216 89 8MB
German Pages 310 [312] Year 1967
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler
Band 8
HANS-PETER BAYERDÖRFER
Poetik als sprachtheoretisches Problem
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1967
Gedruckt mit Unterstützung des Kultusministeriums Baden-Württemberg © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1967 Satz und Drude: Bücherdruck Wenzlaff KG, Kempten Einband von Heinr. Kodi Tübingen
INHALT
EINLEITUNG
ι
Fragestellung und Methode
ι
1.1 Ausgangspunkt: Ein Aspekt der heutigen Literaturwissenschaft
. . .
ι
1.2 T h e m a f r a g e : Die methodische Bedeutung des Sprachverständnisses für die Poetik
j
1.3 M e t h o d e : Korrelation spraditheoretisdier und poetologischer Fragen .
Erster T e i l : P R O B L E M E IM Z E I C H E N
2
DER
DER
9
SPRACHTHEORIE
POETIK
Langue und Parole
11
2.1 Distinktionen
11
2.2 Erste Sätze über die Langue
13
2.3 Probleme
17
3
23
Das diachronische Problem der Langue
3.1 Verschiedene Ebenen geschichtlicher Spradibetrachtung
23
3.2 D i e Sprache als „symbolische Form"
24
3.3 A s p e k t e der Sprachentwicklung
30
4
33
Das syndironische Problem der Langue
4.1 Semantik und Intentionalität
33
4.2 Modifikationen der Bedeutungsstruktur
37
4.3 Semantik und literarisches Werk
40
î
42
Das semantische Problem der Parole
j . i Formale und hermeneutisdie Logik
42
J.2 Semantik der Parole
43
J.3 Parole und Sprachsituation
j2
6
$5
Langue und Parole in „dialogischer" Sicht
6.1 D a s Dialogische und das Gemeinschaftliche 6.1 Sprachereignis und dichterisches Werk
jj 60
V
7 7.1 7.2 7.3
Langue und Parole in soziologischer Sicht Gewohnheit und Norm Schichten innerhalb der Langue Sprache und Sprachgemeinschaft
63 63 68 69
8 8.1 8.2 8.3
Die gemeinsame Wurzel von Langue und Parole Sprachwurzeln aus anthropologischer Perspektive Denken und Phantasie Sprachverhalten und Sprachsituation
72 72 77 80
9
Die aktuale Vermittlung von Langue und Parole in der Spradhisituation Semantisdie Grundrelationen am „Organonmodell" Modifikationen im gesellschaftlichen Horizont Momente des dialektischen Umschlags Innere Dialektik Dialektik und Einheit Sprachsituation und Sprache
83 83 86 89 91 93 98
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Zweiter Teil: P R O B L E M E DER
DER POETIK
IM
ZEICHEN
SPRACHTHEORIE
10 10.1 10.2 10.3
Sprachsituation und Dichtung Die Transparenz der Sprachsituation für die Sprache Der Modus der Erscheinung der Sprache in der Dichtung Abwandlungen der semantischen Grundrelationen
101 101 ioj 109
11
Selbsterweis und Selbstverweis der Sprache: Bedingung und Gefährdung dichterischer Rede Zonen des Übergangs Intensität Komplexität Semantisdie Bindung Konvention und Tradition
117 117 118 121 124 127
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
131
12 Einheit und Einzelheit 12.1 Der Einheitsbegrifi in sprachtheoretischer und literaturwissenschaftlicher Sicht 12.2 Einheit als Sprachbewegung 12.3 Komprimierung und Exposition
131 136 139
13 13.ι 13.2 13.3
144 144 147 152
VI
Spannung und Entspannung Materialer und syntagmatischer Wert Sinnspannung und Lautspannung Satzspannung und Syntax
13.4 13.J 13.6 13.7
Syntaktische Figuren Syntaktisdie Bezüge und Stellungsbezüge Stellung und Lautwert Satzspannung und Zeitlichkeit
166 171 17 j 182
14
Intention und Rezeption
191
14.ι 14.2 14.3 14.4 14.5
Bedeutung und Bezeichnung Entgrenzung und Begrenzung Erwartung und Erfüllung Sprache und Emotion Sprache und Sprachbewußtsein
191 196 201 208 210
15
Mehrschichtigkeit und Einlinigkeit
214
15.ι IJ.2 15.3 15.4 IJ.5
Erweiterung und Verengung Kontrastierung: Wortspiel, Paradox, Ironie Konzentration: Metaphorik Latenz: Ausdrüddichkeit und Unausdrücklichkeit Prägnanz: Terminus und Begriff
214 216 223 237 243
16
Sprache und Gesellschaft
2J9
16.1 Gesellschaft und Sprachkonvention 16.2 Sprachschichten und Literaturspradie
259 274
SCHLUSS 17 17.1 17.2 17.3
Überlegungen zum Standort der Poetik als Wissenschaft Der systematische Ort Das methodische Postulat Der historische Ort LITERATURVERZEICHNIS
. . .
292 292 294 29J 298
VII
EINLEITUNG
ι
Fragestellung und Methode
i . i Ausgangspunkt: Ein Aspekt der heutigen Literaturwissenschaft i.i.i
Bei der Beschäftigung mit Studien zur Literatur des 20. Jahrhun-
derts, die im Laufe der fünfziger Jahre entstanden sind, stößt man auf ein W e r k m i t dem Titel ,Das Wagnis der Sprache'. 1 Es u m f a ß t z w ö l f I n t e r pretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn', welche den „Ehrgeiz" haben, „eine Poetik der künstlerischen Prosa seit Nietzsche zu implizieren". 2 D e r Titel entspringt der f ü r die Interpretationen maßgebenden Einsicht, daß sich das Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache seit der Wende z u m 20. Jahrhundert gegenüber früheren Epochen entscheidend gewandelt hat. Das N e u e der Literatur dieser Zeit liegt nicht nur in neuen Inhalten, Stoffen und Fragen, sondern mehr nodi . . . in der völlig gewandelten, je eigenen und prinzipiell neuen Struktur der Darbietungsformen, in der Spiegelung und Gestaltung durch die künstlerische Sprache... Damit wird gerade die Sprache zu dem dringlichsten Anliegen des Schriftstellers seit Nietzsche, sieht er sich doch in zwingender Weise vor das Problem des richtigen Wortes gestellt, das nicht mehr aus der Tradition vorgegeben ist, sondern jeweils auf eigene Weise den Versuch unternehmen muß, eine neue andersartige Wirklichkeitserfahrung adäquat auszusagen.3 Dieses in früheren Epochen, zumal in der Romantik präludierend gestreifte Problem vertieft sich im 20. Jahrhundert und führt dazu, daß die dichterische Prosa selbst z u m Experimentierfeld wird, in dem sich die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache überprüfen lassen. D i e Entwicklung der modernen Literatur kann daher nicht zureichend mittels geistes-, stil- und Stoff geschichtlicher, ästhetischer und soziologischer Kategorien - so M a r tini - beschrieben werden, es sei denn, es werde zuerst verstanden, „ . . . was sich seit Nietzsche in der deutschen Dichtung aus ihrem Material und ihrer Substanz, das heißt, aus ihrer Sprache und v o n deren AusdrucksmöglichFritz Martini, Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn. 4. Aufl. 1961. 2 3 F. Martini, Wagnis. S. j. F. Martini, Wagnis. S. 2. 1
ι
keiten her, vollzogen hat und was in ihr als Sprache und Form neu geschaffen und geleistet wurde". 4 Dieses Neue hat im 20. Jahrhundert, da traditionelle Orientierungsmarken entfallen sind, den Charakter des „Wagnisses". 1 . 1 . 2 In diesen Sätzen Martinis steckt ein methodisches Postulat, das sich an die Literaturwissenschaft richtet. Diese hat allerdings seit längerem dem in der Literatur selbst aktuellen Problem der Sprache Rechnung getragen, indem sie ihrerseits die Sprache thematisierte und in den Mittelpunkt ihrer Methodenbesinnung stellte. Diese Ausrichtung verrät sich schon in der Terminologie. Seit O. Walzel ist das Signum „Wortkunstwerk" 5 zu einem Schlüsselbegriff der Literaturwissenschaft geworden. In der variierten Form von „Sprachkunstwerk" oder „sprachliches Kunstwerk" wurde der Begriff später - durchaus gegen die Intention seines Schöpfers - zum Aushängeschild der sogenannten „immanenten" oder „absoluten" Interpretation, das die Abkehr von allen historischen Fragestellungen und die Zuwendung zu der „autonomen" Sprachlichkeit des literarischen Werkes zum Ausdruck bringen sollte.® Freilich ließ sich damit - aufs Ganze gesehen - die geschichtliche Fragestellung nidit völlig eliminieren; K . M a y griff die Chiffre auf und verlangte seinerseits Literaturgeschichte als „Sprachkunstgeschichte".7 Dabei ist in der Art, wie der Begriff des Sprachkunstwerks heute aufgenommen wird, stets ein mehr oder weniger ausdrücklich gemachtes und eingestandenes Sprachverständnis im Spiele. Häufig wird bei der Verwendung des Terminus vorausgesetzt, daß man weiß, was „Sprache" ist, und daher auch wissen kann, was „Sprachkunstwerk" bedeutet. Eine ausdrückliche Darlegung, wie Sprache verstanden wird, unterbleibt in solchen Fällen. Rein empirische Spradierfahrung scheint diesen Autoren auszureichen. Andere begnügen sich damit, bestimmte Implikate ihres Begriffs vom Spradikunstwerk darzulegen, ohne auf einen allgemeinen Sprachbegriff zu rekurrieren. So nennt W.Kayser, der mit dem besagten Begriff seine ,Einführung in die Literaturwissenschaft' betitelt, zwei Charakteristika des sprachlichen Kunstwerks: „Das besondere Vermögen solcher literarischen Sprache, eine Gegenständlichkeit eigener Art hervorzurufen, und der Gefügecharakter 4
F . Martini, Wagnis. S. 2. Oskar Walzel, D a s Wortkunstwerk. 1 9 2 6 . 6 Eine eingehende A n a l y s e der Problematik des Begriffs „Sprachkunstwerk" gibt Gerhard Storz, Sprache und Diditung. 1 9 5 7 . S. 2 4 - 2 6 . 5
7
K u r t M a y , Ü b e r die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft. - Trivium. B d . j , 1 9 4 7 .
2
der Sprache, durch den alles in dem Werk Hervorgerufene zu einer Einheit wird." 8 Diese Kennzeichen schließen allerdings ein Sprachverständnis ein, das — obwohl nicht ausdrücklich genannt - auf R. Ingardens epochemachendes Buch ,Das literarische Kunstwerk' 9 zurückweist, wobei dieses wiederum sein Sprachverständnis auf der Grundlage von E. Husserls Phänomenologie entwickelt. 1.1.3 In ähnlicher Weise sehen sich andere Interpreten und litera turwissensdiaftliche Systematiker gezwungen, ihr Sprachverständnis zu überprüfen und auszuweisen, indem sie sich mehr oder weniger stark an Sprachphilosophie und Sprachtheorie anlehnen. So läßt - um nur einige weitere Autoren zu erwähnen — die Sprachreflexion von G. Storz 10 deutlich Anregungen von F. de Saussure und K . Bühler erkennen. K . Hamburgers ,Logik der Dichtung' 11 findet ihren sprachtheoretischen Angelpunkt in Bühlers Unterscheidung von sprachlichem Zeigfeld und sprachlichem Symbolfeld. 12 Die Sprachreflexion H . Seidlers 13 wird zwar weitgehend selbständig vorgetragen; doch zeigt sich sporadisch die Bezugnahme auf B. Liebrucks und - freilich in sehr allgemeiner Weise - die philosophische Anthropologie. 14 E. Staiger sichert seine im Anschluß an M. Heidegger ontologisch fundierte Gattungspoetik 15 durch den Verweis auf E. Cassirer sprachtheoretisch ab. F.Martini schließlich verlangt von der wissenschaftlichen Poetik den engen Kontakt mit der Sprachphilosophie generell.1® Diese kurze Zusammenstellung veranschaulicht die oben genannte Tendenz in der heutigen Literaturwissenschaft. Da das jeweils vorauszusetzende Sprachverständnis problematisch geworden ist, wird der Sprachbegriff durch Anleihen bei einzelnen Philosophen und Theoretikern abgesichert. Dabei fällt allerdings eine große Streubreite bezüglich der zitierten Autoritäten auf. Das Mißliche dieser Divergenzen ist, daß bei entgegengesetzten Auffassungen - beispielsweise denen von E. Staiger und K . Hamburger 8
W o l f g a n g Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Einführung in die Literaturwissenschaft. 6. Aufl. i960 (1. Aufl. 1948). S. 14. •
R o m a n Ingarden, Das literarische Kunstwerk. 2. Aufl. i960 ( 1 . Aufl. 1 9 3 1 ) . D e r Versuch, Dichtung „zuvörderst als sprachliche Prägung" zu verstehen, setzt einen „spezifisdie(n) Begriff von Sprache" voraus (G. Storz, Sprache und Dichtung. S. 23). 10
11
K ä t e Hamburger; Die Logik der Dichtung. 19 J 7 . K a r l Bühler, Sprachtheorie. 2. Aufl. 1 9 6 j ( 1 . Aufl. 1930). 13 Herbert Seidler, Die Dichtung. 1959. 14 H . Seidler, Dichtung. S. 23 und S. 2 j . E m i l Staiger, Grundbegriffe der Poetik. 4. Aufl. 1 9 J 9 (1. Aufl. 1946). 16 F r i t z Martini, Poetik. In: Deutsche Philologie im Aufriß. H g . von Wolfgang Stammler. 2. Aufl. Bd. I. 1 9 5 7 . S p . 2 2 5 . 12
3
hinsichtlich der Gattungslehre - audi der Rückgriff auf die Spraditheorie die Entscheidung nicht erleichtert, da sich die Autoren auf verschiedene Theorien berufen, ohne daß diese Berufung näher diskutiert oder begründet wird. Die Literaturwissenschaft ist zwar, was ihr Sprachverständnis betrifft, in Bewegung geraten und sucht den Kontakt mit der Sprachtheorie; doch ist sie bislang über die Anforderung von Hilfestellungen von Seiten einzelner Theoretiker oder einzelner Gesichtspunkte nicht hinausgegangen. Sie hat dem weiten Feld der Sprachtheorie und Sprachphilosophie an einzelnen Punkten Beachtung geschenkt, ohne jedoch dieses Feld in seinen Ausmaßen und seiner komplexen Schichtung abzuschreiten. 1.1.4 Die vorliegende Untersuchung leitet ihre Berechtigung aus dieser Situation ab; sie versteht sich innerhalb der geschilderten Fragestellung als Versuch, zu dieser kritischen Selbstüberprüfung von einer breiteren sprachtheoretischen Basis aus beizutragen. Eingrenzungen müssen allerdings vorgenommen werden. Der Versuch läßt sich nicht im freien Raum ohne jegliche Vororientierung durchführen - weder im Hinblick auf das kaum überblickbare Feld der Sprachtheorie, noch hinsichtlich der ebenso weitläufigen und verzweigten Problematik der Literaturwissenschaft. In beiden Blickrichtungen muß eingegrenzt und präzisiert werden. Dies ist zudem aus methodischen Gründen, die in der Struktur geisteswissenschaftlichen Erkennens gegeben sind, unumgänglich. N u r die gerichtete Fragestellung, die ein gewisses umschreibbares Ziel im Auge hat, läßt die Orientierung im Raum der Voraussetzungen und möglichen Ansätze zu. Indessen ist mit dem allgemeinen Problemhorizont auch der Punkt des Einstiegs in gewisser Weise nahegelegt. Überblickt man die oben veranschaulichte Tendenz innerhalb der Literaturwissenschaft, so weist sie in eine bestimmte Richtung. Sie zeichnet sich bereits in Martinis Interpretationen als Intention ab. D i e gegenwärtige Literaturwissenschaft nähert sich (als Reaktion auf allzu breit entfaltetes geschichtliches Denken) mit dem Schritt zur interpretierenden Strukturanalyse des einzelnen dichterischen Gebildes wiederum der Beschäftigung mit den solcher Strukturanalyse zugrundeliegenden generellen K a t e gorien und Formen, so daß w i r jetzt mitten in einer neuen Hinwendung zur Poetik stehen. 17
Die Poetik als systematische Wissenschaft, deren Gegenstand nach heutiger Sicht die dichterische Sprache ist, 18 bietet sich als Diskussionsfeld für die Rüdebesinnung auf die Sprache an. Allerdings ist dabei umstritten, in welchem Sinne die Poetik nach dem Erwachen des historischen Bewußtseins 17
4
a.a.O. Sp. 229.
18
a.a.O. Sp. 22J.
noch systematisch sein kann. Deutlich ist, daß sie weder in einem Regelkanon im Sinne der humanistischen Poetik nodi in der Normativität einer Maßästhetik ihren systematischen Anhalt finden, noch auch bloße Statistik von Formbeständen sein kann. 19 Der systematische Charakter der Poetik als literaturwissenschaftlicher Disziplin steht selbst in Frage. Dem Problem der Sprache steht das Problem der Poetik gegenüber. Wenn sich daher die Reflexion auf ein tragendes Sprachverständnis dem sich abzeichnenden Gefälle der Literaturwissenschaft, das auf die Poetik zuführt, einordnet, so bedeutet dies, daß die Sprachbesinnung im Hinblick auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Poetik durchzuführen ist. Der Einstieg, d.h. die die Diskussion bestimmende Leitfrage, muß sich daher auch von der Gegenseite her, d.h. aus der Poetik und ihrer spezifischen Tradition heraus präzisieren lassen.
1.2 Themafrage: Die methodische Bedeutung des Sprachverständnisses f ü r die Poetik I.2.I Der Versuch, das Problem der Poetik aus einer bestimmten Blickrichtung neu aufzugreifen, muß sich eingestehen, daß er selbst aus einer langen Tradition der Poetik herauswächst, d. h. daß er in seiner Vorstellung von dem, was Poetik sein und leisten soll, durch die Tradition geprägt ist. Dieses Bewußtsein verlangt, daß sich die Neubesinnung hinsichtlich des sie treibenden Impulses Rechenschaft darüber gibt, wie dieser Impuls in der Tradition zur Geltung gekommen ist. Sie muß sich im Hinblick auf das ihr aufgegebene Problem auch ihrer eigenen Tradition versichern. In unserem Falle bedeutet das die Notwendigkeit einer Orientierung über die Bedeutung, die das Sprachverständnis f ü r die traditionelle Poetik hatte. Wir versuchen, diese Orientierung - in modellhafter Einschränkung — anhand eines geschichtlich zurückliegenden, jedoch für eine ganze Traditionsrichtung repräsentativen Werkes zu vollziehen. Es wurde gewählt, weil der historische Abstand einen distanzierten und daher vergleichsweise unvoreingenommenen Blick auf die gegenwärtige Bemühung gestattet. Dabei kommt es der skizzenhaften Darstellung des leitenden Sprachverständnisses darauf an, herauszustellen, welche besonderen Fragestellungen und Betrachtungsweisen hinsichtlich der Sprache dem Poetiker seinen eigentlichen Phänomenbereich erschlossen. Diese empirische, auf das große Beispiel be19
a.a.O. Sp. 223. 5
schränkte Musterung der alten Poetik bringt dabei eine erste und vorläufige Konkretisierung unserer T h e m a f r a g e mit sich: Welche allgemeinen Z ü g e im Sprachverständnis eröffneten der alten Poetik den Z u g a n g zur Darstellung der dichterischen Sprachformen? 1.2.2
Julius C a e s a r Scaliger stellt in seiner Poetik 2 0 eine empirisdi-histo-
risdie Bestandsaufnahme von Redeweisen in verschiedenen typisierbaren Lebenszusammenhängen an den A n f a n g . Sie beschreibt die menschliche R e d e auf mehreren Ebenen, wobei in deren A b f o l g e ein geschichtliches Entwidtlungsgefälle sichtbar w i r d . 2 1 Res omnes nostrae aut necessarii, aut utilis, aut delectabilis genere comprehenduntur. Horum omnium natura quadam v e l a principio constituta, vel procedente postea tempore vis orationis affecta e s t . . . Necesse enim est ea petere ab aliis, quibus nos egeremus: iubere infecta fieri: prohibere, proponere, disponere, statuere, abolere. Haec prima sermonis natura fuit. M o x amplificarne usus atque commoditas, additis rudi atque inchoato corpori veluti dimensionibus, praescriptionibus, atque delineamentis: unde dicendi certa lex orta est. Postremo ornatus tanquam mundus, ac vestitus quispiam est adinventus: quo iam et formata et animata splendesceret materia. A u f allen Entfaltungsstufen ist jedoch die allgemeine Grundleistung der Sprache dieselbe: Est sane portitor animi quasi quidam sermo noster. Diese Grundleistung ermöglicht der Rede, die über ihre voll entwickelten Funktionen v e r f ü g t , sich den Erfordernissen wechselnder
Kommunika-
tionsarten genau anzupassen. Quippe ob veritatem indagandam inter philosophos expressif nécessitas orationem: propter utilitatem vero civili prudentia exculta est: ad theatra autem eam traxit delectatio. Atque illam sapientium, circumscriptam argumentorum contracto ambitu, brevem esse decuit, ac naturae ipsius, quam explicat, parem. In f o r o autem, atque inter milites esse licuit fusiorem, pro re, loco, tempore, personis: cuius ars Oratoria dicta fuit. Tertius modus genera duo haud multo diversa continet, qua communem materiam habent res communi forma enarrationis, idque multo cum ornatu . . . Dieser dritte Modus, der durch das officium narrandi allgemein bestimmt ist, zerfällt in die Geschichtsdarstellung (Historiae), welche sich mit einem 20
Julius Caesar Scaliger, Poetices libri Septem. 1 5 6 1 . Faksimile-Neudruck nach der Ausgabe v o n L y o n i j 6 i . 1964. Alle folgenden Zitate sind, wenn nidit anders vermerkt, aus Buch I, Caput I , S. 1 - 2 entnommen. 21 Diese Skizze erhebt nicht den Anspruch, die Scaligersdie Poetik zu interpretieren; es geht nur um die Identifizierung einiger f ü r Scaligers Sprachverständnis aufschlußreidier Gedanken der Einleitung. 6
Stil, der der Wiedergabe geschehener Ereignisse angepaßt ist, begnügt, und das, was man Poesie nannte, . . . propterea quod non solum redderet vocibus res ipsas quae essent, verumetiam quae non essent, quasi essent, et quo modo esse vel possent vel deberent, repraesentaret.
Mit dieser Bestimmung der Dichtung als Redeform erreicht Scaliger den systematischen Angelpunkt seiner Poetik. Er ergibt sich aus der allgemeinen Reflexion auf die Bedingungen und Möglichkeiten des menschlichen Sprediens, wobei ausnahmslos allen Redeformen als finis communis die persuasio zuerkannt wird. Von diesem allgemeinen Hintergrund hebt sich die Poesie durch Zusatzbestimmungen spezifischer Art ab - genauso wie jede andere Redeweise ihre Specifica im Verhältnis zu der allgemeinen Struktur aufweist. Die differentia specifica der Poesie wird mittels der Horazschen Formel angegeben.22 Die Präzisierung des Charakters der Dichtung als Redeform modifiziert also die M i t t e i l u n g s f o r m , die als poetische nicht an die res gestae als Norm gebunden ist, und das R e d e z i e l , d. h. die Wirkungsabsicht, die mit der Formel „docere cum iucunditate" umschrieben wird. 23 1.2.3 Scaligere Besinnung auf das Wesen und die Erscheinungsformen von oratio und sermo verbinden sich eine Reihe von Betrachtungsweisen. Zunächst ist eine historische Ausrichtung maßgebend, die mehrere geschichtlich sich entwickelnde Dimensionen der Sprache unterscheidet. Diese historische Orientierung überschneidet sich jedoch mit einem empirisch-systematischen Doppelaspekt, der sich die Sprache in zweifacher Weise zugänglich macht. Auf der einen Seite tritt die Natur des menschlichen Sprechens ins Blickfeld, wie dieses sich in wechselnden Redesituationen deren jeweiligem Anspruch - sei es im Sinne der utilitas, der necessitas oder der delectado — in stilistischer Zuspitzung anpaßt. Diese Redesituationen sind im Hinblick auf das ihnen gemeinsame innere Ziel der persuasio vergleichbar. Angelpunkt der Analyse der versdiiedenen Redeformen ist daher ihr kommunikativer Charakter. Diese Kommunikationsleistung - und hier kommt der zweite Aspekt der Betrachtungsweise zur Geltung - ist jedoch nur möglich aufgrund des allgemeinen Charakters der Sprache, der in „semantische" Kategorien gefaßt wird. Die Spradie ist einerseits portitor animi - wobei Scaliger zur Be22
Dabei ist festzuhalten, daß Scaliger den imitatio-Begriff nidit exclusiv der Poesie vorbehält: „Denique imitationem esse in omni sermone, quia verba sunt imagines rerum" (Buch V I I , Caput II. S. 347). 23 a.a.O. Buch V I I , Caput II. S. 347.
7
gründung ein anthropologisches Argument heranzieht, das er in die aristotelische Formel vom animal sociale kleidet - , d.h. sie hat semantisdie Valenzen bezüglich des Sprechenden. Dazu kommt andererseits die semantisdie Beziehung zu den Inhalten: „verba sunt imagines rerum". 24 Es ist derselbe Doppelaspekt, der Scaligers Dichtungsbegriff bestimmt. Als Redeform gehört die Dichtung in das genus der enarratio; ihr persuasioCharakter modifiziert sich in der Bestimmung des „docere cum iucunditate". Unter dem semantischen Aspekt betrachtet, ist sie poesis, die ihre Gegenstände im Gegensatz zu den Historiae in anderem semantischen Modus zu Wort bringt. 1.2.4 Unsere Themafrage nach der Bedeutung des Sprachverständnisses für die Poetik konkretisiert sich an dem Scaligerschen Modell. Die Spradireflexion der alten Poetik vereint verschiedene Blickrichtungen. Eine historisch und eine empirisch ausgerichtete Betrachtungsweise überkreuzen sich, ohne daß sie definitiv getrennt würden. Des weiteren kristallisiert sich - obwohl nicht streng terminologisch durchgeführt und methodisdi gesichert - ein zweiter Doppelaspekt heraus. Einmal ist das konkrete Spradigesdiehen in seiner realen Vielfalt im Blick; dabei wird diese Vielfältigkeit auf die gemeinsame Struktur des finis communis hin durchschaut. Das andere Mal wird die Sprache im Hinblick auf ihre allgemeine semantische Leistung thematisiert. Der Begriff der Dichtung ist analog strukturiert. Er umfaßt eine bestimmte Redeweise mit einem präzisierbaren Ziel einerseits und eine Modifikation der Bedeutungsleistung der Sprache andererseits. Sprachbegriff und Dichtungsbegriff sind in doppelter Weise genau aufeinander bezogen. Die in dieser Weise verdeutlichte und konkretisierte Leitfrage gestattet uns im folgenden eine gewisse Vororientierung über Verfahrensweisen und Fragestellungen der Sprachtheorie, welche für die Poetik bedeutsam werden können. Sie ermöglicht dies um so eher, als sich zu den am Modell sichtbar gewordenen Doppelaspekten der Sprachbetrachtung in der modernen Sprachtheorie - wie sich zeigen wird - methodisch fest verankerte Parallelen finden lassen. Bevor wir jedoch die konkrete Diskussion beginnen, ist das Feld für die sprachtheoretische Orientierung genauer abzugrenzen.
24
8
a.a.O. Buch VII, Caput II. S. 347.
ι.3 Methode: Korrelation sprachtheoretischer und poetologischer Fragen 1.3.1 Mit Hilfe der zugespitzten Fragestellung, die sich aus der gegenwärtigen Lage der Literaturwissenschaft einerseits und aus dem Rückgriff auf die Tradition der Poetik andererseits ergeben hat, sollen im Bereich von Sprachtheorie und Sprachphilosophie Gesichtspunkte und Ansätze, welche sich für die Probleme der Poetik fruchtbar machen lassen, erschlossen werden. In dieser Absicht ist eine methodische Prämisse verborgen, die bereits F.Martini aufgezeigt hat: „Die zu dichterischem Ausdruck geführte Sprache ist das Grundanliegen der Poetik, die, um sie zu deuten, stets in naher Beziehung zur Sprachphilosophie bleiben muß, ohne sich mit ihr zu identifizieren." 2 5 Dieser Satz enthält nicht nur eine präzise Gegenstandsbestimmung für die Poetik, wie sie sich heute versteht, sondern auch den Hinweis auf einen Weg. Der Vorblick auf das Untersuchungsziel bestimmt zirkelhaft die Ansatzdiskussion hinsichtlich ihres Vorgehens. Dies impliziert, daß die Befragung einzelner sprachphilosophischer und sprachtheoretischer Werke aus einer gewissen Distanz heraus erfolgen muß. Zwei methodische Forderungen sind die Folge. Die einzelnen Werke können nicht in der Breite ihrer ganzen systematischen Anlage zu Wort kommen, sondern nur soweit sie der Themafrage der Poetik Hilfestellungen bieten können. Ohnehin würde eine Diskussion der jeweils zugrundeliegenden philosophischen Systemansätze, wollte sie den Autoren gerecht werden, eine eigene Untersuchung verlangen. Zum zweiten verbietet s idi eine Harmonisierung der verschiedenen Werke und Ansätze, die sich im sprachphilosophischen Bereich selbst vollziehen könnte; auch dieser Versuch würde in Abhebung und Kritik eine Sonderstudie verlangen. Eine Zusammenschau kann im Rahmen dieser Untersuchung nur im Horizont der Themafrage und des sie bewegenden Ziels angestrebt werden. Daraus folgt für die zu diskutierenden Werke der Sprachtheorie, daß diese als heuristische Modelle aufzufassen sind, an denen sich Grundaspekte der Sprachbetrachtung, die ihrerseits für die Fragestellung der Poetik aufschlußreidi sind, ablesen lassen. Vorausgesetzt ist also nicht ein von vornherein feststehender Sprachbegriff, wohl aber ein Vorbegriff von dem, was eine Poetik erfragen und leisten kann. 1.3.2 Die Wahl der heranzuziehenden Autoren ist durch die sachliche Seite der Themafrage bestimmt. Es werden daher vornehmlich Werke zu Rate gezogen, die sich bereits in der Sprachreflexion der Literaturwissen25
F.Martini, Poetik. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Bd.I. Sp. 225. 9
sdiafb als aufschlußreich erwiesen haben.26 Damit die ohnehin schwierige Diskussion nicht mit den Problemen der Geschichte der Sprachtheorie zusätzlich belastet wird, empfiehlt es sich, die Wahl der sprachtheoretischen Werke innerhalb des 20. Jahrhunderts zu treffen. Zudem legt der besondere wissenschaftliche Charakter der Poetik, die nur in der direkten Bindung an die Empirie entwickelt werden kann, wenn anders sie sich nicht deduktiv-normativ verhärten will, nahe, vor allem solche Werke zu befragen, die ihrerseits durch eine gewisse Bindung an die empirische Sprachwissenschaft ausgezeichnet sind.27 Damit ist der methodische Weg der Untersuchung vorgezeichnet. Sie bewegt sich - orientiert an der Leitfrage, im ersten Teil innerhalb des Felds sprachtheoretischer Ansätze, die als heuristische Modelle betrachtet werden. Im zweiten Teil wendet sie sich zentral den Fragen der Poetik zu, indem sie Konsequenzen aus den gewonnenen Aspekten und Betrachtungsmöglichkeiten zieht. Eine Schlüsselstellung fällt dabei - wie in der Tradition der Poetik - einem in bestimmter Weise nuancierten Begriff von Dichtung zu. Es wird in diesem Teil nicht versucht, die ganze Feldspanne der Themen der Poetik zu umfassen; vielmehr beschränkt sich die Erörterung auf die Demonstration der fälligen Konsequenzen an exemplarisch behandelten Problemen. Diese Exempla liegen ausnahmslos im Bereich der a l l g e m e i n e n Poetik - wobei diese Kennzeichnung der allgemeinen Bestimmung ihres Gegenstandes als der „zu dichterischem Ausdruck geführten Sprache" entspricht. Das Problem einer speziellen Poetik der Gattungen bleibt daher ganz am Rande. Hervorzuheben ist schließlich der experimentelle Charakter des Versuchs, der - aus der gegenwärtigen Methodenbesinnung der Literaturwissenschaft erwachsen - es unternimmt, eine Schneise durch das Dickicht der Sprachtheorie einerseits und der wissenschaftlichen Poetik andererseits zu schlagen. Die Entscheidung, ob dieses Erperiment genügend fruchtbare Korrelationspunkte zutage fördert, muß letztlich die konkrete literaturwissenschaftliche Arbeit, die die gewonnenen Anregungen auf ihre praktische Anwendbarkeit überprüft, fällen. 26
Vgl. die oben ( 1 . 1 . 2 - 1 . 1 . 3 ) angeführten Werke. Aus diesem Grunde ist es unmöglich, das sprachphilosophische Werk M. Heideggers in Betracht zu ziehen. Es hätte ohnehin nur gegen Heideggers eigene Intentionen in die hier leitende Fragestellung einbezogen werden können, da Heidegger die A r t der vorliegenden Spradibetraditung von seinen Prämissen aus wohl grundsätzlich ablehnen würde. Eine Auseinandersetzung mit dieser Ansicht wird hier nicht unternommen, da sie nur unter Berücksichtigung des Ganzen der Heideggersdien Philosophie zu führen wäre. 27
10
ERSTER TEIL
PROBLEME DER DER
2
SPRACHTHEORIE
IM
ZEICHEN
POETIK
Langue und Parole
2.1 Distinktionen 2.I.I
Die Ausarbeitung der Themafrage am M o d e l l der Poetik Scaligers
ließ eine grundlegende Zweiheit möglicher Betrachtungsweisen der Sprache erkennen. In der modernen Sprachtheorie bestimmen methodologisch und terminologisch streng fundierte und durchgehaltene Doppelaspekte das Bild. Wilhelm v . H u m b o l d t w a r es vorbehalten, mit seinem Begriffspaar von Ergon und Energeia dieser Sichtweise zum Durchbruch zu verhelfen und damit der weiteren wissenschaftlichen Bemühung um die Sprache den W e g zu weisen. Erst Ferdinand de Saussure jedoch hat die Diskussion jeweils zweier sich entsprechender Grundaspekte zum Angelpunkt der empirischen Spradiwissensdiaft gemacht und damit ihre Methodik und wissenschaftstheoretische Grundlegung stark beeinflußt. Bei de Saussure wird die Distinktion korrelativer Hinsichten z u m allgemeinen Grundsatz der Sprach theorie: « . . . le phénomène linguistique présente perpétuellement deux faces qui se correspondent et dont l'une ne vaut que par l'autre» (S. 23). 1 So unterscheidet de Saussure an der silbischen Einheit ein bedeutungsvermittelnd-psychisches und ein akustisch-motorisches Moment (Phonologie und Phonetik). A u f der Ebene des Wortes machen Lautbild und Vorstellung erst zusammen die Einheit des „Zeichens" aus. Die menschliche Rede (langage) als ganze hat eine normative und eine variable Seite; die erste ist zugleich die sozial-allgemeine (langue), die zweite die individuelle (parole). Schließlich zeigt sich die Sprache einerseits als zu jedem Zeitpunkt komplettes „System", andererseits als Gebilde, das der Geschichte und ihren Wandlungen unterworfen ist. 1 Ferdinand de Saussure, Cours de Linguistique Générale. Publié par Charles Bally et Albert Sediehaye. Deuxième édition 1922. (Unter dem Titel Grundfragen der allgemeinen Spradiwissensdiaft* übersetzt und herausgegeben von H. Lommel. 1931).
II
2.1.2 Die letzte der genannten Distinktionen verlangt nach de Saussure die Zweiteilung der Sprachwissenschaft in einen „synchronischen" und einen „diachronischen" Zweig. L a linguistique synchronique s'occupera des rapports logiques et psychologiques reliant des termes coexistants et formant système, tels qu'ils sont aperçus par la même conscience collective. L a linguistique diacbronique étudiera au contraire les rapports reliant des termes successifs non aperçus par une même conscience collective, et qui se substituent les uns a u x autres sans former système entre eux (S. 140).
Diese Unterscheidung hat nicht nur wissenschaftstheoretischen und methodologischen Wert. Sie gibt den Blick frei für die Einsicht, daß zu jedem Zeitpunkt die Sprache — abgesehen von ihrem historischen Gewordensein und den latent weiterwirkenden Umgestaltungs- und Entwicklungstendenzen — ein Ganzes gegebener Verstehens-, Verständigungs- und Mitteilungsmöglichkeiten bildet. Historische Verschiebungen verändern zwar diese Ganzheit ihrer immanenten Struktur nach, sie tangieren aber nie die Ganzheit als solche. 2.1.3 Diese Einheit des Systems ist allerdings nicht an sich, d . h . als unmittelbar greifbare Einheit gegeben. Sie wäre allenfalls mittelbar zu erfassen in der Summe der Sprechakte («paroles») der Einzelnen innerhalb des sozialen Rahmens. D a ß die Sprache nur im Sprechen erfaßbar ist, gehört aber zu ihrem „inneren Wesen" («caractère interne»). L a langue est pour nous le langage moins la parole. Elle est l'ensemble des habitudes linguistiques qui permettent à un sujet de comprendre et de se faire comprendre (S. 112).
Im Lichte dieser Distinktion muß man in jeder Sprechäußerung eine allgemeine und eine individuelle, eine passive und eine aktive Seite unterscheiden — passiv insofern, als sich der Sprecher im Raum der Sprache sozusagen „automatisch" (und großenteils nicht sprachbewußt) als in einem Vorgegebenen bewegt, aktiv insofern, als der Sprecher sich in der Gesamtheit gebotener Sprachmöglichkeiten so orientiert, wie das seiner eigenen Sprechintention im Hinblick auf den Angesprochenen am angemessensten erscheint. L a langue existe dans l a collectivité sous l a forme d'une somme d'empreintes déposées dans chaque cerveau, à peu près comme un dictionnaire dont tous les exemplaires, identiques, seraient répartis entre les individus (S. 38).
So sehr man - diachronisch gesehen - betonen muß, daß historische Verschiebungen der Langue von einzelnen individuellen Sprechakten ihren Ausgang nehmen, so sehr muß man - synchronisch betrachtet - sagen, daß 12
jeder Einzelne und seine Paroles die Langue weder schaffen noch umgestalten können. De Saussure fordert daher eine Wissenschaft von der Sprache («linguistique de la langue»), die die besonderen Elemente des Sprechens, die in einer «linguistique de la parole» untersucht werden, ausklammert (S. 28 ff.). Der Hauptgegenstand der «linguistique de la langue» ist das „sprachliche Zeichen" («signe linguistique»).2 Seine allgemeine Natur verleiht der Langue ihre Homogenität. «C'est un système de signes où il n'y a d'essentiel que l'union du sens et de l'image acoustique, et où les deux parties du signe sont également psychiques» (S. 32). Diese Verbindung ist durch „kollektive Übereinstimmung" («par le consentement collectif», S. 32) anerkannt, so daß man in der Sprache ein allgemein zugängliches „Depot von Lautbildern" («dépôt des images acoustiques», S. 32) sehen kann. Mit dieser Bestimmung, die den eigentlichen Gegenstand der «linguistique de la langue» präzisiert, ist für de Saussure die Distinktion der beiden Betrachtungsweisen und das daraus folgende methodische Postulat zweier Sprachwissenschaften durchgeführt und gerechtfertigt. Seine weiteren Erörterungen sind ausschließlich der Langue gewidmet. Wir folgen de Saussure, indem wir das Problem der Parole zunächst zurückstellen und uns von ihm weitere Einblicke in das „System der Sprache" vermitteln lassen.
2.2 Erste Sätze über die Langue 2.2.1 Versteht man unter „Zeichen" («signe») die Einheit von „Bezeichnung" («signifiant») und „Bezeichnetem" («signifié»), wobei das Bezeichnete eine Vorstellung, die Bezeichnung ein Lautbild ist und die Verbindung beider auf Assoziation beruht, 3 so lassen sich über die Natur des sprachlichen Zeichens zwei allgemeine Sätze aufstellen. Der erste Grundsatz von der „Beliebigkeit des Zeichens" («l'arbitraire du signe») besagt, daß es keine notwendige, kausal ableitbare Beziehung zwischen den beiden Hälften des Zeichens gibt in der Weise, daß das Lautbild durch den Inhalt der Vorstellung bestimmt wäre oder umgekehrt. Die 2
Die «linguistique de la langue» könnte Teil einer allgemeinen Wissenschaft von den Zeichen («sémiologie» S. 3 3 ) sein - bei Bühler mit „Sematologie", bei Lommel mit „Semeologie" wiedergegeben. 3 «Le signe linguistique unit non une chose et un nom, mais un concept et une image acoustique» (S. 98). De Saussures Definition ist also von anderen gängigen Bestimmungen abzuheben, in denen der Begriff „Zeichen" auf die lautliche Seite festgelegt ist.
13
Onomatopoetika widersprechen diesem Satz nicht. Ihr besonderes semantisches Profil setzt die allgemeine Gültigkeit des Satzes von der Beliebigkeit voraus. Aus der grundsätzlichen Beliebigkeit des Zeichens wird verständlich, inwiefern es veränderlich bzw. unveränderlich ist. Subjektiv gesehen ist es unveränderlich, da es dem Sprechenden immer schon festgelegt vorgegeben ist. Auch die Sprachgemeinschaft als soziale Größe kann das Zeichen nicht einfach „setzen"; insofern ist die Sprache nicht das Ergebnis eines gesellschaftlichen Kontraktes. Weil die Lautgestalt des Zeichens im Grunde „beliebig" ist, gibt es keinen Anlaß, es umzuformen — was bei der Fülle der Zeichen im ganzen System der Sprache und bei dessen Kompliziertheit ohnehin sehr schwierig wäre. «C'est parce que le signe est arbitraire qu'il ne connaît d'autre loi que celle de la tradition, et c'est parce qu'il se fonde sur la tradition qu'il peut être arbitraire» (S. 108). Im objektiven Verlauf der Sprachgeschichte gestaltet sich das Zeichen gleichwohl ständig um, weil es dem Wandel der Zeit unterworfen ist. Diese Wandlung bleibt jedoch dem einzelnen Sprechenden - sowohl nach ihrer lautlichen, wie nach ihrer bedeutungsmäßigen Seite — unverfügbar und meist verborgen. Zwar treten infolge von einzelnen diachronischen Veränderungen - etwa dem Ausfall einer Kasusendung, der eine bestimmte syntaktische Beziehung nicht mehr eindeutig anzeigen läßt - auch Rückwirkungen auf das „System" ein - etwa in der Ausbildung neuer syntaktischer Verknüpfungsmöglichkeiten. Aber die Ganzheit des Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt wird durch diese Wandlungen nie unmittelbar gefährdet. Trotz der kausal bedingten Sekundärwandlungen läßt sich daher der diachronische Grundsatz allgemein formulieren: Der jeweilige (historische) Zustand eines Systems ist zufällig, da die diachronischen Primärveränderungen zufällig und vereinzelt erfolgen. Eigentliche „Gesetze" gibt es im Bereich der Diachronie nicht: «Les faits diachroniques... s'imposent à la langue, mais ils n'ont rien de général» (S. 134). 2.2.2 Audi die synchronische Betrachtungsweise stellt gewisse Regelmäßigkeiten der Beziehungen fest; sie stellen aber ebenfalls keine bindenden Vorschriften dar, weil es in der Sprache selbst keine Instanz gibt, die Gesetzlichkeiten absolut gewährleisten würde. Das in dieser Sachlage verborgene Problem tritt auch im Begriff des Zeichens (im oben definierten Sinne) zutage. Es muß geklärt werden, wie Lautbild und Vorstellungsinhalt feste Äquivalente werden können und wie sich das resultierende Gebilde als Vorstellungseinheit erfassen läßt. Die Lösung wird in zwei Aussagen gegeben: ι . «Le mécanisme linguistique roule tout entier sur des identités et des différences, celles-ci n'étant que la contre-partie de celles-là» (S. 151). 14
2. Das einheitliche Lautwort ist « . . . une tranche de sonorité qui est, à l'exclusion de ce qui précède et de ce qui suit dans la chaîne parlée, le signifiant d'un certain concept» (S. 146). Das einzelne Zeichen ist also nur mittels dessen, was es selbst nicht ist, was aber außerhalb seiner gegeben ist, realisierbar; « . . . dans la langue il n'y a que des différences sans termes positifs» (S. 166). Das Zeichen als bestimmter Wert der Vorstellung oder der Bedeutung - und es ist zu betonen: der inhaltlichen Bedeutung — ist vom Ganzen, vom System der Zeichen her bestimmt.4 Es konstituiert sich sowohl lautlich, als auch inhaltlich und syntaktisch, indem es sich von anderen Zeichen unterscheidet. «Arbitraire et différentiel sont deux qualités corrélatives» (S. 163). Das System der Sprache ist nichts anderes als . . . une série de différences de sons combinées avec une série de différences d'idées; mais cette mise en regard d'un certain nombre de signes acoustiques avec autant de découpures faites dans la masse de la pensée engendre un système de valeurs; et c'est ce système qui constitue le lien effectif entre les éléments phoniques et psychiques à l'intérieur de chaque signe (S. 1 6 6 ) .
Diese Verbindung erst ist das „positive Faktum" («fait positif», S. 166) der Sprache. Im sprachlichen System kann nichts Isoliertes per se eine Bedeutung haben; es hat sie nur in Relation zu Anderem und zum Ganzen. Das Wortzeichen ist also nicht als Äquivalent eines identifizierbaren Begriffes definiert. In einem System - «où les éléments se tiennent réciproquement en équilibre selon des règles déterminées» (S. 154) - fällt vielmehr der Begriff „Gleichheit" (Identität des Zeichens) mit dem von „Wert" zusammen. Seinem Wert («valeur») nach ist das Zeichen eintauschbar gegen ihm Unähnliches (Vorstellung, Gegenstand), aber dies nur, weil es vergleichbar ist mit anderen Werten, d. h. ihm Ähnlichem (andere Zeichen). So kann «mouton» und «sheep» bedeutungsgleich sein, muß es aber nicht; denn wenn „Fleisch" gemeint ist, heißt die Entsprechung «mouton» «mutton». Die beiden Zeichen sind daher im Hinblick auf das System ihrer Sprachen keineswegs wertgleich. Die allgemeine Regel, die durch das Beispiel verdeutlicht wird, heißt daher: «Ce qu'il y a d'idée ou de matière phonique dans un signe importe moins que ce qu'il y a autor de lui dans les autres signes» (S. 166). Die möglichen Relationen, die den „Wert" des einzelnen Zeichens bestimmen, verlaufen in zwei Richtungen. Die Anreihungen oder Syntagmen 4
V g l . W . v o n Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. 1 8 3 6 . „ M a n kann die Sprache mit einem ungeheuren G e w e b e vergleichen, in dem jeder Theil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhange stehen"(S. 88).
15
stellen den Zusammenhang des Zeichens mit dem Vorausgehenden und Nachfolgenden im Satz und in der größeren Einheit der Rede sicher. Die Assoziation verbindet jedes Zeichen mit einer Reihe von unbegrenzt langen Assoziationsketten in ganz verschiedenen Richtungen (syntaktischformal, bedeutungsmäßig, nach der Zusammengehörigkeit von Wortfamilien, nach konventionellen Vorstellungsverbindungen etc.).5 Beide Arten von Relationen bieten die Möglichkeiten der negativen Abhebung, also der Bestimmung am syntagmatisch Fehlenden bzw. der Orientierung an der Assoziation des Entgegengesetzten. Sie wirken außerdem gleichzeitig und ineinander. N o t r e mémoire tient en réserve tous les types de syntagmes plus ou moins complexes, de quelque espèce ou étendue qu'ils puissent être, et au moment de les employer, nous faisons intervenir les groupes associatifs pour fixer notre choix (S. 1 7 9 ) .
A n jedem einzelnen Akt der Konkretisierung des Zeichens ist das ganze Zeichensystem der Sprache beteiligt. In seiner Latenz ist es die Bedingung der Möglichkeit zur Bildung des einzelnen Zeichens.6 2.2.3 Assoziation und Anreihung führen - sprachgeschichtlich gesehen zu der Bildung des „relativ Motivierten" in der Sprache. In der syntagmatischen und assoziativen Reihenbildung formen sich Verbindungen und Verknüpfungen, die sich in abgeleiteten Wortbildungen verfestigen können. Diese sind gegenüber ihren Ursprungswörtern „relativ motiviert" («relativement motivé», S. 181). In jeder Sprache lassen sich Tendenzen im Sinne der genannten Relationen erkennen, die der ursprünglichen Beliebigkeit in stärkerem oder schwächerem Maße entgegenwirken und eine Schicht der logisch ableitbaren Zeichen bilden. E n effet tout le système de la langue repose sur le principe irrationnel de l'arbitraire du signe qui, appliqué sans restriction, aboutirait à la complication suprême; mais l'esprit réussit à introduire un principe d'ordre et de régularité dans certaines parties de la masse des signes, et c'est là le rôle du relativement motivé (S. 1 8 2 ) . 5
D e Saussure bemerkt dazu ausdrücklich (S. 2 j 3 - 2 5 8), daß im Spradibewußtsein ein gewisses Verständnis der Bedeutung und Leistung von Prae- und S u f fixen, Endungen etc. mitgegeben ist. 8 E . O t t o hat die Begriffe „ S y n t a g m a " und „ A s s o z i a t i o n " als sprachwissenschaftliche Kategorien und als A n s ä t z e für die systematische Untergliederung der allgemeinen Sprachwissenschaft einer eingehenden Kritik unterzogen (Stand und A u f g a b e der allgemeinen Sprachwissenschaft. 1 9 5 4 . S. 4 4 f f . und 6 2 ff.). W i r gehen auf diese Kontroverse nicht ein, da es uns nur um eine Darstellung von de Saussures Systembegriff zu tun ist. 16
Die empirisch vorfindlichen Sprachen bewegen sich in dem Feld, das durch die Pole Beliebigkeit und Organisation abgesteckt ist. Je nach dem überwiegenden Einfluß des einen oder anderen lassen sich „lexikologische" und „grammatische" Sprachen unterscheiden. Auch innerhalb der Geschichte einer Sprache können sich die diachronischen Wandlungen in beiden Richtungen auswirken. A l s Beispiele f ü r die „Rückentwicklung" des relativ Motivierten z u m Unmotivierten bietet sich die Wortgeschichte vieler lateinischer Gegensatzpaare (amicus-inimicus, enemy) oder Verbalkomposita (stare - constare, coûter) in den romanischen Sprachen und im E n g lischen an. 2.2.4
Außerhalb dieser ganzen Gedankenreihe, die sich aus dem Begriff
der Beliebigkeit ergibt, steht de Saussures zweiter Grundsatz von der N a t u r des sprachlichen Zeichens, der Satz von seinem „linearen C h a r a k ter" («caractère linéaire du signifiant»). Le signifiant . . . représente une étendue, et cette étendue est mesurable une seule dimension·, c'est une ligne (S. 103).
dans
D a s sprachliche Zeichen ist im Gegensatz zu anderen - etwa den maritimen Zeichen oder denen der Taubstummen - zeitlich strukturiert. Konsequenzen aus diesem zweiten Grundsatz werden bei de Saussure nur insofern gezogen, als gesagt wird, daß die zeitliche Struktur des Zeichens mit seiner Überlieferung und Veränderung im geschichtlichen A b l a u f zu tun hat; dieser Zusammenhang wird indessen nicht im einzelnen beschrieben und geklärt.
2.3 Probleme 2.3.1
F. de Saussures Ansatz w u r d e an den A n f a n g der Diskussion ge-
stellt, nicht nur, weil die ausgearbeitete Themafrage einen ersten A n h a l t in seinen Distinktionen findet, sondern audi, weil de Saussure grundlegende Probleme aufrollt, die noch immer in vielfältiger Weise im Brennspiegel der sprachtheoretischen
Kontroversen
stehen. Dabei
sind
die
- wie K . Bühler bemerkt - „ . . . alles andere eher als ein Ergebnisb u c h . " 7 D e Saussures Grundthesen bilden daher den sachgemäßen Einstieg f ü r die im sprachtheoretischen Felde z u führende Diskussion, die uns v o m methodischen Ziel her aufgetragen ist. 7
K. Bühler, Spraditheorie. S. 6. 17
2.3-2
Ein erstes weiter zu erörterndes Problem, das in de Saussures fol-
genschwerster Distinktion - der von Langue und Parole - verborgen liegt, w i r d deutlich sichtbar in der Gegenüberstellung mit Wilhelm v . Humboldt, bei dem sich V o r f o r m e n dieser Unterscheidung in wechselndem G e w ä n d e finden.8 Nach W . von Humboldt vereint die Sprache in sich . . . die beiden entgegengesetzten Eigenschaften, sidi als Eine Sprache in derselben Nation in unendlich viele zu theilen, und, als diese vielen, gegen die Sprachen anderer Nationen mit bestimmtem Charakter, als Eine, zu vereinigen.9 D i e sich ergebenden Wechselbezüge sieht H u m b o l d t dialektisch: Die beiden hier angeregten, einander entgegengesetzten Ansichten, daß die Sprache der Seele fremd und ihr angehörend, von ihr unabhängig und abhängig ist, verbinden sich wirklich in ihr, und machen die Eigentümlichkeit ihres Wesens aus. Es muß dieser Widerstreit auch nicht so gelöst werden, daß sie zum Theil fremd und unabhängig und zum Theil beides nicht sei. Die Sprache ist gerade insofern objectiv einwirkend und selbständig, als sie subjectiv gewirkt und abhängig ist.10 D e Saussure hat dieses komplexe Ineinander in zwei parallele Antithesen aufgelöst: En séparant la langue de la parole, on sépare du même coup: i. ce qui est social de ce qui est individuel; ι. ce qui est essentiel de ce qui est accessoire et plus ou moins accidentel (S. 30). Während W. v o n Humboldt sich d a v o r hütet, die „Subjektivität des Sprechens" v o n der „Objektivität der Sprache" zu trennen, sie vielmehr als „ z w e i Seiten eines Phänomens" 1 1 beschreibt, vollzieht de Saussure diese Trennung. Sie hat zur Folge, daß das Begriffspaar v o n Sprache und Sprechen noch einmal gespalten wird. Die Langue ist ebenso sozial wie sprachlogisch gesehen das Essentielle. A n a l o g ist die Parole individuell zufällig und sprachlogisch akzidentiell. Das Begriffspaar ist als solches also doppeldeutig, da das Verhältnis des soziologischen und des sprachlogischen Aspekts nicht exakt geklärt wird. Diese Unschärfe findet nicht nur in verschiedenen Interpretationen des Begriffspaares ihre Resonanz, 1 2 sondern w i r d uns auch in leicht variierter Form bis in die Diskussion der Nach Bühler ergab sich de Saussures Distinktion von Langue und Parole aus seiner „eigenen Arbeitserfahrung" mit den Humboldtschen Aspekten von Ergon und Energeia (Spraditheorie. S. 7). 9 W. von Humboldt, Ober die Verschiedenheit. S. 212. 10 W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit. S. 78/79. 11 B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein. Bd. I. 1964. S. 223. Vgl. 7.1.1. 8
18
Situation dichterischen Sprechens, in deren Struktur sidi die sprachlichen und die gesellschaftlichen Komponenten der Langue überlagern, 13 als Problem begleiten. 2.3.3 Eine zweite Frage stellt sich anläßlich der Unterscheidung von synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft, einer Unterscheidung, die nur aufgrund des Anspruchs der Systemhaftigkeit und Geschlossenheit eines gegebenen Sprachzustandes zu treffen ist. De Saussure hatte bei dieser Distinktion zunächst die historische Lautlehre im Auge. In bezug auf weitere Fragehorizonte hat er seine scharfe Trennung selbst wieder in Frage gestellt. Et si tous les faits de synchronie associative et syntagmatique ont leur histoire, comment maintenir la distinction absolue entre la diachronie et la synchronie? Cela devient très difficile dès que l'on sort de la phonétique pure (S. 194).
Die von de Saussure selbst angedeutete Schwierigkeit wurde in zunehmendem Maße sichtbar, als die vergleichende Sprachforschung feststellte, daß von einer strengen Systematik der Struktur, die alle Bereiche einer Sprache deckt, nur im Modellfall, nicht aber hinsichtlich empirisch gegebener Sprachen gesprochen werden kann. Das Ergebnis dieser Forschungen, das „Unvollkommenheit" und „Schichtenhaftigkeit" im Sprachsystem feststellt, zeigt, ...daß innerhalb dieser zusammenexistierenden Zeichenw e l t und für das g l e i c h e S p r a c h b e w u ß t s e i n neben wohl systematisierten Teilen auch Zeichen und Verbindungen liegen, deren Struktur den andern, größere Regelmäßigkeit aufweisenden Teilen widerspricht, und die sich nur von einem primitiveren Standpunkt aus wirklidx befriedigend deuten lassen, obwohl sie im Gebrauch dem für die Hauptteile geltenden Standpunkt mehr oder weniger angepaßt sind. 1 4
Erst diese Revision des Systembegriffs, die dessen rationalistische Interpretation ausschließt, trägt dem eigenen Gedanken de Saussures von der Geschichtlichkeit dieser Sprache - «C'est l'action du temps qui se combine avec celle de la force sociale; en dehors de la durée, la réalité linguistique n'est pas complète . . . » (S. 1 1 3 ) - genügend Redinung. Diese modifizierte Auffassung bezieht die historische Dynamik so ein, daß der Systemgedanke nicht in die Schematik der alten ahistorischen Grammatik zurückfällt. Die Stütze für diese Auffassung des synchronischen Systems bildet bei de Saus«
Vgl. 9.2; 16.1. Hans Glinz, Die innere Form des Deutschen. Eine neue deutsche Grammatik. 3. Aufl. 1962. S. 35.
14
19
sure der Begriff des „Wertes", der den statischen Begriff des mechanischen Systemteils zugunsten größerer Flexibilität überwindet; als „Wert" bleibt das sprachliche Gebilde den Bedürfnissen sozialer Kommunikation und geschichtlichem Wandel gegenüber anpassungsfähig. Ein absolut statistischer Systembegriff («mécanisme») würde nicht nur jede individuelle Wandlung in der Parole unmöglich erscheinen lassen, sondern audi der Realität innersprachlicher Zusammenhänge und Strukturen nicht gerecht werden. Nur die historische Betrachtung gestattet, die innere Schichtung und Abstufung in der Langue als Systemzusammenhang richtig zu beurteilen. Wenn wir daher im folgenden das „diachronische Problem der Langue" in einer über de Saussure hinausführenden Weise betrachten, so einmal um des Verständnisses des konkreten Systemcharakters der Langue willen; zum anderen erweist sich diese Weiterführung als notwendig im Hinblick auf das uns beschäftigende Problem der Wechselwirkung zwischen der Langue und dem dichterischen Sprachwerk als Parole. Dieses Problem, das im zweiten Teil der Untersuchung zur Sprache kommen wird, liegt darin, daß die genannte Wechselwirkung auch ihren historischen Aspekten nach erhellt sein will, wenn die Sprachlichkeit des dichterischen Werkes zur Debatte steht. 2.3.4 Unabhängig von der diachronischen Frage bezüglich der Langue bietet diese auch ein synchronisches Problem, das bei de Saussure in aller Schärfe gesehen, jedoch nicht zu einer befriedigenden Lösung geführt wird. Es handelt sich um das Verhältnis von «signifiant» und «signifié» innerhalb des sprachlichen Zeichens, wobei das eine ein Lautgebilde, das andere eine Vorstellung ist. 15 De Saussure weist die einfache Vorstellung zurück, als sei der Laut lediglich das Gefäß f ü r die Vorstellung oder den Gedanken. Die Sprache spielt vielmehr die Rolle eines «intermédiaire entre la pensée et le son» (S. 156). Il n ' y a donc ni matérialisation des pensées, ni spiritualisation des sons, mais il s'agit de ce f a i t en quelque sorte mystérieux, que la «pensée-son» implique des divisions et que la langue élabore ses unités en se constituant entre deux masses amorphes (S. 1 5 6 ) .
Die Nahtstelle zwischen den beiden „gestaltlosen Medien" wird dabei genauer bestimmt: «Cette combinaison produit une forme, non une substance» (S. 157). Trotz der direkten Anlehnung dieser Formulierung an W. von Humboldt sind die Unterschiede nicht zu übersehen, vor allem, wenn man eine ähnliche Bestimmung W. von Humboldts zum Vergleich heranzieht. «
20
Vgl. 2.2.1.
D i e i n t e l l e c t u e l l e T h ä t i g k e i t , durchaus geistig, durchaus innerlich, und gewissermaßen spurlos vorübergehend, wird durch den L a u t in der Rede äußerlich und wahrnehmbar für die S i n n e . . . Sie ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft, eine V e r b i n d u n g mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden. 1 6
Während bei W . von Humboldt die Spontaneität des Geistes, der hinter der „intellectuellenThätigkeit" steht, als letzte Instanz für die Bedeutungskonstitution namhaft gemacht werden kann - und zwar eines Geistes, der die Sprache „als eine wahre Welt" zwischen sich und die Gegenstände „durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen m u ß " 1 7 - , bleibt bei de Saussure zunächst eine Leerstelle. Diese Lüdce wird zwar durch den Begriff der Assoziation geschlossen;18 doch bleibt er unscharf, da er bei de Saussure auch die Beziehung zwischen den einzelnen Zeichen innerhalb des ganzen Systems erfassen soll. „Assoziation" wird also die immanente Systemenergie genannt, welche den Gesamtvorrat von Zeichen und Formen in Opposition und Korrelation aufeinander bezieht, wie auch die Verbindungsenergie, welche Lautbild und Konzeption im einzelnen Zeichen zusammenhält. Mit dieser Doppelfunktion ist der Begriff aber überlastet, zumal er nicht genauer - etwa mit psychologischen Kategorien - bestimmt wird. Der Sprachpsychologe K . Bühler fordert daher in seiner Diskussion der de Saussureschen Sprachtheorie: M a n ersetze die unbrauchbare Deutung dieser .Verbindung' als eine Assoziation durch etwas Besseres, und die Verstrickung in unlösbare Scheinprobleme w i r d behoben . . . Bestehen bleibt die Erkenntnis, daß die semantischen Relationen in der T a t den Gegenstand ,Sprache' konstituieren. 1 9
Das „synchronische Problem der Langue" wird daher noch von anderen Seiten aus zu beleuchten sein, ehe es in dem engeren Kreis der Betrachtung der dichterischen Sprache als grundlegende Perspektive die Rolle spielen kann, die der Bedeutung der semantischen Frage im Hinblick auf die Dichtung entspricht. 2.3.5 Als letzten Punkt hinterläßt uns das Werk de Saussures das Problem einer «linguistique de la parole», das de Saussure zwar aufwirft, jeW . von Humboldt, Uber die Verschiedenheit. S. 66. W . von Humboldt, Über die Verschiedenheit. S. 221. 18 «On a vu . . . que les termes impliqués dans le signe linguistique sont tous deux psychiques et sont unis dans notre cerveau par le lien de l'association» (S. 98). 18 17
«
K . Bühler, Sprachtheorie. S. 57/58.
21
dodi an keiner Stelle seiner Vorlesungen wirklich thematisiert. 80 Über einen kurzen Hinweis auf die Bedeutung der Parole für die Sprachentwidklung gehen seine Ausführungen nicht hinaus. Wir sind daher in diesem Bereich vollständig auf weiterführende Literatur angewiesen. Mit Recht fordert H . Glinz anläßlich seiner Erörterung des Satzsinns außer dem grammatischen und wortkundlichen ein „,parole-mäßiges' Verständnis, wodurch erst der volle und lebendige Wert bestimmt ist". 21 Parolemäßiges Verstehen ist im Licht „der jeweiligen außersprachlichen Situation" 22 möglich. Man wird daher - um den Gedanken von Glinz aufzugreifen und allgemein zu formulieren - der Parole und ihrem Charakter nur durch die Analyse dessen gerecht, was man als Sprechsituation oder Sprachsituation bezeichnen müßte. Dieser Gesichtspunkt wird ohnehin stark in Erscheinung treten, wenn wir uns über die Bedeutung der Parole f ü r die semantische Frage anhand der Sprachtheorie von Hans Lipps orientieren werden. 23 Zugleich aber weist die Analyse der Sprachsituation zurück auf die Zusammengehörigkeit und Verflechtung von Langue und Parole, da am aktualen Sprachgeschehen der Sprachsituation beide Seiten in einem Akt der Vermittlung beteiligt sind. 24 Damit haben wir den Kreis der für unsere Fragestellung belangvollen Probleme, soweit sie sich von de Saussure her aufrollen lassen, durchschritten. Die folgenden Kapitel wenden sich je einem von ihnen besonders zu, wobei freilich die ganzen Problemzusammenhänge mehr oder weniger latent mit im Spiele bleiben. Die vom Sprachverständnis der alten Poetik angeregte Frage nach zweiseitigen, korrelativen Betrachtungsweisen der Sprache hat in den Distinktionen de Saussures erste Anhaltspunkte gefunden. Diese haben jedoch nicht den Charakter feststehender Schablonen, sondern werfen ihrerseits Fragen auf, denen die unter dem Vorzeichen der Poetik stehende Sprachreflexion im einzelnen nachzugehen hat.
20
„F. de Saussure hat in seinen Vorlesungen niemals die Sprachwissenschaft des Sprechens . . . berührt" (H. Lommel, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. S. 170; Anmerkung). Es bleibt weithin unklar, wie de Saussure selbst eine «linguistique de la parole» verstanden wissen wollte. A n manchen Stellen scheint er nur an den psydiophysisdien Vorgang der Laut-Wort-Erzeugung gedacht zu haben (vgl. S. 37), an anderen formuliert er weitere Zusammenhänge (vgl. S. 38). Wir schließen uns der im folgenden kurz anzudeutenden Auffassung von Glinz an und verfolgen das Problem der Parole in diesem Sinne. 21 H . Glinz, Die innere Form des Deutschen. S. 42. 22 H . Glinz, Die innere Form des Deutschen. S. 42.
23 Vgl. Kap. 5. 24
22
Vgl. die oben gegebenen Zitate von W. von Humboldt (2.3.2).
3
Das diachronische Problem der Langue
3.1 Verschiedene Ebenen geschichtlicher Sprachbetrachtung 3 . 1 . 1 In der Vergegenwärtigung diachronischer Gesichtspunkte sind die Veränderungen der Lautgesdiichte f ü r unsere Fragestellung von nur geringem Interesse. Sie können im Anschluß an de Saussure praktisch ausgeklammert werden, da sie nicht in direkter Weise die Systemstruktur der Langue betreffen. Von größerem Gewicht sind dagegen die historischen Wandlungen im Bereich der Grammatik und Lexik. Nicht ohne Grund läuft W. Porzigs Diskussion des semantisdien Problems, die zunächst systematisch geführt wird, in eine geschichtliche Perspektive aus : „Die Beziehung der Namen auf die Sachen ist nicht naturgegeben und nicht willkürlich gesetzt, sie ist geistesgeschichtlich bedingt." 1 Die diachronische Fragestellung mündet auf dieser Ebene in die Sprachgeschichte als Teil einer allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte. Insgesamt zeigt sich die Sprache in diesem Horizont als gesdiidits- und gesellschaftsbezogenes Phänomen. Daß ihr Systembestand nicht Ergebnis einer rational-systematischen Ausformung, sondern das Resultat kulturgeschichtlicher Bewegungen (einschließlich gewisser inkalkulabler Faktoren) ist, stellt einen entscheidenden Gesichtspunkt zur richtigen Beurteilung des Systemcharakters der Sprache dar; er unterbindet die rationalistische Schematisierung des Systembegriffs. Daß andererseits der kulturgeschichtliche Stand einer Sprache die konkrete Sprachform der Dichtung mitbedingt, wie umgekehrt diese auf das kulturelle Niveau der Sprache zurückwirkt, ist ein Problem der Poetik und wird daher im zweiten Teil dieser Arbeit zur Debatte stehen. 3.1.2 Indessen wäre es voreilig, die Sprachgeschichte lediglich in einseitiger Abhängigkeit als Funktion der allgemeinen Kulturgeschichte verstehen zu wollen, ohne zu prüfen, ob nicht Wechselwirkungen vorliegen und ob nicht die Sprache in gewissem Sinne durchaus eine eigene Geschichte hat, die ihrerseits in der allgemeinen Kulturgeschichte eine treibende K r a f t darstellt. Zugespitzt formuliert, ist zu fragen, ob sich allgemeine, übergreifende Linien der Sprachentwicklung aufweisen lassen, welche - abgesehen von kulturgeschichtlichen Wechselbezügen - in der Abfolge der Systemzustände der Sprachen sichtbar werden. Sind solche Züge nachweisbar, so kann ein gegebener Systemzustand der Langue nur verstanden werden, 1
Walter Porzig, Das Wunder der Sprache. 2. Aufl. 1957. S.49. 2
3
wenn man zugleich seinen Stellenwert innerhalb dieses Entwicklungszusammenhangs kennt. A u d i hinsichtlich der Sprachlichkeit der Dichtung müßten sich dann bestimmte Konsequenzen ziehen lassen. Schon die Formulierung dieser Frage l ä ß t erkennen, daß die A n t w o r t — falls es sie gibt — nur den Charakter einer umfassenden Hypothese zur Sprachentwicklung insgesamt haben kann. Der Entwurf einer solchen Gesamtschau setzt - so steht zu vermuten - auf jeden Fall geschichtsphilosophisdie Prämissen voraus. O h n e daß diese v o r w e g diskutiert werden könnten, muß anhand eines Beispiels überprüft werden, ob eine umfassende Konzeption dieser A r t für unsere Thematik belangvoll sein kann. Als heuristisches Modell f ü r eine derartige Sprachbetrachtung empfiehlt sich die auf neukantianischen Ansätzen aufbauende Spradiphilosophie v o n Ernst Cassirer. 2 Sie kommt unserer Fragestellung darin entgegen, d a ß sie die Sprache zusammen mit anderen kulturellen Bereichen (Mythos, Wissenschaft) einer einheitlichen Betrachtungsweise unterwirft, welche den K a n t schen Kritikgedanken z u einer „ K r i t i k der K u l t u r " (S. i x ) ausweitet.
3.2 Die Sprache als „symbolische Form" 3.2.1
Für E. Cassirer steht die Sprache zusammen mit den anderen kul-
turell-geistigen Bezirken im Zeichen des Begriffs der „symbolische Formen". Sie leben in „Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen" (S. 9). Diese stellen Wege dar, auf denen der menschliche Geist im gleichen Zuge sich objektiviert, wie er sich schrittweise die Fülle des Erfahrbaren aneignet. Diese Wege sind durch die Setzung v o n sinnlich-symbolischen Zeichen markiert, deren sich das Bewußtsein zu seiner eigenen Äußerung bedient, die aber andererseits Gliederungs- und Anhaltspunkte f ü r die begreifende Ordnung des Chaos der sinnlichen Eindrücke darstellen. A m sinnlichen Zeichen gliedert sich der Erfahrungsstrom, wie umgekehrt das Bewußtsein zu sich selbst findet. In allen Bereichen der K u l t u r erweist sich die Tätigkeit des Bewußtseins als das unterscheidende Verknüpfen. Diese synthetische Leistung besteht letztlich darin, daß das Bewußtsein der Erscheinungsfülle „die Einheit seiner selbst und seiner F o r m " (S. 22) gegenüberstellt. Die synthetische Beziehung der Vielheit auf die Einheit verlangt allerdings, daß die z u bezieErnst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. 2. Aufl. 19 j 6.
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henden Inhalte reproduzierbar sind. Reproduzierbar aber ist das produktiv gesetzte Zeichen, das Inhalte symbolisiert. A n ihm klärt sich die Erscheinungsvielfalt, wie sich umgekehrt der Geist in der eigenen Zeichenwelt differenziert. Er erfaßt in dem „ v o n ihm frei entworfenen Zeichen . . . den »Gegenstand', indem er dabei zugleich sich selbst und die eigene Gesetzlichkeit seines Bildens erfaßt" (S. 2