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German Pages [201] Year 1999
Stephan Schlothfeldt
Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
BAND 62 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997468 .
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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Ûber dieses Buch: Die Studie untersucht das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit aus sozialethischer Perspektive. Anhand empirischer Untersuchungen wird deutlich gemacht, welche negativen individuellen Folgen ein långerfristiger Ausschluû aus der Erwerbsarbeit mit sich bringt: Dauerarbeitslose geraten in der Regel in eine marginale soziale Position. Schlothfeldt weist nach, daû zeitgenæssische normative Theorien aufgrund systematischer Vorentscheidungen die Problematik der Arbeitslosigkeit nicht adåquat behandeln kænnen, und zeigt auf, daû unter plausiblen Annahmen ein Anspruch auf Schutz gegen gesellschaftliche Marginalisierung begrçndet werden kann. Daraus låût sich unter den gegenwårtigen sozio-ækonomischen Bedingungen ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit ableiten. Anhand dieser normativen Forderung werden konkrete politische Maûnahmen und Mæglichkeiten der gesellschaftlichen Verånderung diskutiert. The study examines the problem of unemployment from the socialethical perspective. Based on empirical studies, the negative individual consequences, which accompany long-term exclusion from gainful employment, are clearly stated. As a rule the long-term unemployed are relegated to a marginal social position. Schlothfeldt proves that contemporary normative theories ± due to systematic inherences ± can not adequately treat the problem of unemployment and shows that, based on plausible assumptions, a claim for protection against social marginalization can be established. From this, a right to participate in gainful employment under the present socioeconomic conditions can be derived. Based on this normative demand, concrete political measures and possibilities for social change are discussed. Der Autor: Dr. phil. Stephan Schlothfeldt, geb. 1966, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der von der Volkswagenstiftung gefærderten Nachwuchsgruppe »Interdisziplinåre soziale Gerechtigkeitsforschung« an der Humboldt-Universitåt Berlin. Veræffentlichungen zur Ethik, politischen Philosophie und Philosophiedidaktik.
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Stephan Schlothfeldt Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gçnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 62
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Stephan Schlothfeldt
Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
Verlag Karl Alber Freiburg / Mçnchen https://doi.org/10.5771/9783495997468 .
Gedruckt mit Unterstçtzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ± D 61
Die Deutsche Bibliothek ± CIP-Einheitsaufnahme Schlothfeldt, Stephan: Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem / Stephan Schlothfeldt. ± 1. Aufl. ± Freiburg (Breisgau) ; Mçnchen : Alber, 1999 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 62) ISBN 3-495-47954-6 Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeståndigem Papier (såurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten ± Printed in Germany ° Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mçnchen 1999 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Trier Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 1999 ISBN 3-495-47954-6
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
Ursachen und individuelle Folgen der Arbeitslosigkeit . . 1. Ursachen der gegenwårtigen Massenarbeitslosigkeit und Prognosen zur zukçnftigen Entwicklung . . . . . 2. Empirisch nachgewiesene negative Auswirkungen der Erwerbsarbeitslosigkeit auf die Betroffenen . . . . . . 3. Wichtige Funktionen der Erwerbsarbeit . . . . . . . . 4. Einige grundsåtzliche Ûberlegungen zum Stellenwert, den Arbeit im menschlichen Leben einnimmt . . . . .
II. Grundbegriffe der Debatte um ein Recht auf Arbeit . . . . 1. Erærterung des Arbeitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . 2. Erlåuterung wichtiger Kategorien, die den Stellenwert der Erwerbsarbeit anzeigen . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Konzept der Selbstachtung . . . . . . . . . . . . . III. Normative politische Theorien und das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einschrånkende Bedingungen fçr relevante normative politische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Buchanans strikte Vertragstheorie . . . . . . . . . . . 3. Nozicks Theorie individueller Rechte . . . . . . . . . . 4. Dworkins strikt egalitåre Theorie . . . . . . . . . . . . 5. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie . . . . . . . . . . 6. Arbeitslosigkeit im »toten Winkel« . . . . . . . . . . . IV. Begrçndung des Rechts auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Relevanz des Wohlergehens fçr ethische Ûberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Inhalt
2. Begrçndung des Anspruchs auf eine Absicherung gegen eine marginale soziale Position . . . . . . . . . . . . . 3. Argumente fçr (und wider) ein Recht auf Arbeit . . . V. Konkrete Forderungen: Politische Maûnahmen und verånderte soziale Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konkretisierung des Rechts auf Arbeit . . . . . . . . . 2. Mægliche Strategien gegen die Arbeitslosigkeit . . . . 3. Zur bevorzugten Einstellung von Personen, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind . . . 4. Ergånzende Maûnahmen und soziale Verånderungen .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Aus einer normativen Perspektive låût sich die gegenwårtige Arbeitsverteilung in mehreren Hinsichten hinterfragen. Zum einen sehen es viele Menschen als gravierende Ungerechtigkeit an, daû privat geleistete Betreuungståtigkeiten wie das Aufziehen von Kindern und die Pflege alter oder kranker Familienmitglieder nicht entlohnt werden. Zum anderen erscheinen die Arbeitsbedingungen vieler Erwerbståtiger kaum akzeptabel: Es gibt Arbeiten, die physisch oder psychisch krank machen, gefåhrliche sowie unertråglich monotone Tåtigkeiten. Noch dazu erzielen diese Arbeiten håufig nur geringe Læhne. Durch eine feministische und marxistische Kritik angeregt, wurden diese Themen in der praktischen Philosophie aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Ein drittes gravierendes Problem, die Erwerbsarbeitslosigkeit, ist hingegen in der ethischen und normativen politischen Forschung kaum oder nur am Rande erærtert worden. Daher liegt es zum einen aufgrund der politischen und sozialen Brisanz dieser Problematik, aber auch aus philosophieinternen Grçnden nahe, eine systematische sozialethische Analyse zur Erwerbsarbeitslosigkeit durchzufçhren. Die folgende Untersuchung beschåftigt sich mit der Frage, welche Maûnahmen, die unfreiwillig Arbeitslosen zugute kommen, ethisch gerechtfertigt werden kænnen. Es soll vor allem ein Individualanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit begrçndet werden. Im ersten Kapitel werden empirische Grundlagen fçr eine Behandlung der Thematik vorgestellt. Zunåchst werden verschiedene Hypothesen çber die Ursachen der gegenwårtigen Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern geprçft (Abschnitt I.1). Ich vertrete die These, daû die heutige Arbeitslosigkeit weniger konjunkturell, sondern im wesentlichen technologisch-strukturell bedingt ist. Es erscheint mir auch nicht sehr wahrscheinlich, daû neu entstehende Branchen die durch Rationalisierungen entfallenden Arbeitsplåtze ersetzen kænnen. Eine gerechte Verteilung der verbleibenden Erwerbsarbeit wåre anzustreben. Abschnitt I.2 stellt anhand Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Einleitung
verschiedener empirischer Untersuchungen die negativen individuellen Folgen heraus, die Arbeitslosigkeit mit sich bringt. In Abschnitt I.3 wird geprçft, inwieweit einzelne Funktionen der Erwerbsarbeit wie die Strukturierung des Tagesablaufs anderweitig sichergestellt werden kænnen. Es zeigt sich, daû insbesondere die gesellschaftliche Beteiligung und Anerkennung wesentlich an die Erwerbsarbeit gebunden sind. Ein langfristiger oder gar vollståndiger Ausschluû aus der Erwerbsarbeit fçhrt dazu, daû die Betroffenen in eine marginale soziale Position geraten. Insofern erscheint es als vordringliches Ziel, zumindest eine zeitweise Beteiligung an der Erwerbsarbeit fçr alle Personen zu sichern. Ein akzeptabler Lebensstandard und eine angemessene soziale Absicherung mçssen auch dann gewåhrleistet sein, wenn Menschen phasenweise keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Im zweiten Kapitel werden zentrale Begriffe der Diskussion um ein Recht auf Arbeit analysiert. In Abschnitt II.1 wird ein Begriff der gesellschaftlichen Arbeit expliziert, der fçr die hier behandelte Fragestellung grundlegend erscheint. Anschlieûend erlåutere ich diejenigen Kategorien, die nach den Ergebnissen des ersten Kapitels den besonderen Stellenwert der Erwerbsarbeit erklåren (Abschnitt II.2). Der folgende Abschnitt II.3 setzt sich mit dem Begriff der Selbstachtung auseinander; dies erschien sinnvoll, da sich die normative Diskussion meist auf die negativen Auswirkungen konzentriert, die Arbeitslosigkeit fçr das Selbstwertgefçhl der betroffenen Personen haben kann. Im dritten Kapitel werden einige einfluûreiche normative Theorien vorgestellt und untersucht. Das Kapitel beginnt mit grundlegenden Bemerkungen, die die Auswahl der anschlieûend genauer untersuchten Theorien rechtfertigen sollen. Es wird herausgearbeitet, welchen Bedingungen zeitgenæssische normative Theorien gençgen mçssen (Abschnitt III.1). Zum einen erscheinen Theorien, die primåre Diskriminierungen oder allgemeinverbindliche positive Behauptungen çber das gute Leben beinhalten, nicht akzeptabel. Zum anderen mçssen normative Vorschlåge mit den sozio-ækonomischen Gegebenheiten moderner Groûgesellschaften vereinbar sein. Diese Rahmenbedingungen schrånken zulåssige normative Theorien zwar ein, lassen aber dennoch Raum fçr verschiedene Ansåtze. Insbesondere erfçllen strikt kontraktualistische Theorien, Theorien individueller Rechte und strikt egalitåre Theorien die aufgestellten Voraussetzungen. Als Vertreter dieser Ansåtze analysiere ich in den 10
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Einleitung
Abschnitten III.2 ± III.4 die Theorien von Buchanan, Nozick und Dworkin. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie wird in Abschnitt III.5 als ein Versuch vorgestellt, die ethischen Grundintuitionen systematisch zu verbinden. Es werden spezifische Merkmale der jeweiligen Theorien herausgearbeitet, die eine adåquate Diskussion der Erwerbsarbeitslosigkeit erschweren. Auûerdem wird gezeigt, daû strikte Vertragstheorien von zu schwachen normativen Voraussetzungen ausgehen, wåhrend strikt egalitåre Theorien mit Bezug auf das hier behandelte Problem unnætig starke normative Pråmissen einfçhren. Im vierten Kapitel versuche ich, ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu begrçnden. Abschnitt IV. 1 macht deutlich, daû die zuvor untersuchten Theorien ein gravierendes Defizit aufweisen: Sie konzentrieren sich ausschlieûlich auf Gçter, die zur Verfolgung beliebiger, selbstgewåhlter Lebensplåne notwendig sind. Objektive Voraussetzungen fçr das Wohlergehen werden nicht berçcksichtigt. Es wird argumentiert, daû diese Beschrånkung normativ nicht haltbar ist. Insbesondere sind die Beteiligung an den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten und ein anerkannter gesellschaftlicher Status als soziale Voraussetzungen des Wohlergehens anzusehen. In Abschnitt IV. 2 mache ich deutlich, daû aus einer unparteiischen Perspektive ein Anspruch auf eine akzeptable soziale Position erhebliches Gewicht håtte. Anschlieûend argumentiere ich dafçr, daû unter den gegebenen sozio-ækonomischen Bedingungen ein Rechtsanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit prima facie gewåhlt wçrde und daû er gegençber konfligierenden normativen Ansprçchen wie einer Leistungshonorierung und einer Freizçgigkeit der Arbeitsvertråge stårkeres Gewicht hat (Abschnitt IV. 3). Im fçnften Kapitel wird zunåchst das von mir vertretene Individualrecht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit genauer spezifiziert (Abschnitt V. 1). Es stellt sich heraus, daû eine permanente Beteiligung an der Erwerbsarbeit nicht gefordert werden muû. Vielmehr wåre ein akzeptabler Mindestanspruch an Wochen- und Lebensarbeitszeit zu definieren, der nur freiwillig unterschritten werden darf. Damit ein solcher Anspruch fçr alle Personen gewåhrleistet ist, erscheinen weder eine Vermehrung der Arbeitsplåtze noch eine Arbeitszeitverkçrzung als hinreichend (Abschnitt V. 2). Um zu verhindern, daû besonders gefåhrdete Gruppen wie Behinderte, aber auch unqualifizierte oder familiår besonders belastete Personen aus der Erwerbsarbeit herausgedrångt werden, kænnte es notwendig sein, Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Einleitung
eine bevorzugte Einstellung von Langzeitarbeitslosen rechtlich durchzusetzen (Abschnitt V. 3). Darçber hinaus muû sichergestellt werden, daû Personen, die zeitweise keiner Erwerbsarbeit nachgehen, ein von der Arbeit unabhångiges Grundeinkommen beziehen. Auch die Alters- und die Krankenversorgung mçûten stårker von der Erwerbsarbeit entkoppelt werden, wenn eine durchgångige Erwerbsbeteiligung nicht zu gewåhrleisten ist. Im çbrigen wåre es wichtig, daû arbeitsfreie Phasen nicht als Mangel, sondern als Chance fçr anderweitige Projekte angesehen werden kænnen. Alternative Angebote kænnen aber die Erwerbsarbeit nicht ersetzen, sondern diese nur ergånzen (Abschnitt V. 4). Beim Verfassen dieser Untersuchung hatte ich zahlreiche Hilfen. Ich danke der Friedrich-Ebert-Stiftung fçr die Færderung meiner Dissertation, Professor Dieter Birnbacher fçr die Betreuung der Arbeit und fçr viele wertvolle Vorschlåge sowie Professor Axel Bçhler fçr weitere wichtige Hinweise. Professor Nida-Rçmelin schulde ich Dank fçr die Begutachtung des Projektes; Professor Ernst Michael Lange fçr sein Gutachten und die Ermutigung, mich an diesem Thema zu versuchen. Fçr ausfçhrliche Korrekturen und Vorschlåge bedanke ich mich bei Ines Roellecke und Elisabeth Breckner. Thomas Schmidt hat nicht nur hilfreiche Kommentare geliefert, sondern mich auch in vielen anderen Hinsichten unterstçtzt. Weiterhin danke ich Karl Reinhard Lohmann, Nelson Killius und Wolfram Giffei fçr kritische Anmerkungen. Ich hatte mehrfach die Mæglichkeit, meine Thesen zur Diskussion zu stellen: auf einer von den Professoren Leist und Holzhey in Zçrich veranstalteten interdisziplinåren Tagung zum Thema »Die gesellschaftliche Zukunft der Arbeit«, auf dem internationalen Kongreû der Gesellschaft fçr analytische Philosophie in Mçnchen, am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Universitåt Witten/Herdecke (Professor Priddat), im philosophischen Kolloquium von Professor Bçhler in Dçsseldorf und am Runden Tisch Philosophie in Gættingen. Den Veranstaltern und den Mitwirkenden sei hiermit gedankt. Dank schulde ich auch meinen Eltern fçr die langjåhrige Unterstçtzung und das Interesse an meinem Vorhaben. Mein zu frçh verstorbener philosophischer Lehrer, Professor Lorenz Krçger, hat trotz schwerer Krankheit das Thema der Dissertation mit mir besprochen und håtte die Arbeit gerne betreut. Ich mæchte ihm diese Untersuchung in tiefer Dankbarkeit widmen. 12
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I. Ursachen und individuelle Folgen der Arbeitslosigkeit
Die leitende Frage dieser Untersuchung lautet, welche Maûnahmen, die Erwerbsarbeitslosen zugute kommen sollen, ethisch gerechtfertigt werden kænnen. Insbesondere will ich prçfen, ob ein begrçndbarer Individualanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit besteht. Eine solche Garantie kann aber nur dann plausibel gemacht werden, wenn der Ausschluû aus der Erwerbsarbeit gravierende negative Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Bevor ethische Ûberlegungen angestellt werden, muû also gezeigt werden, daû und weshalb Erwerbsarbeitslosigkeit ein erhebliches individuelles Ûbel darstellt. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels werden empirische Ergebnisse vorgestellt, die die negativen Folgen des Ausschlusses aus der Erwerbsarbeit verdeutlichen. Insbesondere die psychischen Beschwerden vieler Arbeitsloser lassen sich dadurch erklåren, daû mit der Erwerbsarbeit wichtige Funktionen wie die Strukturierung des Tagesablaufs verknçpft sind. Im dritten Abschnitt werden diejenigen Faktoren herausgearbeitet, die kaum von der Erwerbsarbeit abgelæst werden kænnen. Es wird deutlich, daû Erwerbsarbeit nicht nur ein Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts ist, sondern daû sie zumindest in westlichen Gesellschaften auch insofern ein elementares Gut darstellt, als die gesellschaftliche Anerkennung und die aktive Beteiligung an der Gesellschaft wesentlich mit der Erwerbsarbeit verbunden sind. Das erste Kapitel wird mit einer grundsåtzlichen Ûberlegung zu der Frage abgeschlossen, welchen Stellenwert die Arbeit im menschlichen Leben einnimmt. Eine Untersuchung der sozialethischen Forderungen, die mit Bezug auf das Problem der Arbeitslosigkeit erhoben werden mçûten, wåre schon dann relevant, wenn nur einige wenige Personen von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen wåren. Eine besondere Brisanz erhålt das Thema aber dadurch, daû die meisten westlichen Industrielånder seit geraumer Zeit mit einer steigenden Massenarbeitslosigkeit konfrontiert sind. 1994 waren in den Låndern der OECD 35 Millionen Menschen ohne Arbeit; zusåtzlich hatten etwa 15 Millionen Personen die Arbeitsuche aufgegeben oder unfreiwillig eine TeilzeitErwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Ursachen und individuelle Folgen der Arbeitslosigkeit
arbeit angenommen. 1 Insbesondere in den europåischen Låndern nimmt die Anzahl derjenigen Personen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen oder sogar gånzlich aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt sind, ståndig zu. Etwa ein Viertel bis ein Fçnftel der in der Bundesrepublik insgesamt arbeitslosen Personen ist mittlerweile vom Ausschluû aus der Erwerbsarbeit betroffen oder bedroht. 2 Generell sinkt die Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, mit der Dauer der Arbeitslosigkeit. In diesem Sinne hat Arbeitslosigkeit einen selbstverstårkenden Effekt. Als besonders gefåhrdet mçssen im çbrigen Menschen gelten, die entweder wenig qualifiziert oder die weniger belastbar sind ± sei es kærperlich, sei es psychisch, sei es aufgrund familiårer Verpflichtungen. 3 Diese Personen sind håufig von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen; vielen Betroffenen bieten sich allenfalls noch prekåre Beschåftigungsverhåltnisse wie Gelegenheitsjobs, Teilzeitarbeit oder befristete Arbeitsvertråge. Die aufgezeigte Entwicklung kænnte çber die negativen individuellen Folgen hinaus auch zu einer gravierenden gesellschaftlichen Spaltung fçhren. Da ich mich im fçnften Kapitel auch mit Maûnahmen zur Bekåmpfung der Massenarbeitslosigkeit beschåftigen werde, ist es unumgånglich, eine Einschåtzung darçber abzugeben, worin die Ursachen dieses Problems liegen. Das soll im ersten Abschnitt des vorliegenden Kapitels geschehen. Eine umfassende Behandlung dieser hæchst umstrittenen empirischen Frage fållt nicht in den Kompetenzbereich der praktischen Philosophie. Ich werde die von mir vertretenen Thesen, daû die Verknappung der Erwerbsarbeit wesentlich technologisch bedingt ist und daû der Stellenabbau nicht durch neu entstehende Beschåftigungsmæglichkeiten aufgefangen werden wird, nur durch einige Belege und Indizien stçtzen kænnen.
Vgl. Rifkin 1995, 144. Vgl. Kronauer 1995, 7. 3 Daû insbesondere kranke, behinderte oder gesundheitlich eingeschrånkte Personen von Entlassungen und Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind ± die sogenannte Selektionsthese ±, wird durch neuere Studien wie etwa Elkeles/Seifert 1992 belegt. Zur prekåren Situation von Frauen mit Kindern auf dem Arbeitsmarkt vgl. Græzinger/Schubert/ Backhaus 1993. Das Ausschluûrisiko erhæht sich auch mit dem Alter. 1 2
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Ursachen und Prognosen
1. Ursachen der gegenwårtigen Massenarbeitslosigkeit und Prognosen zur zukçnftigen Entwicklung Das Phånomen der Massenarbeitslosigkeit wird meist als Folgeerscheinung moderner, durch Kapital und Lohnarbeit geprågter Úkonomien betrachtet. Dabei wird çbersehen, daû auch in çberwiegend durch Agrararbeit geprågten vormodernen Gesellschaften ein erheblicher Teil der Bevælkerung keine verlåûliche Subsistenzgrundlage hatte. Viele Menschen waren auf Tagelæhner- oder Dienstbotentåtigkeiten angewiesen und fanden nicht selten keine Erwerbsarbeit. Diese Tatsache wurde aber durch das generelle Ûbel der Massenarmut çberschattet. Armut traf auch diejenigen, die keinen Mangel an Arbeit, sondern an den eigenen Agrarerzeugnissen hatten, welche infolge von Miûernten oder hohen Abgaben håufig fçr den Lebensunterhalt nicht ausreichten. Einen gravierenden Einschnitt stellte die Industrialisierung insofern dar, als sie zur Folge hatte, daû sich die Beschåftigungsverhåltnisse grundlegend ånderten. Der weitaus græûte Teil der Bevælkerung kann sich in den Industriegesellschaften nicht einmal theoretisch selbst versorgen, sondern er ist auf eine Lohnarbeit angewiesen, um den Lebensunterhalt sicherzustellen. Periodisch trat nun seit der industriellen Revolution immer wieder das Problem der Massenarbeitslosigkeit auf. Insbesondere in Phasen wirtschaftlicher Rezession ging die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen eklatant zurçck, so daû ein erheblicher Teil der arbeitenden Bevælkerung seine Beschåftigung verlor. 4 Das prågnanteste Beispiel fçr eine weltweite Wirtschaftskrise mit daraus resultierender Massenarbeitslosigkeit sind die 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Låût sich die heute zu konstatierende Massenarbeitslosigkeit auf einen åhnlichen Konjunktureinbruch zurçckfçhren? Generell ist diese Erklårung wenig einschlågig, da keine vergleichbar gravierende Wirtschaftskrise zu verzeichnen ist. Es erscheint sogar fragwçrdig, ob Wirtschaftswachstum zur Zeit çberhaupt einen nennenswerten beschåftigungssteigernden Effekt hat. Meldungen çber konjunkturelle Aufschwçnge und steigende Arbeitslosenzahlen gehen in Nachrichtensendungen oft Hand in Hand. Dieses Phånomen ist unter dem Tiefgreifende ækonomische Krisen, die Massenarbeitslosigkeit zur Folge hatten, traten in Europa im 19. Jahrhundert in den Jahren 1803/4, 1816/17, 1825/26, 1836/37, 1846/47, 1857, 1866 und 1873 auf (vgl. Miegel 1994, 38).
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Ursachen und individuelle Folgen der Arbeitslosigkeit
Schlagwort »jobless growth« hinreichend bekannt. Auch wenn eine bessere Konjunkturlage in einem gewissen Umfang zusåtzliche Arbeitsplåtze schaffen sollte, ist es unbestritten, daû seit geraumer Zeit »¼ bei jedem Konjunkturaufschwung der Sockel der Arbeitslosigkeit græûer geblieben ist.« 5 Aus diesem Grund liegt es nahe zu fragen, ob die gegenwårtige Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern nicht primår andere Ursachen hat. Es ist zu vermuten, daû die Massenarbeitslosigkeit durch mehrere Komponenten bedingt ist. Ich werde im folgenden einige wichtige Faktoren erlåutern und eine Einschåtzung dazu abgeben, inwieweit sie die derzeitige Situation erklåren kænnen. Zunåchst soll die gestiegene Nachfrage nach Arbeitsplåtzen angesprochen werden. Anschlieûend diskutiere ich die strukturell bedingte Arbeitslosigkeit, die als wichtigste Erklårungsalternative zur konjunkturell bedingten Arbeitslosigkeit anzusehen ist. 6 Von struktureller Arbeitslosigkeit kann dann gesprochen werden, wenn nicht die Konjunkturlage insgesamt schlecht ist, sondern in bestimmten Branchen die Beschåftigungsmæglichkeiten stark sinken. Als ein mæglicher Grund fçr strukturelle Arbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern ist der Rçckgang insbesondere der beschåftigungsintensiven Produktion anzusehen, der durch die zunehmende internationale Konkurrenz bedingt ist. Davon ist der Stellenabbau aufgrund von technisch bedingten Rationalisierungen der Arbeitsprozesse als zweite denkbare Ursache zu unterscheiden. Kontrovers diskutiert wird insbesondere die Frage, ob neu entstehende Beschåftigungsmæglichkeiten in anderen Branchen die weggefallenen Arbeitsplåtze ersetzen kænnen. Ich werde im folgenden die pessimistische These vertreten, daû die Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern weder durch eine verbesserte Weltmarktposition noch durch neue Beschåftigungsmæglichkeiten effektiv aufgefangen werden kann.
Lange 1996, 58. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Theorien einer langandauernden Massenarbeitslosigkeit findet sich in Jæhr 1986. Zwei weitere Typen der Arbeitslosigkeit interessieren hier nicht, da sie nur kurzfristige Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt erklåren kænnen: Friktionelle Arbeitslosigkeit (Arbeitsplatzverluste kurzer Dauer und geringen Umfangs infolge betrieblich bedingter Umstellungen) und saisonale Arbeitslosigkeit (witterungsbedingte Beschåftigungsschwankungen in Branchen wie dem Baugewerbe und der Landwirtschaft).
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Ursachen und Prognosen
In vielen westlichen Låndern ist die Nachfrage nach Arbeitsplåtzen in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen. Beispielsweise standen dem westdeutschen Arbeitsmarkt in den 60er Jahren nur 42,5 % der Bevælkerung zur Verfçgung, wåhrend es mittlerweile 48,5 % sind. In absoluten Zahlen bedeutet dies einen Anstieg um 6 Millionen Personen, die einen Arbeitsplatz beanspruchen. Um die Nachfrage zu befriedigen, wåre es nicht nur notwendig gewesen, den Bestand zu halten, sondern es håtte eine erhebliche Anzahl zusåtzlicher Arbeitsplåtze geschaffen werden mçssen. 7 Auch wenn diese Tatsache eine Rolle spielen mag, wird sie in der Fachliteratur nicht als Haupterklårung fçr die langandauernde Massenarbeitslosigkeit angesehen. 8 Im çbrigen wird von denjenigen, die die gestiegene Erwerbsbeteiligung hervorheben, nicht selten die fragwçrdige Intention verfolgt, die zusåtzlich an der Erwerbsarbeit Interessierten ± insbesondere Frauen ± wieder aus dem Arbeitsmarkt herauszudrången. 9 Die meisten Experten teilen die Einschåtzung, daû die gegenwårtige Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern çberwiegend strukturell bedingt ist. Fçr die sinkenden Beschåftigungsmæglichkeiten im Produktionsbereich wird vor allem die Verschårfung der internationalen Konkurrenz verantwortlich gemacht. Durch die Globalisierung der Handelsbeziehungen und die Industrialisierung der Entwicklungs- und Schwellenlånder verlæren die westlichen Lånder in wichtigen Branchen Marktanteile. Insbesondere kænnten sie in arbeitsintensiven Industriezweigen im internationalen Vergleich nicht mithalten, da aufgrund der in den meisten westlichen Industrielåndern relativ hohen Læhne und Lohnnebenkosten die jeweiligen Produkte zu teuer seien. Um wettbewerbsfåhig zu bleiben, wçrden die westlichen Konzerne zunehmend dazu çbergehen, ihre Produktionsstandorte in Billiglohnlånder zu verlagern. Dieser weit verbreitete Erklårungsansatz fçr die Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern ist sicherlich nicht gånzlich von der Hand zu weisen. Ob damit die Hauptursache der Arbeitslosigkeit benannt ist, erscheint aber fraglich. Ich werde im folgenden einige Fakten benennen, die eher darauf hindeuten, daû Vgl. Miegel 1994, 37. Vgl. Jæhr 1986, 68 ff. 9 Es erscheint ethisch nicht vertretbar, den Wunsch einer bestimmten Personengruppe, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, nicht zu respektieren. Vgl. dazu genauer Abschnitt III.1. 7 8
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Ursachen und individuelle Folgen der Arbeitslosigkeit
technologisch bedingte Stelleneinsparungen eine dominante Rolle spielen. An dieser Stelle sollte der Hinweis nicht fehlen, daû die zumindest implizit nahegelegte Strategie zur Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit ± eine drastische Reduzierung der Læhne und vor allem der Lohnnebenkosten ± kaum akzeptabel erscheint. 10 Sie håtte den Effekt, daû die meisten Beschåftigten ihre soziale Absicherung verlieren wçrden, da sie den Ausfall der Arbeitgeberanteile an den jeweiligen Versicherungen nicht aus eigenen Mitteln kompensieren kænnen. Mit den USA hat man ein extremes Beispiel fçr die Folgen vor Augen, die eine Auflæsung der sozialen Sicherung mit sich bringen kann: Durch zeitlich und quantitativ eng begrenzte Unterstçtzungsleistungen fçr Arbeitslose wurde der Effekt erzielt, daû die Betroffenen auch extrem niedrig bezahlte geringfçgige Beschåftigungen annehmen, die keine soziale Absicherung garantieren und die sogar oft nicht einmal ausreichen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Zwar liegt der Anteil der Langzeitarbeitslosen an den insgesamt Arbeitslosen in den USA nur bei 6,3 %, wåhrend er in Westeuropa 45,8 % betrågt. 11 Auf der anderen Seite ist aber »¼ ein groûer Teil der amerikanischen Armutsbevælkerung ± Schåtzungen gehen bis zu 50 % ± ¼ in prekåren und schlecht bezahlten Arbeitsverhåltnissen beschåftigt.« 12 Der hohen Zahl an Langzeitarbeitslosen in Europa steht in den USA die groûe Gruppe der »working poor« gegençber. Prekåre Beschåftigungsverhåltnisse stellen keine Alternative zu Vollarbeitsplåtzen dar. Diskutabel wåre die genannte Strategie zur Erhæhung der Beschåftigung nur, wenn die Grundversorgung, die Kranken- und die Altersabsicherung unabhångig von der Erwerbsarbeit gewåhrleistet wåren. Entsprechende Forderungen nach einem garantierten Grundeinkommen und einer Abkoppelung der sozialen Sicherungssysteme von der Erwerbsarbeit werde ich im fçnften Kapitel untersuchen. 13
Teils wird auch darauf vertraut, daû in innovativen, çberwiegend hochtechnisierten Sektoren, in denen die westlichen Industrielånder einen Wettbewerbsvorteil haben, neue Arbeitsplåtze entstehen werden. Vgl. hierzu die Kritik im Anschluû an die Bemerkungen zur technologisch bedingten Arbeitslosigkeit. 11 Vgl. Rifkin 1995, 148. 12 Kronauer 1995, 7. 13 Eine Begrçndung der hier vertretenen normativen Thesen wird erst in spåteren Teilen der Untersuchung geleistet werden. 10
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Ursachen und Prognosen
Als zweite mægliche Ursache fçr die strukturelle Arbeitslosigkeit hatte ich die zunehmende Rationalisierung der Arbeitsprozesse benannt. Durch neue ± insbesondere computergestçtzte ± Techniken hat eine drastische Reduzierung des Anteils menschlicher Arbeit vor allem an der Herstellung von Produkten stattgefunden. Ich teile die Einschåtzung vieler Experten, daû diese Entwicklung weitgehend ausschlaggebend fçr den gegenwårtigen Stellenabbau ist. 14 Besonders eindringlich wird die Rationalisierung in Rifkins 1995 erschienenem Buch »Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft« dargestellt. Auch wenn die dort entworfenen Zukunftsszenarien vielleicht ein wenig çbertrieben anmuten, sind die von Rifkin zitierten Beispiele ein starkes Indiz fçr die These, daû die gegenwårtige Massenarbeitslosigkeit wesentlich technologisch bedingt ist. Ich will daher im folgenden einige der Ergebnisse zusammengefaût wiedergeben. Laut Rifkin gehen in den US-amerikanischen Unternehmen jåhrlich mehr als zwei Millionen Arbeitsplåtze verloren. 15 Øhnliches gilt fçr europåische Unternehmen. Vor allem im Bereich der Industrie ist ein massiver Stellenabbau zu konstatieren. Dieses Faktum ist in der Regel nicht durch eine zurçckgegangene Nachfrage bedingt: Der Elektro- und Maschinenbaukonzern ABB entlieû in den letzten Jahren etwa 50.000 Beschåftigte, konnte aber in derselben Zeit seinen Umsatz um 60 % steigern. 16 Mercedes-Benz baute 1994 bei einer Umsatzsteigerung von 9 % 10.000 Arbeitsplåtze ab. 17 Die erheblichen Stelleneinsparungen sind nach Rifkin vielmehr vorwiegend auf die Automatisierung von Arbeitsablåufen zurçckzufçhren, durch die die Produktivitåt wesentlich erhæht werden kann. Menschliche Arbeit wird im Produktionsprozeû zunehmend verzichtbar. 18 BeiVgl. z. B. Jacob 1988 sowie die Beitråge in Hagemann/Kalmbach 1983. Auch das EGWeiûbuch 1993 und die OECD-Studie 1994 gehen davon aus, daû die gegenwårtige Massenarbeitslosigkeit nur zum geringen Teil konjunkturell bedingt ist, sondern daû sie çberwiegend als strukturelle und sogar technologische Arbeitslosigkeit angesehen werden muû. Allerdings setzen beide Studien stark auf die fragwçrdige Option, durch Abbau von Lohnnebenkosten neue Arbeitsplåtze zu schaffen. Auûerdem gehen sie davon aus, daû eine Umstrukturierung stattfindet, in deren Folge neue Arbeitsplåtze entstehen werden. Zu åhnlichen Prognosen kommen die meisten Beitråge in HerrhausenGesellschaft 1994. 15 Vgl. Rifkin 1995, 19. 16 Vgl. a. a. O., 23. 17 Vgl. a. a. O., 99. 18 Zusåtzliche Stelleneinsparungen geringeren Umfangs sind durch die Einebnung von unternehmensinternen Hierarchien und den Ûbergang zur Teamarbeit bedingt. 14
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spielsweise ist in einer neuen Automobilfabrik der Firma Mazda die Endmontage zu 30 % automatisiert worden ± angestrebt wird zukçnftig eine Automatisierung von 50 %. 19 Diese Entwicklung trifft insbesondere die Sektoren der Metallindustrie und der metallverarbeitenden Industrie. Neben der Automobilproduktion ist hier auch die Stahlerzeugung zu nennen: In den modernen Stahlwerken von Nippon sind die wenigen Beschåftigten nur noch fçr die Programmierung und Ûberwachung der computergesteuerten Anlagen zuståndig. 20 United States Steel stellte etwa dieselbe Menge Stahl im Jahre 1980 mit 120.000, im Jahre 1990 mit 20.000 Beschåftigten her. Aber auch andere Industriezweige sind von einer Automatisierung der Arbeitsvorgånge betroffen, wie sich am Beispiel der Textilindustrie zeigen låût. 21 Rifkin weist in diesem Zusammenhang auch die Behauptung zurçck, daû die Verlagerung von Produktionsståtten in Entwicklungslånder vorwiegend vollzogen wird, um Billiglæhne auszunutzen. Auch die dort errichteten Fabriken seien meist hochautomatisiert. Ausschlaggebend fçr die Ansiedlung sei in der Regel die Nåhe zu einem zukçnftigen Markt. 22 Daû im industriellen Sektor durch technologische Neuerungen ein erheblicher Stellenabbau stattgefunden hat und weiterhin stattfindet, låût sich kaum bestreiten. Kontrovers ist, wie sich diese Entwicklung auf die zukçnftige Arbeitsmarktsituation auswirken wird. Eine optimistische Prognose behauptet, man stçnde nur vor einem tiefgreifenden Strukturwandel. Mittel- bis langfristig wçrden sich neue Beschåftigungsmæglichkeiten ergeben, die die weggefallenen Stellen ersetzen kænnen. Um diese These zu plausibilisieren, muû spezifiziert werden, in welchen Bereichen die zusåtzlichen Arbeitsplåtze entstehen sollen. Insbesondere werden zwei Sektoren genannt: Einerseits Tåtigkeiten im Bereich der neuen Technologien, andererseits ein ausgeweiteter Dienstleistungssektor. Allerdings dçrften die im innovativen, hochtechnisierten Bereich anfallenden Aufgaben çberwiegend hohe Qualifikationen erfordern, çber die die zum groûen Teil wenig oder gar nicht qualifizierten Arbeitslosen nicht verfçgen. Dienstleistungen wiederum mçssen differenziert werden in Gelegenheitsarbeiten wie Autowaschen und Schuheputzen, die keine Alterna19 20 21 22
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Vgl. a. a. O., 100. Vgl. a. a. O., 102. Vgl. a. a. O., 106. Vgl. a. a. O., 151 f.
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Ursachen und Prognosen
tive zu Vollarbeitsplåtzen darstellen 23 , und neue unterhaltssichernde Betåtigungsfelder. Kænnen im Dienstleistungsbereich hinreichend viele Erwerbsarbeitsplåtze geschaffen werden? Auch in dieser Hinsicht entwirft Rifkin ein skeptisches Bild, da Rationalisierungen im Dienstleistungssektor ebenfalls mæglich und zu erwarten sind. Der verstårkte Einsatz von Computern zur Informationsverarbeitung und Koordinierung wird hier generell erhebliche Folgen zeigen. Einige Beispiele, die sich auf typische Dienstleistungsberufe beziehen, mægen dies verdeutlichen: Zwischen 1983 und 1993 haben die USamerikanischen Banken 179.000 Kassiererinnen und Kassierer durch Automaten ersetzt. Auf diese Weise wurden 37 % der insgesamt im Bankgewerbe Beschåftigten eingespart. 24 Nach Einschåtzung der Anderson Consulting Company werden in den nåchsten Jahren bei den US-amerikanischen Handels- und Geschåftsbanken weitere 30 bis 40 % der Arbeitsplåtze abgebaut werden. 25 Elektronische Kassen haben in den USA 10±15 % der im Handel beschåftigten Kassiererinnen und Kassierer çberflçssig gemacht. 26 Durch die Einfçhrung der EDVTechnik wurde in den USA die Zahl der Sekretårinnen und Sekretåre von 1983 bis 1993 um 3,6 Millionen Beschåftigte gesenkt. 27 Auch Gçtertransporte und die Auslieferung von Waren kænnen mithilfe neuer Techniken erheblich effizienter gestaltet werden. Auch wenn sich im Bereich der Informationstechniken und in anderen innovativen Sektoren zusåtzliche Arbeitsmæglichkeiten ergeben werden, scheint mir eine erhebliche Skepsis gegençber der Behauptung angebracht zu sein, daû durch neu entstehende Arbeitsplåtze eine Vollbeschåftigung hergestellt werden kann. Es ist wenig plausibel, daû der Umfang der neuen Betåtigungsmæglichkeiten ausreichen wird, um die Nachfrage nach unterhaltssichernden Arbeitsplåtzen zu befriedigen. Generelle Prognosen dieser Art sind natçrlich immer strittig und auch mithilfe detaillierter empirischer Untersuchungen kaum durchschlagend zu begrçnden. Wer meine Einschåtzung fçr gånzlich unplausibel hålt, kann die folgenden Erærterungen m. E. Vgl. dazu die obigen Erærterungen zu prekåren Beschåftigungsverhåltnissen in den USA. 24 Vgl. a. a. O., 109. 25 Vgl. a. a. O., 22. 26 Vgl. a. a. O., 117. 27 Vgl. a. a. O., 114. 23
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dennoch interessant finden. 28 Die empirischen Studien zu den individuellen Folgen der Erwerbsarbeitslosigkeit, mit denen ich mich in diesem Kapitel vorwiegend beschåftigen werde, sind von der genannten Prognose nicht abhångig. Dies gilt auch fçr die normativen Ûberlegungen zum Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit, die im Zentrum meiner Untersuchung stehen: Selbst wenn langfristig eine weitgehende Verbesserung der Arbeitsmarktsituation zu erwarten wåre, sind gegenwårtig Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen, denen eine solche Entwicklung nicht helfen wçrde. Und sogar bei annåhernder Vollbeschåftigung kænnten immer noch einzelne Personen aus der Erwerbsarbeit herausfallen. Da ich fçr einen Individualanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit plådieren werde, wåren die normativen Untersuchungen nicht einmal unter sehr gçnstigen Bedingungen gegenstandslos.
2. Empirisch nachgewiesene negative Auswirkungen der Erwerbsarbeitslosigkeit auf die Betroffenen Erwerbsarbeitslosigkeit wçrde kein ethisches Problem darstellen, wenn sie nicht gravierende negative Auswirkungen auf die Betroffenen håtte. In diesem Abschnitt sollen zunåchst einige empirisch gesicherte Ergebnisse wiedergegeben werden, die verdeutlichen, daû der Ausschluû von der Erwerbsarbeit ein individuelles Ûbel darstellt. Unkontrovers ist, daû Arbeitslosigkeit mit nicht unerheblichen finanziellen Einbuûen verbunden ist. Darçber hinaus bringt der Ausschluû aus der Erwerbsarbeit in der Regel aber auch starke psychische Belastungen mit sich. Dieses Faktum ist erklårungsbedçrftig. Es soll anhand sozialpsychologischer Studien nachgewiesen werden, daû fçr diese Beeintråchtigungen neben den finanziellen Einschrånkungen weitere Faktoren verantwortlich sind, mit denen ich mich im anschlieûenden Abschnitt genauer auseinandersetzen werde. Die Forschungsliteratur zu diesem Thema ist umfangreich; ich kann in diesem Rahmen nur einige Untersuchungen exemplarisch herausgreifen.
Erst die Diskussion konkreter Maûnahmen zur Bekåmpfung der Massenarbeitslosigkeit wird auf die hier angestellten Ûberlegungen zurçckgreifen. Vgl. dazu die Abschnitte V. 2 ± V. 4.
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Negative Auswirkungen der Erwerbsarbeitslosigkeit
Erwerbsarbeitslosigkeit hat offenkundig Auswirkungen auf den Lebensstandard der betroffenen Personen. Der Grad der finanziellen Einschrånkungen kann natçrlich erheblich variieren. So gerieten wåhrend der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre die meisten von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen in Armut. Erwerbslose lebten oft unter dem Existenzminimum; sie konnten nicht fçr Nahrung, Kleidung, Wohnung und Heizung aufkommen. 29 Seit einigen Jahrzehnten bestehen in den meisten westlichen Låndern Arbeitslosenversicherungen und Sozialhilfesysteme, die der Gefahr der Verarmung entgegenwirken. Dennoch kann absolute Armut bei lang andauernder Arbeitslosigkeit insbesondere in groûen Haushalten nach wie vor durchaus auftreten. Fçr die 70er Jahre wird z. B. mit Bezug auf englische Erwerbsarbeitslose festgestellt: »Ein Teil der Familien geriet in wirkliche Not, sie hatten zu wenig Geld fçr Ernåhrung, Kleidung und Strom.« 30 Im Jahre 1992 standen Langzeitarbeitslosen in den neuen Bundeslåndern im Durchschnitt monatlich nur 662 DM zur Verfçgung. Aber auch wenn eine Verarmung nicht mehr die Regel ist, mçssen die meisten Arbeitslosen zumindest finanzielle Einschrånkungen erheblichen Umfangs hinnehmen. Ende der 80er Jahre hatten nach repråsentativen Befragungen in der Bundesrepublik 74 % aller Arbeitslosen ihre Ausgaben eingeschrånkt, 17 % hatten Schulden gemacht, und 9 % waren mit der Miete in Verzug gekommen. 31 Man kann hier zumindest von einer erheblichen relativen finanziellen Schlechterstellung sprechen, da Arbeitslose sich einen Groûteil der Gçter und Dienstleistungen nicht leisten kænnen, die zu einem durchschnittlichen Lebensstandard dazugehæren. Mehr oder weniger gravierende finanzielle Einschrånkungen sind allerdings nicht die einzige negative Folgeerscheinung, die Erwerbsarbeitslosigkeit mit sich bringt. Es sind in jçngerer Zeit zahlreiche sozialpsychologische und medizinische Studien mit unterschiedlichem Design entstanden, die belegen, daû Arbeitslose in besonderem Maûe unter psychischen und gesundheitlichen Beeintråchtigungen leiden. 32 In einigen wichtigen Hinsichten weisen die Fçr eine ausfçhrliche Darstellung vgl. Jahoda 1983, 34 ff. Marsden/Duff 1975, 238. 31 Vgl. Brinkmann/Wiedemann 1994, 180 f. 32 Zu unterscheiden sind Querschnittstudien wie Hoeltz/Burmann/Schræder 1990, Långsschnittstudien wie Elkeles/Seifert 1992, Follow-Up-Studien wie Brinkmann/Potthoff 1983 und Fallstudien wie Brenner/Pettersen/Arnetz/Levi 1989. 29 30
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Forschungsarbeiten çbereinstimmende Ergebnisse auf. Zunåchst zeigen verschiedene Befragungen, daû Arbeitslose ihr Befinden çberwiegend als schlecht einschåtzen: Ein Groûteil der Betroffenen gibt an, daû sich seit Beginn der Arbeitslosigkeit Beschwerden wie Øngstlichkeit, Depressivitåt, Schlaflosigkeit, Irritierbarkeit, fehlendes Selbstvertrauen, Gleichgçltigkeit und allgemeine Nervositåt verschlimmert håtten. 33 Darçber hinaus ist in mehreren repråsentativen Studien gezeigt worden, daû Arbeitslose auch mit Bezug auf leichter objektivierbare Gesundheitsindikatoren wie die Håufigkeit von Erkrankungen schlechter dastehen als Erwerbståtige. Gravierende chronische Krankheiten und Behinderungen sind in der Gruppe der Arbeitslosen ebenfalls stårker verbreitet. 34 Sogar eine erhæhte Rate an Suizidversuchen låût sich konstatieren: Die Versuche der Selbsttætung sind bei Arbeitslosen etwa 20 mal so håufig wie bei Beschåftigten. 35 Alle Gesundheitsindikatoren weisen fçr Arbeitslose schlechtere Werte auf als fçr Erwerbståtige. Dies bedeutet allerdings nicht zwingend, daû die jeweiligen Beschwerden durch die Arbeitslosigkeit verursacht sind. Es wåre auch die umgekehrte Kausalbeziehung denkbar: Gesundheitliche Beeintråchtigungen kænnten Arbeitslosigkeit nach sich ziehen, da die Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt schlechtere Chancen haben. Neuere Studien wie die detaillierte Untersuchung von Elkeles/Seifert 1992 deuten darauf hin, daû schwere physische und psychische Erkrankungen eher nicht als Auswirkungen der Arbeitslosigkeit anzusehen sind. Bei einer Verknappung der Arbeitsplåtze werden vor allem gesundheitlich geschådigte Personen aus der Erwerbsarbeit herausgedrångt; ihre Chance, wieder eine Stelle zu bekommen, ist relativ gering. Dieser Selektionseffekt ist wohl primår dafçr verantwortlich, daû çberrepråsentativ viele Arbeitslose unter schweren gesundheitlichen Beeintråchtigungen leiden. Die angefçhrten leichteren psychischen Beschwerden dçrften hingegen durch die Arbeitslosigkeit verursacht sein. Darauf deutet die Tatsache hin, daû Phånomene wie Depressivitåt, Schlaflosigkeit Vgl. Warr/Jackson 1984. Zu einem åhnlichen Ergebnis kommt eine neuere repråsentative Långsschnittuntersuchung, die in Dresden durchgefçhrt wurde ± vgl. Frese 1994, 205. 34 Vgl. z. B. Brinkmann/Potthoff 1983 und Elkeles/Seifert 1992. Auch gesundheitsriskantes Verhalten ± z. B. Alkohol- und Tabakkonsum ± wird bei Arbeitslosen verstårkt angetroffen. Vgl. Kieselbach 1994, 243 f. 35 Vgl. Kieselbach 1994, 243 unter Berufung auf Platt 1985. 33
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Negative Auswirkungen der Erwerbsarbeitslosigkeit
und mangelndes Selbstvertrauen in der Regel zurçckgehen, wenn die davon betroffenen Arbeitslosen eine neue Anstellung finden. Auch weniger gravierende psychosomatische Erkrankungen kænnen in vielen Fållen als Folgeerscheinung der Erwerbsarbeitslosigkeit angesehen werden. 36 Es sollte beachtet werden, daû die genannten negativen psychischen Effekte insbesondere bei Langzeitarbeitslosen gehåuft auftreten. Daû Dauerarbeitslosigkeit ein besonders gravierendes Problem darstellt, wird auch daran deutlich, wie der Zustand von den Betroffenen in der Regel verarbeitet wird: Zu Beginn der Arbeitslosigkeit verstårken sich psychische und psychosomatische Beschwerden erheblich. Bei långer andauerndem Ausschluû von der Erwerbsarbeit pendeln sie sich auf einem bedenklichen Niveau ein, oder sie gehen leicht zurçck, sofern sich die Betroffenen an ihre Situation gewæhnen. Sehr lang anhaltende Arbeitslosigkeit fçhrt aber meist zu einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit. 37 Wie ist es zu erklåren, daû Erwerbsarbeitslose nicht nur finanzielle Einschrånkungen hinnehmen mçssen, sondern håufig auch unter psychischen Beschwerden leiden? Zunåchst einmal låût sich eine Beziehung zwischen den beiden Effekten konstatieren: Je weiter eine Verarmung bei den Arbeitslosen fortschreitet, um so mehr tendieren die Betroffenen zu Resignation, Verzweiflung und schlieûlich gar Apathie. 38 Doch nicht nur absolute Armut, sondern auch eine relative finanzielle Schlechterstellung dçrfte negative psychische Auswirkungen haben. Die eigene soziale Position wird nicht zuletzt relativ zum Lebensstandard der Mehrheit der Bevælkerung bestimmt. Wer çber nicht lebensnotwendige, aber allgemein gebråuchliche Gçter und Dienstleistungen nicht verfçgen kann, wird dies als Herabsetzung erleben. 39 Zu diesem Ergebnis kommen u. a. Brinkmann/Potthoff 1983, Sabroe/Iversen 1989, Warr/Jackson 1984, Lahelma 1989 und Verkleij 1989. 37 Vgl. Verkleij 1989. 38 Vgl. Jahoda 1983, 43 f. 39 Die Auswirkungen der relativen finanziellen Schlechterstellung deuten darauf hin, daû es wichtig wåre, ein Mindesteinkommen in Relation zum durchschnittlichen Lebensstandard festzulegen und dieses fçr alle Personen abzusichern. Die zur Zeit garantierte Sozialhilfe reicht hierfçr offenbar nicht aus. Im fçnften Kapitel werde ich mich auch mit dem Vorschlag beschåftigen, ein arbeitsunabhångiges Grundeinkommen einzufçhren. Dies kænnte ein wichtiger Schritt in die angegebene Richtung sein. 36
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Nun lieûe sich dieses Problem theoretisch dadurch beheben, daû die an die Arbeitslosen ausgezahlten Geldbetråge angehoben wçrden. Aber selbst im Falle einer relativ groûzçgig bemessenen finanziellen Versorgung der Erwerbsarbeitslosen wçrde ein anderer negativer Effekt bestehen bleiben: Im Unterschied zu den meisten Erwerbståtigen sind Arbeitslose nicht in der Lage, fçr ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Sofern sie nicht çber ein privates Vermægen verfçgen, sind sie auf Unterstçtzungsleistungen angewiesen. Dieser Zustand wird von vielen Menschen als entwçrdigend empfunden. Vermutlich gilt das in besonderem Maûe, wenn man sich in einer persænlichen Abhångigkeit von der Gunst anderer Personen befindet. Die Sozialhilfe ist demgegençber wenigstens kein Almosen, sondern durch einen Rechtsanspruch abgesichert. Dennoch verdienen Sozialhilfeempfånger ihren Lebensunterhalt nicht selbst. Zusåtzlich erleben es die meisten Personen offenbar als demçtigend, daû sie sich einer Bedçrftigkeitsprçfung unterziehen mçssen. 40 Der Anspruch auf Arbeitslosengeld wird hingegen dadurch erworben, daû wåhrend der Erwerbståtigkeit Beitråge an die entsprechende Versicherung abgefçhrt werden; insofern ist diese Art der Unterstçtzung immerhin nicht gånzlich unabhångig davon, daû zuvor Arbeitsleistungen erbracht wurden. Der Modus, nach dem die jeweiligen Hilfen gewåhrt werden, dçrfte die negativen psychischen Auswirkungen beeinflussen. Aber trotz dieser Differenzen haben Arbeitslose generell nicht die Mæglichkeit, sich aus eigener Kraft zu versorgen. Insbesondere Dauerarbeitslose sind håufig auf Sozialhilfe angewiesen und erfahren eine deutliche Herabsetzung gegençber Erwerbståtigen. Die obigen Bemerkungen zur ækonomischen Schlechterstellung und zur Abhångigkeit von Unterstçtzungsleistungen lassen es plausibel erscheinen, daû der finanzielle Aspekt ± direkt oder indirekt ± zumindest einen Teil der psychischen Beeintråchtigungen der Erwerbsarbeitslosen erklårt. Es ist allerdings nicht anzunehmen, daû die psychischen oder gar gesundheitlichen Beschwerden ausschlieûlich auf die finanziellen Einschrånkungen und die Abhångigkeit von Unterstçtzungsleistungen zurçckgefçhrt werden kænnen. Mit der Erwerbsarbeit sind weitere wichtige, psychisch stabilisierende FunkAuch dieser Aspekt spricht fçr das in der vorigen Fuûnote angesprochene arbeitsunabhångige Grundeinkommen, bei dem eine Prçfung der Bedçrftigkeit entfallen wçrde.
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tionen verbunden. 41 Mægliche zusåtzliche Faktoren, die eine Auswirkung auf das Befinden der Arbeitslosen haben kænnten, wurden in der mittlerweile klassischen Arbeitslosenstudie einer Forschungsgruppe um Marie Jahoda benannt. Diese qualitative Untersuchung beschåftigte sich mit den Folgen, die die Massenarbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre fçr die Einwohner der æsterreichischen Stadt Marienthal hatte. Sie basiert teils auf Befragungen der Arbeitslosen, teils auf Beobachtungen, die die Wissenschaftler machen konnten. 42 In der Studie werden Hypothesen darçber entwickelt, welche wichtigen Funktionen mit der Erwerbsarbeit verknçpft sind und inwieweit diese gefåhrdet sind, wenn der Arbeitsplatz verlorengeht. Zahlreiche neuere Befragungen haben die Ergebnisse in weiten Teilen beståtigt. Die relevanten Faktoren sollen im folgenden genauer betrachtet werden. Jahoda benennt insbesondere fçnf Folgeerscheinungen der Erwerbsarbeitslosigkeit, die sich auf das Wohlbefinden der Betroffenen negativ auswirken: (i) Verlust der Zeitstruktur, (ii) Fehlen von regelmåûigen Betåtigungen, (iii) Reduktion sozialer Kontakte, (iv) fehlende Beteiligung an kollektiven Zielen, (v) Verlust eines anerkannten Status. 43 zu (i): In modernen westlichen Gesellschaften wird die Zeiterfahrung wesentlich dadurch geprågt, daû man von der Kindheit an festgelegten Terminen unterworfen ist. Insbesondere die Erwerbsarbeit spielt insofern eine wichtige Rolle, als sie fçr viele erwachsene Menschen den Tagesablauf strukturiert. Mit dem Fortfallen der Erwerbsarbeit wird diese Struktur zerstært. In Marienthal verlor ein groûer Teil der Erwerbsarbeitslosen das Zeitgefçhl; auch private Termine, die nicht an eine Erwerbståtigkeit gebunden sind, wurden oft nicht eingehalten. Mit dem Verlust eines strukturierten Tagesablaufs gingen laut Jahoda psychische Belastungen einher. 44 Ein starkes Indiz fçr diese These ergibt sich daraus, daû nach vielen Befragungen ein groûer Teil der Bevælkerung auch dann einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen wçrde, wenn keine ækonomische Notwendigkeit dazu bestçnde. Vgl. Jahoda 1983, 67. 42 Die Ergebnisse werden in Jahoda 1983 zusammengefaût dargestellt. 43 Vgl. a. a. O., 70. 44 Vgl. a. a. O., 45 ff. Jahoda nimmt an dieser Stelle einige problematische Wertungen vor; es ist die Rede von Zeitverschwendung und dem Verbummeln der Zeit auf der 41
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zu (ii): Erwerbsarbeit zwingt dazu, regelmåûig Tåtigkeiten auszuçben. Diese Selbstverståndlichkeit entfållt fçr Arbeitslose. Nach Jahoda wurde in Marienthal die zusåtzliche freie Zeit nicht durch verstårkte Eigenaktivitåten gefçllt. Darçber hinaus war es sogar die Regel, daû von den Arbeitslosen Freizeitbeschåftigungen eingestellt wurden, die sie ausgeçbt hatten, als sie noch an der Erwerbsarbeit beteiligt waren. Beispielsweise ging in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit die Zahl der Ausleihen in der ærtlichen Bçcherei zurçck, obwohl die Leihgebçhren abgeschafft wurden. 45 zu (iii): Durch die Erwerbsarbeit werden soziale Kontakte vermittelt, die çber den privaten Bereich hinausgehen. Diese Kontakte sind weniger stark emotional besetzt und vielfåltiger als Freundschafts- oder Familienbeziehungen. Der Verlust des Arbeitsplatzes læst diese Kontakte weitgehend auf und fçhrt zu (relativer) sozialer Isolation. Von vielen Arbeitslosen wurden die Begegnungen mit Kollegen oder Kunden vermiût. Darçber hinaus wurden håufig sogar persænliche Beziehungen abgebrochen, die nicht an die Erwerbsarbeit gebunden waren. 46 zu (iv): Mit der Erwerbsarbeit geht einher, daû man an gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten und Zielen beteiligt ist. Wer die Arbeit verliert, ist in der Regel auch von diesem sozialen Zusammenhang ausgeschlossen. Die aktive Beteiligung beschrånkt sich auf den persænlichen Nahbereich oder auf spezielle Interessengemeinschaften. Die Arbeitslosen in Marienthal bekundeten, daû sie darunter litten, nicht gebraucht zu werden oder nutzlos zu sein. 47 zu (v): In modernen Gesellschaften sind der Status und das Selbstbild einer Person wesentlich durch die Erwerbsarbeit festgelegt. Wenn Menschen arbeitslos sind, fehlt ihnen eine wichtige Identifikationsmæglichkeit. In der Regel verlieren
Straûe, im Club oder im Bett. Auf diese wertende Tendenz werde ich im nåchsten Abschnitt noch zurçckkommen. 45 Vgl. a. a. O., 47 ff. 46 Vgl. a. a. O., 49 ff. Daû sich auch die privaten Kontakte der Arbeitslosen reduzieren, ist ebenso erklårungsbedçrftig wie das oben genannte Phånomen, daû selbstgewåhlte Aktivitåten eingestellt werden. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt. 47 Vgl. a. a. O., 48 f.
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Arbeitslose gar einen akzeptierten sozialen Status. 48 In Marienthal identifizierten sich die meisten Personen, die keiner Erwerbsarbeit nachgingen, mit der Negativzuschreibung »arbeitslos«. Sie klassifizierten sich damit selbst als Auûenseiter, und sie wurden von den Erwerbståtigen meist ebenso angesehen. 49 Inwieweit werden diese Befunde durch neuere, nicht auf einen Ort beschrånkte Studien beståtigt? Eberhard Brinkmann hat seit den 80er Jahren in Ost- und Westdeutschland mehrere Befragungen durchgefçhrt, die durchaus zu åhnlichen Resultaten kommen. 50 Insbesondere gab eine groûe Anzahl der Betroffenen an, daû ihnen der Kontakt mit Kollegen, Kunden oder Mitarbeitern fehlt (50±70 %). Viele Arbeitslose sagten, sie wçrden nicht mehr so oft zu Freunden oder Bekannten gehen (20±30 %). Die zusåtzliche freie Zeit scheint ebenfalls ein nicht unerhebliches Problem darzustellen: 40±70 % der Befragten erklårten, daû ihnen das viele Zuhausesein auf die Nerven gehe. Daû sich 40±60 % der Arbeitslosen nach eigenem Bekunden manchmal çberflçssig vorkamen, deutet darçber hinaus darauf hin, daû die fehlende Beteiligung an den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten ein erhebliches Problem darstellt. Eine Befragung in Bremen zeigt ± bei insgesamt etwas niedrigeren Prozentzahlen ± vergleichbare Ergebnisse. 51 Im Rahmen der Untersuchung wurde von 36 % der Befragten angegeben, daû sie das Gefçhl håtten, andere wçrden auf sie hinabblicken. Auch der Statusverlust ist durch Befragungen offenbar zu beståtigen. Es sollte nicht unerwåhnt bleiben, daû in den von Brinkmann durchgefçhrten Befragungen Arbeitslose am håufigsten åuûerten, sie seien sehr darçber beunruhigt, ob sie eine neue Stelle finden wçrden (60±80 %). Die Angst davor, langfristig oder gar vollståndig von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen zu bleiben, stellt offenbar ein erhebliches Problem dar. Insofern scheint es besonders wichtig zu sein, fçr Erwerbsarbeitslose die Perspektive zu schaffen, einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen. 52 Im çbrigen ist festzuhalten, daû die jeweiEs mçûte hier genauer unterschieden werden zwischen dem allgemeinen Status »berufståtig« und dem durch den ausgeçbten Beruf vergebenen spezifischen Status. Siehe dazu die Bemerkungen im folgenden Abschnitt. 49 Vgl. a. a. O., 51. 50 Vgl. die Ûbersicht der Ergebnisse in Brinkmann/Wiedemann 1994, 183 ff. 51 Vgl. Kieselbach 1994, 249 ff. 52 Auch Frese 1994, 204 f. macht deutlich, daû die Unsicherheit der Arbeitslosen, ob sie 48
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ligen Folgeerscheinungen bei långer andauernder Arbeitslosigkeit von einer græûeren Anzahl der Betroffenen benannt wurden als kurz nach dem Verlust des Arbeitsplatzes. Langzeitarbeitslosigkeit scheint die genannten Effekte also zu verstårken. Hierauf deutet auch eine Studie von Turtle und Ridley hin, in der nachgewiesen wird, daû Langzeitarbeitslose gegençber kurzfristig Arbeitslosen in hæherem Maûe desorganisierte Schlaf- und Eûgewohnheiten haben und physisch inaktiv sind. Auch ein sozialer Rçckzug ist håufiger zu beobachten. 53 Sofern Dauerarbeitslose Kontakte aufrechterhalten, beschrånken diese sich oft auf Personen, die sich in derselben Situation befinden wie sie. Es besteht die Gefahr, daû sich ein abgeschlossenes soziales Milieu der aus der Erwerbsarbeit Ausgegrenzten entwickeln kænnte. 54 Inwieweit sich die genannten typischen Folgeerscheinungen der Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen einstellen, ist naheliegenderweise von mehreren zusåtzlichen sozialen und individuellen Variablen abhångig. Neben dem Umfang der finanziellen Einschrånkungen, der Dauer der Arbeitslosigkeit und den Chancen auf Wiederbeschåftigung, auf die ich schon eingegangen bin, sollten insbesondere folgende Faktoren hervorgehoben werden: (i) Alter: Personen mittleren Alters finden sich schwer mit der Arbeitslosigkeit ab, wåhrend åltere Menschen relativ gut damit zurechtkommen. Jugendliche rangieren in der Mitte. Dies liegt vermutlich daran, daû vor allem der mittlere Lebensabschnitt stark von der Erwartung geprågt ist, sich durch eine Erwerbsarbeit selbst zu versorgen. (ii) Qualifikationsniveau: Insbesondere der Verlust der Zeitstruktur und nachlassende Aktivitåten lassen sich in stårkerem Maûe bei Arbeitslosen beobachten, die zuvor Berufen mit einem niedeine neue Stelle bekommen werden, fçr die psychischen Belastungen wesentlich verantwortlich ist. Das Gefçhl, keine Chance und keine Kontrolle çber die eigene Zukunft zu haben, fçhrt oft zu Resignation und Apathie. Eine Studie von Bergmann in Sachsen zeigt, daû die Chance auf einen neuen Arbeitsplatz das Befinden der Arbeitslosen signifikant verbessert: Laut dieser Untersuchung »¼ sind die in der Literatur als typisch beschriebenen Folgen långerer Arbeitslosigkeit, nåmlich Resignation und Interessenverlust, keine vorherrschenden Reaktionen der von uns befragten Personen, die sich allerdings auch zu 85 % in irgendwelchen Bildungsmaûnahmen befanden und sich selbst als Lehrgangsteilnehmer und nicht als Arbeitslose erlebten.« (Bergmann 1994, 220 f.) 53 Vgl. Turtle/Ridley 1984. 54 Vgl. Kronauer 1995, 11.
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rigen Qualifikationsniveau nachgegangen sind. Dies mag damit zusammenhången, daû von hæher qualifizierten Personen eine græûere Selbståndigkeit gefordert wird. (iii) Arbeits- und Berufsorientierung: Je stårker sich Personen mit ihrer Arbeit identifizieren, um so gravierender sind die negativen Folgen im Falle des Arbeitsplatzverlustes. Wer hingegen eher auf andere Lebensbereiche ausgerichtet ist, wird weniger am Ausschluû von der Erwerbsarbeit leiden. (iv) Ursachenzuschreibung: Personen, die meinen, daû sie aus eigenem Verschulden arbeitslos sind, stehen schlechter da als solche, die von externen Ursachen ausgehen. Wer sich selbst fçr den Ausschluû aus der Erwerbsarbeit verantwortlich macht, wird eher unter Schamgefçhlen leiden. (v) Aktivitåtsniveau: Menschen, die generell von sich aus Aktivitåten suchen, sind eher in der Lage, Betåtigungen im Falle der Arbeitslosigkeit aufrechtzuerhalten als diejenigen, die Probleme damit haben, sich selbst zu beschåftigen. Øhnliches gilt vermutlich auch fçr die allgemeine Kontaktfreudigkeit. (vi) Soziales Umfeld: Personen, die stabile soziale Beziehungen haben, geraten weniger leicht in eine soziale Isolation als auf sich allein gestellte Menschen. Allerdings besteht auch fçr erstere die Gefahr, daû sich soziale Netze im Falle der Arbeitslosigkeit auflæsen. (vii) Hæhe der Arbeitslosenquote: Eine hohe (lokale) Arbeitslosenquote kann die Ausgrenzung der Betroffenen mindern, da der Ausschluû aus der Erwerbsarbeit in diesem Fall kein Einzelschicksal darstellt. Sie kann sich aber auch demoralisierend auswirken, wenn die Arbeitslosen annehmen, daû sie kaum eine Chance haben, eine neue Anstellung zu finden. 55 Aufgrund der genannten Faktoren gibt es individuelle und gruppenspezifische Unterschiede dahingehend, wie die Erfahrung der Arbeitslosigkeit bewåltigt wird. Es wird mittlerweile in der Forschung von unterschiedlichen Idealtypen ausgegangen, die sich im Verarbeitungsstil unterscheiden: »Entrepreneurs«, die sich mit Nebentåtigkeiten durchschlagen, »Survivors«, die weiterhin auf eine berufliche Perspektive orientiert sind, und »Sufferers«, die starke psychische und soziale Verfallserscheinungen aufweisen und Eigen55
Vgl. Elkeles/Seifert 1992, 17 f.
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aktivitåten weitgehend einstellen. 56 Dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossenen Personen stehen hingegen im wesentlichen nur zwei Verarbeitungsmuster zur Verfçgung: Zum einen kænnen sie sich der Arbeitslosigkeit resignativ unterwerfen und sich ± mit gravierenden psychischen Folgen ± auf sich selbst zurçckziehen. Zum anderen kænnen sie sich auf die Arbeitslosigkeit einstellen, indem sie soziale Bezçge und Aktivitåten aufrechterhalten, die sich aber zunehmend nur noch auf andere ebenfalls arbeitslose Personen beziehen. Langzeitarbeitslose geraten håufig individuell oder als Gruppe in eine gesamtgesellschaftliche Isolation. 57 Wie bereits mehrfach deutlich wurde, stellt insbesondere dauerhafte Arbeitslosigkeit ein gravierendes individuelles Ûbel dar. Es ist plausibel, daû die oben konstatierten psychischen Beeintråchtigungen der Arbeitslosen gemildert werden, wenn die Betroffenen soziale Beziehungen aufrechterhalten, alternativen Betåtigungen nachgehen und eine Anerkennung in diesen Lebensbereichen erfahren kænnen. Trotz solcher Differenzen muû aber davon ausgegangen werden, daû die durch die Arbeitslosigkeit entstehenden Belastungen im allgemeinen erheblich sind. Auch Arbeitslose mit einem græûeren Ausmaû persænlicher Aktivitåten haben durchschnittlich eine geringere Lebenszufriedenheit und ein niedrigeres Selbstwertgefçhl als die Beschåftigten. 58 Es kann als gesichert gelten, daû die von Jahoda aufgewiesenen Faktoren typische Probleme von Arbeitslosen darstellen und daû sie das Wohlbefinden der Betroffenen in erheblichem Maûe einschrånken. Insbesondere stellt ein langfristiger oder gar vollståndiger Ausschluû aus der Erwerbsarbeit eine eklatante Deprivation dar, die unter den gegenwårtigen Bedingungen kaum durch die Einbindung in andere Lebensbereiche kompensiert werden kann. Doch selbst wenn sich Personen unter gçnstigen Voraussetzungen an den Zustand der Arbeitslosigkeit gewæhnen kænnten, wçrde daraus nicht folgen, daû dies akzeptabel oder gar erstrebenswert wåre. Falls sich Menschen an diktatorische Verhåltnisse oder an Sklaverei anpassen, wird daraus im allgemeinen auch nicht der Schluû geVgl. Brinkmann/Wiedemann 1994, 187. Wacker 1983 ist aufgrund der differierenden Verarbeitungsformen dazu çbergegangen, eine »differentielle Arbeitslosenforschung« zu fordern und zu betreiben. 57 Vgl. Kronauer 1995, 10 f. 58 Vgl. die Untersuchung von Evans 1986. 56
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Wichtige Funktionen der Erwerbsarbeit
zogen, die Situation sei hinzunehmen. Zumindest in westlichen Gesellschaften hat sich die Vorstellung durchgesetzt, daû es elementare Rechte gibt, die allen Personen garantiert werden mçssen. Es ist m. E. nicht unplausibel, daû auch die Beteiligung an der Erwerbsarbeit durch einen Rechtsanspruch abgesichert werden sollte. Diese Ûberlegung zeigt die Notwendigkeit einer normativen Diskussion, die den Kern der vorliegenden Schrift bilden wird. Um eine tragfåhige Grundlage fçr eine solche Auseinandersetzung zu schaffen, werde ich im nåchsten Abschnitt von den Funktionen ausgehen, die nach Jahoda mit der Erwerbsarbeit verknçpft sind. Es soll untersucht werden, welchen dieser Faktoren insofern ein besonderes Gewicht zukommt, als sie nicht von der Erwerbsarbeit abgelæst werden kænnen. Die im folgenden herausgestellten Aspekte lassen es plausibel erscheinen, ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu fordern.
3. Wichtige Funktionen der Erwerbsarbeit Die von Jahoda inspirierten Untersuchungen zeigen, daû mit der Erwerbsarbeit im allgemeinen wichtige Funktionen wie die Strukturierung des Tagesablaufs verknçpft sind. Wird aber nicht, wenn man sich auf derart elementare Faktoren beschrånkt, die Bedeutung unterschåtzt, die viele Menschen ihrer Arbeit zumessen? Schlieûlich sind mit der Erwerbsarbeit håufig auch erheblich weitergehende Ambitionen verbunden. So kann man, indem man sich das berufliche Ziel setzt, Chefarzt zu werden, eine ausgezeichnete soziale Position anstreben. Ein professioneller Wissenschaftler mag etwas Weltbewegendes entdecken wollen. Kçnstler mæchten vielleicht ihre kreativen Potentiale weiterentwickeln und die Ergebnisse der Úffentlichkeit pråsentieren. Auch in weniger exklusiven Berufen dçrfte es so sein, daû die dort tåtigen Personen daran interessiert sind, die im Rahmen einer Ausbildung erworbenen Fåhigkeiten umzusetzen und damit mæglichst anderen Menschen zu nçtzen. Nicht selten wird versucht, die Bedeutung der Erwerbsarbeit daran festzumachen, daû Menschen derartige mehr oder weniger weitgehende Ziele im Rahmen ihrer Erwerbståtigkeit verfolgen. Man kænnte diesen Aspekt als Selbstverwirklichungskomponente der Arbeit bezeichnen. 59 Sicherlich ist es ein weit verbreiteter, wenn 59
Beispielsweise erklårt Tugendhat 1992 & 1993 die subjektive Bedeutung der Er-
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auch vielleicht nicht von allen Menschen gehegter Wunsch, einer interessanten und anspruchsvollen Berufståtigkeit nachgehen zu kænnen, die noch dazu ein hohes Ansehen genieût. Auf der anderen Seite ist es aber klar, daû nicht jede Erwerbsarbeit diese Mæglichkeit bietet. Besonders anspruchsvolle Berufe und ausgezeichnete soziale Positionen sind knappe gesellschaftliche Gçter. Aber auch die moderateren Erwartungen, die an die Arbeit gestellt werden kænnen, dçrften nicht durchgångig zu erfçllen sein. Erwerbsarbeiten sind (leider) çberwiegend relativ monoton und in sich wenig befriedigend, und viele Tåtigkeiten genieûen nur eine geringe gesellschaftliche Anerkennung. Insofern ist es irrefçhrend, auf weitergehende Ziele und Wçnsche zu verweisen, wenn erklårt werden soll, weshalb es fçr Personen generell wichtig ist, einer nicht nåher spezifizierten Erwerbsarbeit nachzugehen. 60 Damit soll die Bedeutung der Diskussion çber mægliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen nicht heruntergespielt werden. Wenn berufliche Tåtigkeiten und Aufgaben interessanter und ansprechender gestaltet werden kænnen, ist dies sicherlich wçnschenswert. Es kænnte sich sogar herausstellen, daû einige faktisch betriebene Erwerbsarbeiten unertråglich und unzumutbar sind. 61 Die Beantwortung der Frage, welche Forderungen mit Bezug auf die Qualitåt der Arbeitsplåtze erhoben werden mçûten, stellt aber ein eigenståndiges Thema dar, mit dem ich mich im Rahmen dieser Untersuchung nicht beschåftigen kann. Die normativen Ûberlegungen zur Arbeitslosigkeit dçrften weitgehend unabhångig davon sein, ob und in welchem Umfang eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen geboten erscheint. Ein Zusammenhang wçrde sich allenfalls dadurch ergeben, daû aufgrund einer hohen Arbeitslosigkeit Tåtigkeiten und Arbeitsbedingungen akzeptiert werden kænnten, die unter anderen Umstånden als unannehmbar gelten wçrden. Um diese Komplikawerbsarbeit wesentlich damit, daû Personen hier ihre Fåhigkeiten einsetzen und ggf. weiterentwickeln kænnen. Den Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Selbstverwirklichung versucht Elster 1986 herauszustellen. Fçr eine kritische Auseinandersetzung mit Elsters Selbstverwirklichungskonzept vgl. Schlothfeldt 1996. 60 Jahoda geht davon aus, daû das Selbstbild einer Person wesentlich durch die Erwerbsarbeit, der sie nachgeht, geprågt ist. Dies scheint mir aber nur fçr bestimmte Berufe zuzutreffen, mit denen man sich identifizieren kann. 61 Schwartz 1994 fordert etwa die Beseitigung besonders stupider, monotoner Tåtigkeiten, die fçr die Ausfçhrenden eine unertrågliche Belastung darstellen. Vgl. auch die ausfçhrlichen Untersuchungen in Jahoda 1983 zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
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tion auszuschlieûen, werde ich im folgenden voraussetzen, daû die in Frage kommenden Arbeiten und Arbeitsumstånde rechtlich festgelegten Standards der Zumutbarkeit entsprechen sollten, ohne daû ich diese hier im einzelnen bestimmen kann. Die Bedeutung, die die Tatsache fçr Personen hat, in irgendeiner Weise an der Erwerbsarbeit beteiligt zu sein, låût sich jedenfalls nicht durch weitergehende Ansprçche an die Arbeitståtigkeiten erklåren. Jahoda unterscheidet in diesem Zusammenhang das Fehlen der Erfahrung, am Arbeitsleben teilzuhaben, und die mæglicherweise geringe Qualitåt dieser Erfahrung. Diese beiden Fålle sollten nicht vermischt werden. Auch empirische Studien zeigen, daû der positive psychische Effekt einer Wiederanstellung von den Arbeitsinhalten der neuen Beschåftigung weitgehend unabhångig ist. Entscheidend scheint es zu sein, çberhaupt wieder einen Arbeitsplatz zu haben. 62 Nach dieser Zwischenbemerkung will ich wieder auf die elementaren Funktionen zurçckkommen, die generell mit der Erwerbsarbeit verknçpft sind. Im Anschluû an Jahoda lassen sich folgende Faktoren unterscheiden: (i) Erwerbsarbeit kann das Leben strukturieren. Sowohl ein geregelter Tagesablauf als auch die Planung der (nåheren und ferneren) Zukunft hången oft eng mit der Arbeit zusammen. (ii) Erwerbsarbeit sorgt dafçr, daû Personen einer (zentralen) regelmåûigen Aktivitåt nachgehen. (iii) Erwerbsarbeit verschafft soziale Kontakte auûerhalb des privaten Umfeldes, die weniger emotional besetzt sind. (iv) Erwerbsarbeit sichert in der Regel den Lebensunterhalt, macht zusåtzliche Gçter und Dienstleistungen verfçgbar und garantiert eine soziale Absicherung. (v) Erwerbsarbeit vermittelt insofern ein Gefçhl von Selbståndigkeit, als eine arbeitende Person meist fçr den eigenen Lebensunterhalt sorgt. 63 (vi) Erwerbsarbeit verhilft zu einer Beteiligung an den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten. (vii) Erwerbsarbeit sorgt fçr einen sozial anerkannten Status. Vgl. Elkeles/Seifert 1992, 16. (iv) und (v) gelten nicht fçr geringfçgige Beschåftigungen. Insofern ist hier implizit vorausgesetzt, daû es sich um sozialversicherungspflichtige, unterhaltssichernde Erwerbsarbeit handelt.
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Ich will nun die einzelnen Funktionen daraufhin prçfen, ob sie von der Erwerbsarbeit abgelæst werden kænnten und vielleicht sogar sollten. Fçr einige der genannten Faktoren scheint dies kaum mæglich zu sein. Ihnen dçrfte daher in den normativen Ûberlegungen ein besonderes Gewicht zukommen. (i) Zeitstruktur: Die zeitliche Strukturierung des Tages- und Wochenablaufes ist fçr viele Menschen eng mit der Erwerbsarbeit verbunden. Es ist sicherlich nicht einfach, dem eigenen Leben eine regelmåûige Struktur aufzuerlegen, wenn man keinerlei Verpflichtungen hat. Aber es ist auch nicht unmæglich, in dieser Hinsicht von der Erwerbsarbeit unabhångiger zu werden. Im çbrigen muû auch die Rçckfrage gestellt werden, warum eine feste Strukturierung des Lebens çberhaupt wçnschenswert sein sollte. Jahoda verlåût gelegentlich den Rahmen einer Beschreibung der Situation der Arbeitslosen und geht zu einer Wertung çber, die die Betroffenen nicht teilen mçssen. Es ist aber nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen des æfteren bis zum Nachmittag schlafen wollen. Statt die Lebensweise anderer Personen zu kritisieren, wåre vielmehr nachzuweisen, daû Erwerbsarbeitslose unter dem Zustand leiden, ein unregelmåûiges Leben zu fçhren, und daû sie nicht in der Lage sind, dies aus eigener Kraft zu åndern. Nur in diesem Fall sind Hilfestellungen geboten. Die empirischen Untersuchungen von Jahoda belegen zwar, daû mit dem Verlust der Zeitstruktur håufig psychische Belastungen einhergehen. Aber es gibt sicherlich Alternativen dazu, daû der Tagesablauf durch die Erwerbsarbeit geprågt wird. Notwendig sind andere zeitlich bindende Betåtigungsfelder fçr diejenigen, die eine von auûen auferlegte Strukturierung ihres Lebens wollen. Darçber hinaus erscheint es wçnschenswert, eine græûere Eigenståndigkeit in der Lebensgestaltung zu lernen. Es wåre in jedem Falle sehr merkwçrdig, wenn man ein Recht auf Erwerbsarbeit daraus ableiten wollte, daû Menschen den Zwang vermissen, jeden Morgen frçh aufstehen zu mçssen. Im çbrigen ist natçrlich zu fragen, warum Arbeitslose håufig keine zeitliche Struktur in ihr Leben bringen. Liegt dies wirklich daran, daû sie ohne Verpflichtungen dazu nicht in der Lage sind, oder ist es nicht vielleicht so, daû die Betroffenen keinen Sinn mehr darin sehen, ein geregeltes Leben zu fçhren? Falls letzteres der Fall sein sollte, wåre der Verlust der Zeitstruktur eher ein sekundårer Effekt. 36
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(ii) Regelmåûige Betåtigung: Erwerbsarbeit zwingt dazu, einer regelmåûigen Aktivitåt nachzugehen. Anscheinend ist es fçr viele Arbeitslose ein Problem, eine neue (zentrale) Betåtigung zu finden. Dieser Aspekt steht mit der fehlenden Zeitstruktur offenbar in einem engen Zusammenhang. Die oben angefçhrten kritischen Bemerkungen lassen sich hier weitgehend wiederholen. Erstens ist die von Jahoda vorgenommene Wertung, daû Personen, die keiner Betåtigung nachgehen, ihre Zeit verschwenden, nicht unbedenklich. Nur wenn Menschen aktiv sein wollen und dies aus eigener Kraft nicht kænnen, ist Hilfe angezeigt. Das mag nun håufig der Fall sein. Es ist aber nicht zu sehen, warum Betåtigungen auûerhalb der Erwerbsarbeit nicht ausreichend sein sollten. Teils muû Menschen geholfen werden, solche Aktivitåten fçr sich zu entdecken; teils mçûten vielleicht zusåtzliche Betåtigungsfelder geschaffen werden. Menschen kænnen mit einer gewissen Regelmåûigkeit eigenen Interessen nachgehen oder auch arbeitsfærmige Tåtigkeiten im Nahbereich verrichten. Daû etliche von einer langfristigen Arbeitslosigkeit betroffene Personen auch Betåtigungen aufgeben, die mit der Erwerbsarbeit nicht in Verbindung stehen, ist erklårungsbedçrftig. Es scheint mir plausibel, davon auszugehen, daû der Grund fçr die Inaktivitåt in einem Gefçhl der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns liegt. (iii) Soziale Kontakte: Erwerbsarbeit verschafft meist soziale Kontakte mit einer Vielzahl von Menschen, die nicht zum engeren privaten Kreis gehæren. Diese Erweiterung des sozialen Umfeldes ist offenbar fçr die meisten Menschen wichtig. Ausschlieûlich stark emotional besetzte Beziehungen zu haben, ist anscheinend nicht befriedigend und unter Umstånden sogar belastend. Arbeitslosigkeit fçhrt nun in der Regel dazu, daû die Begegnungen mit anderen Menschen erheblich eingeschrånkt sind. Dies deutet aber (wiederum) auf die Notwendigkeit hin, die Mæglichkeiten fçr Begegnungen und gemeinsame Betåtigungen zu erweitern. Dafçr bedarf es nicht unbedingt der Erwerbsarbeit; distanziertere soziale Kontakte lassen sich auch in der Nachbarschaft oder in Gemeinschaften finden, die durch gemeinsame Interessen verbunden sind. Insbesondere Dauerarbeitslose geben aber håufig auch private Beziehungen auf. Ich halte es fçr wahrscheinlich, daû der Verlust der sozialen Anerkennung dabei eine gewichtige Rolle spielt. Auch Jahoda teilt diese Einschåtzung zumindest fçr den Fall, daû ArbeitsErwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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lose unter çberwiegend Erwerbståtigen leben: »Håufig wurde berichtet, daû solche relativ isolierten Erwerbslosen unter Scham und Selbstzweifeln litten, was sie dazu veranlaûte, sich aus den frçheren sozialen Beziehungen zu læsen.« 64 (iv) Sicherung des Lebensunterhalts: Klarerweise erklårt der finanzielle Aspekt in wesentlichen Teilen, weshalb Erwerbsarbeit fçr die meisten Personen unverzichtbar ist. Es ist aber theoretisch mæglich, zumindest die Grundsicherung, die Alters- und die Krankenversorgung von der Erwerbsarbeit zu entkoppeln. Unter der Bedingung, daû nicht alle Personen den græûten Teil ihres Lebens in einem Beschåftigungsverhåltnis verbringen kænnen, wåre eine solche Maûnahme sogar dringend erforderlich. Daû die Grundversorgung fçr alle Personen sichergestellt werden sollte, fçhrt fçr sich genommen eher zu der Forderung, Einkommen und Vermægen im erforderlichen Maûe umzuverteilen, als zu einem Rechtsanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit. Daher wird der Versorgungsaspekt auch nicht im Zentrum der normativen Untersuchungen stehen; er wird aber im fçnften Kapitel kurz diskutiert werden. 65 Natçrlich wird von den meisten Menschen auch angestrebt, wenigstens çber Gçter und Dienstleistungen verfçgen zu kænnen, die zu einem durchschnittlichen Lebensstandards dazugehæren. Insbesondere Dauerarbeitslosen ist diese Mæglichkeit unter den gegenwårtigen Bedingungen meist verwehrt. Je hæher die finanzielle Unterstçtzung der Arbeitslosen ausfållt, um so mehr wird diese Benachteiligung verschwinden. Allerdings dçrften einer Angleichung der Lebensumstånde enge Grenzen gesetzt sein: Eine vollståndige Abkoppelung der Einkommen von der Arbeit erscheint recht utopisch, denn einerseits wçrde damit ein wichtiger Leistungsanreiz verlorengehen, andererseits wçrden Personen es als ungerecht empfinden, wenn ihr Arbeitsaufwand nicht vergolten wçrde. 66 Die Unterhaltssicherung låût sich vielleicht von der Erwerbsarbeit ablæsen. Das Prinzip der besonderen Vergçtung von Arbeitsleistungen hingegen dçrfte nicht auûer Kraft zu setzen sein. 67 Insofern ist es kaum vermeidbar, daû an der Erwerbsarbeit beteiligte Personen çber 64 65 66 67
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Jahoda 1983, 49. Vgl. insbesondere Abschnitt V. 4. Vgl. dazu genauer Abschnitt III.3. Dies gilt zumindest unter der Bedingung, daû Zwangsarbeit nicht akzeptabel ist.
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deutlich mehr Geld verfçgen als Dauerarbeitslose. Wenn nun arbeitswillige Personen keine Arbeit finden, sind sie ohne eigenes Verschulden schlechter gestellt als Erwerbståtige. Hålt man sich diese Deprivation vor Augen, liegt die Frage nahe, ob nicht wenigstens fçr alle Personen eine faire Chance bestehen sollte, einen Arbeitsplatz zu bekommen. 68 (v) Selbståndigkeit: Erwerbståtige sind (meist) selbståndig in dem Sinne, daû sie fçr ihren Lebensunterhalt sorgen kænnen. Diese Form der Selbståndigkeit ist natçrlich schwach. Die Erwerbsarbeit ermæglicht unter den Bedingungen einer hochgradigen Arbeitsteilung kein autarkes Leben, sondern nur eine Unabhångigkeit von Unterstçtzungsleistungen. Dieser Aspekt scheint aber fçr viele Menschen eine gravierende Rolle zu spielen. Vermutlich sind dabei zwei Faktoren zu unterscheiden. Zum einen bringt die finanzielle Abhångigkeit insofern eine Unsicherheit mit sich, als die Unterstçtzungsleistungen entfallen kænnten. Das gilt insbesondere fçr Almosen, die an die Willkçr anderer Personen geknçpft sind. Ein rechtlich garantierter Anspruch auf Versorgung kann dieses Problem læsen. Zum zweiten empfinden viele Menschen es offenbar generell als beschåmend, auf eine Unterstçtzung angewiesen zu sein. In westlichen Låndern wird nicht nur von bestimmten Schichten und nicht nur von månnlichen Gesellschaftsmitgliedern, sondern weitgehend allgemein erwartet, daû erwachsene Personen ihren Lebensunterhalt durch eine Erwerbståtigkeit verdienen. Das wesentliche Problem scheint darin zu bestehen, daû gegenwårtig ein Teil der arbeitsfåhigen Bevælkerung ståndig einer unterhaltssichernden Erwerbsarbeit nachgeht, ein anderer Teil hingegen permanent aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen ist. Wåren hingegen mehr oder weniger alle Gesellschaftsmitglieder mittleren Alters zeitweise erwerbståtig und zeitweise auf Unterstçtzungsleistungen angewiesen, wåre die Bevælkerung nicht in finanziell abhångige und finanziell unabhångige Personen aufgeteilt. Wenn nicht alle Personen jederzeit fçr den eigenen Lebensunterhalt sorgen kænnen, wåre es daher wçnschenswert, daû auch im Erwachsenenalter ein Abwechseln von Phasen, in denen einer Erwerbsarbeit nachgegangen wird, und Lebensabschnitten, in denen dies nicht der Fall ist, zum Normalzustand wird. Eine solche Forderung mçûte zumindest im Rahmen egalitårer normativer Theorien eine Rolle spielen. Vgl. insbesondere Abschnitt III.4.
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(vi) Gesamtgesellschaftliche Beteiligung: Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, ist nicht nur am ækonomischen Geschehen beteiligt, sondern leistet auch einen Beitrag fçr die Gesellschaft. Annåhernd alle gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten sind in modernen Gesellschaften als Berufe konzipiert ± dies gilt selbst fçr die Politik. 69 Es verbleiben nur wenige Mæglichkeiten, auûerhalb der Erwerbsarbeit gemeinnçtzigen Tåtigkeiten nachzugehen. Insofern sind Arbeitslose in der Regel eher passive Mitglieder der Gesamtgesellschaft. Dieser Zustand bedeutet eine erhebliche Zurçcksetzung. Aktiv beteiligen kænnen sich Arbeitslose natçrlich an Interessengemeinschaften oder im nåheren Umfeld. Damit ist aber noch keine gesamtgesellschaftliche Beteiligung gewåhrleistet: Eine Arbeit, die aufgrund spezieller Verpflichtungen fçr bestimmte Personen(gruppen) geleistet wird, ist nicht dasselbe wie eine Tåtigkeit fçr einen offenen Empfångerkreis. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Nachbarschaftshilfe oder Freundschaftsdienste von den Tåtigkeiten eines Verkåufers oder einer Lehrerin. Durch letztere nehmen Personen an den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten teil, durch erstere nicht. 70 Solange man nicht die utopische Option verfolgt, die modernen Groûgesellschaften durch kleine autarke Gemeinschaften zu ersetzen, wird diese Differenz bestehenbleiben. (vii) Sozialer Status: Die gesellschaftliche Anerkennung ist wesentlich an die Erwerbsarbeit gebunden. Nun variiert das Ansehen der Personen mit der Art der Beschåftigung ± manche Berufe bringen hohe Anerkennung mit sich, andere werden kaum gewçrdigt. Trotz dieser Differenzen ist es aber offenbar so, daû der dauerhafte Ausschluû aus der Erwerbsarbeit einen erheblich schwerwiegenderen Effekt hat als die geringe Anerkennung fçr bestimmte Tåtigkeiten: Wer långerfristig keiner Erwerbsarbeit nachgeht, låuft Gefahr, einen gesellschaftlich anerkannten Status vollståndig zu verlieren. 71 Vielleicht gilt dies nicht fçr alle Lebensphasen. Es wird gesellschaftlich akzepDas war z. B. im antiken Griechenland nicht so. In der Polis nahm die månnliche Oberschicht an der Erwerbsarbeit nicht teil, war aber dafçr mit politischen Aufgaben betraut. Es steht zu vermuten, daû die extrem negative Bewertung der Arbeit in der Antike hiermit zusammenhångt: Wer nicht arbeitete, war nicht gesellschaftlich marginalisiert, sondern vielmehr fçr wichtige æffentliche Aufgaben freigestellt. 70 Vgl. hierzu genauer den folgenden Abschnitt und die begrifflichen Erlåuterungen in Kapitel II. 71 Ihren Status als Rechtsperson und als politische Person verlieren Arbeitslose 69
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tiert, wenn sich junge Menschen in der Ausbildung befinden oder åltere Menschen in Rente gehen. Beides ist jedoch eng an die Erwerbsarbeit geknçpft ± Auszubildende bereiten sich auf die Erwerbsarbeit vor, und Rentner genieûen nach geleisteter Lebensarbeit ihren verdienten Ruhestand. Das Aufziehen von Kindern wird zumindest partiell anerkannt, aber nicht im selben Maûe wie eine Erwerbsarbeit und wohl auch nicht als Lebensaufgabe. Vermutlich ist der soziale Status auch nicht ganz unabhångig vom Vermægen ± wenn es sich jemand leisten kann, keiner Erwerbsarbeit nachzugehen, wird dies eher akzeptiert, als wenn er/sie Unterstçtzungsleistungen bezieht. Trotz dieser Einschrånkungen ist ein sozial anerkannter Status wesentlich an die Erwerbsarbeit gebunden. Ein wichtiger Grund fçr diese Beziehung ist in den vorigen Unterpunkten angesprochen worden: Erwerbståtige verdienen ihren Lebensunterhalt selbst, indem sie einen Beitrag fçr die Gesellschaft leisten. Die soziale Anerkennung beruht offenbar insbesondere auf dieser Teilnahme am ækonomischen Leistungsaustausch. Der Zusammenhang zwischen einem anerkannten sozialen Status und der Erwerbsarbeit wçrde sich vielleicht etwas lockern, wenn auch im mittleren Lebensabschnitt eine durchgångige Beschåftigung nicht mehr der Regelfall wåre. Aber da es vermutlich auch unter dieser Bedingung zu den selbstverståndlichen Erwartungen gehæren wçrde, daû Personen zumindest phasenweise am ækonomischen Leistungsaustausch teilnehmen, ist eine einschneidende Verånderung der engen Verbindung zwischen Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher Anerkennung nicht in Sicht. Natçrlich kænnen Arbeitslose Anerkennung und Wertschåtzung durch Personen erfahren, die ihnen nahestehen oder mit denen sie durch gemeinsame Interessen verbunden sind. Doch diese Anerkennung beschrånkt sich auf spezielle Bezugsgruppen und ist daher eine Ergånzung, aber kein Ersatz fçr einen gesellschaftlich anerkannten Status. In modernen Gesellschaften ist es Menschen offenbar wichtig, nicht nur eine Anerkennung im privaten Umfeld zu genieûen, sondern auch in einem eher abstrakten Sinne sozial anerkannt zu sein. 72 Insofern stellt es eine gravierende Beeintråchtigung dar, dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen zu sein. natçrlich nicht. Daher spreche ich hier vom sozialen oder gesellschaftlichen Status. Genauer wird diese Unterscheidung in Abschnitt II.2 herausgearbeitet. 72 Vgl. dazu die begrifflichen Klårungen in Abschnitt II.2. Die Tendenz zur Auflæsung von kommunalen Gemeinschaften spielt hierbei vermutlich eine gewichtige Rolle. Auch Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Das Ergebnis dieser Ûberlegungen låût sich folgendermaûen zusammenfassen: Es ist wenig plausibel, ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit deshalb zu fordern, weil Menschen (eventuell) einen strukturierten Tagesablauf, regelmåûige Aktivitåten und soziale Kontakte brauchen. Unter gçnstigen Bedingungen lassen sich Begegnungs- und Betåtigungsfelder auûerhalb der Erwerbsarbeit finden, und eine græûere Eigenståndigkeit in der Lebensgestaltung kann gelernt werden. Daû Arbeitslose håufig das Zeitgefçhl verlieren, inaktiv werden und in Isolation geraten, zeigt eher, daû die Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften eine zu dominante Rolle spielt. Offenbar sind einerseits nachbarschaftliche Beziehungen und kommunale Aktivitåten vielerorts verkçmmert; andererseits wird der Tages- und Wochenablauf in der Regel so sehr durch verpflichtende Termine bestimmt, daû eine eigenverantwortliche Lebensplanung nicht hinreichend geçbt wird. Begegnungen und gemeinsame Aktivitåten auûerhalb der Erwerbsarbeit mçûten daher verstårkt ermæglicht werden. Falls nætig, mçûten Menschen dazu angeleitet werden, eigene Interessen zu entwickeln und zu verfolgen. 73 Auf diese Weise sollte es sich verhindern lassen, daû Arbeitslose in Resignation und Desinteresse verfallen und in soziale Isolation geraten. Auch die Grundversorgung und die Kranken- und Altersabsicherung kænnten und sollten weitgehend von der Erwerbsarbeit entkoppelt werden. Die zuletzt erlåuterten Aspekte (iv) ± (vii) hingegen sind m. E. insofern als zentral anzusehen, als sie kaum behebbare Folgeprobleme der Arbeitslosigkeit kennzeichnen. Erwerbsarbeitslose sind vom ækonomischen Leistungsaustausch ausgeschlossen. Dieser Ausschluû hat mehrere gravierende Konsequenzen: Einerseits mçssen die Betroffenen erhebliche finanzielle Einschrånkungen hinnehmen; zumindest Dauerarbeitslose bleiben weit unter dem durchschnittlichen Lebensstandard. Andererseits erhalten Erwerbsarbeitslose ihren Lebensunterhalt nicht als Gegenleistung fçr Arbeitståtigkeiten, sondern als Unterstçtzung. Drittens sind Arbeitslose an zentralen gesellschaftlichen Aktivitåten nicht beteiligt. Viertens laufen sie bei einem langfristigen Ausschluû von der Erwerbsarbeit Gefahr, einen anerkannten gesellschaftlichen Status zu verlieren. Im Vergleich zur das Interesse, an den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten beteiligt zu sein, wird nicht zuletzt durch diese Entwicklung gestårkt. 73 Diese Fåhigkeit mçûte nicht zuletzt in den Schulen vermittelt werden. Aber auch in der Erwachsenenbildung wåre dies m. E. ein vorrangiges Ziel.
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Grundsåtzliche Ûberlegungen zum Stellenwert der Arbeit
Mehrheit der Bevælkerung sind insbesondere Dauerarbeitslose offenbar in mehreren Hinsichten deutlich schlechter gestellt. Man kann davon sprechen, daû sie in eine marginale soziale Position geraten. Dauerarbeitslose sind nicht gånzlich von der Gesellschaft ausgeschlossen, wie es vielleicht fçr Obdachlose oder Bettler gilt, stehen aber am Rande der Gesellschaft. Die dominante Rolle des ækonomischen Leistungsaustauschs wçrde sich vielleicht etwas abschwåchen, wenn die Beteiligung an der Erwerbsarbeit auch im Erwachsenenalter flexibler wåre. Aber eine einschneidende Verånderung der dargelegten Beziehung zwischen Erwerbsarbeit, finanzieller Ausstattung, Selbståndigkeit, gesellschaftlicher Beteiligung und sozialer Anerkennung erscheint mir nur dann denkbar, wenn utopisch anmutende sozio-ækonomische Umwålzungen ins Auge gefaût werden.
4. Einige grundsåtzliche Ûberlegungen zum Stellenwert, den Arbeit im menschlichen Leben einnimmt Ich mæchte dieses Kapitel mit einer kurzen grundsåtzlichen Ûberlegung dazu abschlieûen, weshalb Arbeit im menschlichen Leben eine wichtige Rolle spielt. Von den philosophischen Autoren, die sich mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, werden unterschiedlich starke Thesen vertreten. Einige sehen es als anthropologische Grundtatsache an, daû Menschen Arbeit brauchen. 74 Andere vermuten hier eine revidierbare kulturelle Entwicklung. 75 Wåre es ein relativ kontingentes Faktum, daû Arbeit in westlichen Gesellschaften hoch geschåtzt wird, låge es nahe, diese Bewertung zu veråndern, falls nicht gençgend Arbeit fçr alle vorhanden ist. Wenn hingegen Menschen Arbeit bråuchten wie die Luft zum Atmen, wåre die Forderung nach einem Recht auf Arbeit unmittelbar einleuchtend. Eine kulturhistorische Erklårung unterschåtzt aber m. E. den Stellenwert, den die Arbeit gegenwårtig besitzt. Plausible anthropologische Hypothesen wiederum kænnen die spezifischen Funktionen der Erwerbsarbeit Sayers 1988 ist ein moderater Verfechter dieser These. Auch die Marxschen Frçhschriften lassen sich so deuten, daû die Vergegenståndlichung in der Arbeit als wesentliches Charakteristikum der menschlichen Gattung angesehen wird. Vgl. Marx 1966 und die Interpretation von Wood 1981, Teil 1. 75 Diese Position vertritt z. B. Russell 1971. 74
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nicht in den Blick bekommen. Ich vertrete demgegençber die These, daû die Bedeutung der Erwerbsarbeit nur deutlich wird, wenn die sozio-ækonomischen Grundbedingungen moderner Gesellschaften herausgestellt werden. Diese Voraussetzungen dçrften sich im Unterschied zu subjektiven Einstellungen nicht ohne weiteres veråndern lassen. Wenn es eine anthropologische Grundtatsache sein sollte, daû Menschen Arbeitståtigkeiten benætigen, mçûte dies durch ethnologische und historische Studien zu beståtigen sein. Entsprechende Untersuchungen lassen es aber zweifelhaft erscheinen, daû Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten ein Bedçrfnis zu arbeiten verspçrt haben. In der griechischen Polis war Arbeit geradezu verpænt. Auch Untersuchungen sogenannter »stone age societies« zeigen, daû Arbeit in vielen menschlichen Gemeinschaften soweit als mæglich vermieden wird. 76 Sicherlich kann man sagen, daû das menschliche Leben insofern von Arbeit geprågt ist, als es zu allen Zeiten fçr die çberwiegende Mehrheit der Menschen notwendig war, das Ûberleben durch Arbeit zu sichern. Diese Notwendigkeit wurde allerdings eher als ein Ûbel angesehen. 77 Erwçnscht dçrften Arbeitståtigkeiten nur sein, sofern sie interessant und ansprechend sind. In einer langen Periode der menschlichen Geschichte ist das aber sicher kaum der Fall gewesen, und es trifft auch heutzutage bei weitem nicht auf alle Tåtigkeiten zu. 78 Insofern ist es nicht sonderlich einleuchtend zu behaupten, daû es ein anthropologisch nachweisbares Grundbedçrfnis des Menschen darstellt, einer Arbeit nachzugehen. Arbeitståtigkeiten werden offenbar nicht generell gesucht. Um die anthropologische These anderweitig zu stçtzen, kænnte man aufzuzeigen versuchen, daû mit der Arbeit çberall und zu allen Zeiten bestimmte Funktionen verbunden waren, die fçr den Menschen wichtig sind. Ist vielleicht das Bedçrfnis nach Selbståndigkeit eine anthropologische Grundkonstante? Vielleicht gab und gibt es ein tiefsitzendes Unwohlsein damit, von den Almosen anderer MenVgl. Sayers 1988, 735 sowie Jahoda 1983, 100. Auch in heutigen Subsistenzækonomien kænnten åhnliche Effekte aufzufinden sein. 77 Dies zeigt auch die Genese des Ausdrucks »Arbeit«. Vgl. dazu die Bemerkungen zum Arbeitsbegriff in Abschnitt II.1. 78 Entsprechendes gilt wohl auch fçr das Interesse, durch eine Arbeitståtigkeit die Welt mitzugestalten. Insbesondere reproduktive Tåtigkeiten, die einen groûen Teil der notwendigen Arbeiten ausmachen, entsprechen nicht dieser idealisierten Vorstellung. 76
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schen abhångig zu sein. Hingegen hat es Menschen in der Regel wenig Probleme bereitet, einer Klasse oder Schicht anzugehæren, die sich Mçûiggang leisten kann. In vielen vormodernen Gesellschaften waren bestimmte Personengruppen von der Erwerbståtigkeit freigestellt. Dieser Teil der Bevælkerung hat vermutlich kaum das Verlangen verspçrt, einer Arbeit nachzugehen. Mæglicherweise låût sich die vorsichtige These vertreten, daû es fçr ein befriedigendes Leben notwendig ist, çberhaupt einer Tåtigkeit nachzugehen. Tåtigkeiten haben einen zeitçberwindenden Charakter und helfen dadurch, Langeweile zu vermeiden und den Tagesablauf zu strukturieren. 79 Insofern ist es plausibel, daû Menschen Tåtigkeiten brauchen. Aber deshalb mçssen sie nicht zwingend arbeiten ± auch selbstgewåhlte, spielerische Aktivitåten sind als Mittel gegen die Langeweile geeignet. Vermutlich ist es gesellschaftlichen Schichten, die nicht auf eigene Arbeit angewiesen waren, immer halbwegs gelungen, ihre Zeit mit ansprechenden Tåtigkeiten zu fçllen. Arbeitståtigkeiten scheinen im Idealfalle dadurch charakterisiert zu sein, daû sie fçr irgend jemanden wichtig sind. Ist es vielleicht eine anthropologische Grundtatsache, daû Menschen etwas Nçtzliches tun und darçber hinaus von anderen Menschen gebraucht werden wollen? 80 Wenn dem so wåre, kænnte gesagt werden, daû Menschen im allgemeinen das Bedçrfnis verspçren zu arbeiten. Allerdings wird hier von Arbeit in einem sehr unspezifischen Sinne gesprochen. Jede Tåtigkeit, die anderen Menschen zugute kommt, wçrde als Arbeit angesehen werden. In dieser Hinsicht arbeitet jeder Mensch ± oder kænnte es zumindest tun. Eine Forderung nach einem Recht auf Arbeit wçrde auf relativ triviale Weise erfçllt werden kænnen. Fçr die Themenstellung der vorliegenden Untersuchung ist ein derart weit gefaûtes Arbeitskonzept nicht interessant. 81 Es zeigt sich, daû anthropologische Versuche, zu erklåren, weshalb Arbeit fçr das menschliche Leben wichtig ist, nicht viel austragen. Teils werden sie durch empirische Untersuchungen nicht gestçtzt, teils werden Aspekte eingefçhrt, die nicht generell an die Arbeit geknçpft sind, teils wird Arbeit in einem zu unspezifischen Ein interessanter Beitrag, der unter anderem in dieser Weise anthropologisch ansetzt, stammt von Lange 1996. 80 Vgl. dazu ausfçhrlicher meine Ûberlegungen in Schlothfeldt 1996. 81 Siehe auch die Bemerkungen zum Arbeitsbegriff im folgenden Kapitel. 79
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Sinne verstanden. Die mit der Erwerbsarbeit gegenwårtig verbundenen Funktionen kommen in diesen Erklårungen nicht vor, da z. B. die Beteiligung an den gesellschaftlichen Aktivitåten und der soziale Status nicht in allen Gesellschaften von der Arbeit abhången. Die Bedeutung der Erwerbsarbeit muû offenbar im Hinblick auf eine spezifisch moderne Entwicklung bestimmt werden. Naheliegenderweise ist nun versucht worden, den besonderen Stellenwert der Erwerbsarbeit mithilfe kulturhistorischer Kategorien zu erklåren. Die vornehmlich vertretene These lautet, daû sich in modernen westlichen Gesellschaften ein besonderes Arbeitsethos herausgebildet hat. Dieses sei vor allem bedingt durch die protestantische (insbesondere kalvinistische) Morallehre, der zufolge es den Menschen auferlegt ist, sich durch ihre tåglich geleistete Arbeit als der gættlichen Gnade wçrdig zu erweisen. Diese Vorstellung sei in der Folgezeit in die allgemein geteilten såkularen Wertvorstellungen integriert worden und çbe nach wie vor einen groûen Einfluû aus. 82 Dieser Faktor ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. In westlichen Gesellschaften hat sich das Menschenbild aktiver, selbståndiger Personen weitgehend durchgesetzt. Daraus resultiert insbesondere die Erwartung, daû Menschen aus eigener Kraft fçr ihren Lebensunterhalt sorgen sollten, indem sie etwas gesellschaftlich Nçtzliches leisten. Mir scheint es aber eine erhebliche Verzerrung zu sein, die wichtige Rolle der Erwerbsarbeit ausschlieûlich aus kulturellen Faktoren herleiten zu wollen. Auch wenn ein starkes Arbeitsethos nicht allgemein geteilt werden wçrde, verlære die Erwerbsarbeit in den modernen Gesellschaften nicht ihre Bedeutung. Negative psychische Auswirkungen hat Arbeitslosigkeit, wenn auch nicht vællig, so doch weitgehend unabhångig davon, welchen Stellenwert die Personen der Erwerbsarbeit individuell zumessen. Durch eine verånderte Einstellung zur Arbeit låût sich das Problem der Arbeitslosigkeit nicht bewåltigen. Vielmehr mçûten sozio-ækonomische Grundbedingungen veråndert werden, um der Erwerbsarbeit ihren besonderen Stellenwert zu nehmen. Wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, sind in westlichen Gesellschaften das Einkommen, Die kalvinistische Lehre sieht den beruflichen Erfolg genau genommen nicht als Belohnung an, sondern als Zeichen fçr die gættliche Gnade. Fçr genauere Befunde siehe z. B. die berçhmten Arbeiten von Max Weber 1992, aber auch die ausfçhrlichen ± und Weber-kritischen ± Studien von Sombarth 1969.
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die finanzielle Unabhångigkeit, die gesellschaftliche Beteiligung und die soziale Anerkennung wesentlich an den ækonomischen Leistungsaustausch gebunden. Personen, die von der Erwerbsarbeit dauerhaft ausgeschlossen sind, geraten håufig in eine marginale soziale Position. Die soziale Stellung ist nicht in allen Gesellschaften mit der Arbeit verknçpft; aber in einer Groûgesellschaft, in der ein komplexer Leistungsaustausch stattfindet, der auf professionalisierte Tåtigkeiten angewiesen ist, liegt ein enger Zusammenhang zwischen der Erwerbsarbeit und der gesellschaftlichen Position nahe. Theoretisch gibt es grundsåtzliche Alternativen zu den modernen westlichen Gesellschaften. Erstens sind kleine, autarke Gemeinschaften denkbar, in denen die Integration und die Anerkennung nicht so sehr von der Arbeit als vielmehr von den individuellen Eigenschaften und Fåhigkeiten der Mitglieder abhången wçrden. Es erscheint aber utopisch, eine Auflæsung moderner Groûgesellschaften anzustreben. Als kleinere soziale Einheiten innerhalb eines græûeren gesellschaftlichen Gefçges haben Gemeinschaften vermutlich nur eine geringe Bedeutung. Zweitens gab und gibt es Gesellschaften, in denen bestimmte Schichten prinzipiell von der Erwerbsbeteiligung freigestellt waren, aber dennoch hohes Ansehen genossen und eine wichtige soziale Rolle innehatten. Eine solche Freistellung erfordert aber eine inegalitåre moralische Rechtfertigung dergestalt, daû es den entsprechenden Personengruppen zusteht, sich nicht selbst versorgen zu mçssen. Dies ist aber mit den modernen westlichen Gerechtigkeitsvorstellungen nicht vereinbar. 83 Drittens ist es denkbar, die Úkonomie anders zu organisieren als çber einen Leistungsaustausch. Die Erwerbsarbeit kænnte theoretisch durch gesellschaftliche Arbeit 84 ersetzt werden, die nicht entlohnt wird. In diesem Falle wçrden Einkommen unabhångig von der Arbeit festgelegt werden, und niemand wçrde den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeitsleistungen verdienen. Gesellschaftliche Anerkennung und Beteiligung mægen vielleicht nach wie vor teilweise von der Arbeit abhången; aber die Teilnahme an der gesellschaftlichen Arbeit wçrde vermutlich leichter zu gewåhrleisten sein, da sie nicht an unterhaltssichernde Arbeitsplåtze gebun83 84
Vgl. hierzu die generellen Bemerkungen zur modernen Ethik in Abschnitt III.1. Der Begriff »gesellschaftliche Arbeit« wird in Abschnitt II.1 erlåutert.
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den wåre. 85 Das Problem scheint mir aber darin zu bestehen, daû unter den genannten Bedingungen die notwendige gesellschaftliche Arbeit nicht oder jedenfalls nicht verlåûlich geleistet wçrde. Einerseits fehlt ein wesentlicher Anreiz, Arbeitsleistungen zu vollziehen. Andererseits wçrden arbeitende Personen es als ungerecht empfinden, fçr ihren Aufwand nicht entlohnt zu werden. M. E. wåre in diesem Fall ein Arbeitszwang unumgånglich. Eine solche Maûnahme widerspricht aber elementaren ethischen Prinzipien. 86 Mæglich und vertretbar erscheint es hingegen, die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu flexibilisieren und eine græûere Akzeptanz dafçr zu schaffen, daû Personen zeitweise keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Unter dieser Bedingung dçrfte auch ein relativ groûzçgig bemessenes, arbeitsunabhångiges Grundeinkommen diskutabel sein. Ich werde in den normativen Analysen die sozio-ækonomischen Grundbedingungen westlicher Gesellschaften voraussetzen und innerhalb dieses Rahmens mægliche Verånderungen untersuchen.
Diese Idee entspricht weitgehend dem berçhmten Marxschen Diktum »Jeder nach seinen Fåhigkeiten, jedem nach seinen Bedçrfnissen«. 86 Vgl. Abschnitt IV. 2. 85
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II. Grundbegriffe der Debatte um ein Recht auf Arbeit
Im ersten Kapitel ist eine Verståndigung darçber erreicht worden, weshalb die Erwerbsarbeit eine wichtige und kaum ersetzbare Rolle fçr Mitglieder moderner Gesellschaften çbernimmt. Diese Ergebnisse werden die Grundlage fçr die ethischen Untersuchungen bilden. Bevor ich zu den entsprechenden Analysen çbergehe, erscheint es mir jedoch hilfreich, einige begriffliche Klårungen einzufçgen. Eine Erærterung von Begriffen ist erst an dieser Stelle sinnvoll, da zum einen wichtige Kategorien wie »ækonomischer Leistungsaustausch« und »marginale soziale Position« aus der Diskussion der empirischen Untersuchungen hervorgegangen sind. Zum zweiten wird sich zeigen, daû Arbeitståtigkeiten auf verschiedene Weise gegen andere Tåtigkeiten abgegrenzt werden kænnen. Wenn man eine zweckdienliche Definition der Arbeit vorlegen will, muû zuvor geklårt sein, mit Bezug worauf die Eingrenzung vorgenommen werden soll. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werde ich mich mit dem Arbeitsbegriff beschåftigen. Der zweite Abschnitt geht auf einige der Kategorien ein, mit deren Hilfe im vorangegangenen Kapitel verdeutlicht wurde, weshalb die Beteiligung an der Erwerbsarbeit fçr Personen wichtig ist. Im dritten Abschnitt diskutiere ich gesondert den Begriff der Selbstachtung. Dies erscheint mir deshalb notwendig, weil Theoretiker, die ein Recht auf Arbeit begrçnden oder widerlegen wollen, Selbstachtung oft in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen.
1. Erærterung des Arbeitsbegriffs Da die Philosophie nicht zuletzt mit der Klårung von Begriffen befaût ist, ist auch der Arbeitsbegriff gelegentlich als interessanter Untersuchungsgegenstand angesehen worden. 1 Im folgenden will ich Wichtige philosophische Beitråge zum Arbeitsbegriff werden in Barzel 1973 diskutiert.
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anhand verschiedener gebråuchlicher Definitionen deutlich machen, daû eine einheitliche Verwendungsweise dieses Wortes nicht auszumachen ist. Gegençber der unscharfen Umgangssprache muû also eine begrçndete Festlegung getroffen werden. Ob eine solche Eingrenzung gerechtfertigt ist, hångt aber davon ab, welches Problem in den Blick genommen wird. Ich werde mich mit einem Definitionsversuch beschåftigen, der mir zunåchst einleuchtend erschien, und zeigen, weshalb die Festsetzung nicht befriedigt. Anschlieûend diskutiere ich einen Vorschlag von Friedrich Kambartel und Angelika Krebs, der mit gewissen Modifikationen fçr das Thema dieser Untersuchung brauchbar ist. Es scheint mir sinnvoll, gesellschaftliche Arbeit, ækonomische Arbeit und Erwerbsarbeit im engeren Sinne zu unterscheiden. Wenn nach einer Kernbedeutung des Begriffs »Arbeit« gesucht wird, liegt es nahe, von der etymologisch nachgewiesenen Wurzel des Wortes auszugehen. Lange weist darauf hin, daû der »Charakter der vornehmlich Leibeigenen, Knechten oder Sklaven obliegenden Tåtigkeiten« 2 die ursprçngliche Verwendung des Begriffs entscheidend geprågt hat. Das mittelhochdeutsche »arebeit« steht dementsprechend fçr Mçhsal, Plage, aber auch Not. 3 Es scheint, daû sich diese allgemeine Grundbedeutung in der Umgangssprache erhalten und sogar auf Kontexte erweitert hat, die zunåchst nicht mit Arbeitståtigkeiten in Verbindung gebracht werden. Das wird am Beispiel der Redewendung »Es war ein hartes Stçck Arbeit, diesen Text zu lesen« deutlich. Der Begriff »Trauerarbeit« zeigt, daû der Terminus sogar auf psychische Prozesse angewendet werden kann. Das vermutlich einzige gemeinsame Merkmal dieser weiten Verwendungsweisen des Arbeitsbegriffs besteht darin, daû die jeweiligen Aktivitåten mit Anstrengung verbunden sind. Man kann dementsprechend von jeder beschwerlichen Tåtigkeit sagen, sie sei Arbeit. Nicht als Arbeit zåhlen dann Nichtstun, Faulenzen und Beschåftigungen, die keine Mçhe kosten. Eine solche Festlegung ist aber sehr unspezifisch und daher nicht besonders aussagekråftig. Viele spielerische Freizeitbeschåftigungen wie Schach oder Sport kænnen anstrengend sein und wçrden in einem weiten Sinne als Arbeit bezeichnet werden mçssen. Lange 1980, 14. In anderen Sprachen ist es analog: Man denke an ªlaborª im Englischen oder im Lateinischen.
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Auf der anderen Seite ist Mçhsal aber auch nicht unbedingt eine notwendige Voraussetzung, um eine Aktivitåt als Arbeit kennzeichnen zu kænnen. Nicht einmal alle als Erwerbsarbeit ausgefçhrten Tåtigkeiten sind anstrengend. Schlieûlich kennt man auch die Redewendung: »Die Arbeit geht mir leicht von der Hand«. Anstrengung ist nicht das einzige allgemeine Kennzeichen, an dem Arbeit festgemacht werden kann. Man kænnte auch versuchen, Arbeitståtigkeiten anhand des Kriteriums einzugrenzen, daû sie nicht um ihrer selbst willen vollzogen werden, sondern daû mit ihnen ein externer Zweck erreicht werden soll. 4 In diesem Sinne wåren Aktivitåten wie gemeinsames Spielen oder eine Wanderung im Gebirge nicht als Arbeit anzusehen, sofern mit ihnen keine zusåtzlichen Ziele verbunden sind. Es ist allerdings denkbar, daû beispielsweise eine professionelle Kçnstlerin um des Malens willen malt und keine weitere Absicht damit verfolgt. Auch wenn sie durch den Verkauf ihrer Bilder de facto ihren Lebensunterhalt bestreitet, wçrde ihre kçnstlerische Tåtigkeit keine Arbeit darstellen. Zum anderen gibt es offenbar auf einen externen Zweck ausgerichtete Tåtigkeiten, die man nicht ohne weiteres als Arbeit bezeichnen wçrde ± etwa die gezielte Schådigung einer anderen Person. Ein anderes allgemeines Merkmal bringt Arbeit mit einer Verpflichtung oder Notwendigkeit in Verbindung: Es ist den arbeitenden Personen nicht freigestellt, die entsprechenden Tåtigkeiten ruhen zu lassen. Wenn ein Bauer in einer Agrargesellschaft sein Feld nicht bestellt, wird er çber kurz oder lang verhungern. Ein Arbeiter, der ohne Grund nicht in der Fabrik erscheint, wird bald entlassen werden. Eltern, die ihre Kinder nicht versorgen, werden rechtlich belangt. Durch das Kriterium der Notwendigkeit wird zumindest ein groûer Teil der Arbeitståtigkeiten erfaût. Allerdings kænnten auch freiwillige soziale Tåtigkeiten als Arbeit bezeichnet werden. Auf der anderen Seite sind nicht alle auf einer Pflicht beruhenden Tåtigkeiten ohne weiteres als Arbeit anzusehen. Insbesondere moralische oder rechtliche Verpflichtungen schlieûen einen sehr weiten Bereich von Tåtigkeiten ein. Das Læsen eines Fahrscheins fçr die Straûenbahnfahrt ist z. B. Pflicht, aber deshalb nicht unbedingt eine Arbeitståtigkeit. Im Unterschied zu einem mehr oder weniger weiten Gebrauch Diese Abgrenzung entspricht in etwa der Aristotelischen Unterscheidung von Poiesis und Praxis. Vgl. Lange 1980, 21.
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des Arbeitsbegriffs gibt es aber auch spezifischere Verwendungsweisen. So kann »Arbeit« eingeschrånkt sein auf produktive Tåtigkeiten wie die Herstellung von Gçtern oder vielleicht noch die Verrichtung von Dienstleistungen. In einem noch engeren Verståndnis wçrden nur die gesellschaftlich notwendigen Tåtigkeiten als Arbeit angesehen werden. 5 Vielleicht lassen sich die angefçhrten Definitionsvorschlåge dahingehend verfeinern, daû sie den Sprachgebrauch besser abbilden. Es erscheint mir aber plausibler, davon auszugehen, daû der Terminus »Arbeit« nicht einheitlich verwendet wird. Es dçrfte kaum mæglich sein, eine Begriffsbestimmung vorzulegen, die genau diejenigen Tåtigkeiten umfaût, die als Arbeit bezeichnet werden kænnen. 6 Insofern ist eine Untersuchung der Umgangssprache nicht sehr hilfreich. Ein Vorschlag zur Klårung des Arbeitsbegriffs wird vermutlich immer bestimmte Verwendungsweisen ausschlieûen. Dadurch wird eine Festsetzung darçber getroffen, welche Tåtigkeiten als Arbeit anzusehen sind. Arbeit kann gegençber Mçûiggang abgegrenzt werden, aber auch gegençber freiwilligen Beschåftigungen, gegençber spielerischen Aktivitåten, gegençber unproduktiven Tåtigkeiten oder gegençber gesellschaftlich nicht notwendigen Handlungen. Die Abgrenzungen sind m. E. nur sinnvoll, wenn die Fragestellung, um derentwillen bestimmte Tåtigkeiten als Arbeit charakterisiert werden sollen, geklårt ist. Erst wenn ein bestimmtes Interesse benannt wird, låût sich eine Festlegung rechtfertigen. Wenn man z. B. der Frage nachgeht, welche Tåtigkeiten finanziell vergçtet werden sollten, wird man einen anderen Arbeitsbegriff entwickeln mçssen, als wenn geklårt werden soll, weshalb es fçr Menschen wichtig ist, einer Arbeit nachzugehen. Die erstgenannte Untersuchung schlieût im Unterschied zur zweiten grundsåtzlich die Mæglichkeit aus, daû auch Tåtigkeiten fçr den Eigenbedarf als Arbeit anzusehen sind ± denn niemand wird es fçr angemessen halten, Tåtigkeiten zu entlohnen, die nur der eigenen Person zugute kommen. Auf der andeEine Ûbersicht çber die verschiedenen mæglichen Definitionen des Arbeitsbegriffs gibt Krebs 1996. 6 Der Begriff »Arbeit« bezieht sich nicht einmal zwingend auf Tåtigkeiten. Es kann auch das Produkt oder Resultat einer Tåtigkeit gemeint sein. (»Dieses Schmuckstçck ist eine sehr schæne Arbeit.«) Lange 1980, 14 unterscheidet darçber hinaus noch einen Zweck-Sinn des Ausdrucks »Arbeit«, der auf die zu vollziehende Aufgabe hinweist. 5
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ren Seite kann aber Eigenarbeit im menschlichen Leben durchaus bedeutsam sein. Die leitende Fragestellung der vorliegenden Untersuchung lautet, welche Maûnahmen zugunsten der Erwerbsarbeitslosen ethisch gerechtfertigt werden kænnen. Ethische Forderungen erscheinen nur dann plausibel, wenn die Arbeit eine wichtige Funktion im menschlichen Leben çbernimmt. Ich war in einem frçheren Diskussionsbeitrag 7 davon ausgegangen, daû es sinnvoll ist, einen Arbeitsbegriff zu entwerfen, der einerseits die subjektive Bedeutung der Arbeit herausstellt. Auf der anderen Seite sollte die Festlegung aber so offen sein, daû nicht nur Erwerbsarbeiten, sondern auch mægliche alternative Tåtigkeiten darunter fallen, die die Funktion der Erwerbsarbeit çbernehmen kænnten. Meine Grundidee war die, daû Menschen ein elementares Interesse daran haben, durch ihre Arbeit etwas Nçtzliches zu tun. Sie wollen also Tåtigkeiten vollziehen, von denen sie zumindest selbst glauben (kænnen), daû sie nçtzlich sind. Als entscheidendes Kriterium fçr Arbeitståtigkeiten hatte ich demgemåû festgesetzt, daû sie (vermeintlich) fçr jemanden nçtzlich sind oder von irgendeiner Person gebraucht werden. 8 Diese relativ weite Bestimmung schlieût Tåtigkeiten ein, die der eigenen Person dienlich sind ± wie z. B. die Kærperpflege oder die individuelle Gesundheitsvorsorge. Sie umfaût Aktivitåten wie Freundschaftsdienste und Nachbarschaftshilfe, die bestimmten Personen zugute kommen sollen, sowie Leistungen, die fçr einen offenen Empfångerkreis verfçgbar sind. In einem weiteren Schritt wurden von mir die Tåtigkeiten ausgenommen, die der arbeitenden Person selbst dienlich sind. Die Begrçndung dafçr lautete, daû Menschen insbesondere daran interessiert sind, von anderen Personen gebraucht zu werden. 9 In diesem Sinne erscheint es wichtig, Arbeitståtigkeiten zu vollziehen, die von den Mitmenschen benætigt werden. Ob das Gebrauchtwerden auf den Nahbereich oder auf einen ausgeweiteten Kreis bezogen ist, blieb nach diesem Vorschlag offen.
Vgl. Schlothfeldt 1996. Vgl. a. a. O., 33 ff. Die Einschrånkung »vermeintlich« erschien notwendig, weil auch objektiv unnçtze Tåtigkeiten oft dem Anschein nach gebraucht werden. Entscheidend ist, daû die arbeitende Person selbst der Meinung ist, die Tåtigkeit wåre nçtzlich. 9 Vgl. a. a. O., 46. 7 8
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Genau in dieser Unentschiedenheit besteht aber auch das Problem meines ersten Versuchs, den Arbeitsbegriff einzugrenzen. Es ist denkbar, daû die (quasi anthropologische) Behauptung zutrifft, daû Menschen generell etwas Nçtzliches tun wollen. Darçber hinaus kann es auch der Fall sein, daû es ein allgemeines menschliches Interesse daran gibt, von anderen Personen gebraucht zu werden. Fçr die Fragestellung, ob ein kultur- und gesellschaftsunabhångiges Bedçrfnis besteht, einer Arbeit nachzugehen, mag die Definition sinnvoll sein. 10 Unter dieser Perspektive muû sogar offengelassen werden, an wen die Arbeitståtigkeiten gerichtet sind: In einer Gesellschaft, in der landwirtschaftliche Kleinproduzenten ihre Produkte nicht austauschen, wçrde Arbeit wesentlich fçr den Eigenbedarf oder vielleicht fçr eine Familie geleistet werden. Aber die in modernen westlichen Gesellschaften mit der Arbeit verbundenen Funktionen geraten durch die genannte Abgrenzung aus dem Blick. Tåtigkeiten im Rahmen einer Erwerbsarbeit zeichnen sich gerade dadurch aus, daû sie weder fçr den Eigenbedarf noch fçr bestimmte Personen im Nahbereich vollzogen werden. Es erscheint unumgånglich, einen Arbeitsbegriff einzufçhren, der den heutigen sozio-ækonomischen Bedingungen entspricht. Einige der im ersten Kapitel herausgearbeiteten Aspekte deuten darauf hin, daû es sinnvoll sein kænnte, einen Begriff der gesellschaftlichen Arbeit zugrunde zu legen. Dies gilt insbesondere fçr die Beteiligung an den gesellschaftlichen Aktivitåten, die vielleicht genauer als Beteiligung an der gesellschaftlichen Arbeit gekennzeichnet werden mçûte. Auch die gesellschaftliche Anerkennung dçrfte nicht zuletzt von dieser Teilnahme abhången. Hingegen ist die Beteiligung am Leistungsaustausch an ein Konzept ækonomischer Arbeit gebunden, die unterhaltssichernde Funktion der Arbeit sogar an eine Erwerbsarbeit im engeren Sinne. Einen solchen (dreistufigen) Arbeitsbegriff will ich im folgenden skizzieren. Ausgehen mæchte ich von einem von Friedrich Kambartel entwickelten Vorschlag, wie »gesellschaftliche Arbeit« verstanden werden sollte. Vgl. die Bemerkungen zum vermeintlich anthropologisch konstanten Stellenwert der Arbeit in Abschnitt I.4. Ich hatte dort allerdings Zweifel angemeldet, ob es eine einheitliche subjektive Bedeutung der Arbeit gibt. Auch an dieser Stelle zeigt sich wieder, daû Arbeit in unterschiedlichen Gesellschaften unter jeweils anderen Bedingungen geleistet wird und vermutlich auch andere Funktionen çbernimmt.
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Kambartel teilt die Meinung, daû fçr bestimmte Fragestellungen ein sozio-ækonomischer Arbeitsbegriff entwickelt werden muû. Er definiert als gesellschaftliche Arbeit eine »Tåtigkeit fçr andere, welche am allgemeinen¬, durch die Form der Gesellschaft bestimmten, Leistungsaustausch zwischen ihren Mitgliedern teilnimmt«. 11 In den westlichen Úkonomien sei dieser Leistungsaustausch arbeitsteilig organisiert, und er werde in der Regel indirekt çber Geld vermittelt. Das Kriterium dafçr, daû eine Tåtigkeit in den allgemeinen gesellschaftlichen Leistungsaustausch eingebunden ist, besteht nach Kambartel darin, daû sie entweder entlohnt wird oder daû, wenn dies nicht der Fall ist, ein Substitutionsbedarf auf gesellschaftlicher Ebene ausgelæst wçrde, falls die Tåtigkeit nicht vollzogen wçrde. Diese Eingrenzung schlieût zum einen Tåtigkeiten aus, die Personen zur Befriedigung der eigenen Bedçrfnisse vollziehen. Zum anderen fallen auch Tåtigkeiten heraus, die an bestimmte Personen gerichtet sind, sofern sie von den Nutznieûern direkt durch andere Tåtigkeiten oder sonstige nicht-monetåre Gegengaben vergolten werden kænnen. Insofern scheint der Definitionsvorschlag den Bedingungen zu gençgen, die ich oben formuliert hatte. Kambartel und insbesondere Krebs verfolgen mit diesem Arbeitsbegriff eine kritische Absicht. Sie wollen nachweisen, daû auch die privat geleisteten Betreuungståtigkeiten (Kinder aufziehen, alte oder kranke Familienangehærige pflegen) als gesellschaftliche Arbeit anzusehen sind. Die privat geleisteten Betreuungståtigkeiten unterscheiden sich von Freundschaftsdiensten oder Nachbarschaftshilfen in einer wesentlichen Hinsicht: Sie kænnen von den Nutznieûern in der Regel nicht direkt entgolten werden und læsen einen Substitutionsbedarf auf gesellschaftlicher Ebene aus, weil sie unverzichtbar sind. Anhand dieser Ûberlegung soll deutlich gemacht werden, daû es eine Ungerechtigkeit darstellt, wenn die genannten Tåtigkeiten nicht entlohnt werden. Eine Gesellschaft, die z. B. die Betreuung von Kindern nicht durchgångig professionalisieren will (oder kann), mçûte die Tåtigkeiten gerechterweise ebenso vergçten wie Berufståtigkeiten. Ich will diese Argumentation nicht diskreditieren; sie erscheint mir im wesentlichen einleuchtend. Auf der anderen Seite bin ich aber der Meinung, daû die Kambartelsche Definition von gesellschaftKambartel 1994, 126. Vgl. auch die an diesen Vorschlag anschlieûenden Ûberlegungen von Krebs 1996.
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licher Arbeit zwar fçr das dargelegte Gerechtigkeitsproblem einschlågig ist, jedoch nicht fçr die Untersuchung der Erwerbsarbeitslosigkeit. 12 Die fçr Kambartel und Krebs relevanten Tåtigkeiten mçssen von denjenigen Aktivitåten, die als gesellschaftliche Arbeit anzusehen sind, wenn man vom Aspekt der gesellschaftlichen Beteiligung ausgeht, unterschieden werden: Private Betreuungståtigkeiten richten sich an bestimmte Personen, und sie kænnen auch nicht von beliebigen qualifizierten Personen verrichtet werden. Es ist das definierende Merkmal der entsprechenden Aufgaben, daû sie nicht professionalisiert sind, sondern daû sie von nahestehenden Menschen çbernommen werden. Diese Tåtigkeiten sind, gerade weil sie Verpflichtungen gegençber bestimmten Personen darstellen, keine befriedigende Alternative zu einer Erwerbsarbeit. Personen, die ausschlieûlich damit betraut sind, Kinder aufzuziehen, sind håufig von den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten ausgeschlossen. Dies wird offenbar von vielen Mçttern (und Våtern) auch so empfunden. Wçrde die privat geleistete Betreuungsarbeit entlohnt werden, dçrften diese Tåtigkeiten zwar eine hæhere gesellschaftliche Anerkennung genieûen. Dennoch kænnte eine solche Vergçtung m. E. die Beteiligung an der Erwerbsarbeit nicht ersetzen. Im Hinblick auf die Funktionen der Erwerbsarbeit muû der Kambartelsche Vorschlag also modifiziert werden. Um an den gesellschaftlichen Aktivitåten beteiligt zu sein, ist es nicht zwingend erforderlich, eine Gegenleistung fçr die eigenen Tåtigkeiten zu erhalten. Der Leistungsaustausch und die damit zusammenhångende Frage der Vergçtung sind in dieser Hinsicht nicht als zentral anzusehen. Úffentlichen Charakter erhålt eine Tåtigkeit hingegen dadurch, daû sie fçr einen offenen Empfångerkreis angeboten wird. Daher sollen als gesellschaftliche Arbeit Tåtigkeiten gelten, die nicht nur bestimmten Menschen, sondern beliebigen Personen zugute kommen kænnen. In diesem Sinne gehæren zur gesellschaftlichen Arbeit neben Erwerbståtigkeiten z. B. auch freiwillige Aktivitåten in Hilfsorganisationen. Wer eine solche Tåtigkeit ausçbt, nimmt an der Gesellschaft aktiv teil, indem er/sie etwas vermeintlich Nçtzliches tut, das (theoretisch) jede/r in Anspruch nehmen kænnte. Teilweise ist die Nutzungsmæglichkeit zwar davon abhångig, daû bestimmte VorausDies ist ein Beispiel fçr die oben vertretene Hypothese, daû der Arbeitsbegriff je nach der Fragestellung modifiziert werden muû.
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Erærterung des Arbeitsbegriffs
setzungen erfçllt sind: Um in den Genuû einer æffentlichen Schulausbildung zu kommen, darf man ein bestimmtes Alter nicht çberschreiten. Fçr weiterfçhrende Schulen oder ein Studium ist sogar eine besondere Qualifikation erforderlich. Dennoch sind die Arbeitsleistungen eines Lehrers oder einer Professorin an einen weitgehend offenen Empfångerkreis gerichtet. Um die anderen im ersten Kapitel nachgewiesenen Funktionen der Arbeit in den Blick zu bekommen, wird aber auch ein engeres Arbeitskonzept benætigt, das an die Tatsache anknçpft, daû in modernen Úkonomien ein komplexer indirekter Leistungsaustausch stattfindet. Personen çbernehmen in diesem Gefçge spezifische Aufgaben, die fçr einen offenen Empfångerkreis angeboten und darçber hinaus durch Geld entlohnt werden. Diese Teilmenge der gesellschaftlichen Arbeit mæchte ich als ækonomische Arbeit bezeichnen. Die Bezahlung stellt eine Art der Anerkennung dar, und sie zeigt an, daû die Arbeit gebraucht oder zumindest nachgefragt wird. Ob die Tåtigkeiten direkt von den Nutznieûern vergçtet werden, ob ein Lohn durch einen Arbeitgeber ausgezahlt wird oder ob eine staatliche Instanz eine fçr wichtig befundene Leistung honoriert, kann offen bleiben. 13 Es ist zu beachten, daû auch entlohnte private Betreuungsarbeiten in meinem Sinne keine ækonomische Arbeit darstellen wçrden, da ich daran festhalten mæchte, daû die Tåtigkeiten beliebigen Personen zugute kommen sollen. Ebenfalls ausgeschlossen sind z. B. Arbeitsleistungen, wie sie Dienstboten verrichtet haben, die einer bestimmten Adelsfamilie verpflichtet waren. Diese Tåtigkeiten sind als eine traditionelle Form der Beschåftigung anzusehen, die gerade den offenen und damit gesellschaftlichen Charakter zeitgenæssischer Arbeit vermissen låût. Sie stellen insofern keine Alternative zur Erwerbsarbeit dar. »Úkonomische Arbeit« ist hier also auf bestimmte sozio-ækonomische Verhåltnisse zugeschnitten. Man kann den Begriff der ækonomischen Arbeit natçrlich weiter fassen; dies ist im Zusammenhang mit der Fragestellung nach der gegenwårtigen Bedeutung der Arbeit aber nicht sinnvoll. Eine Teilmenge der ækonomischen Arbeit ist wiederum die Erwerbsarbeit im engeren Sinne, die nicht nur durch eine Gegenleistung vergçtet wird, sondern die sogar den Lebensunterhalt sichert Es mag fçr die Personen eine Rolle spielen, auf welche Weise sie entlohnt werden; aber fçr eine Untersuchung der generellen Funktionen beliebiger Erwerbsarbeiten ist das nicht ausschlaggebend.
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und dadurch fçr finanzielle Unabhångigkeit sorgt. Den Begriff der Erwerbsarbeit will ich relativ weit fassen: Mit Erwerbsarbeit sind nicht nur abhångige Beschåftigungen gemeint, sondern darçber hinaus auch selbståndige Tåtigkeiten. 14 Es ist im Zusammenhang mit der hier zu untersuchenden Fragestellung irrelevant, ob man die Stellung eines Angestellten oder die eines Kleinunternehmers hat ± in beiden Fållen leisten die Personen gesellschaftliche Arbeit, sind am ækonomischen Leistungsaustausch beteiligt und sichern auf diese Weise ihren Lebensunterhalt. Als erwerbsarbeitslos will ich im çbrigen nicht nur diejenigen Personen bezeichnen, die faktisch eine Stelle suchen. Auch Menschen, die die Arbeitssuche aus Frustration aufgegeben haben oder die unter den gegenwårtigen Bedingungen nicht vermittelbar sind, sollen als Erwerbsarbeitslose zåhlen, sofern sie eine Beteiligung an der Erwerbsarbeit wçnschen. 15
2. Erlåuterung wichtiger Kategorien, die den Stellenwert der Erwerbsarbeit anzeigen Im ersten Kapitel sind einige zentrale Begriffe eingefçhrt worden, die bei der Erklårung der Tatsache, daû die Beteiligung an der Erwerbsarbeit fçr die Mitglieder moderner westlicher Gesellschaften wichtig ist, eine Rolle spielen. Insbesondere wurden folgende Kategorien benannt: ± ækonomischer Leistungsaustausch ± Selbståndigkeit / finanzielle Unabhångigkeit ± erhebliche relative finanzielle Schlechterstellung ± aktive Beteiligung an der Gesellschaft / Beteiligung an den gesellschaftlichen Aktivitåten ± gesellschaftliche Anerkennung / gesellschaftlich anerkannter Status ± marginale soziale Position. Wie viele andere Autoren bezieht Jahoda 1983 ihre Analyse ausschlieûlich auf vertraglich festgelegte Beschåftigungsverhåltnisse ± vgl. a. a. O., 24 ff. Das ist praktisch gesehen keine erhebliche Einschrånkung, da nur ein kleiner Teil der Personen, die keine Erwerbsarbeit haben, zuvor ækonomisch selbståndig war oder es in Zukunft sein kænnte. 15 In dieser Hinsicht unterscheide ich mich von den amtlichen Arbeitslosenstatistiken, die in der Regel nur arbeitsuchende und arbeitswillige (vermittelbare) Personen berçcksichtigen. 14
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Erlåuterung wichtiger Kategorien
Einige der Begriffe sind nicht klårungsbedçrftig. Insbesondere gilt dies fçr »finanzielle Unabhångigkeit« und die in diesem Sinne gemeinte »Selbståndigkeit«. Beide Termini sollen ausdrçcken, daû eine Person nicht auf Unterstçtzungsleistungen angewiesen ist, sondern sich entweder durch Arbeitsleistungen ernåhren kann oder çber ein privates Vermægen verfçgt. 16 Der Begriff »ækonomischer Leistungsaustausch« scheint mir ebenfalls weitgehend geklårt zu sein. Es wurde im çbrigen durch die Erærterungen zum Arbeitsbegriff weiter pråzisiert, wie dieser Terminus zu verstehen ist. In einem allgemeinen Sinne fallen unter den ækonomischen Leistungsaustausch diejenigen arbeitsfærmigen Tåtigkeiten, die keine Geschenke an bestimmte andere Personen darstellen, sondern die durch eine Gegenleistung vergçtet werden. Als Gegenleistung sind Tåtigkeiten oder auch Produkte denkbar, die sich die zu entlohnende Person wçnscht; in modernen Gesellschaften besteht die Gegenleistung allerdings in der Regel in einem Geldbetrag, der wiederum Arbeitsleistungen einer dritten Person verfçgbar macht. In diesem Sinne ist der ækonomische Leistungsaustausch in arbeitsteiligen Úkonomien meist indirekt çber Geld vermittelt. 17 Was mit »aktiver Beteiligung an der Gesellschaft« bzw. »Teilnahme an den gesellschaftlichen Aktivitåten« gemeint ist, ist auf den ersten Blick zwar nicht sehr klar. Die Kategorie wurde aber ± vor allem im letzten Abschnitt ± dahingehend pråzisiert, daû es sich um die Beteiligung an der gesellschaftlichen Arbeit handelt. Als gesellschaftliche Aktivitåten sind also nicht Tåtigkeiten anzusehen, die von den meisten Gesellschaftsmitgliedern vollzogen werden (wie z. B. das abendliche Fernsehen), sondern Tåtigkeiten fçr die Gesellschaft. Letzteres ist nicht in dem eingeschrånkten (und problematischen) Sinne zu verstehen, daû gesellschaftlich nçtzliche Aktivitåten anhand eines objektiven Maûstabs ausgezeichnet werden sollen. Vielmehr wird die relativ schwache Bedingung an die Tåtigkeiten gestellt, daû sie einem offenen Empfångerkreis zugute kommen »Selbståndigkeit« suggeriert vielleicht eher eine Versorgung durch eigene Arbeitsleistungen. In einer allgemeinen Verwendung ist der Begriff explikationsbedçrftig, da Personen in verschiedenen Hinsichten selbståndig sein kænnen. Im Text wurde allerdings deutlich gemacht, daû es hier um finanzielle Selbståndigkeit geht. 17 Es kænnte genauer unterschieden werden, ob der Nutznieûer der Arbeitsleistungen die Vergçtung zahlt, eine »Mittelsperson« (Håndler, Arbeitgeber) oder gar der Staat, wenn die Tåtigkeiten æffentlich finanziert werden. Aber das ist fçr die vorliegende Untersuchung m. E. nicht bedeutsam. 16
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kænnen. Auf diese Weise låût sich Jahodas Behauptung pråzisieren, daû Arbeitslose von den gesamtgesellschaftlichen Aktivitåten (und Zielen) ausgeschlossen sind. 18 Eine erhebliche relative finanzielle Schlechterstellung ist nicht mit absoluter Verarmung gleichzusetzen, geht aber doch so weit, daû kein (relativ) akzeptabler Lebensstandard erreicht werden kann. Um diese Definition zu pråzisieren, mçûte ein Kriterium fçr einen akzeptablen Lebensstandard angegeben werden. Prinzipiell sind zwei Strategien denkbar: Einerseits kænnte eine finanzielle Mindestausstattung relativ zum Durchschnittseinkommen bestimmt werden; andererseits kænnten allgemein gebråuchliche Gçter und Dienstleistungen, die einen annehmbaren Lebensstandard ausmachen, konkret benannt werden. Beide Mæglichkeiten sind in der Bundesrepublik politisch und rechtlich wirksam: Von relativer Armut wird in den offiziellen Sozialstatistiken dann ausgegangen, wenn Menschen çber weniger als die Hålfte des durchschnittlichen Einkommens der Bundesbçrger verfçgen. Falls eine Person hingegen Schulden nicht zurçckzahlen kann, werden von der Pfåndung bestimmte Gçter ausgenommen, die als allgemein gebråuchlich eingestuft worden sind. Beide Festsetzungen sind natçrlich recht willkçrlich. Mæglicherweise wåre es sinnvoll, empirisch zu bestimmen, welche Schlechterstellungen von den Betroffenen als beschåmend oder verletzend empfunden werden. 19 Besonders problematisch und klårungsbedçrftig sind die Termini »gesellschaftliche Anerkennung« / »gesellschaftlich anerkannter Status« und »marginale soziale Position«. Was ist zunåchst unter gesellschaftlicher Anerkennung zu verstehen? Begrifflich sind generell unterschiedliche Formen der Anerkennung zu unterscheiden. Einen Menschen anzuerkennen, kann einerseits bedeuten, die Person als Person zu achten; andererseits kann gemeint sein, daû die Person geschåtzt wird. 20 Anerkannt werden Von den gesellschaftstypischen Aktivitåten sind Arbeitslose nicht zwingend ausgeschlossen; an der Entscheidung çber gesellschaftliche Zielsetzungen sind hingegen auch viele Erwerbståtige kaum beteiligt. 19 Die Zufriedenheitsforschung konnte zumindest nachweisen, daû in der Bundesrepublik der Vergleich mit dem durchschnittlichen Haushaltseinkommen die Einkommenszufriedenheit am stårksten beeinfluût. Vgl. Glatzer 1992, 61. 20 In einem noch schwåcheren Sinne, der hier nicht relevant ist, bedeutet Anerkennung nur Beachtung. »Achtung der Person« ist im çbrigen eine moralische Wendung: Sie 18
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Erlåuterung wichtiger Kategorien
Personen im çbrigen entweder von anderen Personen oder von Institutionen. In diesem Sinne gibt es unterschiedliche Anerkennungsverhåltnisse: Eine Person kann erstens aufgrund ihrer Charaktereigenschaften oder Fåhigkeiten von einem Menschen geschåtzt werden; sie kann von ihm zweitens aber auch als Person respektiert werden. Drittens kann eine Person von einem Rechtssystem in dem Sinne anerkannt sein, daû ihre individuellen Rechte gesetzlich garantiert sind. Viertens kann sie dadurch von einem Staat anerkannt werden, daû sie als Mitglied des politischen Gebildes respektiert wird und die entsprechenden politischen Rechte genieût. 21 Anerkennung durch eine staatliche Instanz kann fçnftens aber auch Wertschåtzung bedeuten ± etwa wenn eine Person aufgrund besonderer Verdienste eine Auszeichnung erhålt. Der Begriff »gesellschaftliche Anerkennung« ist demgegençber unklar, da die Gesellschaft eine abstrakte, nicht institutionalisierte Entitåt darstellt. Es ist keine Anerkennung durch die Gesellschaft in dem Sinne mæglich, wie es eine Anerkennung durch Personen oder Institutionen geben kann. Vielmehr ist der Begriff zu verstehen als Anerkennung (Wertschåtzung) gemåû sozialer Standards. Zumindest in modernen Gesellschaften gibt es zwar kein festes Regelwerk, das den gesellschaftlichen Status einer Person definitiv festlegt. Dennoch lassen sich m. E. Bewertungskriterien ausmachen, die innerhalb einer Gesellschaft allgemein geteilt werden. Die gesellschaftliche Anerkennung drçckt sich in den typischen Einschåtzungen der Mitglieder der Gesellschaft aus. 22 Einen anerkannten gesellschaftlichen Status zu verlieren bedeutet hingegen, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Auch in dieser Hinsicht liegen in modernen Gesellschaften keine formalen Ausschluûkriterien vor. Ich gehe aber davon aus, daû es allgemein geteilte, generelle Erwartungen an die Mitglieder der Gesellschaft gibt. Falls Personen diesen Erwartungen nicht gençgen (kænnen), kænnen sie im angegebenen Sinne einen anerkannten gesellschaftlichen Status verlieren. Diese Gefahr besteht setzt voraus, daû Personen in einer bestimmten Weise berçcksichtigt oder respektiert werden sollten. Vgl. auch den folgenden Abschnitt zur Selbstachtung. 21 In diesem Sinne kann man auch von einem Status als Rechtsperson oder als politische Person sprechen. 22 Beispielsweise sind bestimmte æffentliche Ømter und Positionen, aber auch bestimmte Fåhigkeiten insofern mit einem hohen gesellschaftlichen Ansehen verbunden, als sie von den meisten Gesellschaftsmitgliedern geschåtzt werden. Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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nach den Erærterungen des ersten Kapitels fçr arbeitsfåhige Menschen, die dauerhaft von Unterstçtzungsleistungen leben mçssen. Den Begriff »marginale soziale Position« hatte ich gewåhlt, um die deutliche Schlechterstellung der Dauerarbeitslosen zu kennzeichnen. Was ist zunåchst generell mit sozialen Positionen gemeint? Die soziale Stellung ist m. E. zumindest in modernen Gesellschaften nicht formal festgelegt, sondern durch soziale Vergleiche und Erwartungen bestimmt. Als Vergleichsmaûstab bieten sich unterschiedliche Dimensionen an ± insbesondere die finanzielle Ausstattung, die sozialen Chancen, die soziale Anerkennung und die gesellschaftliche Beteiligung. Es ist natçrlich eine Simplifizierung der komplexen sozialen Phånomene, wenn man von sozialen Positionen spricht. Personen kænnen mit Bezug auf die einzelnen Dimensionen unterschiedlich gut oder schlecht gestellt sein. So mag etwa jemand eine hochangesehene Tåtigkeit verrichten, die dennoch schlecht bezahlt wird. Der umgekehrte Fall ist ebenfalls denkbar. Aber auch wenn die Kategorie »gesellschaftliche Position« fçr eine genauere Analyse der Sozialstruktur moderner Gesellschaften vielleicht nicht geeignet ist, erscheint es mir dennoch mæglich, von einer marginalen sozialen Position zu sprechen, wenn Personen(gruppen) in allen wesentlichen Dimensionen deutlich schlechter gestellt sind als die Mehrheit der Bevælkerung. 23 Dies ist nach den Ergebnissen des ersten Kapitels in der Regel der Fall, wenn Personen dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind.
Eine eklatante relative Schlechterstellung mçûte in einer genaueren empirischen Analyse nicht nur mit Bezug auf die finanzielle Ausstattung definiert werden, sondern auch mit Bezug auf soziale Chancen, gesellschaftliche Beteiligung und soziale Anerkennung. Hilfreich kænnte hier die in der Sozialpsychologie eingefçhrte Kategorie der relativen Deprivation erscheinen, die allerdings eher Vergleiche mit spezifischen Bezugsgruppen als solche mit den durchschnittlichen gesellschaftlichen Verfçgungsmæglichkeiten in den Mittelpunkt stellt. Vgl. dazu genauer Olson/Herman/Zanna 1986, Baum 1978 und Runciman 1966.
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Das Konzept der Selbstachtung
3. Das Konzept der Selbstachtung Im letzten Abschnitt wurden diejenigen Begriffe expliziert, mit denen primåre Folgen der Erwerbsarbeitslosigkeit benannt werden kænnen: (relative) ækonomische Schlechterstellung, finanzielle Abhångigkeit, mangelnde Beteiligung an den gesellschaftlichen Aktivitåten, Verlust der gesellschaftlichen Anerkennung und ± zusammenfassend ± eine marginale soziale Position. Diese negativen Auswirkungen haben in der Regel den sekundåren Effekt, daû das Wohlbefinden der Betroffenen erheblich beeintråchtigt wird. Eine genauere empirische Analyse kænnte das Wohlergehen in unterschiedliche Konstituenten zerlegen und zu zeigen versuchen, welche der primåren Folgen welche Komponenten des Wohlergehens negativ beeinflussen. Soziale Isolation bringt wahrscheinlich Einsamkeitsgefçhle mit sich. Der Mangel an regelmåûiger Betåtigung fçhrt vielleicht zu Langeweile und Leere. Wer an der Gesellschaft nicht aktiv beteiligt ist, wird mæglicherweise unbefriedigt sein oder unter einem Gefçhl der Sinnlosigkeit leiden. Eine wichtige Kategorie ist in diesem Zusammenhang auch die Selbstachtung. Generell dçrfte es beschåmend und fçr die Selbstachtung verletzend sein, eine marginale soziale Position einzunehmen. Es scheint sogar, daû alle wichtigen, mit der Erwerbsarbeit verbundenen Funktionen mit der Selbstachtung in Beziehung stehen kænnen: Man kann davon ausgehen, daû es die Selbstachtung einer Person negativ beeinfluût, wenn sie keinen akzeptablen Lebensstandard erreicht. Von Unterstçtzungsleistungen abhångig zu sein, kænnte ebenfalls das Selbstwertgefçhl herabsetzen. Es ist fçr die Selbstachtung vermutlich auch nicht unwichtig, einen anerkannten gesellschaftlichen Status zu besitzen und an der gesellschaftlichen Arbeit teilnehmen zu kænnen. Die meisten Beitråge zur Diskussion um ein Recht auf Arbeit gehen von einem engen Zusammenhang zwischen der Erwerbsarbeit und der Selbstachtung aus. 24 Das Selbstwertgefçhl in den Mittelpunkt zu stellen, ist nicht nur aufgrund der empirischen Befunde Dies gilt beispielsweise fçr Tugendhat 1992 & 1993, Pfannkuche 1996, Elster 1986, Sayers 1988, Kavka 1992 und Rippe 1995. Ich hatte in Schlothfeldt 1996 dieses Konzept ebenfalls als zentral angesehen. Mittlerweile bin ich allerdings der Ûberzeugung, daû Selbstachtung zwar eine wichtige Kategorie darstellt, aber auch (andere) Voraussetzungen des Wohlergehens zu beachten sind.
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naheliegend, sondern bietet sich auch insofern an, als die Kategorie der Selbstachtung durch die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie fçr sozialethische Ûberlegungen fruchtbar gemacht wurde. Auf die normativen Hintergrçnde gehe ich im nåchsten Kapitel ein. An dieser Stelle sollen zunåchst einige konzeptionelle Vorçberlegungen angestellt werden. Der Begriff der Selbstachtung ist ± im Unterschied zu Einsamkeit oder Langeweile ± klårungsbedçrftig. Ich werde eine allgemeine Explikation vorlegen, die im Zusammenhang mit der Themenstellung brauchbar zu sein scheint. 25 Der Begriff der Selbstachtung wird in der Umgangssprache mehrdeutig gebraucht. Wenn man sagt, eine Person habe ihre Selbstachtung verloren, kann dies bedeuten, daû sie kein positives Selbstwertgefçhl besitzt. Es kann aber auch gemeint sein, daû die Person keinen Stolz hat (bzw. daû sie ihren Stolz verloren hat). 26 In der zweiten Verwendung ist »Selbstachtung« ein ethisches Konzept: Es wird vorausgesetzt, daû Personen bestimmte Rechte oder Verpflichtungen gegençber sich selbst haben. Eine Person, die widerspruchslos Dinge mit sich machen låût, die ihre Rechte verletzen, hat keine Selbstachtung (keinen Stolz). Das gleiche gilt, falls einer Person berechtigte Ansprçche nicht zugestanden werden und sie darçber nicht entrçstet ist. Ein weiterer Fall wåre der, daû eine Person etwas Entwçrdigendes oder Beschåmendes tut, ohne dabei Scham zu empfinden. Erwerbsarbeitslose verlieren aber in der Regel nicht im eben explizierten Sinne ihren Stolz, sondern sie haben oft eine niedrige Selbsteinschåtzung. 27 Im folgenden werde ich daher Selbstachtung im Sinne eines positiven Selbstwertgefçhls verstehen und die beiden Begriffe synonym verwenden. Was heiût es nun, daû eine Person ein positives Selbstwertgefçhl besitzt? Offenbar hångt das Selbstwertgefçhl daran, wie die Person sich selbst zwischen den Extremen »sehr schlecht« und »sehr gut« einschåtzt. Diese Bewertung bezieht sich anscheinend auf verDie Darstellung entspricht in wesentlichen Punkten derjenigen in Schlothfeldt 1996. Bei Tugendhat 1994, 306 f. findet sich dieselbe Unterscheidung. Fçr eine genauere Erærterung vergleiche Sachs 1981 und Dillon 1995. Die Unterscheidung låût sich vielleicht besser einsehen, wenn man auf eine analoge Doppeldeutigkeit der Wendung »eine andere Person achten« hinweist: Dies kann zum einen heiûen, die andere Person zu schåtzen, zum anderen aber auch, ihre Rechte zu respektieren. Siehe dazu die Bemerkungen im vorangegangenen Abschnitt. 27 Vgl. die empirischen Befunde in Abschnitt I.2. 25 26
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schiedene Eigenschaften oder Fåhigkeiten, die die Person hat. Das Selbstwertgefçhl basiert also auf Einzelbewertungen. 28 Offenbar sind aber nicht alle persænlichen Merkmale fçr das Selbstwertgefçhl entscheidend: Falls es mir nichts bedeutet, schæn zu sein, erleidet meine Selbstachtung keine Einbuûe, wenn ich feststelle, daû ich håûlich bin. Es ist also klar, daû es um diejenigen Dinge geht, die einer Person wichtig sind. Die Person muû so-und-so sein wollen 29 , damit das Selbstwertgefçhl çberhaupt berçhrt wird. Ist eine Person so, wie sie sein will, hat sie ein positives Selbstwertgefçhl. Gelingt es ihr nicht, so zu sein wie sie sein will, schåtzt sie sich selbst negativ ein. Wie dieses »so-und-so-sein-Wollen« inhaltlich gefçllt wird, ist prinzipiell offen. Personen kænnen unterschiedlichste Dinge wichtig oder nicht wichtig nehmen. Es kann einem Menschen wichtig sein, gut auszusehen, reich zu sein, adelig zu sein, gut Auto zu fahren, intelligent zu sein, ein guter Mensch oder ein erfolgreicher Politiker zu sein. Diese Liste lieûe sich um weitere mægliche Charaktermerkmale, individuelle Ausstattungen, Fåhigkeiten und Lebensziele erweitern. Damit ist nicht gesagt, daû sich eine Person ihre Identifikationen beliebig aussucht. Offenbar spielen hier gesellschaftliche Normen sowie Erziehungs- und Sozialisationsprozesse eine wichtige Rolle. 30 Eine adåquate Begriffsbestimmung darf aber m. E. nicht festlegen, auf welche konkreten Merkmale sich die Selbstachtung bezieht. Die Rawlssche Definition der Selbstachtung in »Eine Theorie der Gerechtigkeit« erscheint in dieser Hinsicht problematisch. Rawls benennt zwar keine bestimmten Eigenschaften oder Ziele, mit denen sich Personen identifizieren (sollen). Er schrånkt aber die mæglichen Bezugspunkte durch die formale Bedingung, daû Lebensplåne fçr das Selbstwertgefçhl wesentlich sind, zu sehr ein: Selbstachtung ist nach Rawls dann vorhanden, wenn man davon çberzeugt ist, daû der eigene Lebensplan der Verwirklichung wert ist, und man Vertrauen Hier låût sich sehen, daû es eine empirische Beziehung zwischen Selbstachtung im zuerst explizierten Sinn und dem Selbstwertgefçhl geben kann: Falls eine Person es als wichtig ansieht, ihren Stolz zu haben, wird im Verlustfall das Selbstwertgefçhl tangiert. Es kann auch der umgekehrte Fall eintreten, daû eine Person, die ein negatives Selbstwertgefçhl hat, mehr mit sich machen låût. Vgl. dazu Sachs 1981, 358. 29 In diesem Sinne wird im folgenden auch davon gesprochen, daû sich eine Person mit bestimmten Eigenschaften oder Zielen identifiziert. 30 Dies kænnte auch die Beziehung zwischen Selbstachtung und Erwerbsarbeit erklåren ± siehe unten. 28
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in die eigene Fåhigkeit hat, diesen Plan auszufçhren. 31 Der Begriff »Lebensplan« erscheint zwar sehr allgemein, aber das Selbstwertgefçhl muû nicht an einen Lebensplan gebunden sein. Man kann schlieûlich auch von Tag zu Tag leben und die Selbstachtung von kurzfristigen Zielen abhångig machen. 32 Es ist sogar fraglich, ob Ziele als einzig wichtige Kategorie angesehen werden mçssen. Kænnen Menschen ihre Selbstachtung nicht durch gewonnenen oder ererbten Reichtum, Geburtsadel oder ihr natçrlich-schænes Gesicht gewinnen? Gegen die Mæglichkeit, seine Selbstachtung an Eigenschaften zu knçpfen, die man nicht selbst ausgebildet hat, spricht zunåchst nichts. Es låût sich nur festhalten, daû eine Person eigentlich keinen Grund hat, auf etwas stolz zu sein, wofçr sie nichts geleistet hat. Ob dieses Argument auch die faktische Einstellung von Personen beeinfluût, will ich hier offenlassen. Dies wåre empirisch zu prçfen. In die Definition von Selbstachtung darf jedenfalls nicht eingehen, daû Ziele oder gar Lebensplåne die einzigen fçr die Selbstachtung relevanten Identifikationsmæglichkeiten sind. 33 Tugendhat behauptet, »daû das Selbstwertgefçhl eines Menschen weitgehend (oder ganz?) darin besteht, daû man das Bewuûtsein hat, in seinen Fåhigkeiten gut zu sein.« 34 Er pråzisiert dies anschlieûend dahingehend, daû es um diejenigen Fåhigkeiten geht, die man selbst als wichtig ansieht. Was spricht fçr diese These? Zum einen haben Personen selbst Einfluû auf die Entwicklung ihrer Fåhigkeiten und daher einen Grund, auf ihr Kænnen stolz zu sein. Zum zweiten lassen sich mehr oder weniger entwickelte Fåhigkeiten auf einer Qualitåtsskala anordnen. Es ist daher zumindest naheliegend, Vgl. Rawls 1975, 479 & 204. Vielleicht kænnte man sagen, daû die wichtigste Identifikation eines solchen Menschen das Lebensziel ist, nicht zu planen, sondern spontan zu sein. Ob dieses Ziel aber noch unter die Rawlssche Rubrik »(vernçnftiger) Lebensplan« fållt, erscheint fraglich. (Vgl. dazu Abschnitt III.5.) Mæglicherweise wåre in diesem Falle die Selbstachtung auch nicht sehr stabil, aber das steht hier nicht zur Debatte. Fçr eine åhnliche Kritik vgl. Yanal 1987, 366 f. 33 Es ist zu vermuten, daû Rawls den Begriff der Selbstachtung (implizit) normativ auslegt. Darauf deutet auch seine Ûberlegung hin, daû Personen im Rahmen ihres Lebensplans die komplexesten Fåhigkeiten, die sie ausgebildet haben, zur Geltung bringen sollten. Vgl. Rawls 1975, 464. 34 Tugendhat 1993, 57 (meine Hervorhebung). Es ist nicht ganz klar, ob Tugendhat hier eine begriffliche oder eine empirische These vertritt. Auch ein empirischer Zusammenhang zwischen der Selbstachtung und den Fåhigkeiten dçrfte aber nicht generell nachzuweisen sein. 31 32
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die Selbsteinschåtzung auf Fåhigkeiten zu beziehen. Ich sehe aber dennoch nicht, daû sich die genannte Einschrånkung halten låût. Selbst wenn vorausgesetzt wird, daû eine Person die fçr die Selbstachtung zentralen Eigenschaften selbst erworben oder ausgebildet haben muû, kænnen es z. B. Charakterzçge oder besondere Leistungen sein, an denen das Selbstwertgefçhl hångt. Die relevanten Merkmale mçssen auch nicht auf einer Skala von besser oder schlechter angeordnet werden kænnen. Man denke z. B. an einen Menschen, der sich den Zielen einer sozialistischen Bewegung verschrieben hat. Auch wenn es keine besonderen Fåhigkeiten erfordern sollte, der Bewegung anzugehæren, kann das Selbstwertgefçhl der Person hoch sein, weil sie sich fçr diesen Weg entschieden hat. Gelegentlich wird auch behauptet, daû sich Selbstachtung und Achtung nicht voneinander trennen lassen. Zwar mag es einen empirisch nachzuweisenden Zusammenhang zwischen dem Selbstwertgefçhl und der Anerkennung durch andere Personen geben: Man kann zum einen die genetische These vertreten, daû die Ausbildung des Selbstwertgefçhls in der psychischen Entwicklung davon abhångt, daû Kinder von den Bezugspersonen geliebt und geschåtzt werden. Es ist zum zweiten plausibel, daû eine vernçnftige Selbsteinschåtzung der eigenen Fåhigkeiten an die Beurteilung durch Auûenstehende gebunden ist. Vielleicht låût sich sogar die stårkere Behauptung aufstellen, daû auch bei erwachsenen Personen das Selbstwertgefçhl generell dadurch beeinfluût wird, inwieweit sie von anderen Menschen anerkannt werden. Eine zwingende begriffliche Beziehung sehe ich hingegen nicht. Es ist denkbar, daû eine Person auch dann an einer positiven Selbsteinschåtzung festhalten kann, wenn ihre Umgebung sie durchgångig negativ beurteilt. Ich gehe davon aus, daû eine adåquate Explikation des Begriffs der Selbstachtung offen lassen muû, ob Eigenschaften, Fåhigkeiten oder Ziele von den Personen fçr wichtig befunden werden. 35 Es sollte darauf hingewiesen werden, daû es fçr die Zwecke dieser Untersuchung hæchst ungçnstig wåre, wenn die Selbstachtung prinzipiell von Lebensplånen oder von den Fåhigkeiten abhången wçrde. In diesem Falle lieûe sich eine Beziehung zwischen Selbstwertgefçhl und Erwerbsarbeit nur fçr spezifische, anspruchsvolle Beschåftigungen ausAusschlaggebend fçr die Selbstachtung ist begrifflich gesehen im çbrigen nur die eigene Einschåtzung, nicht die Beurteilung durch andere Personen.
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machen: Nicht alle Erwerbsarbeiten erfordern besondere Fåhigkeiten, mit denen Personen sich identifizieren (kænnen), und nicht alle beruflichen Aufgaben sind ein wesentlicher Bestandteil von Lebensplånen. Auûerdem kænnen Fåhigkeiten auûerhalb der Erwerbsarbeit eingesetzt und entwickelt werden, und Lebensplåne kænnen primår auf private Interessen bezogen sein. Die diskutierten formalen Einschrånkungen der fçr das Selbstwertgefçhl relevanten Eigenschaften und Ziele wçrden also gerade nicht vermuten lassen, daû zwischen der Selbstachtung und der Beteiligung an der Erwerbsarbeit im allgemeinen ein Zusammenhang besteht. 36 Hingegen låût sich mithilfe des von mir vertretenen offeneren Konzepts der Selbstachtung sehr wohl verstehen, daû und weshalb der Ausschluû von der Erwerbsarbeit das Selbstwertgefçhl beeintråchtigt. Einerseits ist es ein empirisches Faktum, daû es zum allgemein geteilten Selbstbild der Mitglieder moderner Gesellschaften gehært, zumindest in einem bestimmten Lebensabschnitt ihren Unterhalt durch eigene Arbeitsleistungen verdienen zu wollen. In diesem Sinne ist es kein beliebiges, nur auf einige Menschen zutreffendes Ziel, an der Erwerbsarbeit beteiligt zu sein. Wer finanziell unabhångig sein will, dazu aber keine Mæglichkeit hat, wird eine niedrigere Selbstachtung haben als Personen, die sich selbst versorgen kænnen. Andererseits dçrfte es nicht einmal von kulturellen Faktoren abhången, daû Menschen ihre soziale Position wichtig nehmen. Personen haben im allgemeinen ein elementares Interesse daran, eine akzeptable gesellschaftliche Stellung zu erreichen. Ist ihnen diese Mæglichkeit versperrt, wird das Selbstwertgefçhl erheblich verletzt. Der dauerhafte Ausschluû aus der Erwerbsarbeit fçhrt in westlichen Gesellschaften oft dazu, daû die Betroffenen in eine marginale soziale Position geraten, weil sie çber allgemein gebråuchliche Gçter und Dienstleistungen nicht verfçgen, gesellschaftlich kaum anerkannt sind und wenig Mæglichkeiten haben, sich an der Gesellschaft aktiv zu beteiligen. Daher wird das Selbstwertgefçhl von Dauerarbeitslosen faktisch zumeist erheblich eingeschrånkt sein.
Die normativen Ûberlegungen von Rawls werden im nåchsten Kapitel genauer diskutiert werden. Bei Rawls dçrfte die Erwerbsarbeit fçr die Sicherung der Selbstachtung aus den oben angedeuteten Grçnden keine wichtige Rolle spielen. Tugendhat hingegen geht unplausiblerweise davon aus, daû es einen engen Zusammenhang zwischen der Erwerbsarbeit und seiner Explikation der Selbstachtung çber Fåhigkeiten gibt.
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Ob es sinnvoll und notwendig ist, der Selbstachtung in den normativen Ûberlegungen einen zentralen Stellenwert einzuråumen, will ich hier dahingestellt sein lassen. Es ist nicht klar, ob die Selbstachtung ein geeigneter Maûstab ist, wenn die Lebenslagen von Individuen verglichen werden sollen, da das Selbstwertgefçhl unter anderem von den Ansprçchen an die eigene Person abhångt. Alternativ dazu kænnte man das Wohlergehen in den Mittelpunkt stellen, das aber mit dem analogen Problem behaftet ist, daû Menschen unterschiedlich viel vom Leben erwarten. Vielleicht ist es daher aussichtsreicher, von der objektiven sozialen Schlechterstellung der Erwerbsarbeitslosen auszugehen. Eine begrçndete Entscheidung zwischen diesen Mæglichkeiten soll in Kapitel IV erfolgen.
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III. Normative politische Theorien und das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit
Das Hauptergebnis der bisher angestellten Ûberlegungen låût sich so zusammenfassen, daû Erwerbsarbeit ein zentrales Gut darstellt und daû dieses Gut knapp ist. Knapp ist die Erwerbsarbeit insofern, als die Nachfrage hæher ist als das Angebot an unterhaltssichernden Arbeitsmæglichkeiten. Eine besondere Bedeutung hat die Erwerbsarbeit, weil mit ihr wichtige Funktionen verknçpft sind. Die Grundversorgung und die Mæglichkeiten fçr Begegnungen und regelmåûige Betåtigungen kænnen zwar von der Erwerbsarbeit abgelæst werden. Es wåre daher anzustreben, daû Personen unabhångig von der Erwerbsarbeit finanziell abgesichert sind und çber alternative Beschåftigungen verfçgen. Aber sofern keine utopischen sozio-ækonomischen Verånderungen anvisiert werden, werden zumindest Langzeitarbeitslose håufig in eine marginale soziale Position geraten und erhebliche Beeintråchtigungen des Wohlergehens sowie der Selbstachtung erleiden. Aus diesem Grund erscheint es auch und vor allem wçnschenswert, daû niemand dauerhaft von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen bleibt. Die Frage, die nun gestellt werden muû, lautet, ob die genannten Ziele auch Gegenstand begrçndbarer ethischer Forderungen sein kænnen. Insbesondere sollte untersucht werden, ob es eine staatliche Verpflichtung gibt, ein mægliches Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu gewåhrleisten. Intuitiv ist dies plausibel, da die Beteiligung an der Erwerbsarbeit eine elementare Voraussetzung des Wohlergehens darstellt und anscheinend nur der Staat einen Anspruch auf Arbeit garantieren kann. 1 Diese ethische Intuition wird aber mæglicherweise nicht allgemein geteilt: Manche Menschen halten es vielleicht fçr wenig einleuchtend, daû eine (staatliche) Pflicht besteht, eine akzeptable gesellschaftliche Position oder soziale Bedingungen des Wohlergehens zu sichern. Zum einen ist es fraglich, ob Es muû allerdings vorausgesetzt werden, daû der Staat eine Beteiligung an der Erwerbsarbeit çberhaupt garantieren kann. Vgl. dazu Abschnitt IV. 3.
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die herausgestellten Folgeerscheinungen des Ausschlusses aus der Erwerbsarbeit çberhaupt fçr normative politische Ûberlegungen relevant sind. Zum zweiten kann ein Konflikt des Anspruchs auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit mit anderen nicht weniger einleuchtenden Prinzipien wie z. B. der Leistungshonorierung und der Vertragsfreiheit auftreten. Es muû begrçndet werden, daû die Gewåhrleistung eines Rechts auf Arbeit keine gewichtigeren Interessen verletzen wçrde. Diese Debatten lassen sich nur im Rahmen eines allgemeineren normativen Ansatzes austragen, der selbst gerechtfertigt werden muû. In Kapitel IV werde ich einen m. E. plausiblen Theorieansatz skizzieren und ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit verteidigen. Im abschlieûenden fçnften Kapitel werden konkrete politische Maûnahmen und ergånzende soziale Verånderungen aufgezeigt, die ermæglichen sollen, daû niemand dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen ist. Um die konstruktiven Vorschlåge vorzubereiten, werde ich mich in diesem Kapitel aber zunåchst mit einigen zeitgenæssischen normativen politischen Theorien auseinandersetzen. In den Abschnitten 2 bis 5 untersuche ich die Ansåtze von Buchanan 1984, Nozick 1976, Dworkin 1981b und Rawls 1975 & 1993. Die Theorien werden in den Grundzçgen vorgestellt und kritisch geprçft. Insbesondere soll gefragt werden, welchen Beitrag sie zum Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit leisten oder leisten kænnten. Faktisch spielt Arbeitslosigkeit in den jeweiligen normativen Ansåtzen kaum eine Rolle. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, daû die gegenwårtige Massenarbeitslosigkeit zum Zeitpunkt der Entstehung der Theorien kaum vorauszusehen war. Es wird sich aber darçber hinaus zeigen, daû die Problematik in den genannten Theorien nur unter einer eingeschrånkten Perspektive behandelt werden kann. Einer der Hauptgrçnde fçr dieses Defizit ist darin zu sehen, daû die Theorien ausschlieûlich die Realisierung individueller Lebensplåne fçr wichtig befinden, dem Wohlergehen aber keine eigenståndige normative Bedeutung beimessen. Das ist ein Hinweis darauf, daû die Theorien in einer wichtigen Hinsicht ergånzungsbedçrftig sind. Die notwendige Modifikation wird im vierten Kapitel deutlich gemacht. Sie bildet die Basis fçr meinen eigenen normativen Vorschlag. Ausschlaggebend fçr die Auswahl der in diesem Kapitel untersuchten normativen politischen Theorien waren nicht nur ihre Bekanntheit und ihr Einfluû, sondern vor allem folgende Gesichtspunkte: Erstens werden in den Ansåtzen von Buchanan, Nozick und Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Dworkin drei zentrale normative Grundintuitionen (allgemeine Besserstellung, Integritåt der Person, Gleichheit) herausgearbeitet. Diese werden in der Theorie von Rawls systematisch verbunden und gegeneinander abgewogen. Zweitens liefern die Theorien von Buchanan und Nozick zwei unterschiedliche Argumente fçr eine weitgehend uneingeschrånkte Marktwirtschaft. 2 Die Plausibilitåt dieser Begrçndungen muû geprçft werden, weil ein Recht auf Arbeit staatliche Eingriffe in die Úkonomie verlangt. 3 Der erste Abschnitt dieses Kapitels beschåftigt sich mit metatheoretischen Problemen. Ziel ist es, generelle Adåquatheitsbedingungen fçr zeitgenæssische normative politische Theorien zu formulieren, die sowohl fçr die zu untersuchenden Theorien als auch fçr meinen eigenen Ansatz gelten sollen. Zunåchst werden normative Minimalansprçche an eine zeitgenæssische Ethik kenntlich gemacht. Anschlieûend wird gezeigt, daû im Rahmen einer politischen Theorie besondere Probleme entstehen kænnen. Es wird insbesondere gefordert, daû eine angemessene Theorie auf die heutigen sozio-ækonomischen Verhåltnisse anwendbar sein muû. Die folgenden Gedankengånge sind nicht erschæpfend; sie stellen im wesentlichen meine Position vor.
1. Einschrånkende Bedingungen fçr relevante normative politische Theorien In diesem Abschnitt sollen die fçr die vorliegende Untersuchung relevanten Theorieansåtze eingegrenzt werden. Die Beschrånkungen betreffen einerseits die normative Basis der Theorien, andererseits die ækonomischen und politischen Rahmenbedingungen. Zunåchst gehe ich der Frage nach, ob ethische Theorien generell bestimmten normativen Grundbedingungen unterliegen. Es wird deutlich gemacht, daû moderne normative Theorien keine primåren Diskriminierungen zulassen und keine positive Vorstellung des guten Lebens enthalten dçrfen. Innerhalb dieses Rahmens sind unterschiedliche Ansåtze mæglich, die daraufhin geprçft werden mçssen, ob sie Im çbrigen vertreten Rawls, Nozick und Buchanan sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie eine angemessene politische Theorie aussehen sollte. 3 Eine weitere mægliche Rechtfertigung der freien Marktwirtschaft, die ich nicht diskutieren werde, greift auf utilitaristische Ûberlegungen zurçck. 2
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Einschrånkende Bedingungen
ethisch çberzeugend sind. Im zweiten Schritt werden Besonderheiten normativer politischer Theorien herausgestellt. Diese Theorien beziehen sich auf einen eingeschrånkten Bereich, der spezifische Merkmale aufweist. Es ist nicht selbstverståndlich, daû eine normative politische Theorie nur eine Anwendung allgemeinerer ethischer Prinzipien darstellt. Ethische Bewertungen, die im Rahmen dieser Untersuchung interessant sind, beziehen sich insbesondere auf Zustånde oder Handlungen. Sachverhalte werden oft als gerecht oder ungerecht angesehen, Verhaltensweisen als moralisch geboten, erlaubt oder verboten gekennzeichnet. 4 In diesem Sinne kann man z. B. die Position vertreten, daû es eine Ungerechtigkeit darstellt, wenn Menschen keine Arbeit haben, und daû es moralisch geboten ist, ihnen eine Arbeitsmæglichkeit zu verschaffen. Man kann aber auch der Meinung sein, daû diese Bewertungen unzutreffend sind. Viele ethische Urteile sind kontrovers. Aufgrund konfligierender moralischer Prinzipien werden ethische Streitfragen nicht einheitlich entschieden. Lassen sich Gemeinsamkeiten in den ethischen Vorstellungen der Menschen nachweisen? Zumindest dçrften diese nicht sehr weit reichen, denn in verschiedenen Kulturen und Epochen gab es unterschiedlichste Moralsysteme und ethische Theorien. Als gemeinsame Basis kann man vielleicht folgendes ausmachen: Durch moralische Normen werden zulåssige Handlungen in der Weise beschrånkt, daû Personen angemessen berçcksichtigt werden. Ûbertretungen ethischer Verbote oder Miûachtungen von Geboten werden mit moralischen Reaktionen wie Entrçstung oder Groll beantwortet; auf der Seite des Akteurs læsen sie Scham- oder Schuldgefçhle aus, sofern er ein Gewissen ausgebildet hat. 5 Damit ist aber inhaltlich so gut wie nichts gesagt. Es ist offen, wer çberhaupt als moralisch zu berçcksichtigende Person zåhlt. Auûerdem kann die angemessene Berçcksichtigung abgestuft sein ± etwa derart, daû Angehærige einer bestimmten sozialen Gruppe hæhere Ansprçche stellen dçrfen. Schlieûlich kænnen die als moralisch relevant angesehenen InEs kænnen im çbrigen auch Einstellungen, Charaktermerkmale und Personen moralisch beurteilt werden. Hier ist eine moralische Verwendung der Ausdrçcke »gut« und »schlecht« einschlågig. 5 Eine ausfçhrliche Bestimmung dessen, was eine Moral definiert, findet sich z. B. in Tugendhat 1993. 4
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teressen der Personen z. B. auf ein verbindliches Lebenskonzept beschrånkt sein. Fçr moderne Moralvorstellungen scheint es charakteristisch zu sein, daû Ethik einerseits (in einem schwachen Sinne) egalitår, andererseits nicht-perfektionistisch verstanden wird. Egalitår sind moderne Ethiken insofern, als alle Personen gleichermaûen berçcksichtigt werden sollen. Das beinhaltet vor allem, daû die Behandlung nicht von moralisch willkçrlichen Unterscheidungen abhången darf. Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft, des Geschlechts, der Hautfarbe oder der Nationalitåt werden von den meisten Mitgliedern westlicher Gesellschaften zumindest verbal zurçckgewiesen. Auch verbindliche positive Vorstellungen vom guten Leben scheinen nicht mehr verfçgbar zu sein. 6 Insbesondere akzeptieren Mitglieder westlicher Gesellschaften keine Vorschriften darçber, wie sie zu leben haben, sofern ihre Lebensweise andere Personen nicht schådigt. Im folgenden sollen die Standardargumente zugunsten eines (schwach) egalitåren und individualistischen moralischen Standpunktes kurz vorgestellt werden. Diese Argumente sind nicht zwingend, aber fçr viele Mitglieder moderner Gesellschaften offenbar çberzeugend. Weshalb ist es plausibel, daû alle Personen in moralisch akzeptablen Entscheidungen und Normen gleichermaûen berçcksichtigt werden mçssen? Wer fçr eine unterschiedliche Berçcksichtigung plådiert, muû ein Unterscheidungskriterium einfçhren. Faktische Unterschiede zwischen Personen(gruppen) sind nicht hinreichend; es muû einsichtig gemacht werden, daû die angefçhrten Differenzen eine unterschiedliche Berçcksichtigung rechtfertigen. Aus der Tatsache, daû Personen etwa eine andere Hautfarbe oder eine geringere Bildung besitzen, folgt nicht, daû sie in ethischen Fragen weniger (oder gar nicht) zåhlen. Letztlich muû ein Vertreter einer diskriminierenden Moral behaupten, daû bestimmte Personen(gruppen) weniger wert sind als andere. Damit liegt aber die Begrçndungslast bei den Verfechtern eines nicht-egalitåren moralischen Standpunktes. Es ist nicht zu sehen, wie eine çberzeugende Begrçndung der Wertdifferenz aussehen soll. 7 Im Unterschied dazu lassen sich mæglicherweise allgemeine Grundçbel ausmachen, die einem befriedigenden Leben im Wege stehen. 7 Tugendhat 1994, 337 ff. fçhrt ein åhnliches Argument an. Fçr die vorliegende Untersuchung wird die genannte Einschrånkung z. B. dadurch relevant, daû es keinen moralisch vertretbaren Grund gibt, das Interesse von Frauen an einer Erwerbsarbeit weniger zu berçcksichtigen als das von Månnern. 6
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Einschrånkende Bedingungen
Aus dem Verbot primårer Diskriminierungen ergibt sich aber keine bestimmte moralische Theorie. Die angemessene Berçcksichtigung von Personen kann sehr unterschiedlich ausgelegt werden, wie sich in diesem Kapitel herausstellen wird. Aus der Forderung nach gleicher Berçcksichtigung folgt auch nicht, daû allen Personen der gleiche Anteil an Gçtern zugemessen werden muû. Menschen kænnten etwa unterschiedliche Bedçrfnisse haben. Gleichbehandlung wåre in diesem Fall evtl. ethisch unangemessen. 8 Es kænnte sogar sein, daû besondere Leistungen einen Anspruch auf einen græûeren Anteil an Gçtern begrçnden. Auch bereits gegebene Zusicherungen wie Versprechen oder Vertråge kænnten die Zulåssigkeit einer Gleichverteilung einschrånken. 9 Fçr die Diskussion um ein Recht auf Arbeit sind diese Faktoren nicht unwichtig: Mæglicherweise kænnen Personen legitime besondere Ansprçche auf einen Arbeitsplatz geltend machen, weil sie diesen dringend brauchen, weil sie sich in der Ausbildung sehr angestrengt haben oder weil sie die Stelle bereits zugesagt bekommen haben. Es ist prima facie offen, worauf sich die geforderte gleiche Berçcksichtigung aller Personen bezieht. Einige Moraltheorien versuchen beispielsweise, objektive positive Aussagen çber das gute Leben zu machen. 10 Eine Variante dieser Theorien wird als »perfektionistisch« bezeichnet. Sie legt das zu verfolgende Lebensziel ohne Bezug auf das Wohlergehen oder die Wçnsche der Individuen fest. Beispielsweise kænnte man behaupten, die Selbstverwirklichung durch die Arbeit sei anzustreben, egal ob die Personen das wollen und wie es ihnen dabei geht. Perfektionistische Theorien mçssen aber ausgeschlossen werden, denn es ist nicht zu sehen, wie die nætigen Festlegungen begrçndet werden sollen. Die zweite Variante versucht zu zeigen, daû es allen Personen
Man beachte, daû Gleichbehandlung nicht dasselbe ist wie gleiche Berçcksichtigung. Auch die Gleichstellung ist nicht mit gleicher Beachtung zu verwechseln; sie definiert das, was ich unten eine »strikt egalitåre Theorie« nennen werde. 9 Dies sind drei Fålle von sekundårer Diskriminierung, die Tugendhat a. a. O. erærtert. Sekundåre Diskriminierungen treffen keine willkçrlichen, sondern moralisch relevante Unterscheidungen. 10 Als aktuelles Beispiel lassen sich einige der sogenannten kommunitaristischen Theoretiker anfçhren ± insbesondere MacIntyre 1987 und Sandel 1982. Der Kommunitarismus ist relativ neu und in gewisser Weise untypisch fçr die moderne Entwicklung. Erwartungsgemåû stehen ihm viele Ethiker ablehnend gegençber. 8
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unter einer bestimmten Lebenskonzeption besser geht. Auch dieser Ansatz scheint mir zum Scheitern verurteilt zu sein. Es kænnen unterschiedlichste begrçndete Antworten auf die Frage nach dem guten Leben gegeben werden, die sich gegenseitig weitgehend ausschlieûen. Man kann beispielsweise fçr ein exzessives Leben plådieren oder fçr einen geregelten Lebensablauf, fçr die Vervollkommnung von Fåhigkeiten oder fçr verbindliche persænliche Beziehungen. Eine fçr alle Personen einsichtige Entscheidung zwischen solchen Optionen erscheint kaum vorstellbar. 11 Hingegen lassen sich mæglicherweise Grundçbel und generelle Bedingungen fçr das Wohlergehen ausmachen. In modernen Gesellschaften verfolgen Menschen unterschiedliche Lebenskonzepte, zwischen denen nicht begrçndet entschieden werden kann. Damit geht eine weitgehende Individualisierung einher. Menschen wollen (hier und heute) ihr Leben selbst planen und gestalten. Sie wollen und dçrfen dabei ihre Vorstellungen vom guten Leben åndern. Es wçrde eine ungerechtfertigte Benachteiligung von Menschen bedeuten, wenn bestimmte Lebensvorstellungen ethisch nicht berçcksichtigt oder gar unterdrçckt wçrden. Eine angemessene moderne Ethik bezieht sich daher nicht auf verbindliche Lebenskonzepte, sondern auf Gçter, die unabhångig von den konkreten Lebenszielen benætigt werden, oder auf generelle Bedingungen eines befriedigenden Lebens. 12 In diesem Sinne kænnten zum Beispiel persænliche Freiheiten und finanzielle Ressourcen als Mittel fçr die Realisierung beliebiger Lebensplåne wichtig sein. Aber auch die Sicherstellung der Gesundheit oder die Beteiligung an der Erwerbsarbeit sind mæglicherweise zu beachten, weil sie allgemeine Voraussetzungen fçr das Wohlergehen darstellen. Ein schwach egalitårer, individualistischer Moralstandpunkt schrånkt die mæglichen ethischen Theorien zwar ein, låût aber einen Spielraum fçr unterschiedliche Ansåtze. Welche normativen Prinzipien einschlågig sind, låût sich aufgrund der genannten Grundbedingungen nicht entscheiden. M. E. kann die Plausibilitåt einer Theorie nur geprçft werden, indem untersucht wird, ob die vertretenen Prinzipien und die sich ergebenden Konsequenzen akzeptabel
Eine åhnliche Argumentation, die sich insbesondere auf die Relevanz der Arbeit bezieht, findet sich in Arneson 1987, 524 ff. 12 Vgl. hierzu genauer Abschnitt IV. 1. 11
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erscheinen, wenn sie an ethischen Grundçberzeugungen gemessen werden. 13 Die bisherigen Bemerkungen bezogen sich auf ethische Theorien im allgemeinen. Ein Recht auf Arbeit sowie die Gewåhrleistung der Grundversorgung, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, gehæren aber in den Bereich des staatlichen Handelns. Es muû daher die Frage gestellt werden, inwieweit es Besonderheiten normativer politischer Theorien gibt. Mæglicherweise ist es nicht vertretbar, jede plausible ethische Forderung auch staatlich durchzusetzen. Auûerdem kænnte es spezifische politisch-ethische Grundsåtze geben, da die Politik einen besonderen Interaktionsbereich darstellt. Der erste Punkt låût sich folgendermaûen verdeutlichen: Der Staat ist insofern ein Zwangsapparat, als Gesetze von æffentlichen Instanzen durchgesetzt und Zuwiderhandlungen in der Regel durch Strafen geahndet werden. Moralisches Fehlverhalten wird hingegen allenfalls mit persænlichen oder gesellschaftlichen Sanktionen beantwortet, die meist weniger schwerwiegend sind. Sofern es unauflæsbare Meinungsverschiedenheiten çber ethische Fragen gibt, lassen sich Zwangsmaûnahmen vielleicht nicht ohne weiteres auf einer ethischen Basis rechtfertigen. Zum zweiten kænnten im politischen Bereich spezifische ethische Grundsåtze gelten, die eine eigenståndige Theorie erforderlich machen. Offenbar gibt es genuin politische Rechte wie den Anspruch, an der kollektiven Willensbildung mitwirken zu kænnen. Normative politische Theorien kænnen dahingehend unterschieden werden, in welcher Beziehung sie zu ethischen Theorien stehen. Einige Theoretiker wenden allgemeine ethische Prinzipien auf den speziellen Bereich der Politik an. Andere Autoren gehen davon aus, daû fçr politische Belange eine spezifische Theorie entworfen werden muû. Schlieûlich gibt es auch normative politische Theorien, die auf ethische Vorgaben weitgehend verzichten. 14 Fçr die vorliegende Untersuchung ist dabei folgendes zu beachten: Genuine politisch-ethische Prinzipien sind hier insofern nicht ausschlaggebend, als ein Eine åhnliche Position vertritt Rawls ± vgl. die Bemerkungen zum Ûberlegungsgleichgewicht in Abschnitt III.5. 14 Diese Differenzen treten auch zwischen den im folgenden untersuchten Theorien auf: Buchanan entwirft dem eigenen Selbstverståndnis nach eine moralfreie politische Theorie, Nozick wendet generelle ethische Prinzipien auf die Politik an, Rawls will eine eigenståndige normative politische Theorie entwickeln. 13
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Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit kein spezifisch politisches Recht darstellen wçrde, sondern einen Anspruch, der auf allgemeine menschliche Bedçrfnisse gegrçndet werden muû. 15 In den Bereich des politischen Handelns fållt die Forderung deshalb, weil nur der Staat einen entsprechenden Anspruch garantieren kann. Insbesondere wçrde ein Recht auf Arbeit staatliche Eingriffe in die Úkonomie erfordern. Aus diesem Grund werde ich mich auf normative politische Theorien beschrånken, die unter anderem diskutieren, ob und weshalb solche Eingriffe gerechtfertigt erscheinen kænnen. Die fçr die Themenstellung interessanten Theorien mçssen darçber hinaus auf die gegenwårtigen sozio-ækonomischen Bedingungen zugeschnitten oder zumindest unter diesen Voraussetzungen anwendbar sein. Insbesondere sollten die Ansåtze im Blick haben, daû in modernen Gesellschaften ein komplexer ækonomischer Leistungsaustausch stattfindet, durch den die Folgen der Erwerbsarbeitslosigkeit und die mæglichen Læsungen des Problems bestimmt werden. Fçr die vorliegende Untersuchung sind also nur normative politische Theorien relevant, die (i) alle Personen gleichermaûen berçcksichtigen, (ii) keine bestimmte Lebenskonzeption vorschreiben, (iii) staatliche Eingriffe in die Úkonomie thematisieren, (iv) unter modernen sozio-ækonomischen Bedingungen anwendbar sind. Viele normative politische Theorien erfçllen diese Voraussetzungen. Ich werde mich aber auf vier zeitgenæssische Ansåtze beschrånken, die mir besonders interessant erscheinen. Untersucht werden die normativen Theorien von John Rawls, Robert Nozick, James Buchanan und Ronald Dworkin. Als bahnbrechend fçr die neuere Diskussion erwies sich Rawls' Versuch, mit »Eine Theorie der Gerechtigkeit« eine systematische, umfassende politische Theorie zu entwerfen. Nozicks »Anarchie Staat Utopia«, Buchanans »Die Grenzen der Freiheit« und Dworkins »What is Equality? Equality of Resources« stellen Reaktionen auf das Rawlssche Projekt dar. Die genannten Theoretiker wollten einen normativen Ansatzpunkt konsequent zu Ende denken und somit alternative Theorien zur Debatte stellen. Øhnlich systematische, umfassende Entwçrfe sind in jçngster Zeit kaum noch Irrelevant sind genuine politische Rechte aber nicht, weil sie mæglicherweise die zulåssigen Maûnahmen zur Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit beschrånken.
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vorgelegt worden; nicht zuletzt deshalb werde ich mich auf die genannten Ansåtze stçtzen. Die Theorien werden nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung untersucht, sondern sie sind nach einem systematischen Gesichtspunkt angeordnet: Zunåchst diskutiere ich Buchanan, der insofern eine sehr schwache normative Basis wåhlt, als er ausschlieûlich die Besserstellung der Beteiligten als Bewertungsgesichtspunkt einfçhrt. Nozick nimmt dadurch eine stårkere normative Position ein, daû er von individuellen Rechten ausgeht. Dworkin vertritt ein (strikt) egalitåres Konzept der Gleichstellung von Personen. Rawls soll abschlieûend diskutiert werden, da er eine systematische Abwågung der genannten normativen Grundçberzeugungen durchfçhrt. Die Theorien von Rawls, Nozick, Buchanan und Dworkin gehen auf das hier behandelte Problem der Arbeitslosigkeit nicht oder nur am Rande ein. Abgesehen von einer generellen Einschåtzung zur Plausibilitåt der einzelnen Ansåtze wird es im folgenden auch darum gehen, (i) zu untersuchen, welche Konsequenzen hinsichtlich der Erwerbsarbeitslosigkeit sich aus den Theorieansåtze ergeben, (ii) herauszuarbeiten, weshalb das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit in den jeweiligen Theorien nicht angemessen repråsentiert werden kann. Eine umfassende Darstellung und Kritik erscheint fçr die Zwecke dieser Untersuchung nicht sinnvoll. 16 Es sollen nur die Grundzçge der Theorien herausgearbeitet und Aspekte genauer beleuchtet werden, die fçr die Themenstellung relevant sind. Daû die genannten Theorien die oben aufgestellten vier Bedingungen erfçllen, wird sich in den folgenden Abschnitten zeigen. Einen wichtigen theoretischen Ansatz werde ich im folgenden nicht berçcksichtigen: den Utilitarismus. Das utilitaristische Grundprinzip besagt, daû Handlungen oder Zustånde vorgezogen werden sollten, die im Hinblick auf die Gesamtheit der Individuen die græûtmægliche Differenz von Wohlergehen gegençber Leid verwirklichen. Eine utilitaristische politische Theorie wçrde die von mir formulierten Grundbedingungen nicht verletzen: Einerseits schreibt ein Utilitarist keine Lebenskonzepte vor; ausschlaggebend sind nur subFçr eine ausfçhrliche Auseinandersetzung mit den Theorien von Rawls, Nozick und Buchanan vgl. Koller 1987. Neben Rawls und Nozick diskutiert Kymlicka 1996 auch den Ansatz von Dworkin. Im çbrigen verweise ich auf die umfangreiche Sekundårliteratur zu den einzelnen Theorien ± zu Rawls beispielsweise Daniels 1975, Wolff 1977 und Hæffe 1977, zu Nozick: Paul 1981.
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jektive Pråferenzen oder mentale Zustånde der Individuen. Da jede(r) gleich zåhlt, wenn die »Gesamtnutzensumme« erstellt wird, kann man davon sprechen, daû alle Individuen gleichermaûen berçcksichtigt werden. Eine Anwendung der Theorie auf politische Belange unter modernen Bedingungen ist ebenfalls mæglich. 17 Der Utilitarismus bereitet aber notorische Schwierigkeiten ± zum einen gibt es viele Spielarten der Theorie, die vielleicht gar kein einheitliches Projekt bezeichnen. Zum anderen ist zwischen den Vertretern einer utilitaristischen Position umstritten, ob das genannte Grundprinzip als Entscheidungsverfahren oder als theoretischer Hintergrund zur Rechtfertigung konkreter Prinzipien aufzufassen ist. Auûerdem ist die Idee der Nutzenmaximierung normativ recht fragwçrdig, weil sie eine Verrechnung des Wohlergehens verschiedener Individuen zulåût: Prinzipiell kann eine Person extrem schlecht gestellt werden, sofern davon andere profitieren und die Gesamtnutzensumme erhæht wird. Aus diesen Grçnden werde ich den Utilitarismus hier nicht diskutieren. 18
2. Buchanans strikte Vertragstheorie Buchanan vertritt in »Die Grenzen der Freiheit« einen strikten Kontraktualismus. Leitend ist die Intuition, daû die Legitimation eines Staates (nur) durch einen Vertrag gesichert werden kann. Ein Vertrag zeichnet sich dadurch aus, daû ihm alle Beteiligten zustimmen (kænnen), weil sie, sofern sie sich rational verhalten, durch den Vertragsabschluû besser oder jedenfalls nicht schlechter gestellt werden. Der Kontraktualismus prçft, ob bestimmte Verfçgungsrechte und Regelungen zur Rechtsdurchsetzung in einem Prozeû der Vertragsaushandlung håtten zustande kommen kænnen. Insbesondere versucht Buchanan zu zeigen, daû ein Staat auch unter der Bedingung entstehen kann, daû die beteiligten Individuen unterschiedlich starke Verhandlungspositionen haben. Er nimmt hierbei ausschlieûlich auf Insbesondere haben Utilitaristen untersucht, ob eine uneingeschrånkte Marktwirtschaft den hæchsten Gesamtnutzen erzielt, oder ob Einschrånkungen des Marktes befçrwortet werden mçssen. Man beachte, daû die moderne Wohlfahrtsækonomie wesentlich durch den Utilitarismus geprågt worden ist. 18 Vgl. dazu z. B. Kymlicka 1996. Siehe auch die generellen Ûberlegungen zur Rolle des Wohlergehens in Abschnitt IV. 1 dieser Untersuchung, die auf den Utilitarismus angewendet werden kænnen. 17
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den Vertragsgedanken Bezug; daher spreche ich von einem strikten Kontraktualismus. Naheliegende ethische Prinzipien wie die Gewåhrleistung gleicher Rechte oder eine Kompensation fçr natçrliche Benachteiligungen werden von Buchanan nicht akzeptiert. 19 Buchanans Theorie erfçllt die im letzten Abschnitt aufgestellten Grundbedingungen: Es werden den Personen keine Vorschriften darçber gemacht, welche individuellen Ziele sie zu verfolgen haben. Alle Individuen werden insofern gleichermaûen berçcksichtigt, als fçr jeden einzelnen gilt, daû er durch eine politische oder rechtliche Maûnahme nicht schlechter gestellt werden darf. Entwirft Buchanan çberhaupt eine normative politische Theorie? In einigen Passagen spricht er beinahe so, als wolle er einen Beitrag zur Sozialforschung leisten. 20 Diese Interpretation des theoretischen Projektes ist allerdings wenig plausibel, denn es hat eine reale Verhandlung um einen Gesellschaftsvertrag nie gegeben. Man kænnte allenfalls von einer rationalen Rekonstruktion empirischer Vorgånge reden. Zweitens ist der kritische Teil der Theorie, der zeigen soll, daû faktisch bestehende Staaten ihre Befugnisse çberschreiten, nicht anders als normativ zu deuten. Buchanan sagt explizit, daû es ihm um die Beurteilung politischer Systeme geht: »¼ vertragstheoretische Modelle hwerdeni nicht mit der Absicht entwickelt, eine historische Beschreibung zu liefern. Vielmehr sollen mit ihrer Hilfe Kriterien zur Beurteilung politisch-rechtlicher Systeme gewonnen werden.« 21 Das Grundprinzip, daû niemand durch eine politische Regelung schlechter gestellt werden darf, weist die politische Theorie von Buchanan als normativ aus. Buchanan beansprucht allerdings, daû seine Theorie keine çberindividuellen Normen voraussetzt, sondern daû sie nur von den faktischen Interessen und Zielsetzungen der Personen ausgeht. Ethische Ûberzeugungen werden von Buchanan als subjektive Pråferenzen gedeutet. Weshalb verzichtet Buchanan auf individuelle Rechte oder Gerechtigkeitsprinzipien? Zum einen glaubt er anscheinend, daû nur ein sehr schwaches normatives Prinzip gerechtfertigt werden kann. Vertragstheorien in einem weiteren Sinne sind auch die Ansåtze von Nozick und Rawls. Im Unterschied zu Buchanan greifen diese Theorien aber nicht primår auf den Vertragsgedanken zurçck, sondern es werden zusåtzliche normative Pråmissen eingefçhrt. 20 Vgl. etwa Buchanan 1984, 77 f., wo das Schwergewicht auf das Erklåren und Verstehen von Rechtsordnungen gelegt wird. 21 A. a. O., 73. 19
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Er konstatiert, daû die Vorstellung der sozialen Gerechtigkeit in einer empirischen Theorie mæglicherweise relevant wåre, in seinem Projekt hingegen nicht. 22 Zum anderen geht Buchanan aber wohl auch davon aus, daû stårkere ethische Prinzipien nicht allgemein geteilt werden und daher nicht durchsetzbar sind. 23 Jedenfalls håtten politische Regelungen, die niemanden schlechter stellen, insofern bessere Realisierungschancen, als sie an das rationale Eigeninteresse der Beteiligten anknçpfen kænnen. 24 Nach diesen allgemeinen Bemerkungen will ich nunmehr Buchanans Theorie in den Grundzçgen vorstellen. Buchanan geht von einem anarchistischen Zustand aus, in dem keine Verhaltensbeschrånkungen vorliegen. Die Individuen sind dadurch charakterisiert, daû sie zum einen eine Ausstattung mit Fåhigkeiten, zum anderen bestimmte Pråferenzen haben. 25 Sie nutzen ihre Mæglichkeiten, um sich erwçnschte Gçter und Ressourcen zu beschaffen oder Produkte herzustellen. Konflikte entstehen çber Gçter und Ressourcen, die von mehreren Personen beansprucht werden. Da das Verhalten der Personen nicht durch Normen reguliert ist, kann eine Person einem anderen Menschen Gçter entwenden, die dieser bereits an sich gebracht oder hergestellt hat. Es ist auch denkbar, daû jemand ein anderes Individuum zwingt, fçr ihn zu arbeiten. Die Geschådigten werden sich gegen die Angriffe verteidigen, mçssen dafçr aber Mçhe und evtl. Gçter aufwenden. Die Kosten fçr Gçterbeschaffung, Produktion, Angriff und Verteidigung dçrfen den mæglichen Gewinn nicht Vgl. a. a. O., 115. Das ist eine erstaunliche Umkehrung des zu erwartenden Verhåltnisses, in dem Gerechtigkeit als Sollzustand, das eigeninteressierte Handeln hingegen als Istzustand gelten wçrde. 23 Buchanan scheint pessimistisch zu sein, was die Mæglichkeiten einer ethischen Grundlegung des Staates angeht. Er weist darauf hin, daû in moralisch gefestigten Gesellschaften, zu denen moderne Gesellschaften fçr ihn offenbar nicht zåhlen, andere Verhåltnisse herrschen. Vgl. a. a. O., 167 ff. 24 Tugendhat 1993 bezeichnet den Kontraktualismus als eine Quasi-Moral, da sich die Individuen nicht moralisch verstehen, sondern als eigeninteressierte Akteure. Es wird sich unten zeigen, daû die Unterscheidung nicht so klar ist, wie man auf den ersten Blick denken wçrde. 25 Genauer geht Buchanan von einer Nutzen- und einer Produktionsfunktion der Personen aus. Die Nutzenfunktion gibt die individuellen »Preise« fçr den Tausch von Gçtern und Lasten an, die Produktionsfunktion zeigt, mit welchem Aufwand die Person (relativ zu ihren Fåhigkeiten) in der Lage ist, sich Gçter zu verschaffen. Diese technischen Details werde ich nicht genauer untersuchen. 22
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çbersteigen, sofern sich die Personen rational verhalten. Buchanan geht davon aus, daû sich auf diese Weise ein Gleichgewichtszustand einstellen wird. 26 Es entsteht eine »natçrliche Verteilung«, in der sich die Aufwendungen und Ertråge der jeweiligen Personen an einem individuellen Kosten-Nutzen-Kalkçl ausrichten. Wieviel an Gçtern eine Person jeweils erhålt, hångt insbesondere von ihren Fåhigkeiten ab. Dieser anarchistische Verteilungszustand stellt den Bezugspunkt fçr mægliche Vereinbarungen dar. 27 Buchanan versucht nun zu zeigen, daû es im Interesse aller Personen liegt, ihr Verhalten Beschrånkungen zu unterwerfen. Dies erscheint deshalb plausibel, weil die Personen erhebliche Kosten fçr Angriffe und Verteidigung aufbringen mçssen. Sie werden danach trachten, diese Kosten zu minimieren, um ihren Gesamtgewinn zu vergræûern. Aus diesem Grund wird ein Verhandlungsprozeû in Gang gesetzt. Insbesondere werden denjenigen Personen, die dazu gebracht werden sollen, auf Angriffe zu verzichten, »Entschådigungen« angeboten. Im Gegenzug akzeptieren die potentiellen Angreifer die (neue) Gçterverteilung. Auf diese Weise entstehen (ungleiche) Besitz- und Verfçgungsrechte çber Gçter und Ressourcen, aber auch çber die produktiven Fåhigkeiten der Individuen. 28 Welche Rechte den Personen zugesprochen werden, hångt von ihrer jeweiligen Verhandlungsposition ab. Im Prinzip ist durchaus auch die Versklavung einer Gruppe ± also ein Verfçgungsrecht çber andere Personen ± mæglich: Wenn die Alternative fçr einige Individuen im anarchistischen Zustand darin besteht, getætet zu werden, wçrde eine Vereinbarung dahingehend, daû diese Personen unter Zwang Arbeitsleistungen fçr andere verrichten, dafçr aber am Leben erhalten werden, beide Parteien besser stellen. 29 Buchanan weist darauf hin, daû es im vertragstheoretischen Rahmen auch keinen prinzipiellen Grund dafçr gibt, die Produkte der eigenen Arbeit behalten zu dçrfen. Evtl. mçssen »Entschådigungen« geleistet werden, um sich gegen Diebstahl abzusichern. Der Gleichgewichtszustand beschreibt das Verhalten der Individuen und ihre zu erwartende Gçterausstattung. 27 Vgl. Buchanan 1984, 33 ff.; genauer 79 ff. 28 Vgl. a. a. O., 40; genauer 84 ff. Die detaillierte Darstellung des Verhandlungsprozesses ist fçr die vorliegende Untersuchung nicht interessant. Buchanan geht von Zwei-Personen-Modellen und nur einem vorhandenen Gut aus und erweitert das Modell dann auf kompliziertere Verhåltnisse mit vielen Personen, mehreren Gçtern und Produktion. 29 Siehe a. a. O., 86. 26
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Die jeweiligen Rechtsansprçche machen im wesentlichen den sogenannten konstitutionellen Vertrag aus. Hinzu tritt eine Vereinbarung çber die Durchsetzung der Ansprçche. 30 Auch nach der Verhandlung haben die Personen nåmlich einen Anreiz, die Vereinbarungen einseitig zu brechen. 31 Dies låût sich (nur) durch Strafandrohung vermeiden. Die Verhinderung und Verfolgung von Straftaten wird dem Staat in seiner sogenannten protektiven Funktion çbertragen. 32 Es ist zu beachten, daû der protektive Staat nur die Aufgabe hat, vertraglich festgelegte Regelungen zu schçtzen. Die Entscheidung çber die Rechtsansprçche ist nicht Sache des Staates, sondern der vertraglichen Ûbereinkunft. Der protektive Staat ist also kein kollektives Entscheidungsorgan. Die real existierenden Staaten sind allerdings nicht auf dem von Buchanan skizzierten Wege entstanden, und eine reale Vertragsschlieûung erscheint in der Praxis auch kaum mæglich. Eine zusåtzliche Komplikation ergibt sich daraus, daû der Sozialvertrag ståndig neu ausgehandelt werden mçûte, wenn sich die Kråfteverhåltnisse zwischen den Individuen åndern. Die Legitimitåt einer konstitutionellen Ordnung wird daher von Buchanan an einer hypothetischen Bedingung festgemacht: Die Verteilung der Besitz- und Verfçgungsrechte muû zustimmungsfåhig sein. Sie wird genauer daran gemessen, wie die Neuverhandlungserwartungen der Personen aussehen wçrden, wenn in einen anarchistischen Zustand zurçckgegangen wçrde: »Die Individuen mçssen sich fragen, wie ihre jetzige Lage im Vergleich zu einer Situation ist, die sie bei einer neu ausgehandelten Vertragsregelung zu erhoffen håtten.« 33 Personen, deren Neuverhandlungserwartungen besser sind als ihre faktische Lage, sind im Prinzip an die vorliegende Rechtsordnung nicht gebunden. Sofern aber keine Besserstellung zu erwarten ist, sind die konstitutionellen Es werden die Arbeitsweise und die Grenzen des protektiven, aber auch des produktiven Staates festgelegt ± siehe dazu unten. 31 Buchanan erlåutert dies am Gefangenen-Dilemma: Fçr den einzelnen lohnt es sich, einen Vertrag zu verletzen, wenn die anderen sich an die Abmachung halten. (Auch wenn die anderen nicht kooperieren, ist der Bruch der Vereinbarung rational.) Wenn alle Beteiligten dieser Ûberlegung folgen, fållt die Gesellschaft in den anarchistischen Zustand zurçck. Eine genauere Auseinandersetzung mit diesem spieltheoretischen Problem kann ich hier nicht leisten. 32 Siehe a. a. O., 103. 33 A. a. O., 108. Buchanan geht allerdings spåter dazu çber, den Status quo als Bezugspunkt anzusehen. Vgl. dazu meine Kritik an der Konzeption. 30
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»Vereinbarungen« sowohl fçr Einzelpersonen als auch fçr den Staat bindend. 34 Der konstitutionelle Vertrag definiert nach Buchanan Personen im rechtlichen Sinne, da erst mit den entsprechenden Abmachungen Besitz- und Verfçgungsrechte festgelegt sind. 35 Es kann nach »Abschluû« des konstitutionellen Vertrages zu einem Austausch privater Gçter, aber auch zur Bereitstellung æffentlicher (kollektiver) Gçter kommen. Zum einen ist es mæglich, durch Austauschbeziehungen oder Arbeitsvertråge zwischen einzelnen Personen(gruppen) eine Besserstellung der Beteiligten zu erreichen, weil die konstitutionell festgelegte Verteilung nicht den letztlich erwçnschten Gçterbçndeln entsprechen muû. Diese zweiseitigen Vertråge gençgen laut Buchanan zwangslåufig der Bedingung, daû niemand schlechter gestellt wird: Die vertragschlieûenden Parteien zægen einen Vorteil aus der Abmachung, und Dritte seien nicht beteiligt. Daher dçrften die ækonomischen Transaktionen keinen Beschrånkungen unterworfen werden. Buchanans Verteidigung einer (fast) uneingeschrånkten Marktwirtschaft beruft sich auf das Pareto-Prinzip der Besserstellung von Personen. In diesem Sinne wird von Buchanan behauptet, der Markt sei effizient. 36 Zum anderen gibt es aber auch die Mæglichkeit und Notwendigkeit, kollektive Gçter bereitzustellen oder zu sichern. Kollektive Gçter sind solche, die allen Personen zugute kommen. Ein Problem fçr die Bereitstellung ergibt sich insbesondere dann, wenn niemand vom Konsum eines solchen Gutes ausgeschlossen werden kann. 37 In diesem Fall tritt eine Variante des Gefangenendilemmas, das »Schwarzfahrer«-Problem, auf: Individuen kænnen die Vorteile eines gemeinschaftlich produzierten oder geschçtzten Gutes in Anspruch nehmen, ohne sich an den Kosten zu beteiligen. Wenn die anderen Siehe a. a. O., 120. Vgl. a. a. O., 124. 36 Eine andere Definition der Effizienz geht vom utilitaristischen Kalkçl aus: Effizienz liegt demzufolge dann vor, wenn der Gesamtnutzen die Gesamtkosten çbersteigt. 37 Kollektive Gçter unterscheiden sich in mehreren Hinsichten ± z. B. bezçglich der Frage, ob eine Exklusion von Personen mæglich ist, die sich nicht an den Kosten beteiligen. Ist Exklusion mæglich, gibt es keine »Schwarzfahrer«, und eine effiziente Entscheidung ist auf freiwilliger Basis zu erreichen. (vgl. a. a. O., 57) Das Rechtssystem stellt selbst einen Extremfall eines kollektiven Gutes dar: Eine Person, die sich rechtskonform verhålt, gewinnt selbst nichts. Daher ist der Anreiz zum Bruch der Vereinbarungen besonders groû. (vgl. a. a. O., 154) Dies macht deutlich, weshalb das Rechtssystem in besonderer Weise durch einen Staat geschçtzt werden muû. 34 35
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Gesellschaftsmitglieder die Herstellung oder den Schutz des Gutes finanzieren, lohnt es sich fçr den einzelnen, selbst keinen Beitrag zu leisten. Beispielsweise kann man eine intakte Umwelt als æffentliches Gut ansehen. Sofern alle çbrigen Personen die Umwelt schçtzen bzw. Sanierungsmaûnahmen bezahlen, komme ich in den Genuû des kollektiven Gutes auch dann, wenn ich mich umweltschådigend verhalte. Buchanan macht deutlich, daû dieses Problem bei groûen Gruppen dadurch verschårft wird, daû das eigene Verhalten keinen Einfluû auf die Handlungsweise der anderen habe. 38 Unter diesen Bedingungen kann es dazu kommen, daû das kollektive Gut nicht produziert (bzw. zerstært) wird. Hier tritt der Staat in seiner produktiven Funktion auf den Plan: Nur eine æffentliche Instanz kann fçr die nætige Bereitstellung (bzw. den Schutz) kollektiver Gçter sorgen. Sowohl çber die erwçnschte Menge des Gutes als auch çber die Kostenaufteilung muû politisch entschieden werden. Idealiter wird laut Buchanan der sogenannte postkonstitutionelle Vertrag çber die kollektiven Gçter einstimmig beschlossen, da nur in diesem Falle gewåhrleistet sei, daû niemand durch die Regelung schlechter gestellt werde. Weil aber ein Konsens in der Regel nicht mæglich ist oder zumindest die Einigungskosten zu hoch sind, werden bereits im konstitutionellen Vertrag Verfahren beschlossen, denen die postkonstitutionellen Regelungen folgen mçssen. 39 Eine einfache Abstimmung wird nach Buchanan nicht ausreichen, da es mæglich ist, daû eine Mehrheit eine Entscheidung fållt, die auf Kosten einer Minderheit geht. 40 Die Mæglichkeiten des produktiven Staates werden durch diese Regelungen eng begrenzt; insbesondere ist es nicht erlaubt, die im konstitutionellen Vertrag festgelegten Rechtsansprçche zu verletzen. Auch eine Umverteilung, die auf Kosten einer Personengruppe geht, ist ± unabhångig davon, wie sie begrçndet werden kænnte ± nicht A. a. O., 51 ff. Dieses Problem bestehe auch fçr freiwillig eingehaltene moralische Normen; in Groûgesellschaften seien deshalb formalrechtliche Regelungen kaum verzichtbar. 39 Vgl. a. a. O., 60 ff. 40 Vgl. a. a. O., 143 f. Dies wird am Beispiel von Budgetentscheidungen deutlich gemacht ± vgl. a. a. O., 216 f. Es kann auch der Fall eintreten, daû einzeln verabschiedete Projekte alle Individuen besser stellen, das daraus zusammengesetzte Gesamtpaket hingegen nicht. Als mægliche gesetzliche Gegenmaûnahmen schlågt Buchanan qualifizierte Mehrheiten, Abstimmungen çber das Gesamtbudget und Haushaltsbeschrånkungen vor. 38
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zulåssig. Viele typische Verteilungskonflikte sind nicht einmal theoretisch Gegenstand politischer Diskussionen, weil Gerechtigkeitsfragen in Buchanans Theorie keine Rolle spielen sollen. Der Staat hat in seiner produktiven Funktion ausschlieûlich die Aufgabe, eine allgemeine Besserstellung zu gewåhrleisten. Ist Buchanans Ansatz einer normativen politischen Theorie plausibel? Ich werde in meiner Kritik in drei Schritten vorgehen. Zunåchst muû gezeigt werden, daû es çberhaupt angemessen ist, Buchanans Theorie an ethischen Grundçberzeugungen zu prçfen. Zweitens sollen Einwånde gegen die normativen Voraussetzungen vorgebracht werden. Drittens will ich deutlich machen, daû Buchanan auch intern inkohårent verfåhrt. (i) Was fçr einen Typ von Theorie vertritt Buchanan tatsåchlich? Einerseits soll sein Ansatz normativ sein, andererseits soll er aber keine ethische Basis haben. Buchanan scheint der Meinung zu sein, daû seine Theorie insofern moralfrei ist, als sie nicht auf eine ethische Begrçndung gegençber den Individuen zurçckgreift, sondern auf das rationale Eigeninteresse. Aber m. E. reicht der Bezug auf das rationale Eigeninteresse nicht aus; schlieûlich kann es, wie Buchanan selbst ausfçhrt, im Interesse einer Personengruppe sein, im postkonstitutionellen Stadium politische Regelungen zu etablieren, die den konstitutionellen Vertrag brechen oder die nicht alle besser stellen. Eine Koalition von Individuen kænnte sogar einen protektiven Staat einrichten, der Verfçgungsrechte durchsetzt, durch die einige Personen schlechter gestellt werden als im »natçrlichen Gleichgewichtszustand«. 41 Das Drohpotential der Geschådigten reicht unter Umstånden nicht aus, um dies zu verhindern ± schlieûlich kænnen sie den Zustand der Anarchie in der Regel nicht aus eigener Kraft wiederherstellen. Die genannten Fålle sind nicht unmæglich, sondern im Sinne von Buchanan illegitim. Buchanan verzichtet auch keineswegs konsequent auf ethische Beurteilungen: Staatliche Handlungen, die den konstitutionellen Vertrag verletzen, werden als »kriminell« bezeichnet. 42 Entsprechende Verhaltensweisen von Einzelpersonen mçûten wohl unter dasBuchanan kænnte vielleicht sagen, dies sei kein Staat, sondern eine Anarchie mit anderen Mitteln. 42 Vgl. a. a. O. 117 ff. 41
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selbe Etikett fallen. Man muû folglich davon ausgehen, daû das Prinzip der Nicht-Schlechter-Stellung sowohl fçr den Staat als auch fçr Individuen einen ethischen Grundsatz darstellt, der gegençber einer ethischen Kritik nicht immun ist. (ii) Es ist nun prima facie einleuchtend, daû politische Regelungen, die alle Beteiligten besser stellen, vorgezogen werden sollten. Daraus folgt aber erstens nicht, daû ausschlieûlich solche Regelungen ethisch zulåssig sind. Wåre dem so, håtte jede Person ± und insbesondere die Gruppe der Bessergestellten ± ein Vetorecht gegen beliebige politische Entscheidungen. Es ist relativ offensichtlich, daû das Prinzip der Nichtschlechterstellung nicht ausreicht, um allgemein geteilte ethische Intuitionen wiederzugeben. Vermutlich wird es kaum jemanden geben, der diesen Grundsatz allein fçr eine moralisch akzeptable Basis hålt, um politische Streitfragen zu entscheiden. Schon eine aus allgemeinen Abgaben finanzierte Versorgung behinderter oder chronisch kranker Personen wçrde unter Umstånden nicht zustande kommen. Zweitens darf nicht unterschlagen werden, daû es eine entscheidende Rolle spielt, welcher Bezugspunkt fçr die mægliche Besser- oder Schlechterstellung der Personen gewåhlt wird. Buchanan scheint davon auszugehen, daû die sogenannte »natçrliche Verteilung« insofern eine besondere Prioritåt besitzt, als sie die (Neu-)Verhandlungserwartungen bestimmt. Wenn man aber eine solche in der Regel extrem ungleiche Ausgangsbasis annimmt, ist es wiederum wenig einleuchtend, daû nur die Regelungen gerechtfertigt sind, die alle besser stellen. Dies zeigte sich bereits am Beispiel der Sklaverei, die in Buchanans Theorie nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann. Neben dem Prinzip der Nicht-Schlechter-Stellung scheint auch der Vertragsschluû selbst eine (unabhångige?) normative Kraft zu besitzen. Eine gewisse Plausibilitåt erhålt die Idee, eine Rechtsordnung durch einen Vertrag zu legitimieren, vor allem daraus, daû eine freiwillige Ûbereinkunft stattfindet. Aber im anarchistischen Zustand werden Personen bedroht, und sie sind evtl. einem Zwang ausgesetzt. Auch in dieser Hinsicht ist die Ausgangsbasis ethisch gesehen nicht akzeptabel. Im çbrigen ist zu beachten, daû ein realer Vertragsschluû, der Personen zu etwas verpflichten kænnte, gar nicht stattfindet. 88
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(iii) Nicht zuletzt sind die Neuverhandlungserwartungen unzureichend, um bestimmte konstitutionelle Vereinbarungen zu rechtfertigen. Erstens sind auf der Basis des »natçrlichen Gleichgewichts« theoretisch unterschiedliche Verhandlungsergebnisse denkbar, die das Prinzip der Nicht-Schlechter-Stellung nicht verletzen. Da keine reale Verhandlung stattfindet, ist keiner dieser mæglichen Zustånde normativ ausgezeichnet. Aus diesem Grund ist es auch wenig einleuchtend, daû der produktive Staat die konstitutionellen »Vereinbarungen« nicht brechen darf: Warum sollte die konstitutionelle Rechtsordnung bindend sein, wenn verschiedene Verhandlungsresultate mæglich sind und faktisch gar keine vertragliche Abmachung vorliegt? Zweitens ist auch praktisch nicht abzuschåtzen, in welchem Rahmen sich die Verhandlungsergebnisse bewegen wçrden. Die fçr eine Læsung des Entscheidungsproblems notwendigen Informationen çber die Pråferenzen und Fåhigkeiten aller Beteiligten sowie çber die verfçgbare Gçtermenge lassen sich nicht einholen. Der anarchistische Zustand ist nicht rekonstruierbar. Insofern kann im Prinzip ein Wohlfahrtsstaat das Ergebnis einer Buchananschen »Verhandlung« sein, aber auch eine Sklavenhaltergesellschaft. Wohl aus diesen Grçnden fçhrt Buchanan einen neuen Bezugspunkt ein: den Status quo. Es wird mehrfach darauf hingewiesen, daû der Status quo eine ausgezeichnete Stellung hat und daû er die Basis fçr Verånderungen und Vergleiche bilden muû: »Der Status quo definiert das, was vorhanden ist. Ohne Rçcksicht auf seine Geschichte muû man ihn deswegen so bewerten, als ob er vertragstheoretisch legitim wåre.« 43 Aber warum sollte der zufållig erreichte Status quo den (Neu-)Verhandlungserwartungen der Individuen entsprechen? Buchanans Bemerkungen hierzu sind åuûerst dunkel. Der Punkt scheint zu sein, daû es keinen anderen Zustand gibt: »Die Einmaligkeit des Status quo besteht in der simplen Tatsache seiner Existenz.« 44 Aber daraus folgt natçrlich nicht, daû der Status quo in Buchanans Sinne legitim ist, sondern nur, daû er den Ausgangspunkt fçr mægliche Verånderungen bildet. Buchanan verlåût auf eine willkçrliche und ungerechtfertigte Weise den Rahmen seiner Theorie insbesondere dann, wenn er sich mit aktuellen politischen Problemen beschåftigt. 43 44
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Abschlieûend soll noch auf einen speziellen Punkt hingewiesen werden: Im Unterschied zu Buchanans Behauptung ist es nicht unbedingt so, daû zweiseitige Vertråge dem Prinzip der Nichtschlechterstellung entsprechen. Dies gilt nur, wenn keine Nebenfolgen auftreten, durch die Dritte geschådigt werden. Frei ausgehandelte Arbeitsvertråge kænnten z. B. den Effekt haben, daû andere Personen aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen werden. Insofern ist die von Buchanan geforderte Vertragsfreiheit nicht einmal theorieintern çberzeugend. 45 Die von ihm angestrebte Verteidigung einer uneingeschrånkten Marktwirtschaft ist nicht geglçckt. Buchanans theoretischer Ansatz kann mæglicherweise so verfeinert werden, daû er plausibler und kohårenter wird. Hier wåre die neuere Entwicklung der theoretischen Úkonomie einschlågig, welche entscheidungs- und spieltheoretische Modelle benutzt, die auch mit ethischen Prinzipien kombiniert werden kænnen. 46 In der hier zugrundegelegten Fassung erscheint eine genuine Vertragstheorie aber nicht plausibel. Es hat sich vor allem gezeigt, daû der Grundsatz der Nichtschlechterstellung nicht ausreicht, um eine akzeptable politische Theorie zu begrçnden. Insbesondere mçssen marktwirtschaftliche Transaktionen mæglicherweise Einschrånkungen unterworfen werden, damit basale Rechte und Gerechtigkeitsprinzipien verwirklicht werden kænnen. Nach dieser kurzen Analyse und Kritik der Buchananschen Vertragstheorie komme ich auf das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit zurçck. Buchanan diskutiert Arbeitslosigkeit in »Die Grenzen der Freiheit« nicht. Dennoch kænnte es sein, daû sich auf der von ihm explizierten normativen Basis Forderungen erheben lassen, die den Koller 1987, 225 ff. macht detailliert deutlich, daû der Teil der Buchananschen Theorie, der sich auf den postkonstitutionellen Zustand bezieht, insgesamt nicht haltbar ist. 46 Eine interessante Erærterung zu ækonomischen Theorien der Politik, die ein åhnliches Projekt wie Buchanan verfolgen, findet sich bei Brennan 1993. Brennan charakterisiert diese Theorien dadurch, daû nicht zunåchst çber normative Prinzipien diskutiert wird, um dann zu prçfen, ob sie realisierbar sind. Die Vorgehensweise sei umgekehrt: Im ersten Schritt sollen die verfçgbaren Optionen eingegrenzt werden, im zweiten Schritt wird die wçnschenswerte Alternative herausgegriffen. Sicher ist eine solche Strategie, die ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingeschlagen habe, ebenfalls mæglich und sinnvoll. Es besteht allerdings, wie Brennan selbst einråumt, die Gefahr, daû skeptische Ausgangsthesen zu selbsterfçllenden Prophezeiungen werden. 45
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Arbeitslosen zugute kommen wçrden. Es wird sich aber herausstellen, daû Buchanans Theorie eine angemessene Behandlung der Thematik nicht zulåût. Da der dargestellte theoretische Ansatz einer ethischen Kritik nicht standhålt, kann ich mich im folgenden kurz fassen. Es gibt im Rahmen der diskutierten Theorie m. E. zwei mægliche Anknçpfungspunkte fçr eine Begrçndung politischer Maûnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Generell sind Erwerbsarbeitslose insofern schlechtgestellt, als sie meist çber kein Einkommen verfçgen. Wçrden sie çberhaupt nicht unterstçtzt werden, mçûten sie in der Regel verhungern. Daher wåre zumindest eine Unterstçtzung derjenigen Arbeitslosen geboten, die im anarchistischen Zustand nicht ohnehin sterben wçrden. Die Hæhe der Auszahlung richtet sich nach den Neuverhandlungserwartungen der Arbeitslosen. Sie wåre individuell unterschiedlich zu bemessen. Fçr wen sie oberhalb und fçr wen sie unterhalb der derzeitigen Sozialhilfe liegen wçrde, ist nicht auszumachen, weil die notwendige Berechnung jeder praktischen Grundlage entbehrt. 47 Es ist klar, daû Personen, die von Geburt behindert oder schwer krank sind, unter Buchanans Pråmissen keine æffentliche Unterstçtzung beanspruchen kænnten. Diese sozialdarwinistische Konsequenz der Theorie erscheint inakzeptabel. Zweitens ist es denkbar, daû ein mæglichst hoher Beschåftigungsstand insofern allen Beteiligten zugute kommt, als weniger Menschen æffentlich unterstçtzt werden mçssen und generell Produkte und Dienstleistungen billiger werden, wenn das entsprechende Angebot græûer ist. Insofern kænnte eine niedrige Arbeitslosenquote ein kollektives Gut darstellen. Allerdings ist zu beachten, daû die erlaubten Maûnahmen zur Erhæhung der Beschåftigung durch die Bedingung, daû niemand schlechter gestellt werden darf, eng begrenzt sind. In jedem Falle wçrde sich kein allgemeiner Individualanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit ergeben. Die skizzierte Argumentation erscheint auûerdem insofern wenig angemessen,
Lange 1996 vertritt die Position, daû die Arbeitslosen so gravierend schlechter gestellt sind, daû sie an die gegenwårtige Rechtsordnung nicht gebunden sind. Es ist aber nicht klar, welchen Bezugspunkt fçr Besser- und Schlechterstellungen Lange wåhlt. Auûerdem fçhrt er Gçter ein, die Buchanan nicht vorsieht. Eine systematische Begrçndung der Behauptung wåre noch zu leisten.
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als die Beeintråchtigungen der Arbeitslosen nicht im Mittelpunkt stehen. 48 Auch wenn Buchanans Rechtfertigung des weitgehend uneingeschrånkten Marktes sogar theorieintern nicht çberzeugt und Arbeitslose vielleicht gewisse Kompensationen beanspruchen kænnen, dçrften die Forderungen im Rahmen des Ansatzes recht spårlich ausfallen. Insbesondere der strikte Verzicht auf Gerechtigkeitsprinzipien und auf generelle individuelle Rechtsansprçche steht Maûnahmen im Wege, die Erwerbsarbeitslosen zugute kommen wçrden. Der Spielraum an zulåssigen Ungleichheiten ist erheblich, da natçrliche oder soziale Nachteile nicht ausgeglichen werden dçrfen. Im çbrigen ist es offen, wie Arbeitslose ± falls çberhaupt ± entschådigt werden wçrden. Eine Beteiligung an der Erwerbsarbeit muû nicht garantiert werden; auch eine Kompensation durch finanzielle Mittel erscheint mæglich. Dies ist sogar naheliegend, weil Buchanan im wesentlichen Verfçgungsrechte çber materielle Ressourcen in Erwågung zieht. Gçter wie soziale Anerkennung und gesellschaftliche Beteiligung kommen in seiner Theorie nicht vor. Daraus ergibt sich auch, daû die Bedeutung der Erwerbsarbeit unterschåtzt wird: Buchanansche ækonomische Nutzenmaximierer sehen die Arbeit im wesentlichen als Aufwand an, der den (materiellen) Ertrag nicht çbersteigen darf. Vielleicht lassen sich die fçr die Neuverhandlungserwartungen relevanten Gçter weiter fassen, ohne daû der von Buchanan vorgegebene theoretische Rahmen verlassen wird. In diesem Falle wåren aber die nætigen Abwågungen bezçglich des »natçrlichen Gleichgewichts« noch komplexer, als sie es ohnehin schon sind. Buchanans Theorie låût es im çbrigen kaum zu, zentrale Gçter auszuzeichnen, fçr die eine Kompensation durch Geld nicht mæglich erscheint. Im Rahmen des Ansatzes ist nicht plausibel zu machen, daû z. B. Grundfreiheiten oder auch Voraussetzungen eines befriedigenden Lebens prinzipiell gesichert werden sollten. Es liegt nahe zu untersuchen, zu welchen Ergebnissen eine normative politische Theorie kommt, die unantastbare individuelle Rechte in den Mittel-
Eine angesichts der Kritik modifizierte Vertragstheorie kænnte auch Beschrånkungen der freien Aushandlung von Arbeitsvertrågen zulassen, sofern Dritte durch bestimmte Abmachungen schlechter gestellt werden. Diese Mæglichkeit will ich hier nicht untersuchen.
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Nozicks Theorie individueller Rechte
punkt stellt. Exemplarisch leistet dies Nozicks Ansatz, der im folgenden vorgestellt werden soll.
3. Nozicks Theorie individueller Rechte Nozick entwickelt in »Anarchie Staat Utopia« eine genuine Theorie individueller Rechte. Er geht von der ethischen Grundintuition aus, daû Menschen einen Bereich der persænlichen Integritåt besitzen, der durch Rechte geschçtzt werden muû. Der Staat hat diese Grundrechte zu respektieren und zu gewåhrleisten. Ein Ausgleich sozialer und natçrlicher Benachteiligungen ist hingegen nicht vorgesehen. Nozicks Ansatz wird zwar in der Regel als Sozialvertragstheorie bezeichnet. Er geht allerdings nicht primår von den Prinzipien der Vertragsfreiheit und der Besserstellung aus, sondern fçhrt zusåtzliche (starke) normative Pråmissen ein. Die individuellen Rechte sind nicht Gegenstand einer Verhandlung. Im Unterschied zu Buchanan entwickelt Nozick also keine strikte Vertragstheorie. Die Theorie erfçllt die im ersten Abschnitt formulierten normativen Grundbedingungen: Es bleibt den Personen çberlassen, welche Lebensvorstellung sie innerhalb des durch die Rechte und Verpflichtungen gesteckten Rahmens verfolgen wollen. Da die relevanten Rechte allen Menschen zugesprochen werden, werden die Personen in diesem Sinne gleichermaûen berçcksichtigt. Nozick legt ein Argument fçr die Legitimitåt eines Staates vor, das aus zwei Schritten besteht: Zunåchst versucht er zu zeigen, daû ein Minimalstaat persænliche Rechte nicht verletzt. 49 Anschlieûend will er nachweisen, daû ein darçber hinausgehender Staat mit Umverteilungsbefugnissen nicht gerechtfertigt ist. Nozick liefert somit eine (zu Buchanan) alternative Begrçndung fçr eine uneingeschrånkte Marktwirtschaft. Die Theorie soll im folgenden in den Grundzçgen vorgestellt werden. Nozick geht davon aus, daû Personen unveråuûerliche natçrliche Rechte besitzen: »Menschen haben Rechte, und einiges darf ihnen Nozick will seinen Ansatz auch als quasi-empirische Theorie verstanden wissen: Staaten kænnten durch einen Vorgang der unsichtbaren Hand so entstehen, als ob sie natçrliche Rechte respektierten. Diese Lesart ist fçr meine Untersuchung weniger interessant.
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kein Mensch und keine Gruppe antun.« 50 Er spricht auch von moralischen Nebenbedingungen, die nicht verletzt werden dçrfen. 51 Personen haben nach Nozick ein natçrliches Recht auf ihren Kærper und die Produkte ihrer Arbeit. Insbesondere dçrfen sie nicht an Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum geschådigt werden. Falls solche Ûbergriffe erfolgen, besitzen die Personen im Naturzustand ± d. h. vor der Grçndung eines Staates ± das Recht, sich zu schçtzen und Strafen zu verhången, soweit sie der Wiedergutmachung und/oder der Abschreckung dienen. 52 Diese Naturrechtsbasis wird von Nozick vorausgesetzt; eine Begrçndung liefert er nicht. Nozick glaubt offenbar, daû moralische Intuitionen çber die Integritåt der Personen allgemein geteilt werden. Er deutet darçber hinaus an, daû das Interesse, einen selbstgewåhlten Lebensplan zu verfolgen, eine mægliche Grundlage fçr die Rechte ist. 53 Der Nachweis, daû die genannten Nebenbedingungen fçr die Ausfçhrung individueller Lebensplåne notwendig oder gar hinreichend sind, wird aber nicht erbracht. Nozick versucht nun zu zeigen, daû aus einem anarchistischen Zustand, in dem viele, aber nicht alle Personen die natçrlichen Rechte respektieren, ein Staat entstehen wçrde oder kænnte, ohne daû dabei die Rechte verletzt werden. Die Menschen schlieûen sich zunåchst in Schutzgemeinschaften zusammen, damit sie ihre Rechte effektiver durchsetzen kænnen. Um die ståndige Bereitschaft, anderen beistehen zu mçssen, zu umgehen, werden die Verteidigungsbefugnisse (nach dem Prinzip der Arbeitsteilung) professionellen Organisationen çbertragen, die fçr ihre Tåtigkeiten bezahlt werden. Diese Schutzorganisationen fçhren Verfahren ein, um zu prçfen, ob eine Schådigung ihrer Klienten vorliegt. Auûerdem verlangen sie von den Mitgliedern den Verzicht auf private Vergeltung, da diese zu unnætigen Konflikten fçhrt. 54 Zunåchst gibt es in einem geographischen Gebiet unterschiedliche Schutzorganisationen. Die Konkurrenz der Schutzgemeinschaften fçhrt aber schlieûlich dazu, daû sich eine vorherrschende Gesellschaft herausbildet. Die Dominanz dieser Organisation erklårt sich daraus, daû sich die Schutzgemeinschaften Nozick 1976, 11. Vgl. a. a. O., 38 ff. Seine Theorie wird sogenannten ergebnisorientierten Ansåtzen gegençbergestellt, die keine Nebenbedingungen kennen. 52 Siehe a. a. O., 25. 53 Vgl. a. a. O., 56 ff. 54 Vgl. a. a. O., 26 ff. 50 51
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Nozicks Theorie individueller Rechte
im Konfliktfall gegenseitig schådigen und daû die Klienten hohe Verluste zu erwarten haben, wenn ihre Organisation sie nicht schçtzen kann. Daher ist der Anreiz, eine çberlegene Organisation zu bevorzugen, extrem hoch. 55 Eine vorherrschende Schutzgemeinschaft ist insofern noch kein Staat, als sie zum einen kein Gewaltmonopol besitzt, zum anderen nicht jeder Person Schutz gewåhrt, die auf ihrem Gebiet lebt: Der Eintritt in die Organisation ist freiwillig, und er muû bezahlt werden. Nozick will nachweisen, daû aus der vorherrschenden Schutzvereinigung ohne Verletzung der natçrlichen Rechte ein Staat entsteht. Das Gewaltmonopol erhålt die Organisation dadurch, daû sie den Nichtmitgliedern verbietet, eigenmåchtig Strafmaûnahmen gegen Mitglieder auszufçhren. Die Privatjustiz der Auûenseiter stellt ein untragbares Risiko dar; sie wird von der vorherrschenden Schutzgemeinschaft legitimerweise unterbunden, um die Rechte ihrer Mitglieder zu sichern. 56 Allerdings wird auf diese Weise das natçrliche Recht der Nichtmitglieder eingeschrånkt, sich durch eine glaubhafte Strafandrohung zu schçtzen, da sie ihre berechtigten Interessen gegençber den Mitgliedern der Organisation nicht durchsetzen kænnen. Aus diesem Grund mçssen die Auûenseiter eine Kompensation erhalten. Naheliegenderweise wird ihnen ein Rechtsschutz fçr den Fall gewåhrt, daû Konflikte mit Mitgliedern der Organisation auftreten. 57 Auf diese Weise ergibt sich ein Minimalstaat, der nicht nur das Gewaltmonopol besitzt, sondern alle Bewohner eines geographischen Gebietes schçtzt. 58 Der Minimalstaat hat insofern einen gewissen Umverteilungseffekt, als auch denjenigen Personen (Auûenseitern) Schutz gewåhrt Vgl. a. a. O., 30. Vgl. zum Verbot risikobehafteter Handlungen a. a. O., 61 ff.; speziell zum Verbot der Privatjustiz 90 ff. Eine genauere Darstellung ist fçr die Zwecke dieser Untersuchung nicht interessant. 57 Vgl. zur Entschådigung fçr Verbote risikobehafteter Handlungen allgemein a. a. O., 81 ff.; speziell zum Schutz der Auûenseiter 108 ff. Die Schutzorganisation muû nur dann ihre Policen umsonst vergeben, wenn der benachteiligte Auûenseiter zahlungsunfåhig ist; ansonsten gleicht sie den erlittenen Verlust aus, indem sie den Rechtsschutz billiger anbietet. 58 Genaugenommen greift der Nozicksche Staat nicht ein, wenn Konflikte zwischen Nichtmitgliedern auftreten. Er hat also kein vollståndiges Gewaltmonopol, und er gewåhrt auch nicht in jedem Streitfall Schutz. Diese theoretische Komplikation kann aber vernachlåssigt werden, da in der Praxis auch die Auûenseiter nach und nach zu Mitgliedern werden. 55 56
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werden muû, die die Beitråge fçr die Organisation nicht zahlen kænnen. Diese Umverteilung wird aber nicht unter Berufung auf einen angestrebten Endzustand ± z. B. Gleichstellung ± begrçndet, sondern ausschlieûlich aus den natçrlichen Rechten abgeleitet. Nozick meint nun zeigen zu kænnen, daû weitergehende Befugnisse des Staates als der Schutz und die Durchsetzung der natçrlichen Rechte nicht gerechtfertigt werden kænnen. Im Hintergrund der Argumentation steht ein starkes Eigentumsrecht, das laut Nozick zu den natçrlichen Rechten gehært. Personen haben ein Anrecht auf Gçter, die sie auf legitime Weise erworben haben. Der rechtmåûige Besitz wird von Nozick durch einen Aneignungs- und einen Ûbertragungsgrundsatz spezifiziert. 59 Als legitim gilt die Aneignung von Gçtern, wenn fçr die anderen Personen genug gleich Gutes çbrig bleibt und sie daher nicht schlechter gestellt werden. Nozick unterscheidet eine starke und eine schwache Variante dieses sogenannten »Lockeschen Proviso«: Die engere Auslegung wçrde die Aneignung schon dann verbieten, wenn danach keine Aneignung vergleichbarer Gçter mehr mæglich ist. Die weitere Fassung hingegen ist nur einschlågig, wenn auch eine Nutzung der Gçter ausgeschlossen ist. Nozick wåhlt die zweite Variante und schwåcht sie sogar dahingehend ab, daû selbst eine Aneignung, die eine freie Nutzung vergleichbarer Gçter verhindert, zulåssig sein soll, wenn niemand insgesamt schlechter gestellt wird. Fçr die Schlechterstellung muû eine Vergleichsbasis angegeben werden. Nozick schlågt vor, den Zustand zum Maûstab zu machen, der besteht, bevor die fraglichen Ressourcen fçr produktive Zwecke eingesetzt werden. 60 Die Verwendung und Ûbertragung des Besitzes unterliegt ebenfalls dem Lockeschen Proviso, ist aber ansonsten vællig ins Belieben der Personen gestellt, sofern andere Menschen nicht geschådigt werden. Wenn eine Person durch Glçck oder Kænnen ihre Gçter vergræûert, gibt es laut Nozick keine Rechtfertigung, ihr diese Gçter zu entziehen. Die ursprçngliche Aneignung war (vorausgesetztermaûen) legitim, die Tauschakte und eventuelle Arbeitskontrakte sind freiwillig. Auch Schenkungen und Vererbungen sind zulåssig; die Siehe a. a. O., 144 ff. Hinzu tritt noch ein Korrekturgrundsatz fçr den Fall, daû einer der beiden anderen Grundsåtze verletzt worden ist: Es soll die Verteilung hergestellt werden, die eingetreten wåre, wenn die Ûbertretung nicht stattgefunden håtte. 60 Vgl. a. a. O., 165 ff. Diese Bedingungen bedçrften, wie Nozick selbst zugibt, einer genaueren Explikation. 59
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Beschenkten haben folglich ebenfalls einen Rechtsanspruch auf die erhaltenen Gçter. Daher darf auch keine Um- oder Neuverteilung von Besitztçmern durch den Staat stattfinden, die çber die nætigen Aufwendungen zur Sicherung der natçrlichen Rechte und eine Reparation von unrechtmåûigen frçheren Aneignungen hinausgeht. 61 Eine Begrçndung fçr die beiden Eigentumsprinzipien wird allenfalls angedeutet. Nozick nennt seine Theorie eine »Anspruchstheorie der Gerechtigkeit«: Die Personen haben ihre Fåhigkeiten und die daraus resultierenden Gçterverteilungen nicht in irgendeiner Weise verdient, aber sie haben einen Anspruch auf die Ergebnisse legitimer Transaktionen. 62 Die Idee scheint zu sein, daû (i) die individuellen Fåhigkeiten die Integritåt der Personen (mit)definieren und daû (ii) Menschen keine Eigentçmer ihrer Talente sind, wenn sie nicht auch die Frçchte ihrer Anstrengungen ungeschmålert behalten dçrfen. Die Aneignungsbedingung ist fçr Nozick vermutlich deshalb plausibel, weil es keinen Einwand dagegen zu geben scheint, Gegenstånde in Besitz zu nehmen, die nicht bereits Eigentum einer anderen Person sind, wenn niemand durch die Aneignung schlechter gestellt wird. Nachdem die Anspruchstheorie skizziert worden ist, kritisiert Nozick Theorien, die eine Umverteilung des Eigentums fordern, um einen gerechten Endzustand oder eine gerechte Verteilungsstruktur zu verwirklichen. 63 Unter den Pråmissen seiner Theorie werden Umverteilungen als Zwangsarbeit gebrandmarkt: Menschen, die mehr arbeiten wollten, mçûten im Falle einer Besteuerung der Einkommen oder der Vermægen Leistungen fçr andere erbringen und wçrden dadurch deren Teileigentum. 64 Generell vernachlåssigten Verteilungstheorien, daû Personen einen Aufwand betrieben, um sich Gçter zu beschaffen, und daû aus den Bemçhungen Ansprçche erwçchsen. Nozick weist auûerdem darauf hin, daû eine gerechte Verteilung schwerlich aufrechterhalten werden kann: Ein (angeblich) gerechter Zustand kann durch freiwillige Transaktionen wie Tausch oder Gçterçbertragung in einen ungerechten Zustand çbergehen. Vgl. a. a. O., 152 f. Vgl. a. a. O., 206 ff. 63 Nozick orientiert sich insbesondere an Rawls' Gerechtigkeitstheorie. Es werden neben den hier erlåuterten allgemeinen Kritikpunkten weitere spezielle Einwånde formuliert. Soweit diese wichtig erscheinen, sollen sie in Abschnitt III.5 berçcksichtigt werden, in dem ich mich mit Rawls auseinandersetze. 64 Vgl. a. a. O., 159 & 162. 61 62
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Um dies zu verhindern, mçûten entweder die Gçter ståndig neu verteilt werden, oder die erlaubten Handlungen mçûten stark eingeschrånkt werden. 65 Nozick versucht anschlieûend zu zeigen, daû auch andere Argumentationsstrategien scheitern, die staatliche Eingriffe in die Úkonomie rechtfertigen sollen. Insbesondere werden Argumente kritisiert, die sich auf sinnvolle Arbeit, Selbstachtung, Chancengleichheit, Mitbestimmung und Ausbeutung beziehen. 66 Es ist zu beachten, daû Nozicks Kritik wesentlich davon abhångt, ob sich das von ihm vertretene starke Eigentumsrecht halten låût. Gegen (abstrakte) Rechte auf Chancengleichheit oder Bedçrfnisbefriedigung argumentiert Nozick z. B., indem er zeigt, daû unter der Voraussetzung des starken Eigentumsrechts keine weiteren Rechtsansprçche mæglich sind: Wenn nåmlich uneingeschrånkte Verfçgungsrechte çber die relevanten Gçter bestehen, gibt es keinen Platz fçr Verteilungen nach Bedçrfnis- oder Gleichstellungsgesichtspunkten. 67 Daû, wie Nozick anmerkt, Abgaben freiwillig geleistet werden kænnten und daû selbstverwaltete Betriebe oder sinnvolle Arbeit auch im Rahmen der freien Konkurrenz mæglich seien, ist fçr sich genommen kein Argument gegen æffentliche Steuern oder Zuschçsse. Auch hier setzt Nozick das starke Eigentumsrecht voraus. 68 Fçr die vorliegende Untersuchung interessant sind auch Nozicks Bemerkungen zur Selbstachtung. Er geht davon aus, daû das Selbstwertgefçhl auf Eigenschaften beruht, mit denen man sich von anderen positiv abhebt. Daher sei es nicht mæglich, die Selbstachtung zu sichern, indem Personen in irgendeiner relevanten Hinsicht gleichgestellt werden. 69 Die Untersuchungen zur Selbstachtung in Abschnitt II.3 stçtzen diese Hypothese aber nicht. Vielleicht ist ein besonders hohes Selbstwertgefçhl davon abhångig, daû man in einer fçr wichtig befundenen Eigenschaft herausragend ist. Aber umgeVgl. a. a. O., 154 & 156. Nozick illustriert dies am Beispiel des genialen Fuûballers NN, der pro Spiel 50 Pfennig von jeder Eintrittskarte bekommt. Siehe a. a. O., 152 f. 66 Abgesehen von der Selbstachtung sind diese Aspekte fçr das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit nicht relevant: Sinnvolle Arbeit und Mitbestimmung bezeichnen weitergehende Ansprçche an die Arbeit; Chancengleichheit geht çber ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit hinaus; der Schutz gegen Ausbeutung formuliert eine Minimalbedingung, die ich als gesichert vorausgesetzt hatte. Vgl. dazu Abschnitt I.3. 67 Vgl. a. a. O., 216 ff. 68 Siehe a. a. O., 226 ff. 69 Vgl. a. a. O., 219 ff. 65
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kehrt scheint es nicht so zu sein, daû Schlechterstellungen die Selbstachtung nicht berçhren. Im Gegenteil wird offenbar das Selbstwertgefçhl besonders beeintråchtigt, wenn Personen eine marginale soziale Position einnehmen. Es geht im Rahmen dieser Untersuchung nicht um Bedingungen fçr eine sehr hohe Selbsteinschåtzung, sondern um den Schutz gegen ein extrem niedriges Selbstwertgefçhl. Ist Nozicks Theorie individueller Rechte çberzeugend? Ich will die folgende Kritik in vier Schritten entwickeln. Zunåchst werde ich auf die normative Basis der Theorie ± die Vorstellung der Integritåt von Personen ± eingehen. Es soll zweitens gezeigt werden, daû die von Nozick propagierten Rechte keineswegs die einzig mæglichen und auch nicht die einzig plausiblen Ansprçche von Personen sind. Drittens wird untersucht, ob sich aus der persænlichen Integritåt tatsåchlich ein starkes Eigentumsrecht ergibt. Abschlieûend werde ich deutlich machen, daû Nozicks (zusåtzliche) Einwånde gegen Umverteilungsforderungen nicht çberzeugen. (i) Nozick geht davon aus, daû es einen persænlichen Bereich gibt, der gegençber Eingriffen geschçtzt werden muû. Diese Idee hat prima facie eine groûe Plausibilitåt. Insbesondere empfinden es Personen als nicht akzeptabel, wenn sie an Leib und Leben geschådigt werden. Auch elementare Freiheiten gehæren mæglicherweise zur persænlichen Schutzzone. Diese Ûberlegung hatte ich gegençber Buchanan stark gemacht, in dessen Theorie keine prinzipiellen Rechte vorgesehen sind. Allerdings haftet der inhaltlichen Ausgestaltung der Forderung eine gewisse Willkçr an. Integritåt und Wçrde 70 sind moralische Begriffe, die voraussetzen, daû bereits eine Verståndigung darçber erreicht ist, welche berechtigten Ansprçche Personen haben. Nozick gibt aber keine Kriterien an die Hand, die begrçnden, weshalb bestimmte Ausstattungen zur schçtzenswerten Sphåre der Person gehæren. Seine Ûberlegungen bleiben suggestiv und sind dadurch angreifbar. Auch der zweite Bezugspunkt, den Nozick benennt, ist vage: Es wird nicht gezeigt, daû die von ihm vorgesehenen Rechte Voraussetzungen fçr die Realisierung von Lebensplånen sind. Im çbrigen wåre es unter dieser Perspektive zumindest nicht hinreichend, sich gegen eine Schådigung durch andere Personen abzuNozick selbst spricht von der Wçrde des Menschen. Mir scheint aber der Begriff der persænlichen Integritåt seinen Vorstellungen eher zu entsprechen.
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sichern, denn man braucht auch Mæglichkeiten, Ressourcen und Fåhigkeiten, um Plåne umsetzen zu kænnen. 71 Eine brauchbare Grundlegung einer Theorie individueller Rechte kann m. E. nicht darauf verzichten, den Nachweis zu erbringen, daû und weshalb bestimmte Ansprçche als zentral anzusehen sind. Die Rechte dçrfen nicht einfach »vom Himmel fallen«, und unterschiedliche Bedçrfnisse mçssen gegeneinander abgewogen werden. Ein mæglicher Bezugspunkt fçr eine solche Theorie ist das elementare Interesse, eine eigene Lebensvorstellung verfolgen zu kænnen; ein anderer wåre das Wohlergehen. 72 (ii) Es låût sich aber schon intuitiv einsehen, daû die in Nozicks Theorie vorgenommene Auswahl der Rechte nicht befriedigend ist. Insbesondere sind die »natçrlichen Rechte« ausschlieûlich Abwehrrechte, aus denen minimale Anspruchsrechte abgeleitet werden: Personen dçrfen anderen Personen bestimmte Dinge nicht antun; darçber hinaus haben Menschen einen Anspruch auf Schutz vor Verletzungen, sofern sich ein Staat herausbildet. Dagegen bestehen Ansprçche auf Hilfeleistungen hæchstens dann, wenn eine Verletzung durch andere Personen vorliegt. Menschen mçssen aber z. B. nicht vor dem Ertrinken oder dem Verhungern gerettet werden. Diese Einschrånkung ethischer Forderungen entspricht einer weit verbreiteten Alltagsmoral, der zufolge die (passive) Unterlassung von Hilfeleistungen nicht in derselben Weise moralisch verwerflich ist wie die (aktive) Verletzung von Personen. Die Differenzierung ist ethisch hæchst fragwçrdig: Schlieûlich dçrfte es aus der Sicht eines Betroffenen weitgehend gleichgçltig sein, ob er getætet wird oder ob er ertrinkt. 73 Fçr die ausgezeichnete Stellung von Abwehrrechten spricht vielleicht, daû sie unbedingt eingehalten werden kænnen und daû sie keine Kosten fçr die Zentralgewalt aufwerfen. Anspruchsrechte hingegen kænnen (nur) mehr oder weniger erfçllt werden, und sie sind nicht umsonst zu haben. Nozick miût aber dem Staat die Aufgabe zu, einen Anspruch auf Schutz zu gewåhrleisten. Auch der Schutz gegen die Verletzung »natçrlicher Rechte« kostet Geld, und er kann unterVgl. dazu genauer Tugendhat 1992 sowie die Untersuchungen zur Rawlsschen Theorie in Abschnitt III.5. 72 Vgl. hierzu insbesondere das folgende Kapitel IV. 73 Fçr eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen moralisch relevant ist, vgl. Birnbacher 1995. 71
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schiedlich umfangreich sein. Es wird von Nozick kein prinzipieller Grund gegen die Mæglichkeit angefçhrt, weitere Anspruchsrechte einzufçhren. Der Terminus »natçrliche Rechte« soll wohl darçber hinaus darauf hinweisen, daû es um Rechtsansprçche geht, die schon im vorstaatlichen Zustand gelten. Dadurch sind aber Anspruchsrechte auf Unterstçtzung nicht zwingend ausgeschlossen, sofern sich plausibel machen låût, daû Personen generell einen Anspruch auf die Hilfe anderer Personen haben. Es folgt auch nicht, daû Rechte, die im Naturzustand nicht bestehen wçrden, normativ inakzeptabel sind. Ein Recht auf Sozialhilfe oder ein Recht auf Schulbildung sind sicher keine natçrlichen Rechte, aber dennoch lassen sie sich prinzipiell vertreten. Ein weiterer mæglicher Unterschied zu den »natçrlichen« Rechten besteht darin, daû den zuletzt genannten Rechten keine Pflichten der einzelnen Personen korrespondieren, weil Individuen z. B. keinen allgemeinen Anspruch auf Bildung gewåhrleisten kænnen. Dies wåre aber gerade ein Grund dafçr, die entsprechenden Verpflichtungen einer kollektiven Instanz zu çbertragen. Auch ein Recht auf Arbeit erscheint unter dieser Perspektive zumindest diskutabel. 74 Nozick låût im çbrigen nur Rechte zu, die sich auf konkrete Entitåten (Gegenstånde, die eigene Person) beziehen. Insofern sind die vorgeschlagenen Rechte Eigentumsrechte in einem weiten Sinne. »Abstrakte« Rechte wie ein Recht auf medizinische Versorgung, auf Hilfeleistung oder auch auf die Beteiligung an der Erwerbsarbeit sind bei ihm nicht vorgesehen. Nozick råumt zwar ein, daû die Mæglichkeit bestehen kænnte, eine Theorie »abstrakter« Rechte zu entwerfen. 75 Im Rahmen seines Ansatzes gibt es aber keinen Spielraum fçr solche Rechte, da die fçr eine Gewåhrleistung der Rechte notwendigen Gçter nicht mehr verfçgbar sind, wenn sie sich bereits im Besitz bestimmter Personen befinden. Es ist daher wichtig, sich mit dem von Nozick vertretenen unbedingten und unwiderruflichen Eigentumsrecht auseinanderzusetzen.
Fçr eine detailliertere Auseinandersetzung mit Abwehr- und Anspruchsrechten und eine Verteidigung sozialer Rechte vgl. Tugendhat 1993, 351 ff. Siehe auch Shue 1980, auf dessen Analysen sich Tugendhat bezieht. 75 Vgl. a. a. O., 219. 74
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(iii) Ist das von Nozick verfochtene Eigentumsrecht çberzeugend? Ich werde zunåchst den Ûbertragungsgrundsatz prçfen: Nozick ist der Auffassung, daû es gegen die Integritåt der Person verstæût, Privateigentum etwa durch Steuern umzuverteilen, um wichtige soziale Ziele verwirklichen zu kænnen. Warum sollte dem so sein? Nozick meint, daû Personen einerseits einen Anspruch auf ihre persænlichen Eigenschaften und Fåhigkeiten haben, andererseits aber auch auf die daraus resultierenden Gewinne. Die Verfçgung çber das Eigentum darf daher generell nicht beschrånkt werden. Es mag plausibel sein, daû die Ausstattung mit Fåhigkeiten zur schçtzenswerten persænlichen Sphåre zåhlt. Aber daraus folgt nicht, daû der Person auch die auf einem uneingeschrånkten Markt erzielten Gewinne zustehen mçssen. Von Zwangsarbeit ist eine Besteuerung deutlich zu unterscheiden: Der Steuerpflichtige wird weder daran gehindert noch genætigt, Fåhigkeiten auszubilden, und er muû seine Fåhigkeiten auch nicht produktiv einsetzen. Wenn die Person ± wie im Falle der Einkommensbesteuerung ± weiû, unter welchen Bedingungen sie ihren Einsatz leistet, kann sie entscheiden, ob der Gewinn den Aufwand wert ist. Es mag nun steuerliche Belastungen geben, die ungerecht sind. Um dies nachzuweisen, mçssen aber unterschiedliche Ansprçche gegeneinander abgewogen werden. Wenn etwa Steuern erhoben werden, um die Grundversorgung von Personen zu gewåhrleisten, die sich anderweitig nicht versorgen kænnen, erscheint dies ethisch gewichtiger als das Interesse, ein den Fåhigkeiten entsprechendes Einkommen zu erzielen. 76 Im çbrigen scheint Nozick die auf einem uneingeschrånkten Markt erzielten Einkommen normativ auszuzeichnen. Er geht offenbar davon aus, daû die entsprechenden Læhne und Gewinne in irgendeiner Weise »natçrlich« sind. Selbst wenn dem so sein sollte, folgt daraus aber keine Rechtfertigung des Marktgeschehens. 77 Noch weniger einleuchtend als der Grundsatz der freien Ûbertragung ist der Aneignungsgrundsatz. Es låût sich nicht plausibel machen, daû eine Beziehung zwischen den angeeigneten Gegenstånden und den Fåhigkeiten oder dem Arbeitsaufwand der Personen beEine gerechte Vergçtung muû auûerdem zwischen dem Aufwand und den natçrlichen Fåhigkeiten einer Person unterscheiden. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt çber Dworkins Theorie. 77 Nozick geht von der ækonomischen Theorie der Grenzproduktivitåt aus. Fçr eine ausfçhrliche Kritik daran vgl. Koller 1987, 166 ff. 76
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steht ± schlieûlich kann man glçcklich çber eine Goldmine stolpern. Nozick kænnte hæchstens behaupten, daû es keinen Grund gibt, herrenlose Gegenstånde nicht behalten zu dçrfen, sofern dadurch niemand schlechter gestellt wird. Aber es kann sich unter Umstånden erst spåter erweisen, daû ein angeeigneter Gegenstand von anderen Menschen gebraucht wird; ein uneingeschrånktes und unwiderrufliches Eigentumsrecht ist in dieser Hinsicht hæchst problematisch. Generell låût sich auch die Rçckfrage stellen, warum man nicht genausogut davon ausgehen kann, daû Gegenstånde, die sich nicht in Privatbesitz befinden, allen Menschen gehæren und eine Aneignung einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Eine beschrånkte Verfçgung çber Gçter und Ressourcen ± etwa ein Nutzungsrecht ± kænnte eine sinnvolle Alternative zu Nozicks starkem Eigentumsrecht sein. (iv) Abschlieûend sollen die zusåtzlichen Kritikpunkte betrachtet werden, die Nozick gegen Umverteilungen erhebt. Zum einen geht Nozick davon aus, daû die berechtigten Ansprçche von Personen, die sich aus dem von ihnen geleisteten Aufwand ergeben, in Verteilungstheorien nicht gençgend berçcksichtigt werden. Sicherlich ist der Aufwand ein wichtiger Aspekt, wenn es um die gerechte Verteilung von Gçtern geht. Dieser Gesichtspunkt kann aber, wie sich am Beispiel von Dworkin zeigen wird, in eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit integriert werden. Zweitens behauptet Nozick, es wåren ståndige Neuverteilungen oder erhebliche Zwånge notwendig, um eine gerechte Verteilung zu erhalten. Aber das ist nicht unbedingt zutreffend, denn im Falle einer systematischen Besteuerung werden weder ækonomische Transaktionen, Schenkungen oder Vererbungen verboten, noch wird das gesellschaftliche Vermægen konfisziert, um es dann neu zu verteilen. Insgesamt ist Nozicks Verteidigung einer uneingeschrånkten Marktwirtschaft nicht çberzeugend. Weder ist das starke Eigentumsrecht eine plausible Konsequenz der Forderung, die Integritåt der Personen zu schçtzen, noch erscheinen der Aneignungs- und der Ûbertragungsgrundsatz aus anderen Grçnden heraus als einleuchtend. Auch die zusåtzlichen Argumente gegen Verteilungstheorien zeigen nicht, daû staatliche Eingriffe in die Úkonomie prinzipiell nicht gerechtfertigt sind. Ich will abschlieûend auf das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit zurçckkommen. Nozick åuûert sich zu dieser Frage nicht; aber aus Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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den Pråmissen seiner Theorie scheint sich ableiten zu lassen, daû es keinen Anspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit geben kann. Die Besitzer der Produktionsmittel kænnen çber diese frei verfçgen. Also steht es ihnen auch frei anzustellen, wen sie wollen. 78 Ist diese Folgerung schlçssig, wenn man Nozicks Pråmissen akzeptiert? Eine immanente Kritik muû sich auf das »Lockesche Proviso« stçtzen. Die Nozicksche Bedingung lautet, daû Gçter nur angeeignet oder çbertragen werden dçrfen, wenn dadurch niemand schlechter gestellt wird. Offenbar ist es aber so, daû produktive Ressourcen weitgehend oder ganz in Besitz genommen worden sind. Insofern mçûten die Personen, die diese Ressourcen nicht nutzen kænnen, zumindest entschådigt werden. Nozick nimmt als Vergleichsbasis fçr eine eventuelle Schlechterstellung aber die Situation an, die bestanden hatte, bevor die Ressourcen fçr produktive Zwecke eingesetzt wurden. Die mæglicherweise erforderliche Kompensation der Geschådigten kænnte durch eine Sozialhilfe weitgehend erfçllt (oder sogar çbererfçllt?) sein. Steinvorth hat einen interessanten Versuch unternommen, sogar ein Recht auf Arbeit aus dem Entschådigungsprinzip abzuleiten. Er geht davon aus, daû Arbeitslose vom »¼ Gebrauch natçrlicher Ressourcen ausgeschlossen sind«. 79 Die Mæglichkeit, natçrliche Ressourcen zu nutzen, sei aber eine grundlegende Voraussetzung dafçr, arbeiten zu kænnen. Die Arbeit wird als »¼ Ausçbung hderi schæpferischen Fåhigkeiten, die zugleich die Welt und den Menschen formt und verbessert ¼«, charakterisiert. 80 Laut Steinvorth stellt es ein Menschenrecht dar, produktive Fåhigkeiten einsetzen zu kænnen. Wenn eine private Aneignung natçrlicher Ressourcen zugelassen wird, mçssen folglich die vom Gebrauch ausgeschlossenen Personen dadurch entschådigt werden, daû ihnen eine Arbeit garantiert wird. Diese Argumentation ist aus mehreren Grçnden nicht çberzeugend. Zum einen ist es kein allgemeines, sondern ein spezifisches Interesse, schæpferische Fåhigkeiten auszuçben und die Welt zu formen. Daû ein Anspruch darauf »von der Idee der Menschenrechte impliziert« 81 wird, vermag ich nicht zu sehen. Diese These erscheint Gegen Ende des Buches wird explizit gesagt, daû eine Beschrånkung der Entscheidung, wen man anstellen will, gegen Freiheitsrechte verstoûen wçrde ± vgl. Nozick 1976, 257. 79 Steinvorth 1996, 89. 80 A. a. O., 78. 81 A. a. O., 84. 78
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nicht einmal dann plausibel, wenn man Rechte dahingehend versteht, daû die Mæglichkeit gesichert werden soll, selbstgewåhlte Lebensplåne realisieren zu kænnen. 82 Zweitens ist das von der Arbeit gezeichnete Bild recht idealistisch: Setzt ein Verkåufer produktive Fåhigkeiten ein, um die Welt und die Menschen zu formen? Steinvorth mçûte konsequenterweise erheblich mehr fordern als ein Recht auf Arbeit. 83 Drittens ist die Ausçbung produktiver Fåhigkeiten nicht zwangslåufig an die Erwerbsarbeit gebunden; auch ein Hobbykçnstler kann kreativ tåtig sein und anderen Menschen neue Perspektiven eræffnen. 84 Und viertens ist keineswegs klar, daû die Verfçgung çber natçrliche Ressourcen eine allgemeine Voraussetzung ist, um produktive Fåhigkeiten sinnvoll einzusetzen: Wer unterrichtet, braucht dazu evtl. keine natçrlichen Ressourcen, formt aber Menschen. Nozicks Theorie låût m. E. auch in einer modifizierten Fassung eine adåquate Behandlung des Problems der Erwerbsarbeitslosigkeit nicht zu. Zum einen verhindert die Einschrånkung auf natçrliche Rechte, daû Kompensationsleistungen an Arbeitslose unter Berufung auf Gerechtigkeitsprinzipien begrçndet werden. Insbesondere erlaubt das strikt verstandene Eigentumsrecht keine Umverteilungen, sofern nicht nachgewiesen werden kann, daû die Aneignung (oder Ûbertragung) der produktiven Ressourcen die Betroffenen schlechter gestellt hat. Selbst wenn eine minimale Kompensation an Arbeitslose geleistet werden mçûte, wåre wohl allenfalls eine finanzielle Unterstçtzung erforderlich. Ein Anspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit ist auf dieser Basis kaum zu rechtfertigen. Es wird im çbrigen auch gar nicht ersichtlich, weshalb die Beteiligung an der Erwerbsarbeit çber die materielle Versorgung hinaus wichtig sein kænnte. Gesellschaftliche Anerkennung und Beteiligung sind im Rahmen von Nozicks Theorie keine zentralen Gçter. Sie weisen weder eine deutliche Beziehung zur Integritåt der Personen auf,
Unter dieser Voraussetzung kann es nur darum gehen, allgemeine Voraussetzungen fçr beliebige Lebensplåne sicherzustellen ± vgl. Abschnitt III.5. 83 Steinvorth erkennt aufgrund seines Arbeitskonzepts Dienstleistungen nicht als vollwertige Arbeit an. Aber auch Fabrikarbeiten dçrften seinen Vorstellungen von Arbeit nicht entsprechen. 84 Vgl. dazu die Diskussion weitergehender Ansprçche an die Erwerbsarbeit in Abschnitt I.3. 82
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noch scheinen sie Bedingungen fçr die Realisierung beliebiger Lebensplåne zu sein. Damit ist allerdings nicht gesagt, daû eine Theorie individueller Rechte generell fçr das Thema unergiebig ist. Um ein Recht auf Arbeit plausibel machen zu kænnen, muû man aber die Einschrånkung fallen lassen, daû Rechte ausschlieûlich die Integritåt der Person sichern sollen. Auch die Ermæglichung eines selbstgewåhlten Lebensplanes wird sich als nicht einschlågig erweisen. Ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit ist m. E. vielmehr als Anspruch darauf anzusehen, daû basale Voraussetzungen des Wohlergehens gesichert sind. 85
4. Dworkins strikt egalitåre Theorie Dworkin geht in »What is Equality? Equality of Resources« von der ethischen Grundçberzeugung aus, daû die natçrliche Ausstattung von Personen ihre Chancen nicht beeinflussen soll. Es werden staatliche Kompensationsleistungen verlangt, um eine (mæglichst) strikte Gleichstellung aller Personen hinsichtlich der Mæglichkeit zu erreichen, ihre Lebensvorstellungen zu verwirklichen. Interessant an Dworkins Ansatz ist, daû er die Gleichstellungs-Intuition konsequent verfolgt und keine weiteren Prinzipien einfçhrt. Es wird insbesondere nicht auf die Integritåt der Personen Bezug genommen; individuelle Rechte spielen keine Rolle. Allerdings ist die hier vorgestellte Konzeption bewuût auf den ækonomischen Bereich eingeschrånkt. Persænliche Freiheiten und politische Rechte werden von Dworkin in spåteren Aufsåtzen abgehandelt. 86 Dworkins Theoriekonzept erfçllt die im ersten Abschnitt dieses Kapitels aufgestellten Bedingungen. Die gleiche Berçcksichtigung von Personen wird durch die Gleichstellungsforderung sogar sehr stark ausgelegt. Vorschriften çber die Lebenskonzepte werden nicht gemacht; im Gegenteil grçndet der theoretische Ansatz weitgehend darauf, daû die Individuen ihre eigene Lebensvorstellung verfolgen kænnen sollen.
Vgl. dazu genauer das folgende Kapitel IV. Vgl. die Teile 3 & 4 von »What is Equality?« (Dworkin 1987a & b). Einschlågig ist auch das vorausgegangene Buch »Taking Rights Seriously« (Dworkin 1977).
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Dworkin entwickelt seine normative Konzeption in zwei Schritten. In »What is Equality? Equality of Welfare« versucht er zu zeigen, daû sich Gleichheit nur auf die Ausstattung mit Ressourcen, hingegen nicht auf das Wohlergehen beziehen kann. 87 Diese Vorçberlegungen sollen hier nicht diskutiert werden; ich werde darauf in Abschnitt IV. 1 zurçckkommen. In der im folgenden zugrundegelegten Veræffentlichung will Dworkin eine plausible Interpretation der Ressourcengleichheit entwickeln. Ich werde die Konzeption in den Grundzçgen erlåutern. Dworkin setzt die intuitive normative Plausibilitåt des Prinzips der Gleichstellung voraus; eine Begrçndung wird von ihm nicht gegeben. Insbesondere versucht Dworkin, drei Probleme zu læsen, die der Idee im Wege stehen, durch die gleiche Verteilung der Ressourcen eine Gleichstellung zu erreichen. Zum einen kænnte es unangemessen sein, Gçter gleich zu verteilen, wenn die Personen unterschiedliche Pråferenzen haben: Person A hat vielleicht an Gut a kein Interesse, mæchte dafçr aber Gut b, wåhrend Person B umgekehrte Prioritåten hat. Zum zweiten kænnen Menschen besondere Ansprçche geltend machen, wenn sie mehr Ressourcen benætigen als andere, um einen vergleichbaren Lebensstandard zu erreichen: Beispielsweise mçssen chronisch Kranke oder Behinderte erhebliche Mehrkosten fçr die medizinische Versorgung auf sich nehmen. Drittens ergeben sich mæglicherweise besondere Ansprçche aus dem Aufwand, den Personen betreiben, um ihre Gçter zu vermehren. Im folgenden soll deutlich gemacht werden, auf welche Weise Dworkin diese Probleme im Rahmen seines theoretischen Ansatzes zu læsen versucht. Anschlieûend werden die praxisnahen Entsprechungen der weitgehend theoretischen Konzeption erlåutert. Als Modell wåhlt Dworkin die Situation von Schiffbrçchigen, die auf einer nicht bewohnten Insel stranden und eine gerechte Verteilung der vorgefundenen Ressourcen anstreben. 88 Da die Pråferenzen fçr die jeweiligen Ressourcen unterschiedlich sein kænnen, werden diese nicht einfach in gleiche Teile aufgeteilt. 89 Eine komplexere Aufteilung ist vonnæten. Unter diesen Umstånden ist es aber prima facie nicht mehr klar, wann eine Gleichstellung vorliegt. Als KriteriVgl. Dworkin 1981a. Vgl. Dworkin 1981b, 285. 89 Dworkin muû voraussetzen, daû den Personen ihre Interessen und Plåne bekannt sind, denn sonst kænnten sie keine Pråferenzen fçr bestimmte Gçter haben. 87 88
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um fçr Gleichheit fçhrt Dworkin die Neidfreiheit ein. Eine neidfreie Verteilung ist dadurch charakterisiert, daû niemand das Gçterbçndel einer anderen Person vorziehen wçrde. Dies kænnte erreicht werden, indem die Ressourcen solange nach einem Versuch-und-Irrtum-Verfahren aufgeteilt werden, bis alle im angegebenen Sinne keinen Neid mehr empfinden. Nach Dworkin ist damit aber noch kein befriedigender Zustand erreicht, denn es kænnten (zufållig) Bçndel geschnçrt werden, die den Wçnschen bestimmter Personen besonders entgegenkommen. Insofern kann der Fall eintreten, daû eine Person zwar nicht das Gçterbçndel einer anderen Person haben will, aber eine andere Aufteilung der Gçter vorgezogen håtte, unter der sie ein fçr ihre Plåne gçnstigeres Bçndel bekommen håtte. Um dies zu verhindern, schlågt Dworkin eine Auktion vor. Gleiche Ausgangsbedingungen werden dadurch gewåhrleistet, daû alle Personen die gleiche Menge eines symbolischen Zahlungsmittels ± z. B. Muscheln ± erhalten. Die Auktionåre kænnen Ansprçche auf bestimmte Mengen eines bestimmten Gutes anmelden. Der Auktionator schlågt solange Preise fçr jedes Teilgut vor, bis der Markt geråumt ist: Alle Gçter werden verkauft, und es gibt zum jeweiligen Preis nur einen Bieter. Die Anfangsauktion entspricht damit einem idealen Markt. 90 Man sollte beachten, daû nichtdestotrotz kontingente Faktoren in die Aufteilung eingehen: Falls jemand ein knappes Gut besonders schåtzt oder ein Gut von vielen gewçnscht wird, mçssen die Personen hohe Muschelsummen dafçr bieten. 91 Im Anschluû an die Auktion kænnen die Personen die Ressourcen prinzipiell nach Gutdçnken verwenden. Es steht ihnen insbesondere frei, ihre Gçter zu vermehren. Das Modell ist sensibel fçr Ambitionen. 92 Insofern eine Person besondere Leistungen erbringt und andere bereit sind, etwas dafçr zu zahlen, stehen ihr diese Einkçnfte prima facie zu ± schlieûlich ist es ihre Entscheidung, ob sie den Mehraufwand betreiben will oder nicht. 93 Glçck und Geschicklichkeit spielen nach der gerechten Aufteilung der Ressourcen allerdings eine groûe Rolle: Der eine hat vielleicht einen »grçnen Vgl. a. a. O., 286 ff. Auûerdem låût sich nicht ausschlieûen, daû jemand mit den vorgefundenen Ressourcen sehr unzufrieden ist. 92 Vgl. a. a. O., 311. 93 Die von Nozick aufgestellte Bedingung, daû Leistungen entlohnt werden sollten, wird in Dworkins Theorieansatz also berçcksichtigt. 90 91
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Daumen« und gçnstiges Wetter, der andere ist landwirtschaftlich unbegabt und muû eine Dçrreperiode hinnehmen. Daher wird nach einiger Zeit keine Neidfreiheit mehr vorliegen. Wåren die Begabungen der Personen gleich und wçrden keine widrigen oder gçnstigen Umstånde eintreten, wåre der Markt aber als Verteilungsmechanismus geeignet. 94 Welche der mæglichen Umstånde, die Personen besser oder schlechter stellen, mçssen ausgeglichen werden, und wie kænnte eine Kompensation aussehen? Dworkin geht zunåchst von Unglçcksfållen aus, die eine Person treffen kænnen. Es wird unterschieden zwischen selbstgewåhlten Risiken wie einem Unfall beim Bergsteigen und nicht gewåhlten Risiken wie einer Naturkatastrophe. Erstere seien kein Kompensationsgrund, letztere hingegen schon. Durch Versicherungen kænnen nicht selbst zu verantwortende Risiken in selbstgewåhlte çberfçhrt werden: Wer keine oder eine zu niedrige Versicherung abschlieût, muû die Konsequenzen tragen. Versicherungen werden in Dworkins Modell ebenfalls auf der Anfangsauktion angeboten; die Personen wenden also nach eigenem Ermessen eine bestimmte Muschelsumme dafçr auf, sich gegen Risiken abzusichern. 95 Nach Dworkin verdienen aber auch natçrliche Nachteile eine Kompensation, da die Betroffenen sie nicht zu verantworten haben. 96 Im Falle von angeborenen Behinderungen oder åhnlichen Beeintråchtigungen låût sich das vorgeschlagene Versicherungsverfahren nicht anwenden, da den Personen bereits bekannt ist, ob sie die Defizite haben. Dies macht es erforderlich, eine hypothetische Situation einzufçhren: Die Personen sollen sich vorstellen, daû sie nur die Wahrscheinlichkeit dafçr kennen, eine bestimmte Beeintråchtigung zu haben, aber nicht wissen, ob sie zu den Betroffenen zåhlen. Es wird wåhrend der Anfangsauktion gefragt, welche Versicherungspolicen gegen mægliche Beeintråchtigungen die jeweiligen Personen unter dieser Bedingung abschlieûen wçrden. Ein åhnliches Verfahren wird (theoretisch) auch fçr geringere Begabungen Vgl. a. a. O., 336 ff. Der ideale Markt ist nicht mit den von Buchanan und Nozick verteidigten faktischen Marktbeziehungen zu verwechseln. 95 Vgl. a. a. O., 293. 96 Generell unterscheidet Dworkin selbstgewåhlte und nicht gewåhlte Vor- und Nachteile. Exzentrische Geschmåcker sind daher z. B. kein Kompensationsgrund, Neurosen hingegen schon. Vgl. a. a. O., 301 f. 94
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eingefçhrt, indem den Personen das Wissen çber ihre Fåhigkeiten entzogen wird. Natçrliche Benachteiligungen werden auf diese Weise ausgeglichen. Das Modell ist daher unsensibel fçr Ausstattungen. Es fragt sich, warum Dworkin Behinderungen und åhnliche Beeintråchtigungen nicht einfach dadurch zu kompensieren sucht, daû vor der Versteigerung Ressourcen abgezweigt werden, die nætig sind, um die Personen gleichzustellen. Dies ist jedoch nach Dworkin nicht mæglich, da manche Behinderungen und Erkrankungen nicht vollståndig kompensiert werden kænnen. Man denke z. B. an unheilbar Kranke: Eine noch so hohe Gçterausstattung wird den Betroffenen nicht die Lebenschancen eræffnen, die gesunde Menschen haben. Die Kompensation so weit zu treiben wie mæglich, sei hingegen keine gerechte Læsung, da evtl. die gesamten verfçgbaren Ressourcen an die von Natur aus Benachteiligten vergeben werden mçûten. Dworkins Vorschlag stellt also keine vollståndige Gleichstellung sicher, sondern nach seiner Einschåtzung die weitestgehende vertretbare Angleichung der individuellen Mæglichkeiten, einen Lebensplan zu verfolgen. 97 Dworkin geht in seiner Theorie von einer Unterscheidung zwischen der Person und ihren Lebensumstånden aus. Zur Person gehæren ihre Wçnsche und Ambitionen, zu den Umstånden ihre Ausstattung mit Fåhigkeiten und Ressourcen. 98 Ein Problem ergibt sich daraus, daû Ambitionen und persænliche Ausstattung oft nicht klar unterschieden werden kænnen. Im Unterschied zu Behinderungen sind mangelnde Fåhigkeiten unter Umstånden auch dadurch zu erklåren, daû sich eine Person nicht hinreichend bemçht hat, ihre Begabungen zu entwickeln. In diesem Fall wåre eine Kompensation nicht angemessen. Auûerdem ist vor dem Beginn eines Leistungsaustauschs oft gar nicht klar, welche Fåhigkeiten spåter nachgefragt werden. Das hieûe dann aber, daû auch die Beeintråchtigungen durch mangelnde Begabungen nicht im vorhinein bestimmt werden kænnen. Aus diesen Grçnden nimmt Dworkin eine Revision seines Modells vor: Es werden keine (hypothetischen) Versicherungen gegen geringe Begabungen abgeschlossen, sondern solche gegen nicht erreichte Einkommenshæhen. Ausgezahlt wird die Differenz
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Vgl. a. a. O., 300. Vgl. a. a. O., 302.
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zwischen dem durch die Versicherung abgedeckten Betrag und der Einkommenshæhe, die die Person erzielen kann. 99 Da das Modell der Schiffbrçchigen nicht der Situation entspricht, in der sich Mitglieder moderner Gesellschaften befinden, mçssen politisch anwendbare Regelungen vorgeschlagen werden, die den genannten Verteilungsprinzipien nahe kommen. Zur Verteilung der Ressourcen wird von Dworkin relativ wenig gesagt. Generell sollen die faktischen Besitzverhåltnisse daraufhin geprçft werden, ob sie aus einer Anfangsauktion und den daran anschlieûenden Transaktionen håtten hervorgehen kænnen. 100 Dworkin beschåftigt sich insbesondere mit einer praktischen Umsetzung des hypothetischen Versicherungssystems. Als reale Entsprechungen fçr die Versicherungen und die (theoretisch) gewåhrleisteten Kompensationen sieht Dworkin Einkommenssteuern vor, aus denen Sozialleistungen bezahlt werden sollen. Die Hæhe der Leistungen und der Steuern bemiût sich an der hypothetischen Auktion, in der die Personen sich bereit zeigen, fçr eine bestimmte Schadensabdeckung bestimmte Muschelsummen zu investieren. Ûber die individuellen Ein- und Auszahlungen soll gemittelt werden. 101 Dworkin geht davon aus, daû die Einkommenssteuer progressiv sein wçrde, da die Personen gestufte Versicherungsbeitråge zahlen wçrden: Bei einem hæheren Einkommen seien sie bereit, einen hæheren Prozentsatz fçr eine Absicherung einzusetzen. 102 Im folgenden soll die Tragfåhigkeit des Theorieansatzes von Dworkin geprçft werden. Zunåchst will ich den normativen Ausgangspunkt problematisieren. Zweitens wird gefragt, ob eine praktische Anwendung des Modells mæglich ist. Drittens werde ich die Konzentration auf materielle Ressourcen kritisieren. (i) Nach meiner Einschåtzung ist es Dworkin gelungen, eine theoretisch recht çberzeugende Interpretation dessen zu liefern, was das Es soll die Differenz zum mæglichen und nicht zum tatsåchlichen Einkommen gezahlt werden, um einen Miûbrauch zu verhindern: Personen kænnten weniger arbeiten, als ihnen mæglich ist, und die Versicherungspråmien einkassieren. Aus demselben Grund wird eine Ko-Versicherung eingefçhrt. Die Details sind fçr die Themenstellung dieser Untersuchung nicht interessant. Vgl. dazu a. a. O., 311 ff. 100 Vgl. a. a. O., 291. 101 Vgl. a. a. O., 297 ff. 102 In der Realitåt werden die Versicherungsbeitråge nicht aus dem Muschelvorrat bezahlt, sondern aus dem Einkommen und Vermægen der Personen. 99
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Prinzip der Gleichstellung mit Bezug auf die Mæglichkeit, Lebensvorstellungen zu realisieren, bedeuten kænnte. Die Konzeption folgt relativ plausiblen Intuitionen çber die Fairneû einer Verteilung: Gleiche Startbedingungen werden dadurch geschaffen, daû natçrliche und spåter erlittene Nachteile weitgehend kompensiert werden. Wenn diese Voraussetzung erfçllt ist, erscheint es angemessen, Ambitionen zu belohnen und dadurch die eigenverantwortlichen Lebensentscheidungen der Personen zu respektieren. 103 Allerdings gibt Dworkin keine Begrçndung fçr die Gleichstellung der Personen. Es ist nicht selbstverståndlich, daû dies ethisch gefordert werden muû. Einleuchtend erscheint vielen Menschen vielleicht nur das wesentlich schwåchere Prinzip, daû die elementaren Bedçrfnisse aller Personen abgedeckt werden sollten. Insbesondere fehlt in Dworkins Theorie ein neutraler moralischer Standpunkt, der eine Abwågung von Forderungen mæglich macht. Dies ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil in »What is Equality?« die Vorstellung von einer Integritåt der Personen keinen Platz hat. Es ergibt im Rahmen des Ansatzes keinen Sinn, eine persænliche Sphåre festzulegen, die prinzipiell geschçtzt ist. Daû persænliche Ressourcen wie Fåhigkeiten und Begabungen nicht umverteilt werden, hat hier nur den technischen Grund, daû ein solcher Transfer nicht mæglich ist. Die Fragwçrdigkeit dieser Position låût sich anhand einer Textpassage verdeutlichen, in der diskutiert wird, ob nicht Anteile an der Arbeitskraft der Personen auf der Anfangsauktion versteigert werden sollten. Dworkin spricht sich dagegen aus ± aber nicht, weil dadurch die Integritåt der Personen verletzt wçrde. Dieser Punkt sei irrelevant, »¼ because it uses the idea of pre-political entitlement based on something other than equality« 104 . Vielmehr versucht Dworkin zu zeigen, daû die egalitåre Forderung, die Rolle der Ausstattung zu neutralisieren, eine solche Option verbietet: Die Begabten håtten eine geringere Chance als die weniger Begabten, einen selbstgewåhlten Lebensplan zu verfolgen, wenn sie gezwungen wåren, ihre Fåhigkeiten produktiv einzusetzen. Dies ist aber offenbar nicht der einzige (und Am Rande will ich vermerken, daû die fehlende Kompensation fçr selbstgewåhlte Risiken vielleicht nicht ganz çberzeugend ist. Sollen Personen, die bei einem riskanten Hobby verunglçcken, wirklich keine Hilfeleistungen beanspruchen dçrfen (wenn sie sich nicht privat versichert haben)? 104 A. a. O., 312. 103
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nicht einmal der entscheidende) ethische Gesichtspunkt, der hier einschlågig ist. Prinzipiell ist es mæglich, Dworkins Theorieansatz um weitere Aspekte zu ergånzen. Die Aufteilung zwischen den Lebensumstånden und der Person, die Dworkin vornimmt, fçhrt jedoch generell zu Problemen. Auch in spåteren Veræffentlichungen hålt Dworkin daran fest, daû die natçrlichen Gaben zu den åuûeren Verhåltnissen gehæren, die Ambitionen hingegen zur Person. Unter dieser Bedingung spricht nichts gegen einen Transfer von Kærperteilen, sofern dies mæglich und aus Gerechtigkeitsgrçnden erforderlich ist ± man denke z. B. an eine erzwungene Nierentransplantation. Dworkin versucht das Problem zu læsen, indem er davon ausgeht, daû bestimmte Entitåten sowohl die Identitåt der Personen mitbestimmen als auch Hilfsmittel fçr die Ausfçhrung von Plånen sind. Hierzu zåhlt er insbesondere den Kærper, der generell als unantastbar angesehen werden soll. 105 Aber diese Modifikation scheint im Hinblick auf Dworkins theoretische Ûberlegungen ad hoc zu sein. Auch inhaltlich ist der Vorschlag nicht befriedigend: Ist es z. B. plausibel, daû eine Verpflichtung zum Blutspenden unter keinen Umstånden zulåssig sein sollte? 106 (ii) Insbesondere wirft die Anwendung der Theorie Probleme auf. Nicht zufållig zieht Dworkin keine praktische Konsequenz aus dem Modell einer Anfangsauktion çber die verfçgbaren Ressourcen. Um diesem Ideal nahezukommen, mçûten radikale Umverteilungen in Angriff genommen werden. Des weiteren wird das Problem ausgeklammert, welche Folgerungen sich ergeben wçrden, wenn eine generationençbergreifende Anwendung des Modells ins Auge gefaût wird. Es ist zu beachten, daû es nicht zulåssig sein dçrfte, Besitz zu vererben oder auch nur zu verschenken, wenn dadurch die Nutznieûer erhebliche Startvorteile gegençber anderen Personen håtten. Konsequenterweise mçûte das Eigentum wieder in den gemeinsamen Fundus flieûen und neu verteilt werden, wenn eine Person stirbt. 107 Damit wåren generationençbergreifende ækonomische Projekte schlicht unmæglich. Dies håtte wahrscheinlich neben einer nicht Vgl. Dworkin 1983. Vgl. hierzu Kymlicka 1996, 130. 107 Dworkin weist darauf hin, daû er das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht erærtert. Vgl. Dworkin 1981b, 334. 105 106
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geringen Freiheitsbeschrånkung erhebliche Effizienzeinbuûen zur Folge, die zur Schlechterstellung aller Personen fçhren kænnten. Auch in dieser Hinsicht erscheint eine Abwågung zwischen konfligierenden normativen Prinzipien unvermeidlich. Im çbrigen ist nicht klar, ob die von Dworkin vorgeschlagenen realen Maûnahmen den theoretischen Erfordernissen entsprechen. Durch den Ûbergang vom Versicherungssystem zur progressiven Besteuerung mit einheitlichen Sozialleistungen geht die Idee der individuell zu verantwortenden Absicherung verloren. Generell ist nicht zu sehen, ob die komplizierten Rechnungen und hypothetischen Abwågungen, die Dworkins Ansatz erfordert, praktisch durchfçhrbar sind. Insofern liefert Dworkin eine schæne theoretische Begrçndung fçr eine Umverteilungspolitik und fçr sozialstaatliche Regelungen 108 , die aber vielleicht keine genauere Bestimmung der erforderlichen politischen Maûnahmen zulåût. (iii) Ein gravierendes Problem des Theorieansatzes sehe ich in der Beschrånkung auf materielle Ressourcen. Es scheint klar zu sein, daû Personen erheblich mehr benætigen, um hinsichtlich der Mæglichkeit, einen selbstgewåhlten Lebensplan verfolgen zu kænnen, gleichgestellt zu sein. Die Lebenschancen hången auch davon ab, daû man Fåhigkeiten entfalten kann und çberhaupt Alternativen kennt. Ob und wie diese zusåtzlichen »Gçter« eingefçhrt werden kænnen, ist fraglich. Dworkin betont zwar, daû es ihm ausschlieûlich um die ækonomische Gleichstellung geht. Politische und soziale Gleichheit werden nicht behandelt. 109 Aber es gibt mæglicherweise Forderungen, die den ækonomischen Bereich betreffen und die nicht mit der Verteilung materieller Ressourcen zusammenhången: Wer einen hochqualifizierten Beruf ausçbt, kann vielleicht seine Lebensvorstellungen eher realisieren als jemand, der eine unqualifizierte Arbeit verrichten muû. Generell ist es nicht unstrittig, daû die gerechte Verteilung der Ressourcen daran gemessen werden sollte, ob die Personen gleiche Chancen haben, selbstgewåhlte Ziele zu verwirklichen. Man kann der Meinung sein, daû statt dessen die Mæglichkeit ausschlaggebend Insbesondere zeigt sich dies im Vergleich mit den Defiziten der Nozickschen Theorie. Es wird klar, weshalb das von Nozick propagierte unbeschrånkte Eigentumsrecht nicht çberzeugend ist, ohne daû die plausiblen Aspekte seiner Theorie preisgegeben werden. 109 Vgl. a. a. O., 300 f. 108
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sein mçûte, mithilfe der Gçter ein befriedigendes Leben zu erreichen. Genau diesen Bezugspunkt will Dworkin aber ausschlieûen. Ob seine Kritik an der Orientierung am Wohlergehen plausibel ist, werde ich zu Beginn von Kapitel IV untersuchen. Wie stellt sich nun das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit in Dworkins Theorieansatz dar? Dworkin diskutiert es auf derselben Ebene wie gering entlohnte Tåtigkeiten: Sofern ein Verdienstausfall durch eine schlechte Ausstattung mit Fåhigkeiten oder widrige Umstånde bedingt ist, sind Kompensationen erforderlich. Die Personen versichern sich (generell) wåhrend der hypothetischen Auktion gegen Einkommensdifferenzen; die Hæhe der Kompensation hångt von den durchschnittlich abgeschlossenen Versicherungen ab. Es erscheint klar, daû sich Personen gegen einen vælligen Verdienstausfall besonders hoch versichern wçrden. 110 Daher wird im Falle unfreiwilliger und unverschuldeter Arbeitslosigkeit eine relativ groûzçgig bemessene Unterstçtzung das Ergebnis der Dworkinschen Theorie sein. Dworkin selbst geht davon aus, daû sie hæher liegen wçrde als die faktisch gewåhrten Sozialleistungen. Darçber hinausgehende Forderungen lassen sich aber im Rahmen des Ansatzes nicht ableiten. Insbesondere ist kein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit plausibel zu machen. Arbeitslosigkeit unterscheidet sich jedoch, wie Kapitel I dieser Untersuchung gezeigt hat, in relevanten Hinsichten von schlecht bezahlter Arbeit. Zentrale Funktionen der Erwerbsarbeit wie die Sicherstellung der gesellschaftlichen Beteiligung und Anerkennung kommen bei Dworkin nicht vor, weil er sich ausschlieûlich auf materielle Ressourcen konzentriert. Øhnlich wie in den Theorien von Buchanan und Nozick wird Arbeit als Mçhe angesehen, die man in Kauf nimmt, um sich materielle Gçter aneignen zu kænnen. Es sollte beachtet werden, daû auch die Wahl des Modells eine gewichtige Rolle spielt: Die Situation der Schiffbrçchigen ist durch gånzlich andere Ausgangsbedingungen geprågt, als sie in modernen Gesellschaften vorliegen. Die Anerkennung und die gemeinschaftliche Beteiligung dçrften nach der Landung auf einer unbewohnten Insel nicht von der Erwerbsarbeit abhångig sein. Es ist auch gar nicht absehbar, ob sich in der Folgezeit ein System der Lohnarbeit etablieren wçrde; die Aufteilung der Ressourcen kænnte dies unmæglich 110
Vgl. a. a. O., 321.
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machen. Dann wçrde sich das Problem der Arbeitslosigkeit anders darstellen, als wir es heute kennen. Dies zeigt, daû es nicht unproblematisch ist, in einer normativen Theorie von den gegenwårtigen sozio-ækonomischen Bedingungen zu abstrahieren. Dabei kænnen wichtige Informationen verlorengehen, die nicht wieder eingeholt werden, wenn die im Modell entwickelten Prinzipien auf die reale Welt çbertragen werden sollen. Man kænnte vielleicht die Position vertreten, daû die gegenwårtige Besitzverteilung nach Maûgabe der Dworkinschen Theorie so ungerecht ist, daû sich das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit nicht separat behandeln låût. Dworkin hat aus seinem Konzept aber keine derart radikalen Folgerungen gezogen, sondern (nur) eine soziale Marktwirtschaft vorgeschlagen. Die Forderung nach einer grundlegenden Umverteilung kollidiert im çbrigen mit Effizienz- und Freiheitsgesichtspunkten.
5. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie John Rawls entwirft in »Eine Theorie der Gerechtigkeit« eine umfassende normative politische Theorie. Er versteht sein Projekt als einen Versuch, wohldurchdachte ethische Ûberzeugungen zu systematisieren und ggf. zu korrigieren. Die moralischen Urteile und die theoretischen Ûberlegungen sollen in der Weise in ein »Ûberlegungsgleichgewicht« gebracht werden, daû sich normative Prinzipien, allgemeine ethische Voraussetzungen und wohlerwogene Einzelurteile wechselseitig korrigieren und sich schlieûlich eine kohårente Theorie ergibt. Sowohl die Vorstellung der Integritåt der Person als auch das Prinzip der allgemeinen Besserstellung finden in Rawls' Theorie ihren Niederschlag. 111 Rawls kommt allerdings zu dem Ergebnis, daû weitgehend egalitåre Grundsåtze das Ergebnis einer fairen Vereinbarung sein wçrden. Insbesondere versucht Rawls zu explizieren, wie eine faire Wahl von Gerechtigkeitsprinzipien aussehen kænnte. Da die Individuen in der Entscheidungssituation ihre Ausgangsposition nicht kennen, werden alle Personen gleichermaûen berçcksichtigt. Die vorgeschlagenen Verteilungsgrundsåtze beziehen sich ausschlieûlich auf allErstere drçckt sich in der Sicherung der Grundfreiheiten aus, letzteres im Differenzprinzip. Siehe dazu unten.
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Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie
gemein gebråuchliche Gçter; eine bestimmte Lebensvorstellung wird nicht vorausgesetzt. Insofern erfçllt der theoretische Ansatz von Rawls die im ersten Abschnitt des Kapitels aufgestellten normativen Grundbedingungen. Rawls hat seinen normativen Ansatz wiederholt modifiziert. Die Theorie ist allerdings inhaltlich nicht wesentlich geåndert worden. 112 Der Hauptunterschied der neueren Konzeption besteht darin, daû Rawls eine dezidiert politische Theorie entwickeln will, die stårker von umfassenden moralischen Theorien abgehoben werden soll. Die Personen sollen auch bei sonst unterschiedlichen ethischen Vorstellungen einen çbergreifenden Konsens bezçglich der politischen Gerechtigkeit erreichen kænnen. Dementsprechend werden die Kernbegriffe der Theorie politisch gedeutet. Ich werde mich hier weitgehend auf die åltere Fassung der Theorie stçtzen, die die Verteidigung konkreter Gerechtigkeitsprinzipien sowie ihre Anwendung auf politische Belange in den Mittelpunkt stellt und die daher fçr die Themenstellung interessanter ist. Auf die neueren Entwicklungen werde ich anschlieûend kurz eingehen. Rawls geht davon aus, daû es die primåre Aufgabe einer politischen Theorie ist, Gerechtigkeitsprinzipien zu begrçnden. Rawls schildert das Problem der sozialen Gerechtigkeit folgendermaûen: Eine Gesellschaft ist ein »¼ System der Zusammenarbeit, das dem Wohl seiner Teilnehmer dienen soll.« »Ein Interessenkonflikt ergibt sich daraus, daû es den Menschen nicht gleichgçltig ist, wie die durch ihre Zusammenarbeit erzeugten Gçter verteilt werden ¼«. 113 Die Gçter seien knapp, und die Menschen håtten unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie verwendet werden sollten. Es stelle sich also die Frage, welche Verteilung der Gçter (und Lasten) gerecht ist. Insbesondere die Grundstruktur der Gesellschaft, zu der Rawls die Verfassung und die wichtigsten ækonomischen und sozialen Verhåltnisse zåhlt, sei ausschlaggebend, da sie die Lebenschancen der Personen maûgeblich bestimme. 114 Es geht Rawls also vor allem darum, Prinzipien fçr eine gerechte gesellschaftliche Grundstruktur zu formulieren und zu rechtfertigen. 112 113 114
Vgl. Rawls 1993, xliii. Rawls 1975, 20. Vgl. a. a. O., 23.
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Rawls gibt zunåchst Bedingungen einer fairen Wahl von Gerechtigkeitsgrundsåtzen an. Allgemein wird Fairneû von ihm dadurch charakterisiert, daû niemand die Prinzipien auf seine natçrliche/soziale Position oder seine speziellen Vorlieben zuschneiden kænnen soll. Um dies zu gewåhrleisten, fçhrt Rawls ein theoretisches Konstrukt ein: »Die Grundsåtze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. ¼ Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehært, daû niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natçrlicher Gaben wie Intelligenz oder Kærperkraft. Ich nehme sogar an, daû die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen.« 115 Die Verteilungsprinzipien wåhlen die Personen, indem sie sich vorstellen, sie håtten keine Kenntnis ihrer Ausgangsposition. Die Entscheidungssituation muû allerdings genauer bestimmt werden, denn es ist nicht klar, worauf sich die Individuen stçtzen sollen, wenn ihnen weder ihre Wçnsche noch ihre gesellschaftliche Stellung bekannt sind. Rawls geht davon aus, daû die Personen insbesondere ein Interesse daran haben, einen selbstgewåhlten vernçnftigen Lebensplan verfolgen zu kænnen. Unter dem Schleier des Nichtwissens kennen sie zwar nicht ihren spezifischen Lebensplan, wissen aber, daû sie einen solchen haben. Um ihn zu realisieren, benætigen sie allgemeine Mittel und Voraussetzungen, die Rawls als Grundgçter bezeichnet. Er definiert Grundgçter als »Dinge, von denen man annimmt, daû sie ein vernçnftiger Mensch haben will.« Sie sind »gewæhnlich brauchbar, gleichgçltig, was jemand fçr einen vernçnftigen Lebensplan hat.« 116 Inwieweit Personen çber diese Gçter verfçgen, bestimmt wesentlich ihre Aussichten, den Lebensplan umsetzen zu kænnen. Daher mæchten sie von den Grundgçtern lieber mehr als weniger besitzen. 117 Die Verteilung einiger Grundgçter wird (direkt) durch die gesellschaftliche Grundstruktur bestimmt. Rawls nennt diese soziale Grundgçter und zåhlt dazu zunåchst »Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und A. a. O., 29; meine Hervorhebung. Die Individuen dçrfen auch kein Wissen çber die besonderen gesellschaftlichen Verhåltnisse haben, da diese den Erfordernissen der Gerechtigkeit angepaût werden sollen. (vgl. a. a. O., 160) 116 A. a. O., 83; vgl. auch 112. 117 Vgl. a. a. O., 112 & 166. 115
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Vermægen«. 118 In spåteren Abschnitten des Buches wird diese Liste noch um die (gesellschaftlichen Grundlagen der) Selbstachtung erweitert. Selbstachtung wird von Rawls generell als Grundgut angesehen, weil ohne sie nichts der Mçhe wert zu sein scheint und die Anstrengungen gelåhmt sind. In diesem Sinne låût sich sagen, daû (angemessene) Selbstachtung eine Voraussetzung dafçr darstellt, daû Personen eine wie auch immer geartete Lebensvorstellung entwikkeln und umsetzen kænnen. 119 Selbstachtung ist aber genaugenommen kein gesellschaftliches Grundgut, da sie nicht direkt von der Gesellschaft verteilt wird. 120 Daher meint Rawls wohl die sozialen Voraussetzungen fçr die Selbstachtung. Im çbrigen wissen die Personen unter dem Schleier des Nichtwissens, daû måûige Knappheit der Grundgçter und Interessenkonflikte çber ihre Verteilung vorliegen. Sie kennen zudem allgemeine gesellschaftliche, ækonomische und psychologische Sachverhalte. Es wird vorausgesetzt, daû die Individuen gegenseitig desinteressiert sind und daû sie sich fçr Prinzipien entscheiden, die in ihrem langfristigen vernçnftigen Eigeninteresse liegen. Als eine zusåtzliche Vereinfachung geht Rawls davon aus, daû die an der Wahl beteiligten Individuen unterschiedliche, wichtige soziale Gruppen repråsentieren. 121 Rawls stellt eine Liste bekannter Gerechtigkeitsprinzipien auf, zwischen denen die Personen unter dem Schleier des Nichtwissens wåhlen kænnen. 122 Er versucht plausibel zu machen, daû die Individuen das Prinzip vorziehen wçrden, die Aussichten der schlechtest gestellten Person(engruppe) zu maximieren. Dies ergebe sich daraus, daû sie kein Risiko eingehen wçrden, wenn es um elementare Voraussetzungen fçr die Realisierung der Lebensplåne gehe. Der theoretisch zu erzielende Gewinn an Grundgçtern sei ihnen nicht so A. a. O., 83. Vgl. a. a. O., 479. 120 Vgl. dazu auch Yanal 1987, 379, Fuûnote 16. Das Selbstwertgefçhl hångt im çbrigen auch von den eigenen Erwartungen und vom zufålligen Erfolg ab. 121 Vgl. Rawls 1975, 154 ff. Als formale Bedingung wird noch eingefçhrt, daû die zu wåhlenden Grundsåtze allgemein, universell anwendbar und æffentlich vertretbar sein sollen. 122 Insbesondere werden utilitaristische Grundsåtze erwogen (Gesamt- und Durchschnittsnutzenmaximierung) sowie Mischformen, in denen das Durchschnittsnutzenprinzip durch Freiheitsrechte, ein garantiertes Existenzminimum und/oder eine begrenzte Streuung der Einkommen eingeschrånkt wird. Vgl. a. a. O., 146 f. 118 119
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wichtig wie die Absicherung gegen einen gravierenden Verlust. Daher wçrden sich die Individuen mæglichst viel an Grundgçtern fçr den schlechtest mæglichen Fall sichern. 123 Die Gewåhrleistung der Grundfreiheiten habe besondere Prioritåt, weil dies die elementarste Voraussetzung fçr die Realisierung von Lebensplånen darstelle. Wichtige Freiheiten wçrden die Individuen nicht um ækonomischer Gewinne willen opfern wollen. Auch die Zugangschancen zu ausgezeichneten sozialen Positionen seien gegençber einer finanziellen Besserstellung bevorzugt zu sichern, da mit ihnen nicht nur ækonomische Vorteile, sondern auch Status, Macht sowie Selbstverwirklichungsmæglichkeiten verbunden seien. Wenn die bestmægliche Ausstattung der schlechtest gestellten repråsentativen Person gewåhrleistet werden soll, ist eine Ungleichverteilung der Grundfreiheiten und der Zugangschancen ausgeschlossen. Dies muû aber fçr die ækonomischen Grundgçter wie Einkommen und Vermægen nicht gelten: Eventuell ist es mæglich, durch Ungleichheiten eine Effizienzsteigerung zu erreichen, von der auch die Schlechtestgestellten profitieren. Die Individuen wçrden diese Mæglichkeit unter dem Schleier des Nichtwissens vorziehen: Da sie voraussetzungsgemåû gegenseitig desinteressiert sind und insbesondere keinen Neid empfinden, zåhlt nur die absolute Gçterausstattung. Hinsichtlich ihrer Einkommensaussichten wçrden die Personen das sogenannte Differenzprinzip wåhlen, das ækonomische Ungleichheiten dann und nur dann erlaubt, wenn sie der Gruppe der Schlechtestgestellten zugute kommen. 124 Im Sinne des Ûberlegungsgleichgewichts versucht Rawls plausibel zu machen, daû die genannten theoretischen Folgerungen (Prioritåt der Grundfreiheiten und der Zugangschancen, prinzipielle Gleichverteilung und Orientierung an der Ausstattung der Schlechtestgestellten) wohlerwogenen moralischen Urteilen entsprechen. Elementare Rechte wie die Gewissensfreiheit oder die Unversehrtheit der Person wçrden Menschen auch intuitiv fçr normativ Rawls folgt hier der Maximin-Regel fçr Entscheidungen unter Ungewiûheit. Man darf nicht auûer acht lassen, daû der Ausgangspunkt eine Gleichverteilung ist. Dieser gegençber sollten die Personen, wenn mæglich, besser gestellt werden. Eine Theorie vom Buchananschen Zuschnitt geht zwar auch von einer Besserstellung aus, legt aber keinesfalls eine anfångliche Gleichverteilung fest. Daher kommt sie auch zu vællig anderen Ergebnissen.
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gewichtiger halten als ein hæheres Einkommen 125 ; dasselbe gelte fçr elementare politische Rechte wie aktives und passives Wahlrecht, Rede- und Versammlungsfreiheit. Eine Beschrånkung des Zugangs zu Ømtern und sozialen Positionen wçrden die Ausgeschlossenen ebenfalls als gravierende Ungerechtigkeit empfinden. Daû die Gleichverteilung der materiellen Ressourcen den prinzipiellen Ausgangspunkt bildet, entspricht nach Rawls zum einen der moralischen Intuition, daû unverdiente natçrliche und soziale Voroder Nachteile nicht die Aussichten der Personen beeinflussen sollten. Zum anderen sei es eine verbreitete ethische Ûberzeugung, daû im Rahmen eines kooperativen Unternehmens Ungleichheiten nur gerechtfertigt sind, wenn sie allen Personen zugute kommen. 126 Die Interessen der Schlechtestgestellten seien ethisch in besonderem Maûe zu berçcksichtigen. Daû es letztlich reicht, die ækonomischen und sozialen Aussichten dieser Gruppe zu betrachten, ergibt sich aus einer empirischen Pråmisse. Rawls geht davon aus, daû eine Verkettung der sozialen Positionen vorliegt: Wenn eine Bevorzugung der besser ausgestatteten Individuen fçr die Schlechtestgestellten von Vorteil ist, wçrden auch alle dazwischenliegenden Positionen von der Ungleichheit profitieren. In der aktualisierten Fassung lauten die Gerechtigkeitsgrundsåtze, die Rawls befçrwortet: »1. Jede Person hat ein gleiches Recht auf ein vællig adåquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem entsprechenden System von Freiheiten fçr alle vereinbar ist. 2. Gesellschaftliche und ækonomische Ungleichheiten mçssen zwei Bedingungen gençgen: erstens mçssen sie mit Ømtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens mçssen sie den græûten Vorteil fçr die am wenigsten begçnstigten Mitglieder der Gesellschaft bringen.« 127 Hier werden wichtige Rechte formuliert, von denen auch Nozick ausgegangen war. Voraussetzung fçr die Prioritåt der Freiheiten ist in der Rawlsschen Theorie allerdings, daû das Existenzminimum gesichert ist. Wenn die Grundfreiheiten eingeschrånkt werden mçssen, um Katastrophen zu verhindern, bleibt es das vordringliche Ziel, die Freiheiten zukçnftig (wieder) gewåhrleisten zu kænnen. Vgl. a. a. O., 175 ff. 126 Vgl. a. a. O., 121 ff. 127 Rawls 1992, 160. In Rawls 1975, 96 ff. ist noch vom umfangreichsten System der Grundfreiheiten die Rede; dies wurde spåter aufgrund der Einwånde verschiedener Kritiker korrigiert. 125
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Der erste Grundsatz hat Vorrang vor dem zweiten: Freiheiten dçrfen nur um anderer Freiheiten willen eingeschrånkt werden, nicht um allgemeine soziale oder materielle Vorteile zu erzielen. Auch die faire Chancengleichheit darf nicht aus dem Grund eingeschrånkt werden, daû eine ækonomische Besserstellung aller Personen erreicht werden soll. Faire Chancengleichheit heiût im çbrigen, daû nicht nur ein gleiches Recht besteht, privilegierte gesellschaftliche Positionen zu erreichen, sondern daû darçber hinaus gleich begabte und motivierte Personen åhnliche Ausgangsbedingungen vorfinden sollen. Auf das Grundgut der Selbstachtung geht Rawls erst in spåteren Abschnitten von »Eine Theorie der Gerechtigkeit« explizit ein. Seiner Ansicht nach fallen die sozialen Grundlagen der Selbstachtung weitgehend mit den genannten Gerechtigkeitsprinzipien zusammen: Die Zusicherung der Grundfreiheiten, der Chancengleichheit und eines gerechten Anteils an den materiellen Gçtern sieht Rawls als æffentliche Anerkennung der Lebensplåne von Personen an. 128 Eine darçber hinausgehende Anerkennung und Schåtzung der spezifischen persænlichen Vorhaben soll in einer halbæffentlichen Sphåre von Interessengemeinschaften stattfinden. 129 Im zweiten Teil der Theorie werden die Gerechtigkeitsgrundsåtze durch in der Verfassung verankerte Grundrechte und eine Sozialgesetzgebung konkretisiert. Der Schleier des Nichtwissens wird dabei schrittweise gelçftet. Zunåchst werden allgemeinere Tatsachen çber die Gesellschaft ± wie die verfçgbaren Ressourcen und der Entwicklungsstand ± aufgedeckt, die nætig sind, um eine Verfassung zu errichten und Gesetze zu beschlieûen. Fçr spezielle politische Entscheidungen sowie die Rechtsanwendung durch Verwaltung und Justiz sind alle relevanten Tatsachen bekannt. Die Gerechtigkeitsgrundsåtze sind fçr alle Ebenen verbindlich, die Verfassung fçr die Gesetzgebung und die Gesetzgebung fçr die Entscheidung von Einzelfållen. 130 Rawls geht insbesondere davon aus, daû ein Staat mit einer freiheitlichen Verfassung und allgemeinen repråsentativen Wahlen sowie einer Wohlfahrtsækonomie den beiden Gerechtigkeitsprinzipien gençgen kann. Es werden aber auch verschiedene (insbesondere sozialistische) Alternativen zu diesem Modell erVgl. Rawls 1975, 204. Vgl. a. a. O., 481. 130 Genauer ist eine gegenseitige Korrektur zwischen Verfassung und Gesetzgebung vorgesehen. 128 129
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wogen. Zu beachten ist vor allem, daû sich die Verfassung ausschlieûlich um die Konkretisierung des ersten Grundsatzes kçmmert; die Chancengleichheit und das Differenzprinzip werden im Rahmen von spezielleren Gesetzen realisiert. 131 Fçr eine Úkonomie, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln gegrçndet ist, schlågt Rawls vier politische Rahmeninstitutionen mit spezifischen Befugnissen vor: Eine Allokationsabteilung, die fçr eine ausreichende Konkurrenz sorgt; eine Stabilisierungsabteilung, die hinreichende Vollbeschåftigung anstrebt; eine Umverteilungsabteilung, die fçr das Existenzminimum sorgt; eine Verteilungsabteilung, die die Vermægensverteilung dem Differenzprinzip annåhert. 132 Konkret ist u. a. eine Besteuerung der Vermægen, der Einkommen und/oder des Verbrauchs vorgesehen. Die genauere Ausarbeitung ist nicht Gegenstand der von Rawls durchgefçhrten theoretischen Analyse. Im dritten Teil der Theorie untersucht Rawls die Realisierungschancen und die Stabilitåt der vorgeschlagenen Konzeption. Hier geht es zum einen um die Attraktivitåt einer auf die genannten Grundsåtze aufgebauten Gesellschaft, zum anderen um die Ausbildung des notwendigen Gerechtigkeitssinns. Diese Ausfçhrungen reichen weit in die ethische, aber auch in die psychologische Theorie hinein; ich kann sie hier nicht im Detail diskutieren. Auûerdem hat Rawls Teile der Argumentation in neueren Schriften revidiert. 133 Auf die wichtigsten Modifikationen werde ich abschlieûend kurz eingehen. Insbesondere betont Rawls mittlerweile, daû seine Theorie nicht als umfassende Morallehre aufgefaût werden sollte, sondern als dezidiert politisches Konzept. Die Gerechtigkeitsgrundsåtze sollen auch dann fçr alle akzeptabel sein, wenn in sonstigen ethischen Fragen Differenzen vorliegen. Rawls stellt dazu die folgende Ûberlegung an: Umfassende Konzepte des Guten 134 mægen zwar richtig Vgl. a. a. O., 223 ff. Vg. a. a. O., 308 ff. 133 Vgl. die in Rawls 1992 gesammelten Aufsåtze und Rawls 1993 (»Political Liberalism«). Es ist zu beachten, daû starke Annahmen çber die moralische Einstellung von Personen gemacht werden mçssen, wenn die Stabilitåt einer egalitåren Gerechtigkeitskonzeption gewåhrleistet sein soll. Dies gilt auch fçr die neuere dezidiert politische Fassung der Theorie. 134 Ein Konzept des Guten wird bestimmt durch ethische Ûberzeugungen im engeren Sinne sowie durch Lebensvorstellungen und Sinnorientierungen, die eine gewisse Allgemeingçltigkeit beanspruchen. 131 132
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oder falsch sein, aber man ist im allgemeinen nicht in der Lage, diese Frage intersubjektiv zu entscheiden. Die Bçrden der Vernunft fçhren dazu, daû es in dieser Hinsicht vernçnftige Meinungsverschiedenheiten geben kann. Politische Gerechtigkeitskonzepte vermeiden die genannten Kontroversen. Insbesondere beanspruchen sie nicht, wahr zu sein, sondern sie sollen æffentlich gerechtfertigt werden kænnen. Im Mittelpunkt stehen die politischen und persænlichen Freiheiten: Diese sind insofern elementar, als es angesichts der konkurrierenden umfassenden Konzeptionen des Guten fatal wåre, wenn bestimmte Vorstellungen unterdrçckt wçrden. 135 Rawls geht davon aus, daû die Grundfreiheiten Gegenstand eines çbergreifenden Konsenses sein kænnen. Der çbergreifende Konsens ist kein Modus vivendi oder Kompromiû, sondern eine von allen geteilte, effektiv wirksame Ûberzeugung hinsichtlich der politischen Gerechtigkeit. Das Differenzprinzip ist hingegen ausdrçcklich nicht Gegenstand des çbergreifenden Konsenses, weil es zu umstritten ist. Es wird von Rawls zwar nicht aufgegeben, aber zur Disposition gestellt. Im çbrigen hat es regulativen Charakter; es gibt eine Zielvorstellung oder einen Maûstab fçr die entsprechenden konkreten Gesetze an. Rawls macht deutlich, daû die Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsåtze gegençber politischen Personen (Bçrgern) erfolgen muû, die sich gegenseitig als frei und gleich anerkennen. Die Personen haben eine Befåhigung und ein hæchstrangiges Interesse daran, zum einen ein Konzept des Guten auszubilden, zum anderen einen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln. 136 Es wird insbesondere vorausgesetzt, daû die Personen bereit sind, ihre umfassende Konzeption des Guten an die Erfordernisse der Gerechtigkeit anzupassen. Ungerechte Lebensplåne sind von vornherein ausgeschlossen. Auch die Idee der Grundgçter wird in dieser Hinsicht modifiziert: Entscheidend ist nicht mehr die allgemeine Nçtzlichkeit der Gçter fçr beliebige Lebensplåne, sondern ihre Wichtigkeit angesichts der beiden hæchstrangigen Interessen. Im Prinzip wird ein (erweitertes) Toleranzprinzip vertreten: Konzepte des Guten dçrfen nicht gewaltsam durchgesetzt werden, selbst wenn sie vernçnftig sind. Eine moderne, freiheitliche Gesellschaft ist daher notwendig pluralistisch. 136 Vgl. Rawls 1993, xxviii. Ausbildung, Entwicklung und mægliche Revision des Konzepts des Guten werden stårker betont als in Rawls 1975. An ihrem inhaltlich bestimmten Lebensplan haben die Personen (nur) ein hæherrangiges Interesse. 135
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Was ist von Rawls' normativem Vorschlag zu halten? Ich werde im folgenden zunåchst auf die normativen Voraussetzungen und Implikationen der Theorie eingehen, anschlieûend die Grundgçter-Konzeption problematisieren und drittens den ausschlieûlichen Bezug auf selbstgewåhlte Lebensplåne kritisieren. (i) Rawls geht von derselben Vorstellung aus, die auch ein Resultat meiner bisherigen Diskussion differierender normativer Ansåtze war: Es gibt konfligierende ethische Ûberzeugungen, die gegeneinander gewichtet und systematisch verbunden werden mçssen. Um eine solche Abwågung durchfçhren zu kænnen, ist es erforderlich, einen fairen Standpunkt zu formulieren. Man wçrde erwarten, daû der »Schleier des Nichtwissens« Bedingungen einer fairen Wahl angeben soll. Offenbar sind die allgemeinen Voraussetzungen, die ausschlieûen sollen, daû die Individuen die gewåhlten Grundsåtze auf ihre Verhåltnisse und Vorlieben zuschneiden kænnen, entsprechend zu verstehen. Rawls fçhrt jedoch darçber hinaus spezielle Pråmissen ein, die die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsåtze weitgehend festlegen. Insbesondere zu nennen sind die Prioritåt des Lebensplans, die Risikoscheu und die Neidfreiheit: Aus diesen Voraussetzungen folgt (mehr oder weniger unmittelbar) Rawls' weitgehend egalitåre normative Theorie. Der »Schleier« hat also keine zusåtzliche begrçndende Funktion, sondern er dient vor allem der Systematisierung. 137 Im Sinne von Rawls folgt er dem Prinzip des Ûberlegungsgleichgewichts: Auf der einen Seite stehen konkrete moralische Ûberzeugungen, auf der anderen plausible Bedingungen einer fairen Wahl; die Urteile und/oder die allgemeinen ethischen Voraussetzungen werden so lange modifiziert, bis sich eine kohårente Theorie ergibt. Es ist unter dieser Bedingung hæchst fragwçrdig, ob die Rawlssche Theorie epochen- und gesellschaftsunabhångige Gçltigkeit beanspruchen kann. Da Rawls sich mittlerweile explizit darauf beschrånkt, eine Systematisierung westlicher moderner Gerechtigkeitsçberzeugungen leisten zu wollen, ist dieser Einwand nicht (mehr) einschlågig. Fraglich erscheint aber auch, ob die von Rawls vertretenen egalitåren Prinzipien in diesem begrenzten Anwendungsbereich allgemeine Zustimmung finden kænnen. Schon die Rawls gesteht explizit ein, »¼ daû es zu jeder herkæmmlichen Gerechtigkeitsvorstellung eine Konkretisierung des Urzustands gibt, die deren Grundsåtze als bevorzugte Læsung hat«. (Rawls 1975, 143)
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Theorien von Buchanan und Nozick, die oben diskutiert wurden, deuten eher nicht darauf hin. Nicht zufållig hat Rawls in den neueren Veræffentlichungen das Differenzprinzip nicht zum Gegenstand eines çbergreifenden Konsenses erklårt. Die Gleichheit der individuellen und politischen Rechte vermag vermutlich eher zu çberzeugen als die Gleichverteilung von Einkommen und Vermægen, von der das Differenzprinzip ausgeht. Aber auch die politischen Forderungen gehen çber eine Rechtsgleichheit hinaus, denn es wird eine weitgehende Gleichstellung hinsichtlich der politischen Einfluûmæglichkeiten angestrebt: »¼ all citizens must be assured the all-purpose means for them to take intelligent and effective advantage of their basic liberties. In the absence of this condition those with wealth and income tend to dominate those with less and increasingly to control political power in their own favor.« 138 Rawls hat das Differenzprinzip jedoch nicht revidiert; daher soll es im folgenden geprçft werden. Die intuitive Plausibilisierung der Gleichverteilung, die den Bezugspunkt fçr die allgemeine Besserstellung bildet, greift zum einen darauf zurçck, daû die Gesellschaft als kooperatives Unternehmen aufgefaût wird. Das ist allerdings fçr den ækonomischen Bereich nicht selbstverståndlich; man kænnte genausogut sagen, in einer Privatwirtschaft suche jeder seinen eigenen Vorteil. 139 Eine zweite intuitive Begrçndung beruft sich darauf, daû Benachteiligungen ausgeglichen werden sollen. Unter dieser Perspektive ist es aber hæchst problematisch, die Honorierung besonderer Leistungen nur dann zuzulassen, wenn dies den Schlechtestgestellten zugute kommt: Ungleichheiten kænnen nicht nur aus Benachteiligungen, sondern auch aus selbst zu verantwortenden Entscheidungen hervorgehen. Es muû eine Mæglichkeit geben, einen hohen Aufwand anders zu entlohnen als einen niedrigen; ansonsten werden Personen, die weniger leisten wollen, von anderen subventioniert. 140 Rawls 1993, lix. Nozick weist auûerdem darauf hin, daû allenfalls eine Verteilung des durch die Kooperation erzielten Mehrgewinns, nicht aber des gesamten Sozialprodukts zur Debatte steht. 140 Vgl. Kymlicka 1996, 79 ff. Dworkin hat mit seinem ambitionensensitiven, aber ausstattungsinsensitiven Modell eine Alternative zu Rawls aufgezeigt. Daû Rawls den genannten Punkt çbersieht, liegt wohl auch daran, daû er die anfangs noch erwåhnten gesellschaftlichen Lasten im Zuge der Ausarbeitung seiner Theorie unterschlågt: Spåter ist nur noch von Grundgçtern die Rede. 138 139
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Mit dem Differenzprinzip sind eine ganze Reihe weiterer Probleme verbunden, auf die ich hier nicht nåher eingehen kann. Zum einen gibt es mehrere mægliche Deutungen des Grundsatzes. Zum zweiten ist die Unterstellung der Verkettung sozialer Positionen empirisch fragwçrdig. Drittens ist es schwierig, die Gruppe der ækonomisch und sozial schlechtest gestellten Personen auszumachen. Rawls benutzt das Einkommen als Indikator; das ist aber sicher eine zu starke Vereinfachung. Im çbrigen folgt das Differenzprinzip, wenn vom Schleier des Nichtwissens ausgegangen wird, nur unter hæchst problematischen Annahmen. Es muû insbesondere vorausgesetzt werden, daû die Individuen extrem risikoavers sind und daû sie eine eigenwillige individuelle Nutzenfunktion haben: Jeder mægliche Gewinn oberhalb des durch das Maximin-Prinzip garantierten Einkommens muû ihnen nahezu gleichgçltig sein. Selbst wenn es nicht relevante mægliche Einkommenssteigerungen geben sollte, ist aber nicht klar, daû sie gerade an diesem Punkt beginnen wçrden. 141 (ii) Die von Rawls entwickelte Gerechtigkeitstheorie stçtzt sich wesentlich auf das Konzept der Grundgçter. Ein Problem des Vorschlags besteht darin, daû er auf die sogenannten gesellschaftlichen Grundgçter beschrånkt ist. Es gibt aber weitere wichtige Voraussetzungen und Mittel fçr die Realisierung selbstgewåhlter Lebensplåne. Rawls benennt selbst »Gesundheit und Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie« 142 , die jedoch in seiner Theorie keine Rolle spielen. Es ist zwar richtig, daû diese Grundgçter nicht direkt durch die Gesellschaft vergeben werden; aber z. B. werden Phantasie und Intelligenz je nach den sozialen Umstånden unterschiedlich entwickelt. Auch die Gesundheit hångt von sozialen Bedingungen ab. Es ist unplausibel, daû solche Grundgçter in einer normativen politischen Theorie nicht zu berçcksichtigen sind. Insbesondere gilt das im Rahmen einer weitgehend egalitåren Theorie, die sogar fordert, daû soziale und natçrliche Begçnstigungen die Lebenschancen nicht beeinflussen sollen. Rawls folgt dem fragwçrdigen Prinzip, daû soziale Nachteile kompensiert werden, natçrliche Benachteiligungen hingegen fçr die Verteilung lediglich indifferent sein sollen. Es ist allerdings nicht Zu den Deutungen und Problemen des Differenzprinzips vgl. genauer Koller 1987, 109 ff. 142 Rawls 1975, 83. 141
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unmæglich, die Rawlssche Theorie in dieser Hinsicht zu modifizieren. Dworkins Vorschlag zur Kompensation natçrlicher Ungleichheiten ist in dieser Hinsicht eine wertvolle Ergånzung. 143 Auch die von Rawls vorgeschlagene generelle Gewichtung der Grundgçter ist problematisch. Unterschiedliche Lebensplåne kænnten einzelne Grundgçter in unterschiedlichem Maûe erfordern. 144 Insbesondere dçrfte es nicht richtig sein, daû unter keinen Umstånden Freiheitsbeschrånkungen in Kauf genommen werden wçrden, um ækonomische oder soziale Vorteile zu erlangen. Rawls selbst hat, wie oben deutlich wurde, in neueren Arbeiten auf diese Kritik reagiert, indem er den Bezugspunkt seiner Theorie modifiziert. Insbesondere wird davon ausgegangen, daû die Personen ein hæchstrangiges Interesse daran haben, eine umfassende Konzeption des Guten zu entwickeln und zu verfolgen, die mit den Gerechtigkeitsprinzipien nicht in Konflikt geråt. Vielleicht låût sich auf diese Weise der Vorrang der Grundfreiheiten plausibel machen; auf der anderen Seite wird dann aber davon ausgegangen, daû die Personen ein bestimmtes Selbstbild haben. Rawls setzt dies zwar nur fçr die (idealisierte) politische Person voraus: Die Personen sollen so angesehen werden, als ob sie ein hæchstrangiges Interesse an der Ausbildung eines Konzepts des Guten håtten. Aber wie låût sich diese Festlegung begrçnden, wenn es nicht auch ein entsprechendes Interesse tatsåchlicher Personen gibt? (iii) Aus der Prioritåt des Lebenskonzepts ergibt sich insbesondere, daû das Wohlergehen in der Rawlsschen Theorie hæchstens eine mittelbare Rolle spielt, sofern es die Ausfçhrung von Lebensplånen beeinflussen kann. Das erscheint jedoch als systematische Unterbestimmung angesichts der Tatsache, daû Personen ihr Wohlergehen eminent wichtig nehmen. Immerhin fçhrt Rawls einen Aspekt explizit ein, der das Wohlergehen mitbestimmt: die Selbstachtung. Das Vgl. dazu Kymlicka 1996, 76 ff. Rawls klammert diese Probleme im çbrigen aus. Er geht von Personen aus, deren Fåhigkeiten normal entwickelt sind. Da er sich auf ækonomische Gruppen statt auf Einzelpersonen bezieht, werden Behinderungen und sonstige spezifische Kompensationsgrçnde nicht in den Blick genommen. (vgl. Rawls 1975, 118) 144 Dworkin hat, wie im letzten Abschnitt deutlich wurde, eine Mæglichkeit aufgezeigt, wie eine komplexe Verteilung aussehen kænnte. Diese bezieht sich aber nur auf materielle Ressourcen. Rawls kann eine solche Idee schon deshalb nicht in Betracht ziehen, weil die Akteure nicht Gçterverteilungen, sondern Grundsåtze wåhlen, denen die Grundstruktur gençgen soll. 143
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Selbstwertgefçhl wird aber so eng an die Realisierung von Lebensplånen gebunden, daû sich keine weitergehenden Forderungen ergeben. Im çbrigen wird die Selbstachtung in dem Sinne verstanden, daû sie sich auf bereits formulierte berechtigte Erwartungen bezieht: Die Personen sind gekrånkt, wenn ihre Rechte verletzt oder berechtigte Ansprçche nicht erfçllt werden. 145 Die Selbstachtung hat im Rahmen der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie folglich kein eigenståndiges Gewicht. Die Beschrånkung auf selbstgewåhlte Lebenskonzepte legt es auûerdem nahe, daû soziale Vergleiche in der Theorie keine Rolle spielen. Wenn eine Person ausschlieûlich an der Entwicklung und Realisierung eines eigenen Lebensplans interessiert ist, sollte es sie nicht kçmmern, wieviel die anderen haben ± schlieûlich wird ihre Mæglichkeit, selbstgesetzte Ziele zu verfolgen, davon nicht berçhrt. Das scheint mir der tieferliegende Grund fçr das Postulat der Neidfreiheit zu sein. Rawls begrçndet das Prinzip folgendermaûen: Falls der Neid eine ausschlaggebende Rolle spielt, dçrften die Individuen keine Abweichung von der Gleichverteilung zulassen. Dies sei irrational, da sich dadurch mæglicherweise alle Beteiligten schlechter stellen wçrden, als sie es kænnten. Das Argument ist allerdings nur unter der Voraussetzung plausibel, daû die Besser- oder Schlechterstellung ausschlieûlich in absoluten Auszahlungen gemessen wird. Im çbrigen fehlt eine Unterscheidung zwischen dem berechtigten Gefçhl, zurçckgesetzt zu sein, und einem ungerechtfertigten Neid. Rawls gesteht zwar zu, daû es gravierende relative Unterschiede geben kann, die nicht ertråglich seien. Das Differenzprinzip schlæsse diese Mæglichkeit aber aus. 146 Dies ist eine fragwçrdige empirische Behauptung, denn prinzipiell kann das Differenzprinzip beliebige Streuungen zulassen, sofern nur die Schlechtestgestellten absolut besser gestellt sind und nicht noch besser gestellt werden kænnen. Gerade angesichts der Tatsache, daû dem Differenzprinzip nur eine regulative Funktion zukommt, erscheint es im çbrigen problematisch, daû Rawls eine grundrechtliche Absicherung ausschlieûlich fçr die individuellen und politischen Freiheiten fordert. Es wåre als Schutz gegen eine mægliche ungerechte Gesetzgebung zumindest sehr naheliegend, elementare soziale und ækonomische Rechte in Rawls schwankt anscheinend, ob er Selbstachtung als ethisches oder als psychologisches Konzept einfçhren soll ± vgl. dazu die Unterscheidung in Abschnitt II.3. 146 Vg. a. a. O., 176ff. & 582. 145
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der Verfassung zu verankern. Insbesondere kænnten hierzu ein Recht auf die Sicherung des Existenzminimums 147, ein Recht auf medizinische Grundversorgung, aber vielleicht auch ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit gehæren. Es stellt sich die Frage, welche Rolle das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit im Rahmen der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie spielt oder spielen kænnte. Zunåchst soll untersucht werden, was Rawls selbst zu diesem Problem sagt. Anschlieûend diskutiere ich zwei mægliche Anknçpfungspunkte fçr (weitergehende) Forderungen ± das Differenzprinzip und die Selbstachtung. Rawls benennt in »Eine Theorie der Gerechtigkeit« Vollbeschåftigung als politisches Ziel, ohne eigentlich zu begrçnden, weshalb diese anzustreben sein sollte. Ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit faût er nicht ins Auge. Gefordert werden hingegen Zahlungen im Falle der Arbeitslosigkeit und insbesondere die Sicherung des Existenzminimums. 148 Diese Forderungen ergeben sich aus dem Differenzprinzip. Allerdings sieht Rawls Arbeitslosigkeit individuell und gesellschaftlich als einen vorçbergehenden Zustand an; seine Vorschlåge folgen vor allem einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, die von der Mæglichkeit ausgeht, durch eine Erhæhung der Nachfrage Vollbeschåftigung herzustellen. 149 Rawls fçhrt als schlechtest gestellte soziale Gruppe die ungelernten Arbeiter ein. Das ist generell fragwçrdig und angesichts der heutigen Situation noch weniger selbstverståndlich. Wenn wir nun annehmen, daû die Erwerbsarbeitslosen (mit) zu den Schlechtestgestellten gehæren, wåre es nach dem Differenzprinzip erforderlich, ihre finanzielle Ausstattung soweit wie mæglich zu verbessern. Unterstçtzungsleistungen reichen mæglicherweise nicht aus: Falls eine hohe Arbeitslosigkeit prinzipiell zu einem geringen Einkommen der Betroffenen fçhrt, kænnte es geboten erscheinen, groûe Anstrengungen zur Reduzierung der Arbeitslosenquote zu unternehmen. Es Rawls spricht zwar von der Sicherung des Existenzminimums, setzt dieses aber mit dem durch das Differenzprinzip minimal garantierten Einkommen gleich. 148 Vgl. a. a. O., 309 f. 149 Entsprechend legt Martin 1985, 175 ff. die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie aus. Er macht im çbrigen darauf aufmerksam, daû Rawls' Betonung der gesellschaftlichen Kooperation fçr diejenigen, die aufgrund ernsthafter Beeintråchtigungen nicht arbeiten kænnen, Probleme aufwirft: Inwieweit kænnen sie einen Anspruch auf Teile des Sozialprodukts geltend machen, wenn sie an der Kooperation gar nicht beteiligt sind? 147
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Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie
kænnte sich aber auch herausstellen, daû die gegenwårtig Arbeitslosen in einem System mit weitgehenden Beschåftigungsmaûnahmen finanziell (absolut) schlechter ausgestattet wåren. Unter dieser Pråmisse wåre ein ækonomisches System mit Arbeitslosigkeit vorzuziehen, denn im Rahmen der Rawlsschen Theorie gibt es keine Mæglichkeit, der relativen finanziellen Schlechterstellung ein eigenes Gewicht zu verleihen. Im çbrigen steht und fållt die Begrçndung fçr Maûnahmen zur Erhæhung der Beschåftigung, wenn sie auf diesem Wege durchgefçhrt werden kænnte, mit dem Differenzprinzip, das angesichts der obigen Kritik fragwçrdig erscheint. Mæglicherweise låût sich aber die Forderung nach einer Arbeitsgarantie begrçnden, wenn man auf die sozialen Grundlagen der Selbstachtung Bezug nimmt? Tatsåchlich ist in »Political Liberalism« folgende Bemerkung zu finden: »Lacking ¼ the opportunity for meaningful work and occupation is not only destructive of citizens' self-respect but of their sense that they are members of society and not simply caught in it.« 150 Rawls wçrde also meiner Diagnose zustimmen, daû die Beteiligung an der Erwerbsarbeit eine basale gesellschaftliche Voraussetzung fçr die Selbstachtung darstellt. Darçber hinaus wird sogar der Aspekt der gesellschaftlichen Beteiligung angesprochen. Es kænnte sein, daû Rawls seine konkreten Vorschlåge zur Gestaltung der ækonomischen und sozialen Verhåltnisse angesichts der heutigen Massenarbeitslosigkeit veråndern wçrde. 151 Andererseits sollte nicht çbersehen werden, daû es eine erhebliche Spannung zwischen der Explikation der Selbstachtung in »Eine Theorie der Gerechtigkeit« und der zitierten Bemerkung gibt. Nach Rawls wird das Selbstwertgefçhl çber einen selbstgewåhlten Lebensplan erworben, und die gesellschaftlichen Bedingungen der Selbstachtung beschrånken sich auf die gerechte Verteilung der anderen Grundgçter. Daher kænnen aus dem kontingenten Faktum, daû Personen die Erwerbsarbeit wichtig nehmen, im Rahmen der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie eigentlich keine zusåtzlichen Ansprçche erwachsen. Wenn Arbeitslose einen gerechten Anteil an den sonstigen Grundgçtern zugestanden bekommen, sind nach Rawls die gesellschaftlichen Bedingungen fçr die Selbstachtung erfçllt. Die Betroffenen mçûten ggf. ihren Lebensplan modifizieren, indem sie sich Rawls 1993, lix. Eine inhaltliche Modifikation ist allerdings nicht Gegenstand von »Political Liberalism«.
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Normative politische Theorien und das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit
stårker auf Bereiche auûerhalb der Erwerbsarbeit konzentrieren. Welche Rolle die gesellschaftliche Beteiligung in der Rawlsschen Theorie spielen soll, ist noch weniger ersichtlich. Ein Grundgut in Rawls' Sinne kann sie nicht sein, denn eine Voraussetzung fçr beliebige Lebensplåne oder fçr die hæchstrangigen Interessen stellt sie nicht dar. Ich gehe davon aus, daû die Rawlssche Theorie nur dann einen interessanten Anknçpfungspunkt fçr die normative Diskussion des Problems der Erwerbsarbeitslosigkeit abgeben kann, wenn sie in mehreren Hinsichten erheblich modifiziert wird. Wie im ersten Kapitel dieser Untersuchung gezeigt wurde, erklårt sich die Bedeutung der Erwerbsarbeit insbesondere daraus, daû Arbeitslose in eine marginale soziale Position geraten und vor allem deshalb eine erhebliche Beeintråchtigung des Wohlergehens erleiden. Daû Rawls dem Wohlbefinden und den sozialen Vergleichen kein eigenståndiges normatives Gewicht einråumt, steht m. E. einer adåquaten Behandlung der Problematik der Arbeitslosigkeit im Wege. Nicht zuletzt muû noch einmal genau geprçft werden, welche Prinzipien in einer fairen Ausgangssituation gewåhlt werden wçrden. Die egalitåren Voraussetzungen, von denen Rawls ausgeht, werden vermutlich nicht allgemein geteilt. Es kænnte sich aber auch herausstellen, daû diese Pråmissen gar nicht notwendig sind, um ein Recht auf eine Beteiligung an der Erwerbsarbeit ± und einen Anspruch auf ein akzeptables Mindesteinkommen ± rechtfertigen zu kænnen.
6. Arbeitslosigkeit im »toten Winkel« Zum Abschluû dieses Kapitels mæchte ich ein kurzes Fazit ziehen. Es hat sich gezeigt, daû das Problem der Arbeitslosigkeit und Forderungen zugunsten der Erwerbsarbeitslosen in den untersuchten normativen politischen Theorien kaum eine Rolle spielen. Zum einen sind sicherlich zeitgebundene Faktoren fçr dieses Defizit verantwortlich. Rawls diskutiert Arbeitslosigkeit u. a. deshalb nur am Rande, weil zur Entstehungszeit seiner Gerechtigkeitstheorie Vollbeschåftigung erreichbar schien. Zum anderen gibt es ideologische Grçnde, die Problematik auûer acht zu lassen. Nozick konzentriert sich einseitig auf Abwehrrechte und insbesondere auf ein starkes Eigentumsrecht. 132
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Buchanan erklårt den Status quo fçr legitim und geht davon aus, daû zweiseitige Vertråge immer eine Besserstellung aller Beteiligten bewirken. Beide Theoretiker wollen damit die bestehenden Besitzverhåltnisse und eine weitgehend uneingeschrånkte Marktwirtschaft rechtfertigen. Ein staatlich garantierter Anspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit wåre unter diesen Bedingungen nicht zulåssig. Es lieû sich aber nachweisen, daû die Folgerungen nicht einmal theorieintern çberzeugend sind. Das Defizit der Theorien ist jedoch nicht nur als zeitgebunden oder ideologisch abzutun, sondern es gibt auch systematische Grçnde dafçr, daû Arbeitslosigkeit in den untersuchten Ansåtzen kaum diskutiert wird. Eines der Hauptprobleme ist darin zu sehen, daû fast ausschlieûlich materielle Ressourcen und persænliche Freiheiten Gegenstand der normativen Ûberlegungen sind. Die Bedeutung der Erwerbsarbeit erklårt sich aber vor allem dadurch, daû sie die soziale Anerkennung und die gesellschaftliche Beteiligung sichert. Eine Berçcksichtigung dieser Gçter ist vermutlich nur zu erreichen, wenn der Aspekt des Wohlergehens in einer normativen politischen Theorie ein eigenståndiges Gewicht erhålt. Im folgenden soll noch einmal zusammenfassend auf Defizite der untersuchten normativen Theorien eingegangen werden, die eine adåquate Behandlung des Problems der Erwerbsarbeitslosigkeit erschweren. Buchanan diskutiert fast ausschlieûlich die Verteilung von (Verfçgungsrechten çber) produktive Ressourcen. Diese Einschrånkung ist weder zwingend noch plausibel. Wenn die relevanten Gçter ausgeweitet werden, rçckt Arbeitslosigkeit nicht nur aufgrund der Tatsache ins Blickfeld, daû die Arbeitslosen finanziell schlechter gestellt sein kænnen. Allerdings ist es auch dann keinesfalls garantiert, daû ein staatliches Eingreifen zugunsten der Erwerbsarbeitslosen legitim wåre. Im Rahmen einer strikten Vertragstheorie hångt dies von den Neuverhandlungserwartungen ab, die fçr die Gruppe der Arbeitslosen so schlecht sein kænnten, daû es sich fçr sie trotz allem lohnen wçrde, sich mit einer Grundversorgung zufriedenzugeben. Je nach der im Rahmen einer Neuverhandlung zu erwartenden Verteilung kann der gegenwårtige soziale Friede effizient sein oder auch nicht. Eine konservative Lesart wird den Status quo (fast) immer fçr effizient halten, eine revolutionåre (fast) nie. Das Problem ist, daû die nætigen Einschåtzungen extrem vage sind. Es sind verschiedene prima facie plausible Szenarien denkbar. Diese SchwierigErwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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Normative politische Theorien und das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit
keit verschårft sich noch, wenn zusåtzliche Gçter eingefçhrt werden, deren Berechnung und Gewichtung ebenfalls unklar ist. Nozick vertritt eine normative politische Theorie, die auf den ersten Blick keinen Spielraum fçr ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit låût. Ein weitgehend unbeschrånktes und unwiderrufliches Eigentumsrecht çberlåût es den Besitzenden, ihr Geld beliebig einzusetzen ± also auch Arbeitsplåtze nach eigenem Gusto zu vergeben. Allerdings muû gefragt werden, woher Nozick die starken Rechte nimmt. Eine plausible Theorie individueller Rechte kann diese nicht einfach aus dem Hut zaubern, sondern sie muû eine Begrçndung anfçhren. Die Argumentation wird naheliegenderweise auf die Wichtigkeit der zu schçtzenden Gçter oder Handlungsspielråume verweisen. Dann ist es aber keineswegs selbstverståndlich, daû ein starkes Eigentumsrecht jede andere Art von Ansprçchen aussticht. Es muû diskutiert werden, ob neben den Abwehrrechten auch Anspruchsrechte und insbesondere soziale Rechte einzufçhren sind. Zu den letzteren kænnte eine Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit zåhlen. Dieser Anspruch låût sich aber m. E. nur plausibel machen, wenn nicht nur die persænliche Integritåt oder das Interesse der Personen zåhlt, einen eigenen Lebensplan zu verfolgen. Dworkin diskutiert im hier zugrunde gelegten Aufsatz ausschlieûlich die Verteilung materieller Ressourcen. Unfreiwillig und unverschuldet Arbeitslose haben einen Anspruch auf Kompensationsleistungen, da sie aufgrund widriger Umstånde oder natçrlicher/sozialer Benachteiligungen schlechter gestellt sind. Weitere Forderungen sind hingegen auch im Rahmen dieses Ansatzes nicht abzuleiten. Die Erwerbsarbeit dient ausschlieûlich dazu, sich erwçnschte materielle Gçter anzueignen. Diese eingeschrånkte Sichtweise ist angesichts der im ersten Kapitel durchgefçhrten Untersuchung nicht adåquat. Rawls kann man vielleicht nicht ohne weiteres den Vorwurf machen, daû er die relevanten Gçter unzulåssig einschrånkt ± immerhin wird die Selbstachtung als Grundgut eingefçhrt. Aber Rawls geht davon aus, daû die Individuen ein positives Selbstwertgefçhl auch durch Aktivitåten gewinnen kænnen, die im Freizeitbereich angesiedelt sind. Die nætige Anerkennung durch andere Personen wird weitgehend in den Zuståndigkeitsbereich von Interessengemeinschaften verlagert. Als soziale Grundlagen der Selbstachtung zåhlen ausschlieûlich Rechte, Chancen und ein durch das Differenzprinzip garantiertes Mindesteinkommen. Rawls håtte Schwierigkeiten, wei134
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tergehende soziale Bedingungen fçr die Selbstachtung in seine Theorie einzufçhren oder gar die gesellschaftliche Anerkennung und die soziale Beteiligung als Grundgçter auszuzeichnen. Insbesondere spielt die auf verschiedenen Dimensionen auszumachende relative Schlechterstellung der Arbeitslosen keine Rolle, da im Rahmen der Theorie soziale Vergleiche nicht zugelassen sind. Dies erklårt sich weitgehend aus dem Faktum, daû Rawls ausschlieûlich die Entwicklung und Realisierung von Lebensplånen (bzw. Konzeptionen des Guten) fçr wichtig befindet. Im çbrigen hat die Diskussion der normativen Ansåtze gezeigt, daû die normative Basis von reinen Vertragstheorien zu dçnn ist, um akzeptabel zu erscheinen, wåhrend (strikt) egalitåre Prinzipien mæglicherweise nicht allgemein geteilt werden. Egalitåre Theorien sollen nicht abgewertet werden; es gibt keinen zwingenden Grund, sie nicht zu vertreten. Es ist aber davon auszugehen, daû die Begrçndung eines Rechts auf Arbeit nicht auf die mehr oder weniger strikte Gleichstellung aller Personen angewiesen ist. Die schwåchere Forderung, den Individuen elementare Mindestansprçche zuzusichern, kænnte fçr diesen Zweck ausreichen. Im folgenden Kapitel soll diese Vermutung geprçft werden.
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IV. Begrçndung des Rechts auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit
Im vorangegangenen Kapitel ist deutlich geworden, welche Aufgaben zu læsen sind, um einen Rechtsanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit plausibel begrçnden zu kænnen. Ich werde in Abschnitt 1 dieses Kapitels nachzuweisen versuchen, daû das Interesse daran, einen selbstgewåhlten Lebensplan realisieren zu kænnen, nicht das einzige ethisch wichtige Bedçrfnis von Personen darstellt. Da im Falle einer dauerhaften Arbeitslosigkeit insbesondere das Wohlergehen erheblich beeintråchtigt wird, muû geprçft werden, welche Relevanz das Wohlbefinden in einer normativen politischen Theorie haben mçûte. Im zweiten Abschnitt werde ich einen normativen Standpunkt formulieren, der m. E. weitgehend Zustimmung finden kann. Ich werde dabei vom Rawlsschen »Schleier des Nichtwissens« ausgehen, der mir im Prinzip eine brauchbare Explikation einer fairen Ausgangssituation zu sein scheint. Allerdings will ich die Idee dahingehend abschwåchen, daû kein Entscheidungsverfahren etabliert werden soll, sondern nur eine Plausibilisierung ethischer Prinzipien angestrebt wird. Zweitens sollen die kontroversen egalitåren Folgerungen vermieden werden. Ich versuche statt dessen deutlich zu machen, daû unter fairen Bedingungen eine Absicherung gegen elementare Ûbel eine hohe Prioritåt hat. In dieser Hinsicht ist auch eine Sicherung elementarer Voraussetzungen des Wohlergehens als wichtig auszuweisen. Ein besonderes Augenmerk werde ich dabei auf das Bedçrfnis richten, eine (relativ gesehen) akzeptable gesellschaftliche Stellung einzunehmen, da die negativen Auswirkungen der Erwerbsarbeitslosigkeit wesentlich dadurch zu erklåren sind, daû die Betroffenen in eine marginale soziale Position geraten. Es wird insbesondere zu diskutieren sein, unter welchen Bedingungen soziale Vergleiche in einer normativen politischen Theorie relevant sind. Ein prima-facie-Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit ergibt sich, wie in Abschnitt 3 gezeigt werden soll, als Anwendung der zuvor angestellten theoretischen Ûberlegungen auf moderne west136
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liche Gesellschaften. Um diesen Rechtsanspruch effektiv vertreten zu kænnen, mçssen allerdings einige weitere Komplikationen aus dem Weg geråumt werden. Zum einen sind Standardeinwånde zu entkråften, die ein Recht auf Arbeit fçr unerfçllbar, kontraproduktiv oder generell nicht vertretbar erklåren. Zum zweiten muû untersucht werden, ob es konfligierende Ansprçche gibt, die gewichtiger sind und die im Falle einer Realisierung des Rechtsanspruchs verletzt wçrden. Ich werde in diesem Abschnitt nur hypothetische Abwågungen vornehmen, da eine Konkretisierung des Rechts auf Arbeit erst im fçnften Kapitel erfolgen soll. Hier wird es zunåchst darum gehen, Rahmenbedingungen fçr zulåssige politische und rechtliche Maûnahmen zu bestimmen, die das Ziel verfolgen, allen Personen eine Teilnahme an der Erwerbsarbeit zu ermæglichen. Es deutet sich an, daû es hilfreich wåre, çber eine ausgearbeitete normative Theorie zu verfçgen, die meinen Intuitionen entgegenkommt. Natçrlich ist es im Rahmen dieser Untersuchung bestenfalls mæglich, einen solchen Theorieansatz zu skizzieren. Eine genauere Ausarbeitung ist aber angesichts des speziellen Problems der Erwerbsarbeitslosigkeit auch nicht nætig. Die detaillierte Begrçndung und Erlåuterung meiner Vorstellungen wåre Gegenstand einer långeren Untersuchung.
1. Die Relevanz des Wohlergehens fçr ethische Ûberlegungen Die im letzten Kapitel diskutierten Theorien haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie stellen das Interesse von Personen, einen selbstgewåhlten Lebensplan verwirklichen zu kænnen, in den Mittelpunkt. Rawls und Dworkin machen diesen Bezugspunkt explizit deutlich, bei Nozick wird er zumindest angedeutet. Buchanans Theorie ist in dieser Hinsicht offener; da er von den Pråferenzen der Personen ausgeht, sieht aber vermutlich auch Buchanan die Verfolgung eines eigenen Lebenskonzepts (implizit) als bedeutsam an. Unter den Voraussetzungen, daû die Lebensplåne differieren und daû eine faire Berçcksichtigung unterschiedlicher Lebensvorstellungen angestrebt werden sollte, liegt es nahe, çber die gerechte Verteilung von Grundgçtern zu diskutieren. Grundgçter sind in diesem Sinne Dinge, die fçr die Realisierung von Lebensplånen im allgemeinen gebraucht werden. Die Aussichten, einen beliebigen Lebensplan realisieren zu kænnen, hången weitgehend davon ab, inwieweit PerErwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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sonen çber Grundgçter verfçgen. Die Orientierung auf Grundgçter drçckt exemplarisch die Forderung nach Neutralitåt gegençber verschiedenen Lebenskonzepten aus. Wenn man die Frage stellt, was Menschen brauchen, um ihre Plåne auszufçhren, kænnte man antworten: zunåchst sicherlich materielle Ressourcen, die eine Voraussetzung fçr die Ausfçhrung von (fast) allen Lebensplånen sind. Zweitens brauchen sie die Garantie, daû die Ausfçhrung ihrer Plåne nicht behindert wird. Weiterhin benætigen die Personen die zur Verwirklichung ihrer Ziele notwendigen Fåhigkeiten. Auûerdem muû die objektive Mæglichkeit gegeben sein, die Plåne umzusetzen. In einer politischen Theorie ist es notwendig, diese allgemeinen Bedingungen so zu spezifizieren, daû durch Institutionen zu sichernde Grundgçter wie Rechte, Ausbildung, Einkommen, Gesundheitsversorgung und dergleichen zum Gegenstand von ethischen Ûberlegungen gemacht werden. Nozick und Dworkin diskutieren nicht primår die Verteilung oder Gewåhrleistung von Grundgçtern; der Grund scheint mit darin zu liegen, daû sie von einem vorstaatlichen oder gar vorgesellschaftlichen Zustand ausgehen. In diesem Falle gibt es keine institutionell bereitgestellten oder produzierten Gçter, sondern nur natçrliche Ressourcen, Konsumgçter oder Freiheiten. Grundgçter werden erst als sekundåre Entitåten eingefçhrt. 1 Es gibt aber eine prinzipielle Alternative zur Orientierung auf Lebensplåne und auf die dafçr notwendigen Grundgçter: Man kænnte versuchen, eine abstrakte Entitåt einzufçhren, die alle Personen unabhångig von ihren spezifischen Lebensvorstellungen fçr wichtig befinden. Es liegt nahe, davon auszugehen, daû Personen letztlich daran interessiert sind, daû es ihnen gut geht. Denn was sonst sollte es sein, wonach alle Menschen streben? In diesem Sinne haben insbesondere Utilitaristen das Wohlergehen in den Mittelpunkt ihrer normativen Ûberlegungen gestellt. Eine utilitaristische Theorie ist allerdings keine zwingende Konsequenz der Idee, das Wohlbefinden zum Bezugspunkt ethischer Abwågungen zu machen. Der Utilitarismus beinhaltet zwei weitere Komponenten: erstens die Nutzensummenmaximierung, auf die ich in Abschnitt III.1 schon Fçr eine Klassifizierung verschiedener normativer politischer Theorien danach, ob sie Ressourcen, Grundgçter oder Konsumgçter in den Mittelpunkt stellen, vergleiche Kolm 1993.
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kurz eingegangen war; zweitens den Konsequentialismus, welcher besagt, daû ausschlieûlich die Folgen von Handlungen oder Zustånden fçr ethische Ûberlegungen relevant sind. 2 Generell gibt es zwei Mæglichkeiten, das Wohlergehen in einer normativen Theorie zu berçcksichtigen. Eine sehr starke Variante wçrde Vergleiche der Ausstattung von Personen ausschlieûlich davon abhångig machen, wie es mit ihrem Wohlergehen bestellt ist. Dies wåre eine grundsåtzliche Alternative dazu, Grundgçter als Maûstab zu verwenden. Eine schwåchere Fassung hingegen kænnte versuchen, als Ergånzung zu den auf Lebensplåne zugeschnittenen Grundgçtern generelle Voraussetzungen fçr das Wohlergehen in eine normative Theorie einzubeziehen. Ich halte die zweite Alternative fçr aussichtsreicher. Um dies zu verdeutlichen, beschåftige ich mich im folgenden mit einer von Dworkin vorgelegten Kritik an Theorien des Wohlergehens im erstgenannten Sinne. Anschlieûend untersuche ich einen Vorschlag von Sen, der als Anknçpfungspunkt fçr die von mir bevorzugte Variante dienen soll. 3 Dworkin versucht in »What is Equality? Equality of Welfare« zu zeigen, daû das Wohlergehen, selbst wenn es allgemein gewçnscht wird, kein geeigneter Bezugspunkt fçr eine gerechte Verteilung von Gçtern ist. Er geht von der Intuition aus, daû es nicht gerecht wåre, unzufriedene, auf Luxus fixierte Personen auf Kosten anderer zu saturieren, die eher zur Zufriedenheit neigen und weniger anspruchsvoll sind. 4 Dieses Problem besteht nicht, wenn die Ausstattung mit Grundgçtern zum Vergleichsmaûstab gemacht wird: Die Personen erhalten einen gerechten Anteil an den Ressourcen; inwieweit sie exklusive Wçnsche ausbilden und verfolgen wollen, mçssen sie selbst entscheiden und verantworten. Andererseits ist ein Gçterindex insofern problematisch, als Menschen aufgrund natçrlicher Voroder Nachteile unterschiedlich viel mit den Ressourcen anfangen kænnen. Dworkins entsprechenden Vorschlag zur Kompensation unverschuldeter Benachteiligungen im Rahmen einer (egalitåren) Ressourcentheorie hatte ich in Abschnitt III.4 vorgestellt. Das Vgl. Sen 1985, 175. Eine ausfçhrliche Erærterung der ethischen Relevanz des Wohlergehens findet sich bei Griffin 1986. 4 Vgl. Dworkin 1981a, 194 f. Dworkin diskutiert nur den speziellen Fall einer Gleichverteilung des Wohlergehens; seine Argumente lassen sich aber auf den allgemeinen Rahmen ausdehnen, daû das Wohlergehen çberhaupt als Bezugspunkt fçr die Verteilung von Gçtern angesehen wird. 2 3
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Grundproblem von Theorien des Wohlergehens hålt Dworkin hingegen fçr nicht læsbar. Die Kritik soll im folgenden erlåutert werden. Eine plausible Theorie des Wohlergehens muû laut Dworkin teure Pråferenzen in irgendeiner Weise ausschlieûen. Es wåre unplausibel, einer Person nur deshalb mehr Gçter zuzugestehen, weil sie besondere Lust dabei empfindet, Kaviar oder Champagner zu konsumieren oder einem teuren Hobby nachzugehen. 5 Darçber hinaus dçrfen auch unpersænliche Pråferenzen keine Rolle spielen: Befriedigungen, die aus allgemeinen Weltzustånden oder gar dem Wohl und Wehe anderer Personen gezogen werden, stellen keinen Grund dar, Umverteilungen vorzunehmen. Ansonsten wçrden Personen mehr oder weniger Gçter erhalten, weil andere Menschen ihnen etwas Gutes oder etwas Schlechtes antun wollen. 6 Es dçrften also fairerweise nur Pråferenzen berçcksichtigt werden, die ausschlieûlich die eigene Situation betreffen. Mæglicherweise lieûe sich eine Theorie des Wohlergehens entwickeln, die den von Dworkin aufgestellten Bedingungen entspricht. Dworkin zufolge ergibt sich dann aber ein weiteres Problem: In der çblichen Interpretation werde Wohlergehen entweder als positiver mentaler Zustand und/oder als Befriedigung von aktuellen Wçnschen aufgefaût. Der entsprechende relative Erfolg sei aber nicht das, woran die Individuen letztlich interessiert seien. Personen richteten ihre Wçnsche eher an der Ambition aus, etwas Wertvolles aus dem eigenen Leben zu machen. 7 Dieser »Gesamterfolg« ist es laut Dworkin, der fçr alle gleichermaûen zåhlt. Unter diesen Umstånden sei es jedoch nicht plausibel, die Trennung zwischen unpersænlichen und persænlichen Pråferenzen aufrechtzuerhalten ± schlieûlich kænne das Lebenskonzept einer Person auch politische Interessen und dergleichen umfassen. Zweitens sei der Gesamterfolg nicht nur von objektiven Daten, sondern auch von der Einstellung der Personen abhångig: Zwei Menschen kænnen dasselbe Leben fçhren, aber ihr Leben insgesamt vællig unterschiedlich bewerten. Der Gesamterfolg sei fçr sich genommen kein geeignetes Maû fçr die Lebenslage der Personen, denn wenn die subjektiven Einschåtzungen ausschlaggebend wåren, wçrden (wiederum) die anspruchsvollen Individuen bevorzugt werden. Daher mçsse eine objektive 5 6 7
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Vgl. a. a. O., 189 & 228 ff. Vgl. a. a. O., 197 ff. Vgl. a. a. O., 206.
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Vergleichsbasis gefunden werden. Dworkin zufolge dçrfen sich Personen vernçnftigerweise nur dann darçber beklagen, ein bestimmtes Leben nicht fçhren zu kænnen, wenn ihnen Ressourcen vorenthalten werden, die ihnen zustehen. Hingegen kænne man sich vernçnftigerweise nicht beschweren, einen Lebensplan nicht realisieren zu kænnen, der eine inakzeptabel hohe Menge an Ressourcen erfordern wçrde. Diese Ûberlegung zeige, daû ein ethisch akzeptabler Vergleichsmaûstab fçr die Lebenssituation von Personen nicht unabhångig von der Verteilung der Ressourcen formuliert werden kænne. 8 Was ist von Dworkins Argumentation zu halten, die hier kurz zusammengefaût wurde? Beide Kritikpunkte setzen im Grunde bereits voraus, daû es nicht angemessen ist, das Wohlergehen zum primåren normativen Maûstab zu erheben. Die zuletzt zitierte Argumentation geht explizit davon aus, daû das eigentlich relevante Interesse von Personen darin besteht, eine selbstgewåhlte, fçr sinnvoll befundene Lebensvorstellung zu verwirklichen. Das erste Argument ist abhångig davon, daû akzeptable und inakzeptable (Wunsch-)Befriedigungen unterschieden werden kænnen. Ein çberzeugter Vertreter einer Theorie des Wohlergehens kænnte aber sehr wohl daran festhalten, daû die Genese und der Inhalt von Wçnschen vællig irrelevant sind und nur die Freude oder das Leid der Person zåhlt, die einen Wunsch faktisch hat. Immerhin erscheint es plausibel, daû die Eigenverantwortung der Personen fçr die Entwicklung und Verfolgung von Zielen in einer normativen Theorie berçcksichtigt werden mçûte. Auch die Vorstellung, daû Personen an der Realisierung eines fçr gut befundenen Lebenskonzepts interessiert sind, ist prima facie einleuchtend. Aber selbst wenn eine ausschlieûliche Orientierung am Wohlergehen aus diesen Grçnden nicht angemessen sein sollte, folgt daraus nicht, daû das Wohlergehen in ethischen Erwågungen çberhaupt keine Rolle spielt. 9 Es ist ein Vorurteil, daû Personen nur ein Interesse an der Verwirklichung von Lebensplånen haben. Daû hæherstufige Ziele im allgemeinen Prioritåt genieûen, ist ebenfalls nicht klar: Ich habe etwa ein vitales Bedçrfnis, schmerzfrei zu sein; wenn ich unter starken Schmerzen leide, treten meine Lebensplåne wahrscheinlich sogar in den Hintergrund. Man kann natçrlich sagen, die Schmerzfreiheit (und allgemei8 9
Vgl. a. a. O., 216 ff. Diese These wird von Dworkin allerdings auch nicht explizit vertreten.
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ner das Wohlbefinden) sei eine elementare Voraussetzung fçr die Verfolgung beliebiger Ziele. Aber das ist zum einen nicht zwingend, und zum anderen wird dabei die eigenståndige Bedeutung des Wohlergehens unterschlagen. Beide Kontrahenten kænnten zwar behaupten, die jeweils andere Position sei in ihren Ansatz integrierbar: Schlieûlich spielen auch die Lebensplåne von Personen in einer Theorie des Wohlergehens insofern eine Rolle, als das Wohlergehen unter anderem davon abhångt, ob selbstgesetzte Ziele verwirklicht werden kænnen. Mir erscheint es aber angemessener, davon auszugehen, daû hier zwei grundlegende menschliche Interessen vorliegen, die nicht ohne Verlust aufeinander reduziert werden kænnen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daû die Verfolgung eines Lebensplans und die Orientierung am Wohlergehen miteinander in Konflikt geraten kænnen und daû man sich in diesem Fall fçr das eine oder das andere entscheiden muû. Wenn ich mir beispielsweise das Ziel gesetzt habe, eine wissenschaftliche Frage konsequent und unparteiisch zu klåren, und feststelle, daû ich erheblichen Anfeindungen ausgesetzt sein werde, falls ich das Ergebnis veræffentliche, mçûte ich aus Grçnden des Wohlergehens mæglicherweise darauf verzichten; råume ich hingegen meinem Lebensplan Prioritåt ein, muû ich unter Umstånden Einbuûen des Wohlergehens in Kauf nehmen. Es liegt nahe, daû die beiden elementaren Interessen auch in einer angemessenen sozialethischen Theorie eine eigenståndige Rolle spielen sollten. Sen vertritt in »Well-Being, Agency, and Freedom« eine åhnliche Auffassung. Er geht davon aus, daû es zwei wichtige normative Aspekte gibt ± »well-being« und »agency« ±, die nicht aufeinander reduziert werden kænnen. 10 Personen seien auch, aber nicht nur auf ihr Wohlergehen ausgerichtet; die Autonomie bei der Lebensplanung und -gestaltung stelle ein wichtiges eigenståndiges Interesse dar. Wohlergehen als angenehmen mentalen Zustand oder als Erfçllung von Wçnschen anzusehen, hålt Sen fçr unplausibel. 11 Personen seien nicht primår an mentalen Zustånden interessiert, denn sonst wåren sie damit zufrieden, çber ihre wahre Situation getåuscht zu Vgl. Sen 1985, 186; åhnliche Ûberlegungen finden sich auch in Sen 1992. Je nach dem Entwicklungsstand der Individuen kann der eine oder der andere Aspekt mehr Gewicht haben. So wçrde man etwa bei kleinen Kindern eher das Wohlergehen als die Lebensplåne im Auge haben. 11 Vgl. Sen 1985, 188 f. 10
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werden. Wçnsche wiederum seien nur eine Evidenz dafçr, daû etwas fçr wertvoll gehalten wird; auûerdem wçrden sie sich den Umstånden und damit auch etwaigen Benachteiligungen anpassen. 12 Um dem Wohlergehen dennoch ein eigenståndiges normatives Gewicht zu verleihen, faût Sen dieses nicht als einen an beliebige Wçnsche geknçpften mentalen Zustand auf. Vielmehr wird Wohlergehen als eine weitgehend objektive Kategorie eingefçhrt. Sen benennt basale Funktionsweisen (»functionings«), die seiner Meinung nach das Wohlergehen konstituieren. Zu diesen Funktionsweisen zåhlen Aktivitåten wie das Essen oder Schlafen und Zustånde wie gesund oder gut ernåhrt sein. 13 Das Gesamtbefinden einer Person låût sich nach Sen als Menge der Funktionsweisen definieren, çber die sie verfçgt. Der theoretische Rahmen erlaubt es auch, soziale Indikatoren aufzunehmen ± z. B. kann es als wichtige Funktionsweise angesehen werden, in der Úffentlichkeit ohne Scham aufzutreten oder am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben. Im zweiten Schritt fçhrt Sen sogenannte Fåhigkeiten (»capabilities«) ein. Zur Menge der Fåhigkeiten zåhlen diejenigen Funktionsweisen, çber die eine Person verfçgen kann. Damit trågt Sen der Tatsache Rechnung, daû Menschen bestimmte Funktionsweisen nicht besitzen wollen oder sie auf verschiedene Weise sicherstellen mæchten. Insbesondere kann durch diese Differenzierung deutlich gemacht werden, daû eine Person, die freiwillig fastet, und eine andere, die aus Not hungert, nicht gleichgestellt sind. 14 Ob der Ansatz benutzt wird, um bestimmte Funktionsweisen bzw. Fåhigkeiten durch Rechte abzusichern, um eine Gleichstellung von Personen zu definieren oder allgemein Besser- oder Schlechterstellungen zu beschreiben, ist offen. Wenn die Konzeption fçr eine normative Theorie fruchtbar gemacht werden soll, muû man sich Vgl. a. a. O., 190 f. Vgl. a. a. O., 197 ff. Sen weist dort auch darauf hin, daû ein Grundgçterindex nicht geeignet ist, um die Ausstattung einer Person zu messen. Das zeige sich daran, daû die Umwandlung von Gçtern in Funktionsweisen verschieden sein kann. Um z. B. keinen Hunger zu leiden, brauchen Personen mæglicherweise eine unterschiedliche Menge an Nahrungsmitteln. Dworkins Konzept kann diese Probleme weitgehend vermeiden; aber Sen zeigt zumindest eine Alternative zu Dworkins Versuch auf, Benachteiligungen zu kompensieren. 14 Vgl. a. a. O., 200 ff. Sen spricht in diesem Zusammenhang von »well-being freedom« ± der Freiheit, sein Wohlbefinden auf eine selbstgewåhlte Weise sicherzustellen. Davon sei die Handlungsfreiheit zu unterscheiden, die mit dem persænlichen Konzept des Guten in Verbindung steht. (Vgl. a. a. O., 203 ff.) 12 13
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aber çber elementare Funktionsweisen und Fåhigkeiten verståndigen kænnen. Nach Sens Ansicht låût es sich nicht umgehen, wichtige Funktionsweisen und Fåhigkeiten zu identifizieren und zu bewerten. 15 Auûerdem mçssen diese gegençber den Freiheiten und Mæglichkeiten, die fçr die Verfolgung selbstgesetzter Ziele relevant sind, gewichtet werden. Die genannten Komplikationen erscheinen mir eher als Vorzçge, da sie die Komplexitåt der ethisch relevanten Phånomene widerspiegeln, statt diese zu simplifizieren. Ob sich Sens Konzept der Funktionsweisen, der Fåhigkeiten und der Handlungsfreiheit zu einer detaillierten normativen Theorie ausarbeiten låût, ist eine andere Frage, die ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht beantworten kann und muû. 16 Ein Problem sehe ich in der relativ objektivistischen Kategorie der Funktionsweisen. Es scheint mir zwar auf der einen Seite richtig zu sein, daû es elementare Funktionsweisen gibt, die kaum an kulturelle und gesellschaftliche Besonderheiten gebunden sind. Das gilt etwa fçr das Interesse, keinen Hunger zu leiden oder nicht krank zu sein. Wenn man hingegen von guter oder akzeptabler Ernåhrung und Gesundheit spricht, dçrfte es von den ækonomischen und sozialen Bedingungen abhången, was damit gemeint ist. Insbesondere betrifft dies auch Funktionsweisen wie die Schamfreiheit und die gesellschaftliche Beteiligung. 17 Im çbrigen ist es nicht unbedingt plausibel, das Wohlergehen çber die Menge der verfçgbaren Funktionsweisen zu definieren. Eine Person kann eine objektiv gute Ausstattung haben und dennoch unzufrieden sein. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist Wohlergehen eine eher an subjektive Einschåtzungen geknçpfte Kategorie. Plausibler und fçr die Zwecke dieser Untersuchung ausreichend erscheint es, basale Funktionsweisen als elementare Voraussetzungen des Wohlergehens anzusehen. In diesem Sinne besteht das Wohlergehen nicht darin, gut ernåhrt zu sein; aber keinen Hunger zu leiden ist eine Bedingung dafçr, daû es einer Person gut geht. 18 Vgl. a. a. O., 200. Elemente einer solchen Theorie finden sich in Sen 1992. 17 Sen erwåhnt diese Komplikation: vgl. Sen 1985, 199. 18 Sen kann nicht nur von Voraussetzungen des Wohlergehens ausgehen, weil er generelle Vergleiche zwischen der Ausstattung der Personen ermæglichen mæchte. Im çbrigen umfassen die Funktionsweisen neben objektiven Bedingungen des Wohlergehens 15 16
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Die Relevanz des Wohlergehens
Die Frage, inwiefern das Wohlergehen fçr normative Ûberlegungen relevant sein sollte, låût sich m. E. wie folgt beantworten: Personen sind zum einen an ihrem Wohlbefinden interessiert, zum anderen aber auch daran, einer fçr gut erachteten Lebensvorstellung nachgehen zu kænnen. Beide Interessen sollten in sozialethischen Theorien ein eigenståndiges Gewicht erhalten. Insbesondere gibt es sowohl fçr die Verfolgung von Lebensplånen als auch fçr das Wohlergehen elementare Voraussetzungen. Teilweise decken sich diese Bedingungen: Persænliche Grundfreiheiten dçrften einerseits eine Voraussetzung dafçr sein, daû man einen Lebensplan verfolgen kann; andererseits wçrde eine Verletzung der Freiheiten aber auch das Wohlergehen empfindlich beeintråchtigen. An einer Krankenversorgung sind Individuen zum einen deshalb interessiert, weil es kranken Menschen schlecht geht. Zum anderen ist es aber auch eine Bedingung fçr die Verfolgung von Zielen, gesund zu sein. Am Beispiel der Erwerbsarbeitslosigkeit zeigt sich hingegen recht deutlich, daû die Bedingungen nicht immer zusammenfallen: Wåhrend es keine Voraussetzung fçr die Verwirklichung beliebiger Lebensplåne darstellt, an der Erwerbsarbeit beteiligt zu sein, hat sich im ersten Kapitel dieser Untersuchung herausgestellt, daû das Wohlergehen von (Dauer-)Arbeitslosen in der Regel erheblich beeintråchtigt ist. Es scheint spezifische Bedingungen fçr das Wohlergehen zu geben, die aus dem Blick geraten, wenn ausschlieûlich auf Grundgçter rekurriert wird, die Voraussetzungen oder Mittel fçr die Realisierung von Lebensplånen darstellen. Die Wichtigkeit der Tatsache, gesellschaftlich beteiligt und anerkannt zu sein oder (allgemeiner) eine akzeptable gesellschaftliche Position innezuhaben, låût sich nur ermessen, wenn das Wohlergehen in einer normativen Theorie eine eigenståndige Rolle spielt. Es erscheint zumindest notwendig, basale Voraussetzungen des Wohlergehens zu sichern. Ob es darçber hinaus generell sinnvoll ist, nicht die Gçterausstattung der Personen, sondern die verfçgbaren Funktionsweisen zum normativen Vergleichsmaûstab zu erheben, kann ich hier dahingestellt sein lassen.
auch mentale Zustånde wie das Selbstwertgefçhl, die eher intern mit dem Wohlbefinden verknçpft zu sein scheinen. Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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2. Begrçndung des Anspruchs auf eine Absicherung gegen eine marginale soziale Position In diesem Abschnitt will ich begrçnden, daû in einer fairen Abwågung normativer Forderungen der Anspruch darauf, eine relativ gesehen akzeptable soziale Position innezuhaben, ein besonderes Gewicht haben wçrde. Dazu ist es zunåchst erforderlich, faire Ausgangsbedingungen zu formulieren. Anschlieûend mæchte ich deutlich machen, daû soziale Vergleiche in einer normativen Theorie eine Rolle spielen sollten. Drittens soll gezeigt werden, daû die Absicherung gegen eine marginale soziale Position wichtiger ist als das Interesse an einer mæglichen absoluten Besserstellung, an weitgehender Freiheit oder an der Honorierung besonderer Aufwendungen. Im Prinzip halte ich die Rawlssche Konzeption eines Schleiers des Nichtwissens (in einer verallgemeinerten Form) fçr eine brauchbare Explikation eines unter modernen Bedingungen akzeptablen moralischen Standpunktes. Es gibt alternative Formulierungen, die sich aber inhaltlich nicht wesentlich unterscheiden und die m. E. nicht unbedingt vorzuziehen sind. Eine Mæglichkeit bestçnde darin, von einem unparteiischen Beobachter auszugehen; eine andere wçrde so aussehen, daû gefragt wird, welche Regelungen aus der Perspektive eines beliebigen Menschen erwçnscht wåren. 19 Der Vorzug dieser Alternativen besteht darin, daû ± im Unterschied zur »Schleier«-Konzeption ± alle Fakten bekannt sind, die ethisch relevant sein kænnten. Aber auf der anderen Seite ist diese Informationsflut nicht unproblematisch: Bei Entscheidungen, die eine groûe Zahl von Personen betreffen, liefern die beiden genannten allgemeinen Moralprinzipien kaum einen Anhaltspunkt fçr eine Abwågung. 20 Daher erscheint es mir sinnvoll, eine Einschrånkung der zulåssigen Informationen vorzunehmen. Die generellen Fairneûbedingungen, von denen Rawls ausgeht, sind m. E. akzeptabel: Die Individuen sollen die normativen PrinziDie erste Variante wird insbesondere von Utilitaristen bevorzugt, die zweite z. B. von Tugendhat. Vgl. dazu auch Pfannkuche 1996. Eine weitere Mæglichkeit hat Ackerman 1980 ausgearbeitet; sie besteht darin, die in einer ethischen Debatte zulåssigen Argumente einzuschrånken. 20 Utilitaristen haben eine Vereinheitlichung der Konsequenzen von Entscheidungen zu einer Nutzensumme vermutlich nicht zuletzt deshalb vorgeschlagen, um die Informationsflut zu bewåltigen. 19
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pien nicht auf ihre Verhåltnisse zuschneiden kænnen; daher ist ihnen das Wissen çber ihre Fåhigkeiten, ihre gesellschaftliche Stellung und ihre besonderen Vorlieben entzogen. Allerdings fçhrt Rawls darçber hinaus spezielle Voraussetzungen ein, die nicht unbedingt eine faire Wahl konstituieren. Insbesondere sind dazu zu zåhlen: das hæchstrangige Interesse daran, einen Lebensplan zu entwickeln und zu verfolgen; die weitgehende Risikoscheu bzw. die eigenwillige Nutzenfunktion; das gegenseitige Desinteresse und insbesondere die Neidfreiheit. Angesichts der im letzten Abschnitt angestellten Ûberlegungen muû aber zum einen davon ausgegangen werden, daû die Individuen auch an ihrem Wohlergehen interessiert sind. Inwieweit sie zum anderen soziale Vergleiche anstellen und Risiken vermeiden, sollte nicht vorausgesetzt werden, sondern selbst Gegenstand der Abwågung hinter dem Schleier des Nichtwissens sein. Im çbrigen zåhlt es zu den allgemeinen Tatsachen des menschlichen Lebens, daû eine marginale soziale Position das Wohlergehen erheblich beeintråchtigt. Diese Kenntnis wird den Individuen in meinem Modell nicht entzogen. Mit den genannten Modifikationen dient die Rawlssche Konstruktion nicht mehr als Entscheidungsverfahren, sondern nur als Explikation des moralischen Standpunktes. Es ist nicht im vorhinein festgelegt, welche Grundsåtze die Individuen vorziehen werden. Im Unterschied zu Rawls bin ich nicht der Meinung, daû die ethischen Grundçberzeugungen moderner westlicher Gesellschaftsmitglieder so einheitlich sind, daû dezidierte Bedingungen einer fairen Wahl formuliert werden kænnen, die die Entscheidung çber die zu wåhlenden Prinzipien weitgehend bestimmen. Es ist prinzipiell mæglich, unter dem von mir pråferierten Schleier des Nichtwissens nicht unerhebliche Lebensrisiken einzugehen. Allerdings mæchte ich die Position vertreten, daû die Individuen sich zumindest dafçr entscheiden wçrden, elementare Voraussetzungen des Wohlergehens und der Realisierung von Lebensplånen abzusichern. Die Grundfreiheiten und die Sicherung des Existenzminimums wçrden folglich ein besonderes Gewicht haben. Zweitens werden die Individuen aber m. E. auch maûgeblich daran interessiert sein, eine erhebliche relative Schlechterstellung zu vermeiden. Daû dem so ist, soll im folgenden plausibel gemacht werden. Sofern eine relativ gesehen akzeptable Position gesichert ist, scheint es mir weitgehend offen zu sein, ob die Beteiligten im Konfliktfall (mæglichen) besseren absoluten Ausstattungen oder relativen Besserstellungen ein græûeres Gewicht Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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beimessen. Es ist denkbar, aber nicht zwingend, daû sich die Individuen dafçr entscheiden wçrden, die Aussichten der Schlechtestgestellten zu maximieren. Wie egalitår eine akzeptable normative Theorie sein sollte, kann und will ich dahingestellt sein lassen. Soziale Vergleiche spielten in keiner der oben analysierten normativen Theorien eine eigenståndige Rolle, sie sind aber nach den Untersuchungen der ersten beiden Kapitel als zentral fçr das Problem der Erwerbsarbeitslosigkeit anzusehen. Rawls hat zumindest erkannt, daû gravierende relative Schlechterstellungen negative Auswirkungen auf die Betroffenen haben, leitet daraus aber keine besonderen Ansprçche ab. Er geht davon aus, daû die von ihm vertretenen Gerechtigkeitsprinzipien diese Gefåhrdung ausschlieûen. Das ist aber keineswegs zwingend: Theoretisch låût das Differenzprinzip, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, beliebige Streuungen der Einkommen zu. Rawls ist jedoch vermutlich der Auffassung, daû Neidgefçhle ungerechtfertigt sind, wenn die Personen einen gerechten Anteil an Grundgçtern zugemessen bekommen. Dworkin benutzt sogar das Kriterium der Neidfreiheit als analytisches Instrument, um eine Gleichstellung der Individuen zu beschreiben. Neidfreiheit liegt aber nur mit Bezug auf die Anfangsverteilung der Ressourcen vor; in der Folgezeit sind trotz der Versicherungen gegen Unglçcksfålle und gegen natçrliche Benachteiligungen erhebliche Differenzen der Einkommen mæglich, die zu Neidgefçhlen fçhren kænnen. Vielleicht kænnte Dworkin sagen, die Gefçhle seien unangemessen, da die Schlechterstellungen zumindest in wesentlichen Teilen selbst zu verantworten sind ± schlieûlich entscheiden die Personen in seinem Modell çber die abgeschlossenen Versicherungen und den von ihnen geleisteten Aufwand. Es erscheint einleuchtend, daû der Neid nicht zum ausschlaggebenden Kriterium fçr eine gerechte Verteilung gemacht werden sollte. Rawls und Dworkin haben daraus den Schluû gezogen, daû der Maûstab fçr eine gerechte Verteilung gånzlich unabhångig von Gefçhlen der Zurçcksetzung formuliert werden sollte. Diese Konsequenz ist zumindest nicht zwingend. Im Rahmen einer weitgehend egalitåren Theorie sind zwar mæglicherweise gravierende Einkommensunterschiede faktisch (jedoch nicht prinzipiell) ausgeschlossen; wenn man aber ± wie ich ± nicht von einer Gleichstellung, sondern von einer Absicherung gegen elementare Ûbel ausgeht, erscheint es naheliegend, daû die relativen Besser- oder Schlechterstellungen ein 148
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eigenes Gewicht bekommen mçssen. Insbesondere wird dies daran deutlich, daû eine weit unterdurchschnittliche Gçterausstattung das Wohlergehen (die Selbstachtung) empfindlich beeintråchtigt. Hinter dem Schleier des Nichtwissens werden sich die Personen gegen diese Gefåhrdung ihres Wohlergehens schçtzen wollen. Damit werden nicht beliebige Neidgefçhle als ausschlaggebend angesehen; es handelt sich vielmehr um eine komparative Krånkung, die daraus resultiert, daû Personen (unverschuldet) in eine marginale soziale Position geraten. Gemessen werden solche Schlechterstellungen daran, ob Personen in relevanten Hinsichten deutlich weniger besitzen als der Durchschnitt der Bevælkerung bzw. ob sie çber als selbstverståndlich angesehene Gçter nicht verfçgen kænnen. Die Vergleiche beziehen sich nicht nur auf das Einkommen, sondern z. B. auch auf die soziale Anerkennung und die gesellschaftliche Beteiligung. 21 Je nach den gesellschaftlichen Verhåltnissen werden mit diesen Faktoren unterschiedliche konkrete Forderungen verbunden sein. An dieser Stelle untersuche ich allgemein eine Absicherung gegen eine marginale soziale Position. Von Erwerbsarbeit ist noch nicht die Rede; die Abwågungen sind im wesentlichen unabhångig von den sozio-ækonomischen Grundbedingungen. 22 Ich folge hier Rawls' Zweiteilung der Gerechtigkeitstheorie in eine weitgehend allgemeine Wahl von Prinzipien und eine Anwendung auf speziellere Bedingungen. Die Konkretisierung soll Gegenstand des folgenden Abschnitts sein. Auf dieser abstrakten Ebene ist nicht zu entscheiden, ob die Gewåhrleistung einer ± relativ gesehen ± akzeptablen gesellschaftlichen Position in den Aufgabenbereich des Staates gehært: Immerhin kænnte sich herausstellen, daû sich die relevanten Faktoren gar nicht politisch sicherstellen lassen oder daû dies nur durch eine Verletzung persænlicher Grundfreiheiten zu gewåhrleisten ist. 23 Es låût sich allerdings bereits eine Ûberlegung dazu anstellen, ob die Forderung Vgl. die Untersuchungen zum Konzept der marginalen sozialen Position in Abschnitt II.2. 22 Die angestellten Ûberlegungen sind aber nicht unabhångig von westlichen Moralvorstellungen; vielmehr sind die Bedingungen fçr den Schleier des Nichtwissens so gewåhlt, daû sie diese widerspiegeln sollen. 23 Als ein Beispiel fçr eine nicht akzeptable (und vermutlich sogar kontraproduktive) staatliche Absicherung gegen relative Schlechterstellungen werde ich im nåchsten Abschnitt Zwangsheiraten diskutieren. 21
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ausschlaggebend wåre, wenn ein Konflikt mit anderen Ansprçchen auftreten wçrde. Ich gehe davon aus, daû die Individuen hinter dem Schleier des Nichtwissens der Absicherung gegen gravierende relative Schlechterstellungen ein erhebliches Gewicht beimessen wçrden. Die Sicherstellung der Befriedigung von Grundbedçrfnissen, zu denen ich eine materielle Grundversorgung, aber auch Grundfreiheiten zåhle, hat zwar m. E. Vorrang; der Schutz gegen eine marginale soziale Position kænnte aber bereits an nåchster Stelle stehen. Mir erscheint es vor allem einleuchtend, daû mægliche finanzielle Gewinne, die ein (relativ zum Durchschnitt) akzeptables Einkommen çberschreiten, weniger relevant sind als der Anspruch auf eine akzeptable Mindestausstattung. Die Individuen werden kein Risiko eingehen, wenn elementare Voraussetzungen des Wohlergehens auf dem Spiel stehen. Diese Auffassung dçrfte sich leichter verteidigen lassen als Rawls' Position, daû ausgerechnet das durch das Differenzprinzip bestimmte Minimaleinkommen der Punkt sein soll, von dem an mægliche Einkommenssteigerungen weitgehend unerheblich sind. Ich mæchte abschlieûend kurz auf einige kontroverse Abwågungen eingehen, die nætig wåren, wenn sich ein Konflikt mit einem sicheren absoluten Gewinn, mit dem Prinzip der Aufwandshonorierung oder mit dem Interesse an einer mæglichst weitgehenden Freiheit ergeben sollte. 24 Angenommen, es bestehe die Mæglichkeit, alle Personen finanziell besserzustellen, aber mit diesen sicheren absoluten Gewinnen gehe einher, daû einige der Individuen relativ zu den anderen (in mehreren Hinsichten) deutlich schlechter gestellt sein werden. Wçrden sich die Personen hinter dem Schleier des Nichtwissens fçr diese Option entscheiden? Das Interesse an einer besseren absoluten Ausstattung ergibt sich daraus, daû sich die Chancen erhæhen, einen selbstgewåhlten Lebensplan realisieren zu kænnen. Auf der anderen Seite sind die durch eine marginale soziale Position bedingten Beeintråchtigungen des Wohlergehens in Rechnung zu stellen. Mæglicherweise wçrden die Individuen in einigen Fållen die absolute Besserstellung vorziehen; dies dçrfte unter anderem davon abhången, wie groû der hinzugewonnene Spielraum fçr die Verwirklichung der Lebensplåne sein wçrde. Daû diese Konflikte auftreten kænnen, wird erst deutlich, wenn man ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit als praktische Konsequenz der Absicherung gegen eine marginale soziale Position ansieht.
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Argumente fçr (und wider) ein Recht auf Arbeit
Die Individuen werden unter dem Schleier des Nichtwissens ein nicht unerhebliches Interesse daran haben, daû sich besondere Aufwendungen in irgendeiner Weise auszahlen. Dies ist ihnen deshalb wichtig, weil viele mægliche Lebensplåne nur verwirklicht werden kænnen, wenn man sich darauf verlassen kann, daû sich Bemçhungen lohnen. Allerdings ist es nicht wahrscheinlich, daû das Interesse an einer Aufwandshonorierung gegençber Bedçrfnissen Vorrang hat. Insbesondere werden die Individuen einer Einschrånkung des Verdienstprinzips zustimmen, um nicht dem Risiko ausgesetzt zu sein, in ernsthafte Notlagen zu geraten. Der Anspruch darauf, sozial nicht marginalisiert zu sein, dçrfte ebenfalls stårkeres Gewicht haben. Damit ist nicht gesagt, daû eine Belohnung von Aufwendungen çberhaupt keine Rolle spielen soll; sie wird nur durch elementarere Forderungen begrenzt. Die Individuen wçrden im Hinblick auf mægliche Lebensplåne auch das Interesse bekunden, weitgehend frei agieren zu kænnen. Insbesondere werden sie ihr Einkommen und Vermægen nach eigenem Gusto verwenden, Vertråge oder Tauschakte frei aushandeln und vertragliche Beziehungen mit Personen ihrer Wahl eingehen wollen. Aus diesen Wçnschen ergeben sich prima-facie-Ansprçche auf freie Verwendung von Privateigentum und auf Vertragsfreiheit. Diese Freiheiten fallen aber m. E. nicht unter die Grundfreiheiten, denen ich eine hohe Prioritåt eingeråumt habe. 25 Im Unterschied zur Unversehrtheit des Kærpers und åhnlich elementaren Ansprçchen sind sie nicht unter (fast) allen Umstånden zu schçtzen. Die Individuen wçrden m. E. einer Einschrånkung der genannten Freiheiten durchaus zustimmen, wenn sie ansonsten Gefahr laufen, wichtigere Bedçrfnisse nicht befriedigen zu kænnen. Neben der materiellen Grundversorgung zåhlt hierzu auch das Interesse, nicht in eine marginale soziale Position zu geraten.
3. Argumente fçr (und wider) ein Recht auf Arbeit Im nåchsten Schritt mçssen konkrete Folgerungen aus den im letzten Abschnitt angestellten allgemeinen Ûberlegungen gezogen werden. Die Absicherung des Existenzminimums zåhlt zu den elementaren In einer ausgearbeiteten Theorie wåren die Grundfreiheiten genauer zu spezifizieren. Das kann ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht leisten.
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Rechtsansprçchen, die eine hohe Prioritåt haben. Eine darçber hinausgehende, akzeptable finanzielle Ausstattung sollte nach Mæglichkeit ebenfalls sichergestellt werden, da sie in modernen westlichen Gesellschaften eine angemessene soziale Position mitdefiniert. Es ist allerdings zu bezweifeln, daû es mæglich ist, eine æffentliche, arbeitsunabhångige Unterstçtzung in der erforderlichen Hæhe zu gewåhrleisten. 26 Falls diese These nicht zutreffen sollte, wåre die finanzielle Absicherung dennoch nicht ausreichend, da auch eine akzeptable soziale Anerkennung und Beteiligung von der Erwerbsarbeit abhången. Zumindest prima facie besteht ein Anspruch darauf, an der Erwerbsarbeit teilzuhaben. Dieser Rechtsanspruch erscheint plausibel, wenn die empirische Tatsache in Betracht gezogen wird, daû unter den gegenwårtigen (schwer oder gar nicht verånderbaren) sozio-ækonomischen Bedingungen der Ausschluû aus der Erwerbsarbeit eine marginale soziale Position mit sich bringt. 27 Wåre die Forderung nach einem Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit auch Gegenstand einer normativen politischen Theorie? Die Notwendigkeit, den Rechtsanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit mit Hilfe politischer Instanzen durchzusetzen, besteht deshalb, weil einerseits freiwillige Regelungen kaum ausreichen werden, um allen Personen eine Arbeit zu garantieren, andererseits aber Einzelpersonen oder Betriebe eine entsprechende Verpflichtung nicht erfçllen kænnen. Daû darçber hinaus auch eine staatliche Verpflichtung bestçnde, ein solches Recht zu gewåhrleisten, låût sich durch folgende Ûberlegung plausibel machen: Der Staat hat nach çbereinstimmender Ansicht aller oben diskutierten normativen politischen Theorien die Aufgabe, elementare persænliche Ansprçche zu sichern und ggf. durchzusetzen, sofern dafçr eine kollektive Instanz erforderlich ist. Dieses generelle Prinzip scheint nicht kontrovers zu sein. Wenn die in dieser Untersuchung dargelegte Begrçndung des Rechts auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit zutreffend ist, fållt die Sicherstellung folglich prinzipiell in den Zuståndigkeitsbereich des Staates. Inwieweit der prima facie einleuchtende Anspruch auf die Garantie einer Erwerbsarbeit politisch tatsåchlich wirksam werden sollte, hångt allerdings von mehreren zusåtzlichen Faktoren ab. Zum Vgl. Abschnitt I.3. Mægliche grundsåtzliche sozio-ækonomische Alternativen hatte ich in Abschnitt I.4 angedeutet; es hat sich aber gezeigt, daû sie entweder nicht tragfåhig sind oder elementarere Rechte verletzen.
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einen kænnte es gewichtigere Ansprçche geben, die verletzt werden wçrden, wenn das Recht umgesetzt wird. Zum zweiten kænnte es sich zeigen, daû der Anspruch (politisch) çberhaupt nicht eingelæst werden kann. Drittens ist es denkbar, daû eine staatliche Rechtsgarantie auf Arbeit in dem Sinne kontraproduktiv wåre, daû die damit angestrebten Ziele nicht erreicht werden wçrden. Teils lassen sich diese Probleme erst im nåchsten Kapitel erærtern, in dem der Rechtsanspruch genauer spezifiziert wird und konkrete Vorschlåge zur Umsetzung unterbreitet werden. An dieser Stelle sollen einige generelle Einwånde gegen ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit widerlegt und allgemeine Rahmenbedingungen fçr die zulåssigen politischen und rechtlichen Schritte bestimmt werden. Ich will zunåchst eine kurze Bemerkung zum stårksten zweiten Einwand vorwegschicken: Kann man generell sagen, ein Recht auf Arbeit sei nicht einlæsbar? Mir scheint diese These nicht haltbar zu sein, denn prinzipiell wåre es mæglich, die Arbeit durch eine staatliche Instanz so zu verteilen, daû jede/r daran beteiligt ist. 28 Die Behauptung ist hæchstens unter bestimmten Bedingungen zutreffend ± etwa wenn vorausgesetzt wird, daû eine freie Marktwirtschaft Bestand haben soll. Dies wåre aber normativ zu begrçnden. Es låût sich allenfalls die schwåchere Position vertreten, daû ein Rechtsanspruch entweder inakzeptabel oder angesichts der mit ihm verfolgten Ziele nicht sinnvoll wåre. Folglich ist es ausreichend, die beiden anderen, oben benannten Einwånde zu diskutieren. Wie steht es mit der ebenfalls starken These, ein Recht auf Arbeit sei kontraproduktiv? Dieser Einwand ist von Jon Elster in »Is there (or should there be) a right to work?« erhoben worden. Elsters Argument soll im folgenden kurz vorgestellt und geprçft werden. Mit dem Recht auf Arbeit wird laut Elster angestrebt, die Selbstachtung der Individuen sicherzustellen. Nun sei aber die Arbeit (nur) dann positiv fçr das Selbstwertgefçhl einer Person, wenn andere ihre Arbeitsleistungen so sehr schåtzten, daû sie freiwillig bereit seien, die Tåtigkeiten zu bezahlen. Falls diese Beziehung dadurch auûer Kraft gesetzt wçrde, daû Personen einen Arbeitsplatz zugeteilt oder garanRippe 1995, 70 scheint zu behaupten, die staatliche Planung sei aufgrund der Fçlle der Informationen unmæglich. Genauer meint er aber, daû es nicht zu leisten ist, ein Recht auf Arbeit auf dem jeweiligen Ausbildungsniveau zu garantieren, weil dafçr Prognosen çber die zukçnftig nachgefragten Tåtigkeiten erforderlich sind. 28
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tiert bekåmen, wçrde kein positiver Effekt fçr die Selbstachtung daraus resultieren. Insofern laufe die Forderung nach einem Recht auf Arbeit der Intention zuwider, das Selbstwertgefçhl zu stabilisieren. 29 Dieses Argument ist nicht unbedingt stichhaltig, weil ± abgesehen von der Schåtzung der Arbeit durch die Nutznieûer ± die Beteiligung am ækonomischen Leistungsaustausch eine eigenståndige Voraussetzung fçr die Selbstachtung darstellt. 30 Im çbrigen wird çbersehen, daû der Vergleich zwischen einem garantierten Arbeitsplatz auf der einen und Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite gezogen werden muû. Auch wenn mæglicherweise die Tatsache, aufgrund besonderer Fåhigkeiten vorgezogen oder bezahlt zu werden, das Selbstwertgefçhl in besonderem Maûe stårkt, dçrfte es auûer Frage stehen, daû unter dem Gesichtspunkt der Selbstachtung auch eine Zuteilung aus Bedçrftigkeitsgrçnden gegençber dem vælligen Ausschluû aus der Erwerbsarbeit vorzuziehen wåre. 31 Auûerdem ist die Sicherstellung der Selbstachtung kein geeigneter Bezugspunkt fçr die Forderung nach einem Recht auf Arbeit. Das Selbstwertgefçhl ist oft mit besonderen Ambitionen verbunden, und es låût sich auf unterschiedliche Weise gewinnen. Eine Garantie dafçr, daû eine Person ein positives Selbstwertgefçhl erwerben wird, låût sich nicht geben. Daher ist es notwendig, von basalen Voraussetzungen fçr die Selbstachtung auszugehen, die politisch gewåhrleistet werden kænnen. Als solche sind nach den Erærterungen des zweiten Kapitels ein anerkannter sozialer Status und die gesellschaftliche Beteiligung anzusehen, die beide unter den Bedingungen eines komplexen Leistungsaustauschs eng mit der Erwerbsarbeit verknçpft sind. Eine garantierte Beteiligung an der Erwerbsarbeit ist folglich keineswegs kontraproduktiv. Wçrde ein Recht auf Arbeit in jedem Falle elementarere Rechte verletzen? Diese Behauptung ist von Klaus Peter Rippe 1995 aufgestellt worden. Ich mæchte sein Argument entkråften, bevor ich mich mit den m. E. tatsåchlich relevanten Konflikten auseinandersetze. Vgl. Elster 1988, 74 f. Elster bezieht sich allerdings nicht primår auf zugeteilte Arbeit, sondern auf staatlich subventionierte Tåtigkeiten und Arbeitsbeschaffungsmaûnahmen. Sofern die mit staatlicher Unterstçtzung eingerichteten Stellen nur eine Beschåftigungstherapie darstellen, mag sein Einwand zutreffend sein, da die Personen in diesem Fall nichts zum ækonomischen Leistungsaustausch beitragen. 31 Øhnlich argumentiert Kavka 1992, 287. 29 30
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Rippe versucht, einen zur Erwerbsarbeitslosigkeit analogen Fall zu konstruieren. Zunåchst geht er von der nicht unplausiblen Voraussetzung aus, daû neben der Arbeit auch intime persænliche Beziehungen eine basale Bedingung fçr die Selbstachtung darstellen. Øhnlich wie im Falle der Arbeitslosigkeit kann es nun Personen geben, die aufgrund ihrer unvorteilhaften persænlichen Ausstattung oder auch durch Zufall keinen Erfolg bei dem Versuch haben, einen Lebensgefåhrten zu finden. Wenn man ein Recht auf Arbeit fordert, um Personen zu versorgen, deren eigene Bemçhungen um Arbeit erfolglos sind, mçûte ± so Rippe ± analog dazu eine Zuteilung von Partnern durchgesetzt werden. 32 Diese Forderung sei aber inakzeptabel. Folglich erscheine auch ein Recht auf Arbeit, das sich aus einer parallelen Argumentation herleite, bei genauerem Hinsehen als fragwçrdig. Generell låût sich die Analogie der beiden Argumente bestreiten. Man muû zur Begrçndung eines Rechts auf Arbeit nicht behaupten, daû beliebige Voraussetzungen fçr ein positives Selbstwertgefçhl geschaffen werden sollten, sondern nur einen akzeptablen gesellschaftlichen Status einfordern. Es ist aber nicht notwendigerweise ein Statusverlust, Single zu sein. Doch selbst wenn man sich vorstellt, daû alleinstehende Personen in eine marginale gesellschaftliche Position geraten wçrden, lassen sich zwei schlagende Einwånde gegen die Folgerung erheben, daû sich ein zum Recht auf Arbeit analoger Rechtsanspruch ergeben wçrde. Zum einen wçrde eine Zuteilung von Personen ihren Zweck nicht erfçllen: Die »Partner« wçrden im Normalfalle keine persænliche Beziehung aufbauen; dem vermeintlichen Nutznieûer der Forderung wåre insofern nicht gedient. Ein zugeteilter Arbeitsplatz wçrde hingegen durchaus den gewçnschten Effekt haben, die Person am gesellschaftlichen Leistungsaustausch zu beteiligen. Zum anderen ist das Recht, çber persænliche Belange selbst entscheiden zu dçrfen, eine elementare Grundfreiheit, die gegen Zwangsheiraten oder åhnliche Maûnahmen spricht. Ein åhnlich gewichtiges Interesse stellt aber die Freiheit bei der EinstelRippe 1995, 62 ff. diskutiert dieses Beispiel unter dem Schlagwort »Recht auf Ehe«. Den Einwand der Kontraproduktivitåt der Forderung macht er selbst; er erwåhnt auch die mæglicherweise wichtigere Funktion der Erwerbsarbeit. Daher ist die Parallele auch nach Rippes Ansicht nicht zwingend. Daû im Falle der intimen Beziehungen ein relevantes Freiheitsrecht einschlågig ist, wird hingegen nicht gesehen. Wåre dem nicht so und wåre die Forderung praktikabel, kænnte sie auch ernsthaft in Betracht gezogen werden.
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lung von Bewerbern nicht dar. Die Intimsphåre ist in einer anderen Weise schutzbedçrftig als der Bereich zeitlich begrenzter beruflicher Zusammenarbeit. 33 Ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit verletzt nicht generell grundlegende Freiheitsrechte. Aber es kænnte sich z. B. herausstellen, daû der Rechtsanspruch nur eingelæst werden kann, indem Personen zur Arbeit gezwungen werden oder indem elementare politische Rechte beschnitten werden. In diesen Fållen dçrfte der Anspruch nicht in Kraft treten. Ebenso wåre es nach den im letzten Abschnitt angestellten Abwågungen nicht zulåssig, eine Arbeitsgarantie durchzusetzen, wenn dies zur Folge håtte, daû die Grundversorgung einiger Personen gefåhrdet wåre. Diese beiden Bedingungen begrenzen die zulåssigen rechtlichen und politischen Maûnahmen zur Umsetzung des Rechtsanspruchs. Ein Konflikt kænnte sich auch mit dem Interesse der Personen an einer mæglichst hohen (absoluten) finanziellen Ausstattung ergeben. Es ist denkbar, daû die Produktivitåt durch die Einfçhrung eines Rechts auf Arbeit so stark sinken wçrde, daû alle Beteiligten absolut schlechter gestellt wåren. Das Interesse daran, nicht sozial marginalisiert zu sein, wçrde vielleicht nicht in jedem Falle schwerer wiegen als die finanzielle Besserstellung. Immerhin haben die Personen aber gute Grçnde, ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit vorzuziehen, sofern die materiellen Einbuûen nicht sehr erheblich sind: Sie kænnen dadurch nicht nur eine relative ækonomische Schlechterstellung vermeiden, sondern auch die gesellschaftliche Beteiligung und die soziale Anerkennung sichern. Zweitens liegt mæglicherweise eine Kollision mit dem Wunsch nach græûtmæglicher Freiheit vor. Um ein Recht auf Arbeit zu ermæglichen, kænnte es notwendig sein, die freie Verfçgung çber bereits erworbenes Eigentum einzuschrånken. Arbeitgeber wçrden vielleicht nicht immer nach eigenem Gusto entscheiden kænnen, wen sie zu welchen Konditionen einstellen wollen. Auch die Arbeitnehmer mçûten ggf. auf erwçnschte Mehrarbeit verzichten. Dadurch wçrde die freie Aushandlung von Arbeitsvertrågen begrenzt werden. Der Anspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit hat aber stårkeres Gewicht, da die Absicherung gegen eine marginale soziale
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Vgl. dazu auch Kavka 1992, 281.
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Argumente fçr (und wider) ein Recht auf Arbeit
Position unter fairen Bedingungen gegençber den genannten Freiheiten vorgezogen werden wçrde. Drittens kænnte ein Konflikt des Rechts auf Arbeit mit dem Prinzip der Aufwandshonorierung auftreten. Es wåre vielleicht nicht immer gewåhrleistet, daû Personen einen Arbeitsplatz wegen der besseren Qualifikation oder aufgrund sonstiger Vorleistungen erhalten. Personen, die långere Zeit arbeitslos waren, mçûten evtl. vorgezogen werden. Auch diese Interessenkollision muû nach den Abwågungen des vorigen Abschnitts ggf. zugunsten des Rechts auf Arbeit entschieden werden. Damit ist die von mir in diesem Kapitel angestrebte Begrçndung eines Rechtsanspruchs auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit abgeschlossen. Es wurde deutlich, daû Personen ein berechtigtes Interesse daran haben, allgemeine Voraussetzungen des Wohlergehens zu sichern. Zu diesen Bedingungen gehært eine angemessene soziale Position, die gefåhrdet ist, wenn Menschen dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Auûerdem wurde geprçft, in welchen Hinsichten ein Recht auf Arbeit stårkeres Gewicht hat als mæglicherweise konfligierende Ansprçche. Ich mæchte abschlieûend kurz zu alternativen Versuchen, ein Recht auf Arbeit zu begrçnden, Stellung nehmen. Neben Ulrich Steinvorth, dessen Argument bereits in Abschnitt III.3 kritisiert wurde, haben insbesondere Ernst Tugendhat und Walter Pfannkuche einen solchen Rechtsanspruch vertreten. 34 Beide teilen die These dieser Untersuchung, daû (u. a.) die Selbstachtung gefåhrdet ist, wenn Personen keiner Erwerbsarbeit nachgehen kænnen. Allerdings werden die theoretischen Grundlagen des Anspruchs nicht deutlich herausgestellt; dies liegt sicher nicht zuletzt daran, daû im Rahmen eines Aufsatzes keine detaillierte Ausarbeitung mæglich ist. Pfannkuche stçtzt seine Argumentation auf mehrere Funktionen der Arbeit, von denen einige (wie er selbst zugibt) nicht zwingend an die Erwerbsarbeit gebunden sind. Hierzu gehæren die Ausçbung von Fåhigkeiten sowie die (gute) Ausfçhrung einer Arbeit als
Weitere Verfechter des Rechts auf Arbeit sind Sayers 1988, Nickel 1979, Townsend 1979 und Rustin 1983. Kavka 1992 vertritt ein Recht auf Arbeit fçr Behinderte; vgl. dazu Abschnitt V. 3.
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Begrçndung des Rechts auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit
Quelle des Selbstwertgefçhls und der Schåtzung durch andere Personen. Daneben werden aber auch die gesellschaftliche Beteiligung, ein akzeptables Einkommen und negative psychische Folgeerscheinungen der Arbeitslosigkeit benannt, die m. E. die generelle Bedeutung der Erwerbsarbeit erklåren. 35 Pfannkuche geht davon aus, daû die Arbeit ein Grundgut ist und daû sie daher durch einen Rechtsanspruch abgesichert werden mçûte. Grundgçter definiert er åhnlich wie Rawls als »¼ solche, die vorhanden sein mçssen, damit jemand çberhaupt Ziele verfolgen kann.« 36 Daû die Erwerbsarbeit in diesem Sinne ein Grundgut darstellt, erscheint aber nicht einleuchtend. Es wçrde Pfannkuches Versuch einer Begrçndung des Rechts auf Arbeit entgegenkommen, wenn er auf elementare Bedingungen des Wohlergehens Bezug nåhme. 37 Tugendhat vermutet zwar ebenfalls eine Beziehung zwischen Selbstachtung und Erwerbsarbeit, aber er fçhrt Faktoren ein, die m. E. nicht im Zentrum einer Argumentation fçr einen Rechtsanspruch auf Arbeit stehen sollten. 38 Zum einen geht er davon aus, daû die (gute) Ausçbung von Fåhigkeiten die Selbstachtung wesentlich bestimmt. Das ist nicht unbedingt zwingend, und die Relevanz der Erwerbsarbeit låût sich dadurch auch nicht belegen: Einerseits ist nicht jede Art der Erwerbsarbeit so beschaffen, daû sie die Fåhigkeiten anspricht; andererseits lassen sich Fåhigkeiten auch auûerhalb der Erwerbsarbeit einsetzen. 39 Zweitens wird von Tugendhat die Selbståndigkeit der Personen als wesentliche Voraussetzung der Selbstachtung angesehen. Diese Hypothese wird zwar durch empirische Befunde gestçtzt, aber sie setzt ein bestimmtes Selbstbild voraus. Ich hatte den genannten Aspekt nur mit gewissen Vorbehalten fçr wichtig befunden, da nicht alle Lebensabschnitte von der Erwartung geprågt sind, den Unterhalt selbst zu verdienen. 40 In dieser Hin-
Vgl. Pfannkuche 1996, 101 f. A. a. O., 104. Pfannkuche fçhrt als zweites Kriterium ein, daû »¼ das Fehlen eines Grundgutes meist nicht durch eine bessere Ausstattung mit anderen Gçtern kompensiert werden ¼« kann. In diesem allgemeineren Sinne kænnte die Erwerbsarbeit ein Grundgut darstellen. 37 Pfannkuches detaillierte Vorschlåge zur Konkretisierung des Rechtsanspruchs werde ich im folgenden Kapitel besprechen. 38 Vgl. Tugendhat 1992, 362 f. sowie Tugendhat 1993, 359 ff. 39 Vgl. auch Abschnitt II.3. 40 Vgl. Abschnitt I.3. 35 36
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sicht låût sich die zentrale Rolle der Erwerbsarbeit mæglicherweise abschwåchen. Die m. E. zentralen Funktionen der Erwerbsarbeit werden von Tugendhat nicht benannt. 41
In Tugendhat 1992 ist die Selbståndigkeit nicht nur eine Bedingung fçr die Selbstachtung, sondern sie spielt auch eine eigenståndige Rolle. Personen wollen nach Tugendhat autonom sein; Voraussetzungen dafçr sind neben (negativen) Freiheiten auch die Fåhigkeit und die Mæglichkeit zu handeln. In einem erweiterten Sinne wird das Recht auf Arbeit als Freiheitsrecht eingefçhrt: Es sichert die Mæglichkeit, sich zu ernåhren bzw. seine Fåhigkeiten einzusetzen. Diese Argumentation ist eine Variante der Steinvorthschen Begrçndung des Rechts auf Arbeit; sie unterliegt m. E. åhnlichen Problemen.
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V. Konkrete Forderungen: politische Maûnahmen und verånderte soziale Einstellungen
Nach den in den vorigen beiden Kapiteln angestellten normativen Ûberlegungen, die einen Rechtsanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit plausibel gemacht haben, will ich mich im Schluûkapitel konkreten Maûnahmen zur Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit zuwenden. Es hat sich gezeigt, daû unter den bestehenden Bedingungen die Forderung, an der Erwerbsarbeit beteiligt zu werden, erhebliches Gewicht hat. Schon die Mæglichkeit, einen selbstgewåhlten Lebensplan zu verwirklichen, ist durch die mit der Arbeitslosigkeit einhergehenden finanziellen Einbuûen beschrånkt. Plausibler und der Bedeutung der Erwerbsarbeit angemessener ist es aber, zentrale Funktionsweisen auszuzeichnen, die allgemeine Voraussetzungen des Wohlergehens darstellen, und sie in eine normative Theorie einzubeziehen. Auf diese Weise låût sich ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit am besten begrçnden: Eine akzeptable soziale Position ist auf der einen Seite eine elementare Bedingung des Wohlergehens, auf der anderen Seite ist sie eng an die Erwerbsarbeit geknçpft. Des weiteren hat sich ergeben, daû keine strikt egalitåre Theorie vertreten werden muû, um ein Recht auf Arbeit einzufordern. Es reicht aus, die Befriedigung allgemeiner Bedçrfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Aus diesem Grundsatz ergeben sich schwåchere ethische Konsequenzen als aus einem Gleichstellungsprinzip; er dçrfte dafçr aber eher allgemeine Zustimmung finden. Ein zu berçcksichtigendes Bedçrfnis ist insbesondere das Interesse, am ækonomischen Leistungsaustausch beteiligt zu werden und dadurch eine marginale soziale Position zu vermeiden. Andere Ansprçche ± wie eine bevorzugte Behandlung aufgrund besonderer Aufwendungen und eine mæglichst groûe ækonomische Freiheit ± mçssen gegençber dem Anspruch auf Arbeit zurçckstehen. Ich hatte die relevante Forderung mit dem Etikett »Recht auf Arbeit« (bzw. »Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit«) versehen. Diese Bezeichnung macht das Gewicht der Forderung als In160
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dividualanspruch deutlich, und sie ist auûerdem in der æffentlichen Diskussion wohlbekannt. Allerdings ist die Forderung sehr unpråzise; sie wird im folgenden genauer spezifiziert werden. Die von mir pråferierte Konkretisierung muû auûerdem gegençber anderen Interpretationen des Anspruchs verteidigt werden. Das soll im ersten Abschnitt dieses Kapitels geleistet werden. Der zweite Abschnitt gibt einen Ûberblick çber die drei wichtigsten Strategien zur Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit. Ihre Erfolgsaussichten sollen abgeschåtzt werden, und sie sollen normativ bewertet werden. Danach wird es in den Abschnitten 3 und 4 mæglich sein, detailliertere Vorschlåge zur Arbeitsverteilung und zu flankierenden sozialen Verånderungen zu unterbreiten. Die Frage, ob die von mir verfolgten Ziele realisierbar sind, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht erschæpfend behandelt werden. Ich werde dazu nur einige kurze Einschåtzungen abgeben.
1. Konkretisierung des Rechts auf Arbeit Die Forderung nach einem Recht auf Arbeit ist nicht neu. Ursprçnglich in der Arbeiterbewegung erhoben, wurde sie spåter von Parteien und Organisationen aufgegriffen und im Jahre 1948 auch in die Menschenrechtserklårung der Vereinten Nationen aufgenommen. Die Popularitåt der Forderung erklårt, daû sich die meisten der ± im çbrigen spårlichen ± ethischen Untersuchungen zur Arbeitslosigkeit mit diesem Recht auseinandersetzen. Eine Sichtung der Beitråge zeigt aber schnell, daû mit »Recht auf Arbeit« unterschiedliche Dinge gemeint sein kænnen. In einem weiten Verståndnis ± wohl sogar dem ursprçnglichen ± wird diese Forderung so aufgefaût, daû im Falle der Arbeitslosigkeit eine finanzielle Unterstçtzung zu leisten ist. Naheliegenderweise war dies angesichts der Tatsache, daû der Verlust des Arbeitsplatzes fçr die meisten Menschen Armut mit sich brachte, der dringlichste Anspruch. Die ersten Kapitel dieser Untersuchung haben aber gezeigt, daû die finanzielle Absicherung nicht ausreicht. Auûerdem ist es eher irrefçhrend, den Anspruch als Recht auf Arbeit zu bezeichnen; angemessener wåre die Rede von einem Recht auf soziale Unterstçtzung. Eine ebenfalls milde Deutung des Rechts auf Arbeit, die auch in der politischen Praxis einschlågig ist, besteht darin, Vollbeschåftigung als gesellschaftspolitisches Ziel aufzufassen. Diese InterpretaErwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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tion garantiert allerdings niemandem einen Arbeitsplatz; sie kann sogar folgenlos bleiben, sofern andere politische Ziele als vordringlich eingestuft werden. Auch in diesem Fall ist es eine sachlich nicht glçckliche Ungenauigkeit, von einem Rechtsanspruch zu reden. 1 Wenn die Forderung nach einem Recht auf Arbeit streng wærtlich genommen wird, mçûte es einen jederzeit einklagbaren Anspruch geben, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Eine solche Garantie wåre aber vermutlich nur zu gewåhrleisten, wenn die Úkonomie dem politischen Apparat vollståndig untergeordnet wåre. Die Arbeit mçûte wahrscheinlich von einer zentralen Instanz geplant und zugeteilt werden. Diese radikale Alternative werde ich nicht diskutieren ± ich gehe davon aus, daû es nicht wçnschenswert ist, eine zentralistische Planwirtschaft ins Leben zu rufen. Die damit einhergehende Machtballung (und die vielleicht notwendigen Beschrånkungen der freien Berufswahl) kænnten politische und persænliche Grundfreiheiten ernsthaft gefåhrden; auûerdem ist es nicht unwahrscheinlich, daû der Verlust an Effizienz und Flexibilitåt zu einer erheblichen allgemeinen ækonomischen Schlechterstellung fçhren wçrde, die aus einer unparteiischen Perspektive ebenfalls nicht wçnschenswert wåre. 2 Unter gçnstigen Bedingungen kænnte es zur Sicherung des strikt verstandenen Rechtsanspruchs gençgen, einen zweiten (staatlichen) Arbeitsmarkt zu etablieren. Dies legt aber die Frage nahe, ob Arbeitsaufgaben çberhaupt im erforderlichen Maûe vorhanden sind ± schlieûlich sollten die staatlich subventionierten Tåtigkeiten keine reine Beschåftigungstherapie (oder eine Deklarierung von Nichtstun als Arbeit) darstellen, sondern in den ækonomischen Leistungsaustausch eingebunden sein. Auch die æffentliche Finanzierung der Arbeitståtigkeiten kann bei einer hohen Arbeitslosigkeit zum Problem werden. Eine relativ strikte Version des Rechtsanspruchs vertreten Pfannkuche 1996 sowie Gorz 1989. Beide fordern eine politisch durchzusetzende generelle Arbeitszeitverkçrzung, die so bemessen Diese Kritik findet sich auch bei Rippe 1995 und Steinvorth 1996. Etwas vorsichtiger formuliert wçrde ich sagen, daû die zur Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit notwendigen Maûnahmen keine Planwirtschaft erfordern. Im çbrigen ist Arbeitslosigkeit auch nicht als primåre Begrçndung fçr eine Planung der Úkonomie herangezogen worden ± im Sozialismus wurden allgemeinere Ûberlegungen zur ækonomischen Machtverteilung angestellt, und es wurde sogar eine hæhere Effizienz der Planwirtschaft postuliert.
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sein soll, daû allen Personen ein Erwerbsarbeitsplatz zur Verfçgung steht. Wåhrend Gorz davon ausgeht, daû das Arbeitsvolumen mittelfristig prognostizierbar ist ± eine fragwçrdige Vermutung, auf die ich unten noch eingehen werde ± , ist Pfannkuches Vorschlag flexibler: Er verlangt, daû von den Arbeitnehmern eine im Arbeitsvertrag festgelegte Menge an Arbeitszeit und Einkommen zur Disposition gestellt wird, um ggf. Erwerbsarbeitslose auffangen zu kænnen. Beide Autoren fordern als Gegenstçck zum Recht auf Arbeit eine Arbeitspflicht in dem Sinne, daû Personen keine soziale Unterstçtzung erhalten sollen, wenn ihnen eine Erwerbsarbeit garantiert wird. Als Begrçndung wird angefçhrt, daû Menschen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, obwohl sie es kænnten, auf Kosten der arbeitenden Bevælkerung leben. Diese Position muû man aber nicht vertreten, wenn die freien Phasen einigermaûen gleich verteilt sind. Mit der Arbeitspflicht und der fçr die Arbeitszeitverkçrzung notwendigen weitgehenden Planung der Úkonomie kommen Gorz und Pfannkuche einer Planwirtschaft mit erheblichen Freiheitsbeschneidungen zumindest nahe. Die geringe Flexibilitåt von Gorz' Vorschlag erklårt sich auch daraus, daû bei sehr stark voneinander abweichenden Arbeitsverhåltnissen die Gefahr einer Spaltung in Vollzeit- und Teilzeitarbeit besteht. Geringfçgige Beschåftigungen wçrden mæglicherweise keine akzeptable soziale Position sichern, da sie zu niedrig entlohnt wåren und nur eine geringe gesellschaftliche Beteiligung und Anerkennung gewåhrleisten wçrden. Insofern sei eine generelle Absenkung der Normalarbeitszeit, die als Maûstab fçr eine akzeptable Beteiligung am ækonomischen Leistungsaustausch dient, erforderlich. 3 Dieses Argument halte ich generell fçr richtig; allerdings muû sich daraus nicht zwangslåufig ergeben, daû alle Personen ein identisches Arbeitsquantum zu leisten haben. Es ist nichts gegen freiwillige Teilzeitarbeit einzuwenden; vielleicht ist sie fçr viele Personen angesichts ihrer Lebensplåne sogar wçnschenswert. Mit den zuletzt angestellten Ûberlegungen kristallisiert sich die m. E. plausible Interpretation des Rechts auf Arbeit ± und der notwendigen flankierenden Maûnahmen und sozialen Verånderungen ± heraus: Ein Recht auf Arbeit soll verhindern, daû Personen durch den Ausschluû aus der Erwerbsarbeit in eine marginale soziale Position gera3
Vgl. Gorz 1989, 269 ff.
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ten. Das bedeutet nicht, daû alle Personen in der gesamten Zeit der Erwerbsfåhigkeit arbeiten mçssen. Falls sie aber zeitweise nicht arbeiten, mçssen sie materiell versorgt sein, çber sinnvolle Betåtigungsalternativen verfçgen und die Gewiûheit haben, daû sie auf absehbare Zeit wieder in die Erwerbsarbeit zurçckkehren kænnen. Auch wenn diese Forderung schwåcher ist als das strikt verstandene, jederzeit einklagbare Recht auf einen Arbeitsplatz, ist es ± im Unterschied zu den zuerst vorgestellten Interpretationen ± dennoch nicht irrefçhrend, von einem Recht auf Arbeit (bzw. einem Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit) zu reden, da tatsåchlich ein individueller Anspruch auf Erwerbsarbeit besteht. Es bleiben einige Fragen offen, die eine genauere Ausgestaltung der Forderung betreffen. Zum einen wåre es wichtig, das zumutbare Verhåltnis von Arbeit und freier Zeit und die Anforderungen an die Tåtigkeiten genauer zu bestimmen. Zum anderen wåre zu klåren, wie lange Personen aus der Erwerbsarbeit herausfallen dçrfen, ohne daû sie in eine marginale soziale Position geraten. Die als normal empfundene Wochen- und auch Lebensarbeitszeit scheint sich relativ zur Gesamtabnahme des Arbeitsvolumens zu åndern. Auch eine flexiblere Verteilung der Arbeitsphasen kænnte, wenn sie sich etabliert, Akzeptanz finden. Die Hauptgefahr des Verlustes einer akzeptablen sozialen Position hångt daran, daû Personen gånzlich aus der Arbeitswelt ausgeschlossen sind oder relativ zu den Normalarbeitsplåtzen einer geringfçgigen Beschåftigung nachgehen. Damit soll nicht gesagt sein, daû eine individuell unterschiedliche Gestaltung nicht wçnschenswert wåre. Aber es wird ein Mindestmaû an Arbeit geben, das nur freiwillig unterschritten werden darf. Ein unfreiwilliges Abdrången in solche Beschåftigungsverhåltnisse ist nicht legitim. Die entsprechenden Standards sind teils empirisch zu bestimmen, teils sind sie Gegenstand einer politischen Aushandlung. Ich glaube nicht, daû eine theoretische normative Analyse in dieser Hinsicht befriedigende Auskunft erteilen kann. Sie liefert vielmehr den Hintergrund fçr eine genauere Ausarbeitung. Es sollte nicht çbersehen werden, daû ein Recht auf Arbeit im von mir explizierten Sinne keineswegs schwach ist. Ich gehe davon aus, daû das Bedçrfnis, eine Erwerbsarbeit zu haben, eine erhebliche ± und gegençber anderen normativen Forderungen sogar ausschlaggebende ± Rolle spielen kann. Der Anspruch rechtfertigt gegebenenfalls eine bevorzugte Einstellung von Langzeitarbeitslosen gegençber gleich qualifizierten, unter Umstånden sogar gegençber besser 164
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qualifizierten Bewerbern. Auch die Freiheit in der Ausgestaltung von Arbeitsvertrågen kann eingeschrånkt werden. Die Diskussion im vorangegangenen Kapitel hat gezeigt, daû das Bedçrfnis nach einer Integration in die Arbeitswelt normativ ein stårkeres Gewicht hat als die genannten konkurrierenden Ansprçche. Gegen die von mir pråferierte Interpretation des Rechts auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit kann nicht ohne weiteres eingewendet werden, die Forderung sei nicht (oder nur unter untragbaren Kosten) einlæsbar. Gegner des Rechts auf Arbeit machen in der Regel eine extrem starke Auslegung des Anspruchs, die ich nicht vertrete, explizit oder implizit zum Gegenstand ihrer Kritik. Dies gilt z. B. fçr Elster 1988: Er geht davon aus, daû eine ståndige Beteiligung an der Erwerbsarbeit durch einen zweiten Arbeitsmarkt gesichert werden soll. Das håtte aber die Konsequenz, daû sich die Unternehmer entweder aus den entsprechenden Branchen zurçckziehen wçrden oder daû sie, um Arbeitskråfte abzuwerben, hæhere Læhne anbieten mçûten. Falls die Bezahlung der staatlich subventionierten Arbeit dem privatwirtschaftlichen Niveau angeglichen wçrde, wçrde sich dieser Effekt wiederholen. Entweder wçrde sich mit der Zeit eine Planwirtschaft ergeben, oder die staatlich eingerichteten Arbeitsplåtze wçrden relativ zu vergleichbaren Tåtigkeiten in der Privatwirtschaft schlechter bezahlt werden. Dies hålt Elster fçr unangemessen, da das Selbstwertgefçhl der Erwerbståtigen auf diese Weise nicht gesichert werden kænne. 4 Dieser Einwand setzt voraus, daû eine ståndige Teilnahme an der Erwerbsarbeit garantiert werden soll und daû eine unterschiedliche Entlohnung prinzipiell ausgeschlossen werden muû. Beides hatte ich nicht gefordert. Es gåbe in der von mir vorgeschlagenen Interpretation des Rechtsanspruchs zwar Untergrenzen fçr eine akzeptable Arbeit, die aber weniger eng wåren als die von Elster benannten Einschrånkungen. Insofern ist zumindest nicht prima facie klar, daû ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht einlæsbar ist. Erforderlich Vgl. Elster 1988, 73 f. Rippe 1995, 69 f. wiederholt weitgehend denselben Einwand. Er erkennt zwar an, daû die von Elster angesprochene unterschiedliche Entlohnung ein Recht auf Arbeit nicht widerlegt. Rippe formuliert allerdings eine zusåtzliche Bedingung, die die Einlæsbarkeit des Rechtsanspruchs in Frage stellt: Die garantierte Erwerbsarbeit soll dem jeweiligen Ausbildungsniveau entsprechen. Auch diese starke Forderung habe ich nicht erhoben.
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wåren (nur) eine Beschrånkung der ækonomischen Handlungsfreiheit, der Aufwandshonorierung und der Effizienz. Der empirische Nachweis der Nichtrealisierbarkeit der Forderung dçrfte nicht leicht fallen; es mçûten eine ganze Reihe zusåtzlicher Annahmen begrçndet werden.
2. Mægliche Strategien gegen die Arbeitslosigkeit Im folgenden wird es darum gehen, detaillierte Maûnahmen zur Umsetzung des Rechtsanspruchs vorzuschlagen. Es erscheint mir sinnvoll, zunåchst einmal einen allgemeinen Ûberblick çber die wichtigsten Strategien zur Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit zu geben, die gegenwårtig diskutiert werden. Die bisher entwickelten ethischen Vorgaben machen es mæglich, die Maûnahmen unter einer normativen Perspektive zu bewerten. Inwieweit die Vorschlåge erfolgversprechend sind, ist hingegen eine empirische Frage. Im Hinblick darauf werden die Erærterungen des Abschnitts I.1 helfen, zumindest gånzlich unplausible Prognosen auszuschlieûen. Eine genauere Analyse fållt nicht in meine Kompetenz. Sie wåre von anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu leisten. Grundsåtzlich lassen sich drei Strategien unterscheiden, die in der Diskussion çber die Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit eine Rolle spielen: (i) Vermehrung der Arbeitsplåtze, (ii) Umverteilung der Erwerbsarbeit, (iii) Abschwåchung der dominanten Rolle der Erwerbsarbeit. Dabei gehen die beiden zuletzt genannten Vorschlåge im Unterschied zum ersten davon aus, daû das Gesamtvolumen der Erwerbsarbeit nicht hinreichend erhæht werden kann. Die Strategien sollen in diesem Abschnitt genauer differenziert und untersucht werden. (i) In Kapitel I dieser Untersuchung wurde die These vertreten, daû es gewichtige Grçnde gibt, gegençber der Mæglichkeit, die Arbeitsplåtze im erforderlichen Maûe zu vermehren, skeptisch zu sein. Dennoch beherrschen Vorschlåge zur Verbesserung der »Angebotsbedingungen« fçr die Arbeit weitgehend die æffentliche Diskussion. Insbesondere wird darauf verwiesen, daû durch eine Senkung der Lohn(neben)kosten der Anreiz, mehr Personen einzustellen, ver166
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Mægliche Strategien gegen die Arbeitslosigkeit
græûert werden wçrde. Auûerdem wird vorgeschlagen, die Arbeitszeiten und die Arbeitsvertråge insgesamt zu flexibilisieren, so daû verstårkt Teilzeit- und Kurzarbeit angeboten werden kænnen. Zusåtzlich wird die Abschaffung der Kapitalsteuer gefordert, um den Anreiz fçr Investitionen ± insbesondere in zukunftstråchtige Sektoren ± zu erhæhen und dadurch (angeblich) Arbeitsplåtze zu schaffen. Insgesamt stehen die vorgeschlagenen Maûnahmen unter der Rubrik »internationale Wettbewerbsfåhigkeit«. Es wird unterstellt, daû die Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrielåndern dadurch beseitigt werden kann, daû gçnstigere Bedingungen fçr Groûunternehmen geboten werden (niedrigere Læhne, flexiblere Arbeitsvertråge, geringere Kapitalsteuer). Es sollte nicht auûer Acht gelassen werden, daû diese insbesondere von Arbeitgeberseite vorgeschlagene Strategie nicht zuletzt dem Interesse verpflichtet ist, Unternehmensgewinne zu erhæhen. Es ist hæchst zweifelhaft, ob sich die Gelder, die die Unternehmen durch die Abschaffung der Kapitalsteuer einsparen wçrden, in zusåtzliche Arbeitsplåtze umsetzen wçrden. Selbst wenn die Gewinne investiert und nicht etwa zurçckgelegt wçrden, ist es denkbar und nicht unwahrscheinlich, daû sie fçr Technologien eingesetzt werden wçrden, die menschliche Arbeit weitgehend verzichtbar machen. Eine Erhæhung der Beschåftigung durch Senkung der Lohn(neben)kosten und Flexibilisierung der Arbeitszeiten wåre allenfalls ein Pyrrhussieg: Der Preis bestçnde in einem weitgehenden Verlust an sozialer Sicherheit ± wenn nicht gar darin, daû die erzielten Einkommen fçr den Lebensunterhalt nicht ausreichen. Insofern ist diese Strategie normativ inakzeptabel, falls sie nicht durch andere Maûnahmen ± z. B. ein Grundeinkommen ± flankiert wird. Die im vorigen Abschnitt aufgestellte Bedingung, daû eine Spaltung in unfreiwillig marginal Beschåftigte und Inhaber von Vollzeitarbeitsplåtzen vermieden werden muû, wåre ebenfalls verletzt. Die genannte Strategie entspricht also nicht den normativen Vorgaben, die in dieser Untersuchung verteidigt wurden. Damit ist nicht gesagt, daû nicht einige ihrer Elemente in einem umfassenden Maûnahmenbçndel berçcksichtigt werden sollten. Als Hauptkonkurrent zu den obigen (neo)liberalen Ansåtzen sind keynesianische Wirtschaftsstrategien zu nennen. Keynes vertrat die Position, daû nicht primår eine Erhæhung und Verbesserung des Angebots sinnvoll sei, sondern daû vor allem die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen gestårkt werden mçsse. Um dies zu Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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erreichen, wurden Lohnerhæhungen durchgesetzt, die die Kaufkraft erhæhten. Die lange Zeit dominante keynesianische Wirtschaftspolitik scheint aber unter den verånderten Bedingungen einer verschårften internationalen Konkurrenz kaum noch mæglich zu sein. Auûerdem ist nicht gesagt, daû eine græûere Nachfrage im erforderlichen Maûe zu neuen Arbeitsplåtzen fçhren wçrde. Ebenfalls in die erste Gruppe fallen Vorschlåge, die eine æffentliche Finanzierung von Arbeitsplåtzen fordern. Dabei wird in der Regel richtigerweise hinzugefçgt, daû es nicht um Beschåftigungstherapie ± oder um Deklaration von Nichtstun als Arbeit ± gehen darf, sondern daû es sich um wichtige Aufgaben handeln muû, die ansonsten nicht erledigt werden. Die These lautet pointiert: Es gibt gar nicht zu wenig Arbeit, sondern es fehlt am Einsatz von Kapital in Bereichen, die nicht profitabel sind. So behauptet Steinvorth: »Selbst in den an Kapital reichen Låndern gibt es noch zu viel sogar an industrieller Arbeit zu tun; auûer in den genannten Bereichen Nahverkehrsmittel, Wohnungen¬ in dem der Regeneration und Substitution gefåhrdeter natçrlicher Ressourcen, und noch mehr an Arbeit in der Erziehung, der Gesundheit, dem Schutz von Stådten und Banlieues. Das Problem ist nicht der Mangel an Arbeit, sondern an Kapital dort, wo es Arbeit zu tun gåbe.« 5 Folglich schlågt er æffentlich finanzierte Arbeiten in den Sektoren vor, die von der Privatwirtschaft nicht ausreichend oder gar nicht abgedeckt werden. 6 Nun lassen sich sicher Beispiele finden, die Steinvorths These stçtzen. Allerdings folgt daraus nicht, daû das Volumen der nætigen Tåtigkeiten annåhernd der Nachfrage nach Arbeitsplåtzen entspricht ± und abgesehen davon mçûte geklårt werden, woher die zu investierenden Gelder kommen sollen. 7 Im çbrigen werden hier zwei Probleme vermengt: Der Grund dafçr, daû die zu spezifizierenden Tåtigkeiten in Angriff genommen Steinvorth 1996, 82. Steinvorth kommt zu dieser Folgerung vor allem deshalb, weil er aus der angeblichen weitgehenden Wirkungslosigkeit von Arbeitszeitverkçrzungen als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit schlieût, daû der Produktivitåtsanstieg nicht die entscheidende Ursache des Problems ist. Dieser Schluû ist nicht zwingend und m. E. auch nicht plausibel. Seit der Industrialisierung hat es erhebliche Arbeitszeitverkçrzungen gegeben, die die durch Rationalisierungen bedingten Senkungen des Arbeitsvolumens teilweise aufgefangen haben. Es ist nicht auszudenken, welche Arbeitsmarktsituation zu konstatieren wåre, wåren die Arbeitszeiten noch so lang wie vor 100 oder vor 50 Jahren. 7 Man beachte, daû nicht nur Læhne zu zahlen wåren, sondern darçber hinaus unter Umstånden erhebliche Sachmittel aufgewendet werden mçûten. 5 6
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Mægliche Strategien gegen die Arbeitslosigkeit
werden sollten, ist die Tatsache, daû sie notwendig sind, und nicht die Arbeitslosigkeit. Es ist rhetorisch geschickt, beide Fliegen mit einer Klappe schlagen zu wollen, aber sachlich ist die Vermischung m. E. wenig hilfreich. Es soll nicht unerwåhnt bleiben, daû die Vermehrung der Arbeit gelegentlich auch einfach durch eine Neudefinition vonstatten gehen soll. Ein Beispiel dafçr ist Beate Månnels Beitrag »Arbeit ± ein schillernder Begriff und seine ækonomische Wirklichkeit«. Sie schlågt einen verånderten Arbeitsbegriff vor und behauptet: »Diese Neudefinition von Arbeit geht das Problem der Arbeitslosigkeit auf der Ebene der Normen und der Interpretationskonstrukte an und çberwindet es im Bereich der heute »Arbeitslosen«, indem die dort erbrachten Arbeitsleistungen auch als Arbeit anerkannt werden (z. B. die Produktion im privaten Haushalt, Eigenarbeit, Arbeit in Selbsthilfeinitiativen und Ehrenåmtern, denen der Charakter der Arbeit bisher abgesprochen wurde) ¼ Eine solche neue Qualitåt von Arbeit schafft einerseits das Bewuûtsein, daû gesellschaftlich bereits viel mehr Arbeit geleistet wird (und also vorhanden ist), als die Statistiken der Erwerbsarbeit suggerieren ¼«. 8 Man kann natçrlich den Arbeitsbegriff erweitern und darauf hinweisen, daû etliche nicht entlohnte Tåtigkeiten als Arbeit aufzufassen sind und daû die Aufgabe darin besteht, diese Felder (wieder) zu entdecken und zu nutzen. Eine solche Strategie bleibt aber die Antwort schuldig, wovon die Personen ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen ± auûer es wird zusåtzlich die Forderung erhoben, daû die Tåtigkeiten vergçtet werden sollen. Diesen Hinweis vergessen die Verfechter einer Umdefinition der Arbeit jedoch oft. Auch die spezifischen Funktionen der Erwerbsarbeit, die çber die Einkommenssicherung hinausgehen ± insbesondere die Beteiligung am allgemeinen gesellschaftlichen Leistungsaustausch ±, werden nicht hinreichend bedacht. Insgesamt erscheint es mir sinnvoller, die genannte Option unter der Rubrik »Alternativen zur Erwerbsarbeit« zu diskutieren. 9 Nicht selten wird die Diskussion auf ein weiteres Feld ausgedehnt: die privat geleistete Betreuungståtigkeit. Ûberspitzt wird (vor allem Frauen) mitgeteilt, daû sie ja schlieûlich auch eine Arbeit leisten oder leisten kænnten, die unverzichtbar ist. Nun mçûte, wenn das Aufziehen von Kindern oder åhnliche Aufgaben als Arbeit im 8 9
Månnel 1996, 109. Siehe dazu die Bemerkungen in Teilabschnitt (iii).
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ækonomischen Sinne angesehen werden, konsequenterweise gesagt werden, daû diese Tåtigkeiten ein Einkommen erzielen mçûten. Dieser Schritt wird von einigen, aber långst nicht von allen Vertretern des Vorschlags vollzogen. Wie in Abschnitt II.1 ausgefçhrt wurde, erscheint es mir jedoch generell fragwçrdig, die Diskussion çber eine Entlohnung der Betreuungsarbeit mit dem Problem der Arbeitslosigkeit in Verbindung zu bringen. Der plausible Grund fçr ein Entgelt ist eine Gerechtigkeitsçberlegung; die Entlohnung sollte nicht eine sekundåre Konsequenz der (impliziten) Intention sein, Frauen in die familiåre Sphåre zurçckzudrången. Auch entlohnte private Betreuungståtigkeiten sichern auûerdem nicht die gesellschaftliche Beteiligung, und sie schçtzen daher nicht gegen eine marginale soziale Position. Es ist unangemessen, Alternativen vorzuschlagen, die fçr eine Gruppe von Personen einen Ausschluû aus der Erwerbsarbeit bedeuten; dies gilt auch dann, wenn die geschlechtsspezifische Zuordnung weggelassen wird und das »Angebot« an Frauen und Månner ergeht. (ii) Eine Umverteilung der Erwerbsarbeit wird vor allem von den Gewerkschaften gefordert. 10 Traditionell ist das vorgeschlagene Mittel die Arbeitszeitverkçrzung. Es sollte zwar nicht çbersehen werden, daû Arbeitszeitverkçrzungen den Inhabern von Arbeitsplåtzen zugute kommen und daû sie insofern primår eine andere Intention verfolgen als die Bekåmpfung der Arbeitslosigkeit. Dennoch ist es plausibel, daû bei einer Verringerung des Arbeitsvolumens Entlassungen vermieden werden kænnen, wenn die Arbeitszeit gesenkt wird. Allerdings mçssen die Lohnausfålle zumindest teilweise ausgeglichen werden, um eine prekåre finanzielle Situation der Beschåftigten zu vermeiden. Rifkin weist darauf hin, daû die notwendige Lohnerhæhung unter Welthandelsbedingungen letztlich nur durchsetzbar ist, wenn die Arbeitszeitverkçrzungen international einheitlich vorgenommen werden. 11 Darin liegt ein besonderes Problem, das nur durch schwierige Verhandlungen oder ækonomischen Druck gelæst werden kann. Ob protektionistische Maûnahmen wie Einfuhrzælle, die nach Arbeitszeiten und Læhnen der Exportlånder gestaffelt wåren, vertretbar und sinnvoll sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Siehe auûer Gorz 1989 auch Riester 1994. Neben der Forderung nach Arbeitszeitverkçrzungen zeigt sich Riester auch fçr freiwillige Teilzeitarbeit offen. 11 Vgl. Rifkin 1995, 173 ff. Siehe auch Jahoda 1983, 160. 10
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Mægliche Strategien gegen die Arbeitslosigkeit
Generell sind aber die meisten Vorschlåge, die hier untersucht werden, von internationalen Vereinbarungen abhångig, da die Gefahr der Verlagerung der Produktionsståtten in unternehmens- und kapitalfreundlichere Lånder nicht çbersehen werden darf. 12 Mit Arbeitszeitverkçrzungen sind weitere Probleme verbunden. Zum einen ist die rationalisierungsbedingte Abnahme des Arbeitsvolumens vielleicht nicht hinreichend voraussagbar und die notwendige Arbeitszeitverkçrzung nicht so weit planbar, daû der gewçnschte Verteilungseffekt erreicht werden kann. 13 Eine Verminderung der Arbeitszeit ist im çbrigen mæglicherweise nicht in allen Berufsgruppen denkbar: Tåtigkeiten, die ein hohes Maû an Verantwortung und Initiative erfordern, kænnten auch zeitaufwendiger sein. 14 Vor allem ist es jedoch fraglich, ob eine (Re-)Integration von Problemgruppen wie Behinderten oder Langzeitarbeitslosen durch Arbeitszeitverkçrzungen erreicht werden kann. Insgesamt wçrde zwar der durch die hohe Arbeitslosigkeit verursachte Selektionsdruck abnehmen und folglich eine græûere Zahl benachteiligter Personen eine Anstellung finden; dennoch ist es wahrscheinlich, daû auch nach drastischen Arbeitszeitverkçrzungen Menschen, die (vermeintlich) weniger leistungsfåhig sind, aus dem Erwerbsprozeû ausgeschlossen sein kænnten. Eine Verkçrzung der Arbeitszeit ist eine Strategie, die den hier vertretenen Individualanspruch auf Erwerbsarbeit unterstçtzen, ihn aber allein nicht gewåhrleisten kann. Damit soll die generelle Notwendigkeit von Arbeitszeitverkçrzungen in vielen Branchen nicht in Zweifel gezogen werden. Erstens lassen sich viele Arbeitsaufgaben auf mehrere Beschåftigte verteilen. Zweitens betrifft die gegenwårtige Massenarbeitslosigkeit nicht nur weniger leistungsfåhige Personen. Und drittens ist, wie im vorangegangenen Abschnitt erlåutert wurde, eine stetige VerAuch die Untersuchungen von Fleck 1996 zur zunehmenden Wirkungslosigkeit nationalstaatlicher Arbeitsmarktpolitik deuten in diese Richtung. 13 Vgl. dazu Rippe 1995, 68. Gorz 1989, 270 behauptet demgegençber: »Heute gibt es keine Industrie, keine Verwaltung, keinen æffentlichen Dienst und kein nennenswertes Unternehmen, die ihren qualitativen und quantitativen Arbeitskråftebedarf nicht vier Jahre im voraus planen mçûten ¼«. Es ist aber nicht zu çbersehen, wie wenig solche Planungen tatsåchlich funktionieren ± man denke nur an Prognosen çber die Berufschancen von Auszubildenden. 14 Gorz hålt diese Behauptung fçr ideologisch. Einige der besonderen Kompetenzen lassen sich vielleicht tatsåchlich auf mehrere Personen verteilen; aber daû dies generell mæglich ist, wird von Gorz nicht nachgewiesen. Vgl. Gorz 1989, 272 ff. 12
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kçrzung der Normalarbeitszeit angesichts des sinkenden Arbeitsvolumens auch insofern wçnschenswert, als sie einer Deklassierung von Tåtigkeiten als marginale Nebenbeschåftigung entgegenlåuft. 15 Es sind m. E. jedoch zusåtzliche Maûnahmen nætig, wenn ein Rechtsanspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit gewåhrleistet werden soll. Hierzu zåhlen etwa eine bevorzugte Einstellung von Arbeitslosen und mæglicherweise auch eine Rotation bei der Besetzung von Stellen. Besonders interessant erscheinen mir im çbrigen Vorschlåge, die eine mæglichst groûe Flexibilitåt bieten ± etwa die Mæglichkeit, weniger zu arbeiten oder auch phasenweise von der Erwerbståtigkeit befreit zu sein. Mit einer Zuteilung von Arbeitsplåtzen will ich mich im nåchsten Abschnitt eingehender beschåftigen, daher belasse ich es hier bei dieser kurzen Erwåhnung. (iii) Die Abschwåchung der dominanten Rolle der Erwerbsarbeit hatte ich oben bereits unter einem anderen und eher irrefçhrenden Label ± Vermehrung der Arbeit durch eine Neudefinition ± betrachtet. Wenn man eine Stårkung anderer Lebensbereiche fçr sinnvoll hålt, muû man grundsåtzlich auf zwei Fragen eine Antwort geben: (a) Wovon sollen die Personen leben? (b) Womit sollen sie sich beschåftigen? Wenn eine der beiden Fragen offengelassen wird, ist der Vorschlag fçr sich genommen nicht akzeptabel. Um das erste Problem zu læsen, werden insbesondere ein erwerbsunabhångiges Grundeinkommen oder eine negative Einkommenssteuer vorgeschlagen. Zusåtzlich mçûte darçber nachgedacht werden, wie die ebenfalls wesentlich an die Erwerbståtigkeit gebundenen sozialen Absicherungen (Kranken- und Altersversorgung) gewåhrleistet werden sollen. Die zweite Frage wird meist beantwortet, indem auf alternative Beschåftigungsmæglichkeiten verwiesen wird. Statt zu arbeiten, kænnten Menschen Begegnungen oder gemeinschaftliche Aktivitåten intensivieren sowie unterschiedliche Interessen verfolgen und entwickeln. In der Familie oder in der Nachbarschaft, aber auch im politischen Bereich wçrden sogar etliche wichtige Aufgaben ungençgend verrichtet. 16 Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daû es eine Reihe von sinnvollen Betåtigungen gibt, die durch die dominante Rolle der ErVgl. dazu auch Ulrich 1995, 51, der die Argumentation von Gorz çbernimmt. Lange 1996 setzt z. B. stark auf diese Alternativen, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu entschårfen. Vgl. auch die Erærterungen in Abschnitt I.3 dieser Untersuchung.
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Bevorzugte Einstellung von Dauerarbeitslosen
werbsarbeit zu sehr in den Hintergrund gerçckt sind. Wenn anerkannt wçrde, daû diese Aktivitåten wichtig sind und daû sie eine Herausforderung darstellen, kænnten evtl. elementare Probleme einiger Arbeitsloser wie ein vollståndiger Verlust an Initiative und das Abbrechen sozialer Kontakte vermieden werden. Auch die Anerkennung und das Selbstwertgefçhl wçrden durch eine solche Einbindung in gemeinschaftliche Aufgaben steigen. Solange aber die Erwerbsarbeit ihre Bedeutung nicht vollståndig verliert, werden auch Personen, die sich anderweitig beschåftigen und daraus vielleicht sogar Selbstachtung beziehen kænnen, håufig in eine marginale soziale Position geraten. 17 Die Beteiligung an der gesellschaftlichen Arbeit und der dadurch gewonnene Status als aktives Mitglied der Gesellschaft låût sich nicht durch besondere Arbeiten ersetzen, die aufgrund persænlicher Loyalitåten geleistet werden. 18 Es ist nicht akzeptabel, eine Spaltung in gesellschaftliche »Insider« und »Outsider« in Kauf zu nehmen. Eine Flexibilisierung und partielle Umorientierung der Lebensgestaltung ist vielleicht wçnschenswert, nicht aber der dauerhafte Ausschluû von Personen aus der Erwerbsarbeit. Daher werde ich im folgenden die Abschwåchung der dominanten Rolle der Erwerbsarbeit nicht als Alternative, sondern als Ergånzung zu Maûnahmen auffassen, die allen Personen eine adåquate Beteiligung am gesellschaftlichen Leistungsaustausch garantieren sollen. 19
3. Zur bevorzugten Einstellung von Personen, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind Eine generelle Verkçrzung der Normalarbeitszeit erscheint nach den oben angestellten Ûberlegungen unabdingbar. Sie wçrde eine Spaltung in zwei Klassen von Erwerbsarbeit verhindern helfen und zumindest einen wesentlichen Teil der Arbeitslosen auffangen. Soweit es sinnvoll ist, sollten auch æffentlich finanzierte Stellen eingerichtet werden. Allerdings ist damit noch nicht unbedingt ein IndividualEin extremes Beispiel fçr irrefçhrende Ûbertreibungen ist Rifkin 1995 in den Teilen seines Buches, in denen er von einem postmarktwirtschaftlichen Zeitalter spricht und (auch im Widerspruch zu seinen vorhergehenden Ausfçhrungen) beinahe so tut, als wçrde die Erwerbsarbeit ihre Bedeutung dadurch gånzlich einbçûen, daû zukçnftig Maschinen die Herstellung und Verteilung von Waren çbernåhmen. 18 Vgl. dazu die Abschnitte I.3 und II.1. 19 Vgl. dazu Abschnitt V. 4. 17
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anspruch auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit gewåhrleistet. Folglich kænnten weitergehende Maûnahmen erforderlich sein, die nicht so leicht zu akzeptieren sein werden. Da von einem dauerhaften Ausschluû aus der Erwerbsarbeit insbesondere bestimmte Personengruppen bedroht sind, liegt es nahe, nach bevorzugten Ansprçchen zu fragen. Eine detaillierte Begrçndung eines spezifischen Rechts auf Arbeit fçr eine akut betroffene Gruppe ± die der Behinderten ± hat in jçngerer Zeit Gregory Kavka vorgelegt. Mæglicherweise låût sich die Argumentation auf andere Problemgruppen çbertragen. Ich will daher im folgenden die Stichhaltigkeit seiner Ûberlegungen untersuchen. Kavka geht davon aus, daû die Erwerbsarbeit soziale Anerkennung und Selbstachtung vermittelt 20 , aber auch die ækonomische und gesellschaftliche Beteiligung sichert. 21 Insbesondere Behinderte haben groûe Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Neben indirekten Maûnahmen zur Verbesserung der beruflichen Chancen von Behinderten (Antidiskriminierungsgesetze, besondere Ausbildung, finanzielle Unterstçtzung der Betriebe zur Anpassung der Arbeitsplåtze) wird auch die unmittelbare Bevorzugung von behinderten Bewerbern bei der Arbeitsplatzvergabe ins Auge gefaût. Kavka wehrt einige Standardargumente gegen einen Rechtsanspruch auf Arbeit fçr Behinderte ab. 22 Der Haupteinwand, daû eine Ungerechtigkeit zu Lasten anderer Bewerber in Kauf genommen wird, reicht nach Kavka nicht hin, um die Maûnahmen begrçndet abzulehnen. Allerdings wird von ihm insofern ein Zugeståndnis gemacht, als er nur eine weiche Form der Bevorzugung vorschlågt: Ausschlieûlich im Falle einer gleichen Qualifikation sollen Behinderte vorrangig eingestellt werden. 23 Es sollte nicht çbersehen werden, daû die von Kavka geforderten konkreten Maûnahmen angesichts des angestrebten Ziels wahrscheinlich zu schwach sind: Eine Bevorzugung bei gleicher QualifiVgl. Kavka 1992, 271 f. »The right to work¬ ¼ is the right to participate as an active member in the productive process of one's society ¼«. (a. a. O., 264) 22 Kavka diskutiert ækonomische Effizienzerwågungen, die vermeintliche Analogie zu einem Recht auf Intimpartner und den Einwand, daû garantierte Arbeitsplåtze die Selbstachtung nicht stçtzen. Diese Einwånde hatte ich im letzten Kapitel ebenfalls untersucht und mit åhnlichen Argumenten wie Kavka widerlegt. 23 Vgl. a. a. O., 289. 20 21
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kation hat nicht unbedingt den Effekt, daû alle Behinderten einen Arbeitsplatz finden; insofern ist die Rede von einem Recht auf Arbeit eher irrefçhrend. Weshalb wird das Recht auf Arbeit nur Behinderten zugesprochen und nicht auch anderen Personengruppen? Zwei Grçnde werden von Kavka benannt: Zum einen sei ein generelles Recht auf Arbeit mit erheblichen Effizienzverlusten verbunden. Zum anderen seien Behinderte in hæherem Maûe auf die Erwerbsarbeit angewiesen als andere Personen, da ihnen auch in anderen Lebensbereichen wesentliche Voraussetzungen fehlen, um Wohlergehen und Selbstachtung zu erlangen. 24 Der erste Einwand gegen eine Erweiterung des Anspruchs ist fçr sich genommen kein Argument. Kavka mçûte ein Kriterium dafçr angeben, welche ækonomischen Konsequenzen nicht mehr tragbar sind. Es wåre nachzuweisen, daû die Effizienzeinbuûen so gravierend sind, daû ein Recht auf Arbeit aus einer unparteiischen Perspektive nicht wçnschenswert wåre. 25 Mæglicherweise låût sich ein solches Argument gegen eine strikte Arbeitsgarantie vorbringen; das ist jedoch keineswegs klar bezçglich der milderen Deutung des Rechts auf Arbeit, die nicht fordert, daû alle Personen permanent einer Arbeit nachgehen kænnen sollen, sondern nur, daû niemand gånzlich aus der Arbeitswelt ausgeschlossen werden darf. Ich gehe davon aus, daû durch den von mir pråferierten Rechtsanspruch die Produktivitåt der Wirtschaft nicht so stark eingeschrånkt wçrde, daû daraus eine unvertretbare allgemeine Schlechterstellung resultieren kænnte. 26 Kavkas Bedçrftigkeitsargument zeigt, daû Behinderte in einem besonderen Maûe auf die Erwerbsarbeit angewiesen sein kænnten. Im Unterschied zu einer starken Arbeitsorientierung låût sich dieses besondere Bedçrfnis nicht als eine teure Pråferenz ansehen, die keine Kompensation verdient. Behinderte sind vielmehr objektiv benachVgl. a. a. O., 266. Kavka selbst vertritt einen Kontraktualismus, der um spezielles und generelles Wohlwollen erweitert wird. Auf dieser Basis ist die Begrçndung des Rechts auf Arbeit m. E. leicht angreifbar, da die nætigen Annahmen çber die moralische Motivation der Beteiligten ad hoc erscheinen. Mit Kavkas theoretischen Grundlagen will ich mich hier nicht beschåftigen, obwohl sie als Modifikation des Buchananschen Ansatzes interessant sein kænnten. 26 Es kænnte allerdings der Fall eintreten, daû besonders bedçrftige Personen ± etwa chronisch Kranke ± nicht mehr angemessen versorgt werden kænnten. Dies wçrde eine Einschrånkung des Rechtsanspruchs erforderlich machen. 24 25
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teiligt. 27 Mæglicherweise wird dadurch plausibel gemacht, daû Behinderte einen besonderen Anspruch haben, permanent am Arbeitsprozeû beteiligt zu werden. Daraus wçrde sich ein stårkeres Recht auf Arbeit fçr diese Gruppe ergeben. Es folgt aber nicht, daû ein moderater interpretiertes allgemeines Recht auf Arbeit abzulehnen ist. Nach Kavka begrçnden Behinderungen einen Anspruch auf Kompensation, der fçr andere Formen von »bad luck« nicht gegeben ist. Dementsprechend håtten Personen, deren ausgebildete Fåhigkeiten unglçcklicherweise nicht mehr gebraucht werden, keine Ansprçche auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit. 28 Diese Ûberlegung ist m. E. nicht çberzeugend: Auch Unglçcksfålle sind, wie Dworkin gezeigt hat, ein guter Grund fçr Kompensationen. Kavka verbindet zwei Argumentationsstrategien: Einerseits soll die generelle Bedeutung der Erwerbsarbeit hervorgehoben werden; andererseits werden die besonderen Ansprçche der Behinderten begrçndet. Beides ist sicher plausibel. Allerdings zeigt sich, daû Kavka stårker auf dem zweiten Punkt besteht. Wenn man hingegen davon ausgeht, daû es ein allgemeines Bedçrfnis gibt, nicht aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen zu sein, mçssen auch andere Personengruppen beachtet werden, die eine geringere Chance haben, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Neben den Behinderten sind dies insbesondere Langzeitarbeitslose, Unqualifizierte und Frauen mit Kindern. Welche Folgerungen lassen sich aus den soeben angestellten Ûberlegungen ziehen? Im Rahmen dieser Untersuchung interessiert nicht die besondere Bedçrftigkeit von Individuen, die einen weitergehenden Anspruch auf Arbeit haben kænnten als andere Personen. Zwar mag dies fçr Behinderte, aber auch fçr andere Gruppen zutreffen. 29 Man kann jedoch davon ausgehen, daû die Erwerbsarbeit fçr alle Personen eine wichtige Rolle spielt. Wenn Problemgruppen unterschieden werden, dann soll das Unterscheidungskriterium nicht ein besonderes Bedçrfnis und/oder ein besonderer Anspruch der Personen sein, sondern die Tatsache, daû bestimmte Menschen spezifischen GefåhrVgl. Dworkins Unterscheidung von selbst zu verantwortenden Entscheidungen und natçrlichen Benachteiligungen, die in Abschnitt IV. 1 vorgestellt wurde. 28 Vgl. a. a. O., 280. 29 Martin 1993 argumentiert z. B. fçr einen vergleichbaren besonderen Anspruch von Strafgefangenen. 27
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dungen unterliegen, aus dem Arbeitsprozeû ausgeschlossen zu werden. Das gilt auch fçr Behinderte, und ohne diese Tatsache wçrde Kavka nicht auf einem Recht auf Arbeit fçr diese Gruppe bestehen. Allerdings gibt es andere Personen, die ebenfalls in besonderem Maûe von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind: Zum einen haben Langzeitarbeitslose Schwierigkeiten, in die Erwerbsarbeit reintegriert zu werden. Teils fehlen ihnen Erfahrungen und Qualifikationen, die durch die Beteiligung am Arbeitsprozeû erworben werden; teils werden sie aufgrund von Vorurteilen benachteiligt ± etwa der Unterstellung, sie seien an ihrer Situation mitschuldig oder sie håtten durch ihre lange Arbeitslosigkeit die Arbeitsdisziplin verlernt. 30 Personen, die keine oder nicht die gerade gefragten Ausbildungen besitzen, stellen ein anderes Problem dar. Sie haben aufgrund der simplen Tatsache, daû sie nicht vermittelbar sind, auf dem Arbeitsmarkt keine Chance. Schlieûlich sind Frauen zu nennen, die Kinder auf die Welt bringen und betreuen: Sie unterbrechen ihre Berufståtigkeit und haben Schwierigkeiten, wieder angestellt zu werden. Oft reicht die bloûe Mæglichkeit, daû Frauen schwanger werden kænnten, um ihnen gegençber månnliche Kandidaten vorzuziehen. Auch das Alter der Arbeitslosen und geringfçgigere Beeintråchtigungen als eine Behinderung spielen eine Rolle. 31 Diese spezifischen Problemgruppen, die einen Groûteil der ± offenen und versteckten ± Arbeitslosen ausmachen, mçssen besonders berçcksichtigt werden. Bei ihnen ist die Gefahr einer dauerhaften Erwerbsarbeitslosigkeit am græûten. Es gibt gute Grçnde, generell eine bevorzugte Anstellung von Personen zu fordern, die lange Zeit aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen waren. Mindestens muû verlangt werden, daû diese Personen bei gleicher Qualifikation vorgezogen werden. Vermutlich wird das aber nicht ausreichen, da Personen, die die Ausbildung gerade abgeschlossen haben oder die bereits am Arbeitsprozeû beteiligt waren, einen Qualifikationsvorsprung gegençber den Arbeitslosen haben. Daher muû eine flankierende Maûnahme darin bestehen, daû erhebliche Den Prozeû der Selbstverstårkung der Arbeitslosigkeit beschreiben Franz 1994, 60 f. sowie Layard 1994, 138 f. Marginalisierung und Frustration kænnen evtl. tatsåchlich dazu fçhren, daû Arbeitslose die Suche nach einer Stelle aufgeben und ihre Arbeitsmotivation verlieren. In diesem Fall kann man den Betroffenen aber kaum die Schuld an ihrem Zustand geben. 31 Vgl. die in Abschnitt I.2 vorgestellte Selektionsthese. 30
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Anstrengungen zur Weiterbildung von Personen unternommen werden, die fçr långere Zeit aus der Erwerbsarbeit ausscheiden. Falls diese relativ unanstæûigen Forderungen nicht ausreichen, sind aber auch weitergehende Schritte gerechtfertigt. Es kann sich als nætig erweisen, eine bevorzugte Einstellung von Langzeitarbeitslosen auch bei schlechterer, aber fçr die zu leistende Arbeit ausreichender Qualifikation durchzusetzen. Die Monopolisierung von Arbeitsplåtzen muû unter Umstånden ebenfalls verhindert werden. Die zuletzt genannten radikalen Forderungen sind natçrlich nicht wçnschenswert. Sie wålzen das Problem der Arbeitslosigkeit auf einzelne Personen ab, die sich noch dazu ungerecht behandelt fçhlen dçrften, da sie erworbene Ansprçche geltend machen kænnen und/oder fçr die jeweiligen Aufgaben besser geeignet sind. Insofern sind freiwillige Læsungen vorzuziehen ± etwa ein Abtreten von Arbeitsstunden oder gar ein zeitweiser Verzicht auf den Arbeitsplatz. Solche Mæglichkeiten dçrften dann weniger utopisch sein, wenn ein (zeitweiser) Rçcktritt von der Erwerbsarbeit nicht mehr ausschlieûlich mit der Negativzuschreibung »Arbeitslosigkeit« versehen wåre. Dieser Zustand mçûte vielmehr positiv gefçllt sein ± etwa als eine Phase, in der man sich anderen wichtigen Dingen widmen kann. Das weist auf die Notwendigkeit von sozialen Verånderungen hin, die eine Umverteilung der Arbeit flankieren mçûten. 32 Allerdings muû eine Schænfårbung des Rçcktritts von der Erwerbsarbeit vermieden werden: Es ist keineswegs ausgemacht, daû die Lebensalternativen fçr alle Personen so positiv sind, wie gelegentlich unterstellt wird. Insofern sind Frustrationen nicht vællig vermeidbar. Die Forderung nach einer Integration aller Menschen in die Arbeitswelt hat sich aber als so stark erwiesen, daû aus Gerechtigkeitsgrçnden ein Zurçckstellen des Wunsches nach permanenter Erwerbsbeteiligung erwartet werden muû. Arbeitgeber werden sich gegen die vorgeschlagene Maûnahme ebenfalls håufig stråuben. Es kænnte in dieser Hinsicht gçnstiger sein, eine bevorzugte Einstellung von Langzeitarbeitslosen durch Anreize zu erreichen ± etwa indem die eingesparten Sozialhilfekosten (ganz oder teilweise) dem Arbeitgeber gutgeschrieben werden. 33 Durch Zuschçsse oder Steuererleichterungen kænnten Firmen Vgl. dazu den folgenden Abschnitt. Vgl. dazu Layard 1994, 142. Rifkin schlågt Steuererleichterungen fçr Unternehmen vor, die Sozialhilfeempfånger einstellen.
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dazu bewegt werden, Arbeitsumverteilungen statt Entlassungen vorzunehmen, wenn das notwendige Arbeitsvolumen sinkt. 34 Auch eine Erhæhung der Beschåftigtenzahl kænnte auf diesem Wege attraktiv gemacht werden. An der in der BRD bestehenden Regelung zur Einstellung von Behinderten zeigt sich jedoch, daû Unternehmen in der Regel eher gewillt sind, finanzielle Einbuûen in Kauf zu nehmen, als eine nicht erwçnschte Person anzustellen. Zwangsmaûnahmen sind also mæglicherweise unvermeidlich, um ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit wirksam werden zu lassen. Durch eine bevorzugte Einstellung von Dauerarbeitslosen lassen sich die meisten der oben genannten Problemfålle auffangen. Auf diese Weise kann eine angemessene Teilnahme an der Erwerbsarbeit m. E. im wesentlichen erreicht werden. Hinderungsgrçnde fçr die (Wieder-)Einstellung mçûten allerdings beseitigt werden. Insbesondere erweist es sich als wichtig, Um- und Weiterbildungen in der Zeit der Arbeitslosigkeit zu ermæglichen. 35 Eine Problemgruppe widersetzt sich jedoch der hier vorgeschlagenen Strategie: Wie lassen sich Personen in die Erwerbsarbeit integrieren, die nicht in der Lage sind, die geforderten Qualifikationen zu erwerben? Da im Zuge der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes vor allem unqualifizierte Arbeiten wegfallen, kænnte sich dies als besondere Schwierigkeit erweisen. Generell wird sich die Situation durch Arbeitszeitverkçrzungen und Weiterbildungsmaûnahmen erheblich entschårfen lassen. Mir scheint es ein extremer Ausnahmefall zu sein, daû fçr eine Person çberhaupt keine Arbeitsmæglichkeit vorhanden sein sollte. Etliche ± notwendige ± Tåtigkeiten erfordern keine besonderen Qualifikationen. Vielleicht erscheint das Problem der unqualifizierten Arbeitslosen nicht zuletzt deshalb so gravierend, weil zur Zeit insbesondere Vollarbeitsplåtze im industriellen Sektor entfallen und viele der Tåtigkeiten im Dienstleistungssektor zu gering entlohnt werden, um den Lebensunterhalt sicherzustellen. Dies lieûe sich z. B. durch die Einfçhrung einer negativen Einkommenssteuer beheben. 36
Vgl. Ulrich 1995, 51. Øhnlich argumentiert Rifkin 1995, 173. Auch die erhæhten Kosten fçr die Beschåftigung ålterer Arbeitnehmer mçûten gesenkt werden. Dies spricht fçr die Einfçhrung arbeitsunabhångiger Sozialleistungen, die im nåchsten Abschnitt zur Sprache kommen wird. 36 Vgl. dazu den folgenden Abschnitt. 34 35
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4. Ergånzende Maûnahmen und soziale Verånderungen Es hat sich in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt, daû es nætig ist, flankierende Modifikationen des Sozialstaats zu fordern, die denjenigen zugute kommen, die zeitweise keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Die Regelungen håtten einen doppelten Effekt: Einerseits wçrden sie direkt die negativen Folgen der Arbeitslosigkeit lindern. Andererseits kænnten sie dazu beitragen, daû ein zeitweises Zurçcktreten von der Erwerbsarbeit auch freiwillig vollzogen wird oder daû Zurçcksetzungen zumindest nicht als extreme Hårte empfunden werden. Die wichtigste Forderung betrifft die materielle Absicherung der Arbeitslosen. Meist werden in diesem Zusammenhang ein arbeitsunabhångiges Grundeinkommen oder eine negative Einkommenssteuer gefordert. Ein Grundeinkommen wçrde an alle Personen ohne Berçcksichtigung der Einkommensverhåltnisse ausgezahlt werden; die negative Einkommenssteuer geht von einer bestimmten Einkommenshæhe aus, oberhalb derer (progressive) Steuern erhoben werden, die direkt an die Personen weitergegeben werden, deren Einkommen unterhalb des fixierten Betrags liegt. Eine Gegençberstellung und Diskussion dieser Optionen findet sich in Beat Schneider 1995. Schneider weist darauf hin, daû die beiden Mæglichkeiten in der Praxis kaum zu unterscheiden sind. Im çbrigen seien die von liberalen Verfechtern vorgesehenen Mindesteinkommen oft zu niedrig, um einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Zusåtzliche soziale Absicherungen wie die Krankenversorgung seien ebenfalls oft nicht garantiert. Es ist klar, daû durch den Verlust der Erwerbsarbeit bedingte finanzielle Einbuûen nicht vermieden werden kænnen. Daher wird es auch unter dem Modell der Grundsicherung einen nicht geringen finanziellen Anreiz geben, einer Erwerbståtigkeit nachzugehen. Experimente in einigen US-amerikanischen Staaten haben gezeigt, daû die Nachfrage nach Arbeitsplåtzen durch die Einfçhrung einer negativen Einkommenssteuer nicht signifikant zurçckgegangen ist. 37
Die Erfahrungen mit der negativen Einkommenssteuer in den USA (Seattle-Denver Income Tax Maintainence Experiment, 1971±79) sind schwer zu interpretieren. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind nicht absehbar. Es scheint immerhin eine Flexibilisierung der Erwerbssuche stattgefunden zu haben. Generell kænnen verschiede-
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Insofern ist eine Grundversorgung kein Allheilmittel und erst recht keine Alternative zur Umverteilung der Erwerbsarbeit. Sie hat eine andere Funktion: Zum einen kænnte die finanzielle Absicherung um einiges oberhalb der Sozialhilfe liegen. Zum anderen wird die deklassierende Bittstellerposition vermieden, die mit dem zur Zeit geforderten Bedçrftigkeitsnachweis einhergeht. 38 Insofern ist dieser Vorschlag mit Sicherheit wçnschenswert und angesichts der drohenden Verarmung von Dauerarbeitslosen vielleicht sogar unverzichtbar. 39 Gorz hat einen anderen Vorschlag unterbreitet. Er warnt vor der Gefahr, durch ein garantiertes Mindesteinkommen letztlich nur eine Saturierung der von der Erwerbsarbeit ausgeschlossenen Personen anzustreben: »Das garantierte Mindesteinkommen funktioniert als Lohn fçr die Ausgrenzung aus der Gesellschaft.« 40 Gorz plådiert statt dessen fçr einen »zweiten Einkommensscheck«, der an Menschen ausgezahlt wird, die phasenweise keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Die Personen sollen ihr Beschåftigungsverhåltnis nicht verlieren, sondern nur fçr eine Zeit von der Arbeit freigestellt sein. Gorz geht es nach eigener Aussage darum, die Verbindung zwischen Einkommen und Arbeit aufrechtzuerhalten. Mir erscheint der Vorschlag çberzogen, weil die dominante Rolle der Erwerbsarbeit nicht hinterfragt, sondern eher noch verstårkt wird. Ich halte zwar beide Forderungen (Recht auf Arbeit / Recht auf Grundeinkommen) fçr zwingend, aber nicht ihre Koppelung. Ûber eine Grundsicherung hinaus mçûte eine erhebliche Umstellung der sozialen Sicherung stattfinden. Viele Menschen unterbrechen ihre Arbeit nicht, weil die Rentenansprçche und die Krankenversicherung weitgehend an die Erwerbsarbeit gebunden sind. Die Finanzierung der Krankenversorgung mçûte von der Arbeit entkoppelt werden, die Altersversorgung kænnte z. B. mit dem Grundeinkommen abgedeckt werden. Dies gilt zumindest fçr politisch zu ne Konsequenzen eintreten: Entweder werden geringfçgige Tåtigkeiten nicht angenommen, oder sie werden gerade als Aufbesserung des Grundeinkommens akzeptiert. Auch die Reaktion von Seiten der Arbeitgeber ist nicht eindeutig voraussehbar. (Vgl. Schneider 1995, 83 f.) 38 Vgl. Abschnitt I.2. 39 Mæglicherweise ist es auch sinnvoll, die Besteuerung stårker von den Einkommen auf den Konsum zu verlagern (vgl. Lange 1996). Fçr diese Umstellung spricht auch das Interesse, die internationale Wettbewerbsfåhigkeit zu erhalten ± vgl. Gorz 1989, 286. 40 Gorz 1989, 291. Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
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definierende Mindestansprçche. Eine darçber hinausgehende private Versicherung ist damit nicht ausgeschlossen. 41 Durch die finanzielle und soziale Absicherung erscheint der zeitweise Rçcktritt von der Erwerbsarbeit noch nicht unbedingt attraktiv. Die Personen mçssen çber Alternativen zur Erwerbsarbeit verfçgen. Ich hatte oben bereits berufliche Weiterbildung oder Umschulung als (fçr einige Arbeitslose) notwendige Bestandteile der Beschåftigung auûerhalb der Erwerbsarbeit festgehalten. Es ist aber auch erforderlich, daû die Personen die Gelegenheit zu privaten Betåtigungen haben, die die Integration in Gemeinschaften ermæglichen und die Selbstachtung stabilisieren. Die denkbaren Betåtigungsfelder sind vielfåltig ± es kann Interessen nachgegangen werden, die in sich selbst befriedigend sind (Sport, kulturelle und kçnstlerische Aktivitåten), soziale Beziehungen kænnen vertieft oder neue Bekanntschaften gemacht werden, aber auch arbeitsfærmige Tåtigkeiten kænnen gesucht werden (Nachbarschaftshilfe, politische Initiativen). Ein interessantes praktisches Projekt in der US-amerikanischen Automobilstadt Flint stellt Frithjof Bergmann 1996 vor: Hier wurde versucht, nach einschneidenden Rationalisierungsmaûnahmen anstelle von Massenentlassungen die verbleibende Arbeit auf alle zu verteilen und ± unter Beratung ± die zusåtzliche freie Zeit fçr die Entwicklung individueller Potentiale zu nutzen. Bergmann macht deutlich, daû ein entscheidender Schritt darin bestand, çberhaupt den Mut und die Kreativitåt der Betroffenen anzuregen. Auch wenn ich der Grundintention des Beitrags zustimme, scheinen mir die Alternativen insgesamt zu rosig beschrieben zu werden. Rifkin baut ebenfalls stark auf den sogenannten »Dritten Sektor« jenseits von Markt und Staat, dessen bereits vorhandene Bedeutung bei der Verrichtung gemeinnçtziger Arbeit von ihm eindrucksvoll herausgestellt wird. Auch er idealisiert aber m. E. diese Mæglichkeit zu sehr, indem er der profitorientierten Marktwirtschaft einen gemeinschaftsstiftenden, altruistischen Alternativbereich gegençberstellt: »Im privaten Sektor arbeitet man der Aussicht auf materiellen Gewinn wegen, und je mehr man konsumiert, desto sicherer fçhlt man sich. Im DritUnter den genannten Bedingungen låût sich die Forderung nach der Senkung der Lohnnebenkosten mæglicherweise rechtfertigen: Die entfallenden Arbeitgeberbeitråge zur Sozialversicherung wçrden nicht auf Individuen abgewålzt werden, die diese teils gar nicht aufbringen kænnen.
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ten Sektor arbeitet man, um anderen zu helfen, und Sicherheit gewinnt man durch persænliche Beziehungen und durch das Gefçhl der Verbundenheit mit der ganzen Welt.« 42 Es sollte beachtet werden, daû der bei vielen Arbeitslosen zu konstatierende Verlust an Initiative und sozialen Kontakten wesentlich damit zusammenhången dçrfte, daû sie befçrchten, nicht wieder in die Erwerbsarbeit zurçckkehren zu kænnen, und daû sie den Status eines Almosenempfångers haben. 43 Wenn diese Gefåhrdungen nicht mehr bestçnden, wird es vielen Menschen mæglich sein, eigene Interessen herauszufinden und sich selbst Bezugsgruppen zu suchen. Aber die Eigenståndigkeit erfordert auch eine gewisse Ûbung und finanzielle Ressourcen, çber die etliche Personen derzeit nicht verfçgen. Insofern dçrfte die Færderung von Weiterbildungen nicht nur zu beruflichen, sondern auch zu privaten Zwecken wichtig sein. Auch Begegnungsståtten mçssen zum Teil mit Hilfe æffentlicher Ressourcen aufgebaut werden. Darçber hinaus bedçrfen Initiativen im nachbarschaftlichen Rahmen vielleicht ebenfalls eines »professionellen« Anstoûes. 44 Die denkbaren alternativen Betåtigungen werden individuell unterschiedlichen Anklang finden. Einige Projekte sind vielleicht sehr zeitaufwendig und erfordern phasenweise eine Freistellung von der Erwerbsarbeit, andere Aktivitåten lassen sich mæglicherweise mit einer reduzierten Arbeitszeit verbinden. Einige Personen wollen also vielleicht lieber regelmåûig und dafçr kçrzer arbeiten, andere pråferieren einen Arbeitsrçcktritt fçr einen långeren Zeitraum. Es wåre daher wçnschenswert, wenn unterschiedliche »Pakete« der Kombination von Erwerbsarbeit und frei verfçgbarer Zeit angeboten wçrden. 45 Klar ist, daû diese Mæglichkeiten zur Flexibilisierung nicht Rifkin 1995, 187. Rifkin schlågt eine Art Sozialeinkommen fçr gemeinnçtzige Tåtigkeiten vor ± allerdings mit der problematischen Tendenz, dieses als Ersatz fçr eine Sozialhilfe einzufçhren. (vgl. a. a. O., 193 ff.) Damit bewegt Rifkin sich åhnlich wie Gorz und Pfannkuche auf eine Arbeitspflicht zu. 43 Vgl. Abschnitt I.3. 44 Øhnliche Forderungen erhebt Lange 1996, 69 ff. Insgesamt scheint er mir aber die Mæglichkeit einer »Entflechtung der Funktionen, die heute auf die Arbeit konzentriert sind« (a. a. O., 68), zu çberschåtzen. Daher kommen Maûnahmen zur Umverteilung der Arbeit in seinem Beitrag zu kurz. 45 Gorz schlågt vor, »¼ eine Jahresarbeitszeit von 1400, 1200 oder 1000 Stunden (statt der derzeitigen 1600 Stunden) einzufçhren, wahlweise auf 30, 40 oder 48 Wochen bzw. 120 bis 180 Tage verteilt ¼«. (Gorz 1989, 275) Dieser Vorschlag zur Flexibilisierung auf Betriebsebene kænnte und sollte auch auf die Lebensarbeitszeit ausgeweitet wer42
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bestehen, solange ein akzeptables Einkommen und die Sozialleistungen an die Arbeit gekoppelt sind. Unter diesen Umstånden pråferieren Arbeitnehmer langfristige Vollzeit-Arbeitsplåtze, und ein groûer Teil der Personen bleibt dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen. 46 Die zuletzt angestellten Ûberlegungen sollen die Mæglichkeit aufzeigen, eine Reduzierung der Arbeitståtigkeit gewinnbringend zu nutzen. Sie drçcken die Hoffnung aus, daû eine Umverteilung der Erwerbsarbeit teilweise auf freiwilligem Wege erreicht werden kann. Optimistisch stimmt das durch mehrere Studien nachgewiesene Faktum, daû der çberwiegende Teil der US-Amerikaner gerne mehr Zeit fçr private Interessen håtte und dafçr einen Teil des Einkommens und Karrierechancen opfern wçrde. 47 Es wurde auch deutlich gemacht, daû die nætigen sozialen Verånderungen den Einsatz æffentlicher Mittel erfordern. Insgesamt basieren sie darauf, daû der zeitweise Rçcktritt von der Erwerbsarbeit keine çbermåûigen materiellen Einschrånkungen mit sich bringen darf. Selbst unter diesen gçnstigen Bedingungen wåre es aber keineswegs ausgemacht, daû die Alternativen genutzt werden wçrden. Mæglicherweise ist eine rechtliche Durchsetzung des Anspruchs auf zeitweise Beteiligung an der Erwerbsarbeit unumgånglich. Die im Schluûkapitel dieser Untersuchung vorgeschlagenen rechtlichen und politischen Maûnahmen sowie die m. E. anzustrebenden sozialen Verånderungen bedçrfen einer genaueren Ausarbeitung. Dazu sind detaillierte empirische Studien erforderlich. Es wçrde sich anbieten, die offenen Fragen im Rahmen eines interdisziplinåren Projektes zu bearbeiten, an dem Úkonomen, Politologen, Soziologen, Sozialpsychologen und Philosophen beteiligt werden sollten. Hauptziel meiner im wesentlichen normativen Analyse war es, eine theoretische Grundlage fçr ein solches Forschungsprojekt zu liefern. Insbesondere wurden die Voraussetzungen fçr eine angemessene den. Allerdings rçckt Gorz nicht vom insgesamt gleichen Arbeitsquantum fçr alle Personen ab. Dies erscheint fragwçrdig, wenn Personen unterschiedliche Arbeitsbelastungen wçnschen. 46 Fçr Arbeitgeber sind hingegen derzeit auch Arbeitsverhåltnisse wie Nebenbeschåftigungen oder Kurzarbeit attraktiv, bei denen die Kosten fçr soziale Absicherungen entfallen. 47 Vgl. Rifkin 1995, 174 f.
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sozialethische Berçcksichtigung des Problems der Erwerbsarbeitslosigkeit geklårt, ein Recht auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit begrçndet und Rahmenbedingungen fçr die politische Umsetzung eines solchen Rechtsanspruchs benannt.
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Barzel, A. 49 Baum, D. 62 Bergmann, B. 30 Bergmann, F. 182 Birnbacher, D. 100 Brennan, G. 90 Brenner, S.-O. 23 Brinkmann, C. 23±25, 29, 32 Buchanan, J. 71 f., 77 ff., 80±93, 99, 109, 115, 120, 126, 132 f., 137, 175 Daniels, N. 79 Dillon, R. S. 64 Dworkin, R. 71 f., 78 f., 102 f., 106±116, 126, 128, 134, 137 f., 139±141, 143, 148, 176 Elkeles, T. 14, 23 f., 31, 35 Elster, J. 34, 63, 153 f., 165 Evans, S. 32
Kambartel, F. 50, 54±56 Kavka, G. S. 63, 154, 156 f., 174±177 Kieselbach, T. 24, 29 Koller, P. 79, 90, 102, 127 Kolm, S.-C. 138 Krebs, A. 50, 52, 55 f. Kronauer, M. 14, 18, 30, 32 Kymlicka, W. 79 f., 13, 126, 128 Lahelma, E. 25 Lange, E. M. 16, 45, 50 ff., 91, 172, 181, 183 Layard, R. 177 f. MacIntyre, A. 75 Martin, R. 130, 176 Marx, K. 9, 43, 48 Månnel, B. 169 Miegel, M. 15, 17 Nickel 157 Nozick, R. 71 f., 77 ff., 81, 93±105, 108 f., 114 f., 121, 126, 132, 134, 137 f.
Fleck, C. 171 Franz, W. 177 Frese, M. 24, 29
Olson, J. M. 62
Glatzer, W. 60 Gorz, A. 162 f., 170 ff., 181, 183 f. Griffin, J. 139 Græzinger, G. 14 Hagemann, H. 19 Hoeltz, J. 23 Hæffe, O. 79 Jacob, H. 19 Jahoda, M. 23, 25, 27 f., 32±38, 44, 58, 60, 170
Paul, J. 79 Pfannkuche, W. 63, 146, 157 f., 162 f., 183 Platt, S. 24 Rawls, J. 64 ff., 68, 71 f., 77 ff., 81, 97, 100, 116±132, 134 ff., 146±150, 158 Riester, W. 170 Rifkin, J. 14, 18±21, 170, 173, 178 f., 182 ff. Rippe, K. P. 63, 153 ff., 162, 165, 171 Runciman, W. G. 62 Russell, B. 43
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Personenregister Rustin, M. 157 Sabroe, S. 25 Sachs, D. 64 f. Sandel, M. 75 Sayers, S. 43 f., 63, 157 Schlothfeldt, S. 53 f., 63 f. Schneider, B. 180 Schwartz, A. 34 Sen, A. 139, 142±144 Shue, H. 101 Sombarth, W. 46 Steinvorth, U. 104 f., 157, 159, 162, 168 Townsend, P. 157
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Tugendhat, E. 33, 63 f., 66, 68, 73 ff., 82, 100 f., 146, 157 ff. Turtle, A. M. 30 Ulrich, P. 172, 179 Verkleij, H. 25 Wacker, A. 32 Warr, P. 24 f. Weber, M. 46 Wolff, R. P. 79 Wood, A. 43 Yanal, R. J. 66, 119
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Sachregister
alternative Beschåftigung 32, 56, 70, 164, 169, 172 f., 182 ff. Arbeit ± Begriff 49±58 ± Erwerbs- 57 f. ± gesellschaftliche 47 f., 55 ff. ± ækonomische 57 Arbeitsbedingungen 9, 34 f. Arbeitslosigkeit ± konjunkturelle 15 f. ± strukturelle 17 ff. ± technologische 19±21 Arbeitspflicht 163, 183 Arbeitszeitverkçrzung 162 f., 168, 170 ff., Armut 15, 18, 23, 25, 60, 161 [ 179 Aufwandshonorierung 38, 48, 92, 97, 102 f., 107 ff., 126, 148, 150 f., 157, 166 Betreuungståtigkeiten 55 ff., 169 f. bevorzugte Einstellung 173±179 Chancengleichheit 98, 121 ff. Differenzprinzip 120, 123 f., 126 f., 129 ff., 134, 148 Effizienz 85, 114, 116, 120, 133, 162, 166, 174 f. Eigentumsrecht 96 ff., 101 ff., 105, 113 f., 123, 132, 134, 151, 156 Existenzminimum 23, 119, 121, 123, 130, 147, 151 finanzielle Einschrånkungen 23, 25, 42 Freiheiten ± Grund- 92, 116, 120 ff., 124, 128, 145, 149, 151, 155, 162 ± ækonomische 71, 90, 151, 156 gesellschaftliche Beteiligung 28 f., 40, 47, 62, 92, 132 f., 149, 156, 158, 163
Gleichstellung 75, 80, 96, 98, 106±114, 135, 143, 148, 160 Grundeinkommen 18, 25 f., 48, 167, 172, 180 f. Grundgçter 118±135, 137 ff., 143, 145, 148, 158 Integritåt 72, 93 f., 97, 99, 102 f., 105 f., 112, 116, 134 internationaler Wettbewerb 16 f., 167 f., 170 f., 181 Kontraktualismus 80±93, 175 Lebensplan 94, 110, 114, 118, 124 f., 129, 131, 134, 136, 141 f., 145, 147, 150 Lebensunterhalt 13, 15, 18, 26, 35, 38 f., 41 f., 46 f., 51, 57 f., 167, 169, 179 Leistungsaustausch 41 ff., 47, 49, 54±59, 78, 154, 160, 163, 173 marginale soziale Position 43, 47, 49, 58, 60, 62 f., 68, 70, 99, 132, 136, 146±152, 155 f., 160, 163 f., 170, 173 Marktwirtschaft 72, 80 ff., 93, 102 ff., 116, 133, 153, 165, 182 ± ideale 108 ff. Mindestansprçche 60, 135, 150, 182 Minimalstaat 93 ff. moralischer Standpunkt 74, 76, 112, 125, 136, 146 f. Neid 108 f., 120, 125, 129, 147 ff. Perfektionismus 74 ff. Planwirtschaft 162 f., 165 politische Theorie 77 ff., 149 ff. primåre Diskriminierung 74 f. psychische Beschwerden 23±33
Erwerbsarbeitslosigkeit als sozialethisches Problem
A
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Sachregister Recht auf Arbeit 104 f., 151±159 Rechte ± Abwehr- 100, 132, 134 ± Anspruchs- 100 f., 134 ± Freiheits- 104, 119, 155 f., 159 ± soziale 101, 134 regelmåûige Betåtigung 27 f., 37, 42, 63 relative Deprivation 62 relative Schlechterstellung 62, 135, 148 ff. Ressourcen 82 f., 92, 100, 103 ff., 107±115, 128, 133 f., 138 ff. Schleier des Nichtwissens 118 ff., 122, 125, 127, 136, 146 f., 149±151 Selbstachtung 32, 49, 61, 63±70, 98, 119, 122, 128±131, 134 f., 149, 154 f., 157 f., 173 f., 182 Selbståndigkeit 39, 43 f., 58 f., 158 f. Selbstverwirklichung 33 f., 75, 104 f. soziale Absicherung 18, 35, 38, 42, 111, 114 f., 172, 179 ff. soziale Anerkennung 13, 32, 34, 37, 40 f., 43, 47, 54, 57 f., 60 ff., 63, 92, 105, 115, 122, 133 ff., 149, 152, 156, 163, 174
196
soziale Kontakte 28, 35, 37, 42 soziale Vergleiche 62, 129, 135 f., 146 ff. Sozialhilfe 23, 25 f., 91, 101, 104, 178, 181 Sozialstaat 89, 114, 122, 180 Status 27 ff., 35, 40 ff., 58, 60 f., 63, 118, 120, 154 f., 173 Teilzeitarbeit 163, 170 Ûberlegungsgleichgewicht 116, 120 Umverteilung 86, 95 ff., 103 ff., 113 ff., 123, 140, 183 ± der Arbeit 166, 170 ff. Unterstçtzungsleistungen 26, 38 f., 41 f., 59, 62 f., 91, 101, 105, 115, 142, 161, 163 Utilitarismus 72, 79 f., 85, 119, 138, 146 Vollbeschåftigung 21 f., 123, 130, 132, 161 Weiterbildung 178 f., 182 f. Wohlergehen 137±145 zweiter Arbeitsmarkt 154, 168 f.
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Stephan Schlothfeldt
https://doi.org/10.5771/9783495997468 .
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