehr erfolgreichen Gremiums des Ältestenrats 1251 schon in der Verfassung selbst könnte eine gute Gelegenheit zur "Erinnerung" an die hier ja längst genutzten "Kräfte des Alters" in pluralistischen Demokratien sein.
14. Gerechtigkeitsmaximen im Verfassungsstaat a) Problem Äußerlich fast am Ende dieser Auswahl verfassungsstaatlicher Probleme bzw. verfassungsrechtlicher Texte behandelt, in der Sache aber im Zentrum des Verfassungsstaates angesiedelt, sind die Gerechtigkeitsfragen. Während Gemeinwohlklauseln und Staatsaufgaben-Artikel schon verfassungstextlich ins Auge springen und überdies in Staatslehren und im übrigen Schrifttum vielbehandelt sind, verhält es sich mit dem Topos "Gerechtigkeit" anders. Er wird 1252
vor allem in der Rechtsphilosophie erörtert und soweit er in den positiven Verfassungstexten vorkommt, wird er nicht wirklich beachtet bzw. verarbeitet. Darum soll auch hier mit einer typologischen Textstufenanalyse begonnen wer1250
Vgl. die Hansestädte (z.B. Art. 33 ff. Verf. Hamburg) und den Bayerischen Senat (Art. 34 bis 42 Bay.Verf.). 1251 Dazu N. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 130 ff; H.-A. Roll, Der Ältestenrat, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.)., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 809 ff. 1252 Vgl. A. Hollerbach, Art. Gerechtigkeit und Recht, Staatslexikon 2. Bd. 7. Aufl. 1986, Sp. 898 ff.; Κ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1991, S. 63 ff.; H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 20 ff., 235 ff.Die Allgemeinen Staatslehren bzw. Verfassungslehren arbeiten nicht (auch) anhand der Verfassungstexte: z.B. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 714 ff.; s. aber auch G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 273 ff. (insbes. zu J. Rawls). Eine "Theorie demokratischer Gerechtigkeit" entwirft jetzt J.P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993, bes. S. 145 ff. Zuletzt H. Hofmann, Bilder des Friedens oder: Die vergessene Gerechtigkeit, 1997; S. Goyard-Fabre, Les principes philosophiques du droit politique moderne, 1997.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen den, die dann - höchst skizzenhaft - in die Verfassungslehre integriert sei. A l l dies kann nur ein erster Schritt sein, Rechts- bzw. Staatsphilosophie und Verfassungslehre zusammenzuführen, so wie heute die Rechtsphilosophie ohne Philosophie der Verfassung nicht praktiziert werden kann 1 2 5 3 . Nicht weil Verfassungen der "Weisheit letzter Schluß" wären, sondern weil verfassungsstaatliche Verfassungen gemäß dem Prinzip des "Vorrangs der Verfassung" den Rahmen für alle Teilrechtsgebiete setzen, ohne daß sie deren Propria mißachten dürften: weshalb etwa das Privatrecht "seine" spezifische Gerechtigkeit hat. b) Elemente einer Bestandsaufnahme Ein erster Schritt gilt den geschriebenen Gerechtigkeitsprinzipien in der Verfassung bzw. der "Verfassungsgerechtigkeit". Eine systematische Bestandsaufnahme der Texte ist durchaus ergiebig. "Gerechtigkeit" findet sich in Präambeln (z.B. Verf. Rheinland-Pfalz von 1947, Baden-Württemberg von 1953, Guatemala von 1985, (alte) Verf. Peru von 1979 - "Gerechtigkeit der oberste Wert", "gerechte Gesellschaft" -, Verf. Irland von 1937/92, Verf. Jura von 1977 ("justice sociale"), Verf. Spanien von 1978: "gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung", Verf. Türkei von 1982, Verf. Philippinen von 1986: "regime of truth, justice", Verf. Südkorea von 1987, Verf. Uganda von 1995: "social justice and progress", Verf. Mali, 1992: "respect de la justice", Verf. Rußland von 1993: "helle Glaube an das Gute und die Gerechtigkeit", Verf. Mongolei von 1992: "justice and national unity", Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993, Verf. Thüringen von 1993, Verf. Appenzell A.Rh, von 1995: "gerechte Lebensordnung mitgestalten", Verf. Südafrika von 1996/97: "social justice", Verf. Estland von 1992: "liberty, justice and law", Verf. Polen von 1997: „Gott als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen"), sie findet sich als Ziel bzw. Pflicht des Staates (Art. 1 Verf. Portugal von 1976, Art. 1 Verf. Rumänien von 1991, Art. 2 Verf. Guatemala, Art. 2 lit. a Verf. Uri 1984: "gerechte Ordnung für das friedliche Zusammenleben der Menschen"), im Kontext der "Grundrechtsentwicklungsklausel" (Art. 10 Verf. Estland), als "Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen" (Art. 23 Abs. 3 Ziff. 1 Verf. Belgien von 1994), bei den Menschenrechten als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG), bei der Enteignungsentschädigung (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG), im Kontext der Wirtschafts- und Sozialordnung (Art. 118 Abs. 1 Verf. Guatemala, Art. 110 alte Verf. Peru, Art. 45 Verf. Irland, Art. 42 Abs. 2 Verf. Brandenburg von 1992), in Eidesklauseln (z.B. Art. 56 1253
So war der Tübinger Beitrag: "Verfassungsentwicklungen - in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre" konzipiert: AöR 117 (1992), S. 169 ff.
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GG, Art. 46 WRV, Art. 81 Verf. Türkei von 1982), im Kontext der Steuerpflicht (Art. 31 Abs. 1 Verf. Spanien, Art. 77 (alte) Verf. Peru von 1979), im Kontext der Erziehungsziele (Art. 56 Abs. 4 Verf. Hessen von 1946: "Rechtlichkeit", Art. 22 Verf. Thüringen: soz. Gerechtigkeit, als Bindung der dritten Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG ("Recht"), als Maxime in den "Beziehungen zwischen den Völkern" (Art. 7 Abs. 2 Verf. Portugal, ähnlich Präambel Verf. Niger von 1992: "volonté de coopérer ... avec tous les peuples épris de paix, de justice et de liberté...", analog Präambel Verf. Burkina Faso (1997)) 1254 . Das Prinzip Gerechtigkeit ist also in nicht wenigen Verfassungstexten direkt präsent. c) Auswertung, erste verfassungstheoretische
Folgerungen
Es fällt auf, daß das Gerechtigkeitsprinzip besonders häufig in den Präambeln 1 2 5 5 angesiedelt ist - im Kontext der dortigen anderen Grundwerte des Verfassungsstaates. Insofern hat es an allen Inhalten und spezifischen Funktionen der Kunstform Präambel teil (dazu VIII, Ziff. 8). Freilich bleibt es eben darum recht allgemein und abstrakt. Gleichwohl findet sich die Gerechtigkeitsmaxime darüber hinaus in den unterschiedlichsten Zusammenhängen: vom Staatsziel über die Grundrechte bis zur Wirtschafts- und Sozialordnung sowie den Erziehungszielen und Eidesklauseln, ja sogar als Beziehungselement im Verhältnis 1254 Auch die Verfassungsgeschichte ist ergiebig: vgl. nur die Gerechtigkeitspostulate in der Präambel sowie in Art. 151 Abs. 1 WRV (1919), Art. 22 Verf. Württemberg-Baden von 1946 (gerechter Lohn), Art. 96 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (Amtseid), Präambel Verf. Württemberg-Hohenzollern von 1947: "Gott, der allein gerechte Richter"; ebd. Art. 5: Staatsaufgabe "gerechter Ausgleich"; Präambel Verf. Baden von 1947: "Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit"; Art. 10 Verf. Lübeck von 1920 (Amtseid). 1255 In völkerrechtlichen Dokumenten ist "Gerechtigkeit" besonders häufig verwendet. Das beginnt schon in der Präambel und Art. 1 Ziff. 1 der UN-Charta (1945), setzt sich in der Präambel der Satzung des Europarates fort (1949) und wiederholt sich in der Präambel der Wiener Vertragsrechtskonvention (1969). Fast beschwörend, aber auch eher floskelhaft taucht hier der Topos "Gerechtigkeit" auf. Ähnliches gilt für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Präambel). In der Präambel der EMRK (1950) heißt es konkreter: "Grundfreiheiten, welche die Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden". Und in der Präambel des UN-Menschenrechtspaktes über bürgerliche und politische Rechte (1966) ist von der Trias "Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden" in der Welt die Rede. In der Präambel der AMRK (1969) figuriert die "soziale Gerechtigkeit". Die Unesco-Satzung (1945) spricht von "Erziehung des Menschengeschlechts zur Gerechtigkeit, Freiheit und Friedensliebe", ihr Art. I von "Stärkung der Achtung vor Recht und Gerechtigkeit". Um so verblüffter ist man, in einem führenden Völkerrechtslehrbuch "Gerechtigkeit" nicht einmal im Sachregister zu finden (A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen zu anderen Völkern. Man mag insofern von der Gerechtigkeit als "vagabundierendem Element" im Gefüge des Verfassungsstaates sprechen. Gewiß ist, daß es neben dem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip, auf das sich der Verfassungsstaat ausdrücklich oder ungeschrieben verpflichtet, bereichsspezifische Gerechtigkeitsmaximen gibt, z.B. als "Familienlastenausgleich" im Rahmen der Förderung der Familie nach dem GG diskutiert. Wo es an positiven Gerechtigkeitstexten fehlt, bedienen sich die Verfassungsgerichte dieses Topos prätorisch 1256 . Auch in der Judikatur des BVerfG ist das Prinzip "Gerechtigkeit" präsent (vgl. E 79, 106 (123); 80, 103 (108); 84, 90 (121); 86, 81 (87); 95, 96 (134 f.)). Verfassungspolitisch ist dem Verfassunggeber zu empfehlen, Gerechtigkeit als Grundwert mindestens in der Präambel "appellativ", programmatisch einzusetzen, wohl auch als Erziehungsziel (der junge Bürger muß sie lernen können), ebenso im Arbeits- und Wirtschaftsverfassungsrecht, zumal das Wort von der "ökologischen" Gerechtigkeit eine Themenkarriere vor sich haben dürfte. Im übrigen sollte das hohe Ideal der Gerechtigkeit nicht zu häufig "getextet" werden, eine Reservegeneralklausel in der Präambel genügt. Denn es sind ja gerade konkrete Prinzipien und Verfahren, die der Verfassungsstaat in langen Perioden entwickelt hat, um Gerechtigkeit zu schaffen. Man denke an die rechtsstaatlichen due process-Garantien (prozedurale Gerechtigkeit) oder an die Vertragsfreiheit als Pfeiler der Privatrechtsordnung, an die Koalitionsfreiheit, aber auch an die parlamentarischen Verfahren. Ein Desiderat bleibt es, die klassische Gerechtigkeitslehre eines Aristoteles (justitia commutativa und distributiva) mit den neueren eines J. Rawls ("Gerechtigkeit als Fairness" 1257 ) sowie dem Kritischen Rationalismus eines Popper zu verbinden und in die Verfassungslehre einzubauen. Die Menschenwürde ist dabei ein materiales Gerechtigkeitselement, die Menschenrechte sind dies in Gestalt der Radbruch'schen Formel; das "Rechtliche Gehör" weist auf das klassische "audiatur et altera pars" als Teil der europäischen Rechtskultur zurück, und schließlich leistet auch Billigkeitsdenken seinen Beitrag zur Verfassungsgerechtigkeit 1258. Der Typus Verfassungsstaat ist heute das Forum, auf dem der Weg zur Gerechtigkeit gegangen werden kann. Da er aber selbst stets reformbedürftig ist, gibt es ein Stück Gerechtigkeit sogar "vor" oder "über" der Verfassung - so viel "verfassungsimmanente" Gerechtigkeit besteht. Das Be-
1256 Dazu G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des BVerfG, 1980; dazu meine Besprechung in JZ 1980, S. 541 f. 1257 A Theory of Justice, 1971/75. 1258 Dazu I. Pernice , Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991. Zu Härteregelungen z.B. BVerfGE 80, 1 (36); ebd. S. 297 (310 f.).
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dürfnis des Menschen nach Gerechtigkeit 1259 , also die kulturanthropologische Bediirfhisseite dieses Prinzips (in B. Bohley's Dictum "Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen"), zeichnet ihn als kulturelles Wesen aus. Zahlreiche Klassikertexte zur Gerechtigkeit sind bei all dem "mitzulesen", auch dann, wenn es um Spezialfragen wie "Übergangsgerechtigkeit" 1260 (z.B. in manchen Übergangsbestimmungen von Verfassungen präsent) oder "Einzelfallgerechtigkeit" geht 1 2 6 1 .
15. Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlußbestimmungen als typisches verfassungsstaatliches Regelungsthema und -instrument (auch in gliedstaatlichen Verfassungen) a) Bestandsaufnahme (1) Übergangs- und Schlußbestimmungen sind ein typisches verfassungsstaatliches Gestaltungselement. Sie bilden das "Gegenstück" zu den Präambeln. In den neuen Schweizer Kantonsverfassungen und -entwürfen finden sie sich ebenso 1262 wie in den deutschen Länderverfassungen nach 1945 1263 . Damit be1259
Um die "anthropologische Basis" ringt A. Hollerbach, aaO., Sp. 898 f. Wie in einem Brennspiegel versammeln sich fast alle Probleme einer "Übergangsgerechtigkeit" in Art. 143 n.F. GG. "Hart im Räume" stoßen sich einzelne verfassungsstaatliche Elemente wie der Menschenrechtscharakter des Eigentums (Abs. 3), das Willkürverbot, die verfassungsstaatliche Identitätsgarantie gemäß Art. 79 Abs. 3 GG (Abs. 1), die Publizität der Verfassung (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG). Der Zeitfaktor tritt gestaffelt auf (unterschiedliche Anpassungsfristen in Abs. 1 und 2). Problemlösungsmaterial findet sich in BVerfGE 4, 157 (169 f.): "näher beim Grundgesetz". Erforderlich ist aber auch die Aufschlüsselung der Rechtsidee i.S. der Radbruch'sehen Trias, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit. Ein Ausblick in Erfahrungen anderer Verfassungsstaaten mit "Übergangsrecht" (z.B. Spanien, 1978, Griechenland, 1975) könnte hilfreich sein. Das BVerfG hat Spezifisches beigetragen (vgl. E 82, 316; 84, 90; 84, 133; 85, 360; 87, 68; dazu auch mein Beitrag: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Transformationsforschung, FS Mahrenholz, 1994, S. 133 ff). Aus der Lit.: M. Sachs, Vom GG abweichendes Recht nach der Wiedervereinigung, FS Heymanns Verlag, 1995, S. 193 ff; W. Graf Vitzthum/W. März, Restitutionsausschluß, 1995; O. Kimminich, Auswirkungen des Einigungsvertrages auf die Eigentumsgarantie des GG, FS Heymanns Verlag, 1995, S. 175 ff; allgemein W. Berg, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung vor-rechtsstaatlicher Vergangenheit, VVDStRL 51 (1992), S. 46 ff. 1261 hilfreiche Strukturierungen leistet A. Hollerbach, aaO., mit Stichworten wie "Gerechtigkeit im subjektiven und objektiven Sinne", "Sachgerechtigkeit", "Systemgerechtigkeit", "Verfahrensgerechtigkeit". 1262 Art. 1 bis 10 Jura (also sogar in eigener Zählung!); femer Aargau (10. Abschnitt: "Übergangsordnung"); Uri (9. Kap.); VE Solothum (noch offen gelassen im 8. Abschnitt); Basel-Landschaft 1984: 10. Abschnitt; VE Thurgau X: Übergangs- und Schlußbestimmungen; VE Glarus: 8. Kap. Alle Texte zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff. 1260
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen stätigen sie den Anspruch der gliedstaatlichen Verfassung, "Vollverfassung" zu sein. Bislang fehlt eine auf vergleichendem Material aus Geschichte und Gegenwart aufbauende Typologie der Schlußvorschriften verfassungsstaatlicher Verfassungen - auch in ihrem Wandel. An dieser Stelle seien nur vorläufig typische Themen bzw. Regelungsgegenstände und -inhalte speziell gliedstaatlicher Verfassungstexte aufgelistet, eine allgemeine Untersuchung des Themas bleibe vorbehalten. Typisch ist der Einbau des Zeitfaktors: so kommt die Zukunftsorientierung 1 2 6 4 vor, aber auch die Vergangenheitsbewältigung 1265. Es finden sich Rezeptionsklauseln 1266 : sie wollen Konflikte beim Wechsel vom alten auf das neue Recht lösen, das neue Recht möglichst optimal verwirklichen, ohne das damit übereinstimmende alte Recht aufzugeben. Es finden sich typischerweise auch Bestandsgarantien 1267 oder ähnliche Klauseln 1268 , Ausnahmeklauseln und Suspensionen1269. Die Zeitdimension dokumentieren auch Klauseln zum Inkrafttreten der Verfassung 1270 . Übergangsregelungen sind ebenfalls nachweisbar 1 2 7 1 . Typischerweise begegnen in Schluß- und Übergangsvorschriften LeZuletzt: Art. 130 bis 135 KV Bern (1993); Art. 115 bis 118 KV Appenzell A.Rh. (1995). 1263 Baden-Württemberg (Art. 85 bis 94); Bayern (Art. 178 bis 188); Berlin (Art. 84 bis 89); Bremen (Art. 150 bis 155); Hamburg (Art. 73 bis 76); Hessen (Art. 151 bis 160); Niedersachsen (Art. 72 bis 78); Nordrhein-Westfalen (Art. 89 bis 92); RheinlandPfalz (Art. 137 bis 144); Saarland (Art. 129 bis 133, z.T.weggefallen); SchleswigHolstein (Art. 58 bis 60). Zit. nach Verfassungen der deutschen Bundesländer, 5. Aufl. 1995. 1264 Art. 151 Abs. 1 Hessen: "Hessen wird alle Maßnahmen... unter den Grundsatz stellen, daß die gesamtdeutsche Einheit zu wahren ist"; Art. 178 Bayern: "Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten"; Art. 152 Bremen: "künftige deutsche Verfassung"; ebenso Art. 141 Rheinland-Pfalz. 1265 Art. 158 Hessen: Bekräftigung der Entnazifizierungsvorschriften, auch Art. 184 Bayern, Art. 86 Berlin, Art. 54 Bremen, Art. 139 Rheinland-Pfalz (Wiedergutmachung). 1266 Art. 182 und 186 Bayern, Beibehaltung von Staatsverträgen bzw. bisherigem Recht; Art. 55 Niedersachsen: "Altes Recht"; Art. 137 Rheinland-Pfalz, Art. 132 Saarland.- In der Schweiz: § 128 Aargau; Art. 3 Jura; Art. 124 Uri; § 148 Basel-Landschaft (1984); § 93 VE Thurgau; § 130 VE Glarus. 1267 Art. 45 Baden-Württemberg für Hochschulen. 1268 Art. 56 Niedersachsen: Wahrung besonderer Belange der ehemaligen Länder. 1269 Z.B. 87 a Berlin; Art. 153 Bremen (Eingriff in Grundrechte im Notfall, s. auch Art. 157 Hessen); Art. 143 a Rheinland-Pfalz (Diskontinuitätsdurchbrechung).- In der Schweiz: Art. 8 Jura (Abweichung von Art. 62 Abs. 4); s. auch § 154 Basel-Landschaft (1984). 1270 Z.B. Art. 160 Hessen, Art. 94 Baden-Württemberg, Art. 133 Saarland.- In der Schweiz: § 126 Aargau; Art. 132 VE Glarus, Art. 123 Uri, § 154 Basel-Landschaft 1984, §97 VE Thurgau. 1271 Art. 60 Niedersachsen; Art. 91 Nordrhein-Westfalen.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft 1272
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galdefinitionen . Es finden sich aber auch gewichtige Staatsziele und sogar die Erziehung zur Verfassung 1274 ; nicht selten sind auch Vereidigungsnormen, die im Grunde demselben Zweck dienen 1275 : der Verfassungsverwirklichung. Mitunter sind Schlußvorschriften aber auch der Ort für ein buntes "Sammelsurium" von Bestimmungen, die der Verfassunggeber sonst systematisch nicht recht unterzubringen vermag 1276 . Schon jetzt zeigt sich, daß verfassungsstaatliche "Übergangs- und Schlußvorschriften" alles andere als "Unwichtiges" enthalten. Das Rezeptionsproblem und damit ein Zeitaspekt wird ebenso behandelt wie Zukünftiges (z.B. seinerzeit und heute im GG im Blick auf die "deutsche Einheit"). Die Zeitdimension ist auch in den Bestandsgarantien und Übergangsnormen erkennbar. "Technisches", etwa Legaldefinitionen verfassungsrechtlicher Begriffe, steht neben eminent Materialem, etwa dem den Beamten angesonnenen Eid auf die Verfassung oder der Überreichung des Verfassungstextes an die abgehenden Schüler ganz i.S. der These von der Verfassung als Erziehungsziel 12 7 . So sehr die Verfassung in Schlußvorschriften einerseits also bekräftigt wird, so sehr können sich andererseits Ausnahmen und "Verfassungsdurchbrechungen" finden (Notstandsrecht, Entnazifizierungsrecht, Aufträge zur Wiedergutmachung). Überspitzt ließe sich sogar formulieren, in Übergangs- und Schlußvorschriften verfassungsstaatlicher Verfassungen finde sich das besonders Interessante 1278. Jedenfalls rechtfertigt sich in keiner Weise die bisherige wissenschaftliche, auch verfassungstheoretische Vernachlässigung des Themas: um so weniger dann, wenn es darum geht, auf dem Boden einer Verfassungslehre nach dem
1272 Z.B. Art. 92 Baden-Württemberg ("Mehrheit"); Art. 88 ebd.: ("Landesrecht"); Art. 154 Hessen ("Inländer"); Art. 51 Schleswig-Holstein ("Mehrheit der Mitglieder"). 1273 Z.B. Art. 86 Baden-Württemberg (Umwelt- und Landschafts- sowie Denkmalschutz). 1274 Art. 188 Bayern (Verfassungstext für jeden Schüler). 1275 Z.B. Art. 74 Hamburg, Art. 187 Bayern. 1276 Z.B. Art. 87 Baden-Württemberg: außerstaatliche Wohlfahrtspflege; Art. 185 Bayern: Wiederherstellung der Regierungsbezirke; Art. 73 Hamburg: Schutz öffentlicher Ehrenämter. 1277 Dazu mein Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele in: FS H. Huber, 1981, S. 211 ff. Vgl. oben VIII Ziff. 2. 1278 Auch im GG (Art. 116 bis 146) ist schon prima facie für den Schlußteil einer verfassungsstaatlichen Verfassung viel Typisches enthalten. Die sehr umfangreichen Übergangs- und Schlußvorschriften normieren von den aus der bisherigen Analyse schon bekannten Themen etwa Rezeptionsprobleme (Art. 123 bis 126, 128, 129, Art. 140 GG in bezug auf Teile der WRV), Inkrafttreten des GG (Art. 144 f.), seine Geltung für die Zukunft (Begrenzung durch neue gesamtdeutsche Verfassung, Art. 146), Legaldefinitionen (Art. 116, 121), Vergangenheitsbewältigung (Art. 131 f., 139), Rechtsnachfolgefragen (Art. 133 f.), Notrecht (Art. 117 Abs. 2).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Typus der "guten" Verfassung zu fragen. Auf Schlußvorschriften kann sie fast ebenso wenig verzichten wie auf Präambeln 1279 . (2) Aus der Vielfalt neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen seien einige Beispiele ausgewählt, die in den letzten Jahren mit der Technik der "Übergangs- und Schlußbestimmungen" gearbeitet haben. So regelt die Verf. der Republik Guatemala (1985) 1 2 8 0 in einem eigenen Titel (mit 22 Artikeln) z.B. die Amtsdauer der vorgefundenen de facto-Regierung (Art. 4) und ähnliche Zeit-Fragen der Fortdauer vorgefundener Gremien (z.B. Art. 7 und 10). Eine scharfe Zäsur enthält aber Art. 20: "Frühere Verfassungsbestimmungen, die dieser Verfassung vorausgehen, können zur Interpretation und als Zitate von Bestimmungen dieser Verfassung nicht herangezogen werden." Es ist fraglich, ob sich diese scharfe Diskontinuität in der Praxis durchhalten läßt und allgemein empfehlenswert ist. Die stillschweigende Rezeption durch Interpretation muß dem Verfassungsstaat bzw. seinen Interpreten möglich bleiben. Besser geglückt ist Art. 18, der während des ersten Jahres der Gültigkeit dieser Verfassung ihre Verbreitung in bestimmten Landessprachen verlangt, was nicht nur mit der Idee der "Verfassung als Erziehungsziel" ernst macht (dazu ausdrücklich Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala), sondern auch Konsequenz des nachdrücklichen Schutzes ethnischer und kultureller Minderheiten ist (vgl. Art. 66 bis 70) und des allgemeinen Rechts auf kulturelle Identität nach Art. 58. Charakteristisch ist auch der auf Zeit befristete Art. 13 der Übergangs- und Schlußbestimmungen, der einen bestimmten Prozentsatz des Staatshaushaltes als Mittel für die Alphabetisierung verlangt - innere Konsequenz der "dringenden staatlichen Aufgabe" der Alphabetisierung in Kap. 2 der Verfassung (Art. 75), dazu im Blick auf die Menschenrechte: Art. 40 Verf. Benin (1990).
1279 Folgende konstitutionelle Übergangsrechtstypologie läßt sich im ersten Zugriff erarbeiten - im Blick auf die Vergangenheit und ihre "Bewältigung": Rezeptionsklauseln (Art. 140 GG), Bestandsgarantien (Art. 182 Verf. Bayern von 1946 für die Staatsverträge, Art. 85 Verf. Baden-Württemberg von 1953 für Hochschulen, Art. 107 Verf. Griechenland von 1975 für den Schutz ausländischen Kapitals), Allgemeine Verfassungs-Konformitätsklauseln (Art. 123 Abs. 1 GG), Rechtsnachfolge-Artikel (Art. 133 f. GG), oft mit Legaldefinitionen und Fiktionen gekoppelt (Art. 180 S. 1 WRV, § 54 Verf. Anhalt von 1919, Art. 55 Abs. 2 Verf. Sachsen von 1920, Art. 160 Abs. 2 Verf. Hessen von 1946), Not- bzw. Ausnahmerecht (Art. 117 Abs. 2 GG), "Verfassungsdurchbrechungen" i.S. zulässiger Abweichungen von der Verfassung (z.B. zur "Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus": Art. 139 GG, Art. 104 Verf. Württemberg-Baden von 1946, Art. 184 Verf. Bayern von 1946), zeitlich begrenztes Außerkraftbleiben von Grundrechten (Art. 117 GG, Art. 153 Verf. Bremen von 1947, Art. 157 Verf. Hessen von 1946), Amnestien (Übergangsart. 11 Verf. Türkei von 1961), Aufträge zur "Wiedergutmachung" (Art. 183 Verf. Bayern von 1946, Art. 116 Verf. Sachsen von 1992, Art. 139 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947). 1280 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Erneut wird sichtbar, wie wertehaltig und nicht nur "technisch" Übergangsbestimmungen sein können und wie sie innerlich mit Grundwerten der Verfassung verbunden sind 1 2 8 1 . In Afrika bedient sich etwa die Verf. Namibia (1990) 1 2 8 2 der Technik von "Final Provisions", wobei hier wie auch sonst im englischsprachigen Ausland ein Teil der Funktionen von den beliebten "Schedules" übernommen wird. Immerhin setzt sich Art. 145 scharf von vorkonstitutionellen Verpflichtungen etwa der südafrikanisch dominierten Vorzeit ab, während Art. 146 "Definitionen" liefert. Die Verfassung Südafrika (1996/97) normiert am Schluß sogar grundlegende "allgemeine Bestimmungen" (z.B. zum Internationalen Recht und seiner 1283
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Interpretation, Art. 231 bis 233 ), in denen auf Ubergangsnormen in Schedule 6 verwiesen ist (Art. 242). Art. 234 enthält sogar eine neuartige Grundrechtsentwicklungsklausel in den Worten: "In order to deepen the culture of democracy established by this Constitution, Parliament my adopt Charters of Rights consistent with the provisions of the Constitution". Schließlich sei die ebenfalls wohl neuartige Umsetzungs- bzw. Vollzugsklausel von Art. 237 erwähnt: "All constitutional obligations must be performed diligently and without delay". Die 7 "Schedules" befassen sich mit so zentralen Fragen wie der Nationalflagge sowie den "Eiden und feierlichen Bekräftigungen". Daß überdies weitere 4 "Annexures" angefügt sind, zeigt nur, wie viel Übergangsprobleme zu bewältigen waren bzw. sind 1 2 8 4 . Die inhaltlich wie formal bemerkenswerte Verfassung der Provinz "Kwazulu Natal" vom März 1996 kennt ein Kapitel 14 mit Schluß- und Übergangsbestimmungen mit umfangreichen Ziffern und einem denkbar wichtigen Interpretations-Artikel, der auf die ganzheitliche Auslegung, die Verpflichtung auf
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Geradezu abundant sind die Übergangsbestimmungen in der Verf. Brasiliens (1988), zit. nach L. Lopez Guerra/L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992, S. 153 ff. Nicht weniger als 70 Artikel sind normiert - fragwürdiges Gegenstück zu der auch sonst allzu barock gehaltenen Verfassung (Teilabdruck in JöR 38 (1989), S. 462 ff.). 1282 Zit. nach JöR 40 (1991/92), S. 691 ff. 1283 Bemerkenswert Art. 233: "When interpreting any legislation, every court must prefer any reasonable interpretation of the legislation that is consitent with international law" - Ausdruck des sich weithin entwickelnden "kooperativen Verfassungsstaates." 1284 Die Übergangs-Verfassung vom November 1993 hat ihre berühmten "Constitutional Principles", die die Essenz der künftigen Verfassung in 31 Ziffern festlegten, in Gestalt von "Schedule 4" normiert.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen Text und Kontext sowie auf Werte und "Prinzipien des Konstitutionalismus" verweist, in den beispielhaften Worten: "The language of this Constitution shall be interpreted as a whole, on the basis of the meaning of its text, and, when necessary or appropriate, in the context of the principles and values expressed by this Constitution as well as domestic and broadly recognized principles of constitutionalism in democratic countries in which a constitution is the supreme law of the land". Das ist m.E. die derzeit reifste Textstufe zum Thema "Verfassungsinterpretation" (obwohl in einer Übergangsnorm!), die zugleich die Rechtsvergleichung integriert! In Kapitel 15: "Other Transitional Matters" befaßt sich die Verfassung z.B. mit Fragen der Monarchie. Am Schluß finden sich auch noch 3 "Schedules", z.B. zum Provinzgebiet, zur Eidesleistung und zur Wahl des Ministerpräsidenten. Ein Blick auf Osteuropas und Asiens Reformländer: In den drei Schluß-Artikeln der Verf. von Turkmenistan (1992) 1 2 8 5 findet sich eine "Ewigkeitsklausel" in Bezug auf die "republikanische Form der Regierung", die nicht geändert werden könne (Art. 115) - ein Verfassungsthema, das sonst bekanntlich im zentralen Hauptteil von Verfassungen figuriert. In der Verfassung von Litauen (1992) 1 2 8 6 findet sich ein Artikel, der bestimmte "Verfassungsgesetze" zum Bestandteil der Verfassung macht (Art. 150), während die Verfassung der Slowakischen Republik (1992) 1 2 8 7 die Weitergeltung vorkonstitutionellen Rechts bejaht, wenn es "mit dieser Verfassung nicht im Widerspruch steht" (Art. 152 Abs. 1), im Streitfall das Verfassungsgericht einschaltet (Abs. 3) und Verfassungskonformität der Auslegung und Anwendung aller Normen verlangt (Abs. 4). Typisch ist auch die oft nachweisbare ausdrückliche Aufhebungsklausel bestimmter Normen (z.B. zu den Staatssymbolen: Art. 155 Ziff. 1). Die Verfassung Rumänien (1991) 1 2 8 8 befaßt sich mit den Problemkreisen "Inkrafttreten" (Art. 149) und "Conflit temporal des lois" (Art. 150). Zugleich ist der Zeitfaktor veranschaulicht durch Art. 151 ("Les institutions existentes") 1289
und Art. 152 ("Les institutions futures"). Die Verfassung Bulgarien (1991) 1285
Zit. nach JöR 42 (1994), S. 674 ff. Ähnl. Art. 121 Verf. Mali (1992). Zit. nach JöR 44 (1996), S. 360 ff. 1287 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 478 ff. 1288 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 514 ff. 1289 Zit. nach JöR 44 (1996), S. 497 ff. Der Verf. Estland (1992), zit. nach JöR 43 (1995), S. 263 ff. folgt ein: "Law on the Application of the Constitution" (1992), zit. nach JöR 43 (1995), S. 323 ff., das in 9 (!) z.T. sehr ausführlichen Artikeln Einzelfragen normiert, die sich sonst in Übergangs- und Schlußbestimmungen finden. Demgegenüber bedient sich die Verf. von Aserbeidschan (1995) der "klassischen Technik" von "Übergangsbestimmungen" (12 Ziffern mit typischen zeit- und gremienbezogenen 1286
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
enthält 9 Paragraphen unter dem Stichwort "Übergangs- und Schlußbestimmungen", wobei die Verfassungskonformität aller schon existierender Rechte ebenso Thema ist (§ 3 Abs. 1), wie die Verfassungsentwicklung innerhalb eines Jahres auch der Normen, die nicht schon jetzt "unmittelbaren Effekt" haben (Abs. 2 ebd. i. V. mit Art. 5 Abs. 2 der Verf.). 1 2 9 0 Der Verfassungsentwurf Weissrußlands (März 1994) bedient sich der Technik eines ausfuhrlichen "Enactment Law" im Anhang, das in 8 Artikeln klassische Themen behandelt wie "Nationaler Feiertag" (Art. 2), differenzierte Fortgeltung alten Rechts (Art. 3), Einrichtung eines Verfassungsgerichts zur Garantie der Geltung der Verfassung (Art. 4), Fortgeltung alten Rechts, das der Verfassung nicht widerspricht (Art. 5) etc. Ein Wort zu Rußland: Der frühe Verfassungsentwurf der Verfassungskommission vom März 1992 1291 enthält ein eigenes Schluß-Kapitel 23 ("Schlußbestimmungen") mit so zentralen Themen wie Staatssymbole und Hauptstadt, Inkrafttreten und Verfahren der Verfassungsänderung (Art. 136 bis 140), an das eigene "Übergangsbestimmungen" angefügt sind mit 16, z.T. sehr langen Paragraphen (z.B. zu den Grundrechten, der Föderationsstruktur und zur kommunalen Selbstverwaltung). Ein Teil dieser Themen ist in der endgültigen Verfassung von 1993 1 2 9 2 in den Verfassungstext selbst integriert (Art. 130 bis 137), dem dann ein eigener Abschnitt "Schluß- und Übergangsbestimmungen" angefügt ist (mit 9 Ziffern). Angesichts der "großen" Themen wie Staatssymbole und Verfassungsänderung ist deren Integration in die "Verfassung" vorzuziehen. Die endgültige Redaktion der Verfassungsurkunde wurde insoweit also gekonnt verbessert. Rückblick ergänze die bisherige (3) Ein kurzer verfassungsgeschichtlicher rechtsvergleichende Analyse: Die Verfassung Frankreichs von 1795 bringt am Schluß "Allgemeine Bestimmungen", vor allem einen Grundrechtskatalog 1293.
Inhalten). Verf. Polen (1997) regelt „Übergangs- und Schlußbestimmungen" in Art. 236 bis 243. Verf. Äthiopien (1994) gebraucht den Begriff "Special Provisions". 1290 Die Verf. der Ukraine (1996) kennt 2 getrennte Kapitel: "Schlußbestimmungen" (darin Art. 161: Der Tag der Annahme der Verfassung als staatlicher Feiertag bzw. Verfassungstag) und Übergangsbestimmungen mit 14 Ziffern. Hier figuriert zuerst eine Bestimmung zur Fortgeltung des bisherigen Rechts, "soweit dieses nicht der Verfassung widerspricht"; danach folgen viele Normen zur rechtzeitigen Umsetzung der Verfassung, aber auch zu innerhalb einer bestimmten Frist einzusetzenden höchsten Gerichten (Ziff. 12). 1291 Zit. nach JöR 45 (1997), S. 336 ff. 1292 Zit. nach J.C. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 417 ff. 1293 Zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen In der Charte Constitutionnelle von 1814 findet sich wohl erstmals der Begriff "Articles Transitoires" mit zwei Artikeln, während die französische Verfassung von 1848 bereits 5 "Übergangsbestimmungen" normiert mit Themen wie Fortsetzung alten Rechts, "soweit es der gegenwärtigen Verfassung nicht widerspricht" (Art. 112), oder Amtsverlängerung der existenten Gremien auf Zeit (Art. 113). Die Verfassung der Vierten Republik (1946) enthält dann 10 Übergangs· Artikel, und auch die Verfassung der Fünften Republik von 1958 bedient sich dieser Technik (Art. 90 bis 92), wobei z.B. die neuen Institutionen innerhalb von vier Monaten eingerichtet werden müssen (Art. 91 Abs. 1) - auch dies ist Ausdruck des Wunsches des Verfassunggebers, sein Werk möglichst rasch umgesetzt zu sehen. In der deutschen Verfassungsgeschichte findet sich auf Reichs- bzw. in der Bundesebene in der Bismarckverfassung von 1871 der Begriff "Schlußbestimmung" zum XI. bzw. XII. Abschnitt, ganz am Ende Art. 78 als "Allgemeine Bestimmung" zum Thema Verfassungsänderung. Erst die WRV von 1919 macht ausgiebig von der Technik der "Übergangs- und Schlußbestimmungen" Gebrauch, wobei einerseits der Zeitfaktor im Vordergrund steht (z.B. 167 bis 170), eine vorläufige Status Quo-Garantie normiert ist (Art. 173), aber auch die werthafte Verfassungsverwirklichung im Vordergrund steht (Art. 176: Vereidigung auf die Verfassung), Variante der Eidesformel (Art. 177), Aufhebung der Bismarck-Verfassung von 1871 und des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt von 1919 (Art. 178 Abs. 1), während "die übrigen Gesetze und Verordnungen des Reiches in Kraft bleiben, soweit ihnen diese Verfassung nicht entgegensteht" (Abs. 2 ebd.). Das subkonstitutionelle Recht, nicht aber das vorkonstitutionefle Verfassungsrecht bleibt also in Kraft. Auch der Kunstgriff der Fiktion taucht auf ("gilt die Nationalversammlung als Reichstag": Art. 180). Auf Länderebene findet sich im mitteldeutschen Konstitutionalismus in der Verfassung für das Kurfürstentum Hessen (1831) wohl erstmals die Redaktionstechnik "Allgemeine Bestimmungen" am Schluß, gekoppelt mit einem Abschnit X I I I mit "nur vorübergehenden Bestimmungen" 194 . Die Preussische oktroyierte Verfassung (1848) benutzt dann die Doppeltechnik "Allgemeine Bestimmungen" (Art. 105 bis 110) und "Übergangs-Bestimmungen" (Art. 111 bis 112), hier mit so wichtigen Themen wie Angleichung an die Verfassung Deutschlands und Eid des Königs bzw. der Kammern und aller Staatsbeamten auf die Verfassung. In den Landesverfassungen der Weimarer Zeit 1 2 9 5 haben
1294
Texte zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 222 f. 1295 Zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, 1926.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
die Übergangs- und Schlußbestimmungen dann ihren festen Platz mit Themen wie Fortgeltung bisherigen Rechts (§ 50 Verf. Anhalt von 1919), Verfassungsänderungsverfahren (§ 53 ebd.), Fiktionen (ebd. § 54), Gebot der Annahme durch Volksabstimmung (§ 69 Verf. Baden von 1919), Verfassung als "Lehrgegenstand in den Schulen" (Art. 50 Verf. Braunschweig von 1922), Vereidigung aller Beamten auf die Verfassung (Art. 69 Verf. Hamburg von 1920), Rechtsstaatsprinzip (§ 93 S. 2 Verf. Oldenburg von 1919: "Ohne rechtliche Grundlage darf keine obrigkeitliche Tätigkeit ausgeübt werden") und Herabstufüng bisher unter "Verfassungsschutz" stehender Gesetze zu einfachen Gesetzen (§ 62 Abs. 2 Verf. Württemberg von 1919). Nachweisbar ist sogar die Verlagerung von typischen Themen der Übergangsbestimmungen in den Abschnitt "Allgemeines" am Schluß der Verfassung (so Art. 54 bis 58 Verf. Lippe von 1920: Aufhebung von bisherigem Verfassungsrecht, Verfahren der Verfassungsänderung) 1296. (4) Dem Ziel, Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlußbestimmungen den gebotenen Stellenwert im Rahmen der Verfassungslehre einzuräumen, kann man noch von einer anderen - letzten - Seite her näherkommen. Längst gibt es eine eigene Kategorie von "Übergangs- bzw. Rumpfverfassungen". Sie bilden eine besondere Variante des Typus "verfassungsstaatliche Verfassungen" und haben sich im heutigen Zeitalter der Transformation von sozialistischen "Verfassungen", die freilich nur (i.S. von K. Loewenstein) 1296
Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches (1990), zit. nach JöR 39 (1990), S. 350 ff., beschäftigt sich mit typischen Rezeptionsproblemen (Art. 128 und 129), mit Fragen zeitgebundener Verfassungsverwirklichung (Gesetzgebungsaufträge: Art. 130), mit Vergangenheitsbewältigung (Art. 132: Bevorrechtigte Einbürgerungsansprüche im Blick auf Verfolgte in der Zeit von 1933 bis 1945, nicht auch danach (!)), vor allem hinsichtlich der Bodenreform und Eigentumsentziehungen (Art. 133), Normen zur Inkraftsetzung der Verfassung (Art. 137) und ihres etwaigen Außerkrafttretens, sei es über den Weg des "Beitritts" zum GG nach dessen Art. 23 (Art. 134), sei es nach dem Inkrafttreten einer von einer gesamtdeutschen verfassunggebenden Versammlung beschlossenen und durch Volksentscheid bestätigten Verfassung (Art. 138).- Auch ostdeutsche Verfassungen seit 1992 arbeiten mit Übergangs- und Schlußbestimmungen, wobei sie z.T. neue Themen behandeln oder alte auf neue Weise: Art. 115 Verf. Brandenburg (1992) befaßt sich mit dem Verfahren der Verfassunggebenden Versammlung(!), sieht dabei einen anschließenden Bürgerentscheid vor und gibt sogar den Bürgern (d.h. 10 Prozent) ein Initiativrecht - eine schöpferische Fortbildung schweizerischer Vorbilder. Art. 116 behandelt die Neugliederung des Raumes BrandenburgBerlin. Verf. Sachsen (1992) enthält 10 Übergangs- und Schluß-Normen (Art. 113 bis 122). Dabei sind z.B. wichtige Themen normiert wie Vergangenheitsbewältigung, Wiedergutmachung, Widerstandsrecht, wobei auch die Abgeordneten- und Ministeranklage mit Bezug auf Internationale Menschenrechte vorgesehen sind. Daneben finden sich traditionelle Normen wie Legaldefinitionen (Art. 115) und Fortgeltungsklausel (Art. 120). Demgegenüber bleibt Verf. Thüringen (1993) allein bei den eher bekannten Themen wie Legaldefinitionen (Art. 104) und Inkrafttreten (Art. 106).
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen "semantisch" Verfassungen waren, zu verfassungsstaatlichen Verfassungen herausgebildet. Der Übergang von Diktaturen bzw. totalitären Systemen, der seit 1989 in weltgeschichtlichen Dimensionen verläuft, hat zur Entwicklung einer eigenen Transformationswissenschaft gefuhrt, die sich mit Stichworten wie "Übergangswissenschaft", "der kulturelle Prozeß", mit bestimmten Themen kultureller Sozialisation in der Übergangsphase (Freiheit, Demokratie, soziale Marktwirtschaft bzw. Erziehungsziele, Vergangenheitserforschung, Wahrheitsauftrag) und mit dem Zeitbedarf kennzeichnen läßt 1 2 9 7 . In Deutschland hat das BVerfG unter dem "Dach" des Grundgesetzes spezifisch "Übergangsurteile" gefällt, etwa das Warteschleifenurteil (BVerfGE 84, 133) und das Bodenreformurteil (E 84, 90). Auch die Wahlrechtsentscheidung (E 82, 322), d.h. die Nichtanwendung der "an sich" geltenden 5%-Klausel bei der ersten Bundestagswahl in den neuen Bundesländern (1990) gehört hierher 1298 . In den fünf neuen Ländern kam es seit 1989/90 zu spezifischen "Übergangs- bzw. Rumpfverfassungen" 1299. Solche Verfassungen regeln nur das "Allernotwendigste" auf Zeit "vorläufig", vor allem organisatorische und Kompetenzfragen, so daß sie sich dem Verfassungstypus "Organisationsstatut" annähern, das als Verfassungstheorie für die "normale" bzw. auf Dauer angelegte Verfassung sonst freilich wenig taugt. Es handelt sich eben nicht um "Vollverfassungen" mit allen klassischen Themen von variantenreichen Grundrechtskatalogen bis zu den "klassischen" Übergangsbestimmungen. Während es im sich wieder vereinenden Deutschland derartige Übergangsverfassungen wegen des sogleich ausnahmslos materiell und dann auch formell geltenden Grundgesetzes relativ leicht hatten, stellten sich für die osteuropäischen Länder ganz eigene Probleme. Charakteristisch ist insofern Polen, dessen Übergangsverfassung von 1992 noch bis 1997 galt 1 3 0 0 . 1997 trat die neue Verfassung in Kraft. Ausgerechnet Polen, dem der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe seit 1980/89 weltpolitisch so viel zu verdanken hat, tat sich bis 1997 noch
1297
Einzelheiten in meinem Beitrag: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Transformationsforschung - Übergangs-, Transfer- und Rezeptionsprobleme auf dem Weg des (post)kommunistischen Osteuropa zum gemeineuropäischen Verfassungsstaat, in: Europäische Rechtskultur, 1994, S. 149 ff. (TB 1997). 1298 Einzelheiten, ebd. S. 169 f. 1299 Nachweise in JöR 41 (1993), S. 69 (73 f.), auch in meinem Band: Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1996, S. 277 (282 f.). 1300 Abgedruckt in JöR 43 (1995), S. 247 ff.; ebd. S. 160 ff. meine Stellungnahme, auch zum Problem des Übergangs.
1058
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
schwer, eine endgültige "Verfassung" auf den Weg zu bringen 1301 . Auf den eigenen ungarischen Weg sei verwiesen 1302 . Im übrigen Europa stellten sich für einige Länder wie Griechenland und Portugal bis Spanien insofern Übergangsprobleme, als sie den Übergang von autoritären zu verfassungsstaatlichen Zuständen zu meistern hatten, was ihnen meist unblutig in viel bewunderten relativ kurzen Phasen der "Transicion" gelang, so daß schon sehr bald "eigentliche" Verfassungen in Kraft gesetzt werden konnten (1975 bzw. 1976 und 1978) 1303 , während zuvor manches in Gestalt von "Verfassungsgesetzen" und einfachen Gesetzen geregelt worden war. Es wäre ein eigenes Thema, eine "Übergangs-Typologie" von Themen und Rechtsformen solcher Transformations- bzw. Übergangsphasen zu entwerfen. Im folgenden sei indes nur noch auf ein wohl einzigartig erfolgreiches Übergangs-Experiment hingewiesen, das auch die Verfassungslehre als Wissenschaft bereichert hat: die Übergangsverfassung Südafrikas vom 17. November 1993 1304 . Diese Verfassungsurkunde ist nämlich keine bloße "Rumpfverfassung" nach dem Beispiel von Polen bzw. den fünf neuen Bundesländern in Deutschland; der Form und dem Inhalt nach ist sie eine "Verfassung" im Vollsinne des Wortes. Sie unterscheidet sich vom gängigen Typus nur dadurch, daß sie eingangs formuliert: "To introduce a new Constitution for the Republic of South Africa and to provide matters incidental thereto" und am Ende im "Schedule 4" "Constitutional Principles" entwirft, die die künftige (End-) Verfassung binden sollten und wollten 1 3 0 5 . Im übrigen finden sich fast alle "wichtigen" Themen schon in der Übergangsverfassung von 1993 und sie sind auch formal und systematisch in die gängigen Textformeln "normaler" Verfassungen gekleidet. So gibt es eine besonders werthaltige Präambel 1306 , wir finden im Kapitel I Staatsgebiet-, Staatssymbol- und Sprachen-Artikel, es folgt ein
1301 S. jetzt auch den Verfassungsentwurf der "Solidarität", demnächst in JöR 47 (1999), i. E. 1302 Vgl. die Dokumentation in JöR 39 (1990), S. 258 ff. 1303 Aus der Lit.: P. Dagtoglou, Die griechische Verfassung von 1975, JöR 32 (1983), S. 355 ff; A. Lopez Pina , Die Aufarbeitung der Geschichte in Spanien, JöR 41 (1993), S. 485 ff. 1304 Dazu aus der Lit.: U. Karpen, Südafrika auf dem Weg zu einer demokratischrechtsstaatlichen Verfassung, JöR 44 (1996), S. 609 ff.; s. auch J. Kramer/H.-P. Schneider, Das Fundament des Regenbogens, Frankfurter Rundschau vom 31. Oktober 1996, S. 20. 1305 Eine solche Bindung des späteren Verfassunggebers (von 1996) durch den früheren (von 1993) bedarf noch der verfassungstheoretischen Einordnung. Es handelt sich um eine neue Form von "Ewigkeitsklauseln". (Dazu Fünfter Teil III 2.) Die Übergangsverfassung schlägt eine bindende Brücke zur endgültigen. 1306 Dazu schon oben VIII Ziff. 8 g.
VIII. Zentrale Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen ausformulierter Grundrechtskatalog in Kapitel 3, der auf der Höhe der heutigen Entwicklungsstufe dieses Themas steht (bis hin zu Kinderschutzrechten: Ziff. 30), und es fehlt auch nicht an einem bemerkenswerten Grundrechts-Interpretations-Artikel 31 Abs. 1 folgenden Wortlauts: "In interpreting the provisions of this Chapter a court of law shall promote the values which underlie an open and democratic society based on freedom and equality and shall, where applicable, have regard to public international law applicable to the protection of the rights entrenched in this Chapter, and may have regard to comparable foreign case law." Diese Integrierung vergleichend gewonnenen ausländischen Fallrechts zu Grundrechten ist eine reife Textstufe zum Thema "Grundrechtsentwicklung" und zugleich eine Bestätigung der These von der Grundrechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode 1307 . Schließlich sei auf die Fülle der sich anschließenden Organisations- und Kompetenznormen verwiesen, etwa das Parlament (Kapitel 4). Spezifisch ist dann freilich die detailgenaue Beschreibung der "Adoption of the new Constitution" (Kapitel 5) in prozessualer und inhaltlicher Hinsicht. Hält man sich die politisch und juristisch "dirigierende" Kraft der südafrikanischen Übergangsverfassung von 1993 vor Augen und auch die vielen wortgetreuen und inhaltlichen Rezeptionen mancher ihrer Artikel (auffällig bei der erwähnten Grundrechts-Interpretations- bzw. Entwicklungsklausel: Art. 36 von 1993 bzw. Art. 38 von 1996), so zeigt sich, daß die "normative Kraft" der Verfassung von 1993 nur formal mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1996 endete (bei der übrigens neu das Verfassungsgericht in den Prozeß der Verfassunggebung eingeschaltet war): es kam zur kulturell weitgreifenden Geltung ihrer Prinzipien. Südafrika ist eine "Vor-Verfassung" gelungen, deren Normativität und "Professionalität" einen besonderen Platz in der vergleichenden Verfassungslehre gebührt - weit über das Thema "Übergang" hinaus. b) Verfassungspolitik Bereits in der kommentierten Bestandsaufnahme wurden die Umrisse einer kleinen Verfassungstheorie der Übergangs- und Schlußbestimmungen erkennbar. Sie soll hier unmittelbar in praktische Verfassungspolitik umgesetzt wer1307
Art. 39 Verfassung Südafrika von 1996/97 gelingt freilich eine zusätzliche Verfeinerung, insofern zwischen der Berücksichtigung von "international law" und "foreign law" unterschieden wird. Auch eine "Geist-Klausel" ist geschaffen, die zugleich wohl auf die "ewige" Spannung von "Buchstaben und Geist" anspielt ("must promote the spirit, purport, and object of the Bill of Rights"); ähnlich schon Art. 36 Abs. 3 Übergangsverfassung. 70 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
den: Ähnlich wie Präambeln sind Übergangs- und Schlußbestimmungen ein zwar nicht notwendiger, aber verbreiteter Bestandteil von verfassungsstaatlichen Verfassungen. Werden sie verwendet, sollte dies klug und im Lichte der bisherigen Erfahrungen geschehen. Nur das Wichtige in Sachen "Übergang" sollte normiert werden, und dies im Bewußtsein, daß auch das scheinbar bloß Technische politisch so wichtig sein kann, daß es auf Verfassungsstufe verankert wird. Barocke Überfülle von Detailnormen schadet auch hier der Idee der Verfassung. Mögen englischsprachige Verfassungen mit "Schedules" arbeiten, die europäischen sollten den bewährten Abschnitt "Schluß- und Übergangsbestimmungen" wählen, auch für Legaldefinitionen und Fiktionen. Themen wie Feiertage, Verfassungsänderungsverfahren oder Ewigkeits- und Eidesklauseln sowie Auslegungsregeln sollten in Hauptteilen der Verfassung piaziert werden, nicht im Abschnitt "Übergangs- und Schlußbestimmungen", sachlich Zusammengehöriges sollte systematisch im gleichen Kontext geregelt werden. Das gilt etwa für alle Themen, die mit dem Zeitfaktor zu tun haben: Fortgeltung bisherigen Rechts, "soweit es mit der neuen Verfassung nicht in Widerspruch steht", Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung, etwa im Blick auf Übergangs-Gremien, Rezeptionen bzw. Status-quo-Garantien auf Zeit, Inkrafttreten, Verfassungsdurchbrechung als Ausnahme von dem übergreifenden Grundsatz optimaler Verfassungsverwirklichung in Gegenwart und Zukunft und neuer Verfassunggebung ("Totalrevision"). Der Tribut an die "Verfassung als Erziehungsziel" (Aushändigung des Verfassungstextes) sollte eher im Kontext der Erziehungsziele (z.B. im Abschnitt "Kultur") und nicht erst am Ende der Schlußbestimmungen behandelt werden. Im übrigen mögen spezielle Traditionen der nationalen Rechtskultur oder regionale Rechtskreise, etwa in Lateinamerika oder Osteuropa im Unterschied zu Westeuropa, eine Rolle spielen. Gegen ein Sammelsurium von sonst thematisch nicht gut unterzubringenden Themen ist nichts einzuwenden. Doch ist gerade hier das Postulat des verfassungsrechtlichen "Regelungsoptimums" einzuhalten: Nur das für das politische Gemeinwesen Wichtige sollte - (auch in den Übergangs- und Schlußnormen) Platz finden.
IX. Die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre Die hier favorisierte und versuchte Ausweitung der traditionellen verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Sichtweise unterliegt einer gesteigerten Begründungspflicht; sie vermag freilich erst durch ausführliche, überzeugende inhaltliche Problemlösungen in konkreten Zusammenhängen
IX. Die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre
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eingelöst zu werden, die hier einstweilen nur durch die skizzierten AuswahlBeispiele ersetzt werden können. Dennoch lassen sich auch auf abstrakter Ebene mindestens vier Plausibilitätsgesichtspunkte für die Notwendigkeit einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft 1308 geltend machen. 1. Eine kulturwissenschaftlich aufgeklärte und vertiefte Verfassungslehre kann verfassungstheoretisch Änderungsprozesse auf der Ebene der Verfassungsinterpretation sowie Verfassungsänderungen und Verfassunggebungen beobachten und erklären, wo ein herkömmlicher verfassungsrechtlicher Positivismus eine scheinbar dezisionistisch zustande gekommene Ausgangslage akzeptieren oder ihre Einbindung in die Verfassung des Pluralismus an kulturund sozialwissenschaftliche Nachbardisziplinen delegieren muß. Für die Erkenntnis von Verfassungswandlungen ist der normative, "nur" rechtswissenschaftliche Ansatz zu eng, weil er erst mit einem gewonnenen und "geronnenen" Text beginnen kann; der sozialwissenschaftliche Ansatz reicht nicht aus, weil er weder die Prozesse der Verfassungsentwicklung im kulturverfassungsrechtlichen Bereich adäquat erfassen kann, noch das allgemein Kulturelle eines Volkes hinreichend würdigt. Erst der kulturwissenschaftliche Ansatz kann die Vorgänge der Verfassungsfortentwicklung sowohl sachlich-inhaltlich als auch funktional-prozessual ganz ins Blickfeld rücken. Einer kulturwissenschafteigentümlich. lichen Verfassungslehre ist mithin eine größere Erklärungskraft 2. Dahinter steht letztlich der Anspruch, Verfassungstheorie und (mittelbar) Verfassungsinterpretation zu rationalisieren, d.h. die auch an die Verfassungslehre zu stellenden wissenschaftlichen Ansprüche nicht vorschnell dezisionistisch unter Berufung auf Normtexte zu reduzieren 1309 . Verfassungslehre als Kulturwissenschaft wendet sich gegen eine rechtspositivistisch halbierte Verfassungsrechtswissenschaft. Sie zieht letztlich nur die Konsequenzen aus den vertieften methodischen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte, die das juristisch-hermeneutische Vorverständnis (kulturwissenschaftlich) offenzulegen und damit methodisch zu disziplinieren suchen. Es geht ferner darum, auf all-
1308 Weitere zentrale Themen einer kulturellen Verfassungslehre sind die "pädagogische" bzw. "kulturelle" Verfassungsinterpretation, dazu meine Schrift Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 71 ff. bzw. mein Münchener Vortrag "Zeit und Verfassungskultur" (1983). S. im übrigen oben VIII in Einzeldarstellungen sowie Fünfter Teil IV. 1309 Die Gegenposition einer scharfen Gegenüberstellung von politisch-sozial-kultureller Entwicklung und rechtlich geordnetem Bereich z.B. bei W. Henke, in: Der Staat 19 (1980), S. 181 (190 f.), der sich wieder auf P. Laband (!) beruft (in: Der Staat 21 (1982), S. 277 (279 f.), kann ohne übergreifende Maßstäbe wissenschaftliche Interpretationsstreitigkeiten schon nicht erklären, sondern nur in "richtig" oder "falsch" sortieren; der kulturwissenschaftliche Ansatz vermag hier vertiefend neue Entscheidungskriterien zu liefern.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gemeiner Ebene die konkreten Varianten des Typus "Verfassungsstaat" (also z.B. der Schweiz oder Österreichs, Frankreichs oder der USA, auch der Kleinstaaten und Entwicklungsländer sowie der Reformstaaten in Osteuropa sowie in Afrika) in ihrer Individualität zu begreifen und sie trotz aller Verschiedenheit als Spielform eines Typus zu sehen, auch Verfassungsreformen auf den richtigen Weg zu bringen, also "Verfassungspolitik" zu betreiben, vor allem aber auch kulturell adäquate Verfassungsinterpretation zu leisten. Die dabei möglichen Formulierungs- und Verständnishilfen bei der Erarbeitung des Kulturverfassungsrechts und der Grenzen des Rechts in diesem Bereich sind insoweit nur ein spezieller Teilbereich der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Der Verzicht auf eine solche Erweiterung der Erkenntnis wäre ein Schritt zur Irrationalisierung von Rechtswissenschaft, die sich den Erkenntnissen über ihre Grundlagen nicht entziehen darf, auch wenn es hier selbstverständlich ebenfalls - aber dann unfreiwillige - Erkenntnisbeschränkungen gibt. 3. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft wird dadurch zum Forum des interdisziplinären Gesprächs und vermeidet damit die Gefahr rechtswissenschaftlicher Provinzialität und "Introvertiertheit" durch Abschottungsprozesse. Gerade für die Verfassungslehre als Integrationswissenschaft wäre eine solche Selbstbescheidung eine größere Gefahr als ein Dilettantismus beim Gespräch mit den Nachbarwissenschaften, so sehr auch dieser vermieden werden sollte. Der kulturwissenschaftliche Ansatz verdeutlicht, daß auch die Verfassungslehre nur Teil in einem arbeitsteiligen Wissenschafitsprozeß ist. 4. Vor allem aber dient eine kulturwissenschaftlich vertiefte Verfassungslehre der Sicherung der Verfassung und des Verfassungsstaates. Es geht darum, die ungeschriebenen, schwer faßbaren Voraussetzungen und Bedingungen eines Verfassungsstaates, auch seine Grenzen ins wissenschaftliche Bewußtsein zu rücken (z.B. um Krisen zu bestehen, die Möglichkeiten und Grenzen der schulischen - Erziehung zur Verfassung zu studieren, um den "Willen zur Verfassung" (K. Hesse) zu stärken). Es geht darum, der Verfassung im Bewußtsein und im Sein eines Volkes gerecht zu werden: Die juristische Geltung ist hier nur die eine Ebene und Seite. Wesentlich wirkt auf Dauer die andere Art von "Geltung": die von allen Bürgern und Gruppen (mit)bewirkte und empfundene. Hier wird Kultur als innere Seite grundrechtlicher Freiheit und Demokratie als „kulturelle Demokratie" relevant 1310 (vgl. jetzt Verf. Südafrika!). Insofern las-
1310
Diese Zusammenhänge springen am Beispiel der Friedens-, Öko-, Frauen- oder sonstiger Alternativ-MBewegungen" ins Auge. Wenn R. Inglehart (The silent Revolution, 1977) Recht hat, daß in den westlichen Industriegesellschaften jenseits eines LinksRechts-Schemas ein Wertewandel mit einer Hinwendung zu "postmaterialistischen" Werten stattfindet, dann lassen sich jene Bewegungen nur "kulturell" erklären: Die kurzfristigen Folgen für die politische Kultur (z.B. der "Grünen" in den Parlamenten),
X. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes
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sen sich die Aufgaben einer kulturwissenschaftlich betriebenen Verfassungslehre begreifen als Versuche, die kulturellen Prozesse im Gemeinwesen nicht bloß distanziert zu beobachten, sondern als Grundierungen des Verfassungsstaates für dessen rechtliche Verfassung fruchtbar zu machen.
X. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes Zur herkömmlichen Sicht der Aufgaben und Methoden sowie des Gegenstandes der Verfassungs(rechts)lehre steht der kulturwissenschaftliche Ansatz folglich in einem ambivalenten Verhältnis. Einerseits wird es jetzt möglich, das den Verfassungen in Raum und Zeit "Vorausliegende" zu erfassen: die kulturelle Ambiance von Verfassungen, die kulturellen Prozesse der Produktion und Rezeption, in die Verfassungen eingebettet sind und die sie aber nur begrenzt steuern können, die kulturellen "Träger", Promotoren und Faktoren. Andererseits darf aber die Forderung, Werden und Vergehen, Inhalte und Funktionen von Verfassungen auch kulturwissenschaftlich zu verstehen, nicht dazu (verführen, die (begrenzte) Relevanz der bisherigen - durchaus bewährten - Methoden der Staatsrechtslehre gänzlich aufzugeben zugunsten einer "Überwissenschaft" "Kulturlehre"! Ohne die Verfassungsinterpreten im engeren Sinn und ihre (Juristen-)"Kunst" gäbe es keinen Verfassungsstaat als eine (disziplinierende) Seite der offenen Gesellschaft. Ihre "andere Seite" konstituiert sich aber ebenso unentbehrlich aus den umrissenen kulturellen Prozessen und Erscheinungsformen politischer und kultureller Öffentlichkeit samt ihren Kontexten. Erst das tagtägliche Zusammenwirken von Verfassungstexten im engeren d.h. herkömmlichen Sinne und der - kulturellen - Verfassungstexte im weiteren Sinne ergibt jenes Gesamtbild, aus dem sich die offene Gesellschaft inhaltlich grundiert. Und - auf diesem Hintergrund -: erst das Zusammenwirken der Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne ergibt eine Theorie und eine Lehre von der "guten" offenen Gesellschaft, die sich zwischen den Momenten der Dauer und des Wandels, der Hoffnung und des Rückblicks sowie
die mittelfristigen für die Verfassungskultur und die langfristigen für das Verfassungsrecht mögen (noch) unabsehbar sein - ohne eine kulturwissenschaftliche Sichtweise und Sichtweite bleibt der Jurist hier hilflos. Vgl. auch R. Inglehart, Wertwandel und politisches Verhalten, in: J. Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, 1979, S. 505 ff; H. Klages/P. Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979; s. auch noch I. Fetscher, Ökologie und Demokratie - ein Problem der politischen Kultur, FS C.F. von Weizsäcker, 1982, S. 89 ff.; zuletzt R. lnglehart, Kultureller Umbruch, 1989.- Kulturwissenschaftliche Überlegungen fließen letztlich in BVerfGE 81, 12 (geistiges Eigentum) ein (bes. S. 18 f., 21 f.). S. auch E 79, 291 (42 f.); E 78, 205. Bemerkenswert E 76, 1 (53): „staatsbürgerliche und kulturelle Identität".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
als Teil kultureller Wachstumsprozesse zwischen Produktion und Rezeption behaupten kann. Wie die Verfassungstexte im engeren und weiteren Sinne untereinander und gegenüber anderen Objektivationen des politischen Lebens bzw. kulturellen Kristallisationen abzugrenzen sind, wäre im einzelnen noch zu untersuchen. Die "Enge" der juristischen Texte bedarf zwar der Aufhellung, Vertiefung und Erweiterung durch kulturelle (Kon-)Texte, bei alledem müssen sie aber juristische Texte bleiben (können). Anders formuliert: der juristische Text darf nicht in der "Weite der Kultur" verloren gehen. Einen näheren Hinweis vermittelt die Einsicht, daß das zu Interpretierende mit den Mitteln der Interpretation nicht identisch ist. Gewiß interpretiert sich ein politisches Gemeinwesen auch juristisch letztlich immer wieder selbst, das "Münchhausentrilemma" ist weder im herkömmlichen Gegenstands- bzw. Methodenbereich noch sonst zu überwinden, aber die kulturellen Texte oder die sonstigen grundierenden Elemente der Verfassungsinterpretation treten nicht einfach an die Stelle des zu interpretierenden Gegenstands. Das Sondervotum wird durch Heranziehung von Teilaspekten seiner Argumentation noch nicht zum Inhalt der Verfassungsnorm (subtil BVerfGE 88, 338 (341): Sondervotum-Zitat in Sondervotum!); das Selbstverständnis von Gruppen und Kirchen wird durch seine Berücksichtigung etwa bei Art. 9 Abs. 1, 3 GG bzw. Art. 140 GG noch nicht zum Art. 9 Abs. 1, 3 bzw. Art 140 GG selbst: so sehr es jeweils interpretatorisch "mitgelesen" werden muß, so sehr bleibt es nur ein grundierendes Element, das sich erst im Konzert aus der Konkurrenz und Rivalität eines Auslegungsvorgangs verdichtet. Ebenso wie bei den herkömmlichen Methoden (und ihrer Lehre) erscheinen die herkömmlichen Verfassungsverständnisse alles andere als überholt 1311 : Sie bleiben wichtige Teilaspekte. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ist nur ein - wichtiger - zusätzlicher Aspekt.
1311 Zu ihnen: K. Hesse, Grundzüge aaO., S. 3 ff, s. auch P. Badura, Art. Verfassung, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl., 1987, Sp. 3737 (3756 ff). Eine Synthese versucht mein Beitrag: Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS D. Schindler, 1989, S. 701 ff. sowie Fünfter Teil VII. In die Horizonte einer Verfassungslehre greift der Sammelband von D. Grimm aus: Die Zukunft der Verfassung, 1991; U.K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994; s. auch J.P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993 (als Stimme aus der Schweiz!) sowie J.-F. Aubert/K. Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, 1991; in Italien: G. Zagrebelsky (a cura di), Il futuro della Costituzion, 1996.- Ein den Staat vorordnendes Verfassungsverständnis aber bei J. Isensee, Staat und Verfassung, HdBStR Bd. I 1987, S. 591 ff.
X. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes
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Vor allem aber wird nun vielleicht das die Verfassungen mitbedingende Kulturelle zwar ein in offengelegten Methoden begreifbarer Gegenstand der (Verfassungs-)Wissenschaft. Doch muß sie sich davor hüten zu meinen, das Kulturelle werde nun bewußter rationaler Gestaltung durch den Verfassungsbzw. Rechtspolitiker verfügbar. Erfassen bedeutet nicht Verfassen! Der Verfassungsstaat und die ihn betreffende Wissenschaft von der "guten Verfassung", wie sie sein soll: die Verfassungslehre, ist zwar eine kulturelle Errungenschaft par excellence, die "kulturelle Kristallisation" der Verbindung von Menschenwürde und Volk, Vernunft und Freiheit, Einzelinteresse und Gemeinwohl, auch Recht und begrenzter Macht. Aber ebensowenig wie der Verfassungsstaat ist sie mit diesen - kulturellen - Voraussetzungen und Bedingungen wie nationale Tradition, Möglichkeiten der Selbstidentifikation von Bürger and Volk etc. identisch. Die den Verfassungsstaat "tragenden" und bewegenden Kräfte und Faktoren sind vielleicht iz.T. formulierbar, sie sind aber nur sehr begrenzt kodifizierbar, im Sinne von verfassungsstaatlich regelbar. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft versucht diese Gebiete und Vorgänge in den Blick zu nehmen, aber sie will sie damit nicht "verrechtlichen". Verfassung als "Anregung und Schranke" (R. Smend), darüber hinausgehend als Konstituierung des Gemeinsamen und Wichtigen einer res publica verstanden, darf sich mit dem Kulturellen nicht gleichsetzen, es nicht etwa gänzlich einverleiben wollen. So sehr sie der vielzitierten Rahmenordnung gleicht, sie ist auf dem Hintergrund des Übergreifend-Kulturellen nur Teilrahmen, wenn nicht gar "Fragment". Verfassung ist ein Stück Kultur, spezifisch rechtlich "geronnener Kultur", aber mit dieser nicht identisch. Gerade die herkömmlichen "bloß" juristischen Sichtweisen und Verständnisse der Verfassung tun hier ein unverzichtbares Werk. Sie erinnern eine Verfassungslehre "als" Kulturwissenschaft an ihre Grenzen; sie leisten (Selbst-) Disziplinierung. Eine totale Gleichsetzung von Verfassung und Kultur verlöre ihren eigenen wissenschaftlichen Gegenstand und Sinn - ganz abgesehen davon, daß sie den Juristen die spezifische Legitimation nähme, gerade von den Verfassungstexten aus, aber über sie hinaus und (nur) durch sie hindurch, ihnen z.T. voraus, z.T. hinterher (als Historiker) nach "Verfassung zu fragen". Es geht also nicht um "Entgrenzung" der Verfassung, nicht um ihre totale "Aufhebung" in Kultur, sondern um die Gewinnung eines erweiterten Blickfeldes, so wie die Entwicklung des Problems der "Verfassungswirklichkeit" ein Stück Erweiterung und Vertiefung war. Das machtfixierte Verfassungsverständnis eines F. Lassalle 1312 ist auch nur ein Teilaspekt geworden.
1312 Vgl. F. Lassalle, Über Verfassungswesen (1862), 1907; dazu K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 3 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Nur in dieser Maßgabe kann sich Verfassungslehre als Kulturwissenschaft in Anspruch und Programm geltend machen. Aber auch in dieser Selbstbescheidung kann sie vielleicht doch einiges "Neue" leisten, so vorläufig, fragmentarisch und skizzenhaft der hier versuchte Vorstoß noch sein mag. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft mag anspruchsvoll sein, das Programm wird auch hier früh auf Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens stoßen. Gleichwohl sollte das Wagnis unternommen werden: Letztlich dient auch dieser wissenschaftliche Versuch dazu, die Chance einer freiheitlichen Verfassung wie des GG in Deutschland zu steigern, zumal im äußerlich wiedervereinigten Deutschland 1313 . Weniger die Grenzen als vielmehr die Chancen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes verdeutlicht das folgende Thema "Europa".
XI. "Kultur und Europa" 1314 In neuer - und zugleich "alter" - Weise ist der kulturwissenschaftliche Ansatz in Sachen Europa gefordert 1315 . Gewiß, dieses Europa hat noch keine Verfassung 1316 , indes ist es durch eine Vielzahl von Teilverfassungen zusammen1313
Dazu P. Häberle, Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Einigung - Defizite, Versäumnisse, Chancen, Aufgaben, in: JöR 40 (1991/1992), S. 291 ff., auch in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1996, S. 133 ff. 1314 Eine Gesamtschau der europäischen Rechtskultur steht noch aus. Sie könnte Maß nehmen an einem Werk wie E.R. Curtius , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1947 (11. Auf. 1993). F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 26 ff. benennt die Reste des westeuropäischen Imperiums, die lateinische Kirche und die spätantike Schule als Elemente der "europäischen Rechtskultur".- Symptomatisch ist auch der Beginn einer historischen Buchreihe "Europa bauen", z.B. L. Benevolo , Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1993; M. Mollai du Jourdin, Europa und das Meer, 1993. 1315 Zum folgenden schon mein Beitrag: Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff. 1316 Aus der unüberschaubaren Literatur zuletzt: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 364 ff; D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995; B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS Böckenförde, 1995, S.109 ff; W. Weidenfeld (Hrsg.), Europa 96 - Reformprogramm für die Europäische Union, 1994; U. Battis/D. Tsatsos u.a. (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995; G.F. Schuppert, Zur Staatswerdung Europas, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 35 ff Aus österreichischer Sicht: H. Schäffer, Europa und die österreichische Bundesstaatlichkeit, in: C. Tomuschat u.a. (Hrsg.), Europäische Integration und nationale Rechtskultur, 1995.- Allgemein: R. Hrbek (Hrsg.), Die Reform der Europäischen Union, 1997.
XI. "Kultur und Europa"
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gebunden, etwa durch die Satzung des Europarates (1949), die EMRK (1950), das Europäische Kulturabkommen (1954), die EU (1992) und die OSZE (1995) und jetzt "Amsterdam" (1997). Vor allem die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH zeichnet im einzelnen kräftige "Verfassungslinien" aus. Vielleicht läßt sich sogar sagen, daß gerade das kulturwissenschaftliche Denken jene Einheit und Vielfalt hervortreten läßt, die Europa zu Europa macht. Die Rechtskultur Europas ist jedenfalls ein Element in diesem Gesamtbild, die Entdeckung von Gemeineuropäischem Verfassungsrecht kommt hinzu 1 3 1 7 . Im folgenden seien nur einige Stichworte formuliert, die eine programmatisch gehaltene Schrift zur "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft", jedenfalls im Jahre 1997 im Blick auf Europa abrunden können, ja müssen. Denn Kultur und Recht "machen" Europa:"Rechtskultur". Zuvor zum offenen, kulturbezogenen Europabegrijf m. In einem ersten Zugriffbedarf es der Umschreibung des Europabegriffs. "Europa" ist in den Kategorien von Raum und Zeit kulturwissenschaftlich zu erfassen. D.h.: Europas Kennzeichen ist die Vielfalt und Einheit seiner Kultur, und als Teil von ihr seine Rechtskultur - gesprochen wird von Europa "as a state of mind, a political ethos, an identification with economic and political transparency and rationality, rather than a simple geographical locus or problem in balance of power" (R. Wedgwood). Zeitlich kommen die frühen Kulturleistungen der griechischen und römischen Antike ins Bild ("Europa" beginnt auch sprachlich in Griechenland!), und das meint - neben den Canones der Philosophie, Literatur und bildenden Kunst auch die Klassikertexte eines Aristoteles (z.B. zum Gleichheitssatz und zur Gerechtigkeit) sowie der römischen Juristen - die historische Dimension über Renaissance und Humanismus bzw. die Rezeptionen des römischen Rechts, sodann die Locke, Montesquieu, Kant u.a. zu verdankenden Strukturelemente des Verfassungsstaates, so sehr dieser sich zunächst national und noch nicht "europaoffen" konstituiert hat. Obwohl Europa Nationalgeschichte war bzw. wurde, das Übergreifende des Heiligen Römischen Reichs (deutscher Nation) blieb jedenfalls nach außen (in Abgrenzung etwa gegenüber dem Islam und der Türkei) immer ein Element seines Ganzen. Modern gesprochen: "Gemeineuropäisches" war immer eine bald stärkere, bald schwächere Dimension, die nur 1789 verblaßte, aber im deutschen Idealismus eines I. Kant (Traktat zum ewigen Frieden, Weltbürgertum) oder bei Goethe (in der Form
1317
Vgl. P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff, auch in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff; dieser Ansatz des Verf. wird in Italien aufgegriffen z.B. von F. Cocozza, Diritto comune delle libertà in Europa, 1994, S. 16 ff. 1318 Zum folgenden schon mein Beitrag in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 364 ff.
1068
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
des "westöstlichen Diwan" bzw. "Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident"...) lebendig blieb 1 3 1 9 . Die Ausbildung Europas als Kultur und Rechtskultur auf der Zeitachse - also geschichtlich - ist sodann in der Kategorie des Raumes nachzuvollziehen: Das "europäische Haus" hat offene Grenzen, es läßt sich nicht in der Weise eines "Grundbuches" vermessen und festlegen. Die räumlichen Grenzen sind flexibel, im Streit um das "Europa vom Atlantik bis zum Ural" (de Gaulle) ebenso ersichtlich wie bei der Frage, ob Israel oder die Türkei zu Europa gehören, oder die asiatischen Teile der russischen Föderation - trotz ihrer Mitgliedschaft in der OSZE 1 3 2 0 . Wie aktuell diese Fragen sind, sehen wir am Streit um Art und Weise des Beitritts der Türkei zur EU, Mitglied des Europarates ist sie; gehört sie aber zum "Kerneuropa"? Dürfen, sollen wir mit der Metapher von "Kern" und "Schalen" arbeiten? Etwa weil die Türkei zum islamischen Kulturkreis und nicht zum "christlichen Europa" gehört? (Sein Recht ist jedoch von Europa beeinflußt.) Das europäische Kulturerbe hat sich jedenfalls auch räumlich "objektiviert", und vermutlich ist letztlich um eine an den Kommunen und Kleinstaaten schon praktizierte Verfassungstheorie des - kulturellen - Raumes, 1321
jetzt des europäischen Raumes zu ringen . Die Idee des engeren und weiteren Raumes "Europa" spiegelt sich im schon gewordenen bzw. noch werdenden "Gemeineuropäischen Verfassungsrecht" bereits wider: die Unterscheidung von Europarecht im engeren (d.h. EU-bezogenen) und weiteren (d.h. Europarat-, auch OSZE-bezogenen) Sinne ist bekannt. Gibt es also doch mehrere Zonen unterschiedlich "dichten" Europäischen Verfassungsrechts? Bestehen innere Balanceprobleme, etwa der Art, daß der erhofften "Osterweiterung" der EU die von Frankreich betriebene Süderweiterung (Malta, Zypern) parallel laufen 1319
Aus der unüberschaubaren Lit.: zuletzt J.A. Schlumberger/P. Segl (Hrsg.), Europa· aber was ist es? 1994; H. Maier, Art. Europa II, Staatslexikon 6. Bd., GörresGesellschaft (Hrsg.), 7. Aufl. 1992, S. 104 f.; M. Stolleis, Das europäische Haus und seine Verfassung, KritV 1995, S. 275 ff; E. Denninger, Das wiedervereinigte Deutschland in Europa, ebd., S. 263 ff. 1320 Eindrucksvoll L. Kopelew, Freie Dichter und Denker, Geographisch und geistesgeschichtlich gehört Rußland zu Europa, FAZ vom 24. Dezember 1994, S. 6.- Gerade für die Türkei bleibt es bei der bloßen Frage. Ob sie zu Europa gehört, kann wissenschaftlich hier und heute nicht entschieden werden. Zwar bildet ein Element ihrer Europazugehörigkeit gewiß auch ihr eigenes Selbstverständnis, doch muß die Frage der Europazugehörigkeit eines Landes auch nach anderen Elementen wie den kulturellen, rechtskulturellen, politischen, historischen, wirtschaftlichen und geographischen vom übrigen Europa her beantwortet werden. Dieses Ensemble von Kriterien für die Europazugehörigkeit ist denkbar komplex. 1321 Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, 1979, S. 38 ff.; ders., Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates (1993), in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 739 ff; allgemein ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, (Vorauflage) 1982. Vgl. Sechster Teil VI Ziff. 8 Inkurs.
XI. "Kultur und Europa"
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muß? Sicher ist, daß eine kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungstheorie des Raumes erforderlich ist, ohne daß damit eine Neuauflage des unseligen "Großraumdenkens" gemeint ist: M. Heidegger hat ja zum Glück nur ein Buch "Sein und Zeit", nicht auch "Raum und Zeit" geschrieben! Europas Kultur und Rechtskultur ist eine vielfältig gegliederte, aber doch räumlich ausgreifende. Diese Balancen im Raum brauchen wir in Problembereichen wie dem "Europa der Regionen", bei der "Subsidiarität" und der "kulturellen Identität" der Mitgliedstaaten. Von vier Seiten her sei das "teilverfaßte" Europa aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive beleuchtet: gemäß seinem Verrechtlichungsstand bis zu "Maastricht I" von 1992 (1) sowie von seiner "Rechtskultur" her (2), unter dem Stichwort "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" (3) unter dem des "europäischen Juristen" (4).
1. Kulturverfassungsrecht im Vertrag von Maastricht (1992) Schon eine Analyse der Europa-Texte vor "Maastricht" hat es erlaubt, von einer "werdenden Kulturverfassung Europa" zu sprechen 1322 . Als Stichworte ließen sich herausschälen: "Europa zwischen kulturellem Erbe und kulturellem Auftrag - Europa als kultureller Prozeß", und nachweisbar waren bereits dank einer vergleichenden Textstufenanalyse von der frühen EMRK bis zur kontinuierlich wachsenden Prätorik der europäischen Verfassungsgerichte in Straßburg und Luxemburg Ansätze zu "gemeineuropäischem Grundrechte-Recht" sowie "gemeinsame Kulturgehalte" trotz aller "dezentralisierten Organisationsstrukturen". Ein kräftiger Wachstums- bzw. Textschub in dieser Richtung ist jetzt dem Vertragswerk von "Maastricht" zu verdanken. Das prozeßhafte Stufendenken klingt schon in Art. A Abs. 1 an ("neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas"). Art. F Abs. 1 spricht von der Achtung der "nationalen Identität" - ein Rechtsbegriff, der in seiner Vielschichtigkeit nur kulturwissenschaftlich erschlossen werden kann. Vor allem nimmt Abs. 2 ebenda auf die "gemeinsamen Verfassungsüberlegungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts" Bezug. Diese Rezeption ist eine Rezeption von gewachsener Rechtskultur bzw. gemeinsamer Verfassungskultur.
1322
So der Verf. in JöR 32 (1983), aaO., S. 20 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Nach einem berühmten Wort von J. Monnet würde er Europa von der Kultur her aufbauen, hätte er es noch einmal mit der Gründung der EWG zu tun. Der durch "Maastricht" 1992 modifizierte EG-Vertrag läßt das Kulturverfassungsrecht innerhalb der EU kräftig wachsen, er deutet neue Felder europäischer Kulturpolitik an, die im folgenden stichwortartig aufgelistet seien. Art. 128 schaffte ein "Kulturklausel", die an inner-verfassungsstaatliche Kulturstaatsklauseln der jüngsten Entwicklungsstufe (etwa in den neuen Bundesländern Deutschlands) erinnert und in dem Textelement "kulturelles Erbe" in ähnlichen Klauseln der Entwicklungsländerverfassungen 1323 ein wichtiges Vorbild hat. Abs. 1 lautet: "Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes." Insofern wird "Kultur" eine Gemeinschaftsaufgabe der EU, freilich in gewiß schwieriger Balance zur ebenfalls zu wahrenden "nationalen und regionalen Vielfalt" der Unionsländer. Auch und gerade diese "Vielfalt" bzw. "nationale Identität" (Art. F Abs. 1 EU-Vertrag) ist eine letztlich in kulturellen Tiefenregionen wurzelnde. Vielleicht darf man von einer multikulturellen Kultur Europas sprechen. In Absatz 2 wird der Kulturbegriff bereichsspezifisch-entwicklungsoffen illustriert durch Wendungen wie "Kultur und Geschichte der europäischen Völker", "kulturelles Erbe von europäischer Bedeutung", "nichtkommerzieller Kulturaustausch", "künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich im audiovisuellen Bereich" (!). Hinzuzunehmen sind die im Kapitel "Allgemeine und berufliche Bildung und Jugend" formulierten Kulturpolitiken, wie "europäische Dimension im Bildungswesen", "Austausch sozialpädagogischer Betreuer", "Förderung der Entwicklung der Fernlehre". Gar nicht überschätzt werden kann Art. 128 Abs. 3 EGV: "Die Gemeinschaft trägt den kulturellen Aspekten bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrags Rechnung". Denn damit wird der Kulturauftrag
1323
Dazu die Nachweise in: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 791 ff- Beispiele "kulturverfassungsrechtlicher" Literatur in Europa: G Ress, Die neue Kulturkompetenz der EG, DÖV 1992, S. 944 ff.; H.-J. Blanke, Europa auf dem Weg zu einer Bildungs- und Kulturgemeinschaft, 1994; F. Fechner, Vorbemerkungen, Kommentar zu Art. 128 EGV, in: Ehlermann/Bieber, Handbuch des Europäischen Rechts, 1995; D. Staudenmayer, Europäische Bildungspolitik, BayVBl. 1995, S. 321 ff; im weiteren Sinne gilt dies auch für W. Weidenfeld u.a., Europäische Kultur: das Zukunftsgut des Kontinents, 1990. Zuletzt: Λ. Bleckmann, Die Wahrung der nationalen Identität im Unions-Vertrag, JZ 1997, S. 265 ff. (S. 268 f.: "Nationale Identität und Aufrechterhaltung der kulturellen Verschiedenheit").
XI. "Kultur und Europa"
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umfassend in alle Politiken der Gemeinschaft hineingetragen und die EG/EU im Grunde als "Kulturgemeinschaft" etabliert. Die Zukunft wird zeigen, wie stark diese Kulturklausel auf die Praxis der EG bzw. EU ausstrahlt, ob sie letztlich dem von J. Monnet gemeinten Europa der Kultur gerecht wird. Die Teilfelder der Forschung und Technologie (Art. 130 f.) dürften diese Klausel ebenso angehen wie die Umweltpolitik (Art. 130 r) und die Entwicklungspolitik (Art. 130 u). Wenn hierbei das "allgemeine Ziel einer Fortentwicklung und Festigung der Demokratie und des Rechtsstaats sowie das Ziel der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" normiert ist, so sind damit (Rechts-) Kulturziele par excellence angesteuert: Strukturelemente des Verfassungsstaates als kulturelle Errungenschaften. So wird der Bogen geschlagen zum schon erwähnten Art. F Abs. 2 bzw. seinen "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen", die qua "allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts" ein Stück der materialen Allgemeinheit Europas konstituieren. Auf diesen - spezifisch kulturellen - Kontext Europas verweist schließlich der Parteien-Artikel 138 a E G V 1 3 2 4 : "Politische Parteien auf europäischer Ebene sind wichtig als Faktor der Integration der Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewußtsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen". Das "europäische Bewußtsein" ist als Begriff in kulturwissenschaftlichem Ansatz aufzuschließen, und die Integrationsfunktion der Parteien ist letztlich ein kultureller Vorgang. Schließlich ein Wort zum Verhältnis von Staat und Kirche in Europa 1325 . Wenn es eines Beweises der These bedürfte, daß Staatskirchenrecht "spezielles Kulturverfassungsrecht" ist, dann belehrten uns spätestens die Kulturartikel im EU- und EG-Vertrag von "Maastricht I" hierüber. Spätestens mit ihm ist aber auch von dem (deutschen) Begriff "Staatskirchenrecht" Abschied zu nehmen. (Er widerspricht schon dem Wortlaut von Art. 137 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG: "Es besteht keine Staatskirche".) Für Europa taugt er nicht. Es gibt nur
1324
Aus der Lit.: D. Tsatsos, Europäische politische Parteien?, EuGRZ 1994, S. 45 ff; C. Lange/C. Schütz, Grundstrukturen des Rechts der europäischen politischen Parteien i.S. d. Art. 138 a EGV, EuGRZ 1996, S. 299 ff. 1325 Dazu A. Hollerbach, Europa und das Staatskirchenrecht, ZevKR 35 (1990), S. 263 ff.; G. Robbers, (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995; W. Rüfner, Staatskirchenrecht - Überlegungen zu Status und Funktion der Kirche im vereinten Europa, in: J. Ipsen/H.-W. Rengeling u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 485 ff; C. Starck, Das deutsche Kirchenstaatsrecht und die Europäische Integration, FS Everling, Bd. II, 1995, S. 1427 ff.; R. Streinz, Auswirkungen des Europarechts auf das deutsche Staatskirchenrecht, in: Die Staat-Kirche-Ordnung im Blick auf die Europäische Union, Essener Gespräche 31 (1997), S. 53 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
europäisches Religionsverfassungsrecht, kein europäisches "Staatskirchenrecht"! Mindestens auf der europäischen Ebene ist der Begriff "Kirche" durch den allgemeineren der "Religion" zu ersetzen, man denke an den Islam als "zweite Religion" in Frankreich. Im übrigen bedarf es viel "praktischer Konkordanz" (K. Hesse), um die kultur- bzw. religionsverfassungsrechtlichen Artikel wie Art. F EUV ("nationale Identität aus Kultur"), Art. 3 b EGV (Subsidiarität auch im kulturellen Bereich) und Art. 128 EGV auszuloten. Denn hier kommt es zu Reibungen und Konflikten, etwa zwischen der "Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten durch die Gemeinschaft", was ja auch Veränderungen im religionsrechtlichen Bereich (z.B. im Arbeitsrecht) bedeuten kann, und der nationalen Identität aus Kultur. Der Hinweis auf das "gemeinsame kulturelle Erbe" ist eine Aufforderung, den Wurzeln "gemeineuropäischen Religionsverfassungsrechts" auch in der Vielfalt nachzugehen. (Freilich: Religionsverfassungsrecht ist nicht nur "gewachsen", es entwickelt sich auch.) Viele Chancen zur Berücksichtigung des Religions(verfassungs)rechtlichen liegen in Art. 128 Abs. 4 EGV. Im übrigen ist ganzheitliche Interpretation gefordert. Über Art. 126 EGV ist z.B. der Begriff "Kultur" zu erweitern, sofern man nicht Art. 128 EGV selbst von vornherein i.S. eines weiten Kulturbegriffs interpretiert 1 3 2 6 . Kurz: Das europäische Religionsverfassungsrecht ist nach Maßgabe der Artikel von "Maastricht I" in "harter Dogmatik" (z.B. durch die Instrumente der "Status quo-Garantien", aber auch der "leistungsrechtlichen Dimensionen" der Religionsfreiheit, jetzt qua "gemeinschaftsrechtlicher Förderung" sowie der Rolle des Selbstverständnisses) so differenziert zu erfassen, wie dies z.B. in Deutschland bei Art. 140 GG gelungen ist (und in Einbeziehung des neuen ostdeutschen Religionsverfassungsrechts noch zu leisten ist). Dabei hilft der gemeineuropäisch-rechtsvergleichende Ansatz ebenso weiter wie der kulturwissenschaftliche. Elemente der kulturellen Identität Deutschlands in Sachen Religionsverfassungsrecht sind gewiß Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG einschließlich der Schranken, kaum jedoch Art. 137 Abs. 6 ebd. Der in Art. 137 Abs. 5 ebd. anklingende materielle Öffentlichkeitsstatus gehört ebenfalls hinzu, wobei die Frage nach der (Nicht-)Verleihung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus an verfassungswidrige Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 5 m.E. über die Schranken des Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140
1326
Zum Problem Robbers, aaO., S. 360.- Bemerkenswert ist der Textvorschlag im "Memorandum zur Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Vertragswerk der EU" (Juni 1995), in dem angeregt wird, den EG-Vertrag zu ergänzen um den Passus: "Die Gemeinschaft achtet die verfassungsrechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten als Ausdruck der Identität der Mitgliedstaaten und ihrer Kulturen sowie als Teil des gemeinsamen kulturellen Erbes".- Von "Kirchen" ist nicht mehr die Rede! - Vorbildlich religions- bzw. kulturwissenschaftlich arbeitet BVerfGE 81, 58 (66 ff.); s. schon E 76, 143 (158 ff.).
XI. "Kultur und Europa"
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GG zu lösen ist. Auch die Kirchengutsgarantie (Art. 138 Abs. 2 WRV) dürfte ein im Kontext der Vielfalt von Europas Kulturen spezifisch deutsches Identitätselement sein. Hier öffnen sich viele Aufgabenfelder. Dabei sollten die christlichen Kirchen aus der Defensive in die Offensive gelangen. Ihr historischer Beitrag und ihre künftige Rolle als "Kulturfaktor" in und von Europa, freilich in toleranter Gesprächsbereitschaft mit anderen Religionen, insbesondere dem Islam und Judentum (wie vor 1492 in Andalusien), kann dieses Europa der kulturellen Vielfalt selbst weiterentwickeln. Man darf gespannt sein, ob und wie der diskutierte "Kirchenartikel" in "Maastricht II" gelingt und wie er in Turin oder später (in Amsterdam, 1997) formuliert wird. Er muß Raum geben für das Wirken der Kirchen in der "europäischen Öffentlichkeit", sollte aber so gefaßt sein, daß den Besonderheiten der EU-Mitgliedsländer Rechnung getragen werden kann. Klug gefaßt kann er verhindern, daß die Kirchen und Religionsgemeinschaften nach und nach ins "rein Private" abgedrängt werden. Im ganzen: Die EU als Teilverfassung Europas bildet schon jetzt ein weites und tiefes Anwendungsfeld kulturwissenschaftlichen Arbeitens - bereits ausweislich der neuen Texte. Sie greift - tiefer gesehen - in das Europa der Kultur, das zu einem solchen nicht zuletzt durch seine Rechtskultur geworden ist.
2. Die europäische Rechtskultur Im folgenden können nur einige Elemente benannt werden: a) Die Geschichtlichkeit Die europäische Rechtskultur ist in mehr als 2000 Jahren zu einer solchen geworden 1327 . Die einzelnen Phasen und ihre Hervorbringungen überlagern sich wie Schichten und sind alle in ganz Europa mehr oder weniger präsent. Die philosophische Grundlegung im alten Griechenland wurde schon erwähnt, der bis heute wohl nicht wieder erreichte spezifische Juristenverstand der Römer ebenso. Hinzuzunehmen sind die Beiträge des Juden- und Christentums, unmittelbar sichtbar in Gestalt der 10 Gebote von Moses, die sich nicht nur im Strafrecht der europäischen Völker, bei allen nationalen Varianten und trotz fortschreitender Säkularisierung widerspiegeln. Antike, Mittelalter und Neuzeit
1327
S. 33).
Anschaulich: T. Rathnow: "Gedächtnisraum Europa" (FAZ vom 5. April 1993,
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
haben ihre bleibenden, oft auch sich verändernden Beiträge zur europäischen Rechtskultur geleistet: Wachstumsringen ähnlich. Erinnert sei für das Privatrecht - neben der Rechtsgeschäftslehre bzw. Privatautonomie - an römische Glanzleistungen wie die "ungerechtfertigte Bereicherung" (vgl. §§ 812 ff. BGB), für das Strafrecht an die allmähliche Abkehr vom alttestamentarischen Talionsprinzip (nicht nur Vergeltung, sondern auch Erziehung und Besserung als Strafzweck), vor allem an die Durchsetzung des Schuldprinzips im Sinne "persönlicher Vorwerfbarkeit". Die Kontroverse zwischen "romanistischem" und "germanistischem" Eigentums Verständnis hat ganze Generationen beschäftigt. Die (nationale) Rechtsgeschichte, heute immer stärker in den europäischen Rahmen gestellt, bleibt unentbehrlich für alles juristische Arbeiten. Die großen Leistungen des kanonischen Rechts (auch der germanischen Volksrechte) und die Ausstrahlung auf das weltliche (z.B. in Sachen Mehrheitsprinzip) sei wenigstens erwähnt 1328 . Ob Ostrom bzw. später "Byzanz" klassische Elemente der europäischen Rechtskultur geschaffen haben, bleibt offen. Jedenfalls ist Justinian I. das "Corpus Juris Civilis" zu verdanken. b) Die Wissenschaftlichkeit
- juristische Dogmatik
Die Wissenschaftlichkeit - die juristische Dogmatik - bildet ein zweites Kennzeichen der europäischen Rechtskultur unserer Entwicklungsstufe. War sie in den großen Perioden Roms pragmatisch, aber in z.T. genialen Leistungen gewachsen, so wird vor allem im Zuge der Rezeption des römischen Rechts die Verwissenschaftlichung beschrieben 1329 . In der Moderne hat sich die Verwissenschaftlichung weiter verfeinert. Von I. Kant bis Max Weber ist diese durchlaufende Entwicklung befördert bzw. beobachtet worden. Recht wird im Vorgang der Setzung wie der Interpretation mit Rationalität in Zusammenhang gebracht. Jüngste Beiträge sind unter dem Stichwort eines J. Esser "Vorverständnis und Methodenwahl" (1972), (auch im Anschluß an H.-G. Gadamers "Wahrheit und Methode" (1960, 4. Aufl., 1975)), geleistet worden. Die Rechtspolitik ist als Gesetzgebungslehre 1330 Teil der Wissenschaft geworden, und Legionen von Literatur beschäftigen sich mit Fragen der "richtigen" Methoden der Auslegung z.B. in der Verfassungsinterpretation 1331. Weitere Stichworte
1328 Zur Ausstrahlung des kanonischen Rechts: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 71 ff. 1329 Dazu F \ Wieacker, Privatrechtsgeschichte, aaO., S. 131. 1330 P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973; jetzt E. von Hippel, Rechtspolitik, 1992. 1331 Dazu etwa P. Schneider/H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-
XI. "Kultur und Europa"
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liefert die Diskussion über Grundwerte 1332 . Im übrigen bildet es einen Ausdruck dieser Wissenschaftlichkeit des Rechts in Europa, daß es viele Teildiszipinen gibt. Die Spezialisierung ist freilich weit fortgeschritten, und mitunter ist das "geistige" Band der einen Rechtswissenschaft kaum mehr präsent. Die Rechtsphilosophie (als Frage nach dem "richtigen Recht") und heute m.E. die Verfassungslehre (als Lehre vom Typus Verfassungsstaat) sind diese "Rahmenwissenschaft". Doch stehen wir hier in Deutschland erst am Anfang. Auf den "Schultern der Riesen" der Weimarer Klassiker im doppelten Sinne des Wortes (sc. das Dreigestirn von R. Smend, H. Heller, C. Schmitt 1333 ) sehen wir nicht zuletzt dank der großen Leistungen des BVerfG weiter als diese, aber wir bleiben doch "Zwerge", auch wenn der bundesdeutschen Staatsrechtslehre Hand in Hand mit "Karlsruhe" (d.h. dem BVerfG) manche neuen juristischen Erfindungen geglückt sind, die auch in anderen Ländern Europas rezipiert werden (z.B. das Übermaßverbot bzw. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, überhaupt die Verfeinerungen der Grundrechtsdogmatik 1334 ). Nur erwähnt sei die Auffächerung in viele juristische Teildisziplinen: vom klassischen Privatrecht mit vielen Nebengebieten über das Arbeits- und Wirtschaftsrecht, das Strafrecht, das Verwaltungs- und Verfassungs-, Völker- und Europarecht. Die Rechtsvergleichung, vom Privatrecht in großen Namen von E. Rabel über M. Rheinstein bis K. Zweigert pionierhaft begründet, erlebt derzeit auch im öffentlichen Recht großen Aufschwung 1335 . Sie bildet übrigens in der Raumdimension das, was die Rechtsgeschichte in der Zeit bedeutet. Beides zusammen kann erst den kulturellen Mikro- und Makrokosmos des Rechts erfassen. Eine Frucht der ver-
republik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 20 ff.; R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 1332 Dazu G. Gorschenek, (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977, 3. Aufl. 1978; P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. Vgl. oben VIII Ziff. 2 b. 1333 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; H Heller, Staatslehre, 1934; C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928. Zum Ganzen auch mein Beitrag: Ein "Zwischenruf' zum Diskussionsstand in der deutschen Staatsrechtslehre, FS H. Maier, 1996, S. 327 ff. 1334 Dazu z.B. P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; femer P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962 (3. Aufl., 1983), jetzt auch in italienischer Übersetzung (1993), a cura di P. Ridola, sowie in spanischer Übersetzung (1997); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994. Sodann die Beiträge in HdBStR Bd. V (1992). S. noch oben VIII Ziff. 1 (Lit.). 1335 Früh dazu etwa R. Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: ZaöRV 24 (1964), S. 430 ff.; J.M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 99 (1974), S. 193 ff. Zuletzt mein Sammelband: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. 71 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gleichenden Rechtswissenschaft bildet die Lehre von den "Rechtskreisen" 1336 . Unterschieden wird etwa zwischen dem "romanischen" (z.B. Italien, Frankreich), dem "germanischen" (Deutschland) oder "nordischen" (Skandinavien), dem "angelsächsischen" etc. Rechtskreis. Diese Rechtskreislehre ist wiederum ein Werk der Wissenschaft und im Grunde "eurozentrisch". Heute, 1997, ja spätestens seit dem Jahre 1989 und seiner Weltstunde des Verfassungsstaates, muß sie neu konzipiert werden. Denn die Rezeption von Verfassungsrecht (z.B. vom deutschen GG hin zur Verfassung Griechenlands (1975), Portugals (1976) oder Spaniens (1978)) ist beachtlich und "mischt" die Rechtskreise auf neue Weise. Von Italiens Verfassung von 1947 - sie war von der deutschen Weimars (1919) beeinflußt -, wanderten manche Rechtsideen ihrerseits in die beiden iberischen Länder (z.B. der Regionalismus), die neuen Schweizer Kantonsverfassungen (seit den 60er Jahren) sind von der deutschen Rechtsprechung und Dogmatik nicht wenig beeinflußt 1337 , und die deutsche Staatsrechtslehre war und ist unter dem GG auch intensiven Einflüssen aus den USA ausgesetzt. c) Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung in Bindung an Gesetz und Recht und damit auch die Gewaltenteilung (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) - eng mit der juristischen Dogmatik als einer Form der wissenschaftlichen Wahrheitssuche verknüpft - ist ein drittes großes Merkmal europäischer Rechtskultur und Ausdruck durchgängiger Rechtsstaatlichkeit. Die Verselbständigung der sog. "3. Gewalt" gegenüber dem Staat - auch und gerade im Verfassungsstaat -, d.h. ihre bzw. des Rechts Verläßlichkeit, die schrittweise Herauslösung aus den Weisungsabhängigkeiten im absoluten bzw. konstitutionellen Staat (die Verwaltungsgerichtsbarkeit beginnt in Deutschland in Baden (1863)), die Gefährdungen selbst unter einem Friedrich dem Großen ("Fall Müller Arnold"), der Verlust im NS-Staat und dann wieder in der DDR - all dies zeigt, wie mühsam und letztlich doch erfolgreich Rechtsprechung durch sachlich und persönlich unabhängige Richter war und ist und welche kulturelle und politische Leistung sich dahinter verbirgt. Die Frage, ob es sich um "case law" oder um "statute 1336
Vgl. K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I, 1971, S. 67 ff. (2. Aufl., 1984, S. 72 ff., 3. Aufl. 1996, S. 62 ff); M. Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl. 1987, S. 15, 77 ff.; L.-J. Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. III, 1983, S. 73 ff. 1337 Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 182, (2. Aufl. 1996); ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 1 ff; ders., Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, in: JZ 1992, S. 1033 ff.
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law" handelt, ist eher sekundär, beides nähert sich heute stark an. Entscheidend bleibt, ob die Richter unabhängig sind . (Sie leisten derzeit bei der Aufdeckung von Korruption in Italien, Frankreich, Spanien und Belgien besonders viel!) Erinnert sei indes an die menschlichen Grenzen dieser Unabhängigkeit: auch die Richter sind dem "Zeitgeist" ausgesetzt1338: im "Kaukasischen Kreidekreis" von B. Brecht sind von einem Dichter die Grenzen des menschlichen Richtens auf einen Klassikertext gebracht worden. Der Richterkönig Salomon bleibt ein weiterer gültiger Ausdruck des Problems des Richteramtes 1339 . d) Die weltanschaulich-konfessionelle Neutralität Toleranz des Staates - Religionsfreiheit, Zu den Fundamenten der europäischen Rechtskultur gehört die Garantie der Religionsfreiheit bzw. die sog. weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates (BVerfGE 27, 195 (201); 33, 23 (28)), jetzt Art. 25 Abs. 2 Verf. Polen von 1997). Sie erweist sich für unser Verständnis von "gerechtem Recht" als zentral. Die Religionsfreiheit (nach G. Jellinek die Urfreiheit), die damit verknüpfte staatliche "Toleranz in Religionssachen", das Prinzip der "Nichtidentifikation" (Herb. Krüger) ist Gerechtigkeitsbedingung. Erst dadurch konnte der "Verfassungsstaat" zu einem solchen werden. Alle kulturelle Differenz, aller Pluralismus, alle kulturelle Freiheit hängen letztlich von diesem Ergebnis des Prozesses der Säkularisierung ab - wir können leicht die "Gegenprobe" an Beispielen des islamischen Fundamentalismus oder der ideologisch gebundenen sog. "Rechtsprechung" in totalitären Staaten aller Art machen. Europa jedenfalls hat seine Rechtskultur und Kultur überhaupt via Neutralität des Staates ins Offene wachsen lassen können. (Staatskirchenrechtliche Sonderformen wie die "hinkende Trennung" zwischen Staat und Kirche nach dem GG sind damit vereinbar.) Die Toleranz, derzeit als aktive Minderheitenpolitik des Europarates fortentwickelt, gehört hierher.
1338
Dazu K. Zweigert, Zur inneren Unabhängigkeit des Richters, in: FS F. von Hippel, 1967, S. 711 ff. 1339 Allgemein dazu R. Smend, Festvortrag 10 Jahre BVerfG, in: Das Bundesverfassungsgericht, 1963, S. 23 ff- Dem (Verfassungs)Richteramt ist auch auf dem Kontinent die Erarbeitung "ungeschriebener Verfassungsgrundsätze" möglich (vgl. nur BVerfGE 80, 244 (255)).
1078
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft e) Europäische Rechtskultur als Vielfalt
und Einheit
Der Begriff "Europäische Rechtskultur" suggeriert den Aspekt der Einheit. Näher betrachtet, gehört ihm aber die auch tatsächlich gelebte Vielfalt von vornherein hinzu, so wie wir die europäische kulturelle Identität dialektisch ebenfalls aus Einheit und Vielfalt definieren. Sogar der EGV (1992) sagt in Art. 128 Abs. 1: "Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes". Und Art. 126 Abs. 2 EG-Vertrag spricht von einer "europäischen Dimension des Bildungswesens". Das "gemeinsame kulturelle Erbe" umschließt auch das rechtskulturelle Erbe, die "nationale Vielfalt", gewiß auch das je nationale Recht der europäischen Staaten. Obwohl hier formal nur die derzeit 15 EU-Länder gemeint sind, können beide Begriffe für alle Verfassungsstaaten Europas in Anspruch genommen werden. Dazu einige Stichworte: Für die europäische Rechtskultur ist bei allen gemeinsamen Wurzeln in Antike und Mittelalter die Entstehung des Nationalstaates und die damit verbundene eigene - durch das Gewaltmonopol garantierte - Rechtsordnung kennzeichnend. Unabhängig von den "Rechtsfamilien" und "Rechtskreisen" unterscheiden sich die einzelnen Staaten in Europa durch ihr spezifisch nationales Recht. Das gilt für die Kodifikationsidee der Naturrechtszeit, etwa das PrALR (1794) und den weit nach Deutschland ausstrahlenden Code Napoléon, es gilt für das BGB von 1900 und das ihm in Prägnanz, Sprachform und Volksnähe sogar überlegene Schweizer ZGB von Eugen Huber (1911). Das Ziel aller klassischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert war das eigene Recht, Ausdruck der eifersüchtig gehüteten Souveränität. Bei aller Abhängigkeit der Menschenrechtskataloge von Frankreich 1789 bis Belgien 1831: die deutsche Paulskirche 1849 - zuvor der süddeutsche Konstitutionalismus - hatte ihre spezifischen Einfärbungen. Das überkommene "jus commune" war durch das nationale Recht zurückgedrängt worden 1340 . Und heute gehören die Verfassungsstaaten Europas zwar alle dem Typus "Verfassungsstaat" an, sie variieren dessen Elemente indes vielfaltig: z.B. in Sachen Föderalismus bzw. Regionalismus 1341 , Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit,
1340 Dazu H. Coing , Europäische Grundlagen des modernen Privatrechts, 1986; ders., Gesammelte Aufsätze 1947 - 1975, Bd. 2, 1982. 1341 Vgl. meinen Beitrag: Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates..., in: AöR 118 (1993), S. 1 ff; A. D'Atena , Federalismo e Regionalismo (a cura di), 1995; P. Häberle, in: G. Zagrebelsky (a cura di), Il federalismo e la de-
XI. "Kultur und Europa"
1079
Grundrechtsverständnis oder politischer Kultur. Auch der Rechtsprechungsund Wissenschaftsstil - typisches Kennzeichen einer Rechtskultur - ist eminent national geprägt. Erwähnt seien etwa die Knappheit der Urteile der französischen Gerichte und die habilitationsgleichen Leistungen des BVerfG 1 3 4 2 . Italien kennt im Gegensatz zum BVerfG in seiner Corte Costituzionale noch keine richterlichen Sondervoten, der Präsident der Corte A. Baidassare hatte sie jedoch (1995) gefordert, - Spanien sieht sie bereits in seiner neuen Verfassung von 1978 (Art. 164 Abs. 1) vor. Die deutsche Rechtswissenschaft wird oft wegen ihrer "Fußnotenseeligkeit" bespöttelt 1343 , gewiß auch wegen ihrer Gedankentiefe geschätzt; wir bewundern umgekehrt die vom common sense geprägte, allgemein verständliche juristische Literatur (und Judikatur) Großbritanniens (auch der USA). Kurz die Pluralität der nationalen Rechte ist ein Teil der Identität der europäischen Rechtskultur. Im unterschiedlichen Gesetzgebungsstil, in der jeweiligen Verwaltungskultur 1344 könnten ähnliche Differenzierungen der Nationen Europas beobachtet werden. Sie bilden zugleich ein Stück seines Reichtums, gerade auch in der Konkurrenz, z.B. beim Ringen um den Einfluß auf die Verfassunggeber in Osteuropa heute 1345 , vor allem aber auf der EG/EU-Ebene und im Rahmen des EGMR in Straßburg. Damit rücken Elemente des gemeinsamen 'Vectekulturellen Erbes" ins Blickfeld: das Europarecht im engeren (EG/EU-bezogenen) und im weiteren, den Europarat, die EMRK und die KSZE (bzw. jetzt OSZE) einschließenden Sinne (Charta von Kopenhagen und Paris (1990)). Hatte selbst der Nationalstaat nicht alle gemeinrechtlichen Wurzeln der Rechtsordnungen der europäischen Völker kappen können: erst in neuerer Zeit blüht das Gemeinsame in Europas Rechtskultur kräftig auf. Die EMRK von 1950, das europäische Kulturabkommen (1954) und die vielen späteren Konventionen des Europarates sind der eine Vorgang - besonders die Judikatur des EGMR in Straßburg, sein Begriff des "ordre public européen", ziehen die Lini-
mocrazia europea, 1994. Ein italienischer Klassiker zum Thema ist: G. Ambrosini, Autonomia Regionale e Federalismo, 1933. Allgemein oben VIII, Ziff. 4 u. 5. 1342 Dazu mehr in P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 55 ff. 1343 Dazu Analysen bei P. Häberle/A. Blankenagel, Fußnoten als Instrument der Rechts-Wissenschaft, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff. 1344 Zu diesem Begriff etwa W. Thieme, Ober Verwaltungskultur, in: Die Verwaltung 20 (1987), S. 277 ff.; P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, (Vorauflage) 1982, S. 1 ff; D. Czybulka, Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, FS Knöpfle, 1996, S. 79 ff. 1345 Dazu meine Bestandsaufnahme in: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, AöR 117 (1992), S. 169 ff., auch in Europäische Rechtskultur, 1994, S. 101 ff. Zuletzt: G. Brunner, Nationalitätenproblem und Minderheitenkonflikte in Osteuropa, 1996.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
en des gemeinsamen Rechts kräftig aus -, und das "Zusammenraufen" bzw. "Konzert" der einzelnen nationalen Richter im Plenum des EGMR illustrieren und personifizieren die Vielfalt und Einheit. Die nationalen Rechtskulturen in Europa besitzen ein gemeinsames Interpretations-Forum wie nie zuvor. Der andere Vereinheitlichungs- und Europäisierungsvorgang manifestiert sich in der EG bzw. EU. Die oft genannten Demokratiedefizite der EG und die Bürgerferne "Brüssels" sind gewiß zu beklagen, und der Perfektionismus und die Reglementierungswut der dortigen Bürokratie bilden ein Skandalon, wobei zu hoffen ist, daß der Grundsatz der Subsidiarität (vgl. Präambel und Art. Β Vertrag Maastricht sowie Art. 3 b EG-Vertrag) ein Hebel zur Bewahrung der Vielfalt der europäischen Rechtskulturen wird. Dennoch ist auf der Haben-Seite die Tätigkeit des EuGH in Luxemburg zu verbuchen: als "Integrationsmotor" hat er prätorisch viel Rechtseinheit in Europa geschaffen. Erwähnt sei nur seine im schöpferischen Rechtsvergleich gewonnene Lehre von den Grundrechten als "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" 1346. Das ist ein Stück materialer Allgemeinheit Europas als einer Rechtskultur. Dieses oft still, aber sehr effektiv wachsende europäische "Grundrechts-Recht", das fast an den klassischen Prätor in Rom erinnert, bildet ein Basiselement der europäischen Rechtskultur unserer Tage. Die "Europäisierung der nationalen Staatsrechtslehren" und Verfassungsgerichte 1347, seit kurzem fast ein Schlagwort und von der Europäisierung der anderen Disziplinen wie des Sozialrechts oder des Strafrechts 1348 begleitet, hat jetzt eine Dynamik und Dramatik gewonnen, die an ältere Perioden der europäischen Rechtsgeschichte denken läßt. Das "Erasmus-" und "Tempus-Programm" beglaubigt all dies von der Universitätsseite her. Der "europäische Jurist" beginnt im Studium und endet - vielleicht - als Professor oder als Verfassungsrichter auf nationaler oder europäischer Ebene!
1346
Vgl. jetzt Art. F Abs. 2 Maastricht-Vertrag.- Aus der Lit.: Α. Bleckmann, Europarecht (4. Aufl., 1985, S. 104 ff.), 5. Aufl. 1990, S. 138 ff.; L Pernice , Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 27, 42 ff; s. auch M Hilf, Die Notwendigkeit eines Grundrechtskataloges, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 1992; H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993; R. Streinz, Europarecht, 3. Aufl., 1996, S. 108 ff. 1347 Dazu mein Votum in: VVDStRL 50 (1991), S. 156 ff. 1348 Dazu U. Sieber, Europäische Einigung und europäisches Strafrecht, in: ZStW 1991, S. 957 ff.; D. Merten/R. Pitschas (Hrsg.), Der europäische Sozialstaat und seine Institutionen, 1993; R. Birk (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 1992; E. SchmidtAßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungrechts, FS Lerche, 1993, S. 513 ff; J. Schwarze (Hrsg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996; T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, 1996; E. Klein, Gedanken zur Europäisierung des deutschen Verfassungsrechts, FS Stem, 1997, S. 1301 ff.
XI. "Kultur und Europa" f) Ρ artikular ität und Universalität
1081
der europäischen Rechtskultur
Dieser letzte Aspekt meint folgendes: Geographisch ist Europa ein Teil der Welt - neben Amerika, Afrika, Asien und Australien. Seine bisher skizzierte eine, aber doch vielfältige Rechtskultur steht der anderer Erdteile unterscheidbar gegenüber (trotz der Commonwealth-Länder). Ohne sich dem Vorwurf der "Eurozentrik" auszusetzen, darf aber auch von - sehr "europäischer" "Universalität" gesprochen werden: Nicht wenige Elemente der europäischen Rechtskultur beanspruchen bzw. haben eine "universale" Dimension: so die Menschenrechte seit 1789, von der UNO bekräftigt und z.B. in einigen Staaten Afrikas wiederholt (z.B. Art. 25 AfrMRK (1982)), so die Gerechtigkeitslehren, so das Demokratieprinzip (vgl. Art. 21 Ziff. 1 und 3 AllgErklMR (1948)), heute vielleicht sogar die "Marktwirtschaft" (so der ehemalige ungarische Außenminister G. Horn) 1 3 4 9 . Obwohl heute die Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat universal ist: zu den USA besteht ein besonderer bzw. vom Recht vermittelter Kulturzusammenhang. T. Jefferson hat sich bei seiner amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 von Denkern wie J. Locke und Montesquieu inspirieren lassen, die Virginia Bill of Rights 1776 inspirierte ihrerseits die französische Erklärung von 1789, die englische Comon law-Tradition prägte die späteren USA. Darum darf man heute insofern von einer atlantisch-europäischen Gemengelage in Sachen Rechtskultur sprechen. Die Verwandtschaft zwischen der Europäischen und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1950 bzw. 1969) liegt auf der Hand. Doch diese "special relationship" sollte selbstbescheiden festgestellt werden. Bei aller Ausstrahlung der europäischen Rechtsideen nach Übersee, auch Asien, beharren die Völker in Afrika zu Recht auf ihrer eigenen Identität, auch in Lateinamerika 1350 . Die vermeintliche oder wirkliche "Universalität" mancher europäischer Rechtsprinzipien darf nicht zum Instrument der Einebnung der Kulturen anderer Völker werden. Schon bei Auslegungsfragen der beiden Menschenrechtspakte der U N (1966) zeigen sich große Schwierigkeiten, etwa im Verständnis von Menschenwürde und Gleichheitssatz, von "Familie" und "Bildung". Von "Weltkultur" und "Weltrecht" sind wir - abgesehen von einigen Prinzipien der in der UNO verkörperten Völkerrechtsgemeinschaft - weit entfernt, was nicht ausschließt, im Sinne I. Kants in "weltbürgerlicher Absicht" zu denken und zu handeln, z.B. in Sachen Umweltschutz. Selbst wenn es Übereinstimmungen und Analogien zwischen den nationalen und regionalen Rechts-
1349 Dazu meine Überlegungen in: Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 ff. Vgl. oben VIII Ziff. 7 d. 1350 Vgl. Präambel, Art. 58 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff); Präambel Verf. Kamerun (1996), Verf. Niger (1996).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
gemeinschaften gibt, sind sie auch in je nationaler bzw. eigener kultureller Verantwortung gewachsen. Zur "Europäisierung der Erde" hat die europäische Rechtskultur neben Technik und Naturwissenschaften gewiß einen großen folgenreichen Beitrag geleistet, und noch heute dauern Rezeptionsprozesse etwa zwischen Spanien und den neuen lateinamerikanischen Verfassungen, wie Kolumbien (1991), an. Doch tun wir gut daran, gerade als Juristen selbstkritisch zu sein - oder doch zu werden 1351 . Vor allem der gefährliche islamische 1352
Fundamentalismus (eines Chomeini und seiner Nachfolger) erinnert uns z.T. schmerzlich an die Grenzen der europäischen Rechtskultur in ihren universalen Intentionen. g) Ausblick Europa als Wertegemeinschaft 1353 ist wesentlich durch Europa als Rechtsund Kulturgemeinschaft - als Rechtskulturgemeinschaft - mit geprägt. Es hat auf einzelnen Feldern durch das Ringen um Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl, Demokratie und Öffentlichkeit Paradigmen geschaffen, die vielleicht sogar zum "kulturellen Erbe der Menschheit" als "kulturelles Gen" gehören, jedenfalls den Glanzleistungen Europas in der Kunst (Literatur, Musik, Architektur, Malerei) bescheiden an die Seite gestellt werden dürfen. Als Vergleichsgröße haben immer wieder fundamentalistische sowie totalitäre Rechtssysteme und - noch - z.T. die Entwicklungsländer bzw. noch Osteuropa gedient. Europa muß sich aber heute einem interkulturellen Vergleich stellen. Wir sollten lernen, Europa auch "von außen" zu sehen - auch zu kritisieren. Das gilt etwa im Verhältnis zu Lateinamerika, Afrika und den islamischen Ländern, auch vielen Entwicklungsländern. Die große Vergangenheit und Zukunft des "Europarechts" im engeren und weiteren Sinne darf beim Namen genannt werden. Aber die Europäisierungsvorgänge sollten taktvoll und sensibel auf Europa beschränkt bleiben und allenfalls als "Angebot" unterbreitet werden, nicht als verdeckte Form neuer Kolonialisierung. Die Transferprozesse zu den Entwicklungsländern hin, aber auch im Blick auf Osteuropa, schließen die Rechts1351 Die heutige Ausstrahlung des europäischen Verfassungsstaates in die Verfassunggebung in Osteuropa sei hier nicht erwähnt, weil es sich ja um das eine Europa handelt. 1352 Dazu mein Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates, FS Esser, 1995, S. 49 ff. 1353 Aus der Lit. jetzt: O. Kimminich, Europa als (geistes)geschichtliche Erscheinung und politische Aufgabe, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 27 (1993), S. 6 ff; R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; H. Schauer, Europäische Identität und demokratische Tradition, 1996; s. aber auch E. Schwarz, Europa, das gibt es nicht, "Die Zeit" Nr. 20 vom 14. März 1993, S. 54.
XI. "Kultur und Europa"
1083
prinzipien ein. Aber gerade weil das Recht ein Teil der Kultur ist, sollte dies im Respekt vor und in Toleranz zu den fremden Kulturen geschehen. Die Weltoffenheit Europas muß Programmelement seines Rechts werden. Jedenfalls ist den anderen Kulturen zu wünschen, daß sie die Kraft, Phantasie und den Willen haben, das fremde europäische Recht zum Eigenen einzuschmelzen. Und: Europa selbst muß sich für rechtskulturelle Einflüsse aus anderen Ländern offenhalten und lernfähig bleiben: Auch diese Toleranz und Offenheit gehören zur Kultur des Menschen in dieser einen Welt. Eine spezifische Hervorbringung Europas ist sein "Gemeinrecht".
3. "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" a) "Gemeinrecht" als rechtswissenschaftliche die Prinzipienstruktur
Kategorie,
"Gemeinrecht" ist eine in den Rechtswissenschaften vielfach bewährte Kategorie. Erinnert sei an das alte "ius commune" vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, das chrakteristischerweise von der Zivilrechtswissenschaft eines H. Kötz (1981) und von H. Coing wiederentdeckt wurde, im "gemeindeutschen Staatsrecht", auch Verwaltungsrecht weitere Beispielsfälle kennt und von J. Esser schon 1956 zum "Gemeinrechtsdenken" verallgemeinert wurde, das Absolutismus, Aufklärung und Nationalstaat in unseliger Allianz zerstört hatten. In den Bundesstaaten ist es als "gemeindeutsches" oder "gemeineidgenössisches" Verfassungsrecht (GV) bekannt 1354 . Und das darf uns ermutigen, von "Gemeineuropäischem Verfassungsrecht" zu sprechen, denn: obschon wir uns mit dem reservierten und distanzierten, retrospektiven (auch die Probleme verdeckenden) Begriff vom "Staatenverbund" in Europa (BVerfGE 89, 155: "Maastricht") 1355 nicht begnügen wollen, ist dieses Europa noch nicht zum 1354
Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff); aus der späteren Diskussion: die Staatsrechtslehrertagung in Passau: VVDStRL 46 (1988), vgl. S. 148 (156, 171, 174).- Pionierhaft zur „gemeineuropäischen Rechtskultur": BVerfGE 75, 223 (243 f.). 1355 Aus der Vielzahl der deutschen Beiträge zu "Maastricht" nur: D. Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, Der Staat 32 (1993), S. 161 ff; J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, S. 585 ff; ders., Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, NJ 1994, S. 1 ff; /. Pernice , Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 449 ff.; J. Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - zum Vertrag von Maastricht, AöR 119 (1994), S. 207 ff.; A. Weber, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S. 325 ff.; P.M. Huber, Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993; H.P. Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, EuR 1994, S. 1 ff; J.A. Frowein, Das Maastricht-Urteil und die
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Bundesstaat verfaßt, in dem Gemeinrecht eine selbstverständliche Dimension bildet. Kurz: Die Kategorie "Gemeinrecht" ist in hohem Maße geeignet, um von den Textgebern, der Wissenschaft und der Praxis vorangetriebene, auf Gemeinsames zielende Rechtsentwicklungen zu benennen und zu befördern, die grenzüberschreitend wirken, auf Grundsätzliches zielen, das letztlich auf einem gemeinsamen Wurzelboden der Rechtskultur und Kultur wächst. Die heuristische Funktion des Gemeinrechtsdenkens in der Zeitachse darf im Blick auf das sich entwickelnde Europa unserer Tage spezifisch für das Verfassungsrecht nutzbar gemacht werden (auch als "Vorgabe" für "Maastricht II", d.h. die Regierungskonferenzen 1996/97 bzw. ihre Reformziele: Amsterdam). Damit ist bereits der zweite Schritt vorgezeichnet: die Prinzipien-Struktur des gemeineuropäischen Verfassungsrechts. In J. Essers "Grundsatz und Norm" (1956) exemplarisch vorgedacht, brauchen wir Verfassungsjuristen es nur noch "abzurufen". Gemeint ist das wirklich Grundlegende, das zugleich Offene und Flexible. Es soll und will nicht starr unitarisieren, es soll "hinter" und subsidiär neben dem positiven Recht "undogmatisch" greifbar werden, sei es geschrieben oder ungeschrieben; es soll arbeitsteilig den Durchgriff zum Rechtsethischen erleichtern und den Durchblick auf das Rechtskulturelle eröffnen, aber auch ein Stück geschmeidige Integration leisten. Die Verabschiedung des fragwürdigen Bildes "Rechtsquelle" ist eine Konsequenz, suggeriert diese doch die Meinung, fertig vorhanden sei das, was sich erst in komplexen Textschaffungs- und Interpretationsvorgängen vieler Beteiligter ("Akteure") entwickelt - ein vorgegebenes einziges "Subjekt" volkssouveräner Verfassunggebung existiert auch innerstaatlich nicht mehr. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht ist eher Ausdruck von Wachstumsprozessen als von Setzungsvorgängen, so wichtige Impulse von Positivierungen ausgehen können. Ihm eignet eine spezifisch dynamisch-prozeßhafte Natur bzw. Kultur. Kurz: "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" gleicht keiner fest geprägten Münze, sondern eher dem Bild von der "geprägten Form, die lebend sich entwickelt", i.S. von J.W. Goethe und H. Heller.
Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), S. 1 ff; C. Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489 ff.; U. Everting , Steht Deutschland noch zur Rechtsgemeinschaft?, FAZ vom 3. Sept. 1996, S. 11; G. Hirsch, EuGH und BVerfG - Kooperation oder Konfrontation, NJW 1996, S. 2457 ff.; J.H.H Weile^Ocv Staat "über alles", JöR 44 (1996), S. 91 ff.; aus der Sicht der 12 Mitgliedsländer: J.-C. Masclet/D. Maus (Hrsg.), Les Constitutions nationales à l'épreuve de l'Europe, 1993; W. Weidenfeld (Hrsg.), Maastricht in der Analyse, 1994.
XI. "Kultur und Europa"
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b) Inhalte (allgemein, schichtenspezifisch) Die bisher eher hohe Abstraktionsebene im Ringen um Gemeineuropäisches Verfassungsrecht (GV) sei im nächsten Schritt ins Konkretere gewendet: aufzulisten sind die Erscheinungsformen des GV, freilich auch dies zunächst allgemein. (1) Europas Klassikertexte als "Vorform" von und Reservoir fur die Ausbildung von GV Eine erste, vielleicht sogar höchste und tiefste Schicht von GV ist aus Europas Klassikertexten freizulegen. Gemeint sind "Klassiker" nicht nur der Rechts- und Staatsphilosophie, sondern auch der "schönen" Literatur, ja der Kunst ganz allgemein - es gibt ein "gemeinsames Haus" der europäischen Musik und Literatur. So hat etwa die Streichung der Widmung von Beethovens "Eroica" an Napoleon, als dieser sich 1804 zum Kaiser krönte, mehr für den "Transport" der Ideen von 1789 beigetragen als so manches juristische Traktat von uns. So transportierten manche Texte von F. Schiller zur Menschenwürde und Freiheit oder die beunruhigende Frage von B. Brecht ("Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?") mehr Elemente des Verfassungsstaates als so mancher "positive" Text. Klassikertexte erweisen sich als unverzichtbare kulturelle Basis für das unabgeschlossene Projekt des gemeineuropäischen Verfassungsstaates und sie können neben den positiven (nationalen) Verfassungstexten als "engere" durchaus als Verfassungstexte im weiteren Sinne bezeichnet werden 13 6 . Montesquieu oder Rousseau "im GG" springen unmittelbar ins Auge, dessen, der dieses GG oder andere Verfassungen in Europa nur genau lesen kann - die "Federalist Papers" (1787) leisten Vergleichbares für die USA, sie sind ebenfalls "Geburtsurkunde". Kurz: Immer wieder sich als schöpferisch bewährende Grundlagen für das GV liefern die Klassikertexte als (Rechts)Kultur, auch wenn sie oft national, historisch verschieden "gelesen" werden. Klassikertexte bilden höchst kreative Erneuerungsfaktoren jeder gemeineuropäischen Rechtsbildung und sie wirken als "Katalysatoren", teils allein, teils gemeinsam mit den folgenden Ausprägungen:
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Zum ganzen: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; sowie die späteren Ausarbeitungen z.B. in: Europäische Rechtskultur, 1994, S. 9, 33, 71 f. u.ö. Vgl. oben Fünfter Teil VIII.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (2) EU- bzw. EG-Texte, Europarat- bzw. OSZE-Texte (und ihre Umsetzung in die Praxis) als "Vorform" von GV
Ein Stück "positiver" und zugleich konkreter wirken die geschriebenen EU-, EG-, Europarat- bzw. OSZE-Texte und ihre Umsetzung in die und in der Praxis. Mag manches nur die Kraft von "soft law" haben, etwa die KSZEErklärungen von Kopenhagen und Paris (1990), sie sind teils Vorformen von GV, teils schon dessen greifbare Erscheinungsformen. Die Prinzipien der EU, das geltende Gemeinschaftsverfassungsrecht der EG, vor allem aber die vom EuGH prätorisch rechtsvergleichend gewonnenen Grundrechte als "allgemeine Rechtsgrundsätze" sowie die Rechte der EMRK (vgl. SV Mahrenholz: BVerfGE 82, 122 (125)) sind nicht nur Schmuckstücke im "Schatzhaus" des GV, sie bilden Kernelemente der werdenden Verfassung Europas. Bemerkenswert ist ihre unterschiedliche Geltungskraft und Positivität, auch ihre unterschiedliche Herkunft. Gleichwohl formen sie ein Ensemble gemeineuropäischer Rechtskultur, das gesamthaft genommen dieses Europa in der Tiefe gründet und viel integrierende Kraft entfaltet. Die vielen Texte müssen nur "zusammen gelesen" werden, um ihren Reichtum erkennen zu lassen. An Stichworten seien Textelemente wie "Herrschaft des Gesetzes", "Wahrung des Rechts", "Menschenrechte", "demokratische Grundsätze", "europäisches kulturelles Erbe" zitiert. Zu nennen sind auch "peace and security" als Wurzelgrund der Entwicklung von GV, unter besonderer Hervorhebung der Erklärung von Budapest vom Oktober 1994 der OSZE mit ihrer Schaffung eines Hochkommissars für nationale Minderheiten und einem Büro für Demokratische Institutionen. Die im Stabilitätspakt der 52 OSZE-Mitglieder im März 1995 bekräftigte "gute Nachbarschaft" ist ebenfalls ein Mosaikstein im Verfassungsbild Europas. (3) "Allgemeine Rechtsgrundsätze" Eine dritte Weise der Ausbildung von GV sind die "Allgemeinen Rechtsgrundsätze". Sie wirken als spezifische Bindemittel für Vereinheitlichungsvorgänge in Rechtskulturen und begegnen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Erinnert sei aus dem positiven Recht an § 7 Österreichisches ABGB (1811), an Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut (1945), an Art. 7 Schweizer Seeschiffahrtsgesetz, aber auch an Art. 215 Abs. 2 EGV und Art. 123 Abs. 2 GG. Die eigentliche "Karriere" der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf der europäischen Ebene ist der Prätorik des EuGH zu verdanken 1357 , der sie so ausgebaut hat, daß sie längst eine gemeineuropäische Kategorie bilden und sich wie
XI. "Kultur und Europa"
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selbstverständlich in Art. F Abs. 2 von Maastricht wiederfinden (EMRKGrundrechte, "wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben"). Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind, näher besehen, teils geschrieben, teils ungeschrieben. Schon heute sind sie immanenter Bestandteil der sich entwickelnden "Verfassung Europas" und ein sensibler Verweis auf dessen freilich noch zu entfaltende - materiale Allgemeinheit. Was rechtlich oft noch zu wenig verdichtet ist, wird über das Vehikel allgemeiner Rechtsgrundsätze zum Rechtsprinzip - und dies vor allem in der Methode "wertender" Rechtsvergleichung. Der Sache nach begegnen sie auch unter dem Begriff der "Standards". Für das GV jedenfalls ist die - bewährte - Kategorie der Allgemeinen Rechtsgrundsätze unverzichtbar: sie sind letztlich rechtskultureller Art, in ihrer Prinzipienstruktur anpassungsfähig und sie schaffen den integrierenden Brükkenschlag zwischen allen (oder doch vielen) nationalen Rechtsordnungen. Sie wirken als geschmeidiges "Medium" für die Integrierung in zukunftsorientierte übergreifende Zusammenhänge. (4) Nationales "Europaverfassungsrecht" Eine neue Vorform und z.T. schon direkte Erscheinungsform von GV bildet sich derzeit in Gestalt des "nationalen Europaverfassungsrechts" - einer neuen wissenschaftlichen Kategorie - heraus. Gemeint sind jene nationalen Verfassungstexte, die als allgemeine oder spezielle "Europa-Artikel" figurieren und die "Europaoffenheit" des Nationalstaates dokumentieren - mitunter wird noch von einem "déficit européen des Constitutions nationales" (F. Rubio Llorente) gesprochen. Die vergleichende Textstufenanalyse vermag hier eine reichhaltige - ausbaufähige - Palette zu entdecken 1358 :
1357 Aus der Lit.: T. Oppermann, Europarecht, 1. Aufl. 1991, S. 158 ff.; R. Streinz, Europarecht, 3. Aufl. 1996, S. 108 ff - Zum Gleichheitssatz als „allgemeinem Rechtsgrundsatz": BVerfGE 76, 130 (139). 1358 Dazu mein Beitrag: Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe - der Ausbau von nationalem "Europaverfassungsrecht", FS Everling, 1995, S. 355 ff. In Griechenland wird 1996/97 um einen neuen Art. 28 Abs. 2 der Verfassung bzw. Europa-Artikel gerungen, in dem sich der heutige Diskussionsstand spiegelt: "Griechenland ist Mitglied der Europäischen Union und wirkt am Integrationsprozeß auf der Grundlage der Anerkennung der nationalen Identität aller Mitgliedstaaten mit, deren Regierungssystem Demokratie und Rechtsstaat gewährleistet". Von diesem "nationalen Europaverfassungsrecht" ist das werdende "konstitutionelle Europarecht" zu unterscheiden, d.h. die Teilordnungen bzw. Verfassungen, die das Europa im engeren
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
1. Europabezüge in Präambeln und Grundlagen-Artikeln, etwa in dem um Perfektion ringenden, aber verunglückten Art. 23 n. F. G G 1 3 5 9 und in Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal ("europäische Identität"), oder in Art. 1 Abs. 2 Verf. Niedersachsen ("Teil der europäischen Völkergemeinschaft"); 2. Europabezüge in Regionalismus-Klauseln - Ausdruck des "Europas der Regionen" (z.B. Art. 60 Abs. 2 Verf. Saarland von 1992: Zusammenarbeit mit anderen europäischen Regionen, ähnlich Art. 54 Abs. 1 Verf. Bern von 1993); 3. Rezeptionen europäischer Grundrechte, etwa der EMRK (so Präambel Verf. Jura von 1977, Art. 3 und 116 Verf. Tschechien von 1992, Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg von 1992); 4. Europabezüge in gliedstaatlichen Verfassungen (z.B. Art. 11 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1992: Staatsziel, die europäische Integration zu verwirklichen) - sie suchen so von der europäischen Ebene her ein Stück ihrer eigenen Identität zu sichern! -; 5. Sonstige Erscheinungsformen, z.B. Art. 168 Verf. Belgien (1994): "Ab Eröffnung der Verhandlungen im Blick auf jede Abänderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und der Verträge und Akte, durch die diese Verträge abgeändert oder erneuert werden, werden die Kammern darüber informiert" - parlamentarische Partizipationsrechte: Belgien ist wohl das einzige Mitglied der EU, das (vorbildlich) einen nationalen Parlamentsausschuß hat, in dem paritätisch auch die Europa-Abgeordneten vertreten sind. Solch allgemeine und spezielle Europa-Artikel haben ihren guten Sinn: vom Nationalen her, von "unten" und "innen" aus, vom Europa der Bürger her suchen sie Europa zu verfassen und seine Akzeptanz zu befordern. Sie bilden "zusammengelesen" - eine Textbasis, in der im Kontext gemeineuropäischer Hermeneutik von nationalem (Europa-)Verfassungsrecht aus Gemeineuropäisches Verfassungsrecht möglich wird. Das nationale Europa-Verfassungsrecht liefert Bausteine dazu. Es "verankert" buchstäblich Europa in den einzelnen Verfassungsstaaten. Die Europäisierung des nationalen Verfassungsrechts und weiten Sinne segmenthaft und vielfältig überziehen bzw. prägen, teils geschrieben, teils ungeschrieben. 1359 Lob verdient hier nur die Normierung des Staatsziels Europa als solche!- Aus der deutschen Lit.: P. Badura, Das Staatsziel "europäische Integration" im Grundgesetz, FS Schambeck, 1994, S. 887 ff.; C.D. Classen, Maastricht und die Verfassung: kritische Bemerkungen zum neuen "Europa-Artikel" 23 GG, ZRP 1993, S. 57 ff.; P. Lerche, Zur Position der deutschen Länder nach dem neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, FS Schambeck, 1994, S. 753 ff; R. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, S. 417 ff; U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europaartikel des Grundgesetzes, DVB1. 1993, S. 936 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 345 f.
XI. "Kultur und Europa"
1089
fuhrt in das GV hinüber. Klugerweise bleibt der Europa-Begriff und die Rechtskonstruktion von "Europa" offen. Diese "innere" Europäisierung des Verfassungsstaates kann aber gar nicht überschätzt werden. Sie schafft auch den Boden für die Entwicklung "allgemeiner Rechtsgrundsätze" auf dem Weg zum GV. Durch die nationalen Europa-Artikel werden die einzelnen Verfassungsstaaten in Europa konstitutionell miteinander verknüpft, wird zugleich das "konstitutionelle Europarecht" verstärkt. (5) Parallele Reformvorhaben der nationalen Verfassungsstaaten Die Entwicklung von Gemeineuropäischem Verfassungsrecht kann sich in Vorstufen auch dadurch und darin ausdrücken, daß die zum gemeineuropäischen Verfassungsstaat gehörenden oder hinzuwachsenden Länder sich in parallelen Reformvorhaben auf den Weg machen. So unterschiedlich die Reformbedürftigkeit und -fähigkeit der einzelnen Länder heute ist, so verschiedenartig die Entwicklungswege ihrer Verfassungen sind (formale Verfassungsänderung, bloße Minderheit in Verfassungsgerichten) - nicht selten zeichnen sich im Rahmen der allgemeinen Textstufenentwicklung parallele Entwicklungen wie in innerbundesstaatlichen Wellenbewegungen ab (z.B. wie in der Schweiz 1360 ). Hier einige Stichworte dieser fünften Schicht möglicher "Vorboten" von GV: Neben der ständigen Verfeinerung der Grundrechte und ihres Schutzes, z.B. durch den Ombudsmann (vgl. Art. 138 e EG-Vertrag 1361 ) er wanderte von Skandinavien über die beiden iberischen Länder bis zu den Reformstaaten in Osteuropa -, neben dem grundrechtlichen Datenschutz und Schutz der privaten, kulturellen Identität des einzelnen, ist der Minderheitenschutz ein solches in die Sphäre des GV hineingewachsenes Thema. Die einzelnen nationalen Verfassungsstaaten bilden in seiner mühsamen Ausformung einen langen Geleitzug, mit Ungarn (1989) an der Spitze (Minderheiten als "staatsbildende Faktoren"), mit innovativen Beiträgen der ostdeutschen Länderverfassungen zugunsten der Sorben (Art. 25 Verf. Brandenburg von 1992), aber auch Schleswig-Holsteins (Art. 5 von 1990), mit dem unbegreiflichen Rückschritt in Form des Scheiterns einer vom Verf. schon 1991 in Rom vorge-
1360 Dazu meine Nachweise in meinem Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 (354 ff.). 1361 Dazu aus der Lit.: F. Matscher (Hrsg.), Ombudsmann in Europa, 1994; s. auch den Statutentwurf für EG-Bürgerbeauftragte seitens des Europäischen Parlaments, EuGRZ 1993, S. 51 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
schlagenen Minderheitenklausel im G G 1 3 6 2 (Art. 20 b der Gemeinsamen Verfassungskommission von 1993). Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (Art. 27) markiert eine "Spitze", die im gemeineuropäischen Verbund noch allzu langsam nachvollzogen wird. Anstöße vermittelt die geplante europäische Volksgruppencharta. Der Europarat übt heilsamen Druck z.B. auf Lettland aus (Verhältnis zur russischen Minderheit), jüngst auf die Slowakei (ungarische Minderheit), und "Grundrechtspolitik" auf diesem Felde gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Entwicklung von GV. (Auch der neue 1995 zwischen Ungarn und Kroatien geschlossene Vertrag über den Schutz von Minderheiten, wonach die Nachbarländer der jeweiligen nationalen Minderheit das Recht auf kulturelle Autonomie gemäß der Europaratsempfehlung 1201 zusichern, gehört hierher.) Das Pluralismus-Prinzip, vor allem im Medien verfassungsrecht (vgl. Art. 20 Verf. Spanien, Art. 39 Verf. Portugal), in Italien derzeit erst durch die Corte (1994) und den Gesetzgeber mühsam genug erarbeitet und in Osteuropa oft ausdrücklich verankert 1363 , bildet m.E. ebenfalls ein werdendes Prinzip des GV. Der weite Weg der Konstitutionalisierung der politischen Parteien, begonnen in Art. 49, 98 Verf. Italien (1947), fortgeführt in Art. 21 GG, übernommen in Art. 4 Verf. Frankreich von 1958, ist jetzt zum geschriebenen Text von Art. 138 a EG-Vertrag gereift, so daß er auf dem besten Weg ist, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht zu werden. Dieser Artikel ist übrigens einer der wenigen sprachlich und inhaltlich geglückten Normen von "Maastricht" und er fängt sogar ein Stück der den politischen Parteien zuwachsenden Aufgaben in der Dynamik des Prozesses der europäischen Integration ein ("Faktor der Integration in der Union"), sie "tragen dazu bei, ein europäisches Bewußtsein herauszubilden". Das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger (Art. 8 b EGV), jetzt in Gestalt von nationalem Europaverfassungsrecht auch in den EU-Ländern nachlesbar (z.B. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG), ist ein weiterer Schritt, in dem sich gemeineuropäische Verfassungsentwicklungen geltend machen, zu welcher Bewegung auch eine Tendenz zur doppelten Staatsangehörigkeit hinzukommen mag. (Während die Schweiz hier vorne liegt, bleibt Deutschland am Ende des "Geleitzugs". Spanien hat hier im Blick auf iberoamerikanische Länder in seinem Art. 11 Abs. 3 von 1978 Pionierleistungen vollbracht.)
1362 ρ Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (206). S. auch U. Berlit, Die Reform des GG nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 44 (1996), S. 17 (69 ff.). 1363 Dazu auch die Nachweise in: P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 101 (125 f.). S. auch M. Schellenberg, Pluralismus: Zu einem medienrechtlichen Leitmotiv in Deutschland, Frankreich und Italien, AöR 119 (1994), S. 427 ff. Weitere Elemente in: A. Dittmann u.a. (Hrsg.), Der Rundfunkbegriff im Wandel der Medien, 1997.
XI. "Kultur und Europa"
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Ähnliche Textstufenentwicklungen, die in einzelnen nationalen Verfassungsstaaten ihren Ausgang nahmen und der Positivierung auf EU-Ebene "Textschübe" gaben, so daß GV entsteht, beobachten wir beim Thema Umweltschutz. Früh von Art. 24 Verf. Griechenland 1975 auf Verfassungshöhe gebracht, hat dieses Thema in ganz Europa, besonders auch in gliedstaatlichen Verfassungen der Schweiz und Deutschlands Karriere gemacht, auch in Österreich (Art. 1 § 1 B-VG 1984: "umfassender Umweltschutz") und sogar in die eher zurückhaltende Verfassung der Niederlande von 1983 (Art. 21) Eingang gefunden (zuletzt Art. 20 a GG, Art. 74 Verf. Polen von 1997). Art. 130 r EGV und sein Schutzgut der "menschlichen Gesundheit" sind hier nur eine Etappe auf dem Weg zu GV, das dann in die Länder ausstrahlt und zurückwirkt, die sich ungeschrieben um den Umweltschutz, etwa in der Rechtsprechung mühen müssen. Via "allgemeiner Rechtsgrundsatz" mag er auch bei ihnen Geltung erlangen. Mosaiksteine des sozialen Rechtsstaates (Stichwort: "Europäische Sozialcharta", "Sozialunion"), aber auch die (soziale) Marktwirtschaft (vgl. Art. 102 a EGV: "offene Marktwirtschaft"), in manchen Ländern schon positives Verfassungsrecht (vgl. Art. 38 Verf. Spanien, Präambel Verf. Ungarn 1949 (1989), Art. 20 Verf. Polen), sind ebenfalls auf dem Weg zum GV. Parallele nationale Reformvorhaben, die sich künftig zu Gemeineuropäischem verdichten könnten, sind schließlich Fragen der Parteienfinanzierung, der Entflechtung von Staat und Parteien, im Parlamentsrecht die Stärkung von Opposition und Minderheiten, der weitere (vor allem in Osteuropa favorisierte) Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Bewältigung der Technologie-Probleme (z.B. durch Ethikkommissionen, Gentechnik-Gesetze etc.). c) Akteure, die personale Seite Schon prima facie legt der Begriff "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" nahe, das Bild von der "offenen Gesellschaft" der Verfassunggeber bzw.-interpreten zu übernehmen, jetzt auf der europäischen Ebene. 1975 bzw. 1978 für den nationalen verfassungsstaatlichen Bereich ausgearbeitet 1364, ist die personale Seite damit ein Thema der Erkenntnis des Prozesses der Verfassungsinterpretation geworden, sind die "Akteure" bewußt geworden 1365 . Das "Tableau" der an Verfassungsinterpretation Beteiligten bedarf aber für unseren Zusam1364 Dazu P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff; ders. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, ZSR 1978, S. 1 ff, auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (2. Aufl. 1996), S. 155 ff. bzw. S. 182 ff. Oben Fünfter Teil III Inkurs A. 1365 Dazu B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung: Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1981. 7 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
menhang einer Modifizierung. Da es noch kein "europäisches Volk" als "Ver1366
fassunggeber" gibt , da auf der EU-Ebene (zu Recht) allenthalben das Demokratiedefizit beklagt wird, da die "europäische Öffentlichkeit" bislang eher kulturell als "politisch" konstituiert ist, ist der Kreis der offenen Gesellschaft z.T. noch geschlossen, kommt es zu Partizipationsdefiziten, die durch andere Kräfte als sonst im "vollendeten" Verfassungsstaat kompensiert werden müssen. Es ist die dritte Gewalt auf europäischer wie nationaler Ebene, die als "stille Gewalt" am gemeineuropäischen Verfassungsrecht intensiv arbeitet (insoweit "Europa der Richter"), und es ist die Wissenschaftlergemeinschaft, die hier "Vorratspolitik" in Sachen GV vollbringen muß. M.A.W. : vieles am GV ist zu solchem via Richter- und Juristenrecht geworden, die Wachstumsprozesse sind oft erst im Rückblick spektakulär. So muß so manches "soft law" von KSZE- (bzw. OSZE-)Erklärungen erst nach und nach GV werden; so ist der von nationalen und europäischen Verfassungsrichtern vollbrachte Ausbau der geschriebenen und ungeschriebenen Grundrechte sowie des "Rechtsstaates" ein langfristiger, aber tiefreichender Vorgang. Was ein nationaler Verfassunggeber relativ rasch auf Texte und Begriffe bringt, muß auf der Europaebene "reifen", kurz: der Entwicklungsvorgang, der Zeitfaktor sind hier charakteristisch. Die Vorgänge "schubweisen Stoffwechsels" zwischen Kasuistik, Dogmatik und Prinzipien (J. Esser) stehen im Vordergrund. Gerade dieser längerfristige "Positivierungs"-Vorgang zeigt, daß es sich um rechtskulturelle Vorgänge handelt. Das Europa der Rechtskultur und auch des GV ist kein dezisionistischer Akt, sondern ein komplexer, arbeitsteiliger, vielseitige Teilordnungen schaffender Vorgang, dessen Beteiligtenkreis sich europäisch öffnet: in Raum und Zeit. Vielleicht ist dieses stille "Wachsen" gemeineuropäischen Verfassungsrechts - man hört fast den lauten Savigny/Thibaut-Streit (1815)! - erfolgversprechender als ein formalisierter Akt europäischer Verfassunggebung 1367. So wie es eine "Stunde" nationaler Verfassunggebung gibt, sie wurde z.B. in Spanien 1978 entschlossen genutzt und ist auch in Südafrika (dank N. Mandela) gelungen, so muß gefragt werden, ob und wann es zu einer "Stunde" für Verfassunggebung in Europa kommt. Vermutlich ist derzeit nur die schrittweise Inkraftsetzung von Teilverfassungen "angesagt", wie sie z.B. in der EMRK geglückt ist und im schrittweisen Ausbau der EU gelingen kann. Hierzu
1366 Zum Problem vgl. R. Bieber, Europa braucht den großen Schiffsputz, Eine Unionsversammlung wäre der richtige Verfassunggeber, FAZ vom 3. Dezember 1994, S. 8. 1367 Dazu meine Fragen in VVDStRL 53 (1994), S. 114 f. (Diskussion). Aus der Lit. zuletzt: T. Schilling, Die Verfassung Europas, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 1996, S. 387 ff; zum "Florentiner Entwurf' zur Vereinheitlichung der Europäischen Gründungsverträge: NJW 1997, S. 996 f.
XI. "Kultur und Europa"
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gehören auch die zwischen EG und den drei Baltenrepubliken 1995 abgeschlossenen "Europa-Verträge", denn sie sind in einem tieferen Sinne werdende Verfassungs-Verträge. Damit rücken die europäischen Nationen als solche ins Blickfeld. J.G. Herders "Stimmen der Völker" vergleichbar, leisten sie bisher und inskünftig ihren spezifischen, gerade ihnen möglichen Beitrag zur gemeineuropäischen Verfassungsrechtskultur, der dann von den anderen Nationen nach und nach rezipiert und schöpferisch fortentwickelt wird und schließlich ein Mosaikstein im Ganzen wird. Erinnert sei an die Bundesstaatlichkeit der Schweiz seit 1848 mit Vorbildwirkung für Deutschland und Österreich, auch an ihre (bislang unerreichte) "halbdirekte Demokratie"; erinnert sei an den vom Deutschland Weimars (1919) textlich beeinflußten Regionalismus Italiens von 1947, der in manchem Papier blieb, aber kräftig nach Spanien ausstrahlte und gemeinsam mit Rechtsfiguren des deutschen Föderalismus seit 1978 dort effektiven Regionalismus geschaffen hat, der fast schon eine "Vorstufe" zum Föderalismus darstellt. Erinnert sei an die verfeinerte deutsche Grundrechtsdogmatik, ein Werk von Wissenschaft und BVerfG, das allenthalben in Europa ausstrahlt, und erinnert sei an den europaweiten Erfolg des skandinavischen Ombudsmanns oder an die Verfassungsgerichtsbarkeit, die in Osteuropa derzeit so viel Nachahmung findet. Dieses "gemeineuropäische Hauskonzert" mag Dissonanzen kennen, viele "unvollendete" Sätze und Stücke haben, aber Konsonanzen sind ebenfalls unüberhörbar. So mag eines Tages im Rückblick ein "gemeineuropäisches Verfassungsbuch" geschrieben werden oder gar geschrieben worden sein, auch wenn die Beteiligten sich dessen gar nicht immer bewußt sind bzw. waren. Die "Federalist Papers" des sich vereinigenden Europas haben zwar keinen J. Madison, aber der Sache nach nicht wenige höchst wirksame "europäische Juristen" 1368 und europäische Richter. Die "Akteure" in EU, im
1368 Beispielhafte Leistungen aus der Wissenschaft etwa: aus Frankreich: C. Grewe/H. Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995.- Aus Deutschland: E. Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, FS Lerche, 1993, S. 513 ff.; E. Klein, Der Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten, Der Staat 33 (1994), S. 37 ff.; J. Schwarze, Der Beitrag des Europarates zur Entwicklung von Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Verwaltungsrecht, EuGRZ 1993, S. 377 ff.- Beispielhaft aus dem Zivilrecht etwa H.J. Sonnenberger, Auf dem Weg zu einer europäischen Rechtsquellenordnung - das französische Verständnis rechtsvergleichend skizziert, FS Lerche, 1993, S. 545 ff.; E.A. Kramer, Vielfalt und Einheit der Wertungen im Europäischen Privatrecht, FS A. Koller, 1993, S. 729 ff.; P. Hommelhoff, "Europarechtliche Bezüge" im Zivilrecht, FS Helmrich, 1994, S. 329 ff. Pionierhaft P.C. Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1987, 2. Aufl. 1989; C. von Bar , A common European Law of Torts, 1996.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Europaparlament und Europarat leisten nur Teilbeiträge zur gesamten Hand mit ihnen. d) Theorieelemente des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts als "Verfassungsrecht" Der vor allem in Deutschland geführte (Schulen-)Streit um das "richtige" Verfassungsverständnis soll gewiß nicht den anderen europäischen Wissenschafitlergemeinschaften aufgedrängt werden - umso weniger als hier in Raum und Zeit national-kulturspezifisch Unterschiede bestehen: Der für Deutschland so typische "Verfassungspatriotismus" (D. Sternberger), die geschriebene Verfassung als der nationale Identifikationsrahmen, ja "Kulturbuch", besitzt wohl nirgends ein Gegenstück. Frankreich findet seine Identität in der "Nation" und "Republik", die Schweiz im ständig erneuerten Rütli-Schwur bzw. im Föderalismus und in der "Konkordanzdemokratie", Spanien im Königstum und in seinen Autonomen Gebietskörperschaften etc. Dennoch hat die deutsche Polemik um das Verfassungsverständnis Erkenntnisse vermittelt, die man vorsichtig auf Europa hin modifizieren darf Dabei hilft die maßvolle Schweizer Diskussion 1369 , pragmatisch i.S. eines "gemischten Verfassungsverständnisses" zusammenzufügen, was oft polemisch gegeneinander ausgespielt wird: in Gestalt eines Sowohl-Als-auch von materialen und prozessualen Momenten: Verfassung ist Rahmenordnung von Grundwerten, aber sie ist auch "öffentlicher Prozeß", Verfassung ist Schranke, Begrenzung von Macht, aber auch deren Konstituierung, sie ist Anregung und Schranke (R. Smend). Sie hat Symbolfünktion und ist rationale Rechtsordnung; ihre einzelnen Felder sprechen als "irrationale Konsensquellen" teils mehr die "emotio" des Bürgers an (Präambeln, Erziehungsziele, Feiertagsgarantien und Gottesbezüge), teils richten sie sich präzise an die ratio, auch des Juristen. Sie ist "Verfassung des Pluralismus" - treffend wirkt der Satz von J.-F. Aubert: "Le pluralisme vivifie la
1369
J.-F. Aubert/K. Eichenberger , La constitution- son contenu, son usage, 1991, S. 9 ff , 143 ff; P. Häberle, Die Funktionenvielfalt von Verfassungstexten im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS Schindler, 1989, S. 701 ff.; vgl. die Einteilungen bei K. Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, 1991, S. 178 ff: Ordnungs-, Machtkontroll-, Organisations-, Integrations- und Orientierungsfunktion der Verfassung. Freilich: Selbst bei den nationalen Verfassungen muß man sich vor übertriebenem Optimismus hüten: sie sind weder eine "politische" noch eine juristische "Lebensversicherung", so wichtig "Garantien" wie Ewigkeitsklauseln bleiben. Aus der Lit. zuletzt: K. Eichenberger, Vom Umgang mit Strukturprinzipien des Verfassungsstaates, FS Stem, 1997, S. 457 ff.
XI. "Kultur und Europa"
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Constitution" und "La constitution fortifie le pluralisme" 1370 . Vor allem aber ist sie Kultur (i.S. des 1982 entworfenen Programms). Es sei hier bekräftigt: Mit "bloß" juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives "Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re)-Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen "Informationen", Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre - kulturelle - Geltungsweise. Die kulturelle Sicht macht uns klar, daß Europa mehr ist bzw. sein muß als das "Europa der Produzenten und Konsumenten" eines funktionierenden "Binnenmarktes". Der Markt ist nicht das Maß aller Dinge und kein Selbstzweck. Gelegentlich wird er ja - ähnlich der volonté générale - zum nicht irren könnenden übermenschlichen Wesen hypostasiert, in Wahrheit bedarf es der (gerechten) "visible hand des Rechts" (E.-J. Mestmäcker) und eben auch des GV, greifbar im Menschenwürdeschutz, in sozialen Mindeststandards, in ökologischen Rahmenbedingungen, Wettbewerbsordnungen, Treu und GlaubensRegeln etc. Märkte können ebenso versagen wie die sie beeinflussenden Menschen und wie die Staaten: ihre viel zitierte "Blindheit" ist ebenso unerträglich wie ihre "Diktatur" 1 3 7 1 . Das Europa der vielen Rechtskulturen darf nicht vom Ökonomischen her instrumentalisiert oder instrumentiert werden. Mir scheint, daß dieser kulturwissenschaftliche Ansatz der letztlich auch das GV tragende ist. Was in ihm schon ausgebildet ist, verdient der Sache nach den hohen Begriff "Verfassung". Das Wort vom "gemeinsamen kulturellen Erbe" in Art. 128 Abs. 1 EGV ist auch als "rechtskulturelles Erbe" zu lesen.
1370 J.-F. Aubert/K. Eichenberger, La constitution- son contenu, son usage, 1991, S. 58 f. Vgl. zum Ganzen oben Fünfter Teil VII. 1371 Vorarbeiten zu dieser Sicht in meinem Beitrag: Soziale Marktwirtschaft als "Dritter Weg", ZRP 1993, S. 383 ff. Bei den sozialen Grundrechten ist zu differenzieren: Es entspricht der heutigen Entwicklungsstufe des Verfasssungsstaates, "soziale Mindestrechte" als einklagbare auszugestalten (vgl. BVerwGE 1, 159 ff. (161)), während andere soziale Rechte nur die Kraft von Aufträgen an den Gesetzgeber oder den Rang von Interpretationstopoi bei richterlichen Abwägungen besitzen.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Bei diesem kulturwissenschaftlichen Ansatz geht es nicht um barocke kulturelle Auf- und Überladung des "positiven" Rechts, sondern um Freilegung seines kulturellen Wurzelgrundes. Vor allem ist der Mensch erst dank kultureller Sozialisationsprozesse "mit Würde begabt", so notwendig, aber fiktiv es ist, daß die Menschenrechtserklärungen ihm von Geburt an Würde zusprechen. Von diesem kulturanthropologischen Verständnis aus ist aber auch das verfassungsstaatliche Gemeinwesen allein aus der "vertikalen" Sicht des Kulturellen zu erklären. So hat etwa die polnische Nation nicht dank des jeweils geltenden Rechts alle Teilungen und Vergewaltigungen überstanden, sondern dank kultureller Komponenten wie der Maiverfassung von 1791 (vgl. jüngst das Präambelbekenntnis zu ihr im Verfassungsentwurf der "Solidarität" von 1995), dank der katholischen Kirche und dank F. Chopins! Nicht nur der einzelne, auch der Verfassungsstaat selbst lernt den "aufrechten Gang" dank der Kultur. Schließlich verlangt schon das positive, übernationale Europaverfassungsrecht ("konstitutionelles Europarecht") allenthalben die Erschließung kultureller Dimensionen (vgl. etwa Präambel von Maastricht: "Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen"; Art. F ebd.: Achtung der "nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten"; Art. 128 EGV: Entfaltung der "Kulturen und Mitgliedstaaten", "gemeinsames kulturelles Erbe", "Kultur und Geschichte der europäischen Völker"). Nur kulturwissenschaftlich lassen sich auch die Grundlagen des Identitätsbewußtseins der Nationen bzw. Mitgliedstaaten erarbeiten. e) Das Verhältnis von Staat und Verfassung in Europa Wie aber verhält es sich mit der Staatlichkeit? Europa ist (noch?) kein Staat 1372 , laut BVerfG ist die EU ein sog. "Staatenverbund" (E 89, 155 (181)). Der Staatsbezug der Verfassung ist eine gängige Lehre. Kann, soll von ihm abgegangen werden? M.E.: ja. Dies ist umso mehr möglich, als die klassische Staatselementelehre von G. Jellinek umgebaut werden muß. Ist sie schon um
1372
Aus der Lit. (pionierhaft): J. Schwarze/ R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984 (und darin: H.P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des EuGH für die Integration, S. 29 ff.); W. Weidenfeld (Hrsg.), Wie Europa verfaßt sein soll, 1990; G.F. Schuppert, Zur Staatswerdung Europas, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 35 ff.; W. Skouris, Verfassungsprinzipien im Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten, in: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte: M. Kloepfer u.a. (Hrsg.), 1994, S. 101 ff; T. von Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993; M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 ff; P. Hommelhoff/P. Kirchhof Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994.
XI. "Kultur und Europa"
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die Kultur als "viertes" Element zu erweitern 1373 , so wird sie m.E. auf der Ebene des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts sozusagen zum "ersten" Element: als weitentwickelte "Rechtskultur". Die übrigen "Staatselemente" sind teils vorhanden, teils rudimentär präsent, jedenfalls schließen sie nicht aus, von "Gemeineuropäischem Verfassungsrecht" zu sprechen, man wagt ja auch den Begriff "Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft". Das GV ist als Kategorie, funktionell und inhaltlich die wohl "durchschlagendste" Infragestellung der herkömmlichen Staatlichkeitsdoktrinen wie "Souveränität", "Staatselemente", "Staatsangehörigkeit", "Impermeabilität" etc. (Warum sollte man als Bürger einem Staat "angehören"?) Als Ausdruck der vielfältigen Integrationsoffenheit des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe wird sie das Signum eines grundlegend gewandelten Staatsverständnisses. Beginnen wir beim "Volk", so ist die Argumentation kompliziert. Es gibt viele Völker in Europa, aber kaum ein "europäisches V o l k " 1 3 7 4 . Immerhin gibt es die von der Unionsbürgerschaft (Art. 8 EGV) umschlossenen Bürger. Das "Europa der Bürger" kann (vorerst) auf seine Volksqualität verzichten, umso mehr als selbst neuere Verfassungen Ostdeutschlands vom Mythos der Volkssouveränität abrücken und die Bürger als Menschen zum Zurechnungspunkt wählen (vgl. Präambel Brandenburg von 1992: "Wir, die Bürgerinnen und Bürger..."), speziell Deutschland leidet bis heute an einem "antipluralistischen", "vordemokratischen" Volks-Verständnis (B.-O. Bryde) - darum bestehen auch Bedenken gegen Art. 116 GG, der die Staatsbürgerschaft ausschließlich an eine vorstaatliche Volkszugehörigkeit bindet, jedenfalls sollte er um das jus soli ergänzt werden. Versteht man die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse einer Rechtsgemeinschaft und die Demokratie als "organisatorische Konsequenz" 1375 , so fällt die neue Sicht nicht schwer - zumal dann, wenn man
1373 Dazu wohl erstmals G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff, 57); P. Häberle, Europäische Verfassungsstaatlichkeit, Colloqium Pernthaler, 1996, S. 29 ff - So ist etwa die Sprache das eigentliche, unveräußerliche Vaterland (Thomas Mann), womit sich z.B. der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, 1994, J. Semprun auseinandersetzte (vgl. dessen Rede: Ihr Grab ist in den Wolken, da liegt man nicht eng, FAZ vom 10. Oktober 1994, S. 12). Treffende Kritik an der traditionellen Staatselemente-Lehre jetzt bei P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 16 ff. Im demokratischen Verfassungsstaat tritt m.E. an die Stelle der "Staats-Nation" der Bürger als archimedischer Bezugspunkt: Schutz und Entfaltung seiner Menschenwürde ist das Ziel. Das jus soli ist dem wohl angemessener als das jus sanguinis. Dazu schon oben Vierter Teil Inkurs Β sowie Sechster Teil VI Ziff. 8 Inkurs. 1374 Aus der Lit.: H.H. Klein, Europa - Verschiedenes gemeinsam erlebt, Es gibt kein europäisches Volk, sondern nur die Völker Europas, FAZ vom 17. Oktober 1994, S. 12. 1375 So mein Vorschlag in: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdBStR Bd. I (1987), S. 815 (847 f.). Vgl. oben VIII Ziff. 1.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"hinter" der Volkssouveränität die freie Selbstbestimmung des einzelnen Menschen und das darin wurzelnde Konsensprinzip sieht 1376 . Das Staatselement "Gebiet" ist im europäischen Raum als Größe mit offenen Grenzen präsent, und das Element der "Gewalt" ist in der EU, wenn auch nicht mit virtueller (im Verfassungsstaat ohnedies nicht mehr gültiger) "Allzuständigkeit", sondern sektoral "fragmentarisch" gegenwärtig und erlebbar (nicht zuletzt über die beiden Europäischen Gerichtshöfe, aber auch in vielen Rechtsetzungsakten unterschiedlichster Ranghöhe). Speziell die E M R K 1 3 7 7 ist eine geschriebene "Teilverfassung" Europas, die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" des EuGH kommen verstärkend hinzu. Kurz: das anspruchsvolle Begriffselement im GV "Verfassungsrecht" darf beibehalten werden und mit ihm viele schon angedeutete Inhalte und Funktionen verfassungsstaatlicher Verfassungen. f) Strukturen vertikaler Gewaltenteilung: Föderalismus und (werdender) Regionalismus sowie die Kommunen Ist die "horizontale" Gewaltenteilung dank der Klassikertexte von J. Locke und Montesquieu bis hin zu den "Federalist Papers" der USA und Art. 16 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 eines der zentralen Prinzipien der nationalen Verfassungsstaaten, während es auf der EU- und EG-Ebene 1378
noch viel "Entwicklungsbedarf ' gibt , so verdient die "vertikale" Gewaltenteilung als deren Fortentwicklung eine gesonderte Betrachtung sub specie "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht". Im Dienste der Verhinderung von Machtmißbrauch stehend, bildet sie im Kern schon jetzt ein Prinzip des GV, sei es in der Ausformung als Föderalismus, als Regionalismus oder als kommunale Selbstverwaltung. Die einzelnen Verfassungsstaaten in Europa sind bereits entweder Bundesstaaten wie die Schweiz, Österreich, Deutschland und Belgien (seit 1993) oder sie sind in unterschiedlicher Intensität in Regionen gegliedert (im Bild einer Skala vom noch recht zentralistischen Frankreich über Italien bis 1376 Dazu H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 9 (23); ders., ebd. S. 162 (Diskussion). 1377 Dazu das Kolloquium: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, EuGRZ 1996, S. 337 ff. (mit Beiträgen u.a. von R. Bernhardt, G. Ress, W. Fiedler), sowie J.A. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996. Vgl. zuletzt: M Emde, Der Individualrechtsschutz des Unionsbürgers, Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Elemente des gemeineuropäischen ordre public, 1997. 1378 Vgl. aus der Lit.: W. Bernhardt, Verfassungsprinzipien - Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, bes. S. 95 ff. Ein weiterer Aspekt bei J. Schwarze, Kompetenzverteilung in der EU im föderalen Gleichgewicht, DVB1. 1995, S. 1265 ff.
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zu Spanien, einer "Vorform" des Föderalismus). Bewertet man den Regionalismus als "kleinen", aber eigenwüchsigen "Bruder" des Föderalismus, so darf er durchaus als "werdendes Strukturprinzip und europarechtspolitische Maxime" zugleich eingeordnet werden 1379 . M.a.W.: Der "Europa-Bürger" ist durch das Europa der Regionen bzw. Gliedstaaten abgesichert, und eben dies bildet ein Stück Gemeineuropäischen Verfassungsrechts. Viele kleine Mosaiksteine belegen dies: neben den grenzüberschreitenden Regionen, z.B. der "Arge Alp", der "Regio Basiliensis", der "Euregio Egrensis" 1380 , die zunehmende Zahl von nationalen Verfassungs-Artikeln, die sich für den europäischen Regionalismus aussprechen 1381 (z.B. Art. 60 Abs. 2 Verf. Saarland, Art. 54 Abs. 1 Verf. Bern), mag der "Ausschuß der Regionen" (Art. 198 a EGV) noch schwach sein, schließlich die vielfältigen Strukturen und Aktivitäten auf der gesamteuropäischen Ebene (von der Gemeinschafts-Charta der Regionalisierung des EP von 1988 bis zu den Versammlungen der Regionen Europas). Zum GV gehört auch der allgemeine Rechtsgedanke, der sich fortschreitend in der "Bundestreue", "Gemeinschaftstreue", "Regionen-" und "Unionstreue" manifestiert 1382 . Ähnlich, aber schon effektiver fortgeschritten ist die kommunale Selbstverwaltung ein Schlußstein im Gewölbe der vertikalen Gewaltenteilung als GV. Um hier mit der transnationalen Ebene zu beginnen: Bekannt sind die Pionierleistungen der Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985) 1 3 8 3 ; vorausgegangen war der Klassikertext von A. Gasser ("Gemeindefreiheit als Rettung Europas", 1947). Zuletzt wuchs das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger hinzu. Innerverfassungsstaatliche Stichworte lauten: "droit municipal" in Frankreich und Belgien im 18. Jahrhundert, des Freiherrn vom Stein Preußi-
1379 Vgl. meinen gleichnamigen Beitrag in: AöR 118 (1993), S. 1 ff; s. auch F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990; H.-J. Blanke, Föderalismus und Integrationsgewalt, 1991; M Morass , Regionale Interessen auf dem Weg in die Europäische Union, 1994. Vgl. oben VIII Ziff. 5. 1380 Dazu etwa B. Speiser, Der grenzüberschreitende Regionalismus am Beispiel der oberrheinischen Kooperation, 1993. 1381 Zum Ganzen mein Beitrag: Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe - der Ausbau von nationalem "Europaverfassungsrecht", FS Everling, 1995, S. 355 ff. 1382 Teilaspekte aus belgischer Sicht bei A. Alen/P. Peeters/W. Pas, "Bundestreue" im belgischen Verfassungsrecht, JöR 42 (1994), S. 439 ff. 1383 Dazu aus der Lit.: F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989; ders. (Hrsg.), Europa der Regionen und Europa der Kommunen, 1994; M. Zuleeg, Die Stellung der Länder im europäischen Integrationsprozeß, DVB1. 1992, S. 1329 ff.; M. Nierhaus (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung, 1996; H.-E. Folz, Kommunale Selbstverwaltung und Europäische Einigung, FS Hahn, 1997, S. 611 ff.; A. Beck, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf kommunale grenznachbarschaftliche Einrichtungen, 1996.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
sehe Städtereform von 1808, gipfelnd im großen Klassikertext der Paulskirchenverfassung - obgleich Entwurf! - (Art. X I § 184: "Jede Gemeinde hat als Grundrechte ihrer Verfassung...") 1384 . Wohl alle Verfassungsstaaten ( W e s t e u ropas haben eine ausgebaute kommunale Selbstverwaltung, Osteuropa ringt darum. So vollendet sich die europäische Bürgerfreiheit als Freiheit "vor Ort", im "Kleinen". Das "Europa der Bürger", das Postulat der "Bürgernähe" (vgl. Art. A Abs. 2 EUV) sind insoweit gemeineuropäisches Verfassungsrecht. g) Verfahren für nationale Verfassungsreformen und dauernde "Europaoffenheit" bzw. "-fähigkeit" aller Verfassungsstaaten Als letztes praktisches Beispielsfeld für Bestand und Entwicklung von GV seien die Verfahren der Verfassungsreform behandelt. Hier gibt es auf der nationalen Ebene eine Skala von der stärksten Fortschreibung der verfassungsstaatlichen Verfassung via Total- und Partialrevision über den Verfassungswandel durch Interpretation bis hin zum verfassungsrichterlichen Sondervotum als "feiner" Interpretationsalternative - all dies sind Stufen der differenzierten Verarbeitung des Zeitfaktors. Die nationalen Verfassungsordnungen bieten hier viele Unterschiede im Prozessualen, aber auch in der Frage etwaiger materieller 1385
Grenzen (Stichwort: Ewigkeitsklauseln ). Entscheidend ist nur, daß es bestimmte Verfahren gibt zur Fortschreibung der Verfassung "im Laufe der Zeit" - gemäß dem Verständnis von Verfassung als öffentlichem Prozeß. "Verfassungsreform" ist insofern ein dem Typus Verfassungsstaat immanentes Prinzip. Jede Verfassungskultur muß dem Zeitfaktor Einlaß bieten 1386 . Einzuhalten sind auch die an die Verfassunggebung zu stellenden Mindestbedingungen, z.B. die Billigung der Verfassung durch das Volk i.S. des berühmten Klassikertextes aus dem Frankreich von 1792: "Qu'il ne peut y avoir de Constitution que celle qui est acceptée par le peuple". J. A. Frowein hat an ihn im Kontext der deutschen Einigung, freilich auch er ohne Erfolg, erin-
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Aus der Lit.: D. Thürer, Bund und Gemeinden, 1986; R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984; ders., Das Prinzip Selbstverwaltung, HdBStR Bd. IV 1990, S. 1133 ff. Vgl. schon oben VIII Inkurs B. 1385 Dazu mein Beitrag: Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (1986), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 597 ff- Aus der Schweizer Lit.: J.P. Müller, Materiale Schranken der Verfassungsrevision?, FS Haug, 1986, S. 195 ff. S. noch Fünfter Teil III Ziff. 2. 1386 Zum verfassungstheoretischen Hintergrund mein Beitrag: Zeit und Verfassungskultur, in: Rechtsvergleichung, aaO., S. 627 ff. Vgl. Vierter Teil IV.
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nert 1 3 8 7 . Das Vorhandensein eines Kanons von Verfahren der Verfassungsreform gehört m.E. zu dem Ensemble von Prinzipien des GV. Und doch besteht hier ein Defizit: Die europäischen Verfassungsprinzipien auf EU-, EG- und Europaratsebene entbehren noch der direkten demokratischen Legitimation. Das kann uns jedoch nicht davon abhalten, sie in die "Werkstatt" des GV zu integrieren. Zunächst reicht die indirekte Legitimation aus. Art. Ν des EUVertrages gibt dem Europäischen Parlament bei Änderungen des Unionsvertrages immerhin ein Anhörungsrecht. Auf längere Sicht ist aber eine Weiterentwicklung des Revisionsverfahrens der EU "im Geiste" der - öffentlichen verfassungsstaatlichen Verfahren unverzichtbar. Wie aber steht es um die "Europafähigkeit" bzw. "-Offenheit" selbst? Sie bildet heute m.E. ein konstituierendes Element aller Verfassungsstaaten in Europa: sei es ausdrücklich geschrieben (etwa in Form von Art. 23 GG oder Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal), sei es ungeschrieben - wie derzeit noch in der Schweiz auf der Bundesebene, wo indes der praktische Verfassungsrang der EMRK einen wesentlichen Aspekt der Europaoffenheit geschaffen hat. Die Reformstaaten Osteuropas wären gut beraten, ihre Europaoffenheit ausdrücklich in ihren Verfassungstexten zu dokumentieren, da hier die europäische Rechtskultur noch "nachwachsen" muß 1 3 8 8 . Auch ohne geschriebenes nationales Europaverfassungsrecht sind alle Verfassungsstaaten in Europa "Objekt" und "Subjekt" der heutigen inneren und äußeren Europäisierungsvorgänge. "Europa" ist dem Verfassungsstaat buchstäblich immanent (geworden). Mag es hier auch immer wieder Renationalisierungstendenzen geben: in der Essenz kann kein nationaler Verfassunggeber heute die europäische Dimension einer Nation mehr negieren. Insofern läßt sich mit I. Pernice sagen, die Mitgliedstaaten der EU seien als Teil eines "Verfassungsverbunds" nicht mehr die "Herren" ihrer eigenen Verfassungen. Die nationale Identität ist heute auch europäisch definiert. M.a.W.: Europa gehört zu den "Realien" aller nationalen Verfassunggebung in diesem Europa - und zugleich zu ihren "Idealen". Die "überstaatliche Bedingtheit" des modernen Verfassungsstaates (W. von Simson) 1389 , in Gestalt
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J.A. Frowein, Deutschlands Verfassungslage, VVDStRL 49 (1990), S. 197 (Diskussion). 1388 Zu Polen meine Denkschrift, abgedruckt in: Die Verwaltung 28 (1995), S. 249 ff. Die Verfassung Tschechiens (1993) hat dies z.B. in bezug auf die EMRK vorbildlich getan (Art. 3, 112). 1389 Allgemein dazu W. von Simson/J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992; P. Häberle/J. Schwarze/W. Graf Vitzthum, Die überstaatliche Bedingtheit des Staates, EuR Beiheft 1, 1993; S. auch I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 31 (1996), S. 27 ff.; S. Oeter, Souveränität und Demokratie in der "Verfassungsentwicklung" der EU, ZaöRV 55 (1995), S. 659 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
von Öffhungsklauseln nach Art von Art. 24 GG textstufenhaft greifbar, ist in Europa als spezifisch europäisch bedingte zu lesen.
4. Der europäische Jurist - als Verfassunggeber, Richter und Staatsrechtslehrer Die erwähnten Produktions- und Rezeptionsprozesse in Europa deuten auf eine Figur, die es in Zukunft noch mehr geben muß als heute: den europäischen Juristen. Die klassische Zeit des gemeinen Rechts kannte ihn, seine Sprache war lateinisch; heute sind viele Sprachen Medien, aber sie haben in Sachen Verfassungsstaat nur eine "Grammatik". Der europäische Jurist ist auf allen Ebenen gefordert: als Verfassunggeber, Richter und Staatsrechtslehrer, und Klassiker sind ebenso unentbehrlich wie Klassizisten und Glossatoren. Und es geht wohlgemerkt nicht nur um den am "Europarecht" arbeitenden Juristen. Die Zivilrechtslehre hat vorgelebt, was "Klassiker" sind und wie sie im europäischen Verbund zu solchen werden: C. F. von Savigny, R. von Ihering, vielleicht auch E. Rabel. Die Zu- und Vorarbeit durch den "normalen" europäischen Juristen ist nicht minder wichtig. Niemand sollte den Vorwurf des bloßen "Klassizisten" und "Glossatoren" fürchten. Entscheidend ist, daß die Juristen heute dank rechtsvergleichender Schulung in allen Funktionen sensibel und offen sind für das, was das übrige Europa in Sachen Verfassungsstaat im ganzen und einzelnen zu bieten hat. Der gemeineuropäische Vorrat an Problemlösungen für die je nationale Rechtskultur vermag ein einzelner freilich nicht auszuschöpfen. "Europäisch" ist ein Jurist schon, wenn er zusätzlich zu seiner eigenen Rechtskultur eine oder zwei andere beobachtet. Die Idealfigur des europäischen Juristen, durch das Erasmus- bzw. Tempus-Programm oder eigene Bildung gefordert, muß bescheiden ansetzen; sie sollte in allen juristischen Berufen präsent sein und den Rechtspolitiker wie den Interpreten einschließen. Die wissenschaftliche Erarbeitung von Gemeineuropäischem Verfassungsrecht, im Falle des Gelingens auch ein Stück "Juristenrecht" - und in der Juristenausbildung praktisch zu beginnen - ist kein Versuch der Abschottung des nur in seiner Offenheit lebenden Europas von der übrigen Welt, und sie meint keinen neuen "Eurozentrismus". Im Gegenteil. Das Gemeineuropäische Verfassungsrecht baut Brücken zu anderen Regionen (zumal wenn Osteuropa integriert ist): etwa dank Spanien zu Südamerika und den sich dort entwickelnden Verfassungsstaaten und es kann aus der Familie der europäischen Verfassungsstaatlichkeit Modellelemente schaffen: etwa für ein "gemein- (oder pan-) amerikanisches" Verfassungsrecht, die A M R K ist ein Anfang, auch der neue Wirtschaftsraum USA, Kanada und Mexico (Nafta); vielleicht wachsen eines Tages auch Elemente eines "gemeinasiatischen Verfassungsrechts" heran, etwa in Südostasien (ebenso dringlich wäre der Brückenschlag zur islamischen
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Rechtswelt) . Nur ein in "weltbürgerlicher" Absicht entworfenes Gemeineuropäisches Verfassungsrecht fügt sich als regionales Projekt dem Menschheitsaspekt der Charta der UN, ihrer allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1945 bzw. 1948 und den Menschenrechtspakten von 1966 ein. Die Friedensaufgabe, im Europa der OSZE von heute dringender denn je, kann auch durch das Gemeineuropäische Verfassungsrecht (z.B. in Sachen Maastricht II bzw. "Amsterdam") ein Stück weiter in der als offen zu denkenden Zukunft erfüllt werden. Das Ziel, so zu einem gemeineuropäischen Wertgewinn beizutragen, bedeutet keine Überschätzung der eben doch begrenzten Möglichkeiten des Verfassungsjuristen, aber es lebt wie all unsere Tätigkeit sowohl vom "Prinzip Hoffnung" (E. Bloch) als auch vom "Prinzip Verantwortung" (H. Jonas). Die gemeineuropäische Bürgergesellschaft ist ein Ideal, an dem wir uns zu bewähren haben: Warum sollte gemeineuropäisch-kulturell nicht gelingen, was in vielen Jahrhunderten in großen Stunden von 1689, 1776, 1787, 1789, 1848 und 1945 folgende je national geglückt ist: die (Weiter-)Entwicklung des Typus "Verfassungsstaat" 1391? Im Blick auf den "homo europaeus" hat der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski am Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1994 in Bremen 1392
gesagt : "Welche Erleichterung, Europa wird sein!.... Es gibt kein Europa ohne die Gotik von Krakau und Prag, ohne Dresdner Zwinger, ohne die Brükken von Budapest und ohne Leipzig, das früher Hauptstadt des europäischen Buches war." Daran und an solche Persönlichkeiten, die wie ein Romain Rolland oder Albert Schweitzer das "Gewissen Europas" sind und europäische 1390
Dazu m.w.N. mein Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates: rechts- bzw. kulturwissenschaftlich betrachtet, Liber amicorum Josef Esser, 1995, S. 49 ff., bes. S. 68 ff. 1391 Alle nationale Rechtsgeschichtsschreibung muß sich dabei "europäisieren". Aus der Lit. etwa: R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; Ä Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992; ders., Die Herrschaft des Rechts - Grundlagen des europäischen Rechtsbegriffs, Veröff. Joachim Jungius-Ges. Wiss., Hamburg 77 (1994), S. 27 ff- Wichtig wird aber, auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der europäischen und amerikanischen Rechtskultur zu erarbeiten, dazu etwa R. Zimmermann (Hrsg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, 1995.- Lit. zur (europäischen) Juristenausbildung: H. Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaften, NJW 1990, S. 937 ff; A. Flessner, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft und Juristenausbildung, RabelsZ 56 (1992), S. 243 ff; A. Junker, Rechtsvergleichung als Grundlagenfach, JZ 1994, S. 921 ff.; H. Kötz, Europäische Juristenausbildung, ZEuP 1993, S. 268 ff; F. Ranieri, Der europäische Jurist - Rechtshistorisches Forschungsthema und rechtspolitische Aufgabe, lus Commune XVII, S. 9 ff; E. Schmidt-Aßmann, Zur Situation der rechtswissenschaftlichen Forschung, JZ 1995, S. 2 ff; H. Kötz, Zehn Thesen zum Elend der deutschen Juristenausbildung, ZEuP 1996, S. 565 (567 ff.). 1392 Zit. nach FAZ vom 4. Oktober 1994, S. 6.
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Geisteshaltung praktizieren, müssen wir uns gerade heute erinnern, um ein "Europa der Bürger" zu konstituieren. Einem Europäer der ersten Stunde, Jean Monnet, wird die gegen Ende seines Lebens gewonnene Einsicht zugeschrieben, er würde, hätte er sein Werk noch einmal zu tun, mit der Kultur beginnen. Nehmen wir dies als Aufruf, einen kulturellen und daß heißt auch recAtekulturellen Begriff von Europa zu erarbeiten - das Gemeineuropäische Verfassungsrecht könnte ein Vehikel dafür sein, die in früheren Jahrhunderten geführte Europadebatte von Novalis (1799) bis J. von Görres (1821), von Mazzini (1829), R. Borchardt (1917) bis E.R. Curtius (1947) kraftvoll zu erneuern 1393 . Das ideelle Europa, seine vertikale Dimension ist letztlich auch die inspirierende "Quelle" für alles gemeineuropäische Verfassungsrecht 1394 .
5. Auf dem Weg zu einem "Gemeineuropäischen Verfassungsbuch " In der Geschichtswissenschaft gibt es ein Bemühen, zu einem "europäischen Geschichtsbuch" zu kommen; Schulbuchkonferenzen, etwa zwischen Deutschland und Polen, Tschechien bzw. Frankreich liefern Vorarbeiten dazu. Die Literatur zu den einzelnen Künsten hat längst ihre europäischen Ausgaben: die europäische Literatur- oder Musikgeschichte ist bereits geschrieben, die europäische Malerei- und Architekturgeschichte kennt große Autoren. Wäre es nicht an der Zeit, bewußt an einem "gemeineuropäischen Verfassungsbuch" zu arbeiten? In ihm sollte Platz sein sowohl für den "gemeineuropäischen Besitz" in Sachen Verfassungsstaat als auch für die Prozesse des Gebens und Nehmens der beteiligten Nationen, überdies für die Varianten und Abweichungen vom gemeinsamen Typus Verfassungsstaat, die den einzelnen nationalen Rechtskulturen nach wie vor eigen sind und die sie auch brauchen. Begonnen werden müßte damit, daß jedes Land der Frage nachgeht, in welchen Wirkungszusammenhängen je seine eigene Verfassung mit den anderen entstanden ist, steht und sich weiter entwickelt - die deutschen Bände zum Thema "40 Jahre GG"
1393 Vgl. P.M. Lützeler (Hrsg.), Europa, Analysen der Romantiker, 1. Aufl. 1982; ders. (Hrsg.), Hoffnung Europa, Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, 1994; R. Borchardt, Gedanken über den europäischen Begriff, 1917; E.R. Curtius , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1947), 11. Aufl. 1993. Weitere Lit. bei M. Fuhrmann, Alexander von Roes: ein Wegbereiter des Europagedankens?, 1994. 1394 Es bedarf immer wieder der "Vergegenwärtigung" Europas, etwa in Gestalt wechselnder "Kulturhauptstädte" (wie 1999: Weimar) oder gemeineuropäischer Feste (noch 1832 nahmen in Hambach neben den deutschen auch polnische und französische Studenten teil!): so aktualisiert sich Europas Öffentlichkeit aus Kultur; dazu mein Beitrag in: FS Hangartner, 1998, i. E.
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(1989) können Vorbild sein. Sie sollten um "Parallelliteratur" wie "20 Jahre Spanische Verfassung" (1998) oder "50 Jahre Verfassung Italien" (1997) u.ä. ergänzt werden. Erst dann wird der Blick frei für das ganze reiche Geschehen in Sachen "europäischer Verfassungsstaat", wobei auch die einzelnen Rezeptionswellen, die Vorgänge mittelbarer Rezeption bzw. Reproduktion sichtbar werden müßten - bis hin zu den schwer greifbaren informellen Rezeptionsvorgängen. Erst dann wäre zu beobachten, wie sich ein, etwa aus Italien rezipierter, Text im Kraftfeld der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten z.B. Spaniens allmählich wandelt und wie produktiv die scheinbar bloß passive Übernahme ist. Auch könnte klarer werden, welche konkreten Konsequenzen sich aus den einzelnen Rezeptionsweisen ergeben. Darf z.B. mit der Übernahme eines Stückes des deutschen GG-Textes auch die spätere Judikatur des BVerfG und die vorausgehende Lehre (z.B. aus der Weimarer Zeit) übernommen werden? Oder soll der fremde Verfassungsstaat sich besser eher zurückhalten und auf der Ebene der Interpretation nicht so sehr "wiederholend" als vielmehr schöpferisch tätig werden, um so das Fremde als Eigenes einzuschmelzen? Dabei sollen spezielle Produktions- und Rezeptionszusammenhänge keineswegs egalisiert und eingeebnet werden: die "besonderen Verbindungen" etwa zwischen Italien einerseits, Portugal und Spanien als romanischen Ländern andererseits sollen bleiben - künftig vielleicht um Bulgarien, Rumänien und Albanien erweitert. Die drei deutschsprachigen Länder Österreich, Schweiz und Bundesrepublik sollten auf dem Gebiet der Grundrechte, des Föderalismus und der Verfassungsgerichtsbarkeit die in manchem gemeinsame "Werkstatt" pflegen wie bisher. Wettbewerb ist erwünscht, bekannt ist etwa das Ringen des deutschen Einflusses mit der französischen Konkurrenz in Griechenlands Staatsrechtslehre und Rechtsprechung. Das gemeinsame "europäische Verfassungshaus" darf viele Zimmer haben; entscheidend ist, daß es innen wie außen offen bleibt und um sein gemeinsames Fundament weiß. "Verfassungsrechtslehre als Literatur" hat bei all dem eine integrierende Zu1395
trägerfünktion und zwar in allen Literaturgattungen - sofern sie nur europäisch arbeitet. Rechtsvergleichend vorgehende Monographien, Kommentare, Tagungsbände zwischen einzelnen Nationen oder mehreren von ihnen können Vorarbeit leisten 1396 . Sie bilden Etappen auf dem Weg zu einem "Gemeineuropäischen Verfassungsbuch", an dem viele Generationen europäischer Juristen 1395 Aufschlüsselungen in meinem Beitrag: Verfassungslehre im Kraftfeld rechtswissenschaftlicher Literaturgattungen, FS O.K. Kaufmann, 1989, S. 15 ff. Vgl. auch Fünfter Teil X. 1396 Beispiele nachgewiesen in P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 (272 f.). Vgl. auch Fünfter Teil X Ziff. 2 b.
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zu arbeiten hätten: im Horizont eines Jus Publicum Europaeum. Spanien hat seit 1978 beispielhaft und für uns alle vorbildlich gearbeitet - nicht nur im friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie, sondern auch in der Art und Weise, wie es schöpferisch das jeweils Beste aus z.B. Italien und Deutschlands Verfassungsentwicklung textlich, judikativ und wissenschaftlich einschmilzt, ständig Brücken baut: in Namen wie P. Cruz Villalón, R. Llorente, A. Lopez Pina 1 3 9 7 F. Balaguer und anderen. Spanien ist so unversehens zur Vorhut geworden. Die befürchtete "Germanisierung" der spanischen Staatsrechtslehre mündet in eine Europäisierung, wie sie allen nationalen Staatsrechtslehren auf unserem Kontinent aufgegeben ist, wollen sie sich im europäischen Konzert behaupten. Spätestens jetzt wird ein Schritt über Europa hinaus möglich und nötig: Das kann über den Kulturgüterschutz gelingen.
XII. National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz - ein Textstufenvergleich 1. Problem Der Kulturgüterschutz hat als Thema von Politik und Wissenschaften besonders in den letzten Jahren "Karriere" gemacht. Die geschichtlichen Etappen der "Intensivierung des Kulturgüterschutzes" nach dem Zweiten Weltkrieg 1398
1397 Gerade die Staatsrechtslehre Spaniens wendet sich in der ganzen Breite der Literaturgattungen der deutschen Staatsrechtslehre zu: vgl. als Beispiel für Monographien: P. Cruz Villalón , La Formacion del Sistema Europeo de Control de Constitucionalidad, 1987; L. Villacorta Mancebo, Hacia el Equilibrio de Poderes, 1989; als Beispiel für Lehrbücher: A.E. Pérez Luno, Derechos Humanos Estado de Derecho y Constitution, 2. Aufl. 1986; G. Péces-Barba , Introduccion a la Filosofia del Derecho, 2. Aufl. 1988; Beispiele in Gestalt von Tagungsbänden: A. López Pina (Hrsg.), La Garantia Constitucional de los Derechos Fundamentales, 1991; in einer Gedächtnis-Schrift (z.B. für J. J. Ruiz Rico , 3 Bde. 1997).- Diese spanische Literatur verarbeitet aber auch Werke aus anderen europäischen Verfassungsstaaten. (Zu Garcia Enterria als "europäischen Staatsrechtslehrer", JöR 45 (1997), S. 145 ff.). Gleiches gilt für Portugal, vgl. nur: M. Rebelo de Sousa, Os Partidos politicos no Direito Constitucional Portuges, 1983; ders., Ο Valor Juridico do Acto Inconstitucional I, 1988; J.J. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, 5. Aufl., 1991.- Als Stimme aus Lateinamerika: R. Combellas (Coord.), El Nuovo Derecho Constitucional Latinoamericano, Vol. I und II, 1996. G. Belaunde/F. Segado (Coord.), La Jurisdiccion Constitucional en Iberoamerica, 1997. 1398 Vgl. W. Fiedler, Zur Entwicklung des Völkergewohnheitsrechtes im Bereich des internationalen Kulturgüterschutzes, FS K. Doehring, 1989, S. 199 ff.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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und die "Stufen des kriegsrechtlichen Kulturgüterrechts" 1399 werden ebenso behandelt wie sich jüngst neben der völkerrechtlichen Dimension die europarechtliche in den Vordergrund schiebt 1400 . Viele Literaturgattungen (z.B. Festschriftenbeiträge 1401 und Symposien 1402 ) und viele juristische Teildisziplinen (z.B. das internationale Privatrecht 1403 , das Privat-, Verwaltungs- sowie das Völkerrecht 1404 ) nehmen sich des Themas an. Doch fällt auf, daß eine Textstufenanalyse, die in Raum und Zeit vergleichend in bezug auf neuere Verfassungen vorgeht, bislang nicht vorliegt 1405 . Das überrascht, denn ein Problem, das den Nationen, ihren Politikern und Wissenschaftlern zunehmend "wichtig" wird, schlägt sich früher oder später auch in Verfassungstexte nieder. Und die Methode der vergleichenden Textstufenanalyse, die bislang z.B. im Blick auf 1399 Vgl. S. Turner, Die Zuordnung beweglicher Kulturgüter im Völkerrecht, in: W. Fiedler (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, 1991, S. 19 (48 ff.). 1400 Dazu F. Fechner, Die Vorhaben der EG zum Kulturgüterschutz, DÖV 1992, S. 609 ff.; Κ Siehr, Handel mit Kulturgütern in der EWG, NJW 1993, S. 2206 ff.; J. Schwarze, Der Schutz nationalen Kulturgutes im europäischen Binnenmarkt, JZ 1994, S. 111 ff.; s. auch den Tagungsbericht "Kunstwerke im Binnenmarkt" von F. Fechner, JZ 1994, S. 132 f. 1401 Vgl. etwa W. Rudolf, Über den internationalen Schutz von Kulturgütern, FS K. Doehring, 1989, S. 853 ff; I. Seidl-Hohenveldern, Ausfuhr und Rückführung von Kunstwerken, FS D. Schindler, 1989, S. 137 ff.; R. Mußgnug, Überlegungen zur Umsetzung der neuen EG-Vorschriften, FS Bernhardt, 1995, S. 1225 ff.; H Schiedermaier, Kunst und Völkerrecht, FS Benda, 1994, S. 235 ff.; H.-W\ Rengeling (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, 1996; Κ Siehr, Freizügigkeit und Kulturgüterschutz in der EU, FS E.-J. Mestmäcker, 1996, S. 483 ff; /. Seidl-Hohenveldern, Kunstraub im Krieg, FS R. Trinkner, 1995, S. 51 ff. 1402 Vgl. etwa zum Heidelberger Symposion "Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes" (1990): P. Metzger, NJW 1991, S. 69 f.; E. Jayme, in: IPRax 1990, S. 347 f.; s. jetzt den Tagungsband, hrsgg. von R. Dolzer, E. Jayme und R. Mußgnug, 1994. 1403 Dazu G. Reichelt, Kulturgüterschutz und Internationales Privatrecht, IPRax 1986, S. 73 ff.; dies., Kulturschutz und Internationales Verfahrensrecht, IPRax 1989, S. 254 f.; A. Müller-Katzenburg, Internationale Standards im Kulturgüterschutzverkehr..., 1995. S. auch N. Bernsdorjf/A. Klein-Tebbe, Kulturgüterschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 1996. 1404 Vgl. H. Hugger, Rückführung nationaler Kulturgüter und internationales Recht am Beispiel der Elgin Marbles, JuS 1992, S. 997 ff.; R. Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes, 1994; W. Fiedler, Kulturgüterschutz - eine neue Dimension des internationalen Rechts, AdV 1996, S. 237 ff. 1405 Einen eindrucksvollen Rechtsvergleich der verschiedenen "Regelungstypen" auf einfachgesetzlicher Ebene leistet Κ Siehr, Nationaler und Internationaler Kulturgüterschutz, FS W. Lorenz, 1991, S. 525 (527 ff.), mit Beispielen unterschiedlich intensiven "Kultur-Nationalismus". Auf die Gesetze bezogen ist auch der Rechtsvergleich bei L. Engstier, Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts, 1964, S. 26 ff., 59 ff. 7 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Präambeln, einzelne Grundrechte, die Staatsaufgaben, Ewigkeitsklauseln und Feiertagsgarantien unternommen wurde 1 4 0 6 , verspricht beim Thema des Kulturgüterschutzes schon prima facie reichen Ertrag. Denn im internationalen Bereich hat sich das Thema spezifisch rechtstextlich entwickelt: greifbar vor allem in der Haager Landkriegsordnung (1907) und sich ständig verdichtend und erweiternd in der Haager Konvention von 1954 bis hin zu den UnescoKonventionen von 1970 und 1972 1407 . Diese Stufenfolge im internationalen Recht legt es nahe, "Parallelen" oder doch "Wahlverwandtschaften" im nationalen Verfassungsrecht zu suchen. Wann und wie wird der Kulturgüterschutz zum "Verfassungsthema"? Gibt es ein Zwiegespräch, einen "schubweisen Stoffwechsel" zwischen der internationalen Themen- und Textkarriere des Kulturgüterschutzes und der national verfassungsstaatlichen - so, wie die Grund- und Menschenrechte zunächst national "gedacht" und fortgeschrieben wurden (1776, 1789, 1849), ehe sie in das Internationale/Universale hineinzuwachsen begannen? Wie verschränkt sich der Gedanke eines "kulturellen Internationalismus" (J. H. Merryman 1408 ) mit dem "kulturellen Nationalismus"? Und: Welches sind die verfassungstheoretischen Konsequenzen, die aus dem thematischen Gleichklang zwischen universaler Weltebene und nationaler Verfassungsstaatsebene in Sachen Kultur folgen? Wenn das Haager Abkommen von 1954 auf der Konzeption beruht, daß jeder Staat Treuhänder gegenüber der ganzen Menschenheit für das in seinem Herrschaftsbereich befindliche Kulturerbe ist 1 4 0 9 , so gelangen Verfassungsstaat, Menschheit bzw. Kultur in eine "neue Nähe", die theoretisch erst noch auszuleuchten ist. Doch sei vermutet, daß gerade neuere Verfassungen auf den wachsenden internationalen Kulturgüterschutz nationale Antworten geben.
2. Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer (nationaler) Verfassungstexte (Elemente einer Bestandsaufnahme) Im folgenden kann nur mit Auswahltexten und Beispielgruppen gearbeitet werden - zu unüberschaubar ist das gesamte Material. Doch seien so viele Texte zusammengestellt, daß sich gewisse theoretische Folgerungen ziehen lassen. Vergleichsgröße bilden die Pioniertexte der Konventionen von 1954
1406 P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff, 176 ff., 597 ff. u.ö.; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. Dazu Fünfter Teil VII Ziff. 1. 1407 Nachweise in W. Fiedler, aaO., FS Doehring, 1989, S. 199 ff. 1408 Dazu W. Rudolf, aaO., S. 853 (861). 1409 Vgl. W. Rudolf, aaO., S. 861.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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bzw. 1972 1410 . In der Präambel der Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) heißt es: "In der Überzeugung, daß jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volk es gehört, eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit bedeutet, weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet; in der Erwägung, daß die Erhaltung des kulturellen Erbes für alle Völker der Welt von großer Bedeutung ist und daß es wesentlich ist, dieses Erbe unter internationalen Schutz zu stellen". Das Unesco-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972) verfeinert seinen Präambeltext in den Worten: "... im Hinblick darauf, daß das Kulturerbe und das Naturerbe zunehmend von Zerstörung bedroht sind, ... in der Erwägung, daß der Verfall oder der Untergang jedes einzelnen Bestandteils des Kultur- oder Naturerbes eine beklagenswerte Schmälerung des Erbes aller Völker der Welt darstellt..., in der Erwägung, daß Teile des Kultur- oder Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen..., daß es angesichts der Größe und Schwere der drohenden neuen Gefahren Aufgabe der internationalen Gemeinschaft als Gesamtheit ist, sich am Schutz des Kultur- und Naturerbes von außergewöhnlichem universellen Wert zu beteiligen." a) Deutschsprachige Verfassungstexte In Deutschland haben Weimarer Reichsverfassung früh und GG später (Art. 150 Abs. 2 W R V 1 4 1 1 bzw. Art. 74 Nr. 5 GG a.F.) einen Schutz des Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland thematisiert. Während das GG nur eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes konstituiert hatte (s. aber jetzt Art. 75 Ziff. 6: Rahmenkompetenz), sah die WRV den Kulturgüterschutz dringlicher als Staatsaufgabe an ("Es ist Sache des Reiches...") 1412 . Beide Normen erweisen sich im Rückblick als eher mager.
1410 BGBl. Teil II 1967, S. 1233 bzw. 1977, S. 215.- Aus der Lit: T. Fitschen, Erläuterungen zum Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 23. Nov. 1972, in: W. Fiedler (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, 1991, S. 183 ff. 1411 Aus der Lit. bis heute unerreicht: A. Hensel, Art. 150 WRV und seine Auswirkung im preußischen Recht, AöR 53 (1928), S. 321 ff. Fruchtbar auch M Meckel, Staat Kirche Kunst, 1968. 1412 Bemerkenswert Art. 109 Abs. 2 Verf. Danzig 1920/22: "Es ist Pflicht des Staates, die Abwanderung des Kunstbesitzes in das Ausland zu verhüten", zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, 1926.- Art. 141 Abs. 2 Verf. Bayern (1946) differenziert den herkömmlichen Kunstund Naturschutz in den Sätzen: "herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und der Geschichte möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zuzuführen, die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes ins Ausland zu verhüten".
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Nicht direkt dem Schutz nationaler Kulturgüter (der Bundessache ist), doch weitgehend der Achtung vor anderen Kulturen verschreiben sich neuere deutsche (Landes)Verfassungstexte in ganz anderem Zusammenhang: bei den Erziehungszielen. Sie haben z.B. nach Art. 28 Verf. Brandenburg (1992) die "Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern". Ähnlich lautet Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen (1993). Wenn Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg eine Kulturschutzklausel normiert ("Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert. Kunstwerke und Denkmale der Kultur stehen unter dem Schutz des Landes..."), so mag das noch national gedacht sein. Über die erwähnten Erziehungsziele kommt indes schon der übernationale Gedanke zum Ausdruck. Kurz: Der Kanon der Erziehungsziele bringt - richtig und konsequent gedacht - (biographisch) rechtzeitig, d.h. den Jugendlichen bildend, den internationalen Kulturgüterschutz auf den Weg. Eine Vorstufe dieses Denkens darf man in Art. 61 Verf. Mark Brandenburg (1947) 1 4 1 3 entdecken: "Als Mittlerin der Kultur hat die Schule die Aufgabe, die Jugend im Geiste friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker zu Demokratie und Humanität zu erziehen" 1414. b) Andere europäische Verfassungen Italien hat schon früh einen Verfassungstext geschaffen, der fast einer "kulturelles Erbe-Klausel" nahekommt. Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien (1947) lautet 1 4 1 5 : "Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation". Eher konventionell heißt es in Art. 24 Abs. 6 Verf. Griechenland (1975):
1413
1948.
1414
Zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der Modemen Staaten, II. Bd.
Ähnlich Art. 88 Abs. 2 Verf. Sachsen (1947), zit. nach O. Ruthenberg, aaO., sowie Art. 88 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1947), zit. ebd. 1415 Aus der Lit.: G. Lombardi , Die behördliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Handels mit Kunstwerken und sonstigen Kulturgütern, in: R. Dolzer/E. Jayme/R. Mußgnug (Hrsg.), Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes, 1994, S. 191 ff; B. Carovita , Art. 9, in: V. Crisafulli/L.Paladin, Commentario breve alla Costituzione, 1990, S. 9 ff.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
1111
"Die Denkmäler und historischen Stätten und Gegenstände stehen unter dem Schutz des Staates". Man sieht, daß dieser Text noch nicht greifbar von dem Geist der internationalen Kulturgüterschutz-Abkommen inspiriert ist 1 4 1 6 . c) Iberische und lateinamerikanische
Verfassungen
Ein eindrucksvoller "Textschub" in Sachen konstitutioneller Kulturgüterschutz ist den beiden iberischen und zahlreichen neueren lateinamerikanischen Verfassungen zu verdanken. Das mag mehrere Gründe haben: Zum einen dürfte im Bewußtsein auch der nationalen Verfassunggeber die Idee des internationalen Kulturgüterschutzes weiter gereift sein, in der Erkenntnis, daß der nationale und der internationale Kulturgüterschutz letztlich zwei Seiten derselben Sache sind. Überdies ist zu vermuten, daß die internationalen Texte, einmal als Texte in der Welt, auch auf die nationale Textgestaltung ausstrahlen, wie dies etwa bei den Menschenrechten auf Schritt und Tritt erkennbar ist. Zum andern könnten die sich neu konstituierenden Verfassungsstaaten wie Portugal und Spanien nach Jahren der Diktatur für die Wichtigkeit der Gewinnung nationaler Identitätselemente besonders sensibel sein. Nationale Kulturgüter begründen ein Stück des nationalen Konsenses, gerade auch in offenen Gesellschaften. In manchen lateinamerikanischen Ländern, vor allem Entwicklungsländern, erscheint die Bewahrung des und die Arbeit am durch Kulturgüter vermittelten Grundkonsens(es) angesichts ökonomischer Nöte als besonders dringlich.
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Traditionell ist auch Art. 24 s e x , e s Abs. 2 Schweizer Bundesverfassung: "Der Bund hat in Erfüllung seiner Aufgaben das heimatliche Landschafts- und Ortsbild, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler zu schonen und, wo das allgemeine Interesse überwiegt, ungeschmälert zu erhalten". (Zur Schweiz: M.P. Wyss, Kultur als Dimension der Völkerrechtsordnung, 1992, S. 241 ff.) Gleiches gilt für Art. 64 Abs. 1 Verf. Türkei (1982), zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff.: "Der Staat gewährleistet den Schutz der Geschichts-, Kultur- und Naturschätze und Werte." Die neueren Schweizer Kantonsverfassungen (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.), sind in Sachen Kulturgutschutz ergiebig: vgl. etwa § 36 Abs. 2 Aargau von 1980: "Er (sc. der Kanton) sorgt für die Erhaltung der Kulturgüter. Er schützt insbesondere erhaltenswerte Ortsbilder sowie historische Stätten und Baudenkmäler"; § 102 Abs. 2 Verf. Basel-Landschaft von 1984: "Sie (sc. Kanton und Gemeinden) schützen erhaltenswerte Landschafts- und Ortsbilder sowie Naturdenkmäler und Kulturgüter". Besonders gelungen ist Art. 107 Verf. Solothum (1985): "Kanton und Gemeindenfördern die individuelle und schöpferische Entfaltung und erleichtem die Teilnahme am kulturellen Leben. Sie schützen und erhalten die Kulturgüter". S. auch Art. 32 Verf. Bern (1993): "Kanton und Gemeinde treffen... Maßnahmen für die Erhaltung... der Naturdenkmäler und Kulturgüter".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Die Verfassung Portugals (1976/92) geht systematisch-formal und inhaltlich in Sachen Kulturgutschutz neue Wege. Bereits in den "grundsätzlichen Bestimmungen" wird als "wesentliche Aufgabe des Staates" genannt (Art. 9 lit. e): "... das Kulturgut des portugiesischen Volkes zu bewahren und zu mehren, die Umwelt und die Natur zu schützen und die natürlichen Ressourcen zu erhalten...". Auffällig ist der hohe Stellenwert des (nationalen) Kulturgutschutzes, aber auch die Erwähnung von Kultur und Natur im gleichen Kontext. Wie intensiv der portugiesische Verfassunggeber den Ausbau des Kulturverfassungsrechts bzw. des Kulturgutschutzes betreibt, zeigt sich auch an anderen "Stellen" der Verfassung. Im Abschnitt "Kulturelle Rechte und Pflichten" figuriert der Kulturgüterschutz zusätzlich in drei Kontexten: in Art. 73 Abs. 3 (Zusammenarbeit mit den Vereinigungen, deren Zielsetzung die Wahrung des Kulturgutes ist), in Art. 78 Abs. 1 (Pflicht von jedermann, "das Kulturgut zu bewahren") sowie in Art. 78 Abs. 2 lit. d (Pflicht des Staates, "das Kulturgut zu fördern und zu schützen, damit es zu einem erneuernden Element der gemeinschaftlichen kulturellen Identität werde"). Diese auch sprachlich schöne Identitätsklausel liefert ein prägnantes Stichwort zum Kulturgutverfassungsrecht und sie eröffnet eine neue Textstufe. Ebenso schöpferisch ist die Vielfalt der Textgruppen, in denen der Kulturgüterschutz erscheint: als Grundpflicht, Verfassungsauftrag, als Staatsaufgabe, als Aspekt des kulturellen Trägerpluralismus. Nimmt man - teils zurückschauend, teils vorgreifend - das ganze Spektrum möglicher und wirklicher verfassungsstaatlicher Kulturgut-Regelungen hinzu (Präambelelement, Erziehungsziel, Grundrecht und Grundpflicht, kulturelles Erbe-Klauseln, Verfassungsauftrag, Staatsaufgaben bzw. bloße Kompetenz), so zeigt sich schon jetzt, wie weit sich der innerstaatliche Kulturgüterschutz formal und materiell ausdifferenziert hat und wie sehr er zum integrierenden Bestandteil des Typus Verfassungsstaat heranzureifen beginnt. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, daß nationaler und universaler Kulturgüterschutz eine "weltbürgerliche Aufgabe" darstellen, die Menschheit als Kulturgutgemeinschaft und den einzelnen Verfassungsstaat als "Treuhänder" zu etablieren und alle zusammenfuhren. Der "status mundialis hominis" und der "allgemeine" Kulturgüterschutz konvergieren 1417 . Der Verfassung Spanien (1978) gelingt ein eigenes Textbild in dem gehaltvollen Artikel 46: "Die öffentliche Gewalt gewährleistet die Erhaltung und fördert die Bereicherung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens und der
1417 Zum "status mundialis hominis" mein Beitrag: Das Konzept der Grundrechte, Rechtstheorie 24 (1993), S. 397 ff. sowie oben VIII Ziff. 1.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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darin enthaltenen Güter, ungeachtet ihres Rechtsstatus und ihrer Trägerschaft. Das Strafgesetz ahndet jeden Verstoß gegen dieses Kulturerbe". Und sie denkt dieses hohe Verfassungsgut mit Schärfe in die kompetenzrechtliche Ebene um, wenn Art. 149 Abs. 1 Ziff. 28 in die ausschließliche Zuständigkeit des Staates (gegenüber den autonomen Gemeinschaften) u.a. verweist: "Schutz des kulturellen, künstlerischen und baulichen Erbes Spaniens gegen Ausfuhr und Plünderung; staatliche Museen, Bibliotheken und Archive, unbeschadet ihrer Verwaltung durch die Autonomen Gemeinschaften". Die neuen ibero-bzw. lateinamerikanischen Verfassungen seit Ende der 70er Jahre bauen den (nationalen) Kulturgutschutz eindrucksvoll aus 1418 . Dabei mag vieles zusammenwirken: das Vorbild der "Mutterländer" Portugal und Spanien, die wachsende Ausstrahlung der internationalen Abkommen von 1954 und 1972, die Sensibilisierung des allgemeinen Bewußtseins für das "gemeinsame Erbe der Menschheit", aber auch, zumal in etwaigen Entwicklungsländern, das Bedürfnis, in der eigenen Kultur Halt zu finden: gegenüber einebnenden Mächten der Wirtschaft oder weltzivilisatorischer Gleichmacherei. Im folgenden sei eine kleine Auswahl von besonders aufschlußreichen Verfassungen in Gestalt der Textstufenmethode präsentiert. Dabei wird die historische, entwicklungsgeschichtliche Darstellung bevorzugt, da die Verfassunggeber heute bei der Redaktion ihrer Texte in engen Produktions- und Rezeptionsprozessen untereinander stehen. Die (alte) Verf. Peru (1979) 1 4 1 9 stimmt sich schon in ihrer Präambel auf den Kulturgutschutz ein 1 4 2 0 : "... Getragen von dem Vorsatz, die historische Persönlichkeit des Vaterlandes, die sich aus den vornehmsten Werten vielerlei Ursprungs zusammensetzt und aus ihnen hervorgegangen ist, aufrechtzuerhalten und zu festigen, ihr kulturelles Erbe zu verteidigen und die Beherrschung und Bewahrung der natürlichen Ressourcen zu sichern...".
1418 Weniger ergiebig sind: Art. 89 Verf. Costa Rica (1949), zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff, als "kulturelle Ziele der Republik" u.a.: "Schutz der Naturschönheiten, Bewahrung und Entwicklung (!) des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation...".- Art. 19 Ziff. 10 Verf. Chile (1980), zit. nach JöR 30 (1981), S. 661 ff.: Aufgabe des Staates, "wissenschaftliche und technische Forschung und künstlerisches Schaffen zufördern sowie das nationale kulturelle Erbe zu bewahren".- Inhaltsreich aber Art. 10 Ziff. 19 Autonomie-Statut des Baskenlandes (1979), zit. nach JöR 43 (1995), S. 558 ff., sowie Art. 12 Ziff. 3 (2) und (6) Autonomie-Statut Andalusien (1982). 1419 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. 1420 Zu den Funktionen von Präambeln näher mein Beitrag: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen (1982), jetzt in: Rechtsvergleichung, aaO., S. 176 ff. sowie im Sechsten Teil XIII Ziff. 8.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Art. 36 nimmt diesen Grundsatz ebenso auf ("Die zum Kulturbesitz der Nation erklärten archäologischen Fundorte und Überreste, Bauten, Monumente, Kunstgegenstände und Zeugnisse von historischem Wert, stehen unter dem Schutz des Staates") wie die Ressourcenklauseln der Art. 118 bis 123 ("Die natürlichen Ressourcen, die erneuerbaren und die nicht erneuerbaren, sind Erbe der Nation") 1 4 2 1 . Ähnlich geht die Verfassung Guatemalas (1985) vor 1 4 2 2 . In der Präambel ist von der Anerkennung "unserer Traditionen und unserer kulturellen Erbschaft" die Rede, und nicht weniger als fünf Artikel nehmen sich - im Anschluß an die Garantie eines Rechts zur Teilnahme an der Kultur (Art. 57) sowie des "Rechts der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur" (Art. 58) - des Schutzes der Kultur bzw. "des kulturellen Erbes" an (Art. 59 bis 62 und 65). Dabei finden sich Aussagen zum "nationalen kulturellen Erbe", das Verbot des Exports von Kulturgütern (unter Gesetzesvorbehalt) und die Einführung einer besonderen Kulturschutzbehörde. Ein Durchbruch ist Guatemala in Art. 61 insofern geglückt, als hier der Schutz des Staates ausdrücklich auf bestimmte Stätten wie einen archäologischen Park und die Stadt Altguatemala erstreckt wird, "die zu Bestandteilen des Welterbes erklärt worden sind, als auch die Fundstätten, die in gleicher Weise anerkannt werden". Dieser verfassungsrechtliche, offengehaltene, "dynamische" nationale Verweis auf den internationalen Kulturgüterschutz und seine Konkretisierung in Gestalt bestimmter Gegenstände des "Welterbes" kann gar nicht genug gerühmt werden. Denn damit verzahnt sich der verfassungsrechtliche interne Kulturgüterschutz mit dem internationalen sichtbar und greifbar. Das sollte Schule machen 1423 .
1421 Die neue Verf. von Peru (1993), hier zit. nach der Volksausgabe in spanischer Sprache, begnügt sich mit dem Schutz des "patrimonio cultural de laNación" (Art. 21), verweist aber auch auf gesetzliche Maßnahmen zur Rückführung von illegal ins Ausland verbrachten Gütern. Zu diesen Fragen der Restitution: G. Reichelt, Die Vereinheitlichung des privatrechtlichen Kulturgüterschutzes ..., in: R. Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 67 ff.; /. Seidl-Hohenveldern, aaO., FS Benda, S. 137 ff. Zur "Rückführung von Kulturgut im internationalen Recht" gleichnamig: Β. Walter, 1988. Anschaulich A. Heinicke, Zollbeamte als Kunsthistoriker, FAZ vom 1. Okt. 1994, S. 39 f. 1422 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.- S. auch Art. 83 Verf. Venezuela (1961): "protection and conservation of works, objects and monuments of historic or artistic value found within the country...". 1423 Die Verf. von Nicaragua (1986), zit. nach JöR 37 (1988), S. 720 ff., formuliert ihre nationale Kulturschutzklausel wie folgt (Art. 128): "Der Staat schützt das archäologische, historische, sprachliche, kulturelle und künstlerische Erbe der Nation".- Kulturgutschutz-Elemente finden sich auch in Art. 38 und 81 Verf. Paraguay (1992) mit Elementen wie "unwritten culture" und "collective memory"; allg. zu Paraguay vgl. nochÄ Schoeller-Schletter, Die Verfassung Paraguays von 1992 und ihre Vorläufer, VRÜ 30
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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Von den späteren Verfassungen dieses Kulturraumes seien noch einige summarisch erwähnt: so die sprachlich schöne Wendung vom jeweils nationalen "tresoro cultural" (Art. 63 Verf. Salvador von 1983 1424 ), vom "patrimonio cultural de la Nación" (Art. 172 Abs. 1 Verf. Honduras von 1982), zu dessen Schutz nicht nur der Staat, sondern auch alle Bürger von Honduras verpflichtet sind (Abs. 4 ebd.). Auch die Verf. von Paraguay (1992) spricht von "patrimonio cultural de la Nación" (Art. 81 Abs. 1); sie bereichert das Textmaterial um die Verpflichtung des Staates, ins Ausland gelangte Kulturgüter zurückzugewinnen (Abs. 2 ebd.) sowie um den Begriff des "kollektiven Gedächtnisses der Nation". Die neue Verf. von Kolumbien (1991) verwendet ebenfalls den Begriff "patrimonio cultural de la Nación" (Art. 72), sie erklärt überdies bestimmte Kulturgegenstände, die "die nationale Identität bilden", für unveräußerlich und unverjährbar, und sich macht es dem Gesetz zur Aufgabe, sie zurückzugewinnen, wenn sie sich in privater Hand befinden 1425 . d) Neue osteuropäische Verfassungen Die Verfassungsbewegung in den postkommunistischen Ländern Osteuropas kennzeichnet sich iz.T. durch produktive Rezeption westlicher Verfassungsideen 1426 . Die Methode des Textstufenvergleichs ist auch hier ertragreich, so groß die Differenz zwischen (neuem) Text und (alter) Wirklichkeit noch sein mag. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nur, ob und wie sich die osteuropäischen Verfassunggeber dem Problem des nationalen Kulturgutschutzes
(1997), S. 225 ff.- Art. 41 Abs. 9 Verf. Äthiopien (1994) spricht von „historical and cultural legacies". S. auch Art. 26 Verf. Madagaskar (1995). 1424 Die folgenden Texte sind zit. nach L. Lopez Guerra/L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992. 1425 Art. 216 Verf. Brasilien von 1988, zit. nach JöR 38 (1989), S. 462 ff., definiert im Kontext von Art. 215 (Garantie der kulturellen Rechte, der Zugangsrechte zu den "Quellen der nationalen Kultur", Kulturförderung) - den brasilianischen Kulturbesitz aus "den materiellen und immateriellen Kulturgütern, die im einzelnen oder in ihrem Zusammenhang Eigenart, Leistung und Andenken der verschiedenen Gruppen, die die brasilianische Gesellschaft bilden, verkörpern". Eine lange Liste zählt Beispiele auf und die Schutzaufgaben werden ausdrücklich spezifiziert (Inventarisierung, Registrierung, Überwachungen, Denkmalschutz, Enteignungsmaßnahmen etc.). Zum "braslilianischen Verfassunggebungsprozeß von 1987/88" gleichnamig: M. Engster, Diss. St. Gallen, 1995. 1426 Dazu mein Beitrag Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), S. 169 ff. sowie (zu Estland): M.H. Wiegandt, Grundzüge der estnischen Verfassung, JöR 45 (1997), S. 151 ff; s. auch R. Steinberg, Die neuen Verfassungen der baltischen Staaten, JöR 43 (1995), S. 55 ff.
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stellen. Zu vermuten ist, daß etwaige kulturelles Erbe-Klauseln auch deshalb gewählt werden, weil die Reformstaaten mühsam genug ihre nationale Identität suchen müssen, um das Vakuum nach dem Zusammenbruch des MarxismusLeninismus zu füllen und Kontinuität zu ihrer "Vorgeschichte" herzustellen 1427 . Hier einige Beispiele: Die Verfassung Sloweniens (1991) 1 4 2 8 sagt bereits in ihren allgemeinen Bestimmungen vorweg im Kontext von Staatsaufgaben (Art. 5): "Er (sc. der Staat) sorgt für die Erhaltung der Naturgüter und des kulturellen Erbes". Im Grundrechtsteil wird diese Aussage spezifiziert unter dem Stichwort "Wahrung des Natur- und Kulturerbes" und zur Grundpflicht umgeformt (Art. 73): "Jedermann hat die Pflicht, in Einklang mit dem Gesetz Naturdenkmäler und -Seltenheiten sowie Kulturdenkmäler zu schützen. Der Staat und die lokalen Gemeinschaften sorgen für die Erhaltung des Natur- und Kulturerbes." Die Verfassung der Tschechischen Republik (1992) piaziert schon in ihrer Präambel den Natur- und Kulturschutz im Feiertagston eines Bekenntnisses: "... entschlossen, den geerbten natürlichen und kulturellen, materiellen und geistigen Reichtum gemeinsam zu hüten und zu entfalten." Art. 7 normiert spezieller: "Der Staat achtet auf schonende Nutzung der natürlichen Ressourcen und auf den Schutz des Naturreichtums." Die Verfassung Estland (1992) geht auf das Thema Kultur- und Naturschutz an drei Stellen ein: In der Präambel wird das Bild des eigenen Staates beschworen, "which shall guarantee the preservation of the Estonian nation and its culture throughout the ages". Art. 5 bestimmt: "The natural wealth and resources of Estonia are national assets, which shall be used sparingly". Art. 53 normiert eine Grundpflicht ("Everyone shall be obligated to preserve human and natural environment...") 1429 . Die Verfassung der Russischen Föderation (1993) 1 4 3 0 ist insofern auf dem neuesten Entwicklungsstand, als sie die Sache 1427
Die Verf. der Republik Serbien (1990) kennt den Kulturgut- und Naturschutz in Form eines Enteignungsartikels (Art. 60 Abs. 4): "Eigentum an Dingen von besonderer kultureller, wissenschaftlicher oder historischer Bedeutung oder von Wichtigkeit für den Naturschutz kann beschränkt werden...". 1428 Zit. nach JöR 42 (1994), S. 89 ff. 1429 Die Verf. Litauens (1992) kennt den Kulturschutz im Rahmen der Kulturfreiheit (Art. 42 Abs. 2: "protection of Lithuanian history, art, and other cultural monuments and valuables") sowie den Natur- und Ressourcenschutz (Art. 54: "protection of the natural environment, its faune and flora, separate objects of nature... moderate utilization of natural resources"). S. auch Art. 68 Abs. 3 Verf. Kroatien (1991). 1430 Zit. nach J.Ch. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 381 ff.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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Kultur von der Grundrechtsseite her regelt und zwar als Freiheitsrecht, aber auch als kulturelles Teilhaberecht von jedermann (Art. 44 Abs. 1 und 2) und überdies die Grundpflicht ausspricht, "sich um die Erhaltung des historischen und kulturellen Nachlasses zu sorgen und die Denkmäler der Geschichte, Kultur und Natur zu bewahren" (Abs. 3 ebd.). Jeder wird überdies verpflichtet, "die Natur und Umwelt zu bewahren" (Art. 58). Der Staat kommt von der Kompetenzseite ins Spiel, insofern nach Art. 72 Ziff. 1 lit. e Umweltschutz, Schutz der Geschichts- und Kulturdenkmäler Sache der Föderation sind und Art. 74 Ziff. 2 Einschränkungen des Transfers von Waren und Dienstleistungen vorsieht, wenn dies für die Umwelt und die "kulturellen Werte" notwendig ist. Das ist eine neue Textform für das Verbot des "kulturellen Ausverkaufs". Von den zahlreichen Verfassungsentwürfen Osteuropas verdient der der Ukraine vom Juni 1992 Beachtung 1431 . Im Abschnitt über Grundpflichten findet sich die Pflicht von jedermann, "to prevent damage to nature, to natural resources, and to the historical and cultural heritage, and historical and cultural monuments of Ukraine". Und damit greift der Entwurf eine auch sonst zu beobachtende Textstufe in Sachen Kultur- und Naturschutz auf. Einen neuen Weg wagt die Ukraine aber in Art. 89, insofern auf das "Erbe der Weltkultur" Bezug genommen wird, womit die Ukraine mit dem "kulturellen Universalismus" ernst macht: "The state shall create conditions for the free and thorough development of education, science, and culture, shall develop the spiritual heritage of the nation of Ukraine, as well as the heritage of world culture". Eigene Wege geht auch Art. 94, insofern er nicht nur das kulturelle Erbe der Ukraine vor der Abwanderung ins Ausland schützen möchte, sondern auch den Staat zu Maßnahmen verpflichtet, die die Rückgewinnung historischer und kultureller Güter von jenseits der Grenzen zum Ziel haben. Diese Erweiterung der staatlichen Kulturschutzpflicht mag mit der besonderen Situation nach der Auflösung der UdSSR mit ihren früheren diktatorischen Kulturgutverschiebungen zu erklären sein; sie könnte sich auch als Vorbote eines allgemeinen Rechtsgedankens im nationalen und internationalen Kulturgutrecht erweisen.
1431 In Polen sagt der Entwurf des Seym (April 1991) in Art. 44 Abs. 3 immerhin: "The state is obliged to safeguard and protect the cultural assets." Auch dies wieder im Kontext des Prinzips der Freiheit zu schöpferischer Aktivität und Forschung und des freien Zugangs aller zum kulturellen Leben einschließlich der "national monuments of culture". Der staatliche Kulturgutschutz figuriert auch sonst oft als Teil der Freiheit der Kultur, was der Sache nach richtig gedacht ist. (Zit. nach JöR 43 (1995), S. 212 ff.) Kulturgeschichtlich prägt es die Verf. Polen (1997) besonders stark (vgl. Art. 5 und 6).
1118
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft e) Eine Zwischenbilanz
Der Textstufenvergleich hat gezeigt, daß der (nationale) Kulturgutschutz ein wesentliches Element des Typus Verfassungsstaat zu werden beginnt. Freilich, die verfassungsrechtlichen Ausgestaltungen weisen eine große Vielfalt auf: vom Präambelelement über Grundrechte bzw. Grundpflichten, Verfassungsaufträge, Schutzpflichten des Staates, Staatsaufgaben bis zur bloßen Kompetenz, wobei die nicht seltene Einbettung des Kulturgutschutzes in eine allgemeine Kulturklausel im Kontext von kulturellen Freiheiten und individuellen Zugangsrechten auffällt. Auch sind die subkonstitutionellen Regelungen von Nation zu Nation sehr verschieden 1432 . Überdies ist der Begriff "Kulturgut" in Praxis und Wissenschaft höchst umstritten 1433 . Dennoch wird der hier unternommene Textstufenvergleich auch praktisch relevant: z.B. im Europa der EG/EU wegen der Auslegung von Art. 36 EG-Vertrag ("nationales Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert" 1 4 3 4 ). Der EuGH wird in auch sonst bewährtem "wertendem Rechtsvergleich" der Verfassungsregelungen der Mitgliedstaaten letztlich zu einem "autonomen" europaeinheitlichen Begriff von nationalem Kulturgut kommen müssen, der den Einzelstaaten vielleicht eine gewisse "marge d'appréciation" läßt, aber doch spezifisch europarechtlicher Natur ist 1 4 3 5 . Das hier zu suchende mittlere Sowohl· Als-auch spiegelt sich in den Kultur-Artikeln von "Maastricht": einerseits Art. F Abs. 1 ("Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten") sowie Art. 128 Abs. 1 ("Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt"), 1432 Einige Hinweise z.B. für Italien, Portugal, Spanien und Peru in: R. Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 191 ff. {Lombardi), S. 35 (38, 41, Jayme), S. 232 {Virgos Soriano), S. 123 f. (ν. Bennigsen)·, s. auch die unterschiedlichen Regelungen der Länder in Bezug auf die Zulässigkeit des Exports von Kulturgut in privater Hand, dazu R. Mußgnug, in: Rechtsfragen, aaO., S. 217 f. (Diskussion) und seine inspirierende Frage: Museums- und Archivgut als "res extra commercium"?, in: Rechtsfragen, ebd., S. 199 ff.- Zum deutschen KultSchG: B. Pieroth/B. Kampmann, Außenhandelsbeschränkungen für Kunstgegenstände, NJW 1990, S. 1385 (1386 ff); F. Fechner, aaO., DÖV 1992, S. 609 f. m.w.N.; zu Vollzugsrichtlinien der KMK: E. Jayme, aaO., S. 35 (39 f.). 1433 Dazu ergiebig das Heidelberger Symposion und besonders E. Jayme, aaO., S. 35 ff., 125 f.; W. Fiedler, ebd., S. 142. S. auch die Definition des UNIDROIT-Entwurfs von 1990, dazu G. Reichelt, in: Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 67 (72 f.). 1434 Aus der Lit.: J. Schwarze, aaO., JZ 1994, S. 111 ff.; F. Fechner, aaO., DÖV 1992, S. 609 ff. sowie die Diskussion auf dem Heidelberger Symposion, insbes. Sack, S. 131 f., W. Fiedler, S. 132. S. auch W. Eberl, Probleme und Auswirkungen der EGVorschriften zum Kulturgüterschutz, NVwZ 1994, S. 729 ff. 1435 In Richtung auf einen die Kulturkompetenz der Mitgliedstaaten betonenden Kompromiß deuten die Ausführungen von J. Schwarze, aaO., S. 113 f.: "Die Einschätzungsbefugnis der Mitgliedstaaten endet dort, wo sich die Geltendmachung kultureller Eigeninteressen als mißbräuchlich oder als übermäßig darstellt".
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
1119
andererseits die "gleichzeitige Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes" (ebd.) bzw. die subsidiär (!) zu denkende Formel: "Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung" (Abs. 2 ebd.). Diese spannungsvolle europarechtliche Textstufe des Kulturgutschutzes ist erst noch auszudeuten. Denkt man zu den hier aufgeschlüsselten verfassungsrechtlichen Kulturschutzklauseln zahlreicher Verfassungsstaaten die vielen anderen Mosaiksteine des heute weit ausdifferenzierten Kulturverfassungsrechts hinzu 1 4 3 6 , so zeigt sich, wie sehr die Kultur ein "viertes" Staatselement bildet 1 4 3 7 . Die Verfassungsstaaten definieren sich auch aus "ihrer" Kultur. Jedenfalls ist die Problematik des nationalen Kulturgüterschutzes in die Koordinaten einer kulturwissenschaftlich gearbeiteten Verfassungslehre und die des internationalen Kulturgüterschutzes auf die Ebene einer weltweiten pluralen Kultur, durch die Menschenrechte geeinten Weltgemeinschaft als "Menschheit" zu heben ("Menschheitslehre") 1438 . Dabei verschränken und stützen sich beide Ebenen in einer noch zu klärenden Weise: Menschheit und Verfassungsstaat H39.
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Dazu meine Beiträge: Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (318 ff.) sowie oben Dritter Teil. 1437 Vgl. G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (49 f.); s. auch ders., ebd. S. 45: "Es gibt... einen gemeinsamen deutschen Kultur-'besitz' im dinglichen Sinne. Hierunter verstehen wir jeglichen in der Materie verkörperlichten Niederschlag des Geistes; also reichend vom aufgeschriebenen Volkslied bis zur Symphonie, von der Hausgiebelform bis zum Münster, vom Volksmärchen bis zum Drama usw.". Die Verknüpfung mit dem Staatselement "Territorium" ist m.E. eigens zu begründen: Herstellung der Kulturgüter im Land ("Staatsgebiet"), aber auch Nationalität des Künstlers ("Staatsvolk"), Bestimmungsort, Fundort, "Sujet" ("Staatsgebiet") werden möglicherweise Kriterien allgemeiner Rezeptionsvorgänge "im Laufe der Zeit" (so wächst z.B. ein Gut in die nationale Kulturqualität hinein). Viele Aspekte sind diskutiert auf dem Heidelberger Symposion von 1990 (z.B. S. 35 ff, 125 f., 142 f.).- Zu „in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten": BVerfGE 81, 278 (293 f.). Zur „Hymne": E 81, 298 (307 ff.). 1438 Treffend M. Gorbatschow in seiner "Bayreuther Erklärung" (1993), zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 26. Juli 1993, S. 10: "Die Kultur ist weiser denn die Politik, weil sie von Natur aus jeglichem Separatismus, Isolationismus und Nationalismus entgegensteht. Für die Romane von Dostojewski und Thomas Mann, die Musik von Bach und Mussorgski gibt es keine Barrieren in bezug auf die Zeit und die politische Ordnung, in bezug auf Zollgrenzen und Marktbegierden. Sie gehören allen und jedem, der ganzen Menschheit." S. noch unten XIII. ' 1 4 3 9 Erste Überlegungen zum Natur- bzw. Kulturschutz als "Menschheitsschutz" in meiner Besprechung: AöR 116 (1991), S. 271 (277). Ein neuer Aspekt bei M. Kilian, Neue Medien ohne Grenzen? - Das Völkerrecht und der Schutz nationaler kultureller Identität zwischen Bewahrung und Weltkultur, in: A. Dittmann u.a. (Hrsg.), Der Rundfunkbegriff im Wandel der Medien, 1997, S. 69 ff.
1120
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Vielleicht sollte man die Zuordnungsfrage 1440 der nationalen Kulturgüter erklärtermaßen und systematisch auf die Lehre von den Staatselementen beziehen: die Rolle des Territoriums ("Lageort", "Ursprungsort") nimmt bezug auf das "Staatsgebiet", der Streit um den personalen Anknüpfungspunkt der Staatsangehörigkeit des Kulturschaffenden meint das "Staatselement Volk", die Frage der anzuwendenden Rechtsordnung und der kulturrechtlichen Schutzpflichten ist (auch) eine Frage der sog. Staatsgewalt, und das "neue" vierte Staatselement "Kultur" ist ein alles überformender Aspekt 1 4 4 1 . Der Hauptertrag des Textstufenvergleichs dürfte aber vorläufig darin liegen, daß er Anstöße für die "Philosophie" des Kulturgutschutzes gibt.
3. Verfassungstheoretische Überlegungen a) Eine kleine Verfassungslehre
des Kulturgüterschutzes
Die theoretische Auswertung des hier aufgeschlüsselten Textmaterials führt zu einer "kleinen Verfassungslehre" des Kulturgüterschutzes. Das vielfach behandelte Kulturverfassungsrecht 1442 sieht sich um ein wichtiges Element bereichert. Der nationale Kulturgüterschutz erweist sich im verfassungsstaatsbezogenen Textstufenvergleich als ein ebenso lebendiger - und wachsender interner - Baustein der Verfassung als Kultur, wie er dank des internationalen Kulturgüterschutzes über sich selbst hinausweist: auf die Menschheit, ihr universales Erbe, ihre zugleich transnationale und multinationale Kultur. Erst dank des nationalen Kulturgüterschutzes gelingt der internationale. Beides 1440
Die Unesco-Konvention von 1970 sieht die Nationalität des Kulturgutes vor allem durch die Nationalität seiner Schöpfer vermittelt, dazu E. Jayme, in: Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 35 (38). Ihr eigenes Textstufenelement verdient Beachtung: "cultural property created by the individual or collective genius of nationals of the State concerned, and cultural property of importance of the State concerned created within the territory of that State...". 1441 Wohl angedeutet in der These von E. Jayme , "Entartete Kunst" und Internationales Privatrecht, 1994, S. 24, im Kunstwerk seien "geistige Energien verkörpert...", die als "Ausdruck der Identität des Künstlers und der Nation, die es als das ihre rezipiert, anzusehen sind." Den Aspekt "kulturelle Selbstbestimmung" des Staates betont S. von Schorlemer, Internationaler Kulturgüterschutz, 1992, S. 42 ff. 1442 P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders., (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 ff; T. Oppermann, Ergänzung des GG um eine Kultur(Staats)klausel?, FS Bachof, 1984, S. 3 ff.; U. Steiner/D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff.; P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalistische Kulturpolitik, 1988; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 119 f. Zum ganzen: oben Dritter Teil.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
1121
greift ineinander und bedingt sich. Je differenzierter und effektiver der nationale Kulturgüterschutz ist, desto mehr Chancen bestehen, daß der internationale nicht nur "platonisch" bleibt. Umgekehrt sieht sich jeder Verfassungsstaat genötigt, wegen des internationalen Kulturgüterschutzes bzw. der daraus folgenden völkerrechtlichen Verpflichtungen seinen nationalen auszubauen, ernst zu nehmen und weiter zu entwickeln. Die neueren Verfassungstexte haben hier viel geleistet. So mag es im ganzen zu einer an die "régula aurea" erinnernden Gegenseitigkeitsordnung kommen: einer dank des Kulturgüterschutzes - und den Menschenrechten - vermittelten Weltkultur(güter)gemeinschaft, die in Zeiten fortschreitenden Ökonomismus und sich mehrender Rückfälle ins Barbarische wegen der Humanität um so wichtiger wird. Jeder Verfassungsstaat ist gut beraten, aus den bisher schon entwickelten Textgruppen zu lernen. In formaler Hinsicht kann der Kulturgüterschutz bereits in der Präambel angelegt werden, in den Grundlagenabschnitt einer Verfassung vorgezogen oder im Staatsaufgaben-, sogar Grundrechtsteil piaziert werden. Inhaltlich kann er von den Erziehungszielen her "vorgedacht" und bis zum Strafrecht und Privatrecht hin zu Ende gedacht werden. Das Bildungsziel "Achtung vor anderen Kulturen und Völkern" schafft schon einen Brückenschlag zwischen nationalem und internationalem Kulturgüterschutz, wenn auch in der "sanften" Form des "soft law" der Erziehungsziele 1443 . Der nationale Kulturgüterschutz hat sich - verglichen mit den traditionellen Schutzklauseln in bezug auf Denkmale (vgl. z.B. Art. 150 Abs. 1 und 2 WRV) - enorm verfeinert, ja "vitalisiert". Er hat sich durch die Zugangsrechte zur Kultur verlebendigt, er hat sich in manchen Verfassungen zur Grundpflicht verstärkt, er hat sich da und dort zum Erziehungsziel "verinnerlicht" und er hat sich durch generelle kulturelles Erbeklauseln verallgemeinert. Diese rechtstextlichen Entwicklungen sind kein Selbstzweck. Sie deuten auf tiefere Zusammenhänge: Der Verfassungsstaat definiert sich (auch) aus seiner nationalen Kultur (sie stiftet seine Identität 1444 ), und die Freiheit wird zu einer
1443 Dazu meine Studie: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; oben VIII Ziff. 2. 1444 Die Verfassungslehre steht freilich erst am Anfang der wissenschaftlichen Erarbeitung von Begriffen wie "nationale Identität". Dabei mögen Anregungen aus der allgemeinen Identitätsdebatte helfen, einen Weg zwischen "Identitätsbeschwörung" und "Identitätsleugnung" zu finden. Hilfestellung geben Aussagen wie: "Nation ist Ausdruck des durch Geschichte Form und Wirklichkeit Gewordenen" (M Walser) oder die Frage von J. Habermas (1974): "Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden"? Eine Provokation ist die These von R. Walther ("Was ist 'nationale Identität'", in: Die Zeit Nr. 33 vom 12. August 1994, S. 28): "Das Identischste an der nationalen Identität ist ihre Unstetigkeit und Beliebigkeit". M.E. führt nur der kulturwissenschaftliche Ansatz weiter, der i.S. des "offenen Kulturkonzeptes" (dazu meine
1122
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
solchen und "erfüllten" Freiheit erst durch Kultur. Der Mensch gewinnt "aufrechten Gang" dank der Kultur. Die Hervorbringungen der kulturellen Grundrechte wie der Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit 1445, nämlich die Kulturwerke, reifen "im Lauf der Zeit" zu dem, was nationale und internationale Texte als Kulturgut qualifizieren. Ein Durchbruch wäre es, wenn eines Tages die nationalen Verfassungen über sich hinauswüchsen und expressis verbis Textelemente des Unesco-Abkommens von 1972 rezipierten, also auch "fremde" bzw. Welt-Kulturgüter schützten (Ansätze finden sich in Guatemala und in der Ukraine). Wenn manche Erziehungsziele auf die Achtung vor anderen Kulturen und Völkern verweisen, so ist damit ein Anfang in dieser Richtung gewagt. Ein Durchbruch wäre es darum, weniger auf das Besitzrecht am Kulturgut als vielmehr auf dessen allgemeine Zugänglichmachung Wert zu legen. Das könnte den deutsch-russischen Streit um die „Beutekunst" schlichten. b) Verfassung als Kultur Der nationale Kulturgutschutz ist nur ein Ausschnitt eines viel allgemeineren Zusammenhangs: Jede verfassungsstaatliche Verfassung lebt letztlich aus der Dimension des Kulturellen. Der Kulturgutschutz, die speziellen kulturellen Freiheiten, ausdrückliche "kulturelles Erbe-Klauseln" und allgemeine Kulturstaats-Artikel bilden nur besondere Verdeutlichungen der - allgemeinen - Kulturdimension der Verfassung 1446 . Wenn der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe seinen Kulturgüterschutz besonders effektiviert, verfeinert und weiterentwickelt, so geschieht dies im Dienst seiner kulturellen Identität
Studie, Kulturpolitik in der Stadt, 1979) wagt, von seiner "plural angelegten, offenen nationalen Identität" {W. Weidenfeldt/K.-R. Körte, 1991) zu sprechen. Wegweisend J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, St. Gallen (o. J.), 1991, S. 32: "Die Identität des politischen Gemeinwesens, die auch durch Immigrationen nicht angetastet werden darf, hängt primär an den in der politischen Kultur verankerten Rechtsprinzipien und nicht an einer besonderen ethnisch-kulturellen Lebensform im ganzen". Die Herausforderung durch oder "Wahlverwandschaft" zur Leit-Idee von Art. 27 der Canadian Constitution 1981 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.) liegt nahe: "This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians". 1445 Zur "Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht" gleichnamig mein Beitrag, in: P. Lerche u.a., Kunst und Recht, 1994, S. 37 ff. 1446 Ausgearbeitet in P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Vorauflage (1982), bes. S. 19, und seitdem, z.B. in ders., Europäische Rechtskultur, 1994; ders., Altem und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, FS Lerche, 1993, S. 189 ff; ders., Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, FS G. Batliner, 1994, S. 397 ff. Vgl. oben Sechster Teil VI Ziff. 8.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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insgesamt. Zugleich gewinnt das kulturwissenschaftliche Verständnis von Verfassungen im ganzen an Überzeugungskraft: "Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren - sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives "Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen." (Vgl. oben Vierter Teil I-III.) c) Die Kontextualität von Kultur und Natur eine anthropologische Konstante in vielen Varianten Ein eigenes Wort verdienen die Natur-Schutz-Klauseln. Auch sie haben sich im Vergleich mit den traditionellen Textformen verfeinert und sie sind vor allem im Kontext des neuen Umweltverfassungsrechts zu lesen 1447 . Besonders auffällig ist aber die Kontextualität, in der der konstitutionelle Kultur- und Naturschutz fast durchweg stehen. So wie das Unesco-Übereinkommen von 1972 sich auf das "Kultur- und (!) Naturerbe der Welt" im gleichen Atemzug richtet, so führen die neueren Verfassungen beides denkbar eng zusammen. Die Parallelität der Textstufenentwicklung verblüfft. Natur wird, wenn nicht selbst ein Stück der von Menschen gestalteten Kultur 1 4 4 8 , so jedenfalls dem Verfassungsstaat gleichermaßen nahe und "wichtig". Verfassungsstaatliche Beispiele dieses inneren Sowohl-Als-auch bzw. Zugleich von Kultur und Natur 1 4 4 9 sind Texte wie "Aufgabe, die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur
1447
Z.B. Art. 141 Abs. 1 Verf. Bayern: "Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist ... der besonderen Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut. Mit Naturgütem ist schonend und sparsam umzugehen".- Art. 31 Abs. 1 Verf. Bern (1993): "Die natürliche Umwelt ist für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten". Art. 32 ebd.: "Kanton und Gemeinden treffen in Zusammenarbeit mit privaten Organisationen Maßnahmen für die Erhaltung schützenswerter Landschafts- und Ortsbilder sowie der Naturdenkmäler und Kulturgüter". 1448 Darum ist an dem Merkmal "von menschlicher Hand geschaffen" für das "Kulturgut" zur Abgrenzung vom "Naturerbe" festzuhalten. Zum Streitstand G. Reicheli l, in: Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 67 (72 f.), v. Bennigsen, ebd. S. 30 f. (Diskussion). "Kultgegenstände" der "Naturvölker" können m.E. über den Gedanken der "Widmung" bzw. "Rezeption" und insofern "Gestaltung" unter den Kulturgutbegriff gebracht werden. Kultur ist die (dem Menschen zu verdankende) „zweite" Schöpfung, nach der ersten (der Natur). 1449 Zum philosophischen Hintergrund das Blaubeurener Gespräch Natur in den Geisteswissenschaften, Bd. I, hrsg. von R. Brinkmann, 1988 (dazu meine Besprechung in AöR 116 (1991), S. 271 ff.). Vgl. noch oben Sechster Teil VI. 74 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
sowie die Landschaften zu schützen und zu pflegen" 1450 ; gelegentlich wird der Schutz von Natur und Umwelt noch eigens herausgestellt (so Art. 31 bis 33 Verf. Thüringen). Prägnant zusammengedacht sind Natur und Kultur in Art. 24 Abs. 1 Verf. Griechenland ("Der Schutz der natürlichen und der kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates"). Auch die Verfassung Spanien nimmt sich des Umwelt- und Kulturschutzes in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Artikeln an (Art. 45 und 46). Diese Kontextualität wurzelt wohl in der conditio humana, die von "Natur und Kunst" (bzw. allgemeiner Kultur) geprägt ist, die ihrerseits in einem selbst von vielen Klassikern letztlich wohl nicht erfaßbaren Zusammenhang stehen (vgl. Goethes "Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen..."). Das Unesco-Abkommen von 1972 hebt ihn nun auf den universalen Menschheitsmaßstab. Menschliches Leben gedeiht nur auf der Basis innerstaatlichen und weltweiten Kultur- und Naturschutzes. Dabei ist Kultur die "andere" oder "zweite Schöpfung".
4. Die Konstituierung der Menschheit aus nationalem und internationalem Kulturgüterschutz: Sieben Thesen Menschheitsbezüge (des Verfassungsstaates) in kulturwissenschaftlicher Sicht, die Weltgemeinschaft der Kulturstaaten, weltbürgerliche Freiheit dank Kultur, das multikulturelle Erbe der Welt, die Kultur der Menschheit, Bedingtheitsverhältnisse: a) Die Weltgemeinschaft
der Kulturstaaten
Die Abkommen zum Kulturgüterschutz, insbesondere "zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt" lassen eine auch juristisch greifbare Weltgemeinschaft der Kulturstaaten heranwachsen. Mag es in der Praxis noch viele Vollzugsdefizite geben, auch in jüngerer Zeit schmerzlich erfahrbar etwa in der Zerstörung von Dubrovnik, überhaupt im Krieg in Ex-Jugoslawien: ideell haben sich die Staaten 1954 bzw. 1972 als Kulturstaaten dargestellt und verpflichtet. Unabhängig davon, ob die Staaten sich selbst in ihren Verfassungen ausdrücklich dank allgemeiner bzw. spezieller Kulturstaatsklauseln als Kulturstaaten ausweisen, wachsen ihnen über die Unesco-Konvention von 1972 Elemente konstitutioneller Kulturstaatlichkeit zu: z.B. über die Aufgabe nach Art. 4: "Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem 1450
Art. 141 Abs. 2 Verf. Bayern; ähnlich Art. 18 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen, Art. 40 Abs. 3 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 34 Abs. 2 Verf. Saarland, Art. 30 Abs. 2, S. 1 Verf. Thüringen.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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Hoheitsgebiet befindlichen, in den Artikeln 1 und 2 bezeichneten Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen sicherzustellen", über die Verpflichtung gemäß Art. 5, "eine allgemeine Politik zu verfolgen, die darauf gerichtet ist, dem Kultur- und Naturerbe eine Funktion im öffentlichen Leben zu geben" 1451 . Dieser kulturstaatlichen Innenansicht bzw.-verpflichtung entspricht das Außenverhältnis, etwa die Festlegung auf die "Errichtung eines Systems internationaler Zusammenarbeit und Hilfe" (Art. 7) oder die Beitragspflicht der Vertragsstaaten in bezug auf den Fonds nach Art. 15 ff. Sieht man die Außen- und Innenseite der Staaten bzw. ihre Verpflichtungen in Sachen Kulturschutz zusammen und nimmt man die Unesco- Strukturen und Aktivitäten insgesamt ebenso hinzu wie den unter 2. analysierten Ausbau des nationalen Kulturgutverfassungsrechts vieler Länder, so ist es keine Übertreibung, von einer sich konstituierenden "Weltgemeinschaft der Kulturstaaten " zu sprechen. Der "andere" Gegenstand des Abkommens von 1972, der Schutz des Naturerbes der Welt, ist angesichts der Kontextualität von Natur und Kultur auf dem einen "blauen Planeten" Erde, zumal im Rahmen der "Wüste des Weltalls" (z.B. auf dem Mars), stets mitzudenken. b) Der "Weltgesellschaftsvertrag
" in Sachen Kultur und Natur
Im Rahmen des dichten Netzes der die Welt umspannenden UN-Verträge (etwa der Menschenrechtspakte) legt es das Unesco-Abkommen von 1972 besonders nahe, sich der Denkfigur des Gesellschaftsvertrages zu bedienen. Der 7>wsi-Gedanke eines John Locke, der dem Verfassungsstaat intern bis heute den Weg gewiesen hat, läßt sich für den Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt fruchtbar machen. Alle "kulturelles Erbe-Klauseln" evozieren die Treuhand-Idee. Die Vertragsstaaten sind "Treuhänder" ihrer eigenen Kultur und der Kultur "von universellem Wert". Zum Schutz des "Welterbes" muß die "internationale Staatengemeinschaft" als Gesamtheit zusammenarbeiten (vgl. Art. 6 Abs. 1). Die Völker bzw. Vertragsstaaten sind einander gleichgestellt, insofern und "weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet" (vgl. 1451 Die Verarbeitung von Prinzipien des internationalen und nationalen Kulturgüterschutzes muß bis in die Satzung von Kulturstiftungen durchschlagen; vorbildlich ist insofern der Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg "Stiftung Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg" von 1994. In ihm heißt es (zit. nach FAZ vom 24. August 1994, S. 5): "Die Stiftung hat die Aufgabe, die ihr übertragenen Kulturgüter zu bewahren, unter Berücksichtigung historischer, kunst- und gartenhistorischer und denkmalpflegerischer Belange zu pflegen, ihr Inventar zu ergänzen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und die Auswertung dieses Kulturbesitzes für die Interessen der Allgemeinheit insbesondere in Wissenschaft und Bildung zu ermöglichen."
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Präambel der Konvention von 1954). Der reale Abschluß eines Gesellschaftsvertrages in Sachen Kultur und Natur unter den Staaten bzw. Völkern (1954 bzw. 1972) ist im Blick auf die einzelnen Menschen verlängert zu "denken". Die in den Menschenrechtspakten der U N von 1966 geschützten Menschen sind gedachte Vertragspartner - auch in der Generationenperspektive (vgl. Art. 4 des Abkommens von 1972: "sowie seine Weitergabe an künftige Generationen sicherzustellen"). Es ist ja die von Menschenhand geschaffene Kultur und die den Menschen "machende" Natur, die als "Erbe" erhalten werden sollen. Der Durchgriff auf den Menschen bzw. Bürger der einen Welt liegt heute so nahe, wie J. Locke ihn zu seiner Zeit zum Vertragspartner im Interesse der Sicherung von Freiheit und Eigentum im Staat gedacht hatte und wie I. Kant in die "weltbürgerliche" Dimension ausgriff. Weltbürger kann der Mensch nicht zuletzt dank des Schutzes des Kultur- und Naturerbes der Welt werden bzw. sein. Der Kultur- und Naturgüterschutz vermittelt dem Menschen von heute seinen "status mundialis hominis" - Hand in Hand mit den Menschenrechtspakten: als "status cultural is", (neu verstanden) auch als "status naturalis" 1* 52. c) Welt- (und staatsbürgerliche
Freiheit dank Kultur
Der sich wechselseitig verstärkende internationale und nationale Kulturgüterschutz, wie gezeigt in griffigen Texten dokumentiert, "erinnert" daran, daß Freiheit und Kultur zusammengehören. Alle Freiheiten sind in einem tieferen Sinne "kulturelle Freiheiten", es gibt keine "natürlichen" Freiheiten! Gewiß, die Philosophie der Menschenrechte bedarf zur Sicherung gegen die sich immer wieder absolut setzende Staatsgewalt der Fiktion, der Mensch sei "von Natur aus" frei, "frei geboren" (vgl. Art. 1 Allg. Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948). Das ändert aber nichts an der Erkenntnis, daß sich, biographisch gesehen, Freiheit erst durch kulturelle Sozialisation entwickelt, der Mensch sich dank eines Kanons an vom Verfassungsstaat immer stärker "verinnerlichten" Erziehungszielen (wie Achtung vor der gleichen Würde des anderen und vor den Menschenrechten, Toleranz, Verantwortung für Natur und Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker) buchstäblich "bildet" 1 4 5 3 . Die national und dank des internationa1452
Die Menschenrechte sind auf eine Weise vom "europäisch-atlantisch kulturellen Erbe" zum "Welterbe" geworden; ebenso sind Anspruch und Verständnis von "Wissenschaft" europäisches Erbe und jetzt ein Stück des universalen kulturellen Erbes. 1453 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. S. noch VIII Ziff. 2. Vortrefflich angedeutet in Art. 80 Abs. 1 Verf. Venezuela von 1961: "Education shall have as is aim the full development of the personality, the training of citizens adapted to life and for the practice of democracy, the promotion of culture, and the development of a sprit human solidarity".
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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len Abkommens auch transnational geschützten Kulturgüter sind als "kulturelle Kristallisationen" Hervorbringungen der Menschen vieler Zeiten und Völker, heute durch die Trias der grundrechtlichen Freiheiten von Religionen, Wissenschaften und Künste ermöglicht. Was als "kulturelles Erbe der ganzen Menschheit" (Präambel der Konvention von 1954) geschützt wird, was die einzelnen Verfassungsstaaten heute immer intensiver und differenzierter sichern, wirkt auch als Erziehungsziel für den jungen Bürger und als ein Orientierungs- und Bildungswert für den älteren. Die innerverfassungsstaatlichen und international geschützten Kulturgüter ermöglichen dem Menschen als Staatsbürger und Weltbürger ein Stück seines "aufrechten Ganges". Der Kulturgüterschutz ist insofern Korrelat der universalen und innerstaatlichen Menschenrechtsgarantien bzw.-pakte 1454 . Diese liefen ins Leere, gäbe es nicht die Halt schaffenden Werke der Kultur, die als "Erbe" die Möglichkeit der inneren Aneignung eröffnen 1455 und damit auch neue kulturelle Schaffensprozesse in der Zukunft anregen, die ihrerseits eines Tages zum kulturellen Erbe "aller Völker der Welt" bzw. der "Menschheit" heranreifen können 1456 .
1454 Treffend W. Fiedler, Kunstraub und internationaler Kulturgüterschutz, Magazin Forschung, Universität des Saarlandes 2/1991, S. 2 (4): "Kulturwerke nicht nur Ausdruck einer bestimmten staatlich-nationalen Besonderheit i.S. von 'Identität', sondern auch weil Kulturwerke einen erheblichen menschenrechtlichen Gehalt aufweisen".Werden Kulturgüter menschenrechtlich gedeutet, so hat dies z.B. praktische Folgen für die Frage der Zugangsrechte. Manche neuere Verfassungen kennen Zugangsrechte als Jedermannrechte, andere beschränken sie auf die Staatsangehörigen. M.E. bestehen Zugangsrechte für jeden Menschen, jedenfalls bei Kulturgütern, die zum "kulturellen Erbe der ganzen Menschheit" gehören, bei EU-Bürgem zu solchen Gütern, die zum "kulturellen Erbe von europäischer Bedeutung" gehören. Zur völkerrechtlichen Problematik, (freilich sehr restriktiv): R. Dolzer, in. ders. u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, S. 149 (157 f.).- Zum deutsch-russischen Streit um die "Beutekunst": W. Fiedler, FAZ vom 4. Nov. 1994, S. 42 und vom 27. Jan. 1995, S. 38; zuletzt K. Feldmayer, Das blockierte "Beutekunst-Gesetz", FAZ vom 19. Juli 1996, S. 37; W. Fiedler, Sieg des Rechts, Zur Bücherrückgabe von Georgien, FAZ vom 31. Okt. 1996, S. 37. 1455 Treffend M. Herdegen, Der Kulturgüterschutz im Kriegsvölkerrecht, in: Dolzer u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 161 (173): "Die Individualität des einzelnen lebt auch von der sinnlich erfahrbaren Vermittlung ihrer geistesgeschichtlichen Wurzeln"; s. auch seinen Hinweis auf die "kulturgeschichtliche Komponente menschlicher Existenz". 1456 Das Textelement "Erbe" darf also nicht zu eng, d.h. allein retrospektiv verstanden werden: es entwickelt sich fort, ist offen und hat von vornherein prospektive Dimensionen ("kulturelle Zukunft-Klausel").- Anschaulich jetzt: Das Weltkulturerbe, Deutschsprachiger Raum, hrsg. von H.C. Hoffmann, 1994.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft d) Das universal geschützte kulturelle Erbe als Multi-Kultur
Auf Verfassungsstaatsebene ist heute besonders umstritten, wie "multikulturell" ein Volk sein kann, so fordernd sich der Schutz kultureller Minderheiten in vielerlei Formen (Grundrecht, Staatsziel, Erziehungsziel, Gruppenrecht) 1457 geltend macht. Begriffe wie (in der Schweiz) "Willensnation", (vor allem in Deutschland) "Kulturnation", nationale Identität (z.B. in Feiertagen wie dem 4. Juli oder 14. Juli greifbar 1458 ) werden angesichts weltweiter Migrationsbewegungen und Bürgerkriege, aber auch angesichts der wegen der globalen Kommunikationstechniken "grenzenlosen Weltgesellschaft" immer stärker in Frage gestellt. Die internationalen Kulturgüterschutzabkommen indes lehren, daß das kulturelle Erbe der Welt bzw. Menschheit multikulturell bleibt und insofern alle nationalen Überhöhungen oder Vormachtansprüche zurückzuweisen sind. Die Textelemente von 1954 ("weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet") bzw. von 1972 ("Bedeutung der Sicherung dieses einzigartigen und unersetzlichen Gutes, gleichviel welchem Volk es gehört, für alle Völker der Welt"). Was "außergewöhnlichen universellen Wert" hat, also "kulturellen Universalismus" begründet, ist national entstanden, "geworden", geprägt und wächst erst durch bestimmte Rezeptionsvorgänge in die Welt- bzw. Menschheitsebene hinein. Die Völker bzw. Vertragsstaaten als Kulturstaaten bleiben gerade in ihrer Verschiedenheit die eine Seite (territorial oder personal), als "Ursprungsland" "ihrer" Kulturgüter; konstitutionell bauen sie, wie gezeigt, auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates den Kulturgüterschutz immer stärker aus, weil dieser ihnen selbst Identität vermittelt. Die Möglichkeit nationaler Kulturgüter, zu dem von den Abkommen geschützten Gütern von "universellem Wert" zu werden, macht die "Weltkultur" ebenso offen wie pluralistisch. Und sie lehrt uns, allen Einebnungen der Kultur (etwa von manchen westlichen Zivilisationserscheinungen) aus entschlossen entgegen zu treten. Die universelle Kultur des Unesco-Abkommens lebt aus der Vielfalt. Ja, vielleicht hilft diese Erkenntnis aus den internationalen Texten sogar dabei, auf nationaler Ebene das Problem des Multikulturellen neu, d.h. tolerant zu durchdenken.
1457
Dazu nur der Streit um den Minderheitenschutz im Rahmen der GG-Reform (Art. 20 b), vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 3/1993, S. 140 ff. Historisch aufschlußreich: B. Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten, Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit, 1993. 1458 Dazu meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987 sowie VIII Ziff. 11.
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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e) Menschheitsbezüge "im" Verfassungsstaat Beide Abkommen von 1954 und 1972 nehmen textlich und sachlich zentral auf die "Menschheit" Bezug: Die Präambel von 1954 will eine "Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit" verhindern, die Präambel von 1972 möchte Teile des Kultur- oder Naturerbes, die von "außergewöhnlicher Bedeutung" sind, als "Bestandteile des Welterbes der ganzen Menschheit" erhalten wissen. Angesichts des Aufeinanderangewiesenseins von internationalem und nationalem Kulturgüterschutz liegt die Frage nahe, ob die verfassungsstaatlichen Verfassungen ihrerseits schon "intern" an die Menschheit bzw. die Welt als Bezugsgröße von Grundwerten denken. Überall da, wo die Verfassungen Grundrechte als Jedermannrechte, d.h. Menschenrechte anerkennen, denken sie die "Menschheit" jedenfalls von der individuellen Seite her mit. So wagt das GG von 1949 früh den großen Satz (Art. 1 Abs. 2): "Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Art. 7 Verf. Portugal (1976) votiert für die Zusammenarbeit mit allen Völkern "zum Fortschritt der Menschheit" und es sucht bei seinen Grundrechten die "Übereinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung" (Art. 16 Abs. 2 ) 1 4 5 9 . In manchen neueren Erziehungszielen bricht sich der Menschheitsaspekt ebenfalls Bahn (vgl. Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen von 1993: "Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen"). Diese Auswahl von konstitutionellen Menschheitsbezügen muß hier genügen. Sie zeigt, daß die nationalen Verfassunggeber auf dem Weg sind, die Menschheit bzw. die Welt ebenso zur Bezugsgröße zu machen, wie dies die beiden internationalen Kulturgüterschutz-Abkommen tun. Anders gesagt: zu einem Teil wird die "Menschheit" Verfassungsthema, wodurch sie sich ihrerseits konstituiert. Der Kulturgüterschutz auf der nationalen und internationalen Ebene umschreibt nur eine Etappe auf diesem gewiß langen Weg, der in Kants "Tractat zum ewigen Frieden" (1795) seinen bis heute Bahn brechenden Klassikertext gefunden hat 1 4 6 0 .
1459
Vgl. auch Präambel und Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien (1978). Gewiß hat der deutsche Idealismus seinen ideengeschichtlichen Beitrag zur Konzeption von "Menschheit" geleistet, etwa dank J.G. Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784 bis 1791), dank I. Kant ("Das Weltbürgerrecht", "Bürger eines allgemeinen Menschenstaats" als "notwendige Ergänzung des Staats- und Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte") und dank F. Schiller (vgl. dessen Abhandlung: "Etwas über die erste Menschengesellschaft", 1789, und die Brieffolgen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen", 1795). Näheres in meinem Beitrag: 1460
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft f) Die Konstituierung der Menschheit aus dem internationalen Kulturgüterschutz
Die UN-Charta von 1945 bzw. das Ziel der Sicherung des "Weltfriedens" und der Förderung der "internationalen Zusammenarbeit" (z.B. auf den "Gebieten der Kultur und der Erziehung") stellen sich der Form und Sache nach in den Dienst der Menschheit bzw. der Welt. Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der UN von 1948 bildet ein zweites Dokument zur Konstituierung der Menschheit als solcher (vgl. die Präambelelemente: "Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde", Mißachtung der Menschenrechte als Verletzung des "Gewissens der Menschheit" sowie das Ausbildungsziel Achtung der Menschenrechte in Art. 26 Ziff. 2), und in ihrer Nachfolge stehen die beiden Menschenrechtspakte der UN von 1966. Als dritter großer Schritt ist zusammen mit der Unesco-Satzung von 1945 1461 der "Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt" anzusehen1462. Denn die schon erwähnten Menschheitsbezüge in den beiden Texten von 1954 und 1972 sehen die Menschheit 1463 aus der Perspektive des Kulturgüterschutzes, ja sie schaffen sie geradezu aus diesem Blickwinkel. Sie konzipieren die ganze Welt bzw. die Menschheit als Kulturgemeinschaft und sie bereichern den universalen Grundwertekanon um die "Vertikale" der Kultur. Durch die Erkenntnis, daß die je nationale Kultur eine universale Dimension haben kann, konstituieren sie die Menschheit durch eben diese Kultur. Neben den Weltfrieden und die universalen Menschenrechte tritt der Kulturgüterschutz mit seinen zwei Ebenen. Er "macht" aus vielen einzelnen Menschen die "Menschheit", nicht als abDas "Weltbild des Verfassungsstaates", in: FS Kriele, 1997, S. 1277 ff. sowie unten XIII. 1461 Vgl. Art. I Ziff. 2 lit. c: "Erhaltung und Schutz des Erbes der Welt an Büchern, Kunstwerken und Denkmälern der Geschichte und Wissenschaft...". 1462 Aus diesen Kontexten wohl ist das dem maltesischen Botschafter Arvid Pardo 1967 geglückte Wort vom "Gemeinsamen Erbe der Menschheit" anzusiedeln. Dazu T. Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, in: G. Nicolaysen/H. Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposion fur Hans Peter Ipsen, 1988, S. 87 ff. 1463 Der Weltraumvertrag von 1967 nennt mehrfach die "Menschheit" als Bezugsgröße: in der Präambel ("großartige Aussichten, die der Vorstoß des Menschen in den Weltraum der Menschheit eröffnet", "gemeinsames Interesse der gesamten Menschheit an der fortschreitenden Erforschung und Nutzung des Weltraumes"), in Art. I Abs. 1 und in Art. V ("Raumfahrer als Boten der Menschheit im Weltraum"). Aus der Lit. zum "Gemeinsamen Erbe der Menschheit im geltenden Völkerrecht": R. Dolzer, in: R. Dolzer/E. Jayme/R. Mußgnug (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 13 (17 ff.); T. Fitschen, in: Fiedler (Hrsg.), aaO., S. 183 (206 ff.).- Eine frühe Bezugnahme auf das "Gemeinsame Erbe der Menschheit" findet sich im Seerecht (vgl. W. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972, S. 247 ff., 358), eine spätere im Mondvertrag von 1979 (dazu R. Dolzer, in: ders. u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen, aaO., S. 13 (19)).
XII. Nationaler und universaler Kulturgüterschutz
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stractum, sondern als lebendige, erfahrbare, eben in der Kultur sich spiegelnde und aufrichtende Größe. Es entsteht eine weltbürgerliche Allgemeinheit aus Kultur, die eigentliche "Internationale der Menschheit" dieses einen "blauen Planeten" 1464 . g) Das Bedingtheitsverhältnis von internationalem und nationalem Kulturgüterschutz Die letzte These bringt das schon bislang mitgedachte Bedingtheitsverhältnis beider Ebenen des Kulturgüterschutzes zur Sprache. Die Textanalysen haben gezeigt, wie sich die Normgruppen "entgegenwachsen", welche Textschübe das nationale Verfassungsrecht in Sachen Kulturgüterschutz von Seiten der internationalen Abkommen erfahren hat (vgl. die Verpflichtung nach Art. 4 und 5 des Abkommens von 1972). Umgekehrt sind auch Tendenzen der Internationalisierung im nationalen Verfassungsrecht allenthalben erkennbar (etwa bei den Menschenrechten und Erziehungszielen, bei der internationalen Zusammenarbeit). Das Abkommen von 1972 stellt den Vertragsstaaten als Kulturstaaten bestimmte Aufgaben (z.B. in Art. 5), nachdem es in Art. 4 den Kulturgüterschutz in erster Linie als deren "eigene Aufgabe" definiert. Gerade darin zeigt sich, wie intensiv beide Ebenen ineinander greifen, technisch-praktisch wie theoretisch. Die einzelnen "Kulturnationen" und der "kulturelle Universalismus" gehören zusammen. Je phantasievoller die Verfassungsstaaten ihren nationalen Kulturgüterschutz ausgestalten und ihre verfeinerten Texte in die Wirklichkeit umsetzen, um so effektiver wird der internationale Kulturgüterschutz. Die sich hier abzeichnende Gegenseitigkeitsordnung 1465 erweitert den kategorischen Imperativ Kants in den Weltmaßstab des Heute und der "Nachwelt" späterer Generationen, wie dies H. Jonas für die Bewahrung der Natur vorgedacht hat ("Handle so, daß die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben"). Die Umrisse eines "Weltkulturvertrags" werden sichtbar. Die verfaßte Menschheit lebt aus und von nationaler ins Universale gedachter Kultur. Verfassungspolitisch ist das hier skizzierte Bedingtheitsverhältnis beider Ebenen erst dann zu Ende geführt, wenn der nationale
1464 "Weltbürgertum" aus Kunst und Kultur wäre ein im Geiste Goethes zu entwerfendes Programm. Perspektiven dazu bei E.H. G ombrie h, dem Goethe-Preisträger 1994, und seiner Rede "Goethe und die Geister aus dem Kunstgrunde der Vergangenheit" (FAZ vom 29. August 1994, S. 29). In solcher Sicht fühlt sich der Bürger dank des kulturellen Welt-Erbes überall "zu Hause"! 1465 Zur Verfassung des Verfassungsstaates als "rechtlich vermittelter Gegenseitigkeitsordnung": G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 48 ff.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Kulturgüterschutz auch die internationale Dimension zur Sprache bringt (z.B. begonnen in den Erziehungszielen sowie in Guatemala und der Ukraine). Der Ausbau einer "neuen Nähe" zwischen den Nationen dank des internationalen und nationalen Kulturgüterschutzes und die Konstituierung der Menschheit aus Kultur, flankiert von der Menschenrechtsidee, ist bei allen Fortschritten freilich eine wohl "ewige" Aufgabe 1466 . Daß der Typus "Verfassungsstaat" um sie ringt, adelt ihn. Daß das internationale Recht hier Zeichen gesetzt hat, gibt Hoffnung, auch wenn seit 1989 bzw. der "Weltstunde des Verfassungsstaates" mancher Optimismus schmerzhaft gedämpft wurde. Gleichwohl jetzt der Schritt zum „Weltbild" des Verfassungsstaates und zum Völkerrecht als Menschheitsrecht:
XIII. Das "WeltbildVf des Verfassungsstaates eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und "letztem" Geltungsgrund des Völkerrechts 1. Einleitung, Problem Das Thema könnte anmaßend erscheinen, ist dies aber für eine Verfassungslehre 1467 heute nicht mehr. Denn bei näherem Blick auf die aktuelle Problemlage muß sich diese der Frage stellen, welches "Bild" und Verständnis von der "Welt" sie hat und haben soll. Weltbezüge und Weltdimensionen drängen sich dem Verfassungsstaat 1997 in vielerlei Hinsicht auf: Erinnert sei an die unsere Epoche kennzeichnende "Globalisierung", an die Konstituierung eines "Weltmarktes", der "offenen Weltwirtschaft", des Welthandels, an die Herausbildung einer Weltöffentlichkeit, die z.B. humanitäre Interventionen im Dienst der Menschenrechte fordert 1468 , oder gar einer "Weltherrschaft" der
1466 Die Weltöffentlichkeit sensibilisiert sich zunehmend in Sachen "kulturelles Erbe der ganzen Menschheit". So erregte der Terroranschlag auf die Kirche San Georgio in Velabro in Rom 1993 die gebildete Welt nicht nur Europas; ähnliches gilt für Attentate auf Gemälde in Museen (Florenz) oder den Raub von Bildern (Frankfurt/M.). 1467 Dazu M Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, 4. Aufl., 1990; zur 1. Aufl. mein Besprechungsaufsatz: Staatslehre als Verfassungsgeschichte, AöR 102 (1977), S. 284 ff; allgemein: G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992. 1468 Dazu J. Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte, JZ 1995, S. 421 ff.; A. Randelzhofer, Neue Weltordnung durch Intervention?, FS Lerche, 1993, S. 51 ff.- D. Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention, in: Der Staat, 35 (1996), S. 31 ff.; F.R. Tesón, Humanitarian Intervention: An Inquiry into Law and Morality, 2. Aufl.
XIII. Das "Weltbild" des Verfassungsstaates
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Kommunikationstechniken. Viel diskutiert ist der "Universalismus" der Menschenrechte 1469, besonders in der Konfrontation mit dem islamischen Fundamentalismus. Das Wort von der "Weltstunde des Verfassungsstaates" im annus mirabilis 1989 will dessen Erfolgsgeschichte (Menschenrechte, Demokratie, soziale Marktwirtschaft) im globalen Rahmen andeuten. Die Entstehung von Weltraumrecht und universalem Umweltvölkerrecht liefert - neben dem Recht auf Teilhabe am "gemeinsamen Erbe der Menschheit" - ebenfalls Stichworte, die belegen, daß die Verfassungslehre sich an das Thema "Weltbild" und "Menschheit" wagen darf. Freilich sind gegenläufige Entwicklungen im Auge zu behalten. Die derzeit einzige "Weltmacht" USA hat im Golfkrieg (1991) eine "neue Weltordnung" (G. Bush) erhofft, was verfrüht war 1 4 7 0 . Und der "Globalisierung" vieler Lebensbereiche (z.B. der "Informationsgesellschaft": "Weltdorf'), steht die Tendenz zum Kleineren, die Provinzialisierung, Regionalisierung und Fragmentierung gegenüber. Die - als juristische Text- und Kulturwissenschaft verstandene - Verfassungslehre kann sich auf eine "Bilderphilosophie" einlassen. Denn die Staatsrechtslehre arbeitet seit längerem (im Gefolge der Menschenbildjudikatur des BVerfG) mit der Kategorie des "Menschenbildes" 1471 und sie ist ein Aspekt in einer Trias: zusammen mit dem "Staatsbild" und dem "Weltbild". Mensch, Verfassungsstaat und Welt bezeichnen Zusammengehörendes, auch und gerade für den Juristen. Er hat freilich allen Grund, bei diesem Thema sich weit zu den anderen Disziplinen hin zu öffnen. Denn sie konstituieren "die Welt" - jedenfalls in der (Re)konstruktion durch den Menschen - mit, man denke an H. Küngs völkerverbindendes "Weltethos", das Projekt und kulturelles Erbe zugleich sein will.. Die Lehre vom Verfassungsstaat dürfte heute besonderen Grund haben, nach dessen Kompetenzen und Aufgaben im Blick auf die Welt zu fragen (nicht nur weil die meisten Staaten Verfassungsstaaten sind bzw. sein wollen). Denn er nimmt allenthalben Verpflichtungen wahr, die sich auf die 1997; H. Gading, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates - das Ende staatlicher Souveränität, 1996. 1469 Vgl. etwa J. Habermas, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, in: Die Zeit Nr. 50 vom 8. Dez. 1995, S. 59 f.; E. Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994. 1470 Vgl. P. Kondylis, Ausschau nach einer planetarischen Politik, Spiegel, nicht Hebel: Die Vereinten Nationen sind noch keine Vorstufe zum Weltstaat, in: FAZ Bilder und Zeiten vom 21. Okt. 1995. 1471 Dazu meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988 (ebd. S. 12 ff. erstmals zur Frage des "Weltbildes"); s. auch W. Brugger, Das Menschenbild der Menschenrechte, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 3 (1995), S. 121 ff; jetzt J.M. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995.- Femer E. Meinberg, Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft, 1988.- Aus der Judikatur des BVerfG prägnant: E 83, 130 (143). Mit dem Begriff „Bild" arbeitet das BVerfG in E 76, 1 (43) für Ehe und Familie. Ebd. S .45: „Leitbild".
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Welt beziehen und er trägt das sich weiter entwickelnde Völkerrecht in besonderer Weise, universal im Rahmen der U N sowie via Entwicklungshilfe, z.B. für Afrika, regional auch in Gestalt von Ansprüchen und Interventionen, etwa der EU auf dem Balkan 1 4 7 2 . Es sind gewiß andere Wissenschaften und die Künste, die längst vor der Verfassungslehre die "Welt" oder menschlich genommen die "Menschheit" zu ihrem Gegenstand gewählt haben. So gibt es J. G. Herders großes Werk "Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menscheit" (1785), I. Kants "weltbürgerliche Absicht" (1775/1795); so kennen wir J. Burckhardts "weltgeschichtliche Betrachtungen" aus dem Nachlaß (1905) 1 4 7 3 . Zuvor sprach G.W.F. Hegel von "Weltgeist" und "Weltgericht" (1821). Die Geschichtswissenschaft hat sich immer wieder an eine "Weltgeschichte" gewagt. Ein A. Heuß wollte nur diejenigen Hochkulturen behandeln, die eine deutliche "Welthaftigkeit" besaßen, also über längere Zeit prägenden Einfluß auf die Welt ausübten. Solche "Welthaftigkeit" konnte man der chinesischen, der indischen, der arabisch-muslemischen und vor allem der europäischen Hochkultur zuschreiben. Sie ist es auch, die heute im Völker- und Verfassungsrecht, z.B. in Sachen Menschenrechte, Demokratie und soziale Marktwirtschaft unter wachsendem Widerstand der islamischen "Welt" die Menschheit prägt. So mag man mit Hans Freyer die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine "Weltgeschichte Europas" schreiben 1 4 7 4 , doch ist es kein Zynismus, wenn man feststellt, daß die ersten als solche bezeichneten "Weltkriege" von eben diesem Europa ausgingen. Gewiß wird man in den (bildenden) Künsten bei der Suche nach ihrem "Weltbild" z.B. im Mittelalter und nach 1492 besonders fündig. Und J. W. v. Goethe hat seinen Beitrag vorweg geleistet in dem Vers: "Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände". Wie konstituiert sich aus der Perspektive der vergleichenden Verfassungslehre diese eine Welt? - die "Weltgesellschaft" (N. Luhmann)? Übernimmt sie sich angesichts der Vielfalt der Kulturen und des "Zusammenstoßes der Zivilisationen"? Oder hat sie sich eben deshalb wegen ihres hoch entwickelten Verfassungsrechts der Toleranz und dank des Völkerrechts der Koexistenz und
1472 Vgl. FAZ vom 23. Nov. 1995, S. 5: "Die Welt zahlt für Bosnien, Aktionsprogramm der Weltbank". S. auch H. Rogge mann, Strafverfolgung von Balkankriegsverbrechen aufgrund des Weltrechtsprinzips - ein Ausweg?, NJW 1994, S. 1436 ff. 1473 Vgl. J. Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, 1860, 4. Abschnitt: "Die Entdeckung der Welt und des Menschen". 1474 1954, 3. Aufl., 1969; A. Heuß, Zur Theorie der Weltgeschichte, 1968. Aus der neuesten Lit.: E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 1995.
XIII. Das "Weltbild" des Verfassungsstaates
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Kooperation mit Elementen des - ihres - Weltbildes zu beschäftigen? Hier gebührt dem Projekt von J. Habermas ein Platz 1475 : "Allein eine demokratische Staatsbürgerschaft, die sich nicht partikularistisch abschließt, kann im übrigen den Weg bereiten für einen Weltbürgerstatus, der heute schon in weltweiten Kommunikationen Gestalt annimmt". Und: "Der weltbürgerliche Zustand ist kein bloßes Phantom mehr, auch wenn wir noch weit von ihm entfernt sind. Staatsbürgerschaft und Weltbürgerschaft bilden ein Kontinuum, das sich immerhin schon in Umrissen abzeichnet" 1476 . In der deutschen Sprache kommt die "Welt" auch in jenem Begriff bzw. Wort zum Ausdruck, das sich als "Umweltrecht", einschließlich des "Umweltvölkerrechts" 1477 rasant entwickelt. Mag Streit um das anthropozentrische oder physiozentrische "Weltbild" herrschen: die Umwelt 1 4 7 8 ist ein Stück "Welt" und sie macht in der Summe die Welt insgesamt aus. Gerade der Ordnungs-, Schutz- und Gestaltungsauftrag im Blick auf die Umwelt fordert es, die Frage nach dem "Weltbild" des Verfassungsstaates zu stellen.
2. Elemente einer Bestandsaufnahme a) Erläuterung des Textstufenparadigmas Die Erarbeitung des "Weltbildes" des Verfassungsstaates bzw. seiner Menschheitsbezüge sei im ersten Zugriff mit Hilfe der Textstufenanalyse unternommen 1479 . Die Aussagekraft von Verfassungstexten, auch Verfassungs-
1475 J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 659 f. Ebd. S. 138 ff.: "unterstellte Republik von Weltbürgern". Ders., Staatsbürgerschaft und nationale Identität, St. Gallen, 1992. 1476 S. auch meine Abhandlung: Das Konzept der Grundrechte, Rechtstheorie 24 (1993), S. 398 (408 ff.) und den Vorschlag eines "status mundialis hominis". Dazu VIII Ziff. 1 d. 1477 Zum internationalen Umweltschutz: A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S. 643 ff.; O. Kimminich, Umweltvölkerrecht, HdUR II. Band 1994, Sp. 2510 ff. Auf der Stockholmer Umweltkonferenz (1972) wurde der Schutz der Umwelt zum Anliegen der Völker der ganzen Welt erklärt (dazu R. Schmidt, Einführung in das Umweltrecht, 4. Aufl., 1995, S. 193 f.). 1478 Vgl. M. Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat, 1989; R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995; W. Berg, Über den Umweltstaat, FS Stem, 1997, S. 421 ff.- Von „ökologischer Vorsorge" spricht BVerfGE 79, 127 (148). 1479 Dazu meine Vorarbeiten in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. u.ö. Vgl. Fünfter Teil VII Ziff. 1.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
entwürfen 1480 , ist groß, weil sich in ihnen in besonderer (auch begrifflicher) "Anstrengung" Ideen der Zeit verdichten. Die grundsätzliche Kürze und sprachliche Prägnanz, die erhoffte Suggestivkraft sowie die hohe "Konzentration" von Verfassungstexten vermitteln diesen viel Aussagekraft im oft diffusen "Strom" der nur im Verbund vieler Einzelwissenschaften greifbaren kulturgeschichtlichen Entwicklung. Angesichts der heute nachweisbaren weltweiten Produktions- und Rezeptionsvorgänge in Sachen Verfassungsstaat muß global verglichen werden. Dank der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive bleibt es nicht bei einem bloß "semantischen" Vergleich der angeblich nur eine "Oberfläche" darstellenden Verfassungstexte. Denn jüngere Verfassunggeber bringen - in der Zeitachse verglichen - auch mittelbar Verfassungswirklichkeit des älteren Verfassungsstaates auf Texte und Begriffe: Sie rezipieren z.B. die Quintessenz der Leitentscheidungen fremder Verfassungsgerichte oder wissenschaftliche Lehrmeinungen, auch schlichte Verfassungspraxis. Da die älteren Verfassungstexte aber im Zusammenspiel der vier, nicht selten auch schon (dank der Rechtsvergleichung) "fünf' Auslegungsmethoden interpretiert worden sind und das in den Verfassungstexten mitgedachte Interpretationsergebnis ein Stück Wirklichkeit ist bzw. geworden ist, kommen über das Textstufenparadigma neben der Wortlautauslegung eben die anderen Interpretationsmethoden ebenfalls zu Wort! Darum verbietet es sich, die vergleichende Textstufenanalyse als "semantisch" oder "verbal" zu bezeichnen. Grundrechte und Staatsziele, auch Demokratie- und Parteien-Artikel sind hierfür besonders ergiebige Sachthemen. Diese Methode erlaubt, von "Textstufen" und der in ihnen eingefangenen Entwicklungsvorgängen zu sprechen. Damit werden "Vollzugsdefizite", Fälle des Zurückbleibens der Verfassungswirklichkeit gegenüber dem
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Auch in Parteiprogrammen (oft Vorstufe von Verfassungstexten) kann man "fündig" werden. So heißt es im Grundsatzprogramm der CSU von 1946 (zit. nach R. Kunz/H. Maier/T. Stammen (Hrsg.), Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1975, S. 203): "Die Völker sind organische Teile der Menschheit". Im Grundsatzprogramm 1957 der CSU steht der Satz (ebd. S. 208): "Die Menschheit sehnt sich nach Frieden, Freiheit und Sicherheit".- In den Richtlinien der FDP von 1946 (zit. aaO., S. 233) ist von der Persönlichkeit als "höchstem Glück der Erdenkinder" die Rede.- Das Bundesprogramm der Grünen von 1980 (zit. nach H. Heppel u.a. (Hrsg.), 1983, S. 161) sagt zur Weltpolitik: "Das Weiterleben auf unserem Planeten Erde wird nicht gesichert werden können, wenn es zu keiner Überlebensgemeinschaft aller Menschen und Völker kommt".- Grundsatzprogramm der SPD (1989) mit Stichworten wie: "Wir arbeiten für eine Welt, in der ... die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas durch eine gerechte Weltwirtschaftsordnung faire Chancen... haben. Wir wollen eine Weltgesellschaft, die durch eine neue Form des Wirtschaftens das Leben von Mensch und Natur auf unserem Planeten dauerhaft bewahrt".- "Die Welt, in der wir leben".- "Die Weltgesellschaft muß sich eine Ordnung geben, durch die der Weltfrieden gesichert... und unsere natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft geschützt werden." - "Gerechte und leistungsfähige Weltwirtschaftsordnung".
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Anspruch der Texte nicht geleugnet (besonders aktuell bei Entwicklungsländern wie Peru und Guatemala, auch Uganda, Äthiopien oder Mali), wohl aber wird eine vergleichende Verfassunglehre in "weltbürgerlicher Absicht" erkennbar, die dann ihrerseits die Formulierung von neuen Verfassungstexten anleiten kann. Konkret: Peru und Guatemala etc. liefern reiche Materialien für die Verfassungslehre. Ob sie hinter deren Standards tatsächlich zurückbleiben, ist eine andere Frage. Die Sensibilität für kulturelle Kontexte ist stets mitzudenken. b) Die sechs Normbilder mit Weltbezügen als Grundwerte des Verfassungsstaates (1) Die universal versprochene Menschenwürde 1481 und die Menschenrechte Dieses Textbild findet sich am schönsten in Art. 1 Abs. 2 GG: Bekenntnis zu "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder(!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" (rezipiert z.B. von Art. 4 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt, 1992) 1482 , wobei dieser Friedensgedanke in Art. 24 Abs. 2 fortwirkt (Beschränkung von Hoheitsrechten, die eine „friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern"). Schon die Präambel des GG stimmt darauf ein in dem Passus: "als Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen". Sie wurde in der Präambel Verf. Brandenburg (1992) rezipiert und fortentwickelt zu dem Passus "Glied... in einem sich einigenden Europa und in der einen Welt" - womit der Menschheitsaspekt angedeutet ist. Auch Art. 7 Abs. 1 S. 2 Verf. Brandenburg leistet einen eigenen Beitrag zur Textstufenentwicklung dieses Gedankens, wenn er vom Menschenwürde-Schutz als "Grundlage jeder solidarischen Gemeinschaft" spricht. In der Präambel Verf. Sachsen-Anhalt (1992) versteht sich dieses Bundesland auch als "lebendiges Glied... der Gemeinschaft aller Völker" 1 4 8 3 . Im euphori-
1481 Vgl. H. Hofmann,, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), S. 353 ff- Schon der Präambel-Passus des GG: "Verantwortung vor Gott und den Menschen" weist über den deutschen Bürger hinaus auf die Menschheit; ebenso jede nationale Garantie der Menschenrechte. 1482 S. auch Präambel EMRK (1950): Bekräftigung des "tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden...". 1483 Vgl. noch Verfassung Namibia (1990), zit. nach JöR 40 (1991), S. 691, Präambel: "... desire to promote amongst all of us the dignity of the individual and the unity and integrity of the Namibian nation among and in association with the nations of the world." - Präambel Verf. Paraguay (1992): "... and joining the international communi-
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sehen Aufbruch der frühen Verfassungsentwürfe in Ostdeutschland nach 1989 darf man besonders kühne Textschübe auf diesem Feld vermuten. So heißt es in der Präambel des Verfassungsentwurfs von Mecklenburg-Vorpommern vom Juli 1990 : "Entschlossen... einen Frieden zu wahren, der Gerechtigkeit und Menschenrechte für alle Völker und jeden einzelnen einschließt". Eine neue Textstufe der Weltbezüge als verfassungsstaatlichem Grundwert erobert sich ein Passus der Präambel (alte) Verf. Peru (1979) 1 4 8 5 mit den Worten: "Im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person und daran, daß alle Menschen die gleiche Würde und Rechte universeller Gültigkeit besitzen, die vor dem Staat bestanden und diesem übergeordnet sind". Die Präambel Verf. Tschechien (1992) wagt einen Weltbezug in den das Selbstverständnis umreißenden Worten: "Bestandteil der Familie der Demokratien Europas und der Welt aufzubauen, zu schützen und weiter zu entwickeln." Selbstverständnis und Weltverständnis rücken zusammen. Ein Stück Universalität steckt in den Verfassungsnormen, die "allgemeine Rechtsgrundsätze" in ihr nationales Rechtsquellensystem integrieren. Ein neueres Beispiel liefert Art. 3 Abs. 1 S. 2 Verf. Estland (1992): "Universally recognized principles and norms of international law shall be an inseparable part of the Estonian legal system" 1486 . Die Präambel Verf. Rußland (1993) lautet: 1487 "We, the multinational people of the Russian Federation... aware that they are part of the world community...". (Entsprechend VE Ukraine vom Nov. 1995; VE Belarus (1994) "...values common to all mankind".) Im übrigen geht (historisch gesehen) vielen innerverfassungsstaatlichen Menschheitsaspekten das universale und regionale Völkerrecht - noch - voraus: so, wenn etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der U N (1948) vom "Gewissen der Menschheit" spricht (Präambel) oder die Satzung des Eu-
ty".- S. auch Art. 13 Abs. 2 Verf. Äthiopien (1994): "The fundamental rights and liberties... shall be interpreted in conformity with the Universal Declaration of Human Rights, international human rights covenants, humanitarian conventions ...". 1484 Zit. nach JöR 39 (1990), S. 399. 1485 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641.- S. auch Art. 7 Verf. Georgien (1995): "Georgia recognizes and protects universally recognized human rights and freedoms as inalienable and supreme human values". 1486 Zit. nach JöR 43 (1995), S. 306; s. auch Art. 153 Abs. 2 S. 1 Verf. Slowenien (1991), zit. nach JöR 42 (1994), S. 106: "Gesetze müssen mit den allgemein geltenden Grundsätzen des Völkerrechts... übereinstimmen" - Art. 8 Abs. 1 Verf. Portugal (1976): "Die Normen und Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts sind uneingeschränkt Bestandteil des portugiesischen Rechts".- Art. 3 Abs. 2 Verf. Georgien (1995): "Georgia recognizes and observes generally recognized norms and principles of international law". 1487 Zit. nach VRÜ 27 (1994), S. 84.
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roparates (1949) von "Grundlagen der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation". Ein kräftiger Ideen- bzw. Textschub ist in dem Abkommen zum Schutz des Natur- und Kulturerbes der Menschheit zu sehen (1972) sowie zuvor im "Weltraumvertrag" (1967) mit Stichworten wie "gemeinsames Interesse der gesamten Menschheit an der fortschreitenden Erforschung und Nutzung des Weltraums zu friedlichen Zwecken" 1 4 8 8 (Präambel), ebd.: "Aussichten, die der Vorstoß des Menschen in den Weltraum der Menschheit eröffnet". Hatte schon die Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) in der Präambel gesagt: "In der Überzeugung, daß jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volk es gehört, eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit bedeutet, weil jedes Volk einen Beitrag zur Kultur der Welt leistet..." 1489 , so findet das Unesco-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972) ebenfalls in der Präambel zu den Worten: "In der Erwägung, daß Teile des Kultur- oder Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil der ganzen Menschheit erhalten werden müssen...". Dieser "Textfunke" ist auf die nationale Ebene übergesprungen, wenn der Verfassungsentwurf der Ukraine (1992) - wie zuvor ein solcher für Brandenburg (1990) 1 4 9 0 - in Art. 89 normiert: "The state shall create conditions for the free and thorough developement of the education, science, and culture, shall develop the spiritual heritage of the nation of Ukraine, as well as the heritage of world culture".
1488 Bezugssubjekt ist die "Menschheit" auch im Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (1985), z.B. Art. 1 Ziff. 2. Zu weiteren "universellen" (zwingenden) Normen des Umweltrechts: S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 316 ff; s. auch ders., Wandel und Kontinuitäten des Völkerrechts und seiner Theorie, ARSP-Beiheft 1997, S. 178 ff. Vgl. oben XII.- Präambel Verf. Burkina Faso (1997): Verantwortung gegenüber der "Menschheit". 1489 Zum ganzen mein Beitrag National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz, in: Das GG zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1996, S. 663 ff. Der kühne Text ist im neuesten Verfassungsentwurf der Ukraine (Nov. 1995) leider modifiziert, Art. 49 Abs. 1: "... the right to utilitize the achievements of the national and international science and culture available from cultural funds". Abs. 2 ebd.: "Historical and cultural heritage is protected by law". Abs. 3: "The State shall take measures to return to Ukraine the historical and cultural treasures of the nation which are located beyond its borders." Immerhin kann der Text von 1992, einmal in der Welt, als solcher langfristig wirken und jedenfalls die Verfassungslehre bereichem. Zu diesem Konzept des Verfassungsentwurfs Fünfter Teil VII Ziff. 5. 1490 Pionierhaft bleibt Art. 30 Abs. 1 S. 3 Verfassungsentwurf Brandenburg (April 1990): "Sie (sc. Land und Gemeinden) pflegen die humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur" (zit. nach JöR 39 (1990), S. 387 (390)). 7 Häberle
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Erkennbar werden die Umrisse eines "Weltgesellschaftsvertrages" in Sachen Kultur und Natur 1 4 9 1 . Die Menschheit konstituiert sich zu einem Teil aus dem universal geschützten kulturellen Erbe als Multikultur. Wir ahnen eine farbenreiche Weltgesellschaft der Kulturstaaten, nationale und internationale Kulturpolitik in weltbürgerlicher Absicht. (2) Weltfriedensklauseln Der Friedensauftrag - durch das "Traktat zum Ewigen Frieden" einst von I. Kant (1795) utopisch vorweggenommen - hat eine geglückte Formulierung in der Präambel Verf. Hamburg (1952) erfahren: "Sie (sc. Hamburg) will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern sein". In der späteren Verf. Baden-Württemberg von 1953 (Art. 12 Abs. 1) schlägt das Schiller'sche Pathos bzw. "1789" durch (Erziehung zur "Brüderlichkeit aller Menschen" und zur "Friedensliebe"). In Ostdeutschland ist es seit 1990 zu einem neuen Textschub gekommen. In Art. 12 Verf. Sachsen (1992) erscheint die "friedliche Entwicklung in der Welt" als Ziel der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Dies ist schon angedeutet in dem Ziel der Erziehung der Jugend zu Frieden (Art. 101 Verf. Sachsen). Die Friedensidee durchzieht im übrigen viele Normbereiche. Sie findet sich in der Präambel Verf. SachsenAnhalt (1992): "dem Frieden zu dienen" (s. auch Verf. Thüringen von 1993: Förderung "inneren und äußeren Friedens"), und im Grundrechtsteil (Art. 5 Abs. 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1992: "Menschenrechte als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit", ebenso Art. 3 Abs. 1 Verf. Niedersachsen von 1993, Art. 1 Abs. 2 Verf. Thüringen von 1993). Unter den ausländischen Verfassungen beruft sich Italien (1947) in seinem Integrations-Artikel 11 auf eine (souveränitätsbeschränkende) Ordnung, "welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen gewährleistet". Art. 2 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975) gelingt die schöne Wendung, Griechenland sei "bestrebt, unter Beachtung der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, den Frieden, die Gerechtigkeit und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu fördern". Art. 29 Abs. 1 1491 Dazu mein Beitrag National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz, aaO., S. 663 ff. S. jetzt den Band "Prinzipien des Kulturgüterschutzes", hrsgg. von F. Fechner/T. Oppermann u.a., 1996, mit Stichworten wie "Vom territorialen zum humanitären Kulturgüterschutz" (W. Fiedler), ebd. S. 159 ff - Eine frühe Bezugnahme auf das "kulturelle Erbe einer Nation" findet sich in dem "Wiesbadener Manifest" (1945), das dank von Persönlichkeiten wie W. Farmer verhinderte, daß deutsche Kunstwerke 1945 endgültig in die USA verbracht wurden (dazu FAZ vom 12. Februar 1996, S. 27).
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Verf. Irland (1937/1987) normiert besonders idealistisch: "Irland bekräftigt seine Ergebenheit gegenüber dem Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit und Moral". Das entschiedenste Bekenntnis zum Frieden findet sich in der Verfassung Japans von 1946. In der Präambel heißt es: "Wir, das japanische Volk, wünschen ewigen Frieden und sind uns zutiefst der hehren Ideale bewußt, die die Beziehungen unter den Menschen beherrschen". Im Kriegsverzichts-Artikel 9 Abs. 1 steht: "In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf Krieg als souveränes Recht der Nation..."1492. Schrittmacher solcher verfassungsrechtlicher Texte sind völkerrechtliche Dokumente wie die Charta der Vereinten Nationen (1945), wo in der Präambel das Ziel des "Weltfriedens" beschworen wird (vgl. auch Art. 1 Ziff. 1). FolgeTexte finden sich z.B. im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961): "Wahrung des Weltfriedens". (3) Erziehungsziele in völkerversöhnender, weltbürgerlicher, multikultureller Absicht und Toleranz Erziehungsziele sind "Herzstücke" verfassungsstaatlicher Verfassungen. Sie sagen viel über das Selbstverständnis eines politischen Gemeinwesens aus. Zielen sie auch über dieses hinaus, auf die Welt? Im deutschsprachigen Raum darf hier Art. 148 Abs. 1 WRV (1919) als Pionierartikel gelten (Erziehung "im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung"). Mit dem Erziehungsziel "Völkerversöhnung" hat die WRV vor allem in den westdeutschen Verfassungen nach 1945 Schule gemacht (vgl. Art. 131 Abs. 3 Verf Bayern von 1946). In Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen (1947) liest sich dies als Erziehung zu einer "Gemeinschaftsgesinnung", die auf "friedliche Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern" baut, und Ziff. 4 ebd. spricht von Erziehung zur "Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker" 1 4 9 3 . Erwähnung verdienen die als Ziel des Geschichtsunterrichts in Art. 56
1492 S. auch Präambel Verf. Korea (von 1980), zit. nach JöR 35 (1986), S. 604: "strive for a lasting world peace". Ähnl. Präambel Elfenbeinküste (1995). 1493 Vgl. auch Art. 30 Verf. Saarland (1947): "Nächstenliebe und Völkerversöhnung"; ähnlich Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz (1947); Art. 7 Verf. NRW (1952): "Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung"; Art. 111 Abs. 2 Verf. WürttembergHohenzollern (1947), zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Band 1948: "Die Jugend soll... zur Versöhnung und zum Ausgleich sowie
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Abs. 5 Verf. Hessen (1946) herausgestellten "großen Wohltäter der Menschheit" - wer dächte nicht an A. Schweitzer und Y. Menuhin! Eine neue Textstufe eröffnen die ostdeutschen Landesverfassungen seit 1990, so z.B. Art. 28 Verf. Brandenburg mit der Wendung: "Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker" (s. auch Art. 101 Abs. 1 Verf. Sachsen: "Erziehung zum Frieden"). Art. 27 Abs. 1 Verf. SachsenAnhalt normiert das Erziehungsziel "Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern und gegenüber künftigen Generationen", womit der Universalität im Jetzt eine Wendung in den Zeithorizont gegeben wird (wie viele Umweltschutzklauseln: vgl. z.B. Art. 35 Abs. 1 S. 1 ebd.: Schutz der "natürlichen Grundlagen jetzigen und künftigen Lebens"). Eine Bereicherung bedeutet Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern 1494 : Erziehungsziel, "Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern gegenüber künftigen Generationen zu tragen". Art. 22 Verf. Thüringen verlangt von Erziehung und Bildung, "die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und der Umwelt zu fördern"). Fast ein "Quantensprung" in Richtung auf verfassungsstaatliche Erziehungsziele in weltbürgerlicher Absicht gelingt Art. 72 Abs. 1 Verf. Guatemala (1985) 1 4 9 5 in folgenden Worten: "Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur". Es sollte nicht verwundern, daß der Kanon der Erziehungsziele sich immer mehr anreichert, denn er spiegelt nur die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Prinzipien: Diese, auf eine Weise "hard law", bedürfen des "vorbereitenden", pädagogisch wirkenden "soft law" der Erziehungsziele 1496 . Das läßt
zum achtungsvollen Verständnis für andere Völker und Staaten angehalten werden". S. schon VIII Ziff. 2. 1494 Noch plastischer sagt Art. 13 Abs. 4 Verfassungsentwurf MecklenburgVorpommern (1990), zit. nach JöR 39 (1990), S. 399 ff: "Als Mittlerin der Kultur hilft die Schule, die Heranwachsenden im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker zu erziehen." Art. 19 Verfassungsentwurf Sachsen (Gruppe der 20), März 1990, zit. nach JöR 40 (1991), S. 413 ff.: "Die Jugend ist im Geiste der Achtung vor den Mitmenschen und seinen Interessen, des Schutzes der natürlichen Umwelt, der Brüderlichkeit, der Friedensliebe... zu erziehen." 1495 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. 1496 Zu diesen Zusammenhängen P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; ders., in: A. Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik?, 1996, S. 142 ff.
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sich am hinzuwachsenden Erziehungsziel Umweltschutz (z.B. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern) ebenso wie an der Erziehung zu den Menschenrechten (z.B. Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala) erkennen. Bemerkenswert ist, daß das Erziehungsziel über den Staat hinausweist, iz.T. ins Universale der Menschheit und ihre "Vertikale". Inspirierend dürfte vom Völkerrecht her Art. 26 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) gewirkt haben ("Die Ausbildung soll... die Stärkung der Achtung der Menschenrechte zum Ziele haben") 1497 . (4) Kooperationsklauseln und -bekenntnisse, Freundschafts-Artikel Kooperationsklauseln bilden eine eigenständige Textstufe. Sie begegnen in vielen Varianten, können teils regional, teils universal konzipiert sein und jedenfalls in der Summe auf weltweite Zusammenarbeit zielen. Die Staatsrechtslehre in Deutschland hat sie theoretisch im Konzept der "offenen Staatlichkeit" (K. Vogel) oder des "kooperativen Verfassungsstaates" einzufangen versucht 1498 . Aus der Beispielsvielfalt sei herausgegriffen: Art. 2 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975) normiert das Ziel der "Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten", Art. 7 Abs. 1 Verf. Portugal (1976) postuliert den Grundsatz der "Zusammenarbeit mit allen Völkern zur Befreiung und zum Fortschritt der Menschheit", und die Präambel Verf. Spanien (1978) bekennt sich dazu, "bei der Stärkung friedlicher und von guter Zusammenarbeit gekennzeichneter Beziehungen zwischen allen Völkern der Erde mitzuwirken" 1499 . Schon prima facie ist zu vermuten, daß diese Verfassungstexte im Wirkungszusammenhang mit völkerrechtlichen Dokumenten stehen, in denen sie zuerst auftauchen, ehe sie der Verfassungsstaat "verinnerlicht" hat (auch wenn viele Verfassungsstaaten diese völkerrechtlichen Texte ihrerseits in den UN "mitgeschrieben" haben). So sei nur an die Charta der Vereinten Nationen (1945) erinnert, wo schon in Art. 1 Ziff. 2 "freundschaftliche Beziehun-
1497 Vgl. schon Präambel Satzung der Unesco (1945): "Daß mangelndes gegenseitiges Verständnis im Laufe der Geschichte der Menschheit immer wieder Argwohn und Mißtrauen zwischen den Völkern der Welt hervorgerufen hat... . Daß die weite Verbreitung der Kultur und die Erziehung des Menschengeschlechtes ...". Art. 1 ebd.: "... um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit... zu stärken...". 1498 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff. (2. Aufl. 1996) sowie Vierter Teil VII. 1499 In der Präambel Verf. Korea von 1980, zit. nach JöR 35 (1986), S. 604, findet sich das Stich wort "humanitarism and brotherly love"; doch ergibt sich aus dem Kontext, daß dies sich nur auf die nationale Ebene bezieht. Ähnlich Präambel Verf. Korea von 1987, zit. nach JöR 38 (1989), S. 587.
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gen zwischen den Nationen" beschworen werden und in Ziff. 3 das Ziel, "eine internationale Zusammenarbeit herbeizufuhren", u.a. um die "Achtung vor den Menschenrechten" zu fordern. (Von der Förderung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen ist später in der Präambel des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen die Rede (1961).) Damit bewährte sich die Völkergemeinschaft früh als "Stichwortgeber" für Entwicklungsstufen des Verfassungsstaates 1500 und seiner zugleich universalen Grundwerte. Als besonders ergiebig für die "Entwicklungsgeschichte" des vorliegenden Themas erweist sich die Schweiz. Ebenso früh wie idealistisch normiert die Kantonsverfassung Jura (1977) in einem eigenen Kooperations-Artikel 4 Abs. 2 und 3: "Elle s'efforce d'assurer une coopération étroite avec les voisins. Elle est ouverte au monde et coopère avec les peuples soucieux de solidarité." 1501 Bemerkenswert ist 1 5 0 2 , daß die Kooperationspflicht von der kleineren Ebene zur höheren aufsteigt und aus dem föderalen Kontext stammt: denn Abs. 1 ebd. bezieht zuerst die Kooperationspflicht auf die anderen Schweizer Kantone. Der Kanton Jura hat damit eine Textstufe eingeleitet, die sich in der Schweiz in jüngster Zeit anreichert. So heißt es in Art. 54 Verf. Bern (1993) unter der Überschrift "Internationale Zusammenarbeit und Hilfe": "(1) Der Kanton beteiligt sich an der Zusammenarbeit der Regionen Europas. (2) Er leistet einen Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufbau in benachteiligten Ländern und unterstützt die humanitäre Hilfe für notleidende Menschen und Völker. Er fördert dabei die Einhaltung der Menschenrechte." Hier ist dem kantonalen Verfassunggeber ein "Humanitäts-Artikel" geglückt, gewiß auch inspiriert von der Roten Kreuz- und Genfer Konventionen-
1500 Zusammenarbeitsklauseln finden sich z.B. in Art. 2 Abs. 1 Verf. Brandenburg ("Zusammenarbeit mit anderen Völkern") - sie sind eine Fortentwicklung der älteren pädagogischen Verfassungsbestimmungen zum Erziehungsziel "Völkerversöhnung". Bemerkenswert Art. 143 Verf. Paraguay (1992), der "international solidarity und cooperation" als Prinzip der internationalen Beziehungen ausweist. Ähnl. Präambel Verf. Guinea (1990). 1501 Dieser Geist hat sich auch in Art. 1 Abs. 2 Verf. Kanton Appenzell A. Rh. (1995) niedergeschlagen: "Er (sc. der Kanton) arbeitet mit den anderen Kantonen und mit dem benachbarten Ausland zusammen". Diese Idee klingt schon in der Präambel an: "Wir wollen, über Grenzen hinweg, eine freiheitliche, friedliche und gerechte Lebensordnung mitgestalten". Zum ganzen mein Beitrag zur Verfassunggebung in St. Gallen: Schweizer ZB1. 1997, S. 97 ff. 1502 Eine Variante findet sich in Art. 22 Abs. 1 Verf. Peru (1979), wonach Bildung "die nationale und lateinamerikanische Integration sowie die internationale Solidarität" fördert.
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Tradition der Schweiz 1503 . Bemerkenswert ist die Verknüpfung von Entwicklungsauftrag und Menschenrechten. Schrittmacherdienste hat hier wohl der Privatentwurf Kölz/Müller (1. Aufl. 1984) 1504 geleistet. Sein Art. 54 lautet: "(1) Der Bund leistet Entwicklungshilfe im Ausland. Diese bezweckt die Stärkung der wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte der Entwicklungsländer zur Selbstverwirklichung hin. Er richtet femer Beiträge oder andere Leistungen zur Linderung von Hunger, Krankheit und Armut aus. (2) Er leistet Hilfe zur Linderung von Kriegs- und Katastrophenfolgen. (3) Er ergreift Initiativen zur Verhütung und zur friedlichen Beilegung von internationalen Streitigkeiten." Schon in der Präambel klingt dieser "Cantus firmus" an ("mitzuwirken an der Linderung von Hunger und Armut auf der Welt und am Frieden zwischen den Völkern...") und er strahlt auch in das Umweltrecht aus Art. 34 Abs. 10 lautet: "Der Bund fördert aktiv die internationale Rechtsetzung zum Schutz von Umwelt, Natur, Gewässern und Wald" 1505 . "Spurenelemente" dieses kühnen Vorstosses in verfassungstextliches Neuland finden sich jetzt in dem "nachfuhrenden" Verfassungsentwurf des Schweizer Bundesrates von 1995 1506 . Im Zweck-Artikel figuriert das Engagement für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung, und in Art. 44 Abs. 2 heißt es immerhin noch: "er (sc. der Bund) trägt bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt sowie zur friedlichen Beilegung von Konflikten". Soweit ersichtlich, verdanken wir der Schweiz solche Beispiele für nationales humanitäres Verfassungsrecht: als Pendant zum humanitären Völkerrecht! Weltbür-
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Einschlägig wird hier der Auftrag des Roten Kreuzes und das "droit international humanitaire", dazu die Beiträge von H. Haug u.a., in: FS D. Schindler, 1989, S. 193 ff., bes. S. 244 zum Stichwort "Menschlichkeit", sowie von D. Thürer zu "Humanität und Neutralität", in: FS Haug, 1986, S. 279 ff. Zu den Grundsätzen des Roten Kreuzes wie "Menschlichkeit", "Universalität": B. Simma, Art. Rotes Kreuz, Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Band 1988/1995, Sp. 940 f. Zum "humanitären Kriegsvölkerrecht": H Haug, in: FS H. Huber, 1981, S. 577 ff. Weiterführend S. Miyazaki, Aspects of international humanitarian law as world law, Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 531 ff. 1504 Zit. nach JöR 34 (1985), S. 551 ff. Jetzt gleichlautend Art. 56 Privatentwurf Kölz/Müller, 3. Aufl., 1995.- Zur "Entwicklungshilfe als Prinzip des Völkerrechts": J. Falterbaum, Entwicklungshilfe im nationalen und internationalen Recht, 1995, S. 141 ff. 1505 Diese Artikel sind nur geringfügig modifiziert im Privatentwurf für eine neue Bundesverfassung von Kölz/Müller, 3. Aufl., 1995. 1506 Reform der Bundesverfassung: Y. Hangartner und B. Ehrenzeller (Hrsg.), 1995.
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gerliche Humanität ist zum Greifen nahe. Möglich wird ein Völkerrecht aus Kultur. Die Ergiebigkeit von einzelnen Länderverfassungstexten in Bundesstaaten hat schon Entsprechungen in der Wirklichkeit. So engagieren sich manche deutsche Länder für "Gesellschaften im Übergang" ebenso pragmatisch wie effektiv, z.B. hat Nordrhein-Westfalen mit der südafrikanischen Provinz Osttransvaal im April 1995 einen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen1507. So beraten die Staats- und Senatskanzleien der deutschen Bundesländer im Mai 1995 auf Antrag Baden-Württembergs über die Zusammenarbeit mit südafrikanischen Provinzen. Baden-Württemberg strebt laut Zeitungsmeldungen eine Partnerschaft mit Kwazulu/Natal an, Bayern möchte einen ähnlichen Vetrag mit der Provinz Westkap, Niedersachsen mit dem Ostkap. In dieses Bild gehört das Engagement deutscher Bundesländer zugunsten von Teilrepubliken in Rußland, überhaupt die Entwicklungspolitik deutscher Länder in ganz Osteuropa. Die Regionalpartnerschaften, nicht nur im "Europa der Regionen", gehören in dieses Bild. Gewiß, manches mag auf persönliche Profilierungswünsche von Ministerpräsidenten bzw. "Regionalfürsten" zurückgehen. Es sollte aber zu denken geben, daß in der Schweiz die derzeit beste neue Kantonsverfassung, nämlich Bern (1993), humanitäre und weitgreifende Verantwortung dieser Art zum Thema gemacht hat. Das "Kleine" entwickelt oft eine stärkere Sensibilität für humanitäre Themen als das Große, Mächtigere! In Osteuropa hat Ungarn früh eine Kooperationsklausel normiert, Abschnitt 6 Abs. 2 (1949/89) lautet: "Die Republik Ungarn strebt nach einer Zusammenarbeit mit allen Völkern und Ländern der Welt" 1 5 0 8 . Das deutsche GG hat zwar 1949 die weitsichtige souveränitätsbegründende Kooperationsklausel Art. 24 geschaffen ("... zwischen den Völkern der Welt"), doch erst 1992 eine Verfeinerung zustandegebracht (Abs. 1 a: Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen) 1509 . Nicht zuletzt kleinere Länder intensivieren die Textstufenentwicklung in Sachen Zusammenarbeit. So normiert Verf. Guatemala (1985) 1 5 1 0 einen Kooperations- und Solidaritäts-Artikel 150 als "Mitglied der zentralamerikanischen Staatengemeinschaft". Auffällig ist aber ein spezieller Entwicklungs(hilfe)Artikel im Blick auf (wahl)"verwandte" Staaten. Art. 151 bestimmt:
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Vgl. FAZ vom 15. August 1995, S. 2 ebd. auch zum folgenden. Zit. nach JöR 39 (1990), S. 258 ff. 1509 Dazu U. Bey er lin, Die Übertragung von Hoheitsrechten ..., ZaöRV 54 (1994), S. 587 ff. 1510 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. 1508
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"Der Staat Guatemala unterhält Beziehungen der Freundschaft, Solidarität und Zusammenarbeit mit allen Staaten, deren ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung ähnlich ist wie die von Guatemala mit dem Ziel, Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und gemeinsam für eine Politik zum Wohl der genannten Staaten zu entwickeln". Diese entwicklungspolitische Kooperations- und "Verwandtschaftsklausel" ist ein einzigartiger Textbeleg für unser Problem. Zugleich gelingt Guatemala mit diesem (Wahl) Verwandtschafts-Artikel ein schöpferischer Beitrag zum Thema. Art. 4 Verf. Brasilien (1988) 1 5 1 1 normiert als die internationalen Beziehungen leitendes Prinzip neben dem "Vorrang der Menschenrechte" u.a. die "Zusammenarbeit der Völker für den Fortschritt der Menschheit" 1512 . Die bekannten regional orientierten Kooperations-Klauseln weiten sich ins Globale sofern eine ähnliche Entwicklungsphase vorliegt 1513 . Bei diesen Themen dürften ebenfalls völkerrechtliche Dokumente auf die verfassungsstaatlichen Texte ausgestrahlt haben. So spricht schon Art. 1 Ziff. 3 der UN-Charta von 1945 vom UN-Ziel, "eine internationale Zusammenarbeit" herbeizuführen, um internationale Probleme ... zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten ... zu fördern". Und in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 heißt es, es sei wesentlich, "die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern". Wenn dabei der Gedanke der Zusammenarbeit mitunter die Gestalt eines Erziehungszieles annimmt (vgl. Art. 26 Ziff. 2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der U N von 1948: Die Ausbildung soll "Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen... fördern"), so zeigt dies nur die Vielgestaltigkeit eines und desselben Grundwertes.
1511
Zit. nach JöR 38 (1989), S. 462. In Asien öffnet sich die Verfassung Singapur (Stand 1992) in Art. 7 Kooperations-Formen unter dem Stichwort: "Participation in co-operative international schemes which are beneficial to Singapore". Art. 26 Abs. 16 Verf. Nepal (1990), zit. nach JöR 41 (1993), S. 566 ff: "... promoting cooperative and cordial relations on the basis of equality with the neighbouring and all other countries of the world in the economic, social and other spheres." 1513 Bekenntnisse zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sind oft regional gedacht, in der Summe wachsen sie aber in eine universale Dimension hinein. Erinnert sei an die grenzüberschreitenden Bürgerfreiheiten, die in den Bekenntnissen zu den Menschenrechten der EMRK (z.B. Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg) begegnen. Ein Beispiel liefert Art. 12 Verf. Sachsen: "Das Land strebt grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit an, die auf den Ausbau nachbarschaftlicher Beziehungen, auf das Zusammenwachsen in Europa und auf eine friedliche Entwicklung in der Welt gerichtet ist". Auch Art. 11 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993) bekennt sich zur "grenzüberschreitenden Zusammenarbeit". 1512
1148
Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (5) Regionale Identitätsklauseln
Manche Verfassungsstaaten gewinnen ein Stück ihrer eigenen Identiät durch Verweis auf übergreifende Zusammenhänge. So heißt es in Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal (1976/92): "Portugal setzt sich für eine Verstärkung der europäischen Identität und ein verstärktes gemeinsames Vorgehen der europäischen Staaten zugunsten des Friedens, des wirtschaftlichen Fortschritts und der Gerechtigkeit zwischen den Völkern ein". In Lateinamerika sind Integrations- bzw. Identitätsklauseln häufig. So bestimmt Art. 4 (einziger Paragraph) Verf. Brasilien (1988): "Die Föderative Republik Brasilien strebt die ökonomische, politische, soziale und kulturelle Integration der Völker Lateinamerikas mit dem Ziel der Bildung einer lateinamerikanischen Nationengemeinschaft an." Ähnliche Klauseln finden sich z.B. in Art. 9 Abs. 2 Verf. Kolumbien (1991): "lateinamerikanische Integration" 1514 . Im übrigen ist hier der systematische Ort für die allgemeinen und speziellen Europa-Artikel, die sich in den letzten Jahren im europäischen Verfassungsstaat herausgebildet haben; Europa arbeitet hier an der Spitze der Entwicklung 1515 . Als Beispiel sei Art. 60 Abs. 2 Verf. Saarland (1992) erwähnt: "Das Saarland fördert die europäische Einigung und tritt für die Beteiligung eigenständiger Regionen an der Willensbildung der Europäischen Gemeinschaften und des vereinten Europa ein. Es arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und fördert grenzüberschreitende Beziehungen zwischen benachbarten Gebietskörperschaften und Einrichtungen." (6) Verbesserung der Grundrechtsposition von Ausländern Auch sie bedeutet ein Stück Öffnung des Verfassungsstaates zur Welt bzw. Menschheit hin. Nur stichwortartig seien die einschlägigen Textensembles systematisiert: Eine erste Gruppe betrifft Ausländer, die in einem besonderen kulturellen oder ethnischen Zusammenhang mit dem betreffenden Verfassungsstaat stehen. So sagt Art. 15 Abs. 3 Verf. Portugal, "Staatsbürgern aus portu1514 Zit. nach L. López Guerra/L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992; Präambel Verf. Peru (1979), zit. nach JöR 36 (1987), S. 641, beruft sich auf die Überzeugung "von der Notwendigkeit, die Integration der lateinamerikanischen Völker voranzutreiben"; Art. 106 räumt den "Verträgen über die Integration mittelamerikanischer Verträge" eine Sonderstellung ein. Auch die jüngste Verf. Perus (1993) enthält einen besonders auf Lateinamerika bezogenen Integrations-Artikel (Art. 44 Abs. 2). 1515 Belege in meinem Beitrag: Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe - der Ausbau von "nationalem" Europaverfassungsrecht, in: FS Everling, 1995, Bd. I, S. 355 ff. Vgl. schon oben XI Ziff. 3.
XIII. Das "Weltbild" des Verfassungsstaates
1149
giesisch-sprachigen Ländern" könnten unter bestimmten Voraussetzungen Rechte zugestanden werden, die anderen Ausländern nicht gewährt werden. Eine zweite Gruppe betrifft die grundsätzliche Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern unter Maßgabevorbehalt (vgl. Art. 13 Abs. 1 Verf. Spanien 1 5 1 6 ). Eine geglückte universale, fast "weltbürgerliche" Gleichstellungsklausel wagt Art. 3 Abs. 3 Verf. Brandenburg: "Gleichstellung Angehöriger anderer Staaten und Staatenloser mit Wohnsitz im Land, soweit nicht die Verfassung oder Gesetze etwas anderes bestimmen." Eine dritte Gruppe eröffnet die doppelte Staatsangehörigkeit (so Art. 11 Abs. 3 Verf. Spanien) in Bezug auf "iberoamerikanische Länder oder solche, die durch besondere Beziehungen mit Spanien verbunden waren oder sind". Als Merkposten seien alle Bemühungen um Minderheitenschutz erwähnt, entsprechend der frühen Textstufe von Art. 27 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966); vorbildlich ist Art. 5 Verf. Schleswig-Holstein (1990). (7) Zwischenergebnis Im ganzen zeigt sich eine reiche Vielgestaltigkeit von Verfassungstexten, in denen Weltbürgerliches, Weltoffenheit (M. Scheler), globale Kooperation, Universelles, Menschheitsbezüge bzw. "-Ideale" anklingen, oder durch die man sich dazu inspirieren lassen kann. Parallel zum universalen Bezug stehen im unmittelbar nachbarschaftlichen Kontext grenzüberschreitende Regional-Partnerschaften bzw. Verantwortungszusammenhänge. Sieht man alle Mosaiksteine zusammen, so ergibt sich eine bemerkenswerte Tendenz. Der Verfassungsstaat engagiert sich für andere Staaten, z.T. gleich welcher Art, in verfassungsstaatlicher und auch weltbürgerlicher Absicht. Er hat durchaus schon ein als verbesserungsfähig empfundenes "Weltbild", mit Stichworten wie "Frieden in der Welt", "universale Menschenrechte", Erziehungsziel "internationale Kultur". Es gibt weltbezogene Grundwerte des Verfassungsstaates (z.B. humanitäres Verfassungsrecht, Entwicklungshilfe). Man darf von "Spurenelementen" nationalen Weltverfassungsrechts sprechen, so sehr die Defizite an humanitärem Verfassungsrecht (Ausnahme Schweiz) auffallen. Zwar ist zu vermuten, daß manche Texte von den UN-Erklärungen und Völkerrechts- bzw. Menschenrechtsdokumenten beeinflußt sind, doch hat es eigenes Gewicht, daß die Verfassungsstaaten solche Texte "verinnerlichen" und zum integrierenden Teil 1516
S. auch Art. 19 Abs. 1 Verf. Costa Rica (1949), zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff: "Die Ausländer besitzen die gleichen individuellen und sozialen Pflichten und Rechte wie die Costaricaner mit der Ausnahme und Begrenzung, die diese Verfassung und die Gesetze benennen." (Ähnlich Art. 45 Abs. 1 Verf. Venezuela (1991)). Vgl. schon VIII Ziff. 1 d.
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
ihrer eigenen Verfassung machen 1517 . Umgekehrt haben ja auch innerverfassungsstaatliche Dokumente wie die französische Menschenrechtserklärung von 1789 das Völkerrecht "erreicht" (spätestens 1966). Der bereichernde Wirkungszusammenhang der beiden "Kreise" Verfassungsstaat und regionales bzw. universales Völkerrecht ist jedenfalls auch in der Textstufenentwicklung zu beobachten und zu befördern. Der Verfassungsstaat sollte seine Sensibilität für Textstufenentwicklungen auf völkerrechtlicher Ebene schärfen, wie überhaupt der Blick auf den lebhaften Textverbund zwischen den einzelnen Verfassungsstaaten untereinander jetzt um die völkerrechtliche Ebene zu erweitern ist (vgl. z.B. Art. 43 Abs. 1 Verf. Äthiopien von 1994: „sustainable development", ein Zitat der Konferenz von Rio von 1992). Diese Bestandsaufnahme de constitutionibus latis sei durch verfassungspolitische Überlegungen ergänzt. Es stünde den nationalen Verfassunggebern von heute gut an, die regionalen, aber auch globalen Verantwortungszusammenhänge differenziert zu thematisieren: durch Einforderung von Grundwerten als eigene wie: - Frieden, Menschenrechte, Wohlstand für die eigene Region und weitergreifend für die Welt {konstitutionelles Menschheitsrecht) - durch entschlossene Formulierung entsprechender (auch menschheits- und weltkulturbezogener) Erziehungsziele (im Geist der Unesco-Satzung) - durch Kooperations- bzw. Entwicklungshilfe-Artikel Modell Guatemala) - durch humanitäres Verfassungsrecht - durch staatsorganisatorische ropas oder Lateinamerikas)
(allgemein nach dem
(wie in der Schweiz)
Integrations- Artikel
(nach dem Vorbild Eu-
- durch Kulturgüter schütz, national wie universal (wie im Entwurf Brandenburg und in der Ukraine).
1517
So heißt es in der AllgErklMenschenrechte der UN (1948) schon in der Präambel: "Würde ... als Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt", ist von der "Schaffung einer Welt" die Rede, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird", was als "höchstes Bestreben der Menschheit" verkündet wird. Ähnliche Textensembles finden sich im internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966): z.B. in der Präambel.- In der EG entwickelt sich das Prinzip der "Weltoffenheit des Gemeinsamen Marktes"; dazu S. Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, 1995, S. 153 ff, 330.S. auch R. Wolfrum, Das internationale Recht für den Austausch von Waren und Dienstleistungen, in: R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Bes. Teil 2, 1996, S. 535 (562 ff): "Weltwirtschaftsordnung als Teil der universellen Ordnung".
XIII. Das "Weltbild" des Verfassungsstaates
1151
Diese Integrierung von weltbezogenen Grundwerten in den Typus Verfassungsstaat sollte Anlaß für die Völkerrechtslehre sein, den kulturwissenschaftlich vermittelten Schulterschluß mit dem Typus Verfassungsstaat zu suchen. Tendenzen ermutigen: z.B. die vom UN-Gerichtshof für Ex-Jugoslawien in Den Haag eingeforderte individuelle Verantwortlichkeit von Kriegsverbrechern wie Karadzcic und Mladic (1995). So wie Europa "die Welt braucht" und die Europäisierungsvorgänge nicht dazu führen dürfen, daß sich das "föderale Europa" abschottet ("Festung Europa"), so braucht jeder Verfassungsstaat um seiner selbst willen heute die eine Welt 1 5 1 8 . Je mehr es gelingt, die Weltgemeinschaft "im" Verfassungsstaat selbst textlich wie praktisch zum Thema zu machen, desto eher kann diese Weltgemeinschaft ihrerseits "konstitutionelle Elemente" gewinnen. Im Anschluß an die Formel, Außenpolitik sei heute iz.T. "Weltinnenpolitik", läßt sich sagen, Politik für den Verfassungsstaat sei ein Gran Weltpolitik und umgekehrt. Innerstaatlich zu wenig beachtet wurden bislang die Gerechtigkeitsideale in den völkerrechtlichen Dokumenten. So bekennt die Präambel der Charta der UN von 1945 die Entschlossenheit, "Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen" gewahrt werden können. Art. 2 Ziff. 3 stellt neben die "internationale Sicherheit" die "Gerechtigkeit". Sie wird damit zum universalen Wert mit Ausstrahlung auf den Verfassungsstaat. Weltbürgertum und Verfassungsstaat finden sich. 3. Inkurs: Die M Menschheit f t - kulturwissenschaftlich zu erschließendes Sinnpotential eines Begriffs (Weimarer Klassik und Deutscher Idealismus) (1) Nachdem gezeigt wurde, wie verfassungs- und völkerrechtliche Texte die "Menschheit" und die "Welt" in vielerlei Formen in den Blick nehmen,
1518 Ermutigen darf, daß im Textbild nicht weniger arabischer Verfassungen Weltund Menschheitsbezüge nachweisbar sind, auch wenn sie im Kontext des Islam bzw. der Scharia relativierbar sein mögen (dazu mein Beitrag: Der Fundamentalismus ..., liber amicorum J. Esser, 1995, S. 50 (71 ff.)); vgl. Verf. Ägypten (Präambel, 1980): "Ehre des Menschen und der Menschheit", "die Würde des einzelnen als Maßstab für die grandiose Entwicklung der Menschheit zu ihren höchsten Idealen"; Präambel Verf. Algerien (1989): Engagement des Landes "für alle gerechten Angelegenheiten in der Welt"; Teil II Art. 6 Verf. Bahrein (1973): "Der Staat bewahrt das arabische und islamische Erbe, tritt für die Förderung der menschlichen Zivilisation ein"; Präambel Verf. Djibouti (1992): Willen, "in Frieden und Freundschaft mit allen Völkern zu kooperieren"; Präambel Verf. Tunesien (1988): "den menschlichen Werten treu zu bleiben, die das gemeinsame Erbe der Völker darstellen". (Die Texte sind zitiert nach H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Arabischen Staaten, 1995.)
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
wird es dringlich, ein wissenschaftliches Programm der Konkretisierung zu entwerfen. Hierzu bedarf es eines Ausgreifens in die kulturgeschichtliche Entwicklung: Nur kulturwissenschaftlich kann "Menschheit" bzw. "Welt" erfaßt werden, vermutlich als Gemeinschaftsleistung von Generationen. Im folgenden sind nur wenige Stichworte möglich. In Sachen "Menschheit" wird man in der Weimarer Klassik und im Deutschen Idealismus "fündig": Eine knappe Auswahl solcher Klassikertexte zur Menschheit als Forum 1 5 1 9 und Referenzsystem, als Appellinstanz, als "Kultur", als Bezugsgröße mit Würde, als "(Welt) Gewissen" und als ideale Abstraktion von Einzelmenschen, als treuhänderisches Subjekt von Werten und (Schutz)Objekt zugleich, kann die Richtung andeuten. (2) F. Schiller ist wohl der deutsche "Menschheitsdichter" ("Alle Menschen werden Brüder"), zugleich ein "Sprecher der Menschheit" (i.S. von Reinhold Schneider). Besonders reich tritt dies im "Don Carlos" (1787) zu Tage 1 5 2 0 und hier vor allem in den Worten von Don Carlos und Marquis von Posa, im Konflikt mit Philipp I I . 1 5 2 1 . Wir hören: "Die Menschheit - Noch heut' ein großes 1519
Dies kündigt sich schon in Lessings "Nathan" (1779) an, wenn er seinen Nathan - kurz vor der Ring-Parabel (Dritter Aufzug, Siebter Auftritt) - sagen läßt: "Möcht' auch doch die ganze Welt uns hören". Exemplarisch wohl auch des "Menschenfreunds" J.H. Pestalozzi "Anrufung der Menschheit zum Besten derselben" (1777), in: ders., Ausgewählte Schriften, 1983, S. 23 ff- Im übrigen müßte die Geistesgeschichte von "Humanismus" und "Humanität" ausgeschöpft werden, etwa die "Weltreichsethik" der Stoa, Ciceros "Kultur" und "studia humanitatis", die christliche Nächstenliebe und das Weltbild des italienischen Humanismus, vgl. H.R. Schiette , Art. "Humanismus" bzw. J. Splett, Art. "Humanität", in: Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Band 1987/1995, Sp. 9 ff. bzw. 14 ff.; H. Liebing, Art. "Humanismus", in: Ev. Staatslexikon, Bd. I, 3. Aufl., 1987, Sp. 1296 ff- Zum italienischen Humanismus: H. Freyer, Weltgeschichte Europas, 1954, 3. Aufl., 1969, S. 496 ff. 1520 Parallel dazu entwickeln sich seine wissenschaftlichen Arbeiten wie die Jenenser Antrittsrede (1789): "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" sowie die Schrift "Etwas über die erste Menschengesellschaft... Übergang des Menschen zur Freiheit und Humanität" (1790).- "Alles unser Wissen ist ein Darlehen der Welt und der Vorwelt. Der tätige Mensch trägt es an die Mitwelt und die Nachwelt ab, der untätige stirbt mit einer unbezahlten Schuld. Jeder, der etwas Gutes wirkt, hat für die Ewigkeit gearbeitet." (Aus einem Stammbuch.) 1521 Auch die "Räuber" (1781) enthalten bereits große Menschheits-Texte: "Menschen haben Menschheit vor mir verborgen, da ich an Menschheit appellierte" (K. Moor), "Schämt Euch ihr Drachenseelen, ihr Schande der Menschheit!" (Amalia), "Du trittst hier gleichsam aus dem Kreise der Menschheit" (K. Moor), "O über mich Narren, der ich wähnete, die Welt durch Greuel zu verschönem und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu erhalten... und erfahre nun mit Zähneklappern und Heulen, daß zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund richten würden... Sie (sc. die mißhandelte Ordnung) bedarf eines Opfers - Eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet..." (K. Moor), "Meint ihr, die Harmonie der Welt werde durch diesen gottlosen Mißlaut gewinnen?" (K. Moor).-
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Wort in seinem Ohr" (Marquis, 1. Akt, 9. Auftritt), "Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Tränen" (Carlos, 2. Akt, 2. Auftritt). Wir lesen: "Mich ruft die Weltgeschichte, Ahnenruhm Und des Gerüchtes donnernde Posaune". (Carlos, 2. Akt. 2. Auftritt) "Bis dahin, Karl, vergiß nicht, daß ein Anschlag Den höhere Vernunft gebar, das Leiden der Menschheit drängt, zehntausendmal vereitelt Nie aufgegeben werden darf'. (Marquis, 2. Akt, 15. Auftritt). Dann die Steigerung: "Ich bin - ich muß - gestehn, Sire, sogleich nicht vorbereitet, Was ich als Bürger dieser Welt gedacht In Worte Ihres Untertans zu kleiden.-" (Marquis, 3. Akt, 10. Auftritt) sowie: "Ich liebe Die Menschheit, und in Monarchien darf ich niemand lieben als mich selbst". (Marquis, 3. Akt., 10. Auftritt, an Philipp II. gerichtet) 1522 bis hin zum Gipfel: "Stellen Sie der Menschheit Verlomen Adel wieder her... Wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, Zu seines Werts Gefühl erwacht - der Freiheit "Kabale und Liebe" (1784) ist ebenfalls ergiebig: "Kann der Herzog Gesetze der Menschheit verdrehen, oder Handlungen münzen wie seine Dreier?" (Ferdinand), "Die zärtliche Nerve hält Freveln fest, die die Menschheit an ihren Wurzeln zernagen; ein elender Gran Arsenik wirft sie um" (Ferdinand).- "Jungfrau von Orleans" (1801): "Drum soll der Sänger mit dem König gehen,/Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen!" (Karl VII.).- S. aber auch "Braut von Messina" (1803): "Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual". 1522 S. auch das Gedicht "Die Teilung der Erde" von F. Schiller: "Was tun?" spricht Zeus. "Die Welt ist weggegeben/der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein,/ willst du in meinem Himmel mit mir leben -/so oft du kommst, er soll dir offen sein -" gerichtet an den "Poeten".- Im gleichen Geist F. Schiller, "An einen Weltverbesserer": "Von der Menschheit - du kannst von ihr nie groß genug denken; wie du im Busen sie trägst, prägst du in Taten sie aus; auch dem Menschen, der dir im engen Leben begegnet, reich ihm, wenn er sie mag, freundlich die helfende Hand".- Ders., Würde der Frauen: "Aus der bezaubernden Einfalt der Züge/leuchtet der Menschheit Vollendung und Wiege,/herrschet des Kindes, des Engels Gewalt." - F. Schillers Gedicht "Hoffnung" (1797): "Die Welt wird alt und wird wieder jung,/Doch der Mensch hofft immer Verbesserung". Sein Gedicht "Resignation" (1784): "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht".- Zu Schillers "Ästhetischen Briefen" (1793) und Herders "Briefe(n) zur Beförderung der Humanität" (1793-97): D. Borchmeyer, Weimarer Klassik, 1994, S. 286 ff.; ebd. S. 299 ff, auch zu W. von Humboldt als Kosmopolit und Weltbürger sowie zu seinem "humanistischen Erziehungsideal" (S. 307 ff.).- Siehe auch Jean Pauls Sprachschöpfung "weltseitig" (1807).
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Erhabne, stolze Tugenden gedeihen (Marquis, 3. Akt, 10. Auftritt, an Philipp II. gerichtet). Fast ebenso ergiebig ist "Wallenstein" (1800). Das beginnt im "Prolog": "Denn nur der große Gegenstand vermag Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen", führt zu Max Piccolomini: "Es mag Die Menschheit solche Augenblicke haben Doch siegen muß das glückliche Gefühl..." (Max, Wallensteins Tod, 2. Aufzug, 2. Auftritt), um den Höhepunkt in "Wallensteins Tod" (Wallenstein, 2. Aufzug, 2. Auftritt) zu erreichen: "Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit Leicht beieinander wohnen die Gedanken Doch hart im Räume stoßen sich die Sachen". Die Wahlverwandtschaft mit einem Hegel dokumentiert sich in dem Satz Wallensteins (ebd. 2. Aufzug, 3. Auftritt): "Es gibt im Menschenleben Augenblicke, Wo er dem Weltgeist näher ist als sonst Und eine Frage frei hat an das Schicksal". Die Welt wird zur Instanz für Schuld und Verantwortung, auch zum Richter über Tugenden in dem Wort Wallensteins (3. Aufzug, 18. Auftritt): "Dich wird die Welt nicht tadeln, sie wird's loben, Daß dir der Freund das meiste hat gegolten." Wie sehr "Weimar" große Stichworte zum Thema "Menschheit" geschaffen hat, sehen wir auch in F. Schillers Gedicht "Die Künstler" (1788): "Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"1523 Damit sind die Würde der (abstrakten) Menschheit und die Würde des (konkreten) Menschen einzigartig verknüpft: wegweisend auch für die Verfassungslehre. J.W.v. Goethe sieht die Menschheit "realistischer", was ernst genommen sei. Das beginnt mit der Mahnung im "Lied der Parzen" ("Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht!"), erlangt einen Höhepunkt in dem Gedicht "Grenzen der 1523
Im Blick auf die Tiere als "Mitgeschöpfe" (vgl. Art. 32 Abs. 1 Verf. Thüringen (1993)) eher problematisch: F. Schiller. Die Künstler, V. 181: "Jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke, und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn".
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Menschheit" ("Wenn der uralte Heilige Vater...") und wendet sich ins Abgründige: "Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, ergriffen fühlt er tief das Ungeheure". In Goethes Faust (Erster Teil) hören wir in der Kerkerszene den Satz: "Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an" 1 5 2 4 . Ist schon im "Tasso" prominent von "Welt und Nachwelt" die Rede (1. Aufzug, 3. Auftritt), so werden sie in J.P. Eckermanns "Gesprächen mit Goethe" 1525 zusammen mit der "Menschheit" zu Schlüsselthemen. Hier einige Beispiele: "Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohlbefindet" (1824). Goethe benennt später "Wohltätiges" für die Menschheit (1827) und er nimmt das "gemeinsame Erbe der Menschheit" vorweg in dem großen Satz (1827): "Ich sehe immer mehr, daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist", wobei das Stichwort von der "Weltliteratur" fällt. In diesen Kontext gehört die Äußerung im gleichen Jahr: "Wenn nur die Menschen das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es täte der Menschheit ein Positives not, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und
1524
Die romantische Weltsicht sei wenigstens erwähnt, z.B. J. von Eichendorff'. "Schläft ein Lied in allen Dingen,/die da träumen fort und fort,/und die Welt hebt an zu singen,/ triffst du nur das Zauberwort".- Novalis: "Seid Menschen, so werden euch die Menschenrechte von selbst zufallen".- S. aber auch G. Büchner, Dantons Tod (1835), 2. Aufzug, 7. Szene, St. Just: "Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias: sie zerstückt die Menschheit, um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel... sich erheben." Ebd., 8. Szene, Payne zur Frage, ob Gott die Welt geschaffen hat.Shakespeare sei hier nur erwähnt, nicht seinerseits ausgelotet: vgl. sein "Die ganze Welt ist Bühne" (Wie es Euch gefällt, II, 7). Beispiele für Aussagen zur Menschheit bei Shakespeare: Timon von Athen (IV/1, 3 und 4), Troilus und Cressida (II/3), Macbeth (II/4) und Der Sturm (V/1). Vom "Urteil der Welt" ist in Hamlet (1/7) die Rede. In der Schlußszene (V/6) ist für Horatio die "Welt" eine Instanz, der zu sagen ist, "wie diese Dinge sich zugetragen haben".- Für "Welt", Mensch und Menschheit ist ergiebig J. Milton , Das verlorene Paradies (1667), zur Menschheit etwa 3. Buch (Zeile 86, 360), 4. Buch (Zeile 637), 11. Buch (Zeile 830), zit. nach der Reclam-Ausgabe 1969. "Das große Welttheater" von Calderón de la Barca , das "Theatrum Mundi", ist denn auch ein klassischer Topos der Geistesgeschichte bzw. Welt bis B. Brecht. 1525 Zit. nach 3. Aufl., 1988, hrsgg. von R. Otto.- S. auch Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre", 1. Buch 4. Kap.: "Welchen Weg mußte nicht die Menschheit machen, bis sie dahin gelangte, auch gegen Schuldige gelind, gegen die Verbrecher schonend, gegen Unmenschliche menschlich zu sein!" 76 Häberle
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Wahre wäre" - eine Vorwegnahme des "kulturellen Erbes"! Schließlich (1828): "Es kommt jetzt darauf an, was einer auf die Waage der Menschheit wiegt" was (Schiller-nah) Individuum und Menschheit zusammendenkt. Goethes Texte zu "Welt", "Weltkultur" und "Weltliteratur" haben längst Epoche gemacht (auch sein Bekenntnis (1792/1822), die "weltgeschichtliche Gegenwart" nehme seinen Geist ein). Einiges sei in Erinnerung gerufen: So berichtet er von seiner Beobachtung, daß "die Welt immer dieselbige bleibt" (1825) und er äußert seine Skepsis, in das "Weltall Vernunft zu bringen" (1826). 1827 spricht er davon, daß die Jugend als Individuum doch immer wieder "die Epochen der Weltkultur durchmachen" müsse. 1824 ist vom "Gang der Weltkultur" die Rede, 1827 erneut von "Weltliteratur". (Hierher gehört auch das Wort von Adorno, Beethovens 9. Symphonie sei "wie eine Volksrede an die Menschheit".) Wie sehr der Deutsche Idealismus "Humus" für die Konfiguration von "Menschheit" und "Welt" ist, sei nur an zwei Texten gezeigt. Einschlägige Klassikertexte finden sich bei I. Kant 1 5 2 6 sowie bei G.W.F. Hegel 1 5 2 7 . Von manchem Text Kants wünscht man sich, er möge zu einem "kulturellen Gen der Menschheit" werden. Sein Begriff der Würde des Menschen ist auf dem Weg dazu; er ist "weltkonstitutiv", was z.B. jede Rassenideologie verbietet. (3) "Menschheit" ist nach all dem kein bloß quantitativer Begriff, etwa i.S. von "Gesamtsumme aller Menschen", auch keine spekulative Größe von theoretischer Unverbindlichkeit. Sie verweist auf normative Strukturen und Inhalte, Grundwerte des Verfassungsstaates wie Menschenwürde und Menschenrechte ("Menschenbild"), den "Welt-Frieden", ein Mindestmaß an Moralität und Hu1526 Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, zit. nach /. Kant, Werk in sechs Bänden, hrsgg. von W. Weischedel, Bd. VI, 1964, S. 31 (45), "Verborgener Plan der Natur..., auch äußerlich - vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann"... . S. 47: "Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur... zu bearbeiten". 1527 Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, zit. nach der Ausgabe von J. Hoffmeister, 4. Aufl., 1956, S. 288 ff. "Die Weltgeschichte" mit der These von vier "welthistorischen Reichen", das orientalische, das griechische, das römische, das germanische.· S. 288 ebd.: "Weltgeschichte als das 'Weltgericht'"; S. 293: "Weltgeist".Auch bei J.G. Fichte ist die "Menschheit" eine Bezugsgröße, z.B. in ders., Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas (1793), zit. nach der ReclamAusgabe, S. 19: "Gewaltsame Revolutionen sind stets ein kühnes Wagestück der Menschheit." "So machte in unserem gegenwärtigen Jahrhundert die Menschheit, besonders in Deutschland, ohne alles Aufsehen einen großen Weg." - Zu Fichte: F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl., 1922, S. 93 ff, der das Wort "weltbürgerliche Gedanken" unter Hinweis auf das Idealbild der antiken "Humanitas" wieder in seine Ehre einsetzen möchte (S. 18 ff).
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manität, Gerechtigkeit und Kultur. Sie evoziert den Gedanken des (Gewissens-)Forums bzw. der Verantwortung, ein Stück Mitmenschlichkeit i.S. von Goethes "Iphigenie", aber auch "Vernunft", ein Stück der sittlichen Welt des Deutschen Idealismus. Auch reale Bestände wie das gemeinsame Natur- und Kulturerbe (und die friedliche Teilhabe aller an ihm) gehören hinzu. Die überpersönliche Ebene einer abstrakten idealen (aber leidensgeprüften) "Menschheit" ist unlösbar mit dem personalen, dem einzigartigen Individuum jedes einzelnen Menschen verknüpft (F. Schiller/I. Kant). Der komplexe Begriff "Menschheit" - Subjekt und Objekt - hat eine retrospektive Seite i.S. des "gemeinsamen Erbes": er sollte sich aber auch offen halten für Neues, nicht zuletzt für künftige Generationen. "Menschheit" konstituiert sich aus Grundwerten wie "Weltfriede, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit" (vgl. Art. 2 Ziff. 3 UN-Charta von 1945), also Vernunft, und aus künstlerischen Objektivationen wie den Unesco-Kunstwerken ("Weltkultur" i.S. Goethes, "Weltmusik", vielleicht auch Stockhausens "Weltparlament"), aber auch aus ökonomischen Werten wie der "Nutzung des Weltraums zu friedlichen Zwecken" (Präambel Weltraumvertrag von 1967) sowie des "Naturerbes" (Umwelt). Aufgabe der Rechtswissenschaft einschließlich des Völkerrechts ist es, das Sinnpotential des Begriffs "Menschheit" für die einzelnen Problembereiche differenziert auszuschöpfen und das "Weltbürgertum" (I. Kant) erfahrbar zu machen (z.B. als "status mundialis hominis"). Dabei gehören die beiden Ebenen, die der verfassungsstaatlichen Grundwerte mit Menschheitsbezug und die der Menschheit als "letztem" Geltungsgrund des Völkerrechts - sich einander bedingend zusammen, greifbar z.B. im humanitären Verfassungs- und Völkerrecht, im nationalen und universalen Kulturgüterschutz: Weltbürgertum aus Kultur, "kultureller Internationalismus" (J.H. Merryman), weltbürgerliche Humanität, "Menschheit in der Person eines jeden Menschen" (I. Kant); auch gibt es schon eine "Weltgemeinde der Künste und Wissenschaften". Sie konstituiert sich aus einem imaginären "Menschheitsbuch".
4. Aspekte des Theorierahmens a) ''Weltgemeinschaft
der Verfassungsstaaten"
Sie bildet ein erstes Stichwort. Als ein Element des Weltbildes des Typus "Verfassungsstaat" sei die Aussage gewagt, daß die einzelnen Verfassungsstaaten nicht mehr "für sich" stehen, sondern von vornherein eine - offene Weltgemeinschaft bilden. Der Bezug zur Welt bzw. zu ihresgleichen in dieser Welt (Menschheit) ist ein Stück ihres Selbstverständnisses, zeige er sich in Gestalt der Bezugnahme auf allgemeine Rechtsprinzipien bzw. als Verinnerlichung von universalen Menschenrechten (auch in Form der Außenpolitik für Menschenrechte), in Form von entsprechenden Erziehungszielen, in der
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Normierung von Grundwerten zur Weltfriedenspolitik, internationaler Freundschaft und Zusammenarbeit oder in der Verpflichtung auf Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe ("Welthungerhilfe"). Gewiß, hier droht immer wieder viel Entmutigung 1528 . Doch kann der Verfassungsstaat, will er in sich glaubhaft bleiben, nicht davon absehen, dieselben Grundwerte "nach außen" zu vertreten, die er im Inneren als Element seiner Identität bzw. seines Selbstverständnisses ansieht. Mag es da und dort immer wieder autoritäre und totalitäre Staaten auf der Welt geben: Er steht in einer Verantwortungsgemeinschaft mit seinesgleichen für die Welt und ihre Menschen, einzulösen z.B. in Sachen Umweltvölker- und Weltraumrecht. Manche Texte deuten auf diese Verantwortung 1529
hin . Jedenfalls ist die "weltbürgerliche Absicht" I. Kants heute eine Element des Prinzips "Hoffnung" und des Prinzips "Verantwortung" im Verfassungsstaat. Menschenrechte und Menschheitsrecht gehören zusammen 1530 . Der neue "kategorische Imperativ" von H. Jonas ("Handle so, daß die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben") 1531 , ist auf dem Weg, ein innerer verfassungsstaatlicher Klassikertext mit Weltbezug zu werden. b) Regionale und universale Verantwortungsgemeinschaften Die universale Verantwortungsgemeinschaft der Verfassungsstaaten mag oft von diesen zu viel verlangen oder nur sehr punktuell einlösbar sein. Die Frage
1528
Vgl. Bundesaußenminister Κ Kinkel: "Die Welt ist nicht gerechter geworden", "Einsatz für den Frieden wichtigstes außenpolitisches Ziel Deutschlands", FAZ vom 29. Dez. 1995, S. 4. S. auch die Erklärung des Auswärtigen Amtes zum 50jährigen Bestehen der UN: "Vorrang für Menschenrechte bei UN-Missionen, die Würde des Menschen als Grundwert, Konstante der deutschen Außenpolitik", FAZ vom 21. Okt. 1995, S. 8. 1529 M. Kriele hat durch seinen Einsatz für die Menschenrechte und Demokratie in Nicaragua als Gelehrter vorgelebt, was die Theorie der Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten verlangt, vgl. M. Kriele, Nicaragua - das blutende Herz Amerikas, 1985, 4. Aufl., 1986. 1530 Im Sinne von I. Kant (1795): "Das Weltbürgerrecht", "Bürger eines allgemeinen Menschenstaates" als "notwendige Ergänzung des Staats- und Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte". S. auch Kants Formel "das jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht." Dazu M. Kriele, Die demokratische Weltrevolution, 1987, S. 31. 1531 Vgl. seine Stichworte (in: H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979): "Technologie als Beruf der Menschheit", "Der erste Imperativ: daß eine Menschheit sei", "Kein Recht der Menschheit zum Selbstmord", "Zukunft der Menschheit und Zukunft der Natur".
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ist, ob der Verfassungsstaat auf seiner heutigen Entwicklungsstufe konkreter in regionalen Solidaritätspflichten steht; dies nicht i.S. von Hegemonie im Blick auf einen Ausschnitt der Welt, eben eine Region, sondern i.S. gleichberechtigter Partnerschaft. Die erwähnten, auf Regionen bezogenen Identitätsklauseln und die grenzüberschreitenden Kompetenz-Artikel deuten von der Seite der Verfassungstexte darauf hin, auch die EMRK- und AMRK-Gemeinschaft in Europa bzw. Amerika, vielleicht schon die OSZE von 1995. Gerade der EMRK-Europarat hat seit 1989 viele konstitutionelle Elemente recht erfolgreich in den postsozialistischen Ländern Osteuropas zur Beitrittsbedingung erhoben (Menschenrechte, Minderheitenschutz etc.). Eine politisch gelebte Regionalpartnerschaft von Verfassungsstaaten zeichnet sich zudem im Blick auf die, wenn auch sehr fehlerhaft wahrgenommene Verantwortung der EUStaaten für die Länder auf dem Balkan als Teil Europas ab. Das zeigt sich nicht nur im Versuch der Friedensstiftung, sondern auch in sehr konkreten "Verfassungsvorgaben", die als "Rahmenvereinbarung" für Bosnien-Herzegowina (1995) paktiert wurden 1 5 3 2 . Denn hier werden den Typus Verfassungsstaat kennzeichnende Elemente wie Grundrechte (Bewegungsfreiheit, Meinungsund Pressefreiheit) bzw. international anerkannte Menschenrechte "vorgegeben", auch die Wahlen, die Anwendung des Mehrheitsprinzips und die Gründung eines "Verfassungsgerichts" sind vereinbart 1533 . Die sich damit abzeichnende Aufgabe der "Konstitutionalisierung" einer Region könnte zu einem Wachstumsring der Kompetenzen und Aufgaben, auch der Legitimation des Verfassungsstaates von heute werden. Sie ist dem Verfassungsbürger vielleicht eher vermittelbar als eine allgemeine, universale Pflicht. Mag er mit der "weltbürgerlichen Absicht", dem "Weltbürgerrecht" Kants überfordert sein: mindestens eine Regionalbürgerschaft ist - weil überschaubar - ihm schon heute "zuzumuten". c) Der "Schulterschluß" mit dem Völkerrecht als verfassungsstaatlichem "Innenrecht": "Menschheitsrecht" Wenn sich der Verfassungsstaat in den Tendenzen seiner Textstufenentwicklung in vielerlei Gestalt intensiv und extensiv auf die "Welt" bzw.
1532
Zit. nach FAZ vom 28. Sept. 1995, S. 2. Der Vertrag von Dayton (zit. nach FAZ vom 23. November 1995, S. 4) gibt die Bundesstaatsstruktur und bestimmte Kompetenzverteilungen zwischen der Zentrale und den zwei Teilen des Staatsgebildes vor, ebenso den Satz: "Die neue Verfassung soll ein Höchstmaß an Menschenrechten garantieren" sowie: "Die internationale Gemeinschaft organisiert ein humanitäres Hilfsprogramm, um den Wiederaufbau des Landes, die Rückkehr der Flüchtlinge und die Abhaltung freier Wahlen zu gewährleisten". 1533
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
"Menschheit" einläßt, dann muß dies auch Konsequenzen für das "Recht" dieser Welt haben: für das Völkerrecht. Jedenfalls in der Theorie wird dessen "Umbau" erforderlich. Das Völkerrecht sollte nach und nach die Elemente, die es selbst - oft in Analogie zum Verfassungsstaat - setzt, etwa die Menschenrechte, den Minderheitenschutz, den Umweltschutz kongenial auf seine Ebene "denken". Erst dann ließe sich von "Verfassung der Völkergemeinschaft" sprechen 1534 . Erst dann wird mit der "offenen Staatlichkeit" (K. Vogel), dem "kooperativen Verfassungsstaat" ernst gemacht. Das Völkerrecht muß sich selbst von der in Verfassungsstaaten verfaßten "Menschheit" her denken, auf die es ja in nicht wenigen Konventionen Bezug nimmt. Dieses "Programm" verlangt ein Umdenken in Sachen Souveränität 1535 . Völkerrecht ist ein Stück Menschheitsrecht 1536. Dabei sind die Menschenrechte nicht nur als subjektive Rechte aller Menschen, sondern auch als solche der Menschheit zu begreifen. Die "überstaatliche Bedingtheit der Staaten" i.S. von W. von Simson hat gewiß die Souveränität relativiert. Doch sollte man sich vergegenwärtigen, daß es eine "verfassungsstaatliche Bedingheit" des "Überstaatlichen", d.h. des Völkerrechts gibt. Es lebt heute letztlich aus der Verantwortungsgemeinschaft der Verfassungsstaaten, die z.B. "Menschenrechtspolitik" für die Türkei (Kurden!) oder Rußland (Tschetschenien) anmahnen. Es ist Zeit, einen spezifisch an den Verfassungsstaaten und Menschenrechten orientierten kulturwissenschaftlichen Theorierahmen für das allgemeine Völkerrecht und seine Teilgebiete zu entwerfen. Die "Menschheit" ist in jüngster Zeit zum Bezugssubjekt bzw.-objekt neuen Völkerrechts geworden, was mit der Menschheit als innerverfassungsstaatlicher "Figur" zusammengedacht werden sollte. Die Meeresbodenprinzipien-Deklaration der U N (1970) erklärte den Meeresboden und Meeresgrund zum
1534 Vgl. A. Verdross/B. Simma,, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S. 59 ff.: "Die Verfassungsgrundsätze der Staatengemeinschaft". Ebd. S. 66 ff: "Der Ausbau der völkerrechtlichen Verfassungsgrundsätze durch den Völkerbund". S. auch J.A. Frowein, Demokratie und Völkerrecht in Europa, FS K. Zemanek, 1994, S. 365 (369 ff.): "Die demokratische Konstitutionalisierung Europas". 1535 Zur "Verabschiedung" der Souveränität: M Kriele, Staatslehre, 1. Aufl., 1975, S. 111 ff: "Im Verfassungsstaat gibt es keinen Souverän". S. auch P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 (279 ff.); P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995; M.P. Wyss, Kultur als eine Dimension der Völkerrechtsordnung, 1992. Vgl. schon Vierter Teil VII. 1536 S. noch W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 72: zur "spätantiken Menschheitsidee", S. 176: "Der Gedanke einer die ganze Menschheit umspannenden Völkerrechtsgemeinschaft" beherrscht auch das Lehrgebäude des ... Francisco Suarez". F. de Vitoria vertrat eine universalistische Konzeption des Völkerrechts, da er die staatlich organisierten Völker (gentes) als Glieder einer einheitlichen Weltordnung (una res publica) betrachtet. Dazu Verdross/Simma, aaO., S. 11.
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"gemeinsamen Erbe der Menschheit" 1537 . Ähnliches wurde später für die Antarktis gefordert 1538 . Der "Mondvertrag" (1979) erklärt den Mond und seine natürlichen Ressourcen zum "common heritage of mankind" 1 5 3 9 . Art. 22 Abs. 1 der Afrikanischen Menschenrechtserklärung (1982) spricht allen Völkern u.a. ein Recht auf "gleichmäßige Beteiligung an dem gemeinsamen Erbe der Menschheit" zu 1 5 4 0 . Jüngst macht die Idee des "common concern of mankind" "Weltkarriere" 1541 . So dürfte das Common heritage-Prinzip zu einem völkerrechtlichen "Schlüsselbegriff' werden 1542 und in die Nähe der allgemeinen Rechtsgrundsätze rücken 1543 . Der Bezug zum Gedanken der Menschheit als "zumindest vorletztem Geltungsgrund des Völkerrechts" 1544 gewinnt an Boden. A l l dies gehört zur Tendenz des Völkerrechts, "von einem bloßen Zwischenmächterecht zur Rechtsordnung der vielfach gegliederten Menschheit ausgestaltet zu werden" 1545 . Hier bleibt die These der klassischen Schule von Salamanca wegleitend, wonach das "bonum commune humanitatis" das Ziel des Völkerrechts bilde (F. de Vitoria) 1 5 4 6 . Die wachsende Bedeutung der Men1537
OazuA. Verdross/A. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 737; W. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972, S. 247 ff., 358. Zu dieser "grandiosen Wortprägung" des maltesischen Botschafters A. Pardo (1967): T. Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger, Lüneburger Symposium für H.P. Ipsen, 1988, S. 87. Pardo umschreibt dieses neue Konzept als "a new legal principle" (zit. nach Κ Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, S. 704). S. auch D. Rauschning, Gemeinsames Erbe der Menschheit, HdUR, 1. Bd., 2. Aufl. 1994, Sp. 853 ff. 1538 Dazu Verdross/Simma, aaO., S. 747. 1539 Dazu Verdross/Simma, aaO., S 761. 1540 Zur entsprechenden Tendenz der Unesco vgl. E.H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 213.- Vgl. Satzung der UNESCO (1945), Art. 1 Ziff. 2 lit. c: "Schutz des Erbes der Welt an Büchern, Kunstwerken und Denkmälern der Geschichte und Wissenschaft...". 1541 In der Klimakonvention (1990), dazu R. Schmidt, Einführung in das Umweltrecht, 4. Aufl. 1995, S. 196. S. auch J. Brunnée, "Common Interest"-Echoes from an Empty Shell?, ZaöRV 49 (1989), S. 791 ff.; A. Rest, Ökologische Schäden im Völkerrecht, Natur und Recht, 1992, S. 155 (158 f.). 1542 Vgl. W.A. Kewenig, Common heritage of mankind - politischer Slogan oder völkerrechtlicher Schlüsselbegriff?, FS Schlochauer, 1981, S. 385 ff. 1543 Dazu R. Wolfrum, The Principle of the Common Heritage of Mankind, ZaöRV 43 (1983), S. 312 ff. bes. S. 333 ff.- R.St.J. Macdonald, The Common Heritage of Mankind, in: FS Bernhardt, 1995, S. 153 ff., prophezeit der "Common Heritage story" nach Mondvertrag und Seerechts-Konvention eine weitere Zukunft (S. 171). 1544 E.H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 341. 1545 Verdross/Simma, aaO., S. 916. Zuletzt A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre: Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, 1995. 1546 Zit. nach Verdross/Simma, aaO., S. 915. Zu Elementen des "humanitären Völkerrechts" vgl. K. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 60. Zum geplanten "Weltstrafgesetzbuch" der UN: M. Reichart, ZRP 1996, S. 134 ff. Bemerkenswert ist die neue
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Sechster Teil: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
schenrechte im Völkerrecht, der Kulturgüterschutz sowie das Weltraum- und Umweltrecht sind Elemente, dieses zum "Menschheitsrecht" reifen zu lassen. Die "Rückwendung zum Naturrecht" (U. Scheuner) gehört in das Gesamtbild. Die erwähnten Klassikertexte aus "Weimar", "Königsberg" bzw. dem Deutschen Idealismus und seiner "Menschheitsbotschaft" (F. Schillers/v. Beethovens "Neunte") erleichtern diese Wege. Der Ertrag dieses letzten Abschnitts mag schmal erscheinen. Vieles wurde ausgelassen, etwa die aktuelle Frage, wie viele Menschen der "Globus" noch tragen könne 1 5 4 7 , was auch neue Fragen an die Mehrheit der pronatalistisch wirkenden Weltreligionen und Weltkulturen stellt. Die weltweiten Migrationsbewegungen müßten ebenfalls beim Namen genannt werden 1548 . Viele Fragen bleiben offen, andere sind "vorläufig" gestellt.
Textstufe in Art. 28 Verf. Äthiopien (1994): "Crimes against Humanity", mit einem ausdrücklichen Verbot von Amnestien oder Begnadigungen. 1547 Vgl. K. Natorp , Die Erde als Brücke, FAZ vom 16. Jan. 1996, S. 10. 1548 Erste Stichworte zum Thema "Weltbild", "Menschheit" in meinen Beiträgen "Das Menschenbild im Verfassungsstaat", 1988, S. 12 ff. sowie in dem Speyerer Vortrag vom Sept. 1995: "Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in 'weltbürgerlicher Absicht' - ihre Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang", in: R. Pitschas (Hrsg.), Viertes Speyrer Forum, 1997, i. E.- (auch in JöR 45 (1997), S. 555 ff - Der Aufsatz von W. Schreckenberger, Der moderne Verfassungsstaat und die Idee der Weltgemeinschaft, Der Staat 34 (1995), S. 503 ff, erschien nach Fertigstellung dieses Abschnittes bzw. Beitrags und konnte nicht mehr berücksichtigt werden.
Siebenter Teil
Resümee in Thesen 1. Das Verfassungsverständnis bedarf einer Erweiterung um die kulturwissenschaftliche Dimension. Sie ergänzt die bisherigen juristischen Verfassungsrechtskonzeptionen, sie will sie nicht ersetzen. Sie verstärkt Normativität und Normalität des Verfassungsstaates als Typus - Stichwort ist "Verfassungslehre Das meint auch: Die Verfasals juristische Text- und Kulturwissenschaft". sungstexte sind "Literatur", in ihnen "staut" sich Wissenschaft, Verfassungsrechtsjudikatur und Verfassungswirklichkeit. Sie müssen - vergleichend "zusammen-gelesen" werden. Verfassungslehre läßt sich aus den Verfassungstexten erarbeiten. 2. Die den Verfassungsstaat westlicher Prägung kennzeichnende, tragende und weiterentwickelnde "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten -politiker" erfährt ihre unverzichtbare "Grundierung" aus "kulturellen Kristallisationen" und sie erfüllt sich in „kulturellen Wachstumsprozessen".
und
3. Die speziell kulturverfassungsrechtlichen - jüngst stärker diskutierten Themen wie Verfassungspräambeln, kulturelle Freiheiten, allgemeine und spezielle Kulturstaatsklauseln, Feiertage, auch die verschiedenen Ebenen von Kulturverfassungsrecht im Kommunal-, Landes- und Bundes-, aber auch im Regional-, Europa- und Völkerrechtsbereich ergeben in Zusammenschau schon bisher eine spezifische Affinität von Verfassung und Kultur (samt dem kulturellen Träger- bzw. Schöpferpluralismus). 4. Gesellschaftlicher Wandel, Prozesse von Stabilität und Kontinuität von Verfassungen (und damit der Zeitfaktor bzw. die Generationendimension) sind letztlich nur kulturwissenschaftlich (allenfalls auch sozial-, geistes-, wirklichkeits- bzw. normwissenschaftlich) zu erklären. Insbesondere deuten die Vorgänge von Produktion und Rezeption auf kulturelle Hintergründe, Faktoren und Prozesse. (Die literatur- und rechtswissenschaftliche Rezeptionsforschung arbeiten hier einander zu.) 5. Verfassungsvergleichung als Kulturwissenschaft intensiviert die bisherigen interdisziplinären Bemühungen, stellt sie aber auch auf eine neue Ebene. Sie erlaubt eine Neufassung der Verhältnisse von Menschenwürde und Volk, Vernunft und Freiheit, Recht und Wirklichkeit, Recht und Macht, Idee
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Siebenter Teil: Resümee in Thesen
und wirtschaftlichem Interesse. Die verfassungsstaatliche sich als menschenwürdigste Staatsform.
Demokratie erweist
6. Die Verfassungsinterpretation kann im Lichte des kulturwissenschaftlichen Denkens besser als bisher die juristischen Texte aus ihren kulturellen Kontexten erschließen (und z.B. die Bedeutungsvarianz trotz gleichen Wortlauts erklären). Sie erarbeitet auch Rang und Funktion von Klassikertexten; Verfassungsänderung und Verfassunggebung leben noch intensiver von - denselben - "kulturellen Kristallisationen". Das Möglichkeitsdenken als „dritte" Denkmethode (neben Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken) eröffnet den Blick für Verfassungspolitik und (konkrete) Utopien. 7. Übergreifende historische Zusammenhänge jenseits konkreter - positiver Verfassungstexte (z.B. in bezug auf 1848 und 1949 sowie 1989) lassen sich kulturwissenschaftlich - ebenso herstellen wie sie (jetzt erfüllte!) Hoffnungen für die Zukunft ("Deutsche Einheit") und die Vergegenwärtigung von Feiertagen etc. (oder Formen von "soft law") ermöglichen. 8. Der kulturwissenschaftliche Ansatz bezieht auch Fragen und Ergebnisse der politischen Kulturforschung ein und vertieft sie zur "Verfassungskultur" also um das über das Sozialwissenschaftliche Hinausführende und das Normative. Überdies wird die Kultur als „andere, zweite Schöpfung" nach der Natur erfahrbar. 9. Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu den notwendigen Koordinaten jeder Verfassungsvergleichung: als Kulturvergleichung erscheint sie als erfolgversprechend im Rahmen einer deutschsprachigen Verfassungslehre (Relevanz des Sprachelements), aber auch als "innere Verfassungsvergleichung" im Bundesstaat. Die Rechtsvergleichung wird zur "fünften" Auslegungsmethode, das Textstufenparadigma öffnet den Blick für neue Zusammenhänge. Der „kooperative Verfassungsstaat" macht die Zeit zum Raum. 10. Eine kulturwissenschaftliche Verfassungslehre kann einen Beitrag zur notwendigen Reduzierung der Fixiertheit auf Wohlstandsdenken und Materialismus sowie eine Abkehr von der Ökonomisierung unseres derzeitigen politischen Denkens und Handelns leisten: Republiken beruhen nicht auf "Märkten". Der Verfassungsstaat ist kein "ökonomisches Gewinnspiel", das gilt gerade auch für "Europa". Eine solche Verfassungslehre liefert auch die Basis für eine Kritik an einem lediglich quantitativen und überzogenen Sozialstaatsverständnis. Insofern stellt sie sich als Chance für eine vertiefte Begründung des Verfassungsstaates in Deutschland auch für den Fall von Krisenzeiten dar. Speziell der nationale und internationale Kulturgüterschutz zeigen, daß sich "Menschheit" aus Kultur konstituiert. Klassikertexte Weimars und der Deutsche Idealismus verweisen in gültiger Weise auf die "Welt".
Nachwort zur italienischen (zweiten) Auflage (1998) 1. Das Thema "Kultur und Verfassung" bzw. "Kultur und Recht", die Frage nach dem "Kulturstaat" und "Kulturverfassungsrecht" ist in Deutschland nach 1945 wenig behandelt worden. Nur das Pionierwerk von E.R. Huber "Zur Problematik des Kulturstaates" aus dem Jahre 1958 lag als Vehikel einer möglichen Themenkarriere bereit (für das Kulturverwaltungsrecht blieb es bei dem frühen Werk von T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969). Das sollte sich Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre grundlegend ändern: Fast gleichzeitig wurde das Teilthema "Erziehungsziele" behandelt (von H.-U. Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979, und vom Verf.: Kulturpolitik in der Stadt ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 29 ff.). In der zuletzt erwähnten Studie des Verf. wurde überdies die Grundlegung für ein "kommunales Kulturverfassungsrecht" unternommen und danach wurde Stück für Stück der Zusammenhang zwischen Verfassung und Kultur erarbeitet: zunächst in Gestalt der Monographie "Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat", 1980 (erstmals mit einem Vorschlag für eine Kulturstaatsklausel für das deutsche Grundgesetz, ebd. S. 59), sodann in Form des Beitrags: "Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive" (JöR 32 (1983), S. 9 ff.), bis schließlich das Programm einer "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" (Vorauflage 1982) gewagt wurde. In den folgenden Jahren machte das Kultur-Thema in der deutschen Staatsrechtslehre buchstäblich "Karriere". Sie gipfelte auf der Kölner Staatsrechtslehrertagung in den beiden Referaten von U. Steiner und D. Grimm: "Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen", VVDStRL 42 (1984). In nahezu allen Literaturgattungen wurde parallel dazu oder danach das Kulturthema behandelt. Verwiesen sei für das Handbuch auf W. Maihofer, Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1984, S. 173 ff. (jetzt in: dies. (Hrsg.), 2. Aufl. 1994, S. 1201 ff.)), für die Literaturform Dissertation auf C.H. Heuer, Die Besteuerung der Kunst, 2. Aufl. 1984, T. Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes, 1989 (1980 hat der Verf. gegenüber der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft einen Sammelband angeregt, der 1982 veröffentlicht wurde: "Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht"). Gleichzeitig erschienen Versuche, sich der Geschichte und Vorgeschichte des Kulturstaatsdenkens zu vergewissern: so in bezug auf H. Heller: G. Robbers, Hermann Heller, Staat
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Nachwort
und Kultur, 1983, in bezug auf E.R. Huber: M.-E. Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, 1990. Auch im deutschsprachigen Ausland wurde das KulturThema bearbeitet (auf Anregung des Verf. durch H.-U. Evers in JöR 33 (1984), S. 189 f f : "Kulturverfassungsrecht und Kulturverwaltungsrecht in Österreich", JöR 33 (1984), S. 189 ff., durch den Verf. P. Häberle selbst in der und für die Schweiz: "Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland", in: ZSR 105 (1986), S. 195 ff.). Und auf der EuropaEbene expandiert das Schrifttum zur "Sache Kultur" ständig (früh H.P. Ipsen, Der Kulturbereich im Zugriff der Europäischen Gemeinschaften in: Gedächtnisschrift für Geck, 1989, S. 339 ff.; W. Fiedler, Impulse der EG im kulturellen Bereich, in: S. Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 147 ff.; G. Ress, Kultur und Europäischer Binnenmarkt, 1991; B. Geißler, Staatliche Kunstforderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995; M. Niedobitek, Die kulturelle Dimension im Vertrag über die Europäische Union, EuR 1995, S. 349 ff.). Mittlerweile ist das Kultur-Thema fester Bestandteil aller Literaturgattungen, auch der Festschriften-Literatur (z.B. T. Oppermann, Ergänzung des GG um eine Kultur(Staats)klausel?, in: FS Bachof, 1984, S. 3 ff.) und des Sammelbandes (Nationaler und internationaler Kulturgüterschutz, hrsg. von T. Oppermann und F. Fechner, 1996). Es wäre von eigenem Reiz, den letzten Hintergründen einer derartigen "Themenkarriere" nachzugehen: eine frühe - und doch zu späte - Gegenbewegung gegen den wachsenden Ökonomismus unserer Tage, der die kulturellen Grundlagen des Verfassungsstaates gefährdet? Wie dem auch sei: jeder Verfassungsstaat muß sich heute früher oder später mit Hilfe seiner nationalen Wissenschaftlergemeinschaft des Themas "Kultur" annehmen, nicht zuletzt im sich einigenden Europa, das ein Europa der Rechtskultur(en) ist (dazu vom Verf.: Europäische Rechtskultur, 1994, TB 1997). 2. Vieles deutet daraufhin, daß in Italien der kulturwissenschaftliche Ansatz seine Zukunft noch vor sich hat. Denn vereinzelt mehren sich die Publikationen zu kulturverfassungsrechtlichen Themen bzw. kulturwissenschaftlichen Methoden. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit sei beispielhaft erwähnt: F. Rimoli, La Libertà dell' Arte nell' ordinamento italiano, 1992; M. Ainis, Cultura e politica, 1991; H. Carrier, La Concezione moderna dei diritti culturali, in: La Civita Cattolica 1992 II, S. 570 f f , sowie A. Spadaro, Contributo per una teoria della costituzione, 1994. Vielleicht kann die deutsche und italienische Wissenschaftlergemeinschaft mittelfristig zu gemeinsamen Wegen und Ergebnissen gelangen: im Dienst des Typus Verfassungsstaat, der im europäischen Verbund ohnedies nur als kulturelles Projekt gedeihen kann, jedenfalls nicht als "Gehäuse für freie Märkte".
Nachwort
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Insoweit mag es sich rechtfertigen, der italienischen Öffentlichkeit eine auf den neuesten Stand gebrachte zweite Auflage des Werkes "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" vorzulegen, die freilich im Umfang nicht dem deutschen Werk von 1998 entspricht. Peter Häberle
Hinweis Da nach dem hier verfolgten Konzept die in Raum und Zeit miteinander verglichenen Verfassungstexte "als Literatur" bzw. zu "Literatur" verarbeitet wurden, kommt ihnen eine entsprechende hohe - oft Klassikertexten gleichende - Bedeutung zu. Sie wären in einem eigenen Verfassungs- bzw. "Literaturverzeichnis" nachzuweisen. Dies ist aus Raumgründen nicht möglich. Verwiesen sei aber auf das Verfassungs- und Vertragsregister in P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 899 bis 968. Manche neuesten Verfassungen (wie die Ukraine von 1996) oder Entwürfe (wie Weißrußland von 1994) liegen dem Verf. persönlich vor, sind aber noch nicht in den greifbaren Fachzeitschriften publiziert. Verwiesen sei auf die fünfteiligen Dokumentationen zu den Verfassungsentwürfen und Verfassungen in Ostdeutschland bzw. in Osteuropa und Asien, zusammengestellt in dem vom Verf. herausgegebenen "Jahrbuch des öffentlichen Rechts" (Bd. 39 (1990), S. 390 ff. bis Bd. 43 (1995), S. 419 ff. bzw. Bd. 43 (1995), S. 184 ff. bis 46 (1998), S. 123 ff.). Im übrigen wurde mit folgenden Text-Sammelwerken gearbeitet: Alvarez Conde, E. (Dir.), Código Constitucional Espafiol, 1. Aufl. 1993 Bar Cendon, A. et. al., Código Legislativo de Cantabria, 1994 Bassani, M. et. al. (a cura di), Leggi fondamentali del diritto pubblico e costituzionale, 15. Aufl., 1991 Baumann, W.IEbert, M. (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995 - Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, 1997 Berber, F. (Hrsg.), Völkerrecht, Dokumentensammlung Bd. I, Friedensrecht, 1967 Berber, F./Randelzhof er, A. (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 2. Aufl. 1979 Blaustein, A.P./Flanz, G.H.(ed.), Constitutions of the Countries of the world, ab 1995: Flanz , G.H. (ed.) Broersen, W. (Hrsg.), Die Verfassungen der Erde, 1. Lieferung 1950 Brunner, G./Meissner,
Β. (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1979
Camera dei Deputati (a cura di), Costituzione della Repubblica italiana, 1990 Dennewitz, B. (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, I. Band 1947, II. Band 1948
Hinweis
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- Das Beispiel St. Gallen,
Huber, E.R. (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961 Kimmel, A. (Hrsg.), Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, Einfuhrung von A. Kimmel, 4. Aufl. 1996 Klecatsky, H.R./Morscher, (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung (B-VG), 7. Aufl. 1995 (8. Aufl. 1997) Landa Arroya, Q.IV elazo Lozado, Α., Constitución politica del Peru 1993, 1994 Lopez Guerra , L JAguiar, L. (ed.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992 Mader, G./Widder, Mayer-Tasch,
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Palici di Suni Prat , E. (a cura di), Le Costituzioni dei Paesi dell comunità europea, 1. Aufl. 1993 (2. Aufl. 1998) Paul, W. (Hrsg.), Die Brasilianische Verfassung von 1988, 1988 Peaslee, A.J. (Hrsg.), Constitutions of Nations, 3. Aufl., 1974 Pestalozza, C. (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, Einführung von C. Pestalozza, 5. Aufl. 1995 Randelzhofer,
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Sachregister Hinweis: Die folgenden Stichworte verweisen auf den Text und die Fußnoten. Aargau, Kantonsverfassung (1980) 712, 845, 1048 - Präambel 594 Abhörurteil (BVerfG) 572 academical self restraint 255 Afrikanische Banjul Charta (1982) 15, 158, 736, 1026 Ägypten, Verfassung (1980) 960 Algerien, Verfassung (1976) 637 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN (1948) 721, 725, 726, 730 f., 736, 886, 1026, 1126, 1130, 1147 allgemeine Rechtsgrundsätze 334, 1086 f. Allgemeine Staatslehre 85 Alter (als Verfassungsproblem)1019 ff. - kulturanthropologische Dimension 1033 ff. - Literatur zum Alter 1035 f. - verfassungstheoretische Dimension 1037 ff. Alternativendenken, pluralistisches siehe Möglichkeitsdenken Alters-Verfassungsrecht 1023 ff., 1038 AMRK (1969) 645, 726, 734, 1026 Antigua und Barbuda, Verfassung (1981) 41,43,55 APEC (1989/92) 198 Appenzell A.Rh., Kantonsverfassung (1995)208, 557, 630, 1049 - Präambel 944, 957 Arbeit als Verfassungsrecht 848 ff. - Schutzdimensionen 854 - Textstufen 849 ff.
- Verfassungslehre der Arbeit 866 ff. Armenien, Verfassung (1995) 102 ASEAN (1967) 198 Aserbaidschan, Verfassung (1996) 102, 218,714, 838 f., 865, 1053 - Präambel 946, 956 Asylrecht 643 f , 723, 730 Äthiopien, Verfassung (1994) 667, 951, 1022, 1054, 1115, 1138, 1150 Aufgaben-Normen 380 ff. - Sorge-Klauseln 380, 386 - Staatszielbestimmungen 3 81 - Verfassungsbefehl 380 Aufklärungsphilosophie, französische 507 Ausländer - Grundrechtsschutz 644 f., 719, 1148 f. Auslegungsmethoden - authentische 334 - menschenrechtskonforme 719 f., 728 - Rechtsvergleichung als fünfte siehe Rechts- und Verfassungsrechtsvergleichung Auswanderungsfreiheit 643 Baden, Verfassung (1947) 599, 977 Baden-Württemberg, Verfassung (1953) 383, 649, 675, 957, 978, 989, 1049, 1140 - Vorspruch 373, 717 Bahamas, Verfassung (1973) 42, 43, 59 Bahrein, Verfassung (1971) 42, 49, 56 Bangladesh, Verfassung (1972) 208
Sachregister Barbados, Verfassung (1966) 42, 43, 59 Basel-Landschaft, Kantonsverfassung (1984)390, 408, 845, 862 - Präambel 366 Bayern - Verfassung (1818) 943, 1008 - Verfassung (1919) 634, 675, 678 - Verfassung (1946) 99, 348, 434, 472, 593, 600, 602, 623, 642, 675, 713, 752, 774, 917, 958, 976, 989, 1048, 1109 - Präambel 102, 922 Beitritts-Klauseln siehe Staatsgebietsänderungen Bekenntnis-Normen 372 ff., 928 Belgien - Verfassung (1970) 349 - Verfassung (1831/1988) 633, 639, 718 - Verfassung (1994) 1088 Belize, Verfassung (1981) 45, 56 Berlin, Verfassung (1950/94) 658, 928, 1049 Bern, Kantonsverfassung (1993) 180, 287, 325, 407, 408, 492, 603, 722, 749, 965, 1049, 1088, 1144 - Präambel 366, 944 bildende Kunst 514 ff. Bildung - Erwachsenenbildung 7, 770 Bodenreformurteil (BVerfG) 1057 bonum commune humanitatis 1161 Brandenburg - Verfassung (1947) 972, 1110 - Verfassung (1992) 99, 157, 186, 365, 594, 598, 603, 608, 623, 625, 629, 648, 653, 666, 693, 717, 739, 857, 965, 972, 1025, 1088, 1110, 1142, 1144 - Präambel 620, 710, 950, 1137 Brasilien - Verfassung (1824) 1006 - Verfassung (1988) 12, 17, 454, 659, 1023, 1024, 1052, 1115, 1148 - Präambel 925 7 Häberle
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Bremen, Verfassung (1947) 185, 593, 648, 675, 711, 723, 767, 886, 897, 978, 989 - Präambel 367, 928 Brunei Darussalam, Verfassung (1959/84) 42, 50 Bulgarien, Verfassung (1991) 185, 330, 660, 718, 963, 1053 f. - Präambel 947 bundesfreundliches Verhalten 783 Bundesstaat - unitarischer 781 - kultureller 776 ff. Bundesstaatslehre - allgemeine 784 - gemischte 776 ff. Bundestreue 217 Bundesverfassungsgericht - als Bürgergericht 260 - als gesellschaftliches Gericht 256 ff. - freies Annahmeverfahren 262 - Möglichkeiten und Grenzen 259 ff. - Richterwahl 263 - und der Gesellschaftsvertrag 258 f. Burgenland, Verfassung (1981) 350, 354, 361,370, 637,711 Cap Verde, Verfassung (1986) 42, 57 Chile, Verfassung (1980) 1113 Christentum als Kulturfaktor 89, 954, 957, 965, 973, 1074 Christopher, St., and Nevis, Verfassung (1983)41,45 CIC (1983) 334 f. civil society 121 Comoren, Verfassung (1978/85) 42, 50, 57 Costa Rica, Verfassung (1949/78) 11, 18, 295, 359 - Präambel 951 Dänemark, Verfassung (1953) 639, 1004, 1005
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Sachregister
Danzig, Verfassung (1920/22) 673, 675, 962, 1109 Demokratie 87 - als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde 623 f. - Bürgerdemokratie 244 f. - halbdirekte (Schweiz) 1093 - kulturelle 21, 713, 740, 890, 1062 -mittelbare 623 - pluralistische 310 f., 686 - Referendumsdemokratie 357 - und Verfassungsinterpretation 243 ff. - "vor Ort" siehe kommunale Selbstverwaltung - wirtschaftliche 713, 751 Demokratie-Artikel 710 ff., 766 deutscher Idealismus 508, 725, 1151 ff. Dominica, Verfassung (1978) 42, 44 Ecuador, Verfassung (1984) 271 Eides-Klauseln 375, 931 f., 1010 Eigentum - Begriff, verfassungsrechtlicher 899 ff., 909 - juristisch-ökonomische Theorie des E. 902 ff. - Sozialpflichtigkeit 914 f. - Textstufen der Eigentumsentwicklung 912 ff. Eigentumsgarantien - verfassungsrechtliche Verankerung 917 ff. Eingeborenenkulturen 11, 17, 18 Einigungsvertrag (1990) 791 f. Elfenbeinküste, Verfassung (1960/80) 926 EMRK (1950) 196, 629, 658, 725, 1067 - als geschriebene Teilverfassung Europas 1098 - Präambel 929, 1046 Entwicklungsklauseln 392 ff., 456 ff. Entwicklungsländer 9 ff., 30 ff, 153, 325 ff., 806
- Präambeln 924 f. - Verfassungsverständnis 453 ff. Enzyklika - Centesimus annus ( 1991 ) 891 - Laborem exercens (1981) 866 - Quadragesimo anno (1931)436 - Rerum Novarum (1891) 437 Equatorial Guinea, Verfassung (1982 bzw. 1991)42, 52, 57, 59, 327 f. Erklärung von Bordeaux (1978) 806, 812 Erziehungsziele 8, 13 ff, 86, 100 f., 185, 375, 604, 623, 647, 931 f., 1141 ff. - als soft law 472, 1043 - durch Verfassungsvergleichung 765 ff. - in weltbürgerlicher Absicht 1142 - Grund- und Menschenrechte als E. 16, 720 f., 758 ff. - Rezeptionen 471 f. - Verfassungsprinzipien als E. 15 ESC (1961) 100, 996 Estland - Verfassungsentwurf (1991) 330, 468, 735 - Verfassung (1992) 271, 331, 655, 691, 723 f., 741,865, 1116, 1138 - Präambel 838 Ethik, globale 609 EuGH - als europäisches Bürgergericht 452 Europa - als Wertegemeinschaft 1082 - Begriff, offener 1067 - Staatsziel 158 - Verhältnis von Staat und Verfassung in E. 1096 ff. Europa der Bürger 452 Europa der Regionen 801 - Arbeitsgruppe Europa der Regionen, Bericht (1990) 424 - Konferenz Europa der Regionen (1989) 424, 813 - Versammlung der Regionen Europas (1992) 426 f.
Sachregister Europa-Artikel 628 f., 1148 Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985) 434, 641 f., 804, 1099 europäische Rechtskultur 1073 ff. - als Vielfalt und Einheit 1078 ff. - Geschichtlichkeit 1073 f. - Partikularität und Universalität 1081 f. - Unabhängigkeit der Rechtsprechung 1076 f. - weltanschaulich-konfessionelle Neutralität 1077 - Wissenschaftlichkeit 1074 ff. Europäische Sozialcharta (1961) 196 europäischer Jurist 1102 ff. Europäisches Kulturabkommen (1954) 100, 158, 1067 Europäisches Parlament - Gemeinschaftscharta der Regionalisierung (1988) 814 Europaoffenheit 1100 ff. Europaprogramm - der Bundesländer 801 - transnationales 802 Europarat - Satzung (1949) 195 f., 1046, 1067 Europarecht 335 - im engeren Sinne 628 - im weiteren Sinne 628 Europaverfassungsrecht, nationales 628 ff., 1087 ff. Eurozentrismus 30 Evolutionismus 154 Ewigkeitsklausel 52, 90, 378, 549, 606 f., 713, 723,969, 1053 - als verfassungsstaatliche Identitätsgarantie 267 ff., 372 ff., 606 Experimentier- und Erfahrungsklauseln 109, 137, 569 Feiertage - als Verfassungskultur 981 ff. - Annahme in der Bevölkerung 979 f.
- Büß- und Bettag, Abschaffung 968, 985 - Martin Luther King-Tag 968, 970, 973, 974, 981 - Muttertag 974 - Oppositionstage 979 f. - spezifischer Bezug zum Verfassungsstaat 973 ff. - Symbolgehalt 981 - Tag der Arbeit 972, 974, 978 - Tag der Deutschen Einheit 968 Feiertagsgarantien 931 f., 966 ff. - Integrationsfunktion 970 ff. - Intensität ihrer Formalisierung 978 f. - Persönlichkeits- bzw. Sachorientierung 972 f. - Vergangenheits- und Zukunftsorientierung 967 ff. Fernsehurteile, BVerfG 133 Fiji, Verfassung (1990) 42, 47, 59 Film 517 Finnland, Verfassung (1991/95) 272, 718 Föderalismus 432 f., 474 - als Strukturprinzip des Verfassungsstaates 626 - Entwicklungsstufen 160 - Europaebene 812 - fiduziarischer 790, 796 - kooperativer 781 - Kulturföderalismus 622 - Staatsgebietsrelevanz 641 f. Fortschrittsklausel 158 - wirtschaftliche 874 Frankreich - Verfassung (1791) 634 - Verfassung (1793) 606, 634 - Verfassung (1795) 1054 - Charte Constitutionnelle (1814) 1055 - Verfassung (1848) 634 - Verfassung (1946) 294, 634, 1055 - Verfassung (1958) 374, 634, 637, 638, 653, 1055 - Präambel 388
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Sachregister
französische Revolution 515 Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit 593 Freiheit - aus Kultur 630 f. - der Kultur 20, 789 - keine Freiheit ohne Kultur 772 - kulturelle 593, 623, 657, 691, 694 ff, 744, 781 - natürliche 593, 671 - öffentliche 662 f., 696 - weltbürgerliche dank Kultur 1126 f. - wirtschaftliche 893 Freimaurer 512 Freundschafts-Artikel 1143 ff. GATT (1947) 200 Geisteswissenschaften 586 Gemeineuropäisches - Grundrechte-Recht 1069 - Verfassungsbuch 1093, 1104 ff. - Verfassungsrecht 71, 166, 628, 1083 ff. - Erscheinungsformen 1085 ff. - personale Seite 1091 ff. - Regionalverfassungsrecht 804 ~ Theorieelemente 1094 ff. - Zivilrecht 627 Gemeinrecht - als rechtswissenschaftliche Kategorie 1083 f. Gemeinsame Verfassungskommission 110 Gemeinwohl 662, 665, 691, 815 ff. - Defizite 826 f. - Inhalte in einer offenen Gesellschaft 819 ff. - Kulturgespräch über G. 823 ff. - Theoriegeschichte 815 ff. Gemeinwohl-Verwaltung 248 Generationenschutz - ausdrücklicher 602 ff. - immanenter 604 ff. - konstitutioneller 607 ff.
Generationenvertrag 601 ff. - kultureller 27, 630, 1040 - verfassungstextlich 94 Georgien, Verfassung (1995) 265, 331, 375, 652, 660, 692,718, 1138 Geowissenschaften 73 Gerechtigkeit 1040, 1081 Gerechtigkeitsmaximen im Verfassungsstaat 1044 ff. Geschichtstheologie 173 Gesellschaft - offene 36, 90 - verfaßte 685 Gesetz und Recht 307 f. Gesetzesbegriff, demokratischer 310 Gesetzesinterpretationsprozesse - offene Gesellschaft der Gesetzesinterpreten 305 f. Gesetzgebungsaufträge 106 ff. Gewaltenteilung - gesellschaftliche 687 - vertikale 1098 ff. Gleichsetzungsklausel 728 goldene Regel 609 Gottes-Klauseln (siehe auch Präambeln) 951 ff. Gottesbezüge im Verfassungsstaat 157, 550 Gottesnarrentum 514 Gottesverständnis im Verfassungsstaat 958 f. Grenada, Verfassung (1973) 42, 43, 58 Griechenland, Verfassung (1975) 184, 365, 383 f., 389 f., 598, 644, 665, 707, 711, 842, 858 f., 962, 1023, 1091, 1110, 1143 griechisches Staatsdenken 505 Grundgesetz (1949) 297, 323, 349, 575 f., 594, 600, 602, 607, 629, 630, 651, 664, 937, 1048, 1088 Grundlagen-Artikel 633 f., 1004 ff. Grundpflichten 600, 707, 736 f. - Steuerpflicht 715
Sachregister Grundrechte 715 ff. - als Abwehrrechte 213, 389 - als allgemeine Rechtsgrundsätze 214, 628 - als Ausdruck eines Kultur- und Wertsystems 583 - als funktionelle Grundlage der Demokratie 686 - demokratische Seite 243 - der dritten Generation 611 - Drittwirkung 257 - im Gewand von Staatsaufgaben 390 - korporative Seite 669 ff. - kulturelle 16 ff. - leistungsstaatliche Seite 213, 244, 565 - Mehrdimensionalität 214, 368, 387 ff., 732 - pluralistische 986 - Rezeptionen 469 f. - Schutzbereich - Rolle des Selbstverständnisses 7, 22 ff., 121 - soziale 386, 563, 566 - status activus processualis 132, 213, 407, 450, 744 grundrechtliches Wertsystemdenken 582 Grundrechtsaufgaben 837 Grundrechtsentwicklungsklausel 52, 325, 330, 333, 340, 378, 732, 734 f., 1052 Grundrechtsgarantien - Textstufen 733 f. Grundrechtsinterpretations-Artikel 1059 Grundrechtspolitik 387, 1090 Grundrechtsschutz - neue Themen 741 ff. Grundrechtsstatus - des Kulturschaffenden 19 ff. Grundrechtsverständnis - gemischtes Theoriekonzept 731 ff. Grundrechtsverwirklichung - durch Organisation und Verfahren 388, 391 - kooperative 212 ff. 78 Häberle
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Grundrechtsverwirklichungsklauseln 392 f., 400, 735 Grundsätze-Klauseln 372 ff. Grundwerte (des Verfassungsstaates) 89, 644, 655, 714, 768, 949, 950, 965, 973, 983, 1137ff., 1150 Grundwerte-Klauseln 372 ff. Grundwertediskussion 824 f. Guatemala, Verfassung (1985) 12, 17, 184, 348, 377, 453, 457, 472, 635, 654, 691,723, 741, 759 f., 806, 1051, 1114, 1142, 1146 - Präambel 388, 925 Hamburg, Verfassung (1952/86) 99, 375, 637, 713, 1043, 1050 - Präambel 594 Hearings 128, 567 Heimatrecht 74, 79, 723, 740 Herrenchiemsee, Verfassungsentwurf (1948) 706 Hessen, Verfassung (1946/91) 98, 598, 675 f., 718, 1049 - Präambel 930 Historische Rechtsschule 152 homo europaeus 1103 Homogenitätsklausel 24, 783, 808 Humanitäts-Artikel 1144 Hymne 966, 984 - geheime Nationalhymne 513 Identitätsklauseln, regionale 1148 Im Geiste-Artikel 372 ff. Indien, Verfassung (1949) 942 informationelle Selbstbestimmung 658, 703 Integrationstheorie (R. Smend) 986 internationale Gesellschaft 204 ff. internationales Privatrecht 209 f. Interpretations-Artikel 333 Investitionshilfeurteil (BVerfG) 568 IPbtlrgR (1966) 158, 199, 698, 727 f., 736, 738, 1046
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Sachregister
IPwirtR (1966) 199 Iranische Republik, Verfassung 960 Irland, Verfassung (1937/87) 394, 636, 641,653,719, 857, 962, 1141 - Präambel 367, 922 Island, Verfassung (1944/84) 42 Italien, Verfassung (1947) 102, 384, 393, 400, 598, 604, 634, 643, 664, 689, 718, 842, 858, 962, 1110, 1140 Japan, Verfassung (1946) 1141 Jura, Kantonsverfassung (1977) 186, 207 f., 717, 862, 1048, 1144 - Präambel 366, 629 Justizkritik 515 f. Kamerun - Verfassung (1972/84) 926 - Verfassung (1996) 637, 926 Kanada, Verfassung (1981) 339, 357, 944, 951 kanonische Billigkeit 335 Kasachstan, Verfassung (1995) 102, 151 - Präambel 947 kategorischer Imperativ 609 katholische Soziallehre (siehe auch Subsidiaritätsprinzip) 689 Kirchen - Gemeinwohlverständnis 818 f., 827 f. - Öffentlichkeitsauftrag 666 f., 828, 964 Kirchenaustritt 965 Kiribati, Verfassung (1979) 42, 45, 59, 62 Klassiker - Begriff 483 ff. - Erfolgsbegriff 484 - materiell 484 ff. ~ Wertbegriff 484 - und Gegenklassiker 302, 481, 485, 608, 844 - Weimarer Klassik 508, 1151 ff. Klassikertexte 745, 816, 878, 950, 1099, 1168 - Aussagekraft 63 ff., 100 f., 161, 481 ff.
- als Impuls zur Verfassunggebung 298 - als Verfassungstexte im weiteren Sinne 482, 898 - des Typus Verfassungsstaat 290, 526, 689 - Europas 1085 - zu Staat und Familie 490 ff. - zur Menschheit 1152 ff. Kleinstaat 36 ff., 325 ff., 632 - ehemals englische Kolonien 42 ff. - islamisch geprägter 49 ff. - kulturwissenschaftliche Verfassungstheorie des K. 66 ff. - vier Strukturelemente 64 - Zukunft des K. 82 f. Kodifikationen - nicht-verfassungsrechtliche 334 ff. kollektives Gedächtnis 617, 1115 Kolumbien, Verfassung (1991) 327, 635, 1148 kommentierte Verfassungsrechtswissenschaft 528 kommunale Gebietsreform 74 kommunale Selbstverwaltung 434 f., 713, 751 ff. Kompetenzlehre - materielles Kompetenzverständnis 600 Königswürde 1008 Kontext, Aussagekraft 633 ff., 1064 Konvention zum Schutz von Kulturgut (1954)1109 Kooperationsbewußtsein der Staaten 197 Kooperationsklauseln 1143 ff. Kooperationsrecht, gemeines 211 f. - Erscheinungsformen 182 ff. Kritischer Rationalismus 519, 559, 561, 571,630, 922, 1047 Kroatien, Verfassung (1991) 265 Kruzifix-Beschluß, BVerfG 106 KSZE - Kopenhagener Dokument (1990) 813, 1086
Sachregister - Krakauer Symposion über das kulturelle Erbe 813 - Schlußakte von Helsinki (1975) 197 Kultur - als viertes Staatselement 85, 612, 616, 620 ff., 1097, 1119 - Begriff 2 ff. - Hochkultur 3 - Kastenkultur 3 - Multi-Kultur 1128 - Subkultur 3 - traditionaler Aspekt 4 - und Europa 1066 ff. - Volkskultur 3 kulturelle Demokratie (siehe auch Demokratie) 21 kulturelle Identität 11, 32 kulturelle Produktion 525 ff. kulturelle Rezeptionen 68 ff., 297, 459 ff., 525 ff. kulturelle Substanzgarantie 795 kulturelle Teilhabe- und Zugangsrechte 10 kultureller Trägerpluralismus 773 ff, 779, 1112 kulturelles Erbe 8, 460, 520, 923, 1082, 1114 - multikulturelles Erbe 12 kulturelles Erbe-Klauseln 10 f., 32, 45, 98 ff., 371, 376 f., 453, 604 f., 924, 968 kulturelles Patrimonium 377, 983 Kulturförderungsklausel 790 Kulturgüterschutz 1106 ff. - als weltbürgerliche Aufgabe 1112 Kulturklausel 1070 Kulturkonzept, offenes 18, 19, 20, 26 f., 774, 778, 793, 827 Kulturpessimismus 174 Kulturpolitik 3 Kulturrecht 27 Kulturschutz 593 Kulturstaaten 8 - Weltgemeinschaft der Κ. 1124 f.
Kulturstaatsklausel 158 - für das GG 23 ff., 798, 1165 Kulturverfassungsrecht 1, 5, 7 ff, 490, 673 - als soft law 5 - kommunales 9 - korporatives 676 - objektiv-institutionelles 9 - teilhaberechtliches 9 - Vielfalt der Kulturverfassungsnormen 8 f. Kulturverständnis, pluralistisches 18 Kulturverwaltungsrecht 2 Kulturwerte 175 Kulturwissenschaft 1, 578 ff. - Hintergründe ihrer Vernachlässigung 581 ff. - Vorbehalte zur Wissenschaftlichkeit 584 ff. kulturwissenschaftlicher Ansatz 588 ff, 607 ff. - Grenzen 1063 ff. Kunstbegriff - erweiterter 22 Kunstfreiheit 2, 697 f. Kwazulu Natal, Verfassung (1996) 102, 218, 297, 333, 352, 547, 693, 714, 723, 841, 964, 1052 - Präambel 656, 956 Law - constitutional law in public action 120, 330 - hard law 594 - in action 303, 786 - in public action 343, 527 - in the books 343, 786 - soft law 201, 594, 604 f., 938, 1121 Lettland, Verfassung (1991) 691 Liechtenstein - Verfassung (1921/89) 41, 1005, 1009 - Vorbildfunktion für Kleinstaaten 83 life, liberty, estate (Lockesche Trias) 644
1178
Sachregister
Litauen, Verfassung (1992) 219, 271, 655, 660, 691, 741, 838, 865, 1026, 1116 Literatur und Literaten, im Verfassungsstaat 500 ff. - Aufklärung 507, 509 - Bedeutung für Reformvorgänge in Osteuropa 511,887, 945 - engagierte Literatur 504 - Literaturgattungen 534 ff. - radikaldemokratische 509 - Romantik 509 - schöne Literatur 504 ff. - Staatssymbole, Bedeutung 985 ff. - Vormärz 509 Lüthurteil (BVerfG) 582 Luxemburg, Verfassung (1868/1996) 272, 633, 718, 1004, 1009, 1010, 1011 Maastricht-Vertrag (1992) 425, 447 ff., 1069 ff., 1087, 1118 Madagaskar, Verfassung (1995) 652, 1115 Malawi, Verfassung (1994) 332, 840, 863 Malediven, Verfassung (1968/75) 49, 56 Mali, Verfassung (1992) 637, 1045 Malta, Verfassung (1964/92) 41, 59, 275, 339 Markt - Grenzen 892 ff. - Verfassungstheorie des M. 879 ff. - M. in kulturwissenschaftlicher Sicht 880 ff. ~ M. und Staatsphilosophie 884 ff. Marktwirtschaft - offene 1091 - soziale M. als dritter Weg 894 f. - soziale M. als Verfassungsziel 895 ff. - und Demokratie 890 ff. Marokko, Verfassung (1972/80) 271, 960, 961 Mazedonien, Verfassung (1991) 265
Mecklenburg-Strelitz, Verfassung (1919/23) 678 Mecklenburg-Vorpommern - Verfassung (1947) 972 - Verfassungsentwurf (1990) 603, 1025 - Verfassung (1993) 604, 609, 658, 667, 847, 857, 964, 972, 1025, 1088 - Präambel 710, 937 Menschenrechte 715 ff., 1137 ff. - als Bestandteile allgemeiner Bekenntnisklauseln 717 f., 931 f. - als Bildungsziel 593 - als Erziehungsziele 720 f. - als Staatsaufgabe 724 - als universale Zivilreligion 18 - und Bürgerrechte, Unterscheidung 724 ff. Menschenrechtsentwicklungsklausel 723 Menschenrechtserziehung 14 Menschenrechtskultur 38 Menschenrechtspolitik 721 f. Menschenrechtsschutz 722 f. Menschenwürde 28, 401, 699 f., 953, 1037, 1137 ff. - als kulturanthropologische Prämisse 37,350, 620, 623 f., 1017, 1034 - als materiales Gerechtigkeitselement 1047 - Identitätskonzepte 700 f. - im kulturellen Wandel 704 f. - Objekt-Formel (G. Dürig) 746 - und Du-Bezug 704 - Zusammenhang von M. und Demokratie 705 ff. - M. als Grundrecht auf Demokratie 708 ff. - klassisches Trennungsdenken 705 f. - bürgerorientierte Volkssouveränität 707 f. Menschenwürde-Klausel 361 Menschheit - Bezüge im Verfassungsstaat 1129 - Konstituierung aus Kultur 1164
Sachregister - kulturwissenschaftliche Erfassung 1151 ff. Menschheitsrecht 1159 ff. MERCOSUR (1991) 198 Methodenlehre 317, 328 Minderheiten - als staatsbildende Faktoren 1089 Minderheitenschutz 624 ff., 737 ff., 1089 Minderheitenschutz-Klauseln 625 Möglichkeitsdenken 558 ff., 761, 1164 - Begriff 560 ff. - Bestandsaufnahme 563 ff. - Grenzen 570 ff. - verfassungstheoretische Anforderungen 570 ff. - Verhältnis zu Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken 573 ff. Monaco, Verfassung (1962/86) 42, 50, 1006 Monarchien 1001 ff. - föderative 1018 - Grundlagen-Artikel 1004 ff. - Kompetenz-Artikel 1009 ff. - konstitutionelle Erbmonarchie 1012 - parlamentarische 1012 ff. - verfassungsstaatliche 1001 ff., 1012 ff. - Zukunftschancen 1018 f. Mongolei, Verfassung (1992) 271, 692, 1045 Mülheim-Kärlich-Beschluß (BVerfG) 681 Musik 512 ff. NAFTA (1995) 198 Namibia, Verfassung (1990) 339, 654, 659, 839, 840, 1022, 1052 - Präambel 840, 948 f., 1137 Naßauskiesung (BVerfG) 901, 903 Nationalstaat 79, 632 - Nation und Verfassungsstaat 624 f. Natur und Kultur 592, 598 - Kontextualität 609, 1123 f. Naturschutz 593 Nauru, Verfassung (1968) 43, 59
Nepal, Verfassung (1990) 1147 Neugliederung, Bundesgebiet, Art. 29 GG 797 ff. Nicaragua, Verfassung (1986) 327, 926, 1023, 1114 Niederlande - Verfassung (1815/1972) 639 - Verfassung (1983) 184, 359, 365, 637, 643, 658, 665, 860, 888, 1007 Niederösterreich, Verfassung (1979) 358 Niedersachsen, Verfassung (1993) 98, 941, 1049 Niger - Verfassung (1960) 208 - Verfassung (1992) 637, 963 - Verfassung (1996) 652 Nordrhein-Westfalen, Verfassung (1950) 593, 598, 676, 952, 967, 976 - Präambel 388 Norwegen, Verfassung (1814/1987) 606, 637, 1006, 1007, 1011 OAS (1970) 197 OAS-Satzung (1967), 19 OECD (1960) 197 öffentliche Verwaltung 664 öffentlicher Status des aktiven Bürgers 666 Öffentlichkeit(sprinzip) 99, 117 f., 661 ff. - europäische Öffentlichkeit 624, 1092 - kulturelle Öffentlichkeit 222 f., 226, 662 - normierende Kraft der Ö. 126 ff., 248 - pluralistische Öffentlichkeit 235, 247, 249, 988 - politische Öffentlichkeit 222 - und Verfassungsgerichtsbarkeit 131 Öffentlichkeitsoptimismus 128 Öffnungsklauseln 184 Ökonomisierung des Denkens 582, 588 Ombudsmann 349, 626, 722, 743, 1089 Oppositions-Artikel 347 Orientierungswerte 758 ff.
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Sachregister
Österreich, Bundesverfassungsgesetz (1920/73)354, 636, 654, 1091 Osteuropa 80 f., 219 f., 691, 963, 1053, 1115 - Verfassungsrichterwahl 264 Pakistan, Verfassung (1973) 960, 961 Paraguay, Verfassung (1992) 208, 1114, 1115, 1137, 1144 Parlamentsgesetze 300 ff. - und grundrechtliche Freiheit 309 f. - zeitoffene Interpretation 308 f. - Zukunftsoffenheit 310 f. Parteienartikel 352, 354, 462 Parteiprogramme 345, 438 ff., 607, 1028 ff., 1136 Paulskirchenverfassung (1849) 615, 675, 684, 752,913, 1100 Peru, Verfassung (a.F. 1979) 16, 186, 304, 325 f., 348, 377, 456, 471, 635, 642, 658, 718, 721, 735, 737, 759, 805, 1043, 1113, 1148 - Präambel 717 f., 874, 924, 1138 Philippinen - Verfassung (1940) 636 - Verfassung (1986) 267, 636, 840, 863, 1045 - Präambel 517 Pluralismus - verfaßter 139 ff. - Art. 5 GG als Kernstück 139 - Entwicklungsbedürftigkeit 148 ff. - Toleranzgrenzen 148 Pluralismus-Klauseln 18 f., 132, 690, 692 - in Osteuropa 151 Pluralismus-Konzept 134 ff. Pluralismuspolitik 133 pluralistische Repräsentation 138 Polen 986 - Verfassungsentwurf ( 1990) 864 - Verfassungsentwurf Sejm (1991) 305, 329 f. - Verfassungsentwurf Senat ( 1991 ) 864
- Verfassungsentwurf Solidarität (1994) 714, 864 - Verfassung (1997) 330, 384, 604, 652, 714, 865, 892, 963, 965, 1077, 1091 - Präambel 388, 517, 605, 948 politische Kultur 260 Portugal, Verfassung (1976/92) 55, 61, 208, 324, 365, 377, 381, 490 f., 604, 636, 638, 642, 644, 651, 658, 689, 707, 712, 713, 720, 722, 723, 860, 897, 962, 1023, 1043, 1088, 1112, 1143 - Präambel 388 postkommunistische Staaten, Verfassungen 329 ff. Präambeln 40, 54, 351, 468 f., 920 ff. - als Grundlegung und Bekenntnis 927 ff. - als Leitmotiv der Verfassung 936 - als Quintessenz der Verfassung 940, 943 - Änderungen ohne Verfassunggebung? 938 ff. - Brückenfunktion in der Zeit 929 f. - Entwicklungen 944 ff. - Feiertagssprache 366, 468 - generationenorientierte 102 - Gottesbezug 947 f., 950 - im Geiste-Klauseln 375, 935, 942 - Interpretationsfragen 933 ff. - kleinstaatliche Präambelkultur 54 - Konkordanzen zu anderen Verfassungsnormen 931 ff. - neue Themen 653 - normative Bindungswirkung 936 ff. - spezifische Präambelinhalte 364 - Vorwegnahme von Grundrechten 388 preferred-freedoms-doctrine 254, 262 Preußen, Verfassung (1850) 1009 Prinzip Hoffnung 519, 561, 1103, 1158 Prinzip Verantwortung 519, 882, 1103, 1158 Privatheitsschutz 657 ff. Privatschulfreiheit 7
Sachregister Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft, gemeineuropäische 465 Produktions- und Rezeptionsvorgänge (siehe auch Rechtsrezeptionen) 632, 1163 property rights 899 ff. - Theorie der Verfügungsrechte 906 ff. Quatar, Verfassung (1972) 50, 56 Radbruch" sehe Trias 1048 Raum - geographischer R. 75 - Mehrdimensionalität des R. 78 - sozialer R. 75 - Verfassungstheorie des R. 74 ff. Rechtschreibreform 156, 555 Rechtskreiselehre 1076, 1078 Rechtsprechung, Unabhängigkeit 1076 f. Rechtsprechungsrezeptionen 477 Rechtsquellen - Begriff 302 f. - Europäisierung der R. 340 - neue R. 338 - Offenheit und Pluralität 337 f. - Probleme im Verfassungsstaat 320 ff. - wechselseitige Einflüsse der R. 339 f. Rechtsquellen-Artikel 53 Rechtsquellenlehre - Stufenbau der Rechtsordnung 302 f., 327, 329, 337, 339 - Neuorientierung im kooperativen Verfassungsstaat 210 f. Rechtsquellenmonopol, etatistisches 210, 340, 462 f. Rechtsquellenprobleme 472 ff. Rechtsrezeptionen (siehe auch kulturelle Rezeptionen) 459 ff. - als schöpferische Re-Produktion 461 ff. - Bedingungen 461 - Formen - Interpretationsrezeption 477 ~ Konkurrenzrezeption 476, 478
~ Mehrfachrezeptionen 465 ff. ~ Spätrezeption 475 - Sprungrezeption 471, 759 - Überkreuzrezeptionen 465 ff. - Gegenstände 467 ff. - Grenzen 480 - Verfahren 465 ff. Rechtsschutz 174 Rechtsvergleichung 264 - als fünfte Auslegungsmethode 166, 228, 340, 1059 - als Kulturvergleichung 463 f. - im Raum 165 ff. - innerbundesstaatliche 785 f. - in derZeit 164 f. Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft 585 f. Region - konstitutioneller Selbststand 811 f. Regionalismus 433, 474 - als Strukturprinzip des Verfassungsstaates 626 - Analogiemöglichkeiten zum Föderalismus 810 f. - Europaebene 812 ff. - grenzüberschreitender 629, 809 - in kulturwissenschaftlicher Sicht 803 ff. - kooperativer 166, 475, 814 - Kulturregionalismus 803 - Legitimationsgründe 809 f. - Staatsgebietsrelevanz 641 f. Regionalismus-Klauseln 1088 Religionsfreiheit 964, 1077 Religionsverfassungsrecht 360, 675, 684, 952, 958 f., 961 ff., 989 - als spezielles Kulturverfassungsrecht 8, 22, 464, 965, 1071 - Nähe zwischen Staat und Kirche 963 f. - in Europa 1071 - religionsverfassungsrechtliche Themenliste 964 ff. - systematische Plazierung 962 f.
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Sachregister
Republik 999 ff. Republik-Klausel 279, 999 republikanische Bereichstrias 621, 652, 656 ff. Ressourcen-Artikel 47, 49, 62 Revisions-Artikel 48 Rezeptionstheorie, juristische 464 ff. Rezeptionstypologie (siehe auch Rechtsrezeptionen) 475 ff. Rheinland-Pfalz, Verfassung (1947) 383, 593, 676, 762, 774, 844, 958, 967, 977, 989 - Vorspruch 928 Richterrecht 308, 311 Rumänien, Verfassung (1991) 692, 865, 1053 Runder Tisch 31, 82, 614, 621 Russische Föderation - Verfassungsentwurf ( 1991 ) 468 - Verfassung (1993) 332, 468, 692, 839, 1138 Rußland, Staatsgrundgesetz (1906) 634, 659 Saarland, Verfassung (1947) 593, 642, 644, 676, 774, 989, 1088, 1148 - Präambel 938 Sachsen - Verfassung (1831) 1008 - Verfassung (1992) 99, 384, 600, 603, 609, 625, 656, 711, 910, 1026, 1140 - Präambel 929, 953 Sachsen-Anhalt - Verfassung (1947) 972 - Verfassung (1992) 598, 603, 604, 739, 774, 847, 857, 965, 972, 1026, 1137, 1142 - Präambel 953 Salvador, Verfassung (1983) 1115 Schleswig-Holstein, Verfassung (1990) 625, 739, 1050 Schöpfung 157 - Kultur als zweite S. 727, 1124, 1164
Schweden, Verfassung (1975/80) 350, 665,711 f., 714, 1006 Schweiz - Bundesverfassung (1874) 633 - Privatentwurf Kölz/Müller (1983) 413, 524, 603, 847, 944, 1145 - Privatentwurf A. Muschg (1977) 942 - Verfassungsentwurf Bundesrat (1995) 1145 Selbstverständnis - des Verfassunggebers 374 - Relevanz für Verfassungsinterpretation (siehe auch Grundrechte) 232, 258, 396 f., 1053 - offene 572 Senegal, Verfassung (1963/84) 12, 927 Serbien, Verfassung (1990) 1116 Seyschellen, Verfassung (1979) 42, 50 f., 56 Singapur, Verfassung (1992) 1147 Slowakische Republik, Verfassung (1992) 185, 265, 655, 691, 718, 839, 865, 963, 1053 - Präambel 605, 945 Slowenien, Verfassung (1991) 331, 655, 838, 1116 Solomon Inseln, Verfassung (1978) 41, 44 Solothurn, Kantonsverfassung (1985) 300 Sondervoten 104 ff., 129, 666, 1064, 1079 - als Alternativiudikatur 221, 319, 531 - prospektive 105 - retrospektive 106 Sonntag(skultur) im Verfassungsstaat 987 ff. - institutionelle Garantie 988 f. - kulturelles Teilhaberecht 994 - Menschenwürdebezug 989, 995 - säkulares Sonntagsverständnis 994 soziale Erbschaft 3, 4 Sozialstaatsprinzip 520
Sachregister Spanien, Verfassung (1978) 61, 184, 304, 350, 389, 393, 473, 635, 642, 651, 658, 666, 690, 721, 728, 805, 859, 888, 962, 1006, 1007, 1011, 1023, 1112 - Präambel 102,388, 1143 Sprache - als Kulturgut 155, 616 - Sprachebenen 555 f. ~ Fachsprache 555 f. - Feiertagssprache 555 -- Umgangssprache 555 - Sprache und Recht 553 Sprachen-Artikel 12 f., 623 Sprachenfreiheit 155, 744 ff. Staatenverbund der EU (BVerfG) 195, 1096 Staatlichkeit, offene 163 Staatsangehörigkeit 645 f. Staatsaufgaben 649, 724, 815 ff., 831 ff. Staatsbegriff - herkömmlicher (Dreielementenlehre) 39, 55, 77, 85,612, 622 f. - viertes Element Kultur 85, 612, 616, 620 ff., 1119 - Verhältnis von Staat und Verfassung 620 ff. Staatsbürgerschaft 616, 1097 - Normierungen in Verfassungen 58 ff. - menschenrechtliche Fundierung 61 Staatsgebiet 86, 631 ff. - als Verfassungswert 647 - Konstitutionalisierung im Verfassungsstaat 646 ff. - als Staatsaufgabe 648 f. ~ Grundrechtsbezüge 647 f. Staatsgebiets-Klauseln 54 ff., 641 - Symbolwert 637, 639 - Struktur 636 ff. Staatsgebietsänderungen 637 ff. - Beitrittsklauseln 640 - Parlamentsvorbehalte 639 f. - Verfassungsverbote 637 f. - Verfassungsvorbehalte 638 f.
Staatsideologie - Anti-Staatsideologie-Klauseln 89 Staatskirchenrecht siehe Religionsverfassungsrecht Staatsrechtslehre - als Wissenschaft und Literatur 521 ff. - monarchistische Befangenheit 1005 - spanische 1106 Staatsrechtslehrerreferate (VDStRL) 528, 538 Staatssymbole 162, 549, 633 ff., 650 - im Kontext der Textstufenentwicklung 652 ff., 689 ff., 716, 741, 887 ff. Staatsziele 470 Stadtstaaten 67, 78, 79, 800 status activus processualis siehe Grundrechte status civilis 725 status civilis culturalis 897 status corporativus 445, 669 ff, 737 ff., 965 status culturalis 85, 697 status mundialis hominis 724 ff, 1112 status naturalis 725, 727 Stückwerk-Reform 460, 519 f. Stufenbau der Rechtsordnung siehe Rechtsquellenlehre Subsidiaritätsprinzip - Gerechtigkeitsgehalt 443 - grundrechts- und gesellschaftsvertragstheoretischer Ansatz 442 f. - katholische Soziallehre 436 ff, 442 - kulturelle Entwicklungsgeschichte 417 ff. - Inkubationsprozesse 435 ~ Literatur- und Textgeschichte 422 ff. - Mehrschichtigkeit 446 f. - Stufen- und Aufgabendenken 445 - und Demokratie 436 - und Föderalismus 432 f. - und Grundrechtsgarantien 429 ff. - und kommunale Selbstverwaltung 434 f.
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Sachregister
- und Maastricht siehe MaastrichtVertrag - und Regionalismus 433 Südafrika 1092 - Verfassung (1961) 941 - Übergangsverfassung (1993) 332 f., 1058 - Verfassung (1996/97) 217, 333, 552 604, 659, 692, 714, 718, 720, 841, 863, 1052 - Präambel 949 Südkorea, Verfassung (1987) 1045 Surinam, Verfassung (1987) 57 Symbol-Artikel 72, 372 ff. Systemtheorie (T. Parsons) 587 Tessin, Verfassungsentwurf (1995) 287, 945 Textstufenanalyse, vergleichende 265, 321, 342 ff., 421, 602, 1003, 1087, 1107, 1135 Textstufenentwicklung 14 f., 206, 219, 287, 632, 653 ff., 658, 733 f. Thüringen - Verfassung (1946) 972 - Privatentwurf Riege (Mai 1990) 1025 - Verfassungsentwurf (Aug. 1990) 1025 - Verfassung (1993) 94, 566, 588, 600, 608, 623, 879, 965, 1110, 1140, 1142 - Präambel 947, 950, 953 Tirol - Verfassung (1953/1980) 355 - Präambel 367 - Landesordnung (1989) 423 Toleranzgedanke 508, 594, 705, 760, 763, 824, 952, 955, 973, 1077 Totalrevision (insbes. Schweiz) 111, 292, 296, 550, 741, 787, 940 Transformationswissenschaft 153, 479, 1057 Trinidad und Tobago, Verfassung (1976) 48, 57 Trust-Lehre (J. Locke) 437 Tschad, Verfassung (1996) 652, 963
Tschechische Republik, Verfassung (1992) 183, 331 f., 692, 714 f., 718, 728, 839, 1088, 1116 - Präambel 605, 839, 947, 1138 Türkei - Verfassung (1961/73) 634, 719, 921 - Verfassung (1982) 324, 638, 861, 1023, 1046 Turkmenistan, Verfassung (1992) 332, 655, 660, 838, 865, 888, 1053 - Präambel 946 Tuvalu, Verfassung (1986) 42, 46, 56, 328 Übergangs- und Schlußbestimmungen 1048 ff. Uganda, Verfassung (1995) 656, 840, 863, 1045 Ukraine 1168 - Verfassungsentwurf ( 1992) 1139 - Verfassungsentwurf (1995) 1139 - Verfassung (1996) 102, 218, 491, 653, 655, 660, 692, 714, 737, 840, 865, 887, 1022, 1026, 1054, 1117 - Präambel 468 Umweltrecht 1135, 1145 Umweltschutz - als Reformthema des Verfassungsstaates 170 f. - im Atomzeitalter 596 ff. - in Präambeln 945 - Staatsziel 602 Umweltschutzklauseln 157 f., 1142 UNCTAD I (1964) 200 UNESCO - Satzung (1945) 1046, 1130 - Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes (1972) 1109, 1122, 1125, 1139 Ungarn, Verfassung (1949/89) 887, 986, 1091, 1146 Universalismus 157 Uri, Kantonsverfassung (1984) 300 USA, Verfassung (1787) 606
Sachregister Utopiequantum des Verfassungsstaates 405, 455, 500 ff., 518 ff., 705, 930 - negatives 518 - positives 518 Vanuatou, Verfassung (1980) 41, 51 f., 56 Venezuela, Verfassung (1961) 638, 942 Verantwortungsgemeinschaften 1158 f. Verbände 669 ff. - als Verfassungsproblem 687 ff. Vereinte Nationen - Charta (1945) 191 ff. - Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten (1974) 201 - Rio-Erklärung (1992) 203 Verfassung - als Anregung und Schranke 405, 1065 - als Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes 405, 591, 769, 1095, 1122 f. - als Erziehungsziel 1050, 1051 - als kultureller Generationenvertrag 594 ff., 1020, 1024, 1039 - als Norm und Aufgabe 370, 489 - als öffentlicher Prozeß 95 - als Kulturzustand 292, 704 - als Rahmenordnung 397 - als Vertrag 596, 621, 764 f. - Begriff 118 ff., 256, 488 - Anbindung an Tradition und Herkommen 98 ff. - Geist der V. 29,331 ~ Geist der Verfassung-Klausel 280 - gemischtes Verfassungsverständnis siehe Verfassungsverständnis - Grundkonsens 310, 557 - Grundordnungscharakter 298 f., 399 - kulturelle Kristallisationen 87, 503, 1065 - Nebenverfassungsgesetz 348 - Offenheit 135 - Symbolcharakter 121
- Trennungsdogma Staat/Gesellschaft 256, 620 - verfassungsstaatliche V., Themen 694 ff. Verfassung des Pluralismus 87, 137 ff, 489, 532, 624 ff., 692, 760 f., 824, 1094 - Grundierung durch Werte 591 Verfassunggebung 283 ff. - als pluralistischer Vorgang 296 ff. - Kontinua 286 f. Verfassungsänderung 110 f. - Grenzen 267 ff. Verfassungsauftrag 575 f. Verfassungsdebatte des BT (1974) 236 Verfassungsentwicklung - durch kulturelle Kristallisationen 221 ff. - Funktionsebenen 225 ff. - Relativierung des Fortschrittsdenkens 355 ff. - sachlich-gegenständliche und personale Vielfalt 318 ff. Verfassungsentwürfe, hohe Relevanz 412 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit - Funktionen 261 - Kompetenzen 265 f. - Rezeptionen 474 - Richterwahl 263 ff. - öffentliches Hearing der Kandidaten 263 - Sondervoten (siehe auch Sondervotum) 266 f. Verfassungsinterpretation 103 f., 1164 - als öffentlicher Prozeß 117 ff. - Begriff 229 ff. - erfahrungswissenschaftlicher Ansatz 135 ff. - ganzheitliche 46, 329 - Intensität richterlicher Kontrolle 248 ff. - kulturspezifische 227 f. - Neuorientierung im kooperativen Verfassungsstaat 210 f.
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Sachregister
- pädagogische 497, 758, 768 ff. - pluralistische 121 - Politik als V. 236 - und Öffentlichkeit 129 f. Verfassungsinterpretationsverbund 218 Verfassungsinterpreten 118 ff. - geschlossene Gesellschaft der V. 229, 519 - Gesetzgeber als V. 237 - offene Gesellschaft der V. 228 ff., 258, 933, 1091, 1163 - internationale Dimension 533 f. - Interpretationsbegriff 229 ff. Verfassungsklarheit 177 Verfassungskultur 10, 90 ff., 490, 981 ff, 1069, 1164 - Zeit und V. 93 ff., 613 f. Verfassungslehre - als Erfahrungswissenschaft 460 f. - als juristische Text- und Kulturwissenschaft 40, 343, 578 ff, 660, 778, 877, 1163 - als Literatur 521 ff, 1105 - als vergleichende Kulturwissenschaft 161 f., 518 - Notwendigkeit 1060 ff. - als „Sekundärliteratur" 185 - des Kulturgüterschutzes 1120 ff. Verfassungsnormen - korporative Dimensionen 675 ff. - mit Auslandsbezug 642 f. Verfassungspädagogik 761 ff. Verfassungspatriotismus 162, 973, 1094 Verfassungspolitik 294, 398, 546 ff. - in Sachen Alter 1041 ff. - in Sachen Präambeln 940 ff. - in Sachen Rechtsquellen 341 f. - in Sachen Staatsgebiet 650 f. - in Sachen Übergangsbestimmungen 1059 f. - in Sachen Verbände 689 ff. - in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit 261 ff.
- in Sachen Verfassungssprache 552 ff. Verfassungsprozeßrecht 250 ff. Verfassungsrecht - gemeines 784 ff. - gemeineuropäisches siehe gemeineuropäisches Verfassungsrecht - kulturelle Grundierung 83 ff. - ungeschriebenes 123 Verfassungsrechtswissenschaft - als informelles Medium 524 f. - als Norm- und Wirklichkeitswissenschaft 242 Verfassungsreform - Bedarf 546 ff. - Typologie der Reformprozesse 551 - Verfahren 1100 f. Verfassungssprache 552 ff. Verfassungsstaat - als offenes Projekt 172 - als Heimstatt aller Bürger 1021 - annus mirabilis (1989) 167 - Begriff 178 f. - entwicklungsgeschichtlich 152 ff. - Dimensionen Zeit und Raum 164 ff. - Europäisierung 627 ff., 1018 - Internationale des V. 533 - (irrationale) Konsensquellen 162, 364, 981 - Grundlagen, klassisches Trennungsdenken 705 f. - kooperativer V. 69, 175 ff., 304, 533, 627, 720 - Grenzen und Gefährdungen 189 f. - vom Nationalstaat zum k. V. 206 ff. - Reformpolitik 167 ff. - Frühwarnsysteme 168 - Selbstverständnis 967 - Staatliches im V. 667 f. - Strukturelemente 159 ff. - Typus demokratischer V. 1, 28 ff., 346, 406, 519, 716, 808, 1012 ff., 1062 - Weltstunde des V. 152 Verfassungstexte
Sachregister - als Literatur 633, 1168 - Artenreichtum und Vielschichtigkeit 362 ff. - dogmatische Vielfalt 368 ff. ~ sprachliche Vielfalt 364 ff. - bloc des textes incontestables 408 - Ermächtigungs- und Grenzziehungsmodell 369 f. - Funktionenvielfalt 399 ff. - Funktion für ratio und emotio 401 f., 1094 - Verarbeitung der Zeit 403 ff. ~ Schaffung von Grundkonsens und Pluralität 405 f. ~ Schrankenziehung 407 - Wirklichkeitsbezug 407 f. - Grundwertemodell 370 ff. - Offenheit der Themenliste 408 ff. Verfassungstheorie 397 - Aufgaben 253 ff. - der Familie 492 Verfassungstreue 761 Verfassungsvergleichung 136, 563, 765 ff. - als fünfte Auslegungsmethode 312 ff, 729 -als Kulturwissenschaft 1163 - innerdeutsche 766 f. - kulturelle 312 ff, 585 Verfassungsverständnis - anthropozentrisches 400 f. - dynamisches 101 - Erweiterung um kulturwiss. Dimension 1163 - gemischtes 136, 342 ff, 381, 457, 883, 1094 Verfassungswandel - kraft Verfassungsinterpretation 103 f , 237 Verfassungswirklichkeit 352 Verwaltungskultur 90 Virginia Bill of Rights (1776) 369, 717, 725
Volk, Begriff 616 Völkerbundsatzung (1919) 191 Völkerrecht - als ein Stück Menschheitsrecht 1159 ff. - Entwicklungsvorgänge 162 f. - humanitäres 198 ff. - kooperatives 179, 191 ff. ~ regionale Formen 194 ff. - soziales 198 ff. Völkerrechtsfreundlichkeit 331 Völkerrechtsoffenheit in Verfassungstexten 206 ff. Völkerversöhnung 1141 Völkerverständigung 970 f. Volksbefragung, konsultative 349, 714 Vorarlberg, Verfassung (1984) 358, 373, 423, 965 Vorrang der Verfassung 473 Vorrang-Klauseln 372 ff, 718 f. Vorverständnis-Diskussion 124, 1061 Vorwirkung von Gesetzen 108 f. Wahlverwandtschafts-Artikel 184 f. Wahrheitskommission 517 Wahrheitspostulat 653 Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat 517, 630 f. Wahrheitssuche, durch ein Gericht 517 Warteschleifenurteil (BVerfG) 1057 Weimarer Reichsverfassung (1919) 471, 598, 634, 647, 675, 759, 978, 983, 987, 1141 Weißrußland 1168 - Verfassungsentwurf (1994) 219, 660, 1026, 1054 - Präambel 947 Weltbild des Verfassungsstaates 1132 ff. Weltfriedensklauseln 1140 f. Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten 1157 f. Weltgesellschaftsvertrag in Sachen Kultur und Natur 1125 f. Welthandelssystem 198 ff.
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Sachregister
werthierarchische Methode 1 Wesensgehaltgarantie 297, 352 - Art. 19 Abs. 2 GG 466 - kulturelle 793 West Samoa, Verfassung (1960) 42, 56 Wiedervereinigung, deutsche 790 f. Wiener Schlußakte (1820) 1008 Wiener Vertragsrechtskonvention (1969) 193 Wirtschaftsethik 875 Wirtschaftsverfassungsrecht 873 ff. Wissenschaft 2 wissenschaftliche Vorratspolitik 178, 548, 1019
Württemberg, Verfassung (1819) 643 Württemberg-Hohenzollern, Verfassung (1947) 636, 977 Zaire, Verfassung (1967) 208 Zeit -als kulturelle Kategorie 111 ff. - und Verfassung 93 ff. Zensur (Kunst und Presse) 510 Zukunfts- und Fortschrittsklauseln 102 Zwergstaaten 37