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German Pages 686 [688] Year 2012
Wilhelm Köller Sinnbilder für Sprache
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
109
De Gruyter
Wilhelm Köller
Sinnbilder für Sprache Metaphorische Alternativen zur begrifflichen Erschließung von Sprache
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027184-3 e-ISBN 978-3-11-027186-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
There is no greater nor more frequent mistake in practical logic than to suppose that things which resemble one another strongly in some respects are any the more likely for that to be alike in others. Charles Sanders Peirce Kurz, da die Physik die Welt in ihre Bestandteile zerlegt hat, hat sie die Aufgabe, sie wieder zusammenzukitten. Der Kitt heißt Wechselwirkung. Arthur Eddington Formen beleben und töten. Hugo von Hofmannsthal Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit. Hugo von Hofmannsthal Das Bild war der Schlüssel. Oder er erschien doch als Schlüssel. Ludwig Wittgenstein Man kann doch einen Spiegel besitzen; besitzt man dann auch das Spiegelbild, das sich in ihm zeigt? Ludwig Wittgenstein In den Tälern der Dummheit wächst für den Philosophen noch immer mehr Gras als auf den kahlen Höhen der Gescheitheit. Ludwig Wittgenstein
Für meine Tochter Elisabeth und ihren neuen Lebensabschnitt
Inhaltsverzeichnis
A
Die Sinnbildproblematik in der Sprache ........................1
I
Der Problemzusammenhang ........................................................... 1 1. Die Struktur von Hamanns Stoßseufzer .............................................. 3 2. Die Vagheit sinnbildlicher Redeformen ............................................. 5 3. Die Funktionen sinnbildlicher Redeformen......................................... 8
II
Die Sprache als Medium................................................................ 11 1. Die Medienproblematik..................................................................... 12 2. Die Denkstile.................................................................................. ...15 3. Die Identität komplexer Phänomene ................................................. 18 4. Das Problem der Selbstbezüglichkeit ................................................ 20
III
Die Leistung von Begriffen .......................................................... 24 1. Status und Funktion von Begriffen.................................................... 24 2. Kognitive Prozesse bei der Bildung von Begriffen .......................... 27 3. Begriffe als Wissensformen .............................................................. 31 4. Das Leistungspotenzial unscharfer Begriffsbildungen ...................... 34
IV
Die Leistung von Bildern .............................................................. 38 1. Allgemeine Überlegungen zur Bildproblematik................................ 39 2. Zur Phänomenologie von Bildern...................................................... 42 3. Die Strukturierungsfunktion von Bildern .......................................... 45 4. Die semiotische Struktur sprachlicher Bilder .................................... 49
VIII
V
Inhaltsverzeichnis
Die Analogieproblematik .................................................... 56 1. Die Analogie als Seinskategorie........................................................ 58 2. Die Analogie als Denkkategorie........................................................ 64 3. Die Ambivalenz von Analogien ........................................................ 70 4. Die Synthesefunktion von Analogien................................................ 74
VI
Sinnbildproblematik ............................................................ 81 1. Die Strukturmerkmale von Metaphern und Sinnbildern.................... 82 2. Der Sinnbegriff.................................................................................. 89 3. Die Funktionen von Sinnbildern ....................................................... 96 4. Die Sinnbilder als Kulturprodukte................................................... 105 5. Die Vielfalt der Sinnbilder für Sprache ........................................... 110
B
Die Sprache und ihre Sinnbilder ........................... 119
I
Die Sprache als Schlange ............................................................ 120 1. Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange............ 121 2. Schlange und Sprache in Mythen und Märchen .............................. 130 3. Die Schlange aus dem Paradiese ..................................................... 135 4. Die Schlange als perspektivierendes Sinnbild ................................. 151
II
Die Sprache als Werkzeug .......................................................... 157 1. Phänomenologische Betrachtungen zu Werkzeugen....................... 158 2. Platons Überlegungen zum Werkzeugcharakter der Sprache.......... 162 3. Der Werkzeuggedanke im neueren Sprachdenken .......................... 169 4. Werkzeugtypen als Sinnbilder für Sprache ..................................... 177
III
Die Sprache als Kleid .................................................................. 198 1. Das Kleid als Kulturphänomen........................................................ 198 2. Das Kleid als Zeichenphänomen ..................................................... 209 3. Die Schleierproblematik.................................................................. 215 4. Einkleidungen als Ästhetik- und Stilfragen..................................... 224
Inhaltsverzeichnis
IV
IX
Die Sprache als Bauwerk................................................... 235 1. Bauwerke als Kulturphänomene...................................................... 235 2. Haus und Sprache............................................................................ 243 3. Gefängnis und Sprache.................................................................... 249 4. Stadt und Sprache............................................................................ 254
V
Die Sprache als Organismus....................................................... 266 1. Die Entwicklung des Organismusgedankens................................... 266 2. Ganzheit und Gestalt ....................................................................... 276 3. Wirkung und Wechselwirkung........................................................ 283 4. Entwicklungsfähigkeit und Evolution ............................................. 294
VI
Die Sprache als Weg ..................................................................... 311 1. Wahrnehmungsweisen für Wege..................................................... 311 2. Formen sprachlicher Wegbildungen................................................ 319 3. Sprachliche Geleise und Brücken.................................................... 329 4. Die Leitfadenfunktion der Sprache.................................................. 335
VII Die Sprache als Fluss.................................................................... 343 1. Der Fluss als Gegenstandsphänomen .............................................. 344 2. Der Fluss als Bewegungsphänomen ................................................ 348 3. Das Bildfeld der Gewässervorstellungen und die Sprache .............. 355
VIII Die Sprache als Speicher ............................................................. 361 1. Die Sprache und das Bewahrte........................................................ 362 2. Die Sprache und das Produzierte..................................................... 367 3. Die Sprache und die Schrift............................................................. 375 4. Die Sprache und das Gedächtnis ..................................................... 385 5. Zwerge auf den Schultern von Riesen ............................................. 393
IX
Die Sprache als Geld .................................................................... 398 1. Phänomenologische Zugänge zum Geld als Bildspender................ 401 2. Zur Semiotik des Geldes ................................................................. 416 3. Die Tauschproblematik ................................................................... 432 4. Die Wertproblematik ....................................................................... 445 5. Die Inflationsproblematik................................................................ 460 6. Die Vertrauensproblematik ............................................................. 468 7. Die sozialintegrativen Funktionen von Geld und Sprache .............. 474
X
X
Inhaltsverzeichnis
Die Sprache als Spiegel ..................................................... 482 1. Zur Phänomenologie des Spiegels................................................... 483 2. Spiegelbilder.................................................................................... 497 3. Die Widerspiegelungsproblematik .................................................. 510 4. Die anthropologischen Aspekte der Spiegelproblematik................. 520
XI
Die Sprache als Fenster................................................................ 536 1. Fensterfunktionen und Sprachfunktionen........................................ 537 2. Auge, Fenster und Sprache.............................................................. 546 3. Mikroskop und Fernrohr als Fenster ............................................... 552 4. Licht und Sprache............................................................................ 559
XII Die Sprache als Spiel ................................................................... 567 1. Die Grundlagen unseres Spielverständnisses ................................. 569 2. Die Strukturaspekte von Spielen ..................................................... 582 3. Die anthropologischen Aspekte von Spielen ................................... 596 4. Der Sprachspielgedanke von Wittgenstein...................................... 603 5. Die Erscheinungsformen von Sprachspielen ................................... 610
Schlussbemerkungen ............................................................................... 634 Literaturverzeichnis ................................................................................. 641 Personenregister......................................................................................... 655 Sachregister.................................................................................................661
A
Die Sinnbildproblematik in der Sprache I
Der Problemzusammenhang
„Vernunft ist Sprache, Logos: an diesem Markknochen nag’ ich und werde mich zu Tode drüber nagen.“1 Dieser programmatische und emotionale Stoßseufzer Hamanns lässt sich einerseits als eine indirekte Kritik an Kant verstehen, der nach seiner eigenen und auch nach Herders Auffassung die Funktionen der Sprache bei der Analyse der Struktur der Vernunft und der transzendentalen Voraussetzungen des Denkens nur unzureichend berücksichtigt habe. Andererseits kann er aber durch seine noch näher zu untersuchende sprachliche Struktur auch recht gut veranschaulichen, worum es in diesem Buch geht. In ihm soll nämlich zu klären versucht werden, welche kognitiven und kommunikativen Leistungsprofile die sinnbildlichen bzw. metaphorischen Redeweisen über Sprache im Kontrast zu den begrifflichen haben, die man üblicherweise ja als die eigentlichen Formen der Wissensrepräsentation und der Wissensvermittlung ansieht. Bei diesem Vorhaben wird nun allerdings keineswegs angestrebt, den begrifflichen Objektivierungsstil von Wissen über Sprache auf der einen Seite gegenüber dem sinnbildlichen bzw. dem narrativen auf der anderen abzuwerten.2 Vielmehr besteht das Ziel darin, beide in ihrem spezifischen Stellenwert und ihrem spannungsvollen Interaktions- und Ergänzungsverhältnis zueinander näher zu beschreiben. Wie unverzichtbar die begriffliche Redeweise über Sprache ist, ergibt sich allein schon dadurch, dass sich die spezifische Leistungskraft von Sinnbildern zur kognitiven Erfassung des Phänomens Sprache eher mit Hilfe von Begriffen als mit Hilfe von anderen Sinnbildern präzise bestimmen lässt. Mit Sinnbildern über Sinnbilder zu sprechen, ist zumindest schwieriger und ungenauer als mit Hilfe von Begriffen, da sich Begriffe durch Definitionen unseren jeweiligen Analyse- und Argumentationsbedürfnissen sehr viel leichter anpassen lassen als Sinnbilder, die diesbezüglich immer sehr viel eigenwilliger und sperriger sind.
————— 1 2
Brief Hamanns an Herder vom 8. 8. 1784; J. G. Hamann, Briefwechsel, Bd. 5, S. 117. Der narrative Objektivierungsstil bei Thematisierung von Sprache teilt viele Strukturähnlichkeiten mit der sinnbildlichen. Vgl. W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006.
2
Der Problemzusammenhang
Grundsätzlich wird hier die These vertreten, dass die Verwendung von Sinnbildern keineswegs nur die Funktion hat, unser vorab schon erarbeitetes Wissen von Sprache nachträglich in einer ornamentalen Neueinkleidung zu präsentieren. Vielmehr wird von der prinzipiellen Auffassung ausgegangen, dass Sinnbilder und Geschichten über Sprache ebenso legitime und sinnvolle Mittel sind, Wissen über Sprache zu erschließen und intersubjektiv verfügbar zu machen, wie Begriffe über Sprache, obgleich dabei natürlich oft ganz andere Zielsetzungen im Vordergrund des Erkenntnisinteresses stehen. Hinter dieser Auffassung steht die erkenntnistheoretische Grundüberzeugung, dass Denkinhalte und Wahrnehmungsgegenstände für uns nicht unabhängig von den Umständen bzw. den Verfahren in Erscheinung treten können, durch die sie für uns vorstellungsmäßig entstanden sind bzw. durch die wir sie uns jeweils medial objektiviert haben. Einerseits kann jede einzelne mentale bzw. mediale Repräsentationsform von Phänomenen für uns immer einen Verlust an Unmittelbarkeit und Vollständigkeit implizieren, weil mit ihr ja zwangsläufig bestimmte perspektivierende Abstraktionsprozesse verbunden sind. Andererseits kann sie aber immer auch eine Steigerung an Wissensprägnanz beinhalten, weil man ja bei jedem einzelnen Objektivierungsverfahren seine Aufmerksamkeit zwangsläufig auf ganz bestimmte Einzelaspekte konzentrieren kann bzw. muss. Die mediale Objektivierung von Phänomenen ist deshalb keineswegs nur als eine bloß reproduzierende Wiedervergegenwärtigung von schon vorgegebenen Wissensund Vorstellungsinhalten zu verstehen, sondern immer auch als ein kreatives Denkverfahren, bei dem aus diffusen Globalvorstellungen mittels spezifischer Zeichen prägnantere Endvorstellungen herausgebildet werden. Aus alldem folgt, dass hier nicht nur danach gefragt werden darf, welche Sinnbilder für Sprache wir faktisch haben und welches kulturelle Wissen von Sprache sich in ihnen jeweils konkretisiert hat, sondern dass wir uns darüber hinaus auch noch dafür zu interessieren haben, welche kulturhistorischen Prämissen und Implikationen mit dem so objektivierten Wissen jeweils verbunden sind. Sinnbilder, Geschichten und Begriffe von Sprache sind in einem unaufhebbaren hermeneutischen Zirkel aufeinander bezogen, weil die mit ihnen verbundenen Denk- und Wahrnehmungsperspektiven immer schon ein Vorwissen voraussetzen, das ergänzt, präzisiert oder in Frage gestellt werden kann. Sinnbilder über Sprache können einerseits als Vorläufer von Begriffen über Sprache angesehen werden, insofern sie auf begriffliche Präzisierung warten, aber andererseits auch als deren Nachläufer, insofern sie komplexe Syntheseformen des Denkens repräsentieren, die das begriffliche Wissen von Sprache in gut fassbaren und memorierbaren Denk- und Vorstellungsgestalten zusammenführen. Mit Sinnbildern kann man so gesehen sowohl das Wachstum von begrifflichem Wissen anregen als auch begriffliches Einzelwissen in überzeugenden komplexen Vorstellungsgestalten integrativ miteinander verbinden. Die Entwicklung bzw. die Nutzung von Begriffen und Sinnbildern kann ambivalente Motive haben. Die Verwendung von Begriffen lässt sich nämlich einerseits als eine Machtattitüde verstehen, in der man zeigt, dass man etwas
Die Struktur von Hamanns Stoßseufzer
3
auf den Begriff zu bringen vermag bzw. dass man auch verborgene Ordnungsstrukturen hinter offensichtlichen erfassen kann. Sie lässt sich andererseits aber auch als ein Verzweiflungsausdruck verstehen, der zeigt, dass man sich kein Gesamtbild von etwas machen kann, sondern nur Teilaspekten von etwas sehen kann oder gar will. Der Gebrauch von Sinnbildern kann einerseits ein Reichtumszeugnis sein, insofern man dadurch dokumentiert, dass man etwas ganzheitlich in umfassenden Zusammenhängen zu sehen vermag. Er kann andererseits aber auch ein Armutszeugnis sein, insofern man dadurch offenbart, dass man sein Denken nicht methodisch konzentrieren kann und sich mit vagen Wissensformen zufrieden gibt. Bei der Nutzung von Begriffen besteht die Gefahr, dass unser Denken über Sprache vorschnell kanalisiert wird bzw. zur Ruhe kommt. Bei der Nutzung von Sinnbildern besteht die Gefahr, dass unser Denken über Sprache im Vagen verharrt und sich nicht argumentativ, sondern allenfalls assoziativ fortführen lässt. Grundsätzlich können wir uns im Hinblick auf die Erarbeitung von Wissen über Sprache an dem orientieren, was der Physiker Eddington über die Erarbeitung von Wissen über Fische durch die Nutzung bestimmter Formen von Fangnetzen für Fische geäußert hat. Ähnliches trifft sicher auch für die Verwendung von ganz bestimmten begrifflichen und sinnbildlichen Fangnetzen für die Konkretisierung unseres Wissens über Sprache zu. „Alles, was mit meinem Netz nicht gefangen werden kann, liegt ipso facto jenseits des Rahmens fischkundlichen Wissens und ist kein Teil des Fischreiches, wie es als Gegenstand fischkundlichen Wissens definiert wurde. Kurz gesagt, was mein Netz nicht fangen kann, ist kein Fisch.“ 3
1. Die Struktur von Hamanns Stoßseufzer Das spannungsvolle Ergänzungs- und Interaktionsverhältnis von begrifflichen und sinnbildlichen bzw. metaphorischen Denk- und Redeweisen kommt in der formalen sprachlichen Struktur von Hamanns Stoßseufzer recht gut zum Ausdruck. Im ersten Teil treffen wir auf einen Aussagesatz, dessen Form uns von begrifflich orientierten Definitionssätzen her durchaus vertraut ist (Vernunft ist Sprache, Logos.). Ein Gegenstandsbegriff (Vernunft) wird über eine Kopula (ist) mit einem Bestimmungsbegriff (Sprache) verknüpft und eben dadurch kategorial in ein hierarchisches System von Begriffen eingeordnet. Zwar wird in Hamanns Satz nicht der Begriff Sprache zum Gegenstandsbegriff der definitorischen Anstrengung gemacht, sondern der Begriff Vernunft, aber das ändert nicht viel an diesem Typ von kognitiver Anstrengung als einer begrifflichen Einordnungsoperation.
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A. Eddington, Philosophie der Naturwissenschaft, 1949, S. 28.
4
Der Problemzusammenhang
Bei Hamanns Definitionssatz kann man sich nun allerdings darüber streiten, ob durch die Kopula die Begriffe Vernunft und Sprache gleichgesetzt werden oder ob im Sinne des klassischen Definitionsschemas der Begriff Sprache als nächst höherer Gattungsbegriff (genus proximum) für den zu definierenden Begriff Vernunft verwendet wird, wobei dann der Begriff Logos als spezifizierender Erläuterungsbegriff (differentia specifica) für den Oberbegriff Sprache diente. Der sachliche Gehalt der Definition wäre dann in dem Sinne zu verstehen, dass die Vernunft ein Phänomen ist, das Teil des umfassenderen Phänomens Sprache ist, und zwar von Sprache im Sinne von Logos und nicht etwa von Sprache im Sinne von Lautordnung oder von Formenordnung. Im zweiten Satz seines Stoßseufzers wechselt Hamann dann sehr abrupt seinen Denkstil, insofern er von einer begrifflichen in eine sinnbildliche Redeweise übergeht. Zunächst fasst er die Sachaussage des ersten Satzes sinnbildlich durch die Vorstellung eines Markknochens zusammen, und dann erzählt er eine Geschichte über seine persönliche Beziehung zu dem Problemzusammenhang, den er durch die Vorstellung eines Markknochens sinnbildlich objektiviert hat. Diese Denkstruktur lässt sich in etwas umständlicher Weise folgendermaßen paraphrasieren: Den Tatbestand, dass Vernunft Sprache im Sinne von Logos ist, betrachte ich als einen Markknochen, an dem ich mich zu Tode nagen werde. Begriffslogisch gesehen kommt es in Hamanns Stoßseufzer zu einer unzulässigen inhaltlichen Verknüpfung von Kategorien, die eigentlich ganz unterschiedlichen Seinsebenen zuzuordnen sind. Die Phänomene Vernunft bzw. Sprache gehören kategorial nämlich zu einer ganz anderen Ebene der Welt als das Phänomen Markknochen. Wenn man sie dennoch begrifflich direkt oder indirekt syntaktisch miteinander verknüpft, dann führt das zu kategorial ganz inkohärenten, wenn nicht zu in sich widersprüchlichen Aussagen, die kein Logiker dulden darf, da man an solche Aussagen beispielsweise die Wahrheitsfrage nicht mehr sinnvoll stellen kann. Logisch gesehen kommt bei Hamanns Stoßseufzer außerdem noch erschwerend hinzu, dass von einer abstrakten Definitionsanstrengung unmittelbar in eine persönliche Erzählung mit einem empirischen Bezug übergegangen wird. Das kann zu einer begrifflichen Klärung der Phänomene Vernunft und Sprache eigentlich nichts Wesentliches beitragen, sondern allenfalls etwas Illustrierendes. Gleichwohl wird man aber wohl einräumen müssen, dass die begriffslogisch höchst bedenkliche Redeweise Hamanns für die Klärung der Sprachproblematik dennoch nicht ganz sinnlos oder gar unsinnig ist. Durch seine Aussage lernen wir zwar nichts über die kategoriale Einordnung der Sprache in ein umfassendes Begriffssystem oder gar in eine hierarchisch strukturierte Begriffspyramide, aber wir erfahren durchaus etwas über die anthropologische Bedeutsamkeit von Sprache. Wir bekommen nämlich Informationen darüber, wie Menschen auf die Erfahrung von Sprache reagieren können. Aus den Assoziationsreflexen, die die konkrete Erfahrung von Sprache bei Menschen auslösen können, lernen wir zwar nichts über die Verortung der Sprache in einem gegebenen System von theoretischen Analysebegriffen und Aussagen,
Die Vagheit sinnbildlicher Redeformen
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aber sehr wohl etwas über die anthropologische Relevanz von Sprache bzw. über die Provokationen, die von diesem Phänomen auf unsere geistigen Sinnbildungsanstrengungen ausgehen können. Sinnbilder über Sprache sind Wissensformen, die das Phänomen Sprache zwar nicht begrifflich einordnen, aber es gleichwohl zu menschlichen Lebenswelten und Wissenszielen in Beziehung setzen. Davon legen sowohl der Stoßseufzer Hamanns als auch unsere alltäglichen metaphorischen Redeweisen über Sprache ein beredtes Zeugnis ab. In diesen hat sich zweifellos ein evolutionär gewachsenes Wissen von Sprache angesammelt, das nicht nur unsere allgemeinen Vorstellungen von Sprache tief geprägt hat, sondern auch unseren konkreten Gebrauch von Sprache. Trotz dieser Wertschätzung des sinnbildlichen Wissens über Sprache ist sicherlich nicht zu leugnen, dass sowohl dieses Wissen als auch der sinnbildliche Gebrauch von Sprache in kognitiver und informativer Hinsicht durch eine sehr viel größere Vagheit und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet ist als das entsprechende begriffliche Wissen bzw. der begriffliche Gebrauch von Sprache. Deshalb kann insbesondere in argumentativen Zusammenhängen auch nur ein eingeschränkter Gebrauch von Sinnbildern gemacht werden. Dieser Vorbehalt ist aber nicht als ein generelles Verdikt gegen die kognitive Leistungsfähigkeit von Sinnbildern zu verstehen, sondern nur als Hinweis auf ein besonderes Strukturmerkmal von ihnen, das durchaus Chancen beinhaltet, insofern semantische Vagheiten, Mehrdeutigkeiten oder gar Ambivalenzen das Denken auch in ganz bestimmter Weise anzuregen vermögen.
2. Die Vagheit sinnbildlicher Redeformen Immer wieder ist betont worden, dass unser Wissen zwei Wurzeln habe, nämlich Sinnlichkeit und Vernunft bzw. Verstand. Während nun allerdings manche der Meinung sind, dass nichts im Verstande sei, was nicht vorher schon in den Sinnen gewesen sei, haben andere postuliert, dass die Sinne nur das wahrnehmen könnten, was die Struktur der Vernunft bzw. die Struktur der von ihr entwickelten und genutzten Hilfsmittel wahrzunehmen ermögliche. Das Problem, ob oder wie man Sinnlichkeit und Vernunft hierarchisieren kann, ist letztlich allerdings ziemlich müßig und unfruchtbar. Viel interessanter ist die Frage nach den Interdependenzen und Wechselwirkungen beider Erkenntnisquellen. Kant hat das sehr prägnant formuliert. „Anschauungen und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben können … Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind
Der Problemzusammenhang
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blind … Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ 4
Zweifellos ist das anschauliche bzw. bildliche Wissen von größerer Vagheit als das begriffliche. Das muss nun aber keineswegs als ein grundsätzlicher kognitiver oder pragmatischer Nachteil angesehen werden. Man kann sich nämlich durchaus die Frage stellen, ob vages Wissen aus semantisch unscharfen sprachlichen Objektivierungs- und Mitteilungsformen nicht auch eine ganz spezifische Wissensqualität besitzt, die nicht vorschnell gegenüber dem exakten Wissen aus semantisch präzisen sprachlichen Formen abgewertet werden sollte. Gerade im Hinblick auf die Interdependenz der von Kant postulierten beiden Wissensquellen lassen sich daher folgende Überlegungen anstellen. In der Erkenntnistheorie ist immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass der Prozess des Wissenserwerbs nie auf der Stufe Null beginne, sondern immer in einem vagen Vorwissen wurzele, welches präzisiert, strukturiert und ergänzt werde. So hat insbesondere die genetische Erkenntnistheorie betont, dass zu einem wirklichen Wissen immer auch die Kenntnis seiner Entstehungsgeschichte gehöre. Die Hermeneutik hat postuliert, dass alle Erkenntnis- und Verstehensprozesse eine Zirkelstruktur hätten, weil man eigentlich nur das suchen und verstehen könne, wovon man vorab schon irgendeine grobe Grundvorstellung habe. Die Gestaltpsychologie hat darauf hingewiesen, dass jede Vorstellungsbildung so verlaufe, dass vage Vorgestalten über präzisere Zwischengestalten zu möglichst prägnanten Endgestalten transformiert würden. Außerdem ist immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass es ein menschliches Grundbedürfnis sei, unübersichtliches Einzelwissen in komplexen Sinngestalten zusammenzufassen, um es im Gedächtnis besser verfügbar halten zu können. Weiterhin ist darauf verwiesen worden, dass Fragen als unverzichtbare Antriebskräfte für weiterführende Erkenntnisprozesse nur dort entstehen könnten, wo noch bestimmte Unklarheiten vorlägen, aber nicht dort, wo schon alles geklärt sei oder geklärt zu sein scheine. All diese Argumentationen legen nahe, in der semantischen Unschärfe von sprachlichen Ausdrücken und Objektivierungsformen nicht nur einen kognitiven Nachteil zu sehen, sondern auch eine ganz spezifische kognitive Qualität. Sei es, dass auf diese Weise komplexes und mehrschichtiges Wissen eine erste oder gar eine abschließende Gestalt findet, oder sei es, dass dadurch ein Wissen repräsentiert wird, dass dazu motiviert, den Prozess des Wissenserwerbs in unterschiedlichen Richtungen fortzuführen und ihn nicht vorschnell auf Zwischenstufen abzubrechen. Im Hinblick auf die semantische Vagheit von Sinnbildern lassen sich dann die folgenden Thesen vertreten: Sinnbilder sind Ausdrucksformen eines komplexen Grundwissens. Sinnbilder können Wissenserwerbsprozesse in Gang setzen, fortzeugen und abschließen, weil sie in besonderer Intensität Sinnes-
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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 74–75, Werke, Bd. 3, S. 97–98.
Die Vagheit sinnbildlicher Redeformen
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und Denkerfahrungen interaktiv miteinander vernetzen. Sinnbilder vermögen dialogische und metareflexive Denk- und Kommunikationsprozesse anzuregen. Sinnbilder provozieren das begriffliche Denken immer wieder dazu, sich an ihnen abzuarbeiten und dabei auch seine eigenen Grenzen kennenzulernen. Gerade wenn man sich vor Augen hält, dass sich sowohl die Strukturen der Welt als auch die Differenzierungsbedürfnisse der Menschen ständig ändern, dann kann man semantisch scharf konturierte Sprachformen nicht als Werte an sich ansehen, sondern nur als Werte im Hinblick auf ganz bestimmte sprachliche Objektivierungs- und Mitteilungsziele. Die semantische Unschärfe sprachlicher Ausdrücke lässt sich realistischerweise nicht vollständig beseitigen, weil die sprachlichen Zeichen eigentlich keine Abbildungs-, sondern eher Erschließungsmittel für Welt sind. Sinnbildliche und künstlerische Objektivierungsformen von Welt haben daher auch eine große innere Verwandtschaft miteinander. Wittgenstein hat deshalb zu Recht folgende rhetorische Frage gestellt: „ Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht gerade das, was wir brauchen?“ 5 Wenn man das Problem der Vagheit mit dem Problem der Komplexität in Verbindung bringt, dann wird auch verständlich, warum Lichtenberg einmal von einer „barbarischen Genauigkeit“6 gesprochen hat und zugleich betont hat, dass gestaltete Bilder nicht nur durch eine Mosaiktechnik, sondern auch durch die Mischung und Überlagerung von unterschiedlichen Farben herstellbar seien. Außerdem ist zu beachten, dass vitale Lebensformen immer gewisse Toleranzspielräume haben müssen, dass eine totale Ordnung zur Erstarrung führt, dass Unschärfe Kreativität ermöglicht und dass alle Evolutionsprozesse im Prinzip auf den unscharfen Reproduktionen von Organismen basieren. Nicht zufällig hat die Kategorie der Vagheit auch bei der Manifestation göttlicher Verlautbarungen immer eine große Rolle gespielt. Beispielsweise sind insbesondere die Orakelsprüche von Delphi durch eine große semantische Unschärfe gekennzeichnet. In einem Heraklit zugeordneten Fragment heißt es deshalb: „Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört, verkündet nichts und verbirg nichts, sondern deutet an.“ 7 Sicher kann man auch Sinnbildern etwas Orakelhaftes und Andeutendes zuschreiben. Das lässt sich negativ verstehen, wenn man in einer rationalistischen Denktradition auf ein klares und distinktes Wissen Wert legt, das man als Arbeits- bzw. Herrschaftswissen argumentativ direkt einsetzen will und dessen Ergebnisse man als richtig oder falsch beurteilen möchte. Das lässt sich aber auch positiv verstehen, wenn man in dem sinnbildlich objektivierten Wissen ein komplexes Wissen sieht, das zwar nicht unbedingt aus einer anderen Welt kommt, das aber dennoch dazu dienlich ist, über den Tellerrand der un-
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L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 71, 1967, S. 50. G. Ch. Lichtenberg , Sudelbücher I, F 273, 2005, S. 500. 7 W. Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, 1968, S. 138. 6
Der Problemzusammenhang
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mittelbaren Lebensbedürfnisse hinauszuschauen, und das eben dadurch als ordnendes Bildungs- und Orientierungswissen auch ein besonderes Charisma bekommen kann. Im Zusammenhang mit dieser positiven Beurteilung der sinnbildlichen Redeformen ist ein Brief Kants an Hamann interessant, der wegen seiner Vorliebe für einen bildlichen Sprachgebrauch ja auch als Magus des Nordens bekannt und berüchtigt war. In diesem Brief bittet Kant seinen Antipoden Hamann um eine Stellungnahme zu den Ausführungen Herders zum Problem der Zahlensymbolik. „ … aber wo möglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der anschauenden Vernunft gar nicht organisiert. Was man mir aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel vorbuchstabieren kann, das erreiche ich wohl. Auch verlange ich nichts weiter, als das Thema des Verfassers zu verstehen: denn es in seiner ganzen Würde und Evidenz zu erkennen, ist nicht eine Sache, worauf ich Anspruch mache.“ 8
3. Die Funktionen sinnbildlicher Redeformen Die Reflexion über die Funktion und den Wert unterschiedlicher Formen der Sprache und der Rede zieht sich durch die ganze abendländische Kulturgeschichte. Sie dokumentiert sich insbesondere in den antiken Überlegungen zur Rhetorik, in den mittelalterlichen Spekulationen über das Buch der Natur, in welchem die Kundigen ebenso lesen könnten wie in der Bibel als dem Buch der Schrift, sowie in den Hypothesen über die Sprache der Engel, die als raumund zeitlose Wesen keine Verbalsprache benötigten, weil sie ihre Gedanken nur parallelisieren müssten. Sie zeigt sich auch in Pascals Überlegungen zu der Opposition zwischen dem esprit de géometrie und dem esprit de finesse sowie in Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem begrifflichen, dem folgernden und dem komparativen Verstehen auf der einen und dem ganzheitlichen und dem empathetischen Verstehen auf der anderen Seite. Sie ist auch fassbar in der von Vico angeregten Debatte, ob dem poetischen oder dem begrifflichen Sprachgebrauch eine historische bzw. eine pragmatische Priorität zukomme. Die hier vertretene Grundauffassung, dass die historisch entwickelten Sinnbilder für Sprache nicht nur zu der Geschichte, sondern auch zur Systematik der Sprachtheorie gehören, lässt sich auch sehr gut mit der Etymologie des Terminus Theorie verbinden.9 Der Theoretiker (theoros) war in Griechenland ursprünglich der Abgesandte einer Polis zu einem religiösen Fest bzw. zu einem Orakel, um dort Erfahrungen zu machen, die in alltäglichen Lebens- und
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Brief vom 6.4.1774, Kant's Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Bd. 10, Nr. 78, S. 148. Vgl. H. Rausch, Theoria, 1982, S. 9 ff., 34 ff.; G. König, Theorie, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 1128 ff.
Die Funktionen sinnbildlicher Redeformen
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Denkzusammenhängen nicht zu haben waren. Die Theorie (theoria) war die Schau des Göttlichen bzw. die Erfahrung von etwas, das einerseits zwar die Alltagswelt transzendierte, das aber andererseits auch den Erfahrungen in der Alltagswelt einen bestimmten Stellenwert geben konnte. Diese Herkunft des Terminus Theorie macht uns auf wichtige Implikationen des Theoriebegriffs aufmerksam, die auch heute noch sein inzwischen säkularisiertes Verständnis prägen. Zum einen ist mit der Bildung einer Theorie immer die Vorstellung einer Reise, einer Loslösung von der alltäglichen Lebenswelt und einer subjektiven Anstrengung verbunden. Zum andern verspricht eine Theorie einen Zugang zu einer qualitativ anderen Welt, die logisch gesehen gleichsam den Status einer Metawelt zur alltäglichen Wahrnehmungsund Wissenswelt hat. Außerdem macht dieser Hintergrund des Theoriebegriffs deutlich, dass jede Theoriebildung immer auch eine starke affektive Komponente besitzt, die dafür sorgt, dass sie sich als Erklärungsmodell im Gedächtnis verankern kann, da sie wegen ihrer pragmatischen Orientierungsfunktionen einen Sitz im Leben hat. So betrachtet können Sinnbilder für Sprache deshalb auch rein funktional betrachtet als kleine Theorien über Sprache angesehen werden, weil durch sie Erfahrungen ermöglicht, eingeordnet, gebündelt und gewertet werden. Als kleine Hypothesen können die einzelnen Sinnbilder über Sprache dann auch prinzipiell zu Dialogpartnern in unserem Sprachdenken werden, insofern wir uns immer zustimmend, variierend oder ablehnend mit ihnen auseinanderzusetzen haben. Sowohl Sinnbilder als auch Begriffe für Sprache lassen sich als Ergebnisse geistiger Strukturierungs- und Objektivierungsanstrengungen für den Erfahrungsbereich Sprache ansehen. Sie müssen nicht zwangsläufig in ein bestimmtes Hierarchieverhältnis zueinander gebracht werden. Eher sollte man sie in ein Interdependenz- und Interaktionsverhältnis zueinander setzen. Heute wird in der Regel zwar den begrifflichen Objektivierungsformen des Phänomens Sprache eine höhere geistige Nobilität als den sinnbildlichen zugeschrieben, aber das ist keineswegs zwingend. Man sollte nämlich nicht vergessen, dass sowohl im Hinblick auf unser lebensnahes praktisches Verständnis von Sprache als auch im Hinblick auf die Präsenz von Sprachwissen in unserem Gedächtnis die Sinnbilder, Gleichnisse und Geschichten von Sprache wahrscheinlich eine sehr viel bedeutendere Rolle spielen als die Begriffe von Sprache. Bevor nun das Interesse auf die einzelnen Sinnbilder von Sprache gerichtet wird, die im Laufe der Kulturgeschichte entwickelt und tradiert worden sind, ist es sicherlich sinnvoll, einige grundsätzliche Überlegungen zu der gesamten Sinnbildproblematik anzustellen. Diese lassen sich vorab durch die Stichwörter Medium, Begriff, Bild und Analogie in ihren spezifischen Zielrichtungen andeuten. Im Anschluss an diese Überlegungen fällt es dann auch leichter, die Implikationen und die Reichweite der Frage nach dem Erkenntnis-, Funktionsund Wahrheitswert der einzelnen Sinnbildern für Sprache zu verstehen. Die Wahrheitsfrage im Sinne der klassischen Aussagelogik stellen wir in der Regel weder an Begriffe noch an Sinnbilder, sondern nur an Aussagen, die die Existenz eines Sachverhalts bzw. die Existenz eines bestimmten Korrelati-
Der Problemzusammenhang
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onszusammenhangs von Einzelelementen behaupten. Begriffe und Sinnbilder scheinen sich so gesehen der Wahrheitsfrage in einem klassischen korrespondenztheoretischen Sinne zu entziehen, weil sie nur Bausteine von Aussagen sind und selbst keine direkten Existenz- oder Sachverhaltsbehauptungen aufstellen. Allenfalls könnten wir Begriffe als implizite Existenzbehauptungen von platonischen Ideen bzw. als Repräsentanten von existierenden abstrakten Wesenheiten mit der Wahrheitsfrage konfrontieren, was aber heute erkenntnistheoretisch wohl kaum noch zu legitimieren wäre. Nun ist allerdings einzuräumen, dass wir im alltäglichen Sprachgebrauch das Attribut wahr keineswegs nur auf Aussagen bzw. Sätze beziehen, sondern auch auf einzelne Begriffe, wenn mit diesen geistig einen idealtypischer Bezug zu einem bestimmten Sachverhalt hergestellt werden kann. So sprechen wir etwa von wahrer Freundschaft, wahrer Erkenntnis oder wahrer Liebe. Dieser Gebrauch des Attributs wahr ist ausgesprochen pragmatisch orientiert und lässt sich meist problemlos durch den Gebrauch des Attributs verlässlich ersetzen. Dieser alltägliche Sprachgebrauch passt im Prinzip auch recht gut zur Etymologie des Wortes wahr, das auf das ahd. Substantiv wara (Treue, Bündnis, Sicherheit) zurückgeht und ursprünglich alle Vorstellungsinhalte qualifizieren konnte, die sich als verlässlich, vertrauenswürdig oder nützlich erwiesen hatten. Deshalb hat Goethe den Wahrheitsbegriff auch immer wieder mit dem Fruchtbarkeitsbegriff in Verbindung gebracht: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr …“ 10 Wenn man in dieser Weise den Wahrheitsbegriff mit Fruchtbarkeitsvorstellungen in Verbindung bringt, dann lässt sich über die Wahrheit von Sinnbildern für Sprache natürlich trefflich streiten, da diese in sehr unterschiedlichen Weisen unser Wissen von Sprache zusammenfassen und unser Denken über Sprache anregen können. Außerdem müssen wir unter diesen Umständen auch akzeptieren, dass unsere Wahrheitsvorstellung sich der vereinfachenden Qualifizierungsalternative von wahr und falsch entzieht, weil sie merkwürdigerweise irgendwie abstufbar, wenn nicht sogar steigerbar wird. Goethe hat sich deshalb auch nicht gescheut, die Sterilität des bloß feststellenden Faktenwissens anzuprangern und zu betonen, dass er nur dasjenige Wissen schätzen könne, das eine Anregungsfunktion für das Denken und eine Erschließungsfunktion für den Erwerb weiteren Wissens habe. Zu einem solchen inspirierenden Anregungswissen mit einem steigerbaren Wahrheitswert wird man dann sicherlich auch dasjenige Wissen rechnen können, das sich in den verschiedenen Sinnbildern über Sprache manifestiert. „Übrigens ist mit alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.“11
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J. W. von Goethe, Vermächtnis, Werke, Bd. 1, S. 370. J. W. von Goethe, Brief an Schiller vom 19.10.1798, Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S. 362.
II
Die Sprache als Medium
Unbestreitbar ist sicherlich, dass die Sprache eine Vermittlungsfunktion zwischen der Welt der Objekte und der Welt der Subjekte bzw. zwischen den Denkwelten der einzelnen Subjekte erfüllt. Streiten kann man sich allerdings darüber, welche Implikationen mit dieser Vermittlungsfunktion verbunden sind und wie weit sich die jeweiligen Verwender von Sprache der Tatsache bewusst sein müssen, dass die Sprache ein kulturell geformtes Medium mit formenden Funktionen ist, um sie aktiv und passiv sinnvoll nutzen zu können. Unter den vielen Zeichensystemen, die den Menschen als Medien dienen, ist die natürlich gewachsene Verbalsprache sicher das wichtigste und das universal nutzbarste Zeichensystem, das zudem auch noch dazu dienen kann, andere Zeichensysteme bzw. Medien zu interpretieren, zu qualifizieren und zu konstruieren. Wegen ihres universalen Funktionsspektrums und wegen ihrer Fähigkeit, sich referenziell sowohl auf anderes als auch auf sich selbst beziehen zu können, ist die natürliche Sprache kein bloßer Denkgegenstand unter anderen Denkgegenständen. Sie ist gleichsam eine fundamentale Voraussetzung dafür, überhaupt Denkgegenstände zu haben, diese zu beurteilen und sich intersubjektiv umfassend über sie auszutauschen. Im Hinblick auf ganz bestimmte sprachliche Einzelformen und Einzelprobleme können wir uns über Sprache natürlich ebenso gut verständigen wie beispielsweise über Bäume oder über Algebra. Die Frage ist allerdings, ob wir uns von der natürlichen Sprache so weit und klar distanzieren können, dass wir sie als grundlegendes Medium unseres Wahrnehmens und Denkens ebenso wie Bäume und Algebra ganz von außen betrachten können, da wir ja immer schon in ihre strukturierenden Ordnungsfunktionen verwickelt sind, wenn wir sie für sprachliche Objektivierungs- und Sinnbildungsprozesse verwenden. Die mediale Gebundenheit unserer geistigen Existenz an die natürliche Sprache ist in gewisser Weise mit der Erdgebundenheit des Riesen Antaios vergleichbar. Dieser war solange kraftvoll und unbesiegbar, wie er mit seinen Füßen Kontakt zur Mutter Erde hatte; er wurde aber hilflos, sobald er hochgehoben wurde. In ähnlicher Weise wird uns die mediale Grundfunktion der Sprache auch nicht zum Problem, solange die Sprache in unsere normalen Denk- und Handlungsprozesse eingebunden ist. Sie wird für uns erst dann zu einem Problem, wenn sie diese konkrete Gebrauchsbindung oder gar Gebrauchserdung verliert und von uns zu einem isolierten Denkgegenstand gemacht wird.
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Die Sprache als Medium
Bei der Thematisierung der natürlichen Sprache als Medium haben wir zu berücksichtigen, dass sie im Sinne Humboldts nicht nur ein historisch ausgebildetes Werk (Ergon) bzw. ein von außen beobachtbares Gebilde (forma formata) ist, sondern auch ein Energiepotenzial für kognitive und kommunikative Handlungen (Energeia) bzw. eine formende Kraft (forma formans), welche die jeweiligen Sprachverwender flexibel ihren aktuellen Bedürfnissen anpassen können. Gerade dieser Funktions- und Aspektreichtum der natürlichen Sprache macht es schwierig, sie als ein einheitliches Phänomen bzw. als vielschichtiges Medium zu beschreiben und zu qualifizieren. Das Spektrum der Interpretationshypothesen für die Sprache als Medium ist weitgespannt. Es reicht von der These, dass die Sprache ein Gefängnis sei, aus dem man nicht herauskomme bzw. in dem man allenfalls die Zelle wechseln könne, bis zu der These, dass das Denken prinzipiell eine logische Stufe höher anzusiedeln sei als die sprachlichen Mittel, mit denen es jeweils operiere. Es ist nun ziemlich offensichtlich, dass es nicht viel weiter führt, die eine oder die andere These als ein grundsätzliches Glaubensbekenntnis für die Beurteilung der Sprache als Mittel des Wahrnehmens und Denkens zu übernehmen. Viel sinnvoller ist es, diese beiden Thesen als polarisierende Interpretationshypothesen für einen komplexen Problemzusammenhang anzusehen und nach ihren jeweiligen Prämissen und Konsequenzen zu fragen bzw. nach den Denkzwängen und Denkfreiheiten, die mit den unterschiedlichen medialen Nutzungsmöglichkeiten von Sprache verbunden sind. Zu diesen gehören dann sicher auch der begriffliche, der narrative und der sinnbildliche Gebrauch der Sprache sowie die Möglichkeit, die Sprache direkt oder indirekt auf sich selbst beziehen zu können. Der sinnbildliche Gebrauch der Sprache könnte dann als eine Sprachverwendung beschrieben werden, in der die Sprache sowohl auf übliche Weise fremdbezogen und sachthematisch als auch auf etwas verdeckte Weise selbstbezogen und reflexionsthematisch verwendet wird.
1. Die Medienproblematik Beim zweckdienlichen Gebrauch der Sprache fällt uns diese als eigenständige Größe bzw. als Strukturierungsfaktor in der Regel gar nicht auf, weil wir bewusstseinsmäßig immer bei den Sachen sind und nicht bei den Mitteln, mit denen wir uns die Sachen im Bewusstsein geistig objektivieren. Ähnlich wie wir eine Uhr als spezifisches Objektivierungsmittel für Zeit erst dann wahrnehmen, wenn sie fehlt oder nicht mehr richtig funktioniert, so nehmen wir auch die Sprache als Objektivierungsmittel für Welt bzw. als Medium erst dann als eigenständige Größe richtig wahr, wenn sie nicht mehr die von ihr erwarteten Funktionen erfüllt. Medien sind nicht nur Transportbehälter für vorgegebene Inhalte, sondern zugleich auch Gestaltungsmittel für die Konkretisierung von Vorstellungsin-
Die Medienproblematik
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halten. Sie haben wichtige Korrelationsfunktionen zwischen unterschiedlichen Welten, weil sie nicht nur Einfluss darauf nehmen, was wir erfahren, sondern auch darauf, wie wir etwas erfahren. Die Medienproblematik ist daher mit all den Problemen verbunden, die sich bei der Selektion und Strukturierung von konkreten Wahrnehmungsinhalten ergeben. Je mehr sich im Verlaufe der Kulturgeschichte unsere Sensibilität für die unterschiedliche Wahrnehmbarkeit von Sachverhalten und Gegenständen gesteigert hat bzw. für die unterschiedlichen Formen des Denkens, desto mehr ist auch unsere Sensibilität für die unterschiedlichen Strukturen und Funktionen von Medien gewachsen. In frühen Phasen der Kultur hat man die Formen der Wahrnehmung und der Objektivierung von Wissen weitgehend aus der Objektsphäre abgeleitet und legitimiert. Man ging von der Annahme aus, dass die Dinge kraft ihres Wesens auf natürliche Weise bestimmten, wie man sie mittels Zeichen zu repräsentieren habe. Mehr und mehr wuchs dann allerdings die Einsicht, dass Wahrnehmungsinhalte auch von den jeweiligen Wahrnehmungsintentionen und Wahrnehmungsmitteln abhingen und dass man sie demzufolge auch noch irgendwie in der Subjektsphäre zu verankern habe. Nicht selten wurde sogar in sehr radikaler Weise postuliert, dass die einzelnen Wahrnehmungssubjekte nicht nur bei der konkreten Konstitution von Wahrnehmungsinhalten beteiligt seien, sondern dass die jeweiligen Wahrnehmungsinhalte sogar als Konstrukte der jeweiligen Wahrnehmungssubjekte anzusehen seien und deshalb sogar im Wesentlichen von der Subjektsphäre her erklärt werden müssten. Beide Interpretationen von Wahrnehmungsinhalten und Wahrnehmungsprozessen ließen sich in ihren radikalen Ausprägungen auf Dauer nicht legitimieren. In beiden wird nämlich die Vermittlungsproblematik und die Zeichenproblematik nicht wirklich ernst genommen bzw. die Tatsache, dass in allen Erkenntnis- und Kommunikationsprozessen sozial gefestigte Muster und Konventionen als Vermittlungsfaktoren eine konstitutive Rolle spielen. Dazu kam dann außerdem noch die anthropologische Einsicht, dass die Menschen als instinktreduzierte Kulturwesen die Hilfe von Kulturformen brauchten, um überleben zu können, bzw. dass die Kultur deshalb auch als eine Art von zweiter Natur für die Menschen anzusehen sei. Mit guten Gründen konnte daher auch McLuhan eine These vertreten, die einige Berühmtheit gewonnen hat: „Das Medium ist die Botschaft.“1 Damit wollte er nicht nur darauf aufmerksam machen, dass die Vermittlungsproblematik ein genuiner Forschungsgegenstand sei, sondern auch, dass mit neuen Medien nicht nur neue Formen der Weltwahrnehmung entstünden, sondern auch neue erfahrbare Wirklichkeiten. Weniger spektakuläre Interpretationen von Medien haben sich darauf beschränkt, ein Medium als einen umfassenden Organisationsrahmen zu verstehen, in dessen Grenzen sich dann unterschiedliche konkrete Repräsentationsformen von Welt bzw. Zeichenformen entwickeln können. Damit wird die
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M. McLuhan, Die magischen Kanäle, 1968, S. 13 ff.
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Die Sprache als Medium
Medienproblematik aber etwas verharmlost, weil sich Interesse an den untergeordneten Repräsentationsverfahren und Repräsentationsformen vermindert, die sich innerhalb des jeweiligen Medienrahmens entwickelt haben bzw. entwickeln können. Wenn man beispielsweise die Schriftsprache nur als eine bestimmte Realisationsform des Mediums Sprache betrachtet bzw. die Schrift nur als ein neutrales Verfahren ansieht, die eigentlich nur akustisch wahrnehmbare Sprache in eine visuell wahrnehmbare Form zu bringen, dann greift man zu kurz. Die Schriftsprache ist mehr als nur eine zusätzliche Gebrauchsweise des Mediums Sprache. Sie muss vielmehr als ein eigenständiges sinnbildendes Medium betrachtet werden, das unsere Wahrnehmungs- und Gebrauchsmöglichkeiten von Sprache ganz nachhaltig verändert hat. Alle Formen sind im Prinzip Medien, die auf spezifische Weise mit ihren jeweiligen Objektivierungsinhalten verwachsen und eben dadurch auch zur Ausbildung neuer spezifischer Sinngestalten führen. Jeder Formwechsel ist ein Interpretations-, Perspektiven- und Inhaltswechsel, da durch Formen Inhalte nicht nur transportiert, sondern auch strukturiert und akzentuiert werden. Alles, was wir wahrnehmen und verstehen wollen, muss über Medien an unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten angepasst werden. Ebenso wie die moderne Semiotik von Peirce als eine Fortsetzung der Transzendentalphilosophie Kants verstanden werden kann, so lässt sich auch die Medientheorie als eine Fortsetzung oder Variante der Zeichentheorie verstehen. Wenn nun aber Medien bzw. Zeichen unabdingbare Objektivierungs- und Vermittlungsformen sind, dann ist es sinnlos, sie in ihrer Wirksamkeit und Eigenständigkeit beseitigen zu wollen, selbst wenn sie unsere geistigen Bewegungsfreiheiten natürlich auch immer wieder irgendwie einschränken. Medien und Zeichen aller Art mit Einschluss von Sinnbildern sollten deshalb nicht prinzipiell als Trübungsphänomene reiner Erkenntnis und intersubjektiver Informationsübermittlung verstanden werden, sondern vielmehr als eine Grundbedingung für Sinnbildungsprozesse aller Art. Das lässt sich sehr schön durch Kants Taubengleichnis veranschaulichen. Nach diesem Gleichnis fand es eine Taube beschwerlich und deprimierend, gegen den Widerstand der Luft anzufliegen. Sie entwickelte die Vorstellung, dass sie in einem luftleeren Raum doch schneller und leichter fliegen können müsste. Dabei übersah sie aber, dass die Luft für sie nicht nur etwas Widerständiges war, sondern auch die unabdingbare Voraussetzung dafür, zu atmen und zu fliegen. Kant hat dieses Gleichnis benutzt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es keine Lösung sei, wenn Platon mit seinem Ideenkonzept die Sinnenwelt verlasse, weil diese dem Verstande zu enge Grenzen setze.2 Im Hinblick auf die hier behandelte Thematik lässt sich in analoger Weise
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I. Kant, Kritik der reine Vernunft, B 9, Werke, Bd. 3, S. 51. Interessant ist, dass der Dichter Karl Philipp Moritz, ein Zeitgenosse Kants, seinen Erzähler über das Denken von Anton Reiser etwas strukturell ganz Ähnliches sagen lässt. „Die Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken.“ K. P. Moritz, Anton Reiser, Sämtliche Werke, Bd. 1, 2006, S. 219.
Die Denkstile
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vielleicht sagen, dass es keine Lösung ist, bei der Aufklärung des Phänomens Sprache auf die Hilfe von Sinnbildern zu verzichten, weil diese wegen ihrer Vagheit unser Denken behindern. Vielleicht sind Sinnbilder gerade aus diesem Grunde nicht nur fruchtbare Ausgangspunkte für unser Denken über Sprache, sondern auch fruchtbare Zusammenfassungen für dieses Denken. Ergänzend zu den bisherigen Überlegungen zu den Funktionen von Medien ergibt sich noch eine andere Argumentationslinie zur Wertschätzung von Sinnbildern. In allen sprachlichen Formen hat sich ein kulturelles Wissen sedimentiert, das uns meist nicht explizit bewusst ist, das aber gleichwohl sehr wirksam ist und das als Prämisse auf unseren weiteren Wissenserwerb Einfluss nimmt. Deshalb lässt sich dann auch die These vertreten, dass nicht nur die Menschen sprechen, sondern dass auch die Sprache selbst spricht. Hofmannsthal hat das sehr prägnant formuliert: „Wenn wir Menschen den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.“ 3 Aus diesem Tatbestand hat insbesondere die hermeneutisch orientierte Philosophie die Konsequenz gezogen, dass es durchaus sinnvoll seien könne, am Leitfaden der Sprache entlang zu philosophieren, weil sich in der Sprache ein Wissen kondensiert habe, das sich über lange Zeiten hinweg pragmatisch bewährt habe, weshalb es dann auch einen hohen Grad an praktischer Verlässlichkeit besitze. Das rechtfertige es zumindest, über dieses Wissen in den hermeneutischen Zirkel der Sach- bzw. Weltinterpretation einzusteigen. Dementsprechend gibt es dann auch gute Gründe, Sinnbilder für Sprache als Ariadnefäden zu benutzen, um sich im Labyrinth der fast unüberschaubaren Sprachstrukturen und Sprachfunktionen zurechtzufinden. Sinnbilder für Sprache stellen außerdem auch Möglichkeiten dar, sich beim Gebrauch von Sprache partiell so von ihr zu distanzieren, dass man dennoch mit ihrer Hilfe auf indirekte Weise aufschlussreiche Einsichten über sie selbst gewinnen kann. Ein solches Verfahren hat zwar eine gewisse logische Brisanz, aber es ist ein Verfahren, zu dem es wohl kaum wirklich praktikable Alternativen gibt.
2. Die Denkstile Ebenso wie es in visuellen Wahrnehmungsprozessen nicht das unschuldige Auge gibt, das unvoreingenommen das Gegebene so sieht, wie es an sich ist, so gibt es auch in sprachlichen Wahrnehmungsprozessen nicht die unschuldige Sprache, die die Welt so objektiviert, wie sie ist. Jede sprachliche Objektivierung von physischen, strukturellen und geistigen Phänomenen gründet sich auf kulturell etablierte Wahrnehmungstraditionen und die Assimilationskraft von konventionalisierten Objektivierungsmitteln. Jeder Wahrnehmungsinhalt ist so gesehen medial transformiert bzw. theoriegetränkt, wobei man sowohl an die
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H. von Hofmannsthal, Prosa I, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, S. 267.
Die Sprache als Medium
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jeweiligen Objektivierungsformen als auch an die jeweiligen Objektivierungsstrategien denken kann bzw. an die jeweiligen Sprachmuster und ihre spezifischen Versprachlichungsverfahren. Dieses generelle Sprachapriori unserer Wahrnehmung und unseres Denkens ist recht gut mit unserem Leibapriori analogisierbar. Durch die biologische Existenz und Verfasstheit unseres Leibes haben wir nicht nur ganz bestimmte räumliche, zeitliche und sinnliche Wahrnehmungsperspektiven auf unsere möglichen Denkgegenstände, sondern immer auch eine ganz bestimmte intentionale und motivationale. Unser Leib bestimmt nicht nur, was wir wahrnehmen können, sondern auch das, was wir wahrnehmen müssen und wollen, ohne dass wir uns darüber immer explizit Rechenschaft ablegen könnten. Von unserem individuellen Körper können wir uns zwar bis zu einem gewissen Grade distanzieren und dann in einem gewissen Ausmaße auch über ihn verfügen. Das ist aber im Hinblick auf unseren biologisch gegebenen Leib nicht möglich. Menschen können die Welt nicht völlig leibunabhängig in einer göttlichen Perspektive von nirgendwo betrachten, sondern immer nur im Rahmen der jeweiligen leibgebundenen Notwendigkeiten, Motive und Intentionen. Ebenso wie wir uns bei unserer Weltwahrnehmung nicht gänzlich von unserer generellen Leibgebundenheit unabhängig machen können, so können wir uns auch nicht von unserer generellen Kultur- und Sprachgebundenheit lösen. Allenfalls sind wir in der Lage, uns partiell von einer bestimmten Kultur- und Sprachgebundenheit zu distanzieren, indem wir in eine andere überwechseln. Die Fähigkeit des Menschen zum metareflexiven Denken und metasprachlichen Sprechen hebt das generelle Sprachapriori nicht auf, sondern flexibilisiert es nur. Humboldt hat eindrucksvoll davon gesprochen, dass der Mensch mit seinen Gegenständen nur so lebe könne, wie die Sprache sie ihm zuführe. „Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als 4 man zugleich in den Kreis einer andren Sprache hinübertritt.“
Hegel hat zur Debatte gestellt, ob die Denkformen, die sich durch unsere Vorstellungen ziehen, in unserem Besitz seien oder wir nicht vielmehr in ihrem.5 Cassirer hat im Anschluss an Kants Überlegungen zu den transzendentalen Prämissen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens das Konzept der symbolischen Formen (Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Wissenschaft) entwickelt, die jeweils als umfassende Stile der Weltaneignung anzusehen seien, und betont, dass „jede von ihnen eine besondere Art des Sehens ist und eine besondere, nur ihr eigenen Lichtquelle in sich birgt.“ 6 Leisegang hat mit Be-
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W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Werke, Bd. 3, S. 224–225. 5 G. F. W. Hegel, Wissenschaft von der Logik I, Werke, Bd. 5, S. 25. 6 E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 19765, S. 81–82.
Die Denkstile
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zug auf Hegel und Cassirer von unterschiedlichen Denkformen gesprochen, die einzelne Denker auf prototypische Weise als Beschreibungsformen für die Welt entfaltet hätten und die in einer komplementären Geltungsrelation zueinander stünden, wodurch dann absolute Geltungsansprüche einzelner Formen von vornherein ausgeschlossen würden. Dabei unterscheidet er insbesondere das Denken in Form eines Gedankenkreises, in Form einer Begriffspyramide und in Form von Antinomien.7 Vielleicht kann man diesen Denkformen auch noch das Denken in Form von Bildern und von Geschichten hinzufügen. Auch der Arzt und Naturwissenschaftler Fleck hat betont, dass unser Wissen keineswegs nur durch seine jeweiligen Bezugsgegenstände geprägt werde, sondern auch durch die Verfahren bzw. die Denkstile, durch die sie für uns in Erscheinung träten.8 Dabei spielten Wahrnehmungstraditionen, die Reihenfolge des Erwerbs von Wissensinhalten und die verwendeten Objektivierungsformen eine wichtige Rolle. Gewohnte Vorstellungen hielten wir deshalb für evident, neue dagegen für rechtfertigungsbedürftig. Die Vorstellung von selbständigen Erkenntnissubjekten, die unabhängig von Wahrnehmungstraditionen, Wahrnehmungsmedien und Wahrnehmungswünschen seien, hält er für unrealistisch. Erkenntnisinhalte gingen aus komplexen Korrelations- und Interaktionsprozessen zwischen Objekten, Subjekten und konventionalisierten Denkstilen hervor. Wir sähen nicht nur mit unseren Augen, sondern auch mit denen der Kultur bzw. mit denen der verwendeten Objektivierungsmedien. Wenn man das Phänomen Stil nicht nur als eine persönliche und kulturelle Gestaltungsweise von Inhalten ansieht, sondern auch als eine sachorientierte Gestaltungsweise, was zumindest historisch gesehen zu rechtfertigen ist, dann ist der Stilbegriff gut geeignet, das Spannungsverhältnis zwischen Sach-, Regel-, Traditions- und Innovationsorientierung zu erfassen.9 Die Verwendungen von begrifflichen und sinnbildlichen Sprachformen exemplifizieren so gesehen Denkstile mit je eigenem Recht und eigener Erkenntniskraft. Aus dieser Sichtweise lässt sich dann auch ableiten, dass die unterschiedlichen Denk- und Objektivierungsstile in Sprachreflexionsprozessen nicht nur eine historische, sondern auch eine systematische Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, weil sie auf je eigene Art an der Genese und Strukturierung unseres Wissens von Sprache beteiligt sind. Die sinnbildliche, die begriffliche und die narrative Thematisierung von Sprache können infolgedessen dann als eigenständige, wenn auch ergänzungsbedürftige Wahrnehmungs- und Objektivierungsstile von Sprache angesehen werden. Die Vielfalt von Denkstilen bei der Objektivierung von Sprache ist den Verfechtern eines absoluten Wahrheitsanspruchs natürlich ein Dorn im Auge. Die damit verbundene These von den polyperspektivischen Möglichkeiten
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H. Leisegang, Denkformen, 1928. L. Fleck, Erfahrung und Tatsache, 1983. 9 Vgl. W. Müller, Topik des Stilbegriffs, 1981. 8
Die Sprache als Medium
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unserer jeweiligen Gegenstandswahrnehmungen scheint einen Verlust an Übersichtlichkeit zu beinhalten bzw. die Negation der Hoffnung, Phänomene abschließend, wenn nicht gottgleich, ohne mediale Brechungsfaktoren erfassen zu können. Die Einsicht, dass wir all unser Sachwissen perspektivisch bedingt erwerben, muss aber nicht zwangsläufig zu einer erkenntnistheoretischen Resignation führen, da dadurch auch immer zwei Gefahren vorgebeugt wird. Einerseits werden wir damit nämlich vor einem lähmenden erkenntnistheoretischen Ohnmachtsgefühl bewahrt und andererseits vor einem prometheischen Allmachtsgefühl, in dem die Interpretationsbedürftigkeit und die Widerständigkeit der Erkenntnisgegenstände nicht wirklich ernst genommen werden. Außerdem ergibt sich so gesehen auch noch der Vorteil, den Formbegriff nicht nur statisch (forma formata), sondern im Sinne Humboldts auch dynamisch (forma formans) zu verstehen. „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen.“10
3. Die Identität komplexer Phänomene Wenn man ein komplexes Phänomen wie etwa die Sprache, die evolutionär entstanden ist, die sich ständig weiter entwickelt, die aus dem konstruktiven Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Einzelteile besteht und die außerdem sehr vielfältige pragmatische Funktionen erfüllen muss, konzeptualisieren will, dann ergeben sich insbesondere zwei Probleme. Zum einen stellt sich das praktische Problem, wie wir diese Objektivierung am besten bewerkstelligen können, zum andern aber auch das grundsätzliche Problem, ob die Sprache überhaupt eine stabile Identität hat, die es ermöglicht, allgemeingültiges Wissen über sie zu fixieren. Mit anderen Worten: Gibt es die Sprache überhaupt als einen stabilen Gegenstandsbereich für eine zuverlässige Wissensbildung? Haben wir es bei dem Phänomen Sprache nicht mit einem chamäleonsartigen Fiktivgebilde zu tun, das sich jeder zuverlässigen begrifflichen Erfassung entzieht? Können wir überhaupt von der Sprache sprechen? Sollten wir nicht besser vom Sprechen als einem prozessualen Vorgang reden als von der Sprache als einem wesensstabilen Gegenstand mit gleichbleibender Identität, der hinter jedem aktuellen Sprechen steht? Die Identitätsvorstellung als eine problematische Prämisse aller Wissensund Begriffsbildung ist schon in der Antike einerseits von Heraklit in der These thematisiert worden, dass alles fließe bzw. dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, und andererseits durch das bekannte Denkbild vom Schiff des Theseus. Dieses Schiff, mit dem Theseus die geretteten Jungfrauen und Jünglinge aus Kreta zurückgebracht hatte, wurde von den Athenern zum
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W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften Bd. 5, 1906, S. 455.
Die Identität komplexer Phänomene
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ewigen Andenken aufbewahrt und laufend hinsichtlich seiner schadhaften Teile erneuert. In diesem Zusammenhang ergab sich dann aber das Problem, ob es trotz dieser Veränderungen auch weiterhin als das Schiff des Theseus gelten könne. Man hatte nämlich die Frage zu beantworten, ob sich die Identität dieses Schiffes auf seine materielle Beschaffenheit gründe, auf seine pragmatische Funktionalität als Schiff oder auf seine Zeichen- und Erinnerungsfunktion für die Athener bzw. auf seine kollektive und kulturelle Wahrnehmungsweise durch diese. In vergleichbarer Weise ergibt sich natürlich auch im Hinblick auf das Phänomen Sprache die Frage, worauf sich unsere Identitätsvorstellung von ihr gründen soll. Sicherlich ist es pragmatisch sinnvoll, den komplexen Begriff Sprache beizubehalten, um einen ganz bestimmten Erfahrungsbereich intersubjektiv verständlich thematisieren zu können. Eine nominalistische Zertrümmerung des Begriffs Sprache bringt keinen wirklichen Gewinn, sondern nur Desorientierung. Gleichwohl stellt sich aber natürlich das Problem, welche Aspekte von Sprache wir für konstitutiv und welche wir für abgeleitet oder peripher ansehen wollen. Sollen wir uns bei der Konkretisierung unserer Vorstellung von Sprache primär auf ihre sinnliche Erscheinungsweise, auf ihren Systemcharakter, auf ihre pragmatische Funktion, auf ihre evolutionäre Wandlungsfähigkeit oder auf unsere traditionelle Wahrnehmungsweise von ihr konzentrieren? Es ist offensichtlich, dass wir uns keineswegs nur für eine dieser Konzeptualisierungsperspektiven entscheiden können, wenn wir uns sachgemäß und intersubjektiv sinnvoll über dieses Phänomen verständigen wollen. Letztlich bringt es keinen großen Nutzen, wenn wir uns das Phänomen Sprache vorab methodisch so stark vereinfachen, dass uns eine Theoriebildung leicht fällt. Auf eine dieser Weisen können wir uns dann zwar einen klaren und distinkten Begriff von Sprache entwickeln, aber dieser könnte auch sehr armselig ausfallen, weil er nur einen ziemlich eingeschränkten Sachbezug hätte. Aus der bekannten These Berkeleys, dass das für uns fassbare Sein der Dinge aus der Form von ihren jeweiligen Rezeptionsweisen resultiere (esse est percipi),11 folgt weder, dass wir die Dinge in Wahrnehmungsprozessen real erzeugen, noch, dass wir sie in einer einzigen Wahrnehmungsweise schon hinreichend erfassen können. Vielmehr haben wir davon auszugehen, dass wir ein Phänomen erst dann zureichend kennenlernen, wenn wir es in verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven betrachten und die dabei erzielten einzelnen Wahrnehmungsergebnisse sinnvoll miteinander zu einer komplexen mehrschichtigen Wahrnehmungsgestalt verbinden. Der Wert von polyperspektivischen Aneignungsbemühungen bzw. der Verzicht auf totale Aneignungsansprüche lässt sich vielleicht durch den MidasMythos bzw. durch die Denkfigur des sogenannten Midas-Effekts veranschau-
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G. Berkeley , Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, 1979, § 3, S. 26.
Die Sprache als Medium
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lichen.12 Als Midas von Dionysos einen Wunsch freigestellt bekam, wünschte er sich, dass alles, was er berühre, zu Gold werden sollte. Aber die Erfüllung dieses überzogenen Wunsches erwies sich schon sehr bald als ein Fluch, weil sich nämlich auch all seine Nahrung bei Berührung in Gold verwandelte. Obwohl die Konsequenzen dieser Wunscherfüllung Dionysos anfangs sehr amüsierten, so hatte er dann doch ein Einsehen. Er empfahl Midas, sich im Fluss Paktolos zu waschen, um sich auf diese Weise von seinen übersteigerten Transformationskräften zu befreien. Dieser Reinigungsvorgang hatte dann zur Konsequenz, dass sich hernach im Sande dieses Flusses immer wieder einzelne Goldkörner fanden, die sich die Menschen dann durch sinnvoll organisierte Arbeit aneignen konnten. Dieser Mythos macht sehr feinsinnig darauf aufmerksam, dass man mit Totalansprüchen letztlich nicht viel erreicht, sondern eher durch vielfältige Einzelanstrengungen. Daraus lässt sich dann ableiten, dass es auch bei der Konzeptualisierung von Sprache keinen Königsweg gibt, um lebensdienliche Erkenntnisse über dieses Phänomen zu gewinnen. Pauschale Objektivierungen von Sprache, die dem Grundmuster folgen, Sprache sei nichts anderes als … , führen letztlich nicht weiter. Bei solchen Bestrebungen laufen wir immer Gefahr, einen Midas-Effekt zu erzielen, der darin besteht, dass wir Sprache nur noch so wahrnehmen, wie wir es im Rahmen des jeweiligen Denkansatzes vorab gewünscht haben. Deshalb sollten wir uns davor hüten, die Eigenständigkeit und Widerständigkeit der Sprache durch überzogene Aneignungs- und Beherrschungswünsche brechen zu wollen. Auch die hegelsche Hoffnung, dass in der Form des begrifflichen Wissens von etwas alle anderen Wissensformen im dreifachen Sinne das Wortes aufgehoben würden (beseitigt, bewahrt, hochgehoben), erscheint so gesehen recht problematisch.
4. Das Problem der Selbstbezüglichkeit Wenn das Denken sich selbst aufzuklären versucht bzw. wenn mit der Sprache über Sprache gesprochen wird, dann ergeben sich eine Reihe von heuristischen, methodischen und logischen Grundsatzproblemen, da dasselbe Phänomen ja zugleich Betrachtungsgegenstand und Analysemittel ist. Konkret stellen sich dabei eine Reihe kaum zu beantwortender Fragen: Kann man die Struktur eines Systems mit den Mitteln desselben Systems aufklären oder nur mit den Mitteln eines Systems höherer Ordnung, also mit Hilfe der Mittel eines Metasystems? Wo findet man bei dieser Selbstbezüglichkeitsstruktur den archimedischen Punkt, auf den man seine Aufklärungsanstrengungen gründen kann? Gerät man bei der Selbstaufklärung des Denkens und Sprechens nicht in die Münchhausenparadoxie, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu
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Vgl. R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, 1965, Bd. 2, S. 255 ff.
Das Problem der Selbstbezüglichkeit
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müssen? Die Paradoxien, die aus der Struktur der Selbstbezüglichkeit resultieren, fallen besonders klar ins Auge, wenn man Aussagen folgenden Typs betrachtet: Ich verbiete dir, zu gehorchen. Alle Verallgemeinerungen sind falsch. Die Logiker haben auf das Problem der Selbstbezüglichkeit von Aussagen auf zweierlei Weise reagiert. Einerseits haben sie verboten, Sätze zu formulieren, die sich zugleich auf anderes und auf sich selbst beziehen. Andererseits haben sie wie etwa Gödel betont, dass sich eine Systemordnung nicht widerspruchsfrei mit den Mitteln derselben Systemordnung aufklären lässt, sondern nur mit Mitteln einer Systemordnung höheren Typs, also mit Hilfe eines Metasystems. Bochénski hat sogar eine semantische Stufentheorie entwickelt, um die Probleme der Selbstbezüglichkeit besser in den Griff zu bekommen.13 Nach dieser Stufentheorie gibt es drei Stufen, nämlich eine Nullstufe, die mit dem jeweiligen ontischen Sachverhalt identifiziert werden kann, über den jeweils gesprochen wird, eine 1. semantische Stufe, die mit den Zeichen und Aussagen für diesen Sachverhalt identifiziert werden kann (objektsprachliche Ebene), und eine 2. semantische Stufe, die mit den Zeichen und Aussagen über die sprachlichen Objektivierungsformen für die 1. semantische Stufe identifiziert werden kann (metasprachliche Ebene). Dieser Denkansatz scheint auf den ersten Blick sehr plausibel zu sein. Er fordert nämlich bei der sprachlichen Objektivierung von Sachverhalten dazu auf, klar zwischen sachthematischen Basisaussagen mit einem genuinen Objektinteresse (intentio recta) und reflexionsthematischen Interpretationsaussagen mit einem genuinen Zeicheninteresse (intentio obliqua) zu unterscheiden. Außerdem legt er nahe, den Wechsel der jeweiligen Bezugsebenen in Aussageprozessen klar zu signalisieren, um dadurch die verschiedenen Inhaltsebenen klar auseinander halten zu können. Am leichtesten ließe sich das natürlich bewerkstelligen, wenn wir für die einzelnen Inhaltsebenen ein jeweils eigenständiges Vokabular oder gar eine eigenständige Sprache benutzten, da sich dann die weltbezogenen Basissätze formal eindeutig von den interpretativen Metasätzen unterscheiden ließen. Ein genauerer Blick zeigt nun aber, dass eine solche kategoriale Trennung von verschiedenen Inhalts- und Sprachebenen beim Gebrauch der natürlichen Sprache sehr schnell an seine Grenzen stößt bzw. unmöglich ist. Hier sind die verschiedenen Inhaltsebenen so ineinander verwachsen, dass sie sich kaum von einander trennen lassen, ohne die komplexen Sinnbildungsfunktionen und die Vitalität des natürlichen Sprachgebrauchs zu stören. So haben wir etwa zu beachten, dass das Vokabular der natürlichen Sprache in der Regel sowohl benennende als auch wertende und damit auch metasprachliche interpretative Aufgaben wahrnimmt (Pferd, Ross, Gaul; sterben, heimgehen, krepieren). Wenn wir an das Phänomen des sprachlichen Stils denken, dann ist ganz offensichtlich, dass die Wahl der einzelnen Sprachformen nicht nur von den jeweiligen Sachgegenständen her bedingt wird, sondern auch von den Sehwei-
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J. M. Bochénski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 19715, S. 59.
Die Sprache als Medium
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sen, den Gestaltungsintentionen und Wirkungsabsichten der jeweiligen Sprecher. Beim Gebrauch der natürlichen Sprache lässt sich ihre sachthematische und ihre reflexionsthematische Nutzung faktisch nicht so säuberlich trennen, wie es die Sprachlogiker gerne hätten. Kant hat ganz unabhängig von sprachtheoretischen Überlegungen eine Maxime formuliert, in der sehr schön auf die unaufhebbare innere Verschränktheit des sachthematischen und des reflexionsthematischen Denkens aufmerksam gemacht wird: „ Das: I c h d e n k e, muß alle meine Vorstellungen begleiten können.“14 Kants Maxime beinhaltet, dass alle Denkprozesse und damit dann auch alle Sprachprozesse als Syntheseprozesse zu verstehen sind, in denen Inhalte von unterschiedlichem logischen bzw. informativen Status zu sehr komplexen Sinngestalten miteinander verschmolzen werden. Diese Sinngestalten können wir zwar nachträglich in zeitgedehnten Verstehensprozessen hinsichtlich ihrer verschiedenen Sinnschichten bzw. Sinnaspekte analysieren, aber spontan sind sie uns meist über unser Sprachgefühl auf eine allerdings recht globale Weise auch intuitiv zugänglich. Beim Gebrauch der natürlichen Sprache werden die gegenstandsbezogenen Grundinformationen und die interpretativen Zusatzinformationen nicht linear nacheinander, sondern synchron miteinander wahrgenommen und verwertet. Wenn Bühler von der Darstellungs-, der Appell- und der Ausdrucksfunktion der Sprache spricht oder wenn in der Sprechakttheorie zwischen dem propositionalen Gehalt und der illokutiven Funktion einer Äußerung unterschieden wird, so soll damit ja auch betont werden, dass mit derselben sprachlichen Äußerung auf synchrone Weise kategorial unterschiedliche, aber gleichwohl miteinander verwachsene Teilinformationen vermittelt werden können. Nur in den Sonderfällen, in denen sich eine Aussage referenziell zugleich sowohl auf anderes als auch auf sich selbst bezieht, führen die selbstbezüglichen Informationsstrukturen zu wirklichen Paradoxien. In allen anderen Fällen, in denen Grundinformationen nur durch zusätzliche Interpretationsinformationen angereichert werden, führen selbstbezügliche Informationsstrukturen in Sätzen vielmehr zu komplexen Vorstellungsinhalten mit einer ausgeprägten inhaltlichen Reliefstruktur. Ein typisches Beispiel dafür ist die metaphorische bzw. sinnbildliche Redeweise. Vordergründig betrachtet scheinen hier Störungen des normalen konventionellen Sprachgebrauchs vorzuliegen, weil die üblichen referenziellen Bezüge der einzelnen Wörter nicht respektiert werden. Genauer betrachtet haben wir es hier aber mit einem innovativen Sprachgebrauch zu tun, mit dem sich in einem ersten Schritt ganz neuartige Sachverhalte oder ganz neue Wahrnehmungsperspektiven für schon bekannte Sachverhalte sprachlich objektivieren lassen. Solche Redeweisen ermöglichen nicht nur eine flexible Nutzung der vorhandenen Sprachmittel, sondern tragen auf entscheidende Weise auch zur Selbsterneuerung der Sprache bei.
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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 136, Werke, Bd. 3, S. 136.
Das Problem der Selbstbezüglichkeit
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Sinnbilder haben im System des natürlichen Sprachgebrauchs eine ähnliche Funktion wie Hofnarren im System der höfischen Verhaltensweisen. Offiziell gelten Hofnarren im höfischen System als verrückt bzw. als systemtranszendent. Ähnliches gilt auch von metaphorischen und sinnbildlichen Redeweisen im System des konventionellen bzw. begrifflichen Sprachgebrauchs. Aber gerade deswegen haben sowohl Hofnarren als auch bildliche Redeweisen die Freiheit, etwas auszusprechen, was nicht in die etablierten Systemordnungen passt, was aber keineswegs ohne Wert und Sinn sein muss. Hofnarren lassen sich als Störfaktoren ansehen, die in weiser Voraussicht in das höfische System eingebaut worden sind, damit etwas zur Sprache kommen kann, was üblicherweise nicht zur Sprache gebracht werden kann oder darf. Hofnarren negieren nicht das höfische System als Ganzes, aber sie können dennoch auf dessen Mängel hinweisen, ohne gravierende Systemturbulenzen auszulösen, weil sie im Prinzip ja nicht ganz ernst genommen werden müssen. Sie helfen aber als institutionelle Einrichtungen dennoch dabei, das ganze höfische System in einem Fließgleichgewicht zu halten. Auf diese Weise tragen sie zu seiner Selbsterneuerung bei und verhindern seine Verholzung. Gerade dadurch, dass der Hofnarr konsequent seine Sonderrolle spielt, macht er indirekt darauf aufmerksam, dass auch alle anderen bei Hofe nur bestimmte Rollen spielen. Das Wechselspiel zwischen dem begrifflichen und dem bildlichen Sprachgebrauch ist konstitutiv für das Funktionsspektrum der natürlichen Sprache. Dieses Wechselspiel lässt sich letztlich auch als ein Selbstbeweglichkeitsspiel begreifen, in dem die Stärken und Schwächen der einzelnen Sprachverwendungsweisen deutlich hervortreten. Die Art und Weise wie sich die unterschiedlichen Formen des Sprachgebrauchs wechselseitig erhellen und ergänzen können, liegt nicht von vornherein fest, sondern muss ständig neu austariert werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die natürliche Sprache zum bildenden Organ unseres Denkens werden kann bzw. zu einer Möglichkeit des Geistes, „den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen.“ 15 Die Trennung von Information und Metainformation bzw. von sachthematischem und reflexionsthematischem Denken ist ein Ergebnis analytischer Anstrengungen im Rahmen des begrifflichen Denkens und Sprechens. Im konkreten aktuellen Sprachgebrauch können wir eine solche Unterscheidung kaum trennscharf vornehmen, weil hier selbstbezügliche Informationsstrukturen zum genuinen Funktionsspektrum der Sprache bzw. des Sprechens gehören. Ohne diese Möglichkeit zur immanenten Selbstinterpretation, Selbstkorrektur und Selbsterneuerung könnte nämlich die natürliche Sprache nicht ihre universale Rolle als das flexibelste und das umfassendste Medium für all unsere Sinnbildungsanstrengungen spielen.
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W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ... ,Werke, Bd. 3, S. 418.
III
Die Leistung von Begriffen
Richtig gebildete Begriffe scheinen dazu prädestiniert zu sein, uns eine verlässliche Weltorientierung zu geben. Von ihnen erwarten wir, dass sie zutreffende repräsentative Bezüge zu Gegenständen und Sachverhalten in der Welt herstellen bzw. Erfahrungsgegenstände zutreffend kategorial einordnen. Dagegen scheinen Metaphern bzw. Sinnbilder einen eher problematischen kognitiven Stellenwert zu haben. Sie gelten vielen als ästhetisch, rhetorisch oder ornamental motivierte sprachliche Objektivierungsformen, die man entweder als ästhetische Ersatzformen den begrifflichen Objektivierungsformen nachordnen oder als bloße spekulative Hypothesen vorordnen kann. So oder so werden sie dann gerade deshalb als prinzipiell zu ersetzende sprachliche Erfassungsformen von Welt angesehen. Ob bzw. inwieweit diese Stufung und Wertung begrifflicher und bildlicher Objektivierungsformen zutrifft, sollte allerdings erst dann entschieden werden, wenn man das geistige Leistungsprofil beider Verwendungsweisen von Sprache genauer untersucht hat. Unstrittig ist aber sicherlich, dass beiden Objektivierungsformen von Wissen eine Vermittlungsfunktion zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre zukommt. Aufzuklären bleibt jedoch, welche konkreten Leistungen sie dabei erbringen und welche Implikationen damit jeweils verbunden sind. Verlässliche Aussagen darüber lassen sich nur machen, wenn man sich dabei nicht nur an ontologischen, sondern auch an anthropologischen, psychologischen und pragmatischen Gesichtspunkten orientiert. Das schließt ein, dass es bei der Beurteilung des kognitiven Leistungspotenzials der beiden sprachlichen Objektivierungsformen nicht nur darum gehen kann, inwiefern sie gleichsam einen sprachlichen Gipsabdruck von der Welt ermöglichen, sondern auch darum, welche Hilfe sie leisten, mit der Welt im Denken und Handeln erfolgreich umzugehen.
1. Status und Funktion von Begriffen Allgemeines Einverständnis gibt es sicherlich darüber, dass Begriffsmuster im Sinne von kognitiven Ordnungsschemata für Lebewesen aller Art unabdingbar sind. Diese sind nämlich prinzipiell dazu gezwungen, die ihnen begegnende Welt in ihrer faktischen Komplexität so zu vereinfachen, dass sie sich in Handlungsprozessen in ihr gut orientieren können. Sie müssen deshalb Strategien und Techniken entwickeln, um etwas als etwas wahrnehmen zu können, weil
Status und Funktion von Begriffen
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sie ansonsten im Ozean von Einzelreizen ertrinken würden und kaum noch lebensdienlich agieren könnten. Schon eine Zelle bzw. eine Zellmembran braucht Differenzierungsschemata, um entscheiden zu können, welche Stoffe sie aufnehmen bzw. passieren lassen darf und welche nicht. Jedes Tier braucht Muster, um sinnliche Einzelwahrnehmungen als Gefahr, als Nahrung oder als möglichen Geschlechtspartner klassifizieren zu können. Solche Ordnungsmuster, die funktional durchaus als rudimentäre Begriffsmuster angesehen werden können, haben sich im animalischen Bereich in langen Evolutionsprozessen entweder direkt genetisch verankert oder als offene Lernmuster so etabliert, dass sie über lebensweltliche Prägungen in frühen Lebensphasen relativ schnell eine konkrete Gestalt finden können. Ohne diese angeborenen oder erwobenen Vereinfachungsmuster könnte kein Lebewesen überleben bzw. die Menge der anfallenden Sinnesreize sinnvoll verarbeiten. Alle Lebewesen nehmen deshalb etwas als etwas wahr, insofern sie konkrete einzelne Reizkonfigurationen und Erfahrungen bestimmten Mustern zuordnen, in welchen sich ein artspezifisches Wissen von der Welt angesammelt hat. Unbestreitbar ist sicher auch, dass beim Menschen die Fähigkeit zu solchen Musterbildungen einen entwicklungsgeschichtlichen Höchststand erreicht hat. Gerade durch die evolutionäre Entwicklung der Verbalsprache hat sich die menschliche Fähigkeit zur Ausbildung und zur kulturellen Tradierung von Mustern in einem Maße ausgeweitet, die alle Möglichkeiten der tierischen Musterbildung weit übertrifft. Gleichwohl muss man natürlich auch einräumen, dass einzelne Tierarten in bestimmten Wahrnehmungsfeldern (Geruchsbereich, Hörbereich, Sehbereich) differenziertere Wahrnehmungsmuster als die Menschen ausgebildet haben. Aber durch die Fähigkeit der Menschen, kulturell entwickelte Wahrnehmungsmuster lautlich zu benennen und eben dadurch auch zu fixieren und kulturell zu tradieren, hat sich die Chance ergeben, ungeheuer viele Ordnungsmuster herzustellen und funktional auch ganz spezifisch zu typisieren. Jede Generation der Menschen konnte dadurch bei dem Prozess der Musterbildung dort fortfahren, wo die vorhergehende aufgehört hatte. Das hat schon im Mittelalter zu der Vorstellung geführt, dass die einzelnen Menschen eigentlich Zwerge auf den Schultern von Riesen seien.1 Wenn sprachlich fixierte Begriffe als anthropologisch unabdingbare Ordnungsmuster verstanden werden, die im Rahmen biologisch verankerter Grundmuster kulturell variabel ausgestaltet werden können, dann stellt sich natürlich die Frage, ob bzw. in welchen Hinsichten sie auf die physische, psychische und kulturelle Welt passen und welche Entwicklungsgeschichte und Variationsbreite wir ihnen jeweils zubilligen können. Außerdem ergibt sich insbesondere bei wissenschaftlichen Begriffen das Problem, ob und wie sie ontisch legitimiert werden können und ob sie neben ihren ontischen auch noch
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Vgl. R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, 1989.
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Die Leistung von Begriffen
kulturspezifische, sprachspezifische, historische und psychologische Differenzierungsbedürfnisse erfüllen bzw. zu erfüllen haben. Diese ganze Problematik verschärft sich noch, wenn wir die Qualität derjenigen Begriffe diskutieren, mit denen wir das Phänomen Sprache kategorial zu erfassen versuchen. Diesbezüglich ergeben sich dann folgende Fragen: Sollen wir uns ontisch orientieren und dabei einer existierenden Sprache ein vorgegebenes stabiles Wesen zuordnen? Sollen wir uns psychologisch orientieren und dabei nach den kulturell variablen sprachlichen Differenzierungsbedürfnissen der Menschen fragen? Sollen wir uns pragmatisch orientieren und dabei nach der Funktion der Sprache als Wissensspeicher und Handlungswerkzeug fragen? Sollen wir bei der Konstitution angemessener Begriffe für Sprache primär auf die gesprochene oder die geschriebene Sprache Bezug nehmen? Sollen wir uns bei unseren sprachtheoretischen Überlegungen auf die natürlich gewachsene Sprache oder auf formalisierte Wissenschaftssprachen beziehen? All diese Fragen verdeutlichen, dass das Phänomen Sprache sicherlich kein so übersichtliches empirisches Erfahrungsphänomen ist wie beispielsweise das Phänomen Pferd. Das Vorstellungsphänomen Sprache ist eher als ein komplexes kulturelles Erfahrungskonstitut zu verstehen, bei dessen Etablierung schon sehr viele Vorentscheidungen darüber gefallen sind, was an ihm wichtig sein soll und was nicht. Das Prestige von Begriffen als kognitiven Ordnungsmustern wurzelt auch heute noch in einem Denkmodell, das seit Sokrates und Platon als sogenannte Ideenlehre bekannt geworden ist, obwohl beide ihre diesbezüglichen Überlegungen ursprünglich wohl eher in einem hypothetischen als in einem dogmatischen Sinne verstanden wissen wollten. Nach diesem Konzept kommt eigentliche Realität nicht den konkret beobachtbaren Einzelphänomenen selbst zu, sondern vielmehr den sogenannten Ideen als den unsinnlichen abstrakten Seinseinheiten, aus welchen dann die konkreten beobachtbaren Einzelphänomene ähnlich wie Münzen aus einer vorgegebenen Prägeform hervorgehen. So gesehen ließen sich dann richtig konzipierte Begriffe als Repräsentanten ewiger Ideen ansehen, die als Urformen allen empirisch fassbaren Einzelphänomenen zugrunde liegen und deshalb deren inneres Wesen ausmachen. Dabei ist es dann ein Problem zweiten Ranges, ob die Ideen bzw. Begriffe als geistige Seinseinheiten vor den empirisch fassbaren Seinseinheiten existieren, wie es Platon nahegelegt hat, oder ob sie als Wesenskerne in den konkreten Seinseinheiten selbst beheimatet sind, wie es Aristoteles favorisiert hat. In beiden Fällen werden die jeweiligen Begriffe nämlich nicht als heuristische Hypothesen von den Menschen nach ihren jeweiligen pragmatischen Bedürfnissen erzeugt, sondern vielmehr als vorgegebene Seinsmuster bloß von ihnen freigelegt. Wenn man in diesem Rahmen denkt, dann hätte der zu findende Begriff von Sprache als Seinsbegriff die Aufgabe, das innere Wesen aller vorfindbaren Sprachen bzw. das Wesen des Sprechens offen zu legen und unser Streben nach Wissen über die Sprache in einem abschließenden Begriff zur Ruhe kommen zu lassen. Obwohl dieses Denkmodell mit seinen meist unausgespro-
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chenen Prämissen und Zielen heute sowohl ontologisch als auch erkenntnistheoretisch wohl kaum noch als legitimierbar und vertretbar angesehen werden kann, so hat sich das Prestige von Begriffen als sprachtranszendenten Wesensrepräsentationen von Erfahrungsphänomenen insbesondere bei wissenschaftlichen Begriffsbildungen dennoch weitgehend erhalten. Zwar hat uns schon der mittelalterliche Nominalismus eindrucksvoll klargemacht, dass Begriffe im Prinzip nur als heuristische Konstrukte und Hypothesen der Menschen anzusehen seien und nicht als ontische Seinsformen, dennoch gelten uns auch heute noch insbesondere wissenschaftliche Begriffe als vertrauenswürdige Abbildungsformen von Seinsformen bzw. als optimale Repräsentationsformen von Wissen. Nietzsches nominalistisches Diktum, Begriffe seien Produkte menschlicher Willkür, wird in der Regel nur amüsiert zu Kenntnis genommen, ohne darüber gleich in erkenntnistheoretische Depressionen zu verfallen. „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen.“2 Eine solch gelassene Reaktion ist auch vernünftig, weil sprachlich konstituierte und tradierte Begriffe nicht zufälliges und rein willkürliches Menschenwerk sind, sondern evolutionär entstandenes und bewährtes Kulturwerk. Sprachliche Begriffe fixieren nicht zufällige Einfälle, sondern speichern die Ergebnisse von Sinnbildungsanstrengungen mit einem überindividuellen, wenn auch nicht universalen Geltungsanspruch und Geltungsnutzen. Die pragmatische Stärke von Begriffen besteht darin, dass sie dabei helfen, die Vielfalt von Einzelwahrnehmungen mit Hilfe von typisierenden Mustern kategorial zu ordnen und damit das Chaos von Einzelwahrnehmungen zu einem strukturierten Kosmos zu machen bzw. hinter variablen Oberflächenstrukturen gemeinsame Tiefenstrukturen zu erfassen. Ihre pragmatische Schwäche besteht darin, dass sie Gefahr laufen, Individualität und Vielfalt zu übersehen, gruppenspezifische Differenzierungsinteressen für allgemeingültig anzusehen, die Sensibilität für Übergänge und Analogien herabzusetzen und das statische Strukturdenken auf Kosten eines dynamischen Strukturierungsdenkens zu begünstigen. Um die positiven und negativen Implikationen von Begriffen zu erfassen, ist es deshalb vorteilhaft, sich etwas genauer mit ihrer Genese und ihren Konsequenzen zu beschäftigen, weil sich erst dann ihr Leistungspotenzial mit dem von Sinnbildern fruchtbar vergleichen lässt.
2. Kognitive Prozesse bei der Bildung von Begriffen Nach den bisherigen Überlegungen zur Begriffsproblematik ist insbesondere zweierlei festzuhalten. Zum einen sind Begriffe Manifestationsformen von kognitiven Anstrengungen, die sowohl in der Objektsphäre als auch in der Subjektsphäre zu verankern sind, weil ansonsten Begriffe ihren pragmatischen
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F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke, Bd. 3, S. 313.
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Die Leistung von Begriffen
Funktionen nicht gerecht werden können, den einzelnen Subjekten die jeweiligen Sachwelten entsprechend ihren spezifischen Differenzierungsbedürfnissen zugänglich zu machen und ihr jeweiliges Erfahrungswissen übersichtlich zu ordnen und zu speichern. Zum anderen lassen sich Begriffe auch als kulturgeschichtliche Phänomene betrachten, aus deren Struktur sich Hinweise darauf ergeben, in welchen Perspektiven sich die Menschen ihre Sachwelten objektiviert haben bzw. objektivieren wollen und welche Formen von Rationalität dabei in Erscheinung treten können. Diese beiden Charakteristika von Begriffen gelten formal gesehen sicher auch für Sinnbilder, obwohl sie in inhaltlicher Hinsicht bei diesen allerdings ganz anders in Erscheinung treten. Kein Zweifel besteht wohl daran, dass alle Begriffsbildungsprozesse als Abstraktions- und Vereinfachungsprozesse anzusehen sind, bei denen bestimmte empirische Charakteristika von Erfahrungsphänomenen weggedacht bzw. für randständig erklärt werden. Solche Abstraktionsprozesse lassen sich in unterschiedlicher Weise typisieren. Von einer generalisierenden Abstraktion kann immer dann gesprochen werden, wenn sich bei der jeweiligen Musterbildung das Hauptinteresse darauf richtet, bei den zu klassifizierenden Objekten die konstitutiven bzw. zentralen von den zufälligen bzw. peripheren Merkmalen zu unterscheiden, um gleichsam über Abschälungsvorgänge den inneren Kern von Phänomenen herauszupräparieren. Von einer isolierenden Abstraktion kann immer dann gesprochen werden, wenn sich aus pragmatischen Motiven das Hauptinteresse bei der Begriffsbildung darauf richtet, die Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Einzelmerkmale von Phänomenen zu konzentrieren und alle anderen Merkmale für zu vernachlässigende Zusatzaspekte zu erklären. Anthropologisch gesehen dienen alle Formen der Begriffsbildung im Sinne von Musterbildung keineswegs nur dem Ziel eines rein kontemplativen Erkenntnisgewinns. Die Ausbildung von Begriffen ist auch dadurch motiviert, dass sich durch sie die jeweiligen Bezugsphänomene besser beherrschen und in die eigene Lebenswelt einpassen lassen. So gesehen können Begriffe auch als Griffe verstanden werden, mit denen Subjekte die jeweiligen Objekte besser in ihre Verfügungsgewalt bringen können. Was nicht begrifflich eingeordnet ist, ist nicht nur schlecht zu handhaben, sondern kann wegen seiner Unübersichtlichkeit auch Angst erzeugen. Deshalb hat Nietzsche betont, dass unser ganzes Erkenntnisvermögen im Grund ein Vereinfachungsvermögen sei. „Der ganze Erkenntnis-Apparat ist ein Abstraktions- und SimplifikationsApparat – nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf B e m ä c h t i g u n g der Dinge.“ 3 Diese pragmatische Zweckorientierung von Denkmustern zeigt sich deutlich bei der Entstehung von Begriffsmustern im Verlauf des kindlichen Spracherwerbs, die viele Analogien zur Genese und Struktur von Musterbildungen im Verlaufe der Kulturgeschichte aufweist.
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F. Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, Werke, Bd. 3, S. 442.
Kognitive Prozesse bei der Bildung von Begriffen
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Auf fruchtbare Weise hat der Psychologe Bruner typologisch drei unterschiedliche Formen der Welterfassung und Musterbildung im Verlaufe der kognitiven Entwicklung von Kindern unterschieden, nämlich die enaktive bzw. aktionale Repräsentationsform von Welt, die ikonische bzw. bildhafte und die symbolische bzw. begriffliche.4 Diese drei Formen der Welterschließung folgen entwicklungsgeschichtlich aufeinander, aber die späteren heben die früheren nicht vollständig auf, sondern ergänzen sie nur, weil es sich dabei im Prinzip um jeweils grundständige Möglichkeiten der menschlichen Weltinterpretation und Sinnbildung handelt. Im Rahmen der aktionalen Repräsentation von Welt werden nach Bruner alle Erfahrungsphänomene in einem Ordnungsmuster zusammengefasst, die konstitutive Bestandteile eines bestimmten Handlungstyps sein können, ganz unabhängig von ihrer jeweiligen konkreten materiellen Beschaffenheit. Beispielsweise ist alles ein Stein, was man werfen kann, und alles ein Vogel, was fliegen kann. Diese Denkform dokumentiert, dass in der frühen Phase der Weltbegegnung der Kinder die jeweiligen Erfahrungsgegenstände ihre Identität bzw. ihre Klassenzugehörigkeit nicht durch ihre individuellen materiellen Merkmale bekommen, sondern durch ihre Einbettungsmöglichkeiten in bestimmte Handlungstypen. Dementsprechend werden sie auch nicht als individuelle Substanzen oder Wesenheiten wahrgenommen, sondern als Bestandteile von Handlungszusammenhängen oder als Aktionsdinge. Im Rahmen der ikonischen bzw. bildhaften Repräsentation von Welt lösen sich dann die Wahrnehmungsgegenstände nach und nach aus ihren faktischen Handlungseinbettungen und emanzipieren sich zu eigenständigen Vorstellungsgrößen. Dabei werden sie allerdings weniger als individuelle Größen wahrgenommen, sondern eher als Exemplifikationen eines bestimmten bildlich konkretisierbaren Vorstellungsschemas. Diese Repräsentationsweise von Welt weist eine große Nähe zu der sogenannten Prototypentheorie in der Semantik auf.5 Diese geht nämlich davon aus, dass wir uns in der Regel die Bedeutung von Wörtern dadurch repräsentieren, dass wir uns ein Einzelelement vorstellen, das auf prototypische Weise dasjenige Begriffmuster exemplifiziert, das durch das jeweilige Wort bezeichnet wird. Beispielsweise exemplifizieren wir uns den Begriff Vogel dann eher über die Vorstellung einer Amsel als über die eines Pinguins. Im Gegensatz zur aktionalen Repräsentationsweise verdeutlicht die ikonische, dass sich die jeweilige Musterbildung stärker an den konkreten Merkmalen der einzuordnenden Phänomene orientiert als an ihren möglichen Rollenfunktionen in bestimmten Handlungsprozessen. Dabei spielen dann natürlich konkrete, sinnlich wahrnehmbare Merkmale eine wichtigere Rolle als abstraktiv erschlossene. Beispielsweise wären bei Vögeln ihre Flugfähigkeit
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J. S. Bruner, Der Verlauf der kognitiven Entwicklung, in: D. Spanhel (Hrsg.), Schülersprache und Lernprozesse, 1973, S. 49 ff. 5 Vgl. G. Kleiber, Prototypensemantik, 19822.
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Die Leistung von Begriffen
und ihr Federkleid natürlich wichtiger als ihr Fortpflanzungsverfahren, das sich ja von dem der Säugetiere sehr deutlich unterscheidet. Bei der symbolischen bzw. begrifflichen Repräsentation von Welt werden entsprechend der angelsächsischen Gebrauchsweise des Terminus symbolisch die einzelnen Phänomene mit Hilfe von konventionalisierten begrifflichen Denkmustern erfasst, die oft nur mittelbar mit sinnlichen Anschauungen verknüpft sind und meist ganz bestimmten kulturellen Differenzierungsintentionen Ausdruck geben. So spielen etwa für die Konstitution des Begriffs Junggeselle die recht abstrakten semantischen Merkmale menschlich, erwachsen, unverheiratet und männlich eine ganz zentrale Rolle, welche in ikonische Objektivierungsverfahren kaum Relevanz haben. Natürlich sind wir geneigt, die begriffliche Objektivierung von Welt als die höchst entwickelte geistige Repräsentationsform anzusehen, zumal sie ja auch in den Wissenschaften umfassend praktiziert wird. Hegel hat diesbezüglich wie schon erwähnt betont, dass in der begrifflichen Erkenntnisform alle anderen aufgehoben würden, und zwar sowohl im Sinne von beseitigt als auch von bewahrt oder gar von hochgehoben.6 Bei aller Wertschätzung der begrifflichen Welterfassung sollte nun aber nicht übersehen werden, dass auch die aktionale und die ikonische eine ganz spezifische kognitive Qualität haben, insofern auch in ihnen einzelne Wahrnehmungen und Vorstellungen bestimmten Mustern zugeordnet werden. Dementsprechend haben Begriffe und Sinnbilder für Sprache eine gemeinsame Wurzel darin, dass beide es ermöglichen, einzelne Erfahrungen einem Erfahrungsschema bzw. einer Familie ähnlicher Erfahrungen zuzuordnen. Die Fähigkeit zur Ausbildung von Erfahrungsschemata ist deshalb auch für Kant „eine verborgene Kunst“, die kaum vollständig aufklärbar „in den Tiefen der menschlichen Seele“ verankert ist.7 Für die Philosophen ist es immer ein Problem gewesen, ob Begriffe letztlich im Sinne von platonischen Ideen als ontischen Entitäten anzusehen sind oder im Sinne von nominalistischen Hypothesen als mehr oder weniger willkürliche menschliche Konstrukte. Diese Alternative war insofern nicht unerheblich, weil sich an ihr auch entscheiden konnte, welchen Wert man Schlussfolgerungen aus begrifflichen Aussagen zubilligen konnte. Außerdem stellte sich in diesem Zusammenhang dann auch noch das Problem, ob man aus der Analyse von Begriffen primär etwas über die Welt lernt oder primär etwas über die Menschen, die die jeweiligen Begriffe gebildet haben. Die Kontroverse über den ontologischen Status von Begriffen ist nun allerdings insofern recht unfruchtbar, als in der thematisierten Alternative die Vermittlungsfunktion von Begriffen zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre weitgehend ausgeblendet wird. Fruchtbarer erscheint es, sich die Frage zu stellen, welches Wissen von der Welt bzw. von der Sprache sich in Begriffen ange-
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G. W. F. Hegel, Wissenschaft von der Logik I, Werke, Bd. 5, S. 114. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 181 f., Werke, Bd. 3, S. 190.
Begriffe als Wissensformen
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sammelt hat und wie sich dieses Wissen von dem unterscheidet, das in Sinnbildern fassbar wird.
3. Begriffe als Wissensformen Wenn man Begriffe als Manifestationen und als Resultate von kognitiven Ordnungsanstrengungen ansieht, dann lassen sie sich auch als Erscheinungsweisen und als Ergebnisse impliziter Aussagen betrachten. Wenn man nämlich ein konkretes Erfahrungsphänomen nicht mit einem Eigennamen (Lumpi) bezeichnet, sondern mit einem Begriffsnamen (Dackel, Säugetier, Kreatur), so hat man sich zugleich immer auch dafür entschieden, sich für dieses Phänomen in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive zu interessieren. Die Zuordnung eines Wahrnehmungsgegenstandes zu einem bestimmten Begriff impliziert einen kognitiven Akt, der wiederum auf andere verweist bzw. auf die spezifischen Erkenntnisinteressen und Erkenntnisinhalte, die mit diesem Akt verbunden sind. Dieser Tatbestand tritt deutlich hervor, wenn man sich mit dem Abstraktionsgrad von Begriffen bzw. mit der Frage nach ihrem Inhalt und Umfang beschäftigt oder mit der Frage nach der Hierarchisierung bzw. der Feldordnung von Begriffen. Die außerordentliche Hilfe der Sprache bei der Organisation kognitiver Prozesse besteht darin, dass sie es sehr leicht macht, Begriffe auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen auszubilden und durch die Benennung mit bestimmten Wörtern intersubjektiv zu stabilisieren. Durch die Wahl der jeweiligen Begriffe beim Sprechen stellt man dann implizit schon immer klar, in welcher Denkperspektive man ein Phänomen thematisieren möchte bzw. in welchen allgemeinen Kontexten es wahrgenommen werden soll. Mit Hilfe der Termini Inhalt und Umfang bzw. Intension und Extension hat man versucht, die mit Begriffsbildungen immer verbundenen Interpretations- und Wissensimplikationen zu kennzeichnen. Wenn man von dem Inhalt eines Begriffs spricht, dann will man die konstitutiven Merkmale thematisieren, die den jeweiligen Begriff ausmachen und die alle Elemente erfüllen müssen, die unter diesen Begriff fallen sollen. Wenn man von dem Umfang eines Begriffs spricht, dann interessiert man sich dafür, auf welche Erfahrungsgegenstände der jeweilige Begriff überhaupt angewandt werden kann. Daraus ergibt sich, dass ein Begriff einen umso reichhaltigeren Inhalt an konstitutiven Merkmalen hat, je geringer sein Umfang bzw. sein Anwendungsgebiet ist. Je größer dagegen der Umfang eines Begriffs ist bzw. je mehr Einzelelemente unter ihn fallen können, desto weniger konkretes Merkmalswissen wird im Bewusstsein vergegenwärtigt, wenn man mit ihm ein bestimmtes Phänomen sprachlich objektiviert. Mit dem Begriffsnamen Dackel werden demzufolge dann auch mehr spezifische Sachinformationen aufgerufen als mit den viel abstrakteren Begriffsnamen Säugetier oder Kreatur.
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Die Leistung von Begriffen
Aus diesem Tatbestand ist nun allerdings nicht abzuleiten, dass Begriffe mit großem Inhalt und geringem Umfang von vornherein wichtiger oder wertvoller sind als solche mit kleinem Inhalt und großem Umfang, weil sich in ersteren mehr Differenzierungswissen sedimentiert hat. Gerade wenn wir in Betracht ziehen, dass die Pointe von Begriffen gegenüber Eigennamen darin besteht, Komplexität zu reduzieren und eine persönliche Distanz zu den jeweiligen Wahrnehmungsphänomenen zu gewinnen, dann können sehr umfangreiche bzw. abstrakte Begriffe kognitiv besonders brauchbar sein. Sie ermöglichen es nämlich, grundlegende Ordnungsstrukturen zu erfassen, die man bei Einzelwahrnehmungen leicht übersehen kann. Dadurch können sie verhindern, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Weiterhin ist zu beachten, dass die kognitive Qualität von Begriffen bzw. die mit ihnen verbundenen Wissensinhalte sich erst dann ganz erschließen, wenn wir die einzelnen Begriffe nicht als Bestandteile von Aggregaträumen betrachten, die wie beispielsweise ein Sandhaufen eine weitgehend additive Inhaltsstruktur haben, sondern als Bestandteile von Systemräumen, in denen alle Elemente einen definierten Systemplatz haben. Beispiele für die Vorstellung solcher begrifflichen Systemräume bzw. Feldordnungen sind in der Philosophie der Begriffsbaum des Porphyrios, in der Biologie dass Klassifikationssystem von Linné und in der Sprachwissenschaft das Konzept der lexikalischen und grammatischen Felder. Während in den formalisierten Wissenschaftssprachen solche Systemräume in der Regel gut durchstrukturiert sind, wodurch sich dann auch feste Regeln für die zulässigen syntaktischen Kombinationen der einzelnen lexikalischen Elemente ergeben, sind sie in den natürlichen Sprachen sehr flexibel organisiert. Hier sind die einzelnen Begriffe nach Inhalt und Umfang nicht sehr eindeutig bestimmt, weshalb es hier auch nicht so rigide Regeln für ihre syntaktischen Kombinationsmöglichkeiten gibt. Aussagen, die in formalisierten Sprachen völlig unzulässig sind, weil Begriffe syntaktisch miteinander verknüpft bzw. einander inhaltlich zugeordnet werden, die kategorial eigentlich ganz unterschiedlichen Seinsbereichen angehören, sind in den natürlichen Sprachen durchaus akzeptabel (Die Sprache ist ein Spiegel). Dieser Tatbestand legt die Annahme nahe, dass sich in den Begriffsbildungen der natürlichen Sprachen kein durchstrukturiertes Systemwissen sedimentiert hat, sondern eher ein flexibles Erschließungswissen, das erst im faktischen Sprachgebrauch seine konkrete Ausprägung bekommt. Die begriffliche bzw. semantische Flexibilität der Wörter in einer natürlichen Umgangssprache sollte uns aber nicht über den Tatbestand hinwegtäuschen, dass diese Wörter bzw. Begriffe dennoch in einem erheblichen Maße unsere Denk- und Wahrnehmungsprozesse vorstrukturieren. Dabei brauchen wir nur an den Umstand zu denken, dass sich in unseren Wortarten beispielsweise bestimmte Begriffstypen manifestiert haben, in denen sich ein elementares Kategorisierungswissen niedergeschlagen hat, das sich historisch bewährt hat und in dessen Rahmen sich deshalb dann auch alle konkreten sprachlichen Begriffsbildungsprozesse organisieren lassen.
Begriffe als Wissensformen
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Mit Substantiven wird ein Begriffstyp konkretisiert, bei dem üblicherweise Substanzvorstellungen assoziiert werden, mit Verben ein Begriffstyp, der sofort mit Prozessvorstellungen verbunden wird, und mit Adjektiven ein Begriffstyp, bei dem in der Regel Eigenschaftsvorstellungen aufgerufen werden. Phänomene, die sprachlich beispielsweise mit Hilfe von Substantiven thematisiert werden, versteht man daher weitgehend als statische Phänomene oder gar als Substanzen, die dann Träger von Prozessen und Eigenschaften sein können. Selbst Phänomene, die eigentlich eine Prozessstruktur haben, werden auf diese Weise zu Substanzen vergegenständlicht. So wird beispielsweise aus dem Vorgang des Reisens die Reise und aus dem Vorgang des Blitzens der Blitz. Dadurch ergeben sich dann zuweilen auch tautologische Informationsstrukturen (Der Blitz blitzt.). Vielleicht kann man im Hinblick auf die vorstrukturierende Macht der Wortarten für sprachliche Begriffsbildungen auch von einem Midas-Effekt sprechen, insofern der gewählte wortartenspezifische Begriffstyp immer schon nahelegt, wie wir ein Phänomen ontologisch verstehen sollen. Mit einem Midas-Effekt haben wir es auch bei Sinnbildern zu tun. Solange wir den Terminus Sprache verwenden und nicht den Terminus Sprechen, assoziieren wir Substanzvorstellungen, die es von vornherein plausibel erscheinen lassen, dass wir für Sprache die Sinnbilder Werkzeug, Spiegel, Geld usw. verwenden. Kulturgeschichtlich ist zwar einzuräumen, dass das neuzeitliche Denken sich immer mehr von der Substanzenontologie gelöst und sich immer mehr einer Funktionenontologie angenähert hat, in der dann im Prinzip die Vorstellung von Prozessen und Relationen eine ganz dominierende Rolle spielt.8 Gleichwohl ist aber auch festzustellen, dass unsere traditionellen sprachlichen Objektivierungsformen diesbezüglich sehr viel konservativer sind als unser neuzeitliches ontologisches Denken. Sie legen uns nämlich selbst dort noch Substanzvorstellungen nahe, wo wir diese eigentlich weder empirisch noch theoretisch rechtfertigen können. Auch wenn wir von Begriffen sprechen, dann denken wir primär ja meist an substantivisch objektivierte Ordnungsmuster und nicht an verbal oder adjektivisch objektivierte. Die Substanzenontologie ist im Laufe der Zeit insbesondere deswegen immer problematischer geworden, weil in ihr den Kategorien Relation und Funktion ganz untergeordnete Rollen zugeordnet werden. Die Vorstellung einer Substanz impliziert nämlich die Annahme, dass durch diese vorab immer schon festgelegt ist, welche Funktionen ihr potenziell zukommen können und in welche Relationsgeflechte sie eingebettet werden kann. Die Funktionenontologie zieht dagegen immer in Betracht, dass die von uns ins Auge gefassten Phänomene möglicherweise gar kein fest vorgegebenes überhistorisches Wesen haben, sondern allenfalls ein variables Wesen, welches faktisch als eine Funktion derjenigen Relationen in Erscheinung tritt, in denen wir die jeweili-
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Vgl. E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910/19906 . H. Rombach, Substanz, System, Struktur, 2 Bde., 1965/66.
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Die Leistung von Begriffen
gen Phänomene konkret wahrnehmen bzw. uns vorstellen. Damit gewinnt der Funktions- und Relationsbegriff dann eine deutliche Dominanz über den Substanzbegriff. Ein sinnfälliges Beispiel für diese Umorientierung des Denkens in der Neuzeit ist vielleicht, dass Viëta 1591 damit begonnen hat, nicht mehr nur mit Zahlen zu rechnen, die als feste Größen noch irgendwie mit Substanzvorstellungen zu verbinden sind, sondern auch mit Buchstaben. Diese treten dann im Gegensatz zu Zahlen sehr deutlich als Variable in Erscheinung, die man inhaltlich ganz unterschiedlich füllen kann. Aus der Dominanz des Relations- und Funktionsgedankens über den Substanzgedanken im neuzeitlichen Denken ergibt sich für die Beurteilung von Sinnbildern eine fast paradoxe Konsequenz. Einerseits stabilisieren substantivisch objektivierte Sinnbilder für Sprache die Vorstellung von Sprache als einer substanziellen, gut zu beobachtenden Größe, weil sie ja mit Erfahrungsgrößen analogisiert wird, die für uns durchaus Substanzcharakter zu haben scheinen. Andererseits lernen wir das Phänomen Sprache aber gerade dadurch besser kennen, dass wir den Blick nicht auf die Sprache selbst richten, sondern vielmehr auf ihr ähnliche Phänomene, um sie gerade mit Hilfe von Analogierelationen besser erfassen und verstehen zu können. Dadurch wird der Relationsund Funktionsgedanke natürlich gegenüber dem Substanzgedanken entscheidend aufgewertet. Unter diesen Umständen haben wir uns mit dem Gedanken anzufreunden, dass die Sprache mit Hilfe von recht unterschiedlichen Begriffen und Sinnbildern kognitiv erfasst werden kann. Sie scheint so gesehen kein festes, sondern allenfalls ein variables Wesen zu haben, das für uns in unterschiedlichen Relationszusammenhängen bzw. Denkperspektiven auch ganz unterschiedlich in Erscheinung treten kann. Wir können zwar einen festen und klar definierten Begriff von Sprache entwickeln, aber dabei laufen wir immer Gefahr, dass ein solcher Begriff nur einen ganz bestimmten Einzelaspekt von Sprache hervorhebt und alle anderen ausblendet oder vernachlässigt. Das trifft zwar auch für Sinnbilder zu, aber deren kognitive Objektivierungsfunktionen sind im Prinzip immer sehr viel komplexer als die von Begriffen.
4. Das Leistungspotenzial unscharfer Begriffsbildungen Unser Streben nach präzisen Begriffen, die nach Inhalt und Umfang trennscharf bestimmbar sind, ist verständlich, weil nur derartige Begriffe argumentativ gut verwendbar sind. Vage Denkmuster wie Metaphern und Sinnbilder haben dagegen meist ein geringeres kognitives Prestige, weil man annimmt, dass mit ihnen eher Denkrichtungen benannt als gut abgrenzbare Denkinhalte repräsentiert werden. Verständlicherweise wollen wir unser Wissen mit Hilfe klarer Muster strukturieren und auch nach festen Maßstäben beurteilen. Ebenso wie ein Zollstock eher als ein verlässliches Mittel angesehen wird, um etwas
Das Leistungspotenzial unscharfer Begriffsbildungen
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zu messen, als ein menschlicher Fuß oder ein Gummiband, so gilt auch ein gut definierter Begriff eher als ein verlässliches Mittel, um etwas kategorial einzuordnen, als ein vager Begriff oder gar ein Sinnbild. Allerdings sollten wir in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass dehnbare Gummibänder bzw. flexible Begriffe zuweilen bessere Mittel sein können, etwas zusammenzubinden oder zusammenzufassen, als unflexible Drähte bzw. starre Begriffe. So hat beispielsweise Carl Friedrich von Weizsäcker eindringlich darauf verwiesen, dass es keineswegs immer hilfreich sei, mit präzise definierten sprachlichen Informationsträgern zu arbeiten. „Die ganz in Information verwandelte Sprache ist die gehärtete Spitze einer nicht gehärteten Masse. Daß es Sprache als Information gibt, darf niemand vergessen, der über Sprache redet. Daß Sprache als Information uns nur möglich ist auf dem Hintergrund einer Sprache, die nicht in eindeutige Information verwandelt ist, darf niemand vergessen, der über Information redet. Was Sprache ist, ist damit nicht ausgesprochen, sondern von einer bestimmten Seite her als Frage aufgeworfen.“ 9
Wenn sich das rationalistische Denkprogramm von Descartes bzw. das Konzept von wissenschaftlichen Idealsprachen flächendeckend für unser theoretisches Denken durchgesetzt hätte, dann müsste nicht nur der philosophische, sondern auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch auf die Verwendung von Metaphern und Sinnbildern konsequent verzichten. Aber wie erfasst man dann die ungehärtete Masse hinter den gehärteten Fachbegriffen? Geht diese ungehärtete Masse Philosophie und Wissenschaft nichts an? Ist die Annahme sinnvoll, dass der bildliche Sprachgebrauch nur ein überholtes Relikt aus mythischen Denkweisen oder nur ein Kennzeichen poetischen Sprachgebrauchs ist? Ist die bildliche Redeweise eine uneigentliche Redeweise, die durch eine eigentliche ersetzt werden kann? Im Laufe der Zeit hat sich immer klarer herausgestellt, dass sich unser Wissen keineswegs vollständig und befriedigend in Form von klaren und festen Begriffen bzw. von eindeutigen Aussagen (Propositionen) objektivieren und vermitteln lässt. Schon Platon hat uns eindringlich darauf verwiesen, dass derjenige, der beispielsweise ein Gerät herstellt oder gebraucht, ein ganz anderes Wissen von ihm haben muss als derjenige, der dieses Gerät kontemplativ oder analytisch von außen betrachtet und kategorial zu bestimmen versucht.10 Außerdem hat uns Platon Sokrates immer wieder als eine Person vorgeführt, die nicht durch ein umfassendes, begrifflich durchstrukturiertes enzyklopädisches Gegenstandswissen beeindruckt, sondern vielmehr durch ein praktisches Handlungswissen darüber, wie man mit philosophischen Problemen faktisch umzugehen hat. In neuerer Zeit ist immer wieder zwischen einem propositionalen und einem nicht-propositionalen Wissen, zwischen einem deklarativen und einem
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C. F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 19812, S. 60. Platon, Politeia, 601a ff., Werke, Bd. 3, S. 292 ff.
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Die Leistung von Begriffen
prozeduralen Wissen sowie zwischen einem Wissen (knowing that) und einem Können (knowing how) unterschieden worden. Außerdem ist auch zwischen einem semantischen bzw. begrifflichen und einem episodischen bzw. bildlichen Gedächtnis differenziert worden. All diese Unterscheidungen sollen darauf aufmerksam machen, dass es Wissensformen gibt, zu deren genuiner Natur eine gewisse Vagheit und eine begrifflich nicht vollständig erfassbare und durchstrukturierbare Komplexität gehört. Zu solchen Wissensmanifestationen ist sicher auch dasjenige Wissen zu rechnen, das wir uns über Sinnbilder und Geschichten intersubjektiv zu objektivieren und zu vermitteln versuchen. Aus diesem Tatbestand ergeben sich nun zwei wichtige und fast gegenläufige Konsequenzen. Einerseits lässt sich die These vertreten, dass sich die begriffliche Rede über die Sprache auf dem Nährboden der sinnbildlichen Rede über sie entwickelt hat, insofern in der begrifflichen Rede Denkperspektiven präzisiert werden, die in der sinnbildlichen nur vage angedeutet werden können. Andererseits lässt sich die These vertreten, dass sich in der sinnbildlichen Rede über die Sprache die Ergebnisse der begrifflichen Rede über sie anschaulich zusammenfassen lassen, um diese besser im Gedächtnis präsent halten zu können. Das würde bedeuten, dass je nach aktuellem Erkenntnisinteresse sowohl die begriffliche Rede über die Sprache als eine Form der Metareflexion über die entsprechende sinnbildliche verstanden werden kann als auch umgekehrt die sinnbildliche Rede über die Sprache als eine Form der Metareflexion über die entsprechende begriffliche Rede. Beide wären dann in der Lage, die Ziele und Grenzen der jeweils anderen mit je unterschiedlichen Mitteln aufzudecken, zu erhellen und zu verdeutlichen. So gesehen hätten dann Sinnbilder für Sprache trotz ihres relativ vagen Informationsgehaltes eine unersetzliche heuristische Grundfunktion für unser Sprachdenken, da sie auf die ungehärtete Masse hinter unserer begrifflichen Wahrnehmung von Sprache verweisen. Dementsprechend wäre ihnen dann auch nicht nur eine das Gedächtnis unterstützende ornamentale Sinnbildungsfunktion zuzuordnen, sondern auch eine genuine kognitive Strukturierungsfunktion. Sinnbilder für Sprache wären so betrachtet dann keineswegs nur als leichtfertige Schwestern unserer Begriffe für Sprache anzusehnen, sondern, um mit Hamann zu sprechen, durchaus als so etwas wie „Gebärmütter“ unserer Begriffe für Sprache.11 In seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes hat Hegel davon gesprochen, dass wahre Einsichten in den Wissenschaften nur durch „die Anstrengung des Begriffs“ zu gewinnen seien.12 Das ist oft so verstanden worden, dass er damit die philosophische Aussageweise konsequent von der literarischen abgrenzen wollte, für die ja die bildliche Redeweise weitgehend als typisch
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J. G. Hamann, Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeinung…, Schriften zur Sprache, 1967 , S. 143. 12 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 56.
Das Leistungspotenzial unscharfer Begriffsbildungen
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und konstitutiv angesehen wird. Der Kontext der Äußerung zeigt aber, dass es Hegel primär darum ging, den mühseligen Weg des werdenden Wissens zu beschreiben, zu dem sicher auch die bildlichen Redeweisen gehören. Solche Sprachformen hat Hegel selbst auch keineswegs verschmäht, weil sie für ihn durchaus zu der Dialektik von Begriffsbildungsprozessen gehören. Wenn man außerdem die Logik nicht nur im engeren Sinne als Lehre vom schlussfolgernden Denken versteht, sondern in einem weiteren Sinne als Lehre von den Strukturen des sinnstiftenden Denkens, dann ist einzuräumen, dass das begriffliche und das sinnbildliche Denken ohnehin auf einem Holz wachsen, selbst wenn man das begriffliche Denken hierarchisch höher ansetzt als das sinnbildliche. Natürlich kann man in kognitiven, informativen und argumentativen Zusammenhängen zu Recht erhebliche Vorbehalte gegen vage und vieldeutige Sprachformen erheben. Darüber sollte man aber nicht vergessen, dass Wissen und Einsicht oft nur auf Umwegen erreichbar sind bzw. durch das komplizierte Zusammenspiel von unterschiedlichen Verfahren, die sich wechselseitig ihre jeweiligen Schwächen ausgleichen. Das hat Nils Bohr nach der Erinnerung von Heisenberg anlässlich eines gemeinsamen Aufenthaltes in einer Skihütte in einem aufschlussreichen Bild thematisiert. „Mit dem Geschirrwaschen ist es doch genau wie mit der Sprache. Wir haben schmutziges Spülwasser und schmutzige Küchentücher, und doch gelingt es, damit Teller und Gläser schließlich sauberzumachen. So haben wir in der Sprache unklare Begriffe und eine in ihrem Anwendungsbereich in unbekannter Weise eingeschränkte Logik, und doch gelingt es, damit Klarheit in unser Verständnis der Natur zu bringen.“13
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W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 19815, S. 190.
IV
Die Leistung von Bildern
Über die Bibel und über die in ihr verwendete Sprache hat Herder einen sehr aparten ambivalenten Satz in die Welt gesetzt. „Das Buch ist in Bildern; und Bilder können die Philosophen nicht leiden.“1 Dieser Satz ist insofern doppeldeutig, als rein formal nicht klar entschieden werden kann, ob in seinem zweiten Teil der Sachvorstellung Bilder oder der Sachvorstellung Philosophen die Funktionsrolle des grammatischen Subjekts zuzuordnen ist. Daraus resultiert dann eine semantische Ambivalenz, die sehr aufschlussreich für den Wert von Bildern bzw. für das Spannungsverhältnis ist, das bei der Verwendung von sprachlichen Bildern zum Ausdruck kommt. Philosophen können Bilder nicht leiden, weil diese sich immer wieder ihren linearen begrifflichen Analyseanstrengungen entziehen bzw. ihren Wunsch nach der Erfassung der nackten Wahrheit schwerlich entgegenkommen. Deshalb werden Bilder von ihnen auch gerne als Trugbilder bzw. als bloßer Schein diffamiert. Umgekehrt können aber Bilder auch Philosophen nicht leiden, weil sie befürchten müssen, unter deren begrifflichen Sezierungsanstrengungen ihre komplexe Identität und ihre spezifische Vitalität zu verlieren, da sie ja in der Regel mehr wollen, als bloß vorgegebene Objekte zu repräsentieren. Die Probleme bei der Bewertung der Leistung von Bildern, seien es nun visuell wahrnehmbare Bilder oder sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder, gründen sich auf das Verständnis von Bildern als Zeichen. Einerseits wollen Bilder etwas repräsentieren, was sie selbst nicht sind. Andererseits wollen sie im Vollzug dieser Aufgabe aber auch ihre eigenen Interpretations- und Vermittlungsfunktion kenntlich machen. Boehm hat deshalb davon gesprochen, dass Bilder ihrer Natur nach auf einem „doppelten Zeigen“ beruhen, insofern sie zugleich etwa anderes und sich selbst zeigen wollten.2 Dass bedeutet, dass Bilder sich weder problemlos in Abbildungs- noch in Schlussfolgerungsprozesse integrieren lassen. Vielmehr müssen sie als Bestandteile von Hinweis-, Induktions- und Interpretationsprozessen bzw. von Sinnbildungsanstrengungen angesehen werden. So gesehen ist das Wissen, dass sich in Bildern manifestiert, auch weniger ein Gegenstandswissen von der Welt, sondern eher ein Handlungs- und Erschließungswissen für die Welt, das individuell und kulturell recht unterschiedlich ausfallen kann.
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J. G. Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 9, S. 245–246. G. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, 2007, S. 19.
Allgemeine Überlegungen zur Bildproblematik
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Ebenso wie Begriffe typisieren auch Bilder Erfahrungen, aber Erfahrungen ganz anderen Typs und ganz anderer Zielorientierung. Während Begriffe Erfahrungen speichern wollen, die für die Beherrschung der Welt dienlich sind, wollen Bilder eher Erfahrungen speichern, die für Erschließung der Welt brauchbar sind. Während wir bei Begriffen noch leicht der Hoffnung anhängen können, dass wir mit ihnen die Dinge selbst in den Griff bekommen, so wird uns bei Bildern, abgesehen von einem magisch strukturierten Bildverständnis, heute meist schnell bewusst, dass wir über sie die Dinge nur medial gebrochen wahrnehmen können. Bei Bildern überlagern sich in unserem heutigen Bildverständnis im Gegensatz zu einem magischen die Sachwahrnehmung und die Zeichenwahrnehmung in einem sehr hohen Maße. Kulturhistorisch gesehen zeigt sich, dass Bilder eigentlich schon sehr früh Aufmerksamkeit im philosophischen und sprachtheoretischen Denken gefunden haben. Platon und Sokrates haben keine Scheu, Bilder, Gleichnisse und Mythen als Verstehenshilfen in ihre begrifflichen Argumentationen einzubeziehen. Vico hat betont, dass die poetische Sprache einen genuinen Platz im menschlichen Streben nach Wissen habe und dass die bildliche Sprache ursprünglicher sei als die begriffliche. Hamann denkt diesbezüglich ganz ähnlich. „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“3
1. Allgemeine Überlegungen zur Bildproblematik Wenn wir heute von Bildern sprechen, dann denken wir meist an Bilder der Malerei oder an Fotos, also an Erscheinungsweisen von Bildern, bei denen meist nicht ein einzelner Gegenstand, sondern ein ganzer Korrelationszusammenhang von Einzeldingen objektiviert wird. Ursprünglich scheint mit dem Wort Bild allerdings eher die Abbildung eines Einzelobjektes von ganz besonderer Bedeutsamkeit bezeichnet worden zu sein. Das würde bedeuten, dass wir uns bei der Phänomenologie von Bildern zunächst eher an der Vorstellung von Skulpturen orientieren sollten als der Vorstellung von Werken der Malerei. Dafür sprechen auch etymologische Gründe. Das Wort Bild leitet sich von dem ahd. Wort bilidi ab, das so viel bedeutet wie Gestalt, Figur oder Götterbild. Zusammensetzungen wie Bildhauer, Standbild oder Götzenbild bezeugen noch heute dieses ursprüngliche Verständnis des Wortes Bild. Auch die Beutung des griechischen Wortes eikon verweist in diese Richtung. Dieser Hinter- und Untergrund unserer Bildvorstellung ist insofern nicht unwichtig, als damit zum Ausdruck kommt, dass unser Verständnis von Bildern zunächst sehr eng mit der Vorstellung verbunden war, dass Bilder Seinsgrößen von eigenständiger Bedeutsamkeit und Macht reprä-
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J. G. Hamann, Aesthetica in nuce, Schriften zur Sprache, 1967, S. 107.
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Die Leistung von Bildern
sentieren. Bildern wurde deshalb früher auch oft eine Teilhabe (participatio) an den von ihnen repräsentierten Originalen zugeschrieben, was die Geschichte der Bildmagie und der Bilderverehrung eindrucksvoll belegt. Ähnlich wie im magischen Namensverständnis der Name als Bestandteil der damit bezeichneten Sache angesehen wurde, so wurde beispielsweise in der Ikonenverehrung das Bild als Bestandteil oder Erscheinungsweise des jeweils repräsentierten Originals verstanden. Der Umgang mit dem Bild war dann immer zugleich auch ein Umgang mit dem jeweiligen Original bzw. Urbild. Vor diesem Hintergrund wird nun auch gut verständlich, warum im Verlaufe der Kulturgeschichte Bilder immer eine ambivalente Wertschätzung gefunden haben. Auf der einen Seite wurden sie negativ als Trugbilder diffamiert, weil sie etwas vorgaukeln, was aktuell oder generell gar nicht da ist. Auf der anderen Seite wurden sie als Brücken zu anderen oder gar höheren Welten gepriesen. Die normative Orientierungsfunktion von Bildern, die sich auch in der Wortprägung Vorbild dokumentiert, ist für die Kennzeichnung der kognitiven Funktionen von Bildern von ganz erheblicher Bedeutung. Dadurch wird nämlich deutlich, dass Bilder nicht nur als Erinnerungshilfen für das von ihnen Abgebildete fungieren, das eigentlich auch für sich und an sich wahrgenommen werden kann, sondern dass sie darüber hinaus auch als heuristische Erschließungsmittel für das dienlich sein können, worauf sie jeweils verweisen. Die Erzeugung und die Verwendung von Bildern signalisiert dann einerseits, dass das, was durch sie zur Erscheinung kommt, von ganz besonderer Bedeutsamkeit für die jeweiligen Bildbetrachter ist, und andererseits, dass Bilder von ihren Rezipienten nicht in derselben Weise beherrschbar sind wie andere Dinge, insofern Bilder für ihre Betrachter immer eine ganz besondere Seinsqualität und anthropologische Relevanz haben können. Dieses Strukturverhältnis lässt sich vielleicht durch die Denkfigur des Blicks aus dem Bilde illustrieren, die Nikolaus von Kues entwickelt hat, um Gott als den Alles-Sehenden zu kennzeichnen.4 In seinen Überlegungen geht er davon aus, dass das gemalte Bild einer Person so gestaltet sein kann, dass diese Person den Betrachter immer ansieht, ganz gleich von welcher faktischen räumlichen Position aus dieser selbst auf das Bild sieht. Aus diesem Strukturverhältnis leitet er dann ab, dass das Subjekt des Sehens bei der Betrachtung eines Bildes durchaus auch zu einem Objekt des Sehens werden könne, insofern das Bild sich nicht zu einem rein passiven Betrachtungsobjekt degradieren lasse, sondern im Gegenzug auch den jeweiligen Betrachter immer einer Betrachtung unterwerfe.
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Vgl. A. Neumeyer, Der Blick aus dem Bilde, 1964. N. Herold, Bilder der Wahrheit – Wahrheit des Bildes. Zur Deutung des „Blicks aus dem Bild“ in der Cusanischen Schrift „De visione Dei“. In: V. Gerhard / N. Herold (Hrsg.), Wahrheit und Begründung, 1985, S. 71–98. R. Konersmann, Lebendige Spiegel, 1991, S. 93 ff. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 194 ff.
Allgemeine Überlegungen zur Bildproblematik
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Wenn man diese Denkfigur aus seinen theologischen Denkzusammenhängen löst und als eine sinnbildliche Interpretation der komplizierten Relation zwischen Bild und Bildbetrachter versteht, dann wird durch sie sehr eindrucksvoll herausgearbeitet, dass Bilder, die aus einer bestimmten geistigen Objektivierungsarbeit hervorgegangen sind, zugleich auch wieder auf die Träger diese Arbeit zurückwirken können. Dadurch kann sich dann das durch das Bild präsent Gemachte als eine eigenständige Wirkungspotenz erweisen bzw. als ein Dialogpartner. Die Denkfigur des Blicks aus dem Bilde muss dabei keineswegs in einem magischen Sinne gedeutet werden. Sie kann auch als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass die vom Menschen hergestellte Bilder bzw. Vorstellungen so geartet sind, dass sie ihre Urheber zwingen können, sich immer wieder neu auf sie einzustellen und eben dadurch sich auch selbst geistig beweglich zu halten. Rilke hat diesen Gedanken in seinem Sonett – Archaischer Torso Apollos – sehr schön zum Ausdruck gebracht: „… denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“ 5 Zur Illustration dieses Problemzusammenhangs, dass die Objekte des Wahrnehmens die Subjekte des Wahrnehmens durchaus dazu anregen können, sich selbst zu bewegen bzw. sich selbst in andere Wahrnehmungspositionen und Wahrnehmungsperspektiven für die jeweiligen Wahrnehmungsobjekte zu bringen, kann auch auf das Konzept des dynamischen Objekts von Peirce verwiesen werden.6 Mit diesem Konzept wollte dieser darauf aufmerksam machen, dass die von Zeichen repräsentierten Objekte eigentlich keine ontisch schon klar vorgegebenen Sachgegenstände sind, sondern vielmehr Ergebnisse von Objektbildungen, die in der Regel von einem unmittelbaren, spontan vorgestellten Objekt über Zwischenvorstellungen zu einem finalen Objekt führen, in dessen konkrete Ausbildung dann auch unsere eigenen praktischen Erfahrungen mit dem jeweiligen Sachbereich eingehen. Der Begriff des dynamischen Objekts dient Peirce außerdem dazu, darauf aufmerksam machen, dass der jeweilige Sachbereich bei der Objektbildung durchaus eine immanente Widerständigkeit und Dynamik entwickeln kann, welche die jeweilige Objektbildung zwar zunächst erschweren kann, welche letztlich dann aber doch eine sachadäquate und pragmatisch sinnvolle Objektbildung ermöglicht. Das Konzept des dynamischen Zeichenobjekts ist für die Frage nach der kognitiven Leistungskraft von Sinnbildern für Sprache in einer doppelten Weise interessant. Einerseits kann es nämlich auf diejenigen Sachgegenstände bezogen werden, die einzelnen Sinnbilder als Erschließungsmittel präsent machen. Von diesen haben wir nämlich meist kein abgeschlossenes Wissen, da sie sehr vielfältige Eigenschaften besitzen, die wir erst nach und nach in unseren konkreten Umgangsprozessen mit ihnen kennenlernen. Andererseits lässt sich dieses Konzept aber auch auf den Erfahrungsbereich Sprache beziehen, da
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R. M. Rilke, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 313. Ch. S. Peirce, Collected Papers, 8. 314 f.
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dieser sowohl Widerstand gegen eine abschließende begriffliche als auch gegen eine abschließende sinnbildliche Objektivierung zu leisten vermag. Begriffe und Sinnbilder für Sprache können als kognitive Objektivierungsmittel in faktischen Erkenntnisprozessen bei ihrer Anwendung durchaus knirschen bzw. ihre Einseitigkeit offenbaren, weil sie nicht vollständig, sondern meist nur partiell zu unseren Erfahrungen mit Sprache passen. Dementsprechend lässt sich dann auch die Sprache als ein dynamisches Objekt verstehen, das den Betrachter ansieht und das diesen immer wieder dazu zwingen kann, seine faktischen Erfassungsbegriffe und Erfassungsbilder für Sprache zu überprüfen, zu verbessern oder zu ergänzen.
2. Zur Phänomenologie von Bildern Bei der phänomenologischen Analyse von Bildern hat man eine Antwort auf die Basisfrage zu suchen, was es heißt, dass etwas ein Bild von etwas anderem ist, bzw. warum wir einen konkreten Wahrnehmungsinhalt nicht nur als bloße Gegebenheit wahrnehmen, sondern zugleich auch als Hinweis auf etwas anderes. Obwohl eine solche Frage als metareflexive phänomenologische Frage bei der faktischen Wahrnehmung und Nutzung von Bildern kaum aktuell wird, so muss sie dennoch gestellt werden, wenn man sich für das kognitive Funktionspotenzial von Bildern interessiert. Diese Frage ist ebenfalls nicht sehr aktuell, wenn man Bilder als bloße Abbilder von Originalen ansieht, wie es auf den ersten Blick Spiegelbilder, Fotos und Gipsabdrücke zu sein scheinen. Sie wird erst dann wirklich virulent, wenn man Bilder als interpretative Medien ins Auge fasst bzw. als Manifestationsformen von Sinnbildungsprozessen. Eine solche Denkperspektive konkretisiert sich, wenn wir beispielsweise nach dem Sinn der Redewendung fragen, dass man sich ein Bild von etwas machen möchte. Durch eine solche Formulierung werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass das Herstellen von Bildern aller Art kognitive Implikationen hat, deren Besonderheiten man natürlich herauszuarbeiten hat, wenn man den bildlichen von dem begrifflichen Sprachgebrauch voneinander abgrenzen möchte oder wenn man die Pragmatik und die Aura von Bildern im Kontrast zu der von Begriffen zu verstehen versucht. Das gemeinsame anthropologische Motiv für die Ausbildung von Begriffen und Bildern liegt wohl darin, dass wir die Wahrnehmung von isolierten Einzelphänomenen psychisch kaum ertragen können. Menschen scheinen eine grundlegende Neigung zu haben, einzelne Tatbestände bzw. Wahrnehmungen immer in konkrete oder abstrakte Ordnungs- und Ähnlichkeitszusammenhänge zu integrieren, etwas mit etwas anderem zu verbinden, individuelle Phänomene als Verkörperung von Typen wahrzunehmen und Details zu komplexen Vorstellungsgestalten zusammenzufügen. Deshalb hat dann ja auch die Gestalt-
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psychologie die sogenannte Primatsthese und die sogenannte Übersummativitätsthese entwickelt.7 Mit der Primatsthese wird postuliert, dass die Wahrnehmung des Ganzen im Prinzip immer der Wahrnehmung der Teile vorangehe und dass die Identifizierung von Teilen sich erst nachträglich durch analytische Aufgliederungsprozesse ergebe. Mit der Übersummativitätsthese wird postuliert, dass das Ganze immer mehr als die Summe seiner Teile sei, weil das Ganze nicht als ein Additionsphänomen, sondern als ein Gestaltphänomen anzusehen sei, das sich aus der konstruktiven Synthese von Einzelelementen ergebe. Was jeweils als Teil und was als Ganzes anzusehen sei, hänge dabei dann von der jeweiligen Betrachtungsebene ab. Gestalten könnten unterschiedliche Grade an Prägnanz haben, wobei sich die Prägnanz einer konkreten Gestalt sowohl aus ihren klaren Konturen als auch aus ihrer Sinntiefe ergeben könne. Beide Erfahrungsinhalte ließen sich spontan erfassen aber auch methodisch erarbeiten. Wenn wir nun Bilder als Ergebnisse von synthetisierenden Wahrnehmungsprozessen ansehen, dann ist klar, dass Bilder ihre Bezugsgegenstände nicht bloß reproduktiv verdoppeln, sondern vielmehr interpretativ objektivieren wollen. Ebenso wie Begriffe wurzeln auch Bilder in vorbewussten Analyse- und Syntheseanstrengungen. Bilder sind deshalb wie Begriffe keine Naturphänomene, sondern vielmehr Kulturphänomene, die aus variablen Objektivierungsanstrengungen hervorgehen. Das schließt natürlich nicht aus, dass beide bei ihrer Konstitution auch genetisch verankerte Strategien der Schemabildung nutzen. Dennoch sind beide als Artefakte anzusehen, die dazu dienen, unübersichtliche Mengen von Reizen, Daten oder Elementen bewährten Ordnungsmustern zuzuordnen, um sie eben dadurch auch als Erfahrungen lesen zu können. Sowohl Bilder als auch Begriffe sind als Zeichen anzusehen, die es ermöglichen, etwas als etwas zu betrachten, um dadurch die jeweils zu erfassenden Phänomene in unseren allgemeinen Erfahrungsschatz einordnen zu können. Beide haben eine soziale Dimension, insofern sie auf intersubjektive Wahrnehmbarkeit und Anerkennung angewiesen sind, selbst wenn sie aus individuellen Gestaltungs- oder Schöpfungsprozessen hervorgegangen sind. Die These, dass Bilder als kulturbedingte Artefakte zu werten sind, gilt auch dann, wenn sie nicht willentlich hergestellt worden sind, sondern darauf beruhen, dass man etwas natürlich Gegebenes wie etwa eine Rose oder einen Edelstein nicht nur als eine bloße Sache wahrnimmt, sondern auch als ein Bild bzw. Zeichen für etwas anderes. Sei es, dass man diese Dinge als ein Exempel für einen Typ von Dingen ansieht, sei es, dass man sie als eine Exemplifikation für eine Idee im platonischen Sinne wahrnimmt, oder sei es, dass man sie als einen Hinweis auf ähnliche Phänomene versteht. Etwas als Bild von etwas anderem wahrzunehmen schließt ein, dass man eine kulturell bedingte Interpretationstradition übernimmt bzw. eine bestimmte Vermittlungsfunktion
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Vgl. A. Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, 19692, S. 49 ff.
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Die Leistung von Bildern
annimmt. Bilder und Begriffe basieren auf Abstraktions- und Stilisierungsprozessen, die zugleich auch immer Perspektivierungsprozesse sind. Worauf gründet sich nun die Verweisungs- und Interpretationsfunktion von bestimmten Gegenständen und Sachverhalten, die als Bilder verstanden werden? Traditionell wird die Repräsentationsfunktion von Bildern mit dem Ähnlichkeitsprinzip und die von Wörtern mit dem Konventionsprinzip erklärt. Das ist natürlich im Prinzip durchaus akzeptabel, es bringt uns aber im Hinblick auf die sogenannten sprachlichen Bilder in eine gewisse Verlegenheit. Hier haben wir es nämlich offenbar mit einem zweistufigen Repräsentationsverfahren zu tun, insofern zunächst mit Wörtern als Zeichenträgern auf eine konkrete Sachvorstellung verwiesen wird, die dann in ihrerseits selbst als Zeichenträger für eine weitere Verweisungsfunktion dienlich gemacht wird. Da auf das Problem eines solchen zweistufigen semiotischen Repräsentationsverfahrens bei sprachlichen Bildern noch näher eingegangen werden wird, braucht hier vorerst nur festgehalten zu werden, dass sich bei Bildern das Ähnlichkeitspostulat für die Relation zwischen dem Bild und dem Abgebildeten auf sehr unterschiedliche Einzelaspekte beziehen kann. Man kann in diesem Zusammenhang sein Erkenntnisinteresse auf die Nachahmung richten (Porträt), auf die Teilhabe (Kultbilder) auf die Gattungszugehörigkeit (Familienähnlichkeit), auf die Verursachung (Foto) oder auf die Übereinstimmung von Strukturaspekten (Skizze) usw. Die Ähnlichkeit zwischen zwei Phänomenen kann nicht nur auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden, sondern kann auch in verschiedenen Intensitäten erfahrbar sein. Sie kann sogar im Sinne einer heuristischen Hypothese nur postuliert werden bzw. erst im Kontext methodischer Vergleichsoperationen ins Auge fallen. Generell lässt sich sagen, dass Bilder immer eine ontologische Dimension haben, insofern sie sich als Bilder von Originalen verstehen lassen. Sie haben aber immer auch eine anthropologische Dimension, insofern sie ja nicht nur Bilder von Sachen sind, sondern auch Bilder für Menschen mit besonderen Wahrnehmungsinteressen. Schließlich haben Bilder immer auch eine pragmatische Dimension, insofern sie prinzipiell in bestimmte Handlungszusammenhänge eingebunden sind, selbst wenn sie nur als bloße Betrachtungsgegenstände wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden sollen. Wenn wir über Bilder nachdenken, dann orientieren wir uns meist unbewusst an den Strukturverhältnissen, die für Spiegelbilder konstitutiv sind. Nicht zufällig hat Leonardo da Vinci den Malern empfohlen, sich bei ihrer Arbeit normativ an Spiegelbildern zu orientieren. „Man muß den Spiegel zum Meister nehmen.“ 8 Das Spiegelbild ist für uns so faszinierend, weil es auf den ersten Blick so scheint, als ob es das jeweilige Original ohne mediale Interpretation oder Brechung gleichsam naturgetreu verdoppele, weshalb es dann ja auch in kognitiver Hinsicht oft als äußerst vertrauenswürdig angesehen wird.
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Leonardo da Vinci, Der Denker, Forscher und Poet, 1904 , S. 149.
Die Strukturierungsfunktion von Bildern
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Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass auch das Spiegelbild sein Original transformiert und interpretiert. Es thematisiert nämlich nur bestimmte Aspekte des Originals, es bildet das Original von einem dreidimensionalen Phänomen zu einem zweidimensionalen um, es integriert das Original in neue Kontexte, es kann Originale verzerren und es reduziert die sinnliche Wahrnehmbarkeit von Originalen auf ihre rein optischen Dimensionen. Gleichwohl kann man Spiegelbildern aber bei der Repräsentation von Objekten natürlich einen hohen Grad an Realismus zuschreiben, zumal sie ja auch nur das widerspiegeln können, was tatsächlich in Raum und Zeit existiert, aber nicht das, was bloß imaginiert wird. Gerade dieser Realismus von Spiegelbildern macht es aber problematisch, Spiegelbilder generell als prototypisch für die anthropologische und pragmatische Funktion von Bildern anzusehen bzw. als die wertvollste Erscheinungsform von Bildern. Bei dieser Form der Verbildlichung von etwas bekommen die jeweils thematisierten Gegenstände nämlich keinen wirklichen Sitz im Leben. Sie werden weitgehend nur in ihrem Dasein erfasst und nicht in ihrem Sosein für die Menschen. Deshalb ist die spiegelbildliche Genauigkeit von Gemälden dann auch nur sehr kurze Zeit als ideale Realisationsform von Bildern betrachtet worden, als man nämlich in der Renaissance die Zentralperspektive als eine unbezweifelbare Grundnorm der Malerei verstanden hat. Wenn man davon ausgeht, dass die eigentliche Funktion von Bildern nicht darin besteht, faktische Seheindrücke von Gegenständen zu objektivieren, sondern vielmehr darin, die verborgenen Aspekte von Dingen bzw. die verdeckte Typik von Dingen zugänglich zu machen, dann ergibt sich eine ganz andere Problem- und Beurteilungslage für Bilder. Nun lässt sich Bildern nämlich die zentrale Aufgabe zuschreiben, traditionelle Wahrnehmungsweisen von Gegenständen in Frage zu stellen, neue Sichtweisen auf sie zu eröffnen und den emotionalen Stellenwert von Gegenständen neu zu akzentuieren. Bilder wären dann als Formen zu betrachten, um auch etwas Unverstandenes und Unzugängliches in die Wahrnehmbarkeit von Menschen zu bringen bzw. um das Unübersichtliche und Chaotische kulturell zu domestizieren. Unter diesen Umständen haben Bilder dann Strukturierungs- und Objektivierungsfunktionen, die prinzipiell sehr offen sind und die eben deshalb auch selbst in einem sehr hohen Maße interpretationsbedürftig werden können. Diesen Tatbestand muss man nun aber keineswegs nur als ein Defizit von Bildern verstehen. Man kann ihn auch als eine spezifische Qualität von Bildern werten, weil dadurch das Denken der Menschen ständig in Fluss gehalten wird.
3. Die Strukturierungsfunktion von Bildern Wenn wir die Strukturierungsfunktionen von Bildern in dem eben skizzierten anthropologischen Rahmen thematisieren, dann ist offensichtlich, dass Bilder als besondere Erscheinungsweisen von Zeichen unverzichtbare Mittel unserer
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Die Leistung von Bildern
Welterfassung und Weltinterpretation sind. Das Zusammenspiel von Bildern und Begriffen ist so gesehen dann auch konstitutiv für die Existenzweise des Menschen als eines kulturbedürftigen Lebewesens. Die Frage nach den Funktionen von Bildern darf sich deshalb auch nicht auf das Interesse an ihren möglichen referenziellen Abbildungsfunktionen beschränken, sondern muss sich auf das Interesse an ihren sinnbildenden Interpretationsfunktionen ausweiten, in denen nicht nur schon vorhandenes Wissen aktiviert, sondern auch neues Wissen erschlossen wird. Bilder sind ebenso wie Zeichen als Relationsphänomene zu verstehen. Deshalb sind sie auch nicht mit ihren sinnlich fassbaren oder imaginativ vorstellbaren Bildträgern zu identifizieren, da sie sich faktisch erst aus der spezifischen Korrelation dieser Bildträger mit ihren jeweiligen Bildinhalten konstituieren. Als Relationsphänomene sind Bilder deshalb immer auch Gestaltungsphänomene, weil durch sie bestimmte Beziehungsgeflechte hergestellt werden. Das bedeutet, dass dieselben Bildträger je nach der Wahrnehmungsperspektive bzw. dem Erkenntnisinteresse ihrer Rezipienten durchaus als Manifestationsweisen von unterschiedlichen Bildern wahrgenommen werden können, da Bilder im Prinzip ja Resultanten von unterschiedlichen Wahrnehmungsbestandteilen, Wissenskomponenten und Wahrnehmungsanstrengungen sind. Als genuinen Relationsphänomenen muss Bildern deshalb auch eine ontische Unselbstständigkeit zugeschrieben werden, was ihren anthropologischen und pragmatischen Wert allerdings eher steigert als schwächt.9 Als Korrelationsphänomen tritt ein Bild natürlich erst dann voll in Erscheinung, wenn es auch ein Bildbewusstsein gibt, wenn also ein Phänomen nicht nur als existierendes materielles Phänomen wahrgenommen wird (Zeichenträger), sondern als ein Phänomen, das auf etwas von ihm Unterscheidbares verweist. Wenn wir nach der Strukturierungsfunktion von Bildern fragen, dann müssen wir also klar zwischen dem jeweiligen Dingbewusstsein und dem jeweiligen Bildbewusstsein von etwas unterscheiden. Das bedeutet, dass das Sehen und Verstehen von Bildern genauso gelernt werden muss wie das von anderen Zeichen, obwohl sich die dabei verwendeten Verfahren erheblich voneinander unterscheiden können. Dieses Bildbewusstsein bedingt auch, dass sich Menschen von Attrappen meist weniger leicht täuschen lassen als Tiere. Zu Recht ist deshalb ja auch darauf verwiesen worden, dass insbesondere ästhetisch wahrzunehmende Zeichen auf einem doppelten Zeigen beruhen, insofern sie einerseits auf ihren eigenen Zeichenträger verweisen und andererseits auf das, was mit diesem geistig präsent gemacht werden soll. Picasso hat das einmal sehr pointiert veranschaulicht. Auf die erstaunte Frage zu einem Bild, ob das Dargestellte denn wirklich eine Frau sei, soll er geantwortet haben: Das soll keine Frau sein, sondern ein Bild.
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Vgl. H. U. Asemissen, Zur Philosophie des Bildes, Neue Rundschau, 81, 1970, S. 529 ff.
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Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sowohl Begriffe als auch Bilder letztlich keine bloßen Zutaten zu unserer empirischen Erfahrungswelt sind, sondern vielmehr eine Voraussetzung dafür, dass wir diese mit Hilfe von Mustern differenziert strukturieren und wahrnehmen können. Das dokumentiert sich indirekt auch sehr deutlich in dem Verbot der monotheistischen Religionen, sich von Gott ein Bild zu machen. Von einem transzendenten Schöpfergott darf und kann man sich kein Bild machen, weil man dabei Gefahr läuft, etwas ontisch ganz anderes mit Hilfe von Bildträgern bzw. mit Hilfe von Vorstellungen zu objektivieren, die eigentlich nur zu der empirischen Erfahrungswelt des Menschen passen. Ein solches Problem stellt sich bei der bildlichen Repräsentation innerweltlicher Phänomene nicht. Aber gleichwohl ergibt sich doch die Frage, ob man Unsinnliches durch Sinnliches repräsentieren kann bzw. unter welchen Vorbehalten so etwas möglich ist. Bilder können nämlich sowohl klärend als auch verunklärend wirksam werden. Diesbezüglich haben Lakoff und Johnson im Hinblick auf die ambivalente Strukturierungskraft von Metaphern die einprägsame Formel „Beleuchten und Verbergen“ (highlighting and hiding) verwendet.10 Gerade weil Bilder Relationsgebilde sind, können sie prinzipiell auch sehr ambivalente Phänomene sein, die nicht nur auf sehr Unterschiedliches zu verweisen vermögen, sondern die unsere Aufmerksamkeit auch zerstreuen oder konzentrieren können. Sie lassen uns etwas sehen und machen zugleich darauf aufmerksam, dass wir es nicht direkt, sondern mit Hilfe eines Bildes sehen. Deshalb lässt sich bei der Wahrnehmung von etwas mittels Bildern in einer fast paradoxen Weise auch von einer vermittelten Unmittelbarkeit oder von einer indirekten Direktheit sprechen. Auf alle Fälle ist im Hinblick auf Bilder offensichtlich, dass wir mit der Vorstellung einer nackten Wahrheit nicht recht weiter kommen, sondern allenfalls mit der These Berkeleys, dass Wahrnehmungsinhalte mit Wahrnehmungsformen immer eng verquickt sind (esse est percipi). Die kognitive Qualität von Bildern lebt vom kreativen Zusammenspiel von dem Bildträger, dem intendierten Sachbezug und dem jeweiligen perspektivischen Zugriff auf diesen. Bilder halten uns einerseits gefangen, weil sie uns ein ganz konkretes Wahrnehmungsangebot für eine Sache machen. Sie regen uns aber gleichzeitig auch dazu an, dieses Wahrnehmungsangebot zu transzendieren, insofern sie deutlich machen, dass es sich dabei um einen ganz bestimmten medialen Zugang zu der jeweiligen Sache handelt und nicht um die Sache selbst. Das bedeutet, dass sich in der bildlichen Wahrnehmung von etwas das sachthematische und das reflexionsthematische Denken miteinander verbinden und dass uns Bilder sowohl in den Bann einer Sache hineinziehen können als auch aus dem Bann dieser Sache wieder hinausführen können. Bilder können einerseits konventionalisierte Wahrnehmungstraditionen für etwas verstärken, aber uns
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G. Lakoff / M. Johnson, Metaphors we live by, 1980, S. 10. Dt. Übersetzung: Leben in Metaphern, 20044, S. 18.
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andererseits auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für etwas eröffnen. Sie können die dialogische Auseinandersetzung mit etwas abschließen, aber auch neu in Gang setzen. Mit Hilfe von Bildern lassen sich ebenso wie mit Hilfe von Begriffen unsere genetisch angelegten Wahrnehmungsmuster durch kulturelle ergänzen und präzisieren. Deshalb kann man die These vertreten, dass die jeweiligen Subjekte sich durch Bilder nicht nur ihre jeweilige Erfahrungswelt spiegeln können, sondern auch sich selbst bzw. ihre Wahrnehmungsinteressen für diese Erfahrungswelt. Damit eröffnen Bilder den Subjekten die Chance, beim Wahrnehmen von etwas anderem auch etwas von sich selbst wahrnehmen zu können. Im Denkklima eines kulturellen Forschrittsbewusstseins hat es immer wieder nahegelegen, die kognitive Strukturierungsfunktion von Begriffen im Vergleich mit der von Bildern qualitativ höher einzuschätzen und damit zugleich auch die Erkenntnisfunktion der Philosophie höher zu bewerten als die der Kunst. Das dokumentiert sich exemplarisch in der These Hegels, dass „die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“11 sei und bleibe, da ihre strukturbildende Objektivierungsleistung wie schon erwähnt von der Philosophie im mehrfachen Sinne des Wortes aufgehoben werde, nämlich beseitigt, bewahrt und hochgehoben.12 In diesem Zusammenhang ist nun allerdings zu beachten, dass für Hegel philosophische Begriffe keine starren Denkmuster und Kategorien sind, sondern vielmehr dialektisch wandelbare Ordnungsformen, die eine innere Verwandtschaft mit der hier entwickelten Bildkonzeption haben. Im Hinblick auf sprachliche Bilder entschärft sich der Streit über den Stellenwert der Kunst und der Philosophie ohnehin sehr, weil hier die Differenz von Bildern und Begriffen gar nicht so scharf hervortritt und weil sich viele bildliche Redeweisen nach und nach in begriffliche verwandelt haben. Gerade in der Gegenwartsphilosophie haben sowohl visuelle als auch sprachliche Bilder als kognitive Objektivierungsmittel eine wachsende theoretische Aufmerksamkeit gefunden, obwohl sie faktisch natürlich zu allen Zeiten bei der geistigen Bewältigung der Welt eine wichtige Funktion gehabt haben. Das wachsende Interesse der Philosophie an Bildern speist sich aus verschiedenen Quellen. Zum einen ist es durch die zunehmende anthropologische Orientierung der Philosophie bedingt bzw. durch die Einsicht, dass Bilder aller Art für das geistige Leben der Menschen immer eine wichtige Rolle gespielt haben, sofern man Menschen nicht nur als geistbegabte, sondern auch als sinnlich geprägte Lebewesen ansieht. Zum andern ist es dadurch bedingt, dass die allgemeine Sensibilität für die medialen Bedingtheiten des Wahrnehmens und Denkens gewachsen sind. Das dokumentiert sich deutlich in der sprachsensiblen Neuorientierung der Philosophie, die unter dem Stichwort linguistic turn
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G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, S. 25. G. F. W. Hegel, Wissenschaft von der Logik I, Werke, Bd. 5, S. 113 f.
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bekannt geworden ist.13 Diese Neuorientierung ist allerdings faktisch nicht ganz so neu, wie ihre Vertreter postulieren, da seit dem 18. Jahrhundert alle semiotischen Überlegungen zur Sprache sowie die anschließenden sprachphilosophischen Überlegungen von Humboldt und Cassirer sehr intensiv darauf aufmerksam gemacht haben, dass wir am Leitfaden der Sprache denken und wahrnehmen. In letzter Zeit wird in der Philosophie sogar von einem pictorial turn 14 und in der Kunstphilosophie von einem iconic turn 15 gesprochen. Bei diesem Denkansatz werden Bilder als komplexe Zusammenspiele von visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten, von konkreten Körperwahrnehmungen, von bewährten Interpretationstraditionen, von kreativen Imaginationskräften und von umfassenden Wissensdiskursen thematisiert. Bilder werden wie Begriffe als Medien verstanden, die wie Netze etwas von der Welt einfangen, aber anderes auch durchlassen. Deshalb ist es wichtig, sich über die Struktur der jeweiligen sprachlichen Bilder Rechenschaft abzulegen, um ermessen zu können, was durch sie in den Blick geraten kann und was nicht.
4. Die semiotische Struktur sprachlicher Bilder Wenn wir Wörter als Manifestationsformen von begrifflichen Zeichen und Bilder als Manifestationsformen von visuellen Zeichen verstehen, dann ist der Ausdruck sprachliches Bild eigentlich in sich widersprüchlich und damit dann auch unzulässig. Durch diese Ausdrucksweise wird nicht nur die Differenz zwischen Begriffen und Bildern verwischt, sondern auch ein grundlegendes Theorem von de Saussure prinzipiell in Frage gestellt. Dieses besagt, dass es für sprachliche Zeichen konstitutiv sei, dass der jeweilige Zeichenträger (Signifikant) mit seinem jeweiligen Zeicheninhalt (Signifikat) nicht über irgendwelche Formen von Ähnlichkeit verknüpft sei wie bei Bildern, sondern allein durch soziale Konventionen. Nur durch dieses Arbitraritätsprinzip sei sichergestellt, dass alle potenziellen Denkinhalte durch sprachliche Zeichenträger problemlos objektiviert werden könnten, weil man ja auf keinerlei Ähnlichkeitsrelationen mehr Rücksicht zu nehmen habe. Gerade dadurch könne die Sprache dann auch zu einem flexiblen und universalen Mittel der Informationsfixierung und Informationsvermittlung werden. Wenn sprachliche Zeichen sich in der gleichen Weise wie Bilder nach dem Ähnlichkeitsprinzip konstituieren müssten, dann gebe es natürlich nur ein sehr eingeschränktes sprachliches Zeichenrepertoire und deshalb auch nur sehr reduzierte Möglichkeiten, denkbare Denkinhalte intersubjektiv zu objektivieren.
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R. Rorty (ed.), The linguistic turn, 1967. W. J. T. Mitchell, Pictorial theory, 1994, S. 11. 15 G. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, 2007, S. 17. 14
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Diese Argumentation hat natürlich eine prinzipielle Berechtigung, sie hat aber auch ihre Tücken und Defizite. In ihr bleibt nämlich unberücksichtigt, dass wir den Terminus Sprache nicht nur für die Verbalsprache verwenden, sondern auch für andere Zeichensysteme (Sprache der Kunst / der Natur / der Gewalt usw.), in denen keineswegs das Arbitraritätsprinzip vorherrschend ist. Außerdem ist zu beachten, dass auch in der Verbalsprache Zeichenformen verwendet werden, die in hohem Maße auf das Ähnlichkeitsprinzip zurückgreifen und die de Saussure nur unzureichend mit dem Theorem der relativen Motiviertheit erklärt hat. In diesem Zusammenhang braucht man dann nur an die lautmalerischen Onomatopoetika denken, an die Reihenfolgemuster für Satzelemente wie etwa die Thema-Rhema-Relation, an prä- und postdeterminierende Attribute oder an spezifisch strukturierte Textmuster wie Epos, Roman oder Kurzgeschichte. In all diesen Formen spielt das Ähnlichkeits- oder Analogieprinzip zwischen Zeichenträgern und Zeicheninhalten bei Sinnbildungsprozessen in unterschiedlicher Ausrichtung eine wichtige Rolle. Es erweist sich deshalb als notwendig, das Problem der Analogierelationen zwischen Zeichenträgern und Zeicheninhalten bei sprachlichen Zeichen näher zu untersuchen, um zu verstehen, was man meint, wenn man von sprachlichen Bildern spricht. Dafür bieten die zeichentheoretischen Überlegungen von Peirce eine gute Grundlage. Dieser versteht Zeichen prinzipiell als dreistellige Relationsgebilde, bei denen ein Zeichenträger, ein Zeichenobjekt und ein Zeicheninterpretant miteinander in Beziehung gesetzt werden.16 Dabei wird als Zeichenträger dasjenige Phänomen verstanden, das als intersubjektiv fassbarer Ausgangspunkt der Zeichenrelation dienlich ist, als Zeichenobjekt dasjenige Phänomen, das durch die jeweilige Zeichenbildung aus dem Kontinuum der Welt als bestimmter Wahrnehmungsgegenstand herausdifferenziert wird, und als Zeicheninterpretant diejenigen Denkinhalte, die als Interpretierendes bzw. als Erkenntnisinteressen für die jeweilige Zeichenbildung wirksam werden. Für die hier thematisierten Problemzusammenhänge ist nun natürlich die Relation zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt besonders interessant, weil sich hier entscheidet, welche Rolle das Ähnlichkeitsprinzip bei sprachlichen Zeichen spielen kann. Peirce differenziert hier idealtypisch zwischen drei verschiedenen Relationsmöglichkeiten, aus denen dann drei verschiedenen Zeichentypen resultieren, die er als Symbol, Index und Ikon bezeichnet. Unter einem Symbol versteht Peirce entsprechend dem angelsächsischen Sprachgebrauch den Typ von Zeichen, bei dem der Zeichenträger auf rein konventionelle bzw. arbiträre Weise mit seinem jeweiligen Zeichenobjekt verbunden ist, was im Prinzip bei der Mehrheit aller einfachen sprachlichen Zeichen zutrifft. Aus der Gestalt des Zeichenträgers kann dementsprechend nicht abgeleitet werden, welches Zeichenobjekt er jeweils repräsentiert. Unter
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Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2. 228, 2. 74, 8. 343. Vgl. W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 33 ff.
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einem Index versteht er einen Zeichentyp, bei dem der Zeichenträger auf eine natürliche bzw. kausale Weise mit seinem jeweiligen Zeichenobjekt verbunden ist. So verweist etwa das Phänomen Rauch auf indexikalische Weise auf das Phänomen Feuer. Das bedeutet, dass ein Index im Prinzip nicht durch Konventionswissen, sondern vielmehr durch Sach-, Situations- und Kausalwissen verstehbar ist. Die Wahrnehmung und die Interpretation von indexikalischen Zeichen ist deshalb auch ein Hauptproblem detektivischer Arbeit. Unter einem Ikon versteht Peirce schließlich einen Zeichentyp, bei dem der Zeichenträger kraft einer materiellen, strukturellen, funktionellen oder einer anderen Ähnlichkeitsform sein jeweiliges Zeichenobjekt repräsentiert, was beispielsweise bei Bildern, Skizzen oder bei lautmalerischen Wörtern der Fall ist. Daraus folgt, dass ikonische Zeichen mehr oder weniger spontan verstanden werden können, wenn die Zeichenbenutzer die jeweiligen Ähnlichkeiten erfasst haben. Wie alle Zeichen haben natürlich auch ikonische Zeichen einen abstraktiven Charakter. Deshalb bedürfen auch sie zu ihrem Verständnis gewisser Sach- und Konventionskenntnisse sowie bestimmter Hypothesen über ihre jeweiligen Sinnbildungsziele. Dennoch sind sie als diejenigen Typen von Zeichen zu betrachten, die am leichtesten spontan zu verstehen sind, was beispielsweise international etablierte Piktogramme auf Flughäfen gut exemplifizieren. Gleichwohl ist aber zu beachten, dass ikonische Zeichen intersubjektiv keineswegs immer auf identische Weise verstanden werden, weil bei der Feststellung von Ähnlichkeiten natürlich auch individuelles Wissen und bestimmte kulturelle Wahrnehmungstraditionen eine große Rolle spielen können. Beispielsweise ist uns heute spontan sicherlich nicht mehr gut vorstellbar, dass eine Walnuss ikonisch auf Christus verweisen kann. Für das mittelalterliche Denken war das aber durchaus möglich, insofern der fleischigen Schale der Walnuss eine Ähnlichkeit mit der menschlichen Natur von Christus zugeschrieben wurde, der holzigen Schale eine Ähnlichkeit mit dem Kreuz und dem süßen Kern eine Ähnlichkeit mit seiner göttlichen Natur.17 Aus den vielfältigen Merkmalen und Faktoren, die bei der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten wirksam werden können, ergibt sich, dass es durchaus gelernt werden muss, etwas als einen ikonisch wirksamen Zeichenträger bzw. als ein ikonisches Zeichen zu identifizieren. Die Wissensinhalte bzw. die Wahrnehmungsdispositionen, die Peirce unter dem Terminus Zeicheninterpretant zusammengefasst hat, spielen deshalb auch beim Verständnis von ikonischen Zeichen trotz der grundlegenden Wirksamkeit des Ähnlichkeitsprinzips eine sehr große Rolle. Obwohl nach Peirce Wörter im Prinzip der Zeichenklasse der konventionellen Symbole zuzuordnen sind, bietet seine Zeichentheorie dennoch die Möglichkeit, Wörter auch als Realisationen von ikonischen Zeichen zu betrachten, ohne dabei nur an die recht wenigen lautmalerischen Wörter denken
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Vgl. J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 197511 , S. 291.
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zu müssen. Um das zu verstehen, muss man sich die folgenden semiotischen Grundüberlegungen von Peirce vergegenwärtigen. Dieser ist nämlich der festen Überzeugung, dass Zeichen, welchen Typs auch immer, keine ontisch geschlossene Seinsklasse bilden, sondern dass vielmehr alles zum Zeichen werden kann, was sich intersubjektiv sinnvoll als Zeichen verstehen und nutzen lässt. Das bedeutet nun, dass alles, was durch ein Zeichen als Zeichenobjekt vorstellbar gemacht werden kann, im Prinzip auch selbst wieder eine repräsentierende Zeichenträgerfunktion übernehmen kann. Jede faktisch gegebene Zeichenrelation kann demzufolge dann auch in eine neue Zeichenrelation übergehen. Das Verfahren, neue Zeichen aus alten abzuleiten und alte Zeichen durch neue zu interpretieren, bezeichnet Peirce als Semioseprozeß. Dieser kann zwar methodisch, aber eigentlich nie faktisch abgeschlossen werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird dann auch verständlich, warum Peirce von genuinen und von abgeleiteten Zeichen spricht. Dieses Konzept hat er am Beispiel von indexikalischen Zeichen entwickelt, es lässt sich aber sicher auch auf ikonische anwenden. Die Vorstellung des abgeleiteten Zeichens beinhaltet, dass in einem ersten sinnbildenden Schritt ein rein konventioneller Zeichenträger wie etwa das Wort Fuchs dazu dient, eine prototypische Vorstellung von einer bestimmten Tierart als Zeichenobjekt bzw. Zeicheninhalt präsent zu machen. In einem zweiten semiotischen Schritt kann dann dieses Zeichenobjekt zum Zeichenträger für ein neues abgeleitetes Zeichen gemacht werden. In dieser abgeleiteten Zeichenrelation verweist dann die faktische Vorstellung eines prototypischen Fuchses als Zeichenträger in ikonischer Weise auf ein neues Zeichenobjekt. Je nach den faktisch aktivierten Ähnlichkeitsvorstellungen kann dann mit diesem abgeleiteten Zeichen auf einen schlauen Menschen, einen anpassungsfähigen Überlebenskünstler, ein Pferd mit rotbrauner Farbe oder auf einen spezifisch gefärbten Schmetterling verwiesen werden. Das abgeleitete ikonische Verständnis des Wortes Fuchs kann so selbstverständlich werden, dass es wieder zu einem rein konventionellen Zeichen für ein bestimmtes Begriffsmuster wird bzw. zu einer Bedeutungsvariante des Wortes Fuchs. In der klassischen Rhetorik wird diesbezüglich dann meist von toten Metaphern gesprochen. Bei ikonischen Zeichen bzw. bei abgeleiteten ikonischen Zeichen haben die jeweiligen Zeichenträger natürlich immer nur eine partielle Ähnlichkeit mit ihren jeweiligen Zeichenobjekten. Außerdem ist natürlich zu beachten, dass sie ihre Bezugobjekte nicht an sich repräsentieren, sondern nur unsere Vorstellung von ihnen. Wenn wir von Ähnlichkeiten zwischen den jeweiligen Zeichenträgern und Zeichenobjekten sprechen, dann müssen wir uns immer bewusst sein, dass wir solche Ähnlichkeiten nicht einfach als faktisch vorgegebene Ähnlichkeiten feststellen, sondern dass wir sie auch hervorheben und verstärken können. Irgendwo haben nämlich alle Phänomene eine gewisse Ähnlichkeit mit anderen. Welche dieser Ähnlichkeiten wir allerdings für erwähnenswert und wichtig halten, das hängt immer sehr maßgeblich von unseren jeweiligen Wahrnehmungszielen ab.
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Wenn wir von Fakten sprechen, dann sollten wir uns bewusst sein, dass diese nicht einfach wahrnehmbar vorliegen, sondern dass sie als Produkte von anerkannten Wahrnehmungsstrategien auch immer den Charakter von etwas Gemachtem (factum) haben. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass unter dem Einfluss des Englischen das Verb realisieren heute nicht mehr nur im Sinne von verwirklichen verstanden wird, sondern auch im Sinne von wahrnehmen. Aus alldem ist nun aber keineswegs zu schließen, dass ikonische Zeichen nur auf imaginierten Ähnlichkeiten beruhen. Ähnlichkeiten haben natürlich im Prinzip immer irgendwo ein reales Fundament. Gleichwohl sollte aber nicht vergessen werden, dass die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten auch ein Ergebnis von Typisierungs-, Abstraktions- und Gestaltbildungsprozessen ist bzw. ein Resultat von Anstrengungen, die Komplexität der Welt auf ein anthropologisch erträgliches Maß zu reduzieren. Zwischen den genuinen ikonischen Zeichen und den abgeleiteten ikonischen Zeichen in der Sprache besteht ein nicht zu vernachlässigender Strukturunterschied. Genuine Ikons wie etwa die Skizze oder die Fotografie eines Schlosses konfrontieren uns mit festen Daten über das jeweilige Referenzobjekt und lassen dieses auch in einer recht stabilen Wahrnehmungsperspektive in Erscheinung treten (Lage, Größe, Baustil usw.). Wenn wir nun aber beispielsweise bei Kafka mit dem Wort Schloss konfrontiert werden, dann können wir uns eine recht freie Vorstellung von dem Phänomen Schloss machen, und zwar sowohl im Hinblick auf seine äußere Gestalt als auch im Hinblick auf seine Funktionen und Implikationen (Abgeschlossenheit, Bedrohung, andere Welt usw.). Falls wir nun die verbal erzeugte Schlossvorstellung zu einem neuen Zeichenträger machen, so bilden sich möglicherweise bei den verschiedenen Zeichenrezipienten recht unterschiedliche Zeichenobjekte für das abgeleitete ikonische Zeichen Schloss heraus, weil dabei ganz unterschiedliche Ähnlichkeiten in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten können. Abgeleitete ikonische Zeichen haben deshalb einen chamäleonsartigen Charakter, der sehr verschiedenartige Konkretisierungsmöglichkeiten bei der Objektbildung zulässt. Wenn man sich nun diese komplexen Strukturverhältnisse bei abgeleiteten ikonischen Zeichen bzw. bei sprachlichen Bildern vor Augen hält, dann wird mindestens zweierlei deutlich. Zum einen sind sprachliche Bilder sinnvolle Mittel, um Erkenntnisprozesse zu eröffnen, die sich auf Gegenstandsbereiche beziehen, für die es entweder noch kein stabilisiertes begriffliches Wissen gibt oder die so komplex sind, dass wir bei ihrem Verstehen Einstiegshilfen aus unserer allgemeinen Welterfahrung brauchen. Zum anderen sind die sprachlichen Bilder nicht nur interpretationsfähig, sondern auch interpretationsbedürftig. Sie provozieren nicht nur dazu, vielfältige Wissensbestände zu aktivieren und unterschiedliche Welten aufeinander zu beziehen, sondern sie regen auch dazu an, weiträumige Semioseprozesse in Gang zu setzen und zu halten. Da Menschen und Kulturen sich sehr unterschiedlich akzentuierte Vorstellungen von einzelnen Phänomenen machen können, lassen sich diese Vorstellungen auch in sehr unterschiedlicher Weise zu ikonisch wirksamen Zeichen-
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trägern machen. Das hat sich in der Volksweisheit auch in der Auffassung niedergeschlagen, dass das, was dem einen eine Nachtigall ist, dem anderen durchaus eine Eule sein kann. Außerdem ist zu beachten, dass das Verständnis von Dingen als Zeichenträgern auch spezifische entwicklungspsychologische Implikationen haben kann. Für Kinder haben einzelne Dinge einen anderen psychischen und pragmatischen Stellenwert als für Erwachsene, weshalb sie für sie dann auch ganz andere ikonische Zeichenfunktionen übernehmen können. Das dokumentiert sich schon darin, dass Dinge für Kinder in der Regel keineswegs neutrale Gegenstände sind, sondern vielmehr gute oder böse Dinge. Deshalb haben die einzelnen Dinge für Kinder dann in der Regel natürlich auch ein ganz anderes ikonisches Repräsentationspotenzial als für Erwachsene. Einerseits haben Kinder beim Verstehen von sprachlichen Bildern bzw. von abgeleiteten ikonischen Zeichen bestimmte Wahrnehmungsgrenzen. So verstehen sie beispielsweise Sprichwörter sehr oft nicht bildlich und analogisch, sondern vielmehr ganz wörtlich. Andererseits fällt ihnen das Verstehen sprachlicher Bilder aber zuweilen auch sehr viel leichter als Erwachsenen, weil sie noch nicht im gleichen Maße wie diese auf das konventionelle Verständnis von Sprache eingeschworen sind bzw. den sozial etablierten begrifflichen Gehalt von Wörtern noch gar nicht so genau kennen. Sprachliche Bilder bzw. abgeleitete ikonische Zeichen stellen uns prinzipiell vor die Aufgabe, die Philologie der Wörter durch die Philologie der Dinge zu ergänzen bzw. unser konventionelles Sprachwissen durch unser empirisches Weltwissen. Offenbar können wir Sprache auch nur dann wirklich verstehen, wenn wir mehr als Sprache und Sprachkonventionen kennen. Sprachliche Bilder sollten deshalb nicht als sprachliche Rätsel verstanden werden, die absichtsvoll vorgegebene Inhalte kunstvoll verschleiern, sondern eher als Probiersteine, an denen wir unser Sinnbildungsvermögen erproben können. Die Negation der traditionellen Vorstellung, dass bildliche Redeweisen im Prinzip ornamentale Ersatzformen für eigentliche Redeweisen sind, hat keineswegs die Konsequenz bzw. die Implikation, dass der bildliche Sprachgebrauch nichts mit der Ästhetik zu tun hat. Allerdings muss man unter diesen Umständen den Begriff der Ästhetik vom Begriff des Ornamentalen lösen und mit dem Begriff der Intensität in Verbindung bringen. Das hat Peirce in seinen zeichentheoretischen Überlegungen mit großer Konsequenz getan, insofern er nämlich bestrebt war, das Phänomen des Ästhetischen aus allen substanzorientierten Vorstellungen zu lösen. Stattdessen hat er versucht, das Ästhetische als etwas zu betrachten, das aus der Struktur von Zeichen- und Denkprozessen resultiert. Das bedeutet, dass er das Ästhetische nicht im Sinne einer substanziellen Eigenrealität versteht, sondern eher im Sinne einer strukturellen Mitrealität, die aus der Dynamik und Intensität von Zeichenprozessen resultiert. Dieser Denkansatz wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Peirce die Logik nicht als Lehre vom schlussfolgernden Denken verstanden wissen wollte, sondern als Lehre vom Denken schlechthin, und dass er deshalb auch die Ethik und Ästhetik als propädeutische Wissenschaften der
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Logik betrachtet hat. Das ist für ihn dadurch motiviert, dass sich die Ethik mit den Zielen des Denkens beschäftigen soll und die Ästhetik mit den Intensitätsgraden des Denkens beim Gebrauch von Zeichen.18 Das ästhetisch Gute begreift Peirce dementsprechend als einen Strukturzusammenhang, in dem alle Einzelelemente so miteinander verbunden sind, dass dadurch ein Gestaltzusammenhang von großer und evidenter Korrelationsintensität entsteht. Dieser muss im traditionellen Sinn nicht unbedingt als schön erlebt werden, sondern kann durchaus auch als erschreckend wahrgenommen werden. Grundsätzlich ist für ihn nämlich wichtig, dass das Ästhetische Bezüge zu allen Ebenen unserer Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten besitzen sollte. So gesehen fällt es nicht schwer, allen bildlichen Redeweisen im Prinzip einen sehr hohen Grad an Informationsintensität und an Denkanregung zuzuschreiben und damit dann natürlich auch einen grundsätzlich hohen Grad an ästhetischer Qualität. Die bildlichen Redeweisen scheinen nämlich in der Lage zu sein, unser deduktives, induktives, hypothetisches, heuristisches, hermeneutisches, analysierendes und synthetisierendes Denken auf sehr nachhaltige Weise anregen. Einerseits können bildliche Redeweisen unsere Denkprozesse abschließen und deren Ergebnisse in überschaubaren Vorstellungen im Gedächtnis abspeichern. Andererseits können sie das Denken aber auch dazu anregen, seine Fäden in unterschiedlichen Richtungen fortzuspinnen und seine sachthematischen Inhalte immer wieder reflexionsthematisch auf ihre jeweiligen Prämissen und Konsequenzen hin zu prüfen und zu qualifizieren. Der bildliche Sprachgebrauch wird im Gegensatz zum begrifflichen nicht sehr stark durch schematisierte Denk- und Verstehensprozessen geprägt, weil er eher darauf hinausläuft, die jeweiligen Denkinhalte zu gestalten als zu beherrschen. Auch das Wahrheitsproblem stellt sich in Kontext der Dynamik von bildlichen Aussageweisen ganz anders dar als im Kontext von begrifflichen Aussageweisen. Die Wahrheit einer bildlichen Objektivierungsweise lässt sich schwerlich aus der zutreffenden kategorialen Fixierung eines Denkinhaltes ableiten, sondern eher aus der Kraft, weitere Denkprozesse auszulösen und das Imaginationsvermögen anzuregen. Das bedeutet, dass das Kriterium der Fruchtbarkeit bei der wahrheitstheoretischen Qualifizierung von Bildern bzw. Sinnbildern eigentlich eine größere Rolle spielt als das Kriterium der zutreffenden sprachlichen Abbildung oder gar Abspiegelung vorgegebener Phänomene in einem korrespondenztheoretischen Sinne. Es bedeutet weiterhin, dass man die Wahrheit bzw. die Tragfähigkeit von Bildern letztlich erst dann erfährt, wenn man sich richtig auf diese einstellt bzw. richtig mit ihnen umgeht. Diesen Strukturzusammenhang hat Musil sehr einprägsam in ein Bild gebracht: „Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“19
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Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2. 197-199; 5. 129–132. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 533–534.
V
Die Analogieproblematik
Nach den bisherigen Überlegungen ist kaum zu bezweifeln, dass das Phänomen der Ähnlichkeit bzw. der Analogie eine konstitutive Funktion für die Struktur unserer Wahrnehmungs- und Denkprozesse bzw. für unser ganzes geistiges Leben hat. Wie alle anthropologisch grundlegenden Phänomene ist auch dieses durch eine gewisse Ambivalenz geprägt, was sich durch Aussagen von Herder und Peirce sehr schön verdeutlichen lässt. Herder preist die Analogie folgendermaßen: „Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogien, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer.“1 Peirce, sicher kein Verächter des Analogieprinzips, gibt allerdings auch zu bedenken, dass es ein sehr häufiger Fehler des praktischen Denkens sei, anzunehmen, dass Dinge, die sich in bestimmten Hinsichten ähnelten, das auch in anderen Hinsichten tun müssten.2 In allen Kulturen und in vielen Lebensbereichen wird das Analogieprinzip genutzt, um sich in der Welt zurechtzufinden. In den Religionen und in der Metaphysik wird immer wieder mit Analogien gearbeitet, um sich Unsinnliches mit Hilfe von Sinnlichem zu erschließen, zu objektivieren und zu strukturieren, wofür Mythen, Gleichnisse und Metaphern ein beredtes Zeugnis ablegen. In der Erkenntnistheorie und in den Wissenschaften arbeitet man ganz selbstverständlich mit Modellen, um komplexe Sachverhalte zu erfassen und darzustellen. Man rechtfertigt Analogien dann meist als kreative Abkürzungsverfahren für umständliche Argumentationsprozesse. In der Rhetorik und Didaktik werden Gleichnisse bzw. exemplarische Darstellungsverfahren ganz selbstverständlich zu illustrativen Zwecken oder zur Optimierung von Überzeugungsverfahren bzw. von Lernprozessen eingesetzt. In der Jurisprudenz spielen insbesondere im Präzedenzrecht Analogien eine ganz zentrale Rolle. Auch in der Logik hat man sich immer wieder mit der Notwendigkeit und Problematik von Analogieschlüssen beschäftigt. Ohne die Nutzung von Ähnlichkeiten und Analogien scheinen unsere Wahrnehmung von Welt und die Organisation unseres Denkens nicht recht zu funktionieren. Wenn Ähnlichkeiten nicht direkt ins Auge fallen, dann suchen oder konstruieren wir oft welche, weil wir offenbar ein unstillbares Bedürfnis
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J. G. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, Sämmtliche Werke, Bd. 8, S. 170. 2 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2. 634. „There is no greater nor more frequent mistake in practical logic than to suppose that things which resemble one another strongly in some respects are any the more likely for that to be alike in others.”
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nach ihnen haben. Die Sehnsucht nach Ähnlichkeiten ist wohl zugleich auch ein Indiz für unsere Sehnsucht nach einer Nähe zu den Dingen bzw. ein Ausdruck für unser ständiges Bestreben, neues Wissen mit altem zu verknüpfen. Bertrand Russell, der für metaphysische Hypothesen und Spekulationen sicher nicht viel übrig hatte, sah sich genötigt, der Kategorie der Ähnlichkeit einen ganz besonderen ontologischen und logischen Stellenwert zuzuordnen. Alle Arten von kognitiven Universalien könnten wir in nominalistischer Manier als bloße menschliche Konstrukte wegdisputieren bis auf eine – die Ähnlichkeit (similiarity).1 Wenn nun aber Analogierelationen eine so unersetzliche Erkenntnisfunktion in unserer Weltwahrnehmung und Welterkenntnis haben, dann stellt sich natürlich die Frage, welche Prämissen und Konsequenzen mit dem Analogieprinzip verbunden sind. Die Spannweite dieser Problematik lässt sich idealtypisch vereinfacht auf die Alternative zuspitzen, ob wir die Analogie als eine Seinskategorie oder als eine Denkkategorie verstehen wollen. Daraus ergeben sich dann weitere Alternativen. Ist die Analogie ein Indiz für gegebene Tatbestände oder nur ein Indiz für die Denkstrategien, mit denen wir uns Tatbestände zu erschließen versuchen? Sagen uns Analogien etwas über die Struktur der Welt oder über die Struktur des Denkens derjenigen Subjekte, die die Welt nach diesem Verfahren erkennen wollen? Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Entscheidung für eine der jeweiligen Positionen recht unfruchtbar ist, um die Frage nach der kognitiven Qualität von Sinnbildern für Sprache zu beantworten, weil wir dann nämlich unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten für die Analogieproblematik von vornherein perspektivisch ziemlich einschränkten und dann auch die kulturhistorische Relevanz dieser Problematik nicht mehr recht in den Blick bekämen. Zwar ist einzuräumen, dass wir heute den Analogiebegriff nicht mehr guten Gewissens als einen genuinen Seinsbegriff qualifizieren können, sondern ihn wohl eher als einen psychologisch motivierten Denkbegriff zu verstehen haben. Gleichzeitig müssen wir aber wohl auch einräumen, dass wir uns in unserem gegenwärtigen Denken und Sprechen keineswegs konsequent nach dieser erkenntnistheoretischen Einsicht richten und faktisch sehr viel traditioneller denken als wir theoretisch rechtfertigen können. Weiterhin ist zu bedenken, dass das Verständnis des Analogiebegriffs als Denkbegriff unserem Denken zwar einerseits eine große geistige Beweglichkeit und Kreativität eröffnet, aber andererseits zugleich auch die Angst erzeugen kann, dass sich das Denken in einem Solipsismus verstrickt, in dem es seinen Kontakt zur realen Welt verliert. Aus dieser ambivalenten Beurteilung des Analogiebegriffs wird hier die Konsequenz gezogen, diesen zunächst einmal sowohl als Seinskategorie als auch als Denkkategorie zu diskutieren, um eben dadurch auch seine kulturhistorischen Dimensionen in den Blick zu bekommen. Erst vor diesem Hinter-
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Vgl. B. Russel, An inquiry into meaning and truth, 1980, S. 344.
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grund lässt sich dann die Frage nach den kognitiven Funktionen von Sinnbildern für Sprache zureichend verstehen und beantworten, die sicherlich eine anthropologische und pragmatische Frage ist, in der sowohl in systematischer als auch in kulturhistorischer Hinsicht immer wieder auf den Analogie- bzw. Ähnlichkeitsbegriff Bezug genommen werden muss.
1. Die Analogie als Seinskategorie Wenn man das Phänomen der Ähnlichkeit bzw. der Analogie als Seinsphänomen und nicht als Denkphänomen ins Auge fasst, dann hat man sich zugleich auch dafür entschieden, die Ähnlichkeit zwischen zwei Sachbereichen als ein objektorientiertes Wesensphänomen und nicht als ein subjektorientiertes Interpretationsphänomen zu verstehen. Der Ähnlichkeitsbegriff steht dabei dem Wesens- und Substanzbegriff vielleicht sogar noch etwas näher als der Analogiebegriff, weil letzterer durch seine Herkunft auch mit recht abstrakten Relationsvorstellungen verknüpft ist, wenn auch mit solchen, die meist aus Wesensähnlichkeiten abgeleitet werden. Der griechische Terminus analogia geht auf die Komposition ana-logos (gleich dem Logos/dem Logos entsprechend) zurück. Er wurde zunächst in der Mathematik verwendet, um bestimmte Verhältnisbeziehungen zwischen Zahlenkomplexen zu bezeichnen (2:4 = 4:8). Deshalb wurde dieser Terminus im Lateinischen auch durch den Terminus proportio (Entsprechung) wiedergegeben. Da nun aber der griechische Terminus logos eine weitgespannte Bedeutung hatte, die von Begriff über Ordnung bis zu Vernunft reichte, lag es nahe, den Terminus analogia immer dann zu verwenden, wenn ein Phänomen auf sachlich angemessene Weise auch ein anderes Phänomen repräsentieren konnte, was dann in der Regel auf eine substanzielle Verwandtschaft zwischen beiden Phänomenen zurückgeführt wurde. Aristoteles hat dementsprechend alles als analog betrachtet, was eine ähnliche dynamis oder eine ähnliche physis hatte. Ein solches Verständnis lag zumindest so lange nahe, wie der Relationsgedanke dem Substanzgedanken untergeordnet wurde und das Wesen der Dinge immer normativ bestimmte, in welche Relationen etwas zu etwas anderem gebracht werden konnte. Gleichwohl ist bei diesem Denkansatz nun aber zu beachten, dass die vorgegebene Analogie zwischen zwei Phänomenen nicht immer als offen zu Tage liegend angesehen wurde, sondern auch als etwas betrachtet wurde, das durch eine spezifische kognitive Anstrengung aufzudecken war. Dafür hat Aristoteles im Kontext seiner Metapherntheorie eine besondere Begabung postuliert. „Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein
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Zeichen von Begabung. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag.“ 2 Die Verankerung der Analogie in der Ordnungsstruktur des Seins war insbesondere für das antike und mittelalterliche Denken prägend. Sie bestimmt aber auch heute noch unser alltägliches Denken und Sprechen, obwohl uns die Erkenntnistheoretiker das gar nicht mehr gerne durchgehen lassen. Es ist deshalb sicherlich hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche metaphysischen Überzeugungen dafür verantwortlich waren, die Analogie als Seinskategorie zu verstehen und sein Denken und Sprechen dementsprechend auszurichten. Das macht dann vielleicht auch verständlich, warum Sinnbilder immer wieder eine so große Rolle gespielt haben, um sich eine Vorstellung bzw. ein Bild von komplexen Ordnungszusammenhängen wie etwa der Sprache zu machen. Eine frühe Quelle zur metaphysischen Diskussion der Analogieproblematik stellt folgende von Aristoteles überlieferte These des Empedokles dar: „Die Erkenntnis des Gleichen erfolgt durch das Gleiche.“3 Diese These lässt sich auf vielfältige Weise verstehen. Sie kann einerseits besagen, dass die jeweiligen Erkenntnismittel eine Analogie zu ihren jeweiligen Erkenntnisgegenständen haben müssen, um sinnvoll verwendet werden zu können. Sie kann andererseits aber auch besagen, dass die jeweiligen Erkenntnissubjekte eine innere Verwandtschaft zu ihren jeweiligen Erkenntnisgegenständen haben müssen, um diese adäquat erfassen zu können. Vielleicht kann man aus dieser Maxime sogar den Schluss ziehen, dass sich die jeweiligen Erkenntnissubjekte ihren jeweiligen Erkenntnisgegenständen anzupassen haben bzw. sich selbst verändern müssen, um diese verstehen zu können. Eine solche Grundauffassung hat in allen Formen der Mystik eine große Rolle bei den Bemühungen gespielt, sich transzendente Phänomene wie etwa Gott zugänglich zu machen. Die These, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden könne, muss mit zwei Problemen fertig werden. Zum einen kann nämlich gegen sie der Vorwurf erhoben werden, dass es unter diesen Umständen eigentlich keine wirkliche Erkenntnis von Phänomenen geben könne, sondern nur Projektionen von Erkenntnismitteln und Erkenntnissubjekten auf die jeweiligen Erkenntnisgegenstände. Auf diese Problematik hat schon früh Xenophanes sehr bissig hingewiesen, als er erklärte, Homer und Hesiod hätten die Götter nach dem Bilde der Menschen gemacht und ihnen rein menschliche Verhaltensweisen angedichtet (Stehlen, Betrügen, Ehebrechen). Nach diesem Prinzip stellten sich die Äthiopier dann auch die Götter schwarz und stumpfnasig vor bzw. die Thraker blauäugig und rothaarig. Wenn Pferde und Kühe malen könnten, dann würden sie sich pferde- und kuhähnliche Götterbilder schaffen.4 Zum andern
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Aristoteles, Poetik, Kap. 22, 1459a, 1994, S. 75 ff. W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, S. 236, Nr. 157. Vgl. A. Schneider, Der Gedanke der Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche in antiker und patristischer Zeit, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1923, Supplement II, S. 65–76. 4 Vgl. W. Capelle, a.a.O., S. 121, Nr. 22, 24, 25. 3
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kann der Vorwurf erhoben werden, dass es logisch höchst bedenklich sei, das Gleiche durch das Gleiche zu objektivieren, weil man dadurch leicht in ein sich selbst bestätigendes Zirkeldenken gerate, in dem man genau das finde, was man im Prinzip immer schon vorausgesetzt habe. In dieser Kritik an dem Analogieprinzip deutet sich schon an, dass es möglicherweise plausibler ist, die Analogie nicht als ein Seins-, sondern eher als ein Denkphänomen anzusehen. Dennoch sollte man aber danach fragen, wieso es dazu gekommen ist, die Analogie als Seinsphänomen zu betrachten. In diesem Zusammenhang spielen dann sowohl philosophische und theologische Schöpfungsspekulationen eine große Rolle als auch Überlegungen zur Evolution unseres Erkenntnisapparates. Eine Bezugnahme auf diese beiden Denkansätze erscheint als recht kühn, weil sie auf den ersten Blick zu ganz unterschiedlichen Welten bzw. Denkzusammenhängen zu gehören scheinen. Dennoch liefern aber beide durchaus Motive für die Annahme, Analogien zumindest in bestimmten Hinsichten auch als Seinsphänomene zu verstehen. Viele Schöpfungsspekulationen gründen sich auf die Überzeugung, dass das Geschaffene nicht nur kausal von seinem Schöpfer abhängt, sondern in sich immer auch etwas von dessen Wesenszügen besitzt und eben deshalb diesen auch auf eine natürliche bzw. ikonische Weise repräsentieren oder gar abbilden kann. Ontologisch lässt sich das so formulieren, dass das Sein Seiendes aus sich entlässt und dass das Seiende dementsprechend immer dem Sein ähnelt, aus dem es hervorgegangen ist. Plotin hat das in seiner Emanationslehre ausdrücklich thematisiert und betont, dass das Auge die Sonne nicht sehen könnte, wenn es nicht selbst sonnenhaft wäre, bzw. dass eine Seele, die nicht schön geworden wäre, das Schöne auch nicht wahrnehmen könnte.5 Diesen Gedanken hat Goethe in seiner Farbenlehre wieder aufgenommen und folgendermaßen formuliert: Wär nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken? 6
Wenn man das von Goethe thematisierte Prinzip erkenntnistheoretisch verallgemeinert, dann lässt sich sagen, dass das geschaffene bzw. das abhängig Seiende über seine Genese an einem übergeordneten Sein partizipiert und eben deshalb auch Analogien zu diesem aufweist. Daraus kann dann weiterhin abge-
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Vgl. H. Gipper, Das Sprachapriori, 1987, S. 33 ff. J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre, Werke, Bd. 13, S. 324. Mauthner hat dieses Denkmodell folgendermaßen relativiert: „Nur was an der Sonne augenhaft ist, das kann das Auge sehen, das Sonnenhafte bleibt unsichtbar.“ F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3, 1906/1982, S. 639. Solche Denkpositionen lassen sich natürlich auch leicht trivialisieren und parodieren. Diesbezüglich verweist Leisegang auf einen Scherz von Ostwald: „Wär' nicht das Auge tintenhaft, es könnte niemals die Schrift sehen.“ H. Leisegang, Denkformen, 1928, S. 23, Anmerkung 1.
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leitet werden, dass unsere Erkenntnismittel unsere jeweiligen Erkenntnisgegenstände nur dann erreichen, wenn sie strukturell diesen irgendwie ähnlich sind oder ähnlich gemacht werden können. Unter diesen Denkvoraussetzungen ergibt sich in der Regel meist ein großes kognitives Vertrauen in das Analogieprinzip bzw. in die Verwendung von Sinnbildern. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang dann zugleich auch die Frage, ob den Sinnbildern aus Kultur und Technik ein ebenso großes kognitives Vertrauen geschenkt werden kann wie denen aus der Natur. Daher haben wir uns unter diesen Umständen auch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob beispielsweise unsere Geld- oder Bauwerkvorstellungen ebenso vertrauenswürdige Sinnbilder für Sprache sind wie etwa unsere Schlangen- oder Flussvorstellungen. Goethe hat sich in seiner integrativ ausgerichteten Weltsicht nicht gescheut, differenziert verwendeten Analogien einen ziemlich universalen Geltungsanspruch zuzuschreiben. „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zur gleichen Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet.“ 7
Die ontische Verankerung der Analogie bzw. ihr Verständnis als universales ontologisches Ordnungs- und Interpretationsprinzip hat vielleicht seinen deutlichsten Ausdruck in der scholastischen Lehre von der Analogie des Seins (analogia entis) gefunden. Diese Lehre wurzelt in der aristotelischen Physik, im christlichen Schöpfungsglauben und in der Emanationslehre Plotins. Sie geht davon aus, dass das Sein im Prinzip ein steigerungsfähiges Phänomen sei und dass alles Seiende in unterschiedlicher Intensität an einem absoluten Sein teilhabe. Religiös gesprochen bedeutet das dann, dass alles Geschaffene auf seinen Schöpfer verweist, weil es ja aus dessen Sein hervorgegangen ist. In der Lehre von der Analogie des Seins werden dann beim Seienden die Stufen des Mineralischen, Animalischen, Humanen und Geistigen als Steigerungsstufen zum absoluten Sein bzw. zu Gott verstanden. Es wird angenommen, dass Gott sich in allem Geschaffenen in unterschiedlicher Intensität mitteile (communicatio) und dass alles Geschaffene in unterschiedlicher Intensität an seinem Sein teilhabe (participatio). Das bedeutet, dass alles Existierende vertikal und horizontal aufeinander verweist, weshalb es dann auch als Bild bzw. als ikonisches Zeichen für etwas anderes in Erscheinung treten kann. Physisches vermag auf Physisches und Geistiges zu verweisen und Geistiges auf Geistiges und Physisches.8 Die Lehre von der Analogie des Seins sollte
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J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Werke, Bd. 12, S. 368. Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1, 1965, S. 57 ff. H. Heintel, Transzendenz und Analogie, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion, 1973, S. 267–290. W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie, 1971, S. 181 ff.
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letztlich ein grundlegendes Dilemma der Theologie entschärfen, das darin besteht, über Gott mit Begriffen zu reden, die sich eigentlich nur auf die empirisch erfahrbare Welt beziehen und nicht auf eine transzendente Welt. Das ontologische Konzept hinter der Lehre von der Analogie des Seins macht es leicht, physische Phänomene bzw. sinnliche Erfahrungen und Vorstellungen als Zeichenträger für geistige Zeichenobjekte bzw. für abstrakte Strukturzusammenhänge in Anspruch zu nehmen, insofern das Kommunikations- und Partizipationsprinzip impliziert, dass alle Ähnlichkeiten auf dialektische Weise immer auch mit Unähnlichkeiten verschränkt sind. Grundsätzlich ist nach dieser Lehre das Seiende aber so beschaffen, dass es sich nicht in seiner Faktizität erschöpft, sondern dass es für den Kundigen immer auch auf etwas von ihm Unterscheidbares aufmerksam machen kann. Die Vorstellung, dass alles Seiende als ikonischer Hinweis auf anderes Seiende wahrgenommen werden kann, hat sich im Mittelalter besonders klar in dem Konzept vom Buch der Natur bzw. im Interpretationsverfahren der Allegorese manifestiert. Die Denkfigur vom Buch der Natur besagt, dass Gott sich nicht nur in der Bibel (liber scripturae), sondern auch in der Natur (liber naturae) offenbart habe, und dass die Welt der geschaffenen Dinge im Prinzip genauso gut lesbar sei wie die Welt der Wörter in der Bibel. Die Dinge werden dabei vielfach sogar als noch verlässlichere Zeichen angesehen als die Wörter, weil ihre Verweis- und Repräsentationskraft als natürlicher gewertet wird als die von konventionalisierten Wörtern. Die mittelalterlichen Bücher über Tiere (Bestiarien), Edelsteine (Lapidarien), Planzen (Herbarien) wollen deshalb auch keineswegs reine Sachbeschreibungen im heutigen Sinne liefern, sondern den religiösen Zeichenwert der Dinge erfassen.9 Ein besonders eindrucksvolles, aber zugleich auch problematisches Beispiel für die spirituelle Auslegung von Tieren und Dingen ist der aus der Spätantike überlieferte Physiologus.10 Die spirituelle Auslegung von Dingen, Zahlen, Farben, Gesten und Verhaltensweisen im Mittelalter lässt sich unter dem Stichwort Allegorese zusammenfassen.11 In ihr ging es darum, über die spezifischen Merkmale von Phänomenen (proprietates) kraft Analogie zu deren jeweiligen geistigen Bedeutungen (significationes) vorzustoßen, was natürlich nur im Rahmen von bestimmten ontologischen Grundüberzeugungen möglich war. Auf diese Weise entstanden dann sich selbst stabilisierende Wahrnehmungssysteme, in denen man leicht genau das fand, was man vorab schon immer irgendwie angenommen hatte. Die jeweiligen spirituellen Auslegungen natürlicher Phänomene erscheinen uns unter unseren heutigen ontologischen Denkvoraussetzungen ziemlich fremd, bizarr und unrealistisch. Sie galten den damaligen Menschen
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Vgl. E. Rothacker, Das „Buch der Natur“, 1979. H. Blumenberg , Die Lesbarkeit der Welt, 1981. 10 O. Seel (Hrsg.), Der Physiologus,1960. 11 Vgl. F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 1977, S. 9 ff. Ch. Meier, Das Problem der Qualitätenallegorese, Frühmittelalterliche Studien, 8, 1974, S. 384–435.
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aber als durchaus realistisch, weil in ihrer Denkwelt Existenz und Essenz der Dinge noch nicht auseinandergefallen waren und alles Materielle durchaus als eine natürliche ikonische Repräsentationsform für etwas Geistiges angesehen werden konnte. Mit dieser Denkform war natürlich auch immer die Konsequenz verbunden, dass das sinnlich Gegebene als solches nicht wirklich ernst genommen wurde, da es im Prinzip ja immer nur ein Bild oder Zeichen für eine höhere Welt war. Heute widerstrebt es uns, ein solches Denken als realistisch anzusehen. Wir würden es wohl eher als unrealistisch, spekulativ und ideologisch bezeichnen oder bestenfalls als anthropomorphistisch. Die Idee vom Buch der Natur bzw. von der ikonischen Interpretation der Natur hat sich lange tradiert, aber dabei auch auf bezeichnende Weise transformiert. So hat beispielsweise Galilei betont, dass im Buch der Natur nur derjenige zu lesen vermöge, der „zuvor die Chiffern, in denen es verfasst ist, d.h. die mathematischen Figuren und deren notwendige Verknüpfung verstehen gelernt hat.“12 Als eigentliche Natur wird von ihm nicht mehr die sinnlich wahrnehmbare Welt angesehen, sondern die mathematisch erfassbaren Gesetze, durch welche die Natur als Natur erst konstituiert und strukturiert wird. Sinnbildfunktionen können unter diesen Umständen dann nicht mehr die sinnlich fassbaren Naturphänomene selbst übernehmen, sondern allenfalls die Gesetzlichkeiten, durch die sie hervorgebracht und geordnet werden. Wenn man so denkt, dann stößt man auf eine ganz andere Ebene des Analogiebegriffs. Auf dieser stehen nicht mehr sinnlich fassbare Ähnlichkeiten zwischen zwei Phänomenen im Vordergrund des Interesses, sondern Entsprechungen, die nicht immer sinnlich direkt fassbar sind. Diese müssen oft erst durch abstrahierende Überlegungen erschlossen werden, die auf die Ähnlichkeit von Funktionen, von Herkünften oder von Gesetzlichkeiten zurückgreifen. Hier kommen wir dann zu Ikonizitätsformen, die sehr abstrakt sind und die als Verknüpfungsformen auch oft eine große Nähe zu Indexikalitätsformen haben, insofern nun nämlich insbesondere Kausalrelationen eine große Bedeutsamkeit und Erklärungskraft bekommen können. Auf solche Entsprechungsformen stoßen wir beispielsweise, wenn in der Evolutionstheorie davon die Rede ist, dass der Huf des Pferdes gut auf die Steppe passe und die Flosse des Fischs gut in das Wasser. Aus der Struktur des einen Phänomens kann man unter diesen Umständen dann nämlich Rückschlüsse auf die eines anderen ziehen. Obwohl die Vorstellung vom Buch der Natur und die Evolutionstheorie ganz unterschiedliche Ursprünge und Zielsetzungen haben, so verbindet sie dennoch die Vorstellung, dass aus der Kenntnis des einen durchaus ein Wissen über etwas ganz anderes erwachsen kann. Obwohl dieses Verständnis von Analogien und Korrelationsbeziehungen für das Verständnis von Sinnbildern normalerweise keine große Rolle spielt, so
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Galilei, Il saggiatore, Ed. naz. VI, 232. Zitiert nach E. Cassirer, Individuum und Kosmos, 19876, S. 165.
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macht es uns doch auf ein spezifisches Problem aufmerksam. Beim Verständnis der Analogie als Seinskategorie haben wir nicht nur auf sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeiten zu achten, sondern auch auf funktionale, genetische und pragmatische Ähnlichkeiten und Korrelationszusammenhänge. Diese erschließen sich uns in der Regel nicht immer spontan, sondern nur im Kontext eines umfassenden Sachwissens, das sich nicht nur auf die äußere Phänomenalität von Dingen und Sachverhalten bezieht, sondern auch auf die abstrakten Struktur-, Funktions- und Genesezusammenhänge, in die die jeweiligen Phänomene eingebunden sind. Das ist beispielsweise der Fall, wenn wir nicht nur unser altes Geldverständnis (Metallgeld) als Sinnbild für Sprache verwenden, sondern auch unser modernes Geldverständnis (Kreditgeld). Mit einem so umfassenden Analogiebegriff weitet sich natürlich dessen Umfang so aus, dass er ziemlich unübersichtlich wird und damit möglicherweise auch nicht mehr sehr hilfreich für die Analyse konkreter Sinnbilder. Aber gleichwohl dürfen wir diese Ebene des Analogieproblems nicht vergessen, wenn es um Sinnbilder und insbesondere um Sinnbilder für Sprache geht. Wir dürfen uns nicht nur auf sinnlich fassbare Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Phänomenen und Sprache konzentrieren, sondern müssen auch Ähnlichkeitsebenen in Betracht ziehen, die ontologisch eher einer Tiefenstruktur als einer Oberflächenstruktur zuzuordnen sind. Dafür ist es dann auch hilfreich, sich die Analogie als Denkkategorie zu vergegenwärtigen.
2. Die Analogie als Denkkategorie Die Thematisierung der Analogie als Denkkategorie impliziert nicht die These, dass Analogien bloße Denkkonstrukte sind und dass deren Bezüge zum Sein bzw. zur Realität keine große Aufmerksamkeit zu beanspruchen haben. Sie beinhaltet nur die These, dass bei den Überlegungen zur Analogie ihren Subjektbezügen mindestens eine ebenso große Aufmerksamkeit zu schenken ist wie ihren Objektbezügen und dass die Funktionsanalogien zwischen zwei Phänomenen möglicherweise interessanter sind als deren Substanzanalogien. Gleichwohl spielt in diesem Zusammenhang aber der Konstruktionsgedanke im Sinne des Gestaltungsgedankens eine wichtige Rolle, weil Analogien nicht einfach vorgefunden werden, sondern sich auch als Produkte methodischer Denkanstrengungen darstellen, durch die latent vorhandene Ähnlichkeitspotenziale Zug um Zug in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gebracht werden können. Coenen hat diesen operativen Hintergrund der Konstitution von Analogien sehr apart exemplifiziert. Ein fettes Schwein und ein Geizhals hätten auf den ersten Blick allenfalls eine triviale Ähnlichkeit darin, dass beide als Lebewesen eingestuft werden könnten. Eine nicht-triviale, aber durchaus auffindbare Ähn-
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lichkeit zwischen beiden bestünde aber darin, dass beide erst nach ihrem Tode nützlich würden.13 Die Idee, Analogien nicht über den Substanz- und Partizipationsgedanken, sondern über den Funktions- und Operationsgedanken zu ermitteln, macht den Analogiebegriff einerseits unübersichtlicher, aber andererseits auch fruchtbarer, weil er auf diese Weise heuristisch flexibel verwendet werden kann und eben dadurch auch einen Sitz im Leben bekommt. Im Prinzip haben natürlich auf einer bestimmten Abstraktionsebene alle Erfahrungsphänomene immer eine gewisse Ähnlichkeit miteinander, weil sie ja Phänomene derselben Erfahrungswelt sind. Beispielsweise sind Holz und Öl hinsichtlich ihrer molekularen Struktur einander ähnlich oder Mäuse und Walfische hinsichtlich ihrer Fortpflanzungsweise, aber diese Ähnlichkeiten sind für uns kaum dazu dienlich, mit dem einen Phänomen das andere sinnbildlich zu erschließen. Für Sinnbilder sind nur diejenigen Ähnlichkeiten wichtig, die eine pragmatische und damit letztlich eine anthropologische Relevanz für unsere Weltbewältigung haben. Das können dann Ähnlichkeiten ganz unterschiedlichen Typs sein (Struktur, Form, Funktion, Genese, Wertschätzung usw.). Sie müssen nur den heuristischen Zweck erfüllen, über etwas Bekanntes bzw. Übersichtliches etwas Unbekanntes bzw. Unübersichtliches zu erfassen und zu strukturieren. Sie müssen dabei helfen, für das zu erfassende Phänomen einen Interpretationsrahmen herzustellen, Hypothesen über seine Ordnungsstruktur zu entwickeln und es relational in bestimmte Kontexte einzubetten. Analogien müssen zwar eine ontische Plausibilität haben, aber ihren eigentlichen pragmatischen Wert bekommen sie erst durch ihre medialen Erschließungsfunktionen. Das bedeutet, dass das, was in ihnen als ähnlich erfahren oder postuliert wird, in einem hohen Maße von den Lebenserfahrungen und Lebensbedürfnissen der jeweiligen Subjekte abhängt, und dass Analogien nicht nur aus rein feststellenden Denkprozessen hervorgehen, sondern auch aus abstrahierenden, stilisierenden und idealisierenden. Deshalb haben sie im Prinzip sowohl eine heuristische als auch eine selbstaufklärerische Dimension für die Menschen. Über sie können wir nämlich erschließen, was die Verwender von Sinnbildern für wichtig halten, was sie zu akzentuieren versuchen und was sie im individuellen und kulturellen Gedächtnis bewahren möchten. Analogisierungen können uns deswegen auch nicht nur inspirieren, sondern durchaus auch gefangen nehmen. Wir können glauben, sie zu beherrschen, und können dennoch von ihnen beherrscht werden. Kurzum, wir denken zu einfach, wenn wir das Analogieproblem nur ontisch als Seinsproblem sehen und nicht auch ontologisch als Denk-, Interpretations- und Kulturproblem. Wenn wir in dieser Weise die Analogie als Denkkategorie verstehen und Analogisierungsprozesse als Interpretationsprozesse, dann dokumentiert sich im Gebrauch von Analogien sowohl ein Integrations- als auch Sparsamkeits-
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Vgl. H. G. Coenen, Analogie und Metapher, 2002, S. 32.
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prinzip. Es wird nämlich verständlich, warum Analogieangebote für unsere Vorstellungsbildung oft sehr viel wirksamer sind als argumentative Sätze. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass Kant seine weitreichenden Überlegungen zur Umorientierung der Erkenntnistheorie in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft direkt mit der Umorientierung der Astronomie durch Kopernikus analogisiert hat, was ihnen sicherlich eine besonders wirksame Durchschlagskraft verliehen hat (kopernikanische Wende).14 Die Inanspruchnahme von Analogisierungen als genuinen Denkverfahren dokumentiert sich auch in den sogenannten Analogieschlüssen, die in einer bezeichnenden Spannung zu den sogenannten Deduktions- und Induktionsschlüssen stehen. Die Deduktionsschlüsse dienen dazu, vom Allgemeinen auf das Besondere zu schließen. Sie sollen explizit machen, welche Konsequenzen mit den Prämissen verbunden sind, die den jeweiligen Begriffsbildungen und Aussagen zu Grunde liegen. Ihre Ergebnisse werden als zwingend angesehen, da sie durch eine zweiwertige Logik reguliert werden, welche nur die Werte wahr und falsch kennt. Deduktionsschlüsse lassen sich deshalb auch als typische Denkweisen des Rationalismus betrachten. Dagegen können die sogenannten Induktionsschlüsse als typische Denkweisen des Empirismus angesehen werden. Diese sind im Prinzip Wahrscheinlichkeitsschlüsse, insofern aus einer Reihe gleicher Erfahrungen in der Vergangenheit auf eine gleichartige Erfahrung in der Zukunft geschlossen wird. So ist es beispielsweise naheliegend, aber keineswegs zwingend, dass nach der Entnahme von zehn weißen Bohnen aus einem Sack auch die elfte weiß ist. Analogieschlüsse sind nun ebenso wie Induktionsschlüsse im Prinzip hypothetische Wahrscheinlichkeitsschlüsse, die logisch keineswegs zwingend, sondern allenfalls plausibel sind. Sie dienen dazu, von einer Besonderheit auf eine andere zu schließen bzw. eine Besonderheit so zu sehen und zu behandeln wie eine andere. In einer stringenten logischen Argumentation haben sie deshalb eigentlich keinen Platz, aber in unseren alltäglichen Denk- und Mitteilungsprozessen kommen wir ohne sie praktisch gar nicht aus. Sie ermöglichen es nämlich, Kenntnisse aus einem Lebenszusammenhang in einen anderen zu übertragen, welcher von uns entweder als strukturähnlich angesehen wird oder angesehen werden soll. In der Rechtssprechung kommt man deshalb ohne Analogieschlüsse praktisch gar nicht aus. Gesetze, die wiederkehrende Erfahrungsprobleme abstrakt regulieren sollen, müssen immer wieder auf analoge Weise auf Tatbestände angewendet werden, die bei der Formulierung der jeweiligen Gesetze noch nicht bekannt waren. Als man beispielsweise normativ festlegte, dass Diebstahl die unberechtigte Wegnahme einer fremden beweglichen Sache sei, hatte man noch nicht voraussehen können, dass es auch eine unberechtigte Weg-
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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI, Werke, Bd. 3, S. 25.
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nahme von Elektrizität geben könne, die schwerlich als eine fremde bewegliche Sache definiert werden kann. Solange man die Logik auf klassische Weise als Lehre vom Begriff, Satz und Schluss ansieht, solange kann man Analogieschlüsse nicht als zwingend, sondern allenfalls als pragmatisch akzeptabel ansehen. Erst wenn man die Logik als Lehre vom Denken ansieht, fallen auch Analogieschlüsse in das Reich der Logik, weil wir ohne sie im praktischen Leben gar nicht auskommen. Peirce hat sich deshalb im Rahmen seines pragmatischen Denkens auch nicht gescheut, die Analogie dem Reich der Logik zuzuordnen und bei den nicht-deduktiven bzw. erweiternden Schlüssen zwischen Induktion, Hypothese und Analogie zu unterscheiden.15 Analogieschlüsse sind dann allerdings nicht nach den Kriterien von Wahrheit oder Falschheit zu beurteilen, sondern nur nach denen von Plausibilität und Fruchtbarkeit. Von hier aus wird nun auch verständlich, warum der Rationalismus mit seiner Vorliebe für deduktive und analytische Denkverfahren das Analogisieren als ein Denkverfahren angesehen hat, das in den Wissenschaften keine wirkliche Existenzberechtigung hat. Dagegen haben Denkrichtungen, die eher an der Lösung von Problemen als an der Systematisierung von Wissen interessiert waren, Analogien nicht nur wegen ihrer synthetisierenden , integrierenden und heuristischen Kraft toleriert, sondern sogar geschätzt, da ihnen insbesondere bei der Ausarbeitung kreativer Fragen und Konzepte eine konstitutive Rolle zugebilligt werden konnte. Der Gebrauch von Analogien wurde in diesem Denken nicht gleich als ein unwissenschaftliches Gemurmel disqualifiziert, sondern als ein unabdingbares Mittel zur Initiierung neuer Wahrnehmungsverfahren und zur Konkretisierung und Speicherung von Wissen sehr positiv beurteilt. Pascal hat deshalb auch zwischen dem Geist der Geometrie (l’esprit de géometrie) und dem Geist der Geschicklichkeit (l’esprit de finesse) unterschieden und letzteren als ein Urteils- und Sinnbildungsvermögen mit einer ganz besonders lebensdienlichen Funktion qualifiziert, weil durch ihn Entscheidungsverfahren erleichtert und Wahrnehmungsmöglichkeiten erweitert werden könnten.16 Goethe hat betont, dass die Stärke von Analogien primär nicht in ihrer Beweiskraft, sondern in ihrer Anregungskraft liege. „Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft, die immer mehr anregt als gibt.“ 17 Kant hat Analogieschlüsse ebenso wie Induktionsschlüsse als Verfahrensweisen der praktischen Vernunft akzeptiert. Allerdings hat er auch betont, dass Induktions- und Analogieschlüsse keine zwingenden Vernunftschlüsse seien, sondern nur logische Vermutungen, deren Reichweite metareflexiv immer
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Ch. S. Peirce, Collected Papers, 6. 40. B. Pascal, Über Religion, 1987, S. 19 ff. 17 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Werke, Bd. 12, S. 368. 16
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qualifiziert werden müsse.18 Deshalb darf man sie wohl auch dem zurechnen, was Kant dann einen symbolischen Anthropomorphismus genannt hat, „der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht.“19 Das bedeutet, dass er analogisierende Redeweisen nur als medial und heuristisch zu rechtfertigende Redeweisen ansieht, deren sachliche bzw. ontologische Berechtigung ständig zu überprüfen ist. In den Naturwissenschaften ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass die empirische Forschung ohne die Nutzung von Analogien oder Analogiehypothesen gar nicht denkbar sei, weil diese auch dazu dienten, relevante Fragen zu stellen.20 Ohne Modellbildungen, die ja auch eine Form des analogisierenden Denkens darstellen, sind die modernen Wissenschaften gar nicht vorstellbar. Insbesondere im religiösen, politischen und didaktischen Denken hat das analogisierende Denken immer eine große Rolle gespielt, weil transzendente und komplexe Themen und Probleme anders gar nicht zu bewältigen sind. Gleichnisse, Fabeln und Parabeln legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Ein sehr schönes Beispiel dafür, dass analogisierende Redeweisen auch als verdeckte Argumentationsformen verwendet werden können, stellt die Erzählung des Menenius Agrippa über den Magen und die Glieder dar, die eine sehr lebendige Rezeptionsgeschichte gehabt hat.21 In seiner römischen Geschichte berichtet Livius über die Spannungen zwischen den Patriziern und den verarmten Plebejern, die dazu geführt hatten, dass die Plebejer aus dem römischen Staatsverband ausscheiden wollten, um eine neue Stadt zu gründen.22 Um die Plebejer von ihrem Vorhaben abzubringen, schickten die Patrizier Menenius Agrippa zu ihnen. Dieser nahm sich vor, die Plebejer nicht auf argumentative, sondern auf narrative und analogisierende Weise umzustimmen. Er erzählte ihnen deshalb die Geschichte vom Magen und den Gliedern, um ihnen sinnbildlich plausibel zu machen, dass das römische Staatswesen ein Organismus sei, in dem alle Teile wechselseitig aufeinander angewiesen seien. Seine Geschichte hatte zum Inhalt, dass die Glieder sich eines Tages darüber geärgert hätten, den Magen ständig durch ihre Arbeit zu ernähren. Deshalb hätten sie beschlossen, ihn nicht mehr weiter mit Nahrung zu versorgen. Allerdings sei dann doch recht bald offenkundig geworden,
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Vgl. I. Kant, Logik § 84, A 207 ff., Werke, Bd. 6, S. 564. Kritik der Urteilskraft, A 444, Werke, Bd. 10, S. 340. I. Kant, Prolegomena, A. 176, Werke, Bd. 5, S. 233. Vgl. E. Mach, Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung, in: E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, 1926, S. 220–231. K. Lorenz, Analogy as a source of knowledge, Nobelpreisrede 1973, 1974, S. 185–195. R. Riedl, Biologie der Erkenntnis, 19813 , S. 132 ff. M. Eigen / R. Winkler, Das Spiel, 19844, S. 334. P. Kunzmann, Dimensionen von Analogie, 1998. Vgl. R. Dithmar, Die Fabel, 19744, S. 118 ff. D. Peil, Der Streit der Glieder mit dem Magen, 1985 Livius, Römische Geschichte I–III, Bd. II, 32, 19972, S. 231–235.
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dass sie sich auf diese Weise auch selbst erheblich schädigten, weil sie nämlich schon nach kurzer Zeit immer schwächer und schwächer wurden. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass analogisierende Denk- und Redeweisen nicht nur als Ausdrucksformen eines bestimmten Erkenntnisstrebens zu werten sind, sondern auch als Ausdrucksformen eines bestimmten Willens zur Macht. Durch sie lassen sich nämlich unübersichtliche Ordnungszusammenhänge so vereinfachen und typisieren, dass man sie auch besser beherrschen oder zumindest leichter in ihnen leben kann. Die Nutzung von Analogien sind Verfahrensweisen, etwas als etwas zu sehen und eben dadurch dem Denken eine bestimmte Intentionalität zu geben bzw. seine jeweiligen Handlungsspielräume zu vergrößern. Gerade weil der analogisierende bzw. bildliche Sprachgebrauch keine direkten Behauptungen in die Welt setzt, sondern nur auf Ähnlichkeiten aufmerksam macht, kann er auf eine Weise wirksam werden, die der begrifflichen und argumentativen Rede versagt bleibt. Zur Eigenart von Analogien und Bildern gehört, dass sie als Medien eine Mitte zwischen Identitäts- und Differenzvorstellungen halten und eben dadurch unser Denken nachhaltig anzuregen vermögen. Ebenso wie gemalte Trauben ihre Funktion als Bilder verlieren, wenn Vögel tatsächlich daran picken, oder Porträts, wenn sie als bloße Reproduktionen oder gar Verdoppelungen und nicht als Interpretationen von Originalen wahrgenommen werden, so verlieren auch Analogien ihre pragmatischen Funktionen, wenn sie nicht mehr als Aufforderungen wahrgenommen werden, ganz bestimmte Verknüpfungen zu ganz bestimmten heuristischen Zwecken herzustellen. Das Analogisieren ist deshalb als ein Denkverfahren anzusehen, das nicht nur rückwärtsgewandt schon gemachte Erfahrungen wieder aktivieren soll, sondern das auch vorwärtsgewandt neue Erfahrungen machen will. Das Analogisieren ist deswegen auch weniger der Logik des Aussagens, sondern eher der Logik des Fragens und Findens zuzuordnen. Da es beim Herausarbeiten von Analogien letztlich weniger darum geht, Erfahrungsphänomene zu klassifizieren, sondern eher darum, den Umgang mit ihnen fruchtbar zu gestalten, haben Analogien eine konstitutive kulturelle Funktion. Die Berechtigung einer Analogie lässt sich im konkreten Fall natürlich immer wieder in Zweifel ziehen, aber auch dieser Vorgang hat natürlich eine wichtige Erkenntnisfunktion. Es spricht deshalb viel dafür, das analogisierende Denken als eine kognitive Universalie anzusehen bzw. als eine apriorische Voraussetzung für kreatives menschliches Denken. Das Analogisieren ist deshalb auch nicht als ein mehr oder weniger passives Wahrnehmungsgeschehen zu beurteilen, sondern als eine aktive Wahrnehmungsgestaltung mit ganz bestimmten sinnstiftenden Funktionen. Die kognitive Funktion analogisierender Denk- und Sprachformen ist im Kontext der Frage nach dem pragmatischen Wert von Fiktionen seit der Antike in vielfältigen Hinsichten immer wieder diskutiert worden, wobei nicht nur ästhetische, sondern auch logische, begriffliche, wissenschaftliche und juristische Fiktionen im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben. Vaihinger hat den praktischen Zwecken des Als-Ob-Denkens eine umfangreiche Monogra-
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phie gewidmet, in der einerseits davor gewarnt wird, die Hilfskonstruktionen des Denkens als objektive Tatsachen anzusehen, in der andererseits aber auch betont wird, dass wir im Denken immer wieder auf kognitive Hilfsoperationen angewiesen seien, insofern wir es nur über Hypothesen und Widersprüche in Gang halten könnten. Fiktionen würden kein stabiles Wissen fixieren, aber es durchaus erleichtern, mit der Welt und ihren Problemen sinnvoll umzugehen. Das dokumentiere sich beispielsweise sehr gut in der Fiktion der juristischen Person in Analogie zu der Vorstellung einer natürlichen Person.23
3. Die Ambivalenz von Analogien Die Frage nach den kognitiven Funktionen des analogisierenden Denkens und Sprechens ist natürlich auch immer eine Frage nach den Ambivalenzen von Analogien. Da jedes Werkzeug missbraucht werden kann, hat man natürlich auch im Hinblick auf Analogien immer danach zu fragen, ob ihre Vereinfachungsfunktionen nicht all die Gefahren heraufbeschwören, die wir uns mit unserer Vorstellung vom Prokrustesbett vergegenwärtigen können. Wird bei der Nutzung einer Analogie bei den zu erkennenden Phänomenen nicht alles weggeschnitten, was nicht zu der postulierten Analogie passt, bzw. alles so gedehnt, dass es zu ihr passt? Geraten wir bei der Nutzung von Analogien nicht in ein zirkuläres Denken, in dem man nur noch das wahrnimmt, was gut mit der jeweiligen Analogie bzw. mit unserem schon vorhandenen Wissen vereinbar ist? Bacon hat deshalb eindringlich vor einem unkontrollierten analogisierenden Denken gewarnt. „Der menschliche Geist setzt gern eigenthümlich bei den Dingen eine größere Ordnung und Gleichheit voraus, als darin wirklich zu finden ist; und obgleich in der Natur Manches einzeln dasteht und unter einander verschieden ist, dichtet er gern Parallelen und correspondirende Verhältnisse, die nicht vorhanden sind.“ 24
Eher positiv hat Novalis über die Analogie gedacht, als er im Hinblick auf die Wahrnehmung der Geschichte dazu aufforderte, „den Zauberstab der Analogie“ zu gebrauchen.25 Auch der späte Wittgenstein hat sich eher zufrieden und dankbar als kritisch über die Analogie geäußert. „Alles, was mir in den Weg kommt, wird mir zum Bilde dessen, worüber ich noch denke.“ 26 Analogien haben zweifellos eine gewisse Janusköpfigkeit. Einerseits können sie unseren Blick immer auf das uns schon Bekannte zurücklenken, andererseits können sie ihn aber auch auf Unbekanntes und Unbegriffenes vorlen-
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H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, 1911, S. 611 f. F. Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, 1981, S. 34. 25 Novalis, Christenheit oder Europa, Werke, Bd. 2, S. 743. 26 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, S. 492. 24
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ken. Einerseits machen sie uns auf die Objektseite von Wahrnehmungsprozessen aufmerksam sowie auf die Eigenständigkeit und Widerborstigkeit der zu erkennenden Phänomene, aber andererseits machen sie uns auch auf die Subjektseite von Wahrnehmungsprozessen aufmerksam bzw. auf die heuristischen Kräfte im menschlichen Wahrnehmungsvermögen. Einerseits können uns Analogien auf verdeckte Partizipationsverhältnisse aufmerksam machen, andererseits können sie aber auch zu leichtfertigern Projektionen führen. Diese Janusköpfigkeit und Ambivalenz von Analogien hatte wohl auch André Gide im Auge, als er betonte, dass der schärfste Feind des Denkens der „Dämon der Analogie“ sei.27 Bei der Korrelation der Analogie mit der Vorstellung eines Dämons sollte man sich allerdings auch vergegenwärtigen, dass mit dem Terminus Dämon bei den Griechen ursprünglich nur eine unbegreifliche göttliche Macht bezeichnet worden ist, die sich den gewöhnlichen Erfahrungsmöglichkeiten entzog, und dass erst im Christentum mit ihm eine böse Kraft thematisiert wurde. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass Sokrates seine innere Stimme, die ihn davor warnte, Böses zu tun, Daimonion genannt hat. In der klassischen Logik wird die Analogie als Denkfigur und die Metapher als Redefigur tief verabscheut, weil durch beide der Geltungsanspruch ihrer drei Grundaxiome (Axiom der Identität, Axiom des verbotenen Widerspruchs, Axiom des ausgeschlossenen Dritten) in Frage gestellt wird. So relevant diese Axiome für das exakte, argumentative und schlussfolgernde Denken auch sind, so problematisch werden sie, wenn sich das Denken auf Gegenstände richtet, die selbst eine gewisse Vagheit und Fluidität besitzen bzw. die in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich in Erscheinung treten können. Die klassische zweiwertige Logik setzt im Prinzip eine stabile, wenn nicht statische Welt voraus, die feste Klassifikationen erlaubt. Sie gerät immer an ihre Grenzen, wenn es um Denkgegenstände geht, die nicht vollständig überblickt werden können, die sich ständig wandeln, die unscharfe Grenzen haben oder die eng mit immanenten Werturteilen verquickt sind. Immer wenn es in Denkprozessen und sprachlichen Objektivierungsbemühungen um eine erste Grundorientierung gehen soll oder um Sinnbildungsanstrengungen unter bestimmten Vorbehalten, welche über Vorgestalten und Zwischengestalten zu möglichst prägnanten Endgestalten führen sollen, dann muss man zwangsläufig auf die Denkfigur der Analogie in ihren unterschiedlichen sprachlichen Ausprägungsformen zurückgreifen (Mythen, Gleichnisse, Fabeln, Parabeln, Fiktionen, Metaphern usw.). Der Gebrauch von Analogien macht das Denken zwar archaischer und ungenauer, aber in einem gewissen Sinne auch realistischer, weil man auf diese Weise die Komplexität, die Flexibilität und den Aspektreichtum der jeweiligen Denkgegenstände ernst nimmt.
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A. Gide, Journal 1889–1939, 1951, S. 822. „Il n’y a pas pire ennemi de la pensée, que le démon de l’analogie.”
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Die Analogieproblematik
Durch methodische Abstraktionen werden sie nicht so vereinfacht, dass sie mit den normierten Begriffen und den Operationsregeln der klassischen Logik problemlos zu behandeln sind bzw. gut in das Prokrustesbett ihrer jeweiligen Denk- und Begriffsformen passen. Das analogisierende Denken sieht sich einerseits immer dem Vorwurf ausgesetzt, dass es die Standards der Rationalität aufgebe, dass es die Regeln der klassischen Logik nicht respektiere, dass es mit suggestiven Vorstellungen statt mit klaren Begriffen arbeite und dass es zu keinen intersubjektiv überprüfbaren und gültigen Aussagen führe. Andererseits ist das analogisierende Denken aber auch immer wieder als eine spezifische Ausprägungsform von Rationalität gerechtfertigt worden, weil es auch für solche Denkgegenstände intersubjektiv nachvollziehbare sprachliche Artikulations- und Objektivierungsmöglichkeiten zur Verfügung stelle, die das klassische begriffliche Denken aus seinem Operationsgebiet verbannt habe.28 Wittgenstein hat am Ende seines Traktats einen Satz formuliert, dem eine hohe Zitierfrequenz zugewachsen ist. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ 29 Mit diesem Satz will er keine Trivialität mitteilen, sondern darauf aufmerksam machen, dass philosophische Sätze im Sinne von wissenschaftlichen Sätzen nicht über alle Gegenstandsbereiche formuliert werden könnten, sondern nur über solche, die auch wissenschaftlich fassbar und strukturierbar seien. Jenseits dieser Bereiche gibt es aber auch für den frühen Wittgenstein noch vieles, was durchaus zu den wichtigen menschlichen Lebensangelegenheiten gerechnet werden könne, was aber dennoch jenseits jeder wissenschaftlichen Objektivierbarkeit liege. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies z e i g t sich, es ist das Mystische.“30 Dieses Unaussprechliche, das sich nur zeigt, gehört für den frühen Wittgenstein nicht in das Reich des Rationalen, sondern in das Reich des Mystischen, über das sich eben nicht begrifflich, sondern allenfalls metaphorisch und analogisch reden lasse. Diese Denkposition hat der späte Wittgenstein auf eine entscheidende Weise relativiert und revidiert, als er im Zusammenhang mit seinem Sprachspielgedanken das Konzept der Familienähnlichkeit entwickelt hat.31 Mit diesem plädiert er nämlich dafür, die Trennschärfe von wissenschaftlichen Begriffen nicht als einen absoluten Wert anzusehen, weil die Korrespondenz von solchen Begriffen zu Realitätseinheiten durchaus problematisch sei. Stattdessen plädiert er dafür, die Vagheit, Porosität und Flexibilität von Alltagsbegriffen schätzen zu lernen. Mit dem Konzept der Familienähnlichkeit will er darauf aufmerksam machen, welch wichtige Rolle alle Arten von Zwischenglie-
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Vgl. G. Gabriel, Logisches und analogisches Denken, in: A. Burri (Hrsg.), Sprache und Denken, 1997, S. 370–384. K. Gloy, Versuch einer Logik des Analogiedenkens, in: K. Gloy / M. Bachmann (Hrsg.), Das Analogiedenken, 2000, S. 298–323. 29 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 7, 19685, S. 115. 30 L. Wittgenstein, a.a.O., 6. 522, S. 115. 31 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 67, 1967, S. 48.
Die Ambivalenz von Analogien
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dern haben könnten, wenn wir den Zusammenhang zwischen zwei Phänomenen erfassen und verstehen wollten.32 Außerdem will Wittgenstein über das Konzept der Familienähnlichkeit auch darauf aufmerksam machen, dass es zwischen zwei Menschen auf ganz unterschiedlichen Betrachtungsebenen Ähnlichkeiten sehr verschiedenen Typs geben könne (optische Ähnlichkeit, genetische Abstammung, Heirat, gemeinsame Erfahrungen und Handlungsdispositionen, soziale Solidarität usw.). Gerade weil der Familienbegriff für ihn genauso variabel ist wie der Ähnlichkeitsbegriff bietet er ihm die große Chance, auch sehr entfernte Phänomene miteinander in Beziehung zu setzen und eben dadurch auch sehr verborgene Zusammenhänge zwischen ihnen aufzudecken, die das Denken durchaus anregen können. „Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand.“ 33 Die dialektische Pointe des Konzepts der Familienähnlichkeit besteht darin, dass inmitten von faktischen Unähnlichkeiten durch die Nutzung eines bestimmten Kriteriums auch Ähnlichkeiten bzw. Zusammengehörigkeiten ins Auge fallen können, die vorher nicht erkennbar waren, und dass sich vorschnelle Gleichsetzungen ebenso verbieten wie vorschnelle Abtrennungen. Dieses Konzept soll nach Wittgenstein dazu anregen, sich mit der Form und der Intensität von Ähnlichkeiten zu beschäftigen und das Individuelle eines Phänomens aus dem spezifischen Verhältnis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu anderen zu bestimmen. Deshalb hat er auch davor gewarnt, sich vorschnell von Gleichnissen und Bildern gefangen nehmen zu lassen, und stattdessen dafür plädiert, sich von diesen vielmehr anregen zu lassen.34 Wenn man im Hinblick auf Analogien von dem Ambivalenzbegriff Gebrauch macht, so darf man das keineswegs als eine Disqualifizierung ihrer kognitiven Potenziale verstehen, sondern nur als Hinweis darauf, Analogien mit großem Bedacht zu verwenden. Das, was Pascal im Hinblick auf die Einbildungskraft gesagt hat, das gilt sicher auch im Hinblick auf die Analogie. Die Einbildungskraft sei „gerade dadurch so trügerisch…, weil sie es nicht immer ist.“35 Mit Analogien scheint in der Tat immer ein gewisser Ikarus-Effekt verbunden zu sein. Auf ihren Schwingen kann man sich hoch erheben und etwas sehen, was man normalerweise nicht sieht. Aber mit ihnen kann man auch abstürzen, wenn man vergisst, unter welchen Bedingungen man sich mit ihrer Hilfe über die alltägliche oder über die rein begrifflich objektivierte Wahrnehmungswelt erheben kann.
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L. Wittgenstein, a.a.O., § 122, S. 69. L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, S. 451. 34 L. Wittengenstein, Philosophische Untersuchungen, § 112, 115, 1967, S. 67. 35 B. Pascal, Gedanken, o. J., S. 139. 33
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Die Analogieproblematik
4. Die Synthesefunktion von Analogien In der Tradition der aufklärerischen Argumentationskultur verstehen wir Denkprozesse in der Regel als Analyseprozesse, in denen komplexe Gegebenheiten in ihre konstitutiven Elemente zerlegt und nach ihren Verursachungsfaktoren befragt werden. Dem Denken wird demzufolge die Aufgabe zugeordnet, die Tiefenstrukturen von Oberflächenstrukturen aufzuklären. Dabei ziehen wir meist nicht zureichend in Betracht, dass die Grundstruktur von Denkprozessen eigentlich darin besteht, Relationen herzustellen, und dass dafür sowohl Analyse- als auch Syntheseanstrengungen notwendig sind. Eine Reduktion des Denkens auf lineare analytische Denkoperationen wird deshalb dem Aspektreichtum des Denkens nicht ganz gerecht, weil dabei die Synthesefunktionen des Denkens weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Die bisherigen Überlegungen zur Polyfunktionalität und Ambivalenz von Analogien sollten plausibel machen, dass es nicht weiterführt, die Analogien entweder der Welt des Seins oder der Welt des Denkens zuzuordnen. Als heuristische Denkmittel sind sie nämlich dazu bestimmt, beide Welten miteinander zu verbinden und dabei sowohl Analyse- als auch Synthesefunktionen zu erfüllen. Dementsprechend können wir über die Betrachtung von Analogien dann auch sowohl etwas über die Welt erfahren als auch etwas über die Subjekte, die sich eine Bild von der Welt zu machen versuchen. Analogien problematisieren und relativieren die Oppositionsstrukturen, die das begriffliche Denken stark prägen, wie etwa die Opposition von Materie und Geist, von Bild und Begriff, von Form und Inhalt, von Sache und Zeichen, von wahr und falsch, von real und fiktional usw. Sie interessieren sich nämlich primär nicht dafür, was die Phänomene voneinander trennt, sondern dafür, was sie miteinander verbindet. Ihre Existenzberechtigung gewinnen sie im Gegensatz zu Begriffen nicht durch das Ziehen von Grenzen, sondern durch das Suchen nach Brücken. Die folgenden Überlegungen zur Synthesefunktion von Analogien sind natürlich nicht dazu bestimmt, die pragmatische Relevanz des analytischen Denkens und des begrifflichen Sprachgebrauchs in Frage zu stellen, sondern vielmehr darauf ausgerichtet, die komplementären Funktionen des analogischen Denkens und Sprechens zum begrifflichen herauszuarbeiten. Ohne die Synthesefunktion der analogisierenden Denk- und Sprachformen würden unsere verschiedenen Erfahrungs- und Vorstellungswelten in nur additiv verbundene Einzelwelten zerfallen. Während Begriffe tendenziell immer abstraktiv nach Vereinfachungen unserer Erfahrungswelt und nach trennscharfen Abgrenzungen von einzelnen Erfahrungsinhalten streben, suchen Analogien tendenziell immer nach hintergründigen Gemeinsamkeiten im vordergründig Unterschiedlichen. Während Begriffe und das monologische Denken im Prinzip die strategische Beherrschung der Welt erleichtern sollen, befördern Analogien das dialogische Denken und das Streben nach einer integrativen Weltwahrnehmung. Während
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Begriffe Differenzrelationen im Rahmen eines Entweder-oder-Denkens zu akzentuieren versuchen, interessieren sich Analogien für Korrespondenzrelationen im Rahmen eines Sowohl-als-auch-Denkens. Da Peirce im Gegensatz zu de Saussure seinen Zeichenbegriff weniger auf den Konventions-, sondern eher auf den Vermittlungs- und Interpretationsgedanken aufbaut, war er immanent auch immer wieder dazu gezwungen, sich mit der Analyse- und Syntheseproblematik zu beschäftigen. Für die Aufklärung der Struktur des synthetischen Denkens hat er zwei wichtige Konzepte entwickelt, die er terminologisch als Synechismus und als Abduktion bezeichnet hat. Beide Konzepte sollen dazu dienen, Zeichen als polyfunktionale Sinnbildungsmittel besser zu verstehen und plausibel zu machen, warum man die komplexe Funktionalität von Zeichen aus dem Blick verliert, wenn man sie generell einem Exaktheits- und einem Konventionsideal unterwirft. Den Terminus Synechismus hat Peirce dem griechischen Sprachgebrauch entlehnt, wo er ursprünglich die Leistung des Chirurgen thematisierte, voneinander getrennten Teilen wieder Zusammenhalt bzw. Kontinuität zu geben, um eben dadurch ihre Funktionsmöglichkeiten sicherzustellen.36 Sein philosophisch gewendetes Synechismuskonzept will Peirce dementsprechend auch nicht als eine absolute metaphysische Doktrin verstanden wissen, sondern vielmehr als ein regulatives Prinzip der Logik bzw. des Denkens, das den Wert des Kontinuitäts- und Relationsgedankens nachdrücklich gegen alle Formen des dualistischen und abgrenzenden Denkens hervorheben soll.37 Mit diesem Konzept will er vor allem verdeutlichen, dass es nicht weiterführt, Materie und Geist bzw. physische und psychische Phänomene absolut voneinander zu trennen und den Übergängen und Korrelationen zwischen ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Denkposition hat dann insbesondere auch eine zentrale Bedeutsamkeit für seine Vorstellung von der Struktur ikonischer Zeichen. Generell lässt sich sagen, dass Peirce seinen Zeichenbegriff so strukturiert hat, dass er den Vermittlungs- und Interpretationsgedanken im erkenntnistheoretischen Denken stärkt und dass er der Integrations- und Interaktionsproblematik mindestens eine ebenso große Aufmerksamkeit schenkt wie der Abgrenzungs- und Differenzierungsproblematik. Für die Diskussion des Sinnbildproblems ist das Synechismuskonzept insbesondere deswegen von so großer Bedeutung, weil sein Erkenntnisinteresse nachdrücklich darauf abzielt, darauf aufmerksam zu machen, wie sich Einzelphänomene wechselseitig erhellen und dienen können. Gerade weil das sinnbildliche Denken und Sprechen nicht danach strebt, die sensible von der intelligiblen Welt zu trennen, sondern vielmehr danach, beide aufeinander zu beziehen, kann es dann auch als eine Form des synechistischen Denkens verstanden werden. Im Unterschied zu dem mit-
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Ch. S. Peirce, Collected Papers, 7. 567. Ch. S. Peirce, a.a.O., 6. 169; 6. 172–173; 7. 570.
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telalterlichen Konzept von der Analogie des Seins möchte Peirce den Zusammenhang zwischen physischen und geistigen Phänomenen allerdings nicht theologisch und schöpfungstheoretisch fundiert wissen, sondern pragmatisch und wahrnehmungstheoretisch. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass Peirce über den Begriff des Zeicheninterpretanten ausdrücklich hervorgehoben hat, dass es für das Denken eigentlich keine uninterpretierten nackten Basistatsachen geben könne, weil wir im Prinzip alles immer schon in bestimmten Wahrnehmungsperspektiven als etwas erfassen würden. Das impliziert für ihn zugleich, dass dem entstehenden Wissen eigentlich eine größere Aufmerksamkeit zu schenken sei als dem fertigen Wissen, insofern es ein solches eigentlich gar nicht gebe, da jedes Wissen im praktischen Gebrauch immer eine Umstrukturierung erfahre. Mit Hilfe des Abduktionskonzeptes will Peirce auf die spezifische Dynamik aufmerksam machen, durch die das synechistische Denken geprägt wird. Um diese Intention zu verstehen, sind die folgenden Überlegungen vielleicht hilfreich. Für Peirce haben Deduktionsprozesse im Prinzip einen rein analytischen Charakter. Durch sie würden nach den Prinzipien der klassischen Logik nur die Konsequenzen aus den jeweils vorgegebenen Prämissen bzw. Begriffen gezogen. Sie brächten eigentlich keine neuen Einsichten hervor, sondern offenbarten nur, dass Menschen in der Lage seien, die Implikationen ihrer eigenen Hypothesen aufzudecken. In Opposition dazu seien Induktionsprozesse geistige Operationen, bei denen Hypothesen verallgemeinert bzw. der allgemeinen Erfahrungskontrollen unterworfen würden, um eben dadurch zu ermitteln, wie ihr faktischer Anwendungsbereich abzugrenzen sei.38 Im Gegensatz zu Deduktions- und Induktionsprozessen begreift Peirce nun Abduktionsprozesse als genuin produktive Geistestätigkeiten. Durch sie würden nämlich die Denkinhalte und Hypothesen erst hergestellt, die Deduktionsund Induktionsprozesse immer schon benötigten. Die Grundproblematik des Pragmatismus und der Semiotik verdichtet sich deshalb für ihn auch in der Frage nach der Logik der Abduktionen.39 Über Abduktionen würden nämlich die Denkhorizonte erst erzeugt, in denen deduktive und induktive Denkoperationen ihre Gestalt gewinnen könnten. Die Fähigkeit zum abduktiven Denken, die trotz aller möglichen Fehlleistungen doch immer wieder auch sehr fruchtbare Hypothesen hervorbringen könne, ist für Peirce in einer genuinen Einsicht (insight) des Geistes in die natürliche und geistige Welt verankert. Diese Einsicht sei im Prinzip mit dem Instinkte der Tiere vergleichbar und beruhe letztlich auf einer immanenten Affinität des menschlichen Erkenntnisvermögens zum Universum.40
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Ch. S. Peirce, a.a.O., 5. 145; 5. 171; 6. 474. Ch. S. Peirce, a.a.O., 5. 196. 40 Ch. S. Peirce, a.a.O., 5. 47; 5. 145; 5. 171–173. 39
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Der Abduktionsgedanke basiert bei Peirce auf einem Konzept des Bewusstseins, welches dieses als eine Koordinationsstelle für alle Formen geistiger Operationen versteht. Deshalb repräsentiert er sich das Bewusstsein auch im Bilde eines grundlosen Sees, in dem unzählige Vorstellungen in unterschiedlichen Tiefen schwebten und dann je nach ihrer Nähe zur hellen Oberfläche mehr oder weniger klare Konturen gewönnen. In diesem See könnten Vorstellungen emporsteigen und dadurch immer größere Klarheit bekommen oder aber in die Dämmerung der Tiefe absinken und dadurch an Wahrnehmbarkeit verlieren. Einzelne Vorstellungen könnten sich mit anderen zu immer komplexeren Sinngefügen vereinigen oder sich von anderen abgrenzen. Außerdem möchte er berücksichtigt wissen, dass ständig weitere Wahrnehmungsinhalte wie ein kontinuierlicher Regen auf den See des Bewusstseins niedergingen und sich mit den schon in ihm vorhandenen Vorstellungen vereinigten. Über Motivationen und Intentionen wird nach Peirce dann reguliert, was im Bewusstsein jeweils faktisch präsent wird und wie sich Teilvorstellungen zu komplexen Gesamtvorstellungen vereinigen können. Deshalb versteht er das Bewusstsein im Prinzip auch nicht bloß als einen Speicher- und Vergegenwärtigungsraum für schon gegebene Vorstellungsinhalte, sondern weit darüber hinaus als ein Wirkungsfeld für kreative bzw. abduktive Sinnbildungsoperationen. Das bedeutet, dass sich für Peirce die konkreten Vorstellungsinhalte erst durch geistige Aktivitäten herausbilden und dass sich eben durch diesen Prozess auch das Bewusstsein erst als solches konstituiert. Infolgedessen unterscheidet er dann auch drei konstitutive Bewusstseinselemente: Gefühle, Bestrebungen und Vorstellungen (feelings, efforts, notions).41 Diese Überlegungen von Peirce sind hilfreich, um sich von der traditionellen rhetorischen Vorstellung zu lösen, sinnbildliche Denk- und Redeweisen hätten nur eine ornamentale Qualität. Die Fähigkeit zur Abduktion bzw. zur Analogiebildung hat sicher eine lange evolutionäre Vorgeschichte. Derjenige, der analogisch wahrnehmen und denken konnte, war neuen Lebenssituationen nicht mehr hilflos ausgesetzt, sondern konnte mit Hilfe von vorangegangenen ähnlichen Erfahrungen und von Analogieschlüssen besser mit ihnen fertig werden als derjenige, der sich nicht auf diese Weise weiter helfen konnte. Komplexe Sachverhalte ließen sich über biomorphe oder soziomorphe Modelle übersichtlich strukturieren und vereinfachen, was natürlich Selektionsvorteile gegenüber denjenigen brachte, die solche Fähigkeiten nicht ins Spiel bringen konnten. Das schließt dann natürlich nicht aus, dass die Fähigkeit zum analogisierenden Denken sich auch als reine Spielfähigkeit sublimieren und verselbständigen konnte und dass es auch auf diesem Wege dann wieder befruchtend auf das allgemeine Denken zurückzuwirken vermochte. Analogien lassen sich nicht sehr gut als tragende Fundamente für große Theoriegebäude verwenden, weil man ihre inhaltlichen Reichweiten nicht
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Ch. S. Peirce, a.a.O., 7. 580.
Die Analogieproblematik
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genau fixieren kann. Sie gleichen eher Kugeln als Würfeln, weil schon leichte Impulse von außen genügen, um ihnen eine ganz andere Position bzw. einen ganz anderen Stellenwert in unseren Vorstellungsräumen zu geben. Als Gedankenexperimente haben Analogiebildungen allerdings einen ganz spezifischen Erkenntniswert, denn „durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Wild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann.“ 42 Aufschlussreich ist auch, dass der Witz als Exempel für ein besonderes geistiges Denkvermögen immer wieder mit dem Phänomen der Entdeckung von Ähnlichkeiten in Verbindung gebracht worden ist. Herder hat postuliert: „Scharfsinn sondert und Witz verbindet, damit eben ein helles wichtiges Eins wird.“ 43 Jean Paul hat Witz, Scharfsinn und Tiefsinn folgendermaßen voneinander abgegrenzt: „Der Witz, aber nur im engern Sinn, findet das Verhältnis der Ähnlichkeit, d.h. teilweise Gleichheit, unter größere Ungleichheit versteckt; der Scharfsinn findet das Verhältnis der Unähnlichkeit, d.h. teilweise Ungleichheit, unter größere Gleichheit verborgen; der Tiefsinn findet trotz allem Scheine gänzliche Gleichheit. (Gänzliche Ungleichheit ist ein Widerspruch und also undenkbar.)“ 44
Der Witz ist deshalb für Jean Paul auch „der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert“, wenn auch „mit verschiedenen Trauformeln.“ 45 Die Möglichkeit, über kreative bzw. abduktive Denkverfahren Erkenntnis zu gewinnen, ist im Grunde schon von Platon als eigentliche Leistung philosophischen Denkens beschrieben worden. In dem erkenntnistheoretischen Diskurs des Siebenten Briefes hat er im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur schriftlichen Fixierung von Wissen betont, dass sich das eigentliche philosophische Wissen nicht in Form von Lehrsätzen objektivieren und vermitteln lasse. Es erzeuge sich vielmehr nach einer intensiven Beschäftigung mit den jeweiligen Denkgegenständen „wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele.“ 46 Es ist sicher kein Zufall, dass Platon hier einen sehr komplexen Problemzusammenhang in einer bildlichen Redeweise beschreibt, da er in einer begrifflichen wohl kaum besser objektiviert und vermittelt werden könnte. Typisch und nicht minder verständlich ist auch, dass die synthetisierenden Funktionen von Analogien immer wieder mit erotischen Vorstellungen in Verbindung gebracht worden sind. Die Spannweite der dadurch aktivierten Assoziationen reicht dabei von substanzorientierten Vorstellungen über eine ursprüngliche innere Zusammengehörigkeit von zwei Phänomenen bis zu
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II, 2005, S. 286, J. 1550. J. G. Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 8, S. 196, vgl. auch S. 321. 44 J. Paul, Vorschule der Ästhetik, § 43, Werke, Bd. 9, S. 171 f. 45 J. Paul, a.a.O., § 44, S. 173. 46 Platon, Siebenter Brief, 441 c–d, Werke, Bd. 1, S. 317. 43
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funktionsorientierten Vorstellungen, dass sich aus der Verbindung ähnlicher Teilgrößen neue Größen ergeben, die mehr sind als die Summe ihrer jeweiligen Teile. In diesem Zusammenhang kann man dann auch auf den platonischen Mythos vom Kugelmenschen verweisen. Nach diesem Mythos gab es ursprünglich nur eine einzige Ausprägung des Menschen, eben den Kugelmenschen, der sowohl das männliche als auch weibliche Geschlecht in sich vereinte. Wegen des Übermuts, der aus dieser Vollkommenheit resultierte, wurde der Kugelmensch dann aber von Zeus in Mann und Frau aufgeteilt. Das hatte zur Folge, dass die so entstandenen Teilmenschen nun ständig nach ihrer abgespaltenen Hälfte suchten, um ihre ursprüngliche Ganzheit wiederherzustellen.47 Wenn man das Analogieproblem im Kontext dieses Mythos betrachtet, dann lassen sich die Teilgrößen eines Analogieverhältnisses als ergänzungsbedürftige Teilvorstellungen verstehen, die erst durch ihre Zusammenführung ihre spezifische Charakteristik, wenn nicht Natur bekommen. Anders ausgedrückt: Keine der beiden in der Analogievorstellung zusammengeführten Größen ist aus sich heraus ganz verständlich. Beide gewinnen ihre Eigenart erst durch die Relation zu der jeweils anderen Größe. In diesem Zusammenhang ist dann auch interessant, dass in der Evolutionstheorie die Differenzierung von Geschlechtern bei Lebewesen als eine Chance begriffen wird, vielfältige neuartige Synthesen aus einem schon gegebenen Genmaterial zu bilden. Dadurch können dann bestimmte Nachkommen einer Art bessere Überlebensmöglichkeiten bekommen, falls sich die ursprünglich gegebenen Umwelt- und Lebensbedingungen ändern. Solange man Analogien und Metaphern als Phänomene versteht, durch die nur vorgegebene Ähnlichkeits- oder Verwandtschaftsverhältnisse bzw. ein vorgegebenes Drittes (tertium comparationis) aufgedeckt werden, solange kann man das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Größen eines Analogieverhältnisses auch ganz gut als ein erotisches Attraktionsverhältnis im Sinne des Mythos vom Kugelmenschen veranschaulichen. Diese Lage ändert sich allerdings, wenn man Analogien versuchsweise zu abduktiven bzw. heuristischen Zwecken postuliert, um potenziell vorhandenes Wild für einen neuen Erkenntnisbraten aufzuschrecken. Unter diesen Umständen tritt das erotische Spannungsverhältnis zwischen den Teilgrößen der Analogie eher als Folge einer geistigen Experimentierlust in Erscheinung. Durch den Zauberstab der Analogie wird dann weniger das zusammengeführt, was ursprünglich immer schon zusammengehört hat, sondern eher das, was ursprünglich zu ganz verschiedenen Welten gehört hat bzw. in ganz verschiedene Geschichten verstrickt war, was aber dennoch irgendwie auch dazu animiert, unter bestimmten Trauformeln miteinander verbunden zu werden, um zu erproben, welche Kinder aus dieser Kopulation hervorgehen können. Nelson Goodman hat dieser
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Platon, Symposion, 189 c ff., Werke, Bd. 2, S. 221.
Die Analogieproblematik
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Form von erotischer Spannung im Hinblick auf Metaphern auf eine sehr aparte Weise bildlich Ausdruck gegeben. „Kurz gesagt, eine Metapher ist eine Affaire zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und einem Objekt, das sich unter Protest hingibt…Wo eine Metapher ist, da gibt es Konflikte…Eine Metapher bedarf sowohl der Anziehungskraft als auch des Widerstands – eigentlich einer Anziehungskraft, die den Widerstand überwindet.“48
Im Vergleich mit dieser bildlichen bzw. analogisierenden Ausdrucksweise wirkt die begriffliche Thematisierung der Metapher als widersprüchliche Prädikation oder als kalkulierter Kategorienfehler recht dröge. Goodmans Charakterisierung der Metapher als „eine glückliche und neue Kraft schenkende, wenn auch bigamieverdächtige Wiederverheiratung“ von Kandidaten mit einer je eigenen Lebensgeschichte wird da wohl eher im Gedächtnis hängen bleiben.49 In Bezug auf die heuristische Kraft von Analogien lässt sich auch an eine Maxime von Lichtenberg erinnern. „Man muß etwas Neues machen um etwas Neues zu Sehen.“50 Auch Nietzsche hat ausdrücklich betont, dass der tätige Intellekt sich keineswegs immer durch Begriffe leiten lasse, sondern auch durch Intuitionen und durch Handlungsentschlüsse. „Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, daß er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht und daß er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen führt kein regelmäßiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.“51
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N. Goodman, Sprachen der Kunst, 1973, S. 79. N. Goodman, a.a.O., S. 82. 50 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II,, 2005, S. 321, J 1770. 51 F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Werke, Bd. 3, S. 321. 49
VI
Die Sinnbildproblematik
In den bisherigen Überlegungen sind die Termini Sinnbild und Metapher weitgehend als synonyme Begriffsbezeichnungen verwendet worden. Das lässt sich insofern auch ganz gut rechtfertigen, da beide Termini gerade in Opposition zum Gebrauch des Terminus Begriff semantisch und pragmatisch als weitgehend deckungsgleich angesehen werden können. Gemeinsam ist den mit Sinnbild und Metapher benannten Begriffsbildungen, dass sie einen bildlichen Sprachgebrauch bezeichnen, dass sie eine spezifische semantische Unschärfe besitzen, dass ihnen eine hohe Kontextsensitivität eigen ist, dass sie ähnliche kognitive und kommunikative Funktionen erfüllen, dass sie uns in hermeneutische Probleme verwickeln und dass sie gut mit einem ästhetischen bzw. sinnintensiven Sprachgebrauch in Verbindung zu bringen sind. Außerdem lässt sich darauf verweisen, dass Sinnbilder und Metaphern morphologisch gesehen eigentlich nicht mit einzelnen Wörtern identifiziert werden können, sondern allenfalls mit Wörtern, die in ungewöhnliche syntaktische Korrelationen bzw. in ungewöhnliche Kontexte eingebettet sind. Das legt nahe, beide morphologisch auch als spezifische syntaktische Kombinationsmuster anzusehen. Der Terminus und Begriff Sinnbild hat sich im deutschen Sprachgebrauch erst Anfang des 19. Jahrhunderts auf Vorschlag A. W. Schlegels durchgesetzt, und zwar als Ersatz für den Terminus Emblem. Dieses Wort griechischer Herkunft bedeutete ursprünglich soviel wie das Eingesetzte, ganz ähnlich wie das Wort Metapher ursprünglich soviel wie das Übertragene bedeutete. Es wurde verwendet, wenn es darum ging, sich abstrakte Sachverhalte mittels der Bezeichnung bzw. der Vorstellung von bestimmten sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungsgegenständen ins Bewusstsein zu rufen.1 Semiotisch gesehen lässt sich ein Emblem also als ein Zeichen klassifizieren, dass einen ikonisch zu verstehenden Zeichenträger hat. Das bedeutet, dass der Terminus Sinnbild mehr oder weniger als Bezeichnung für eine Begriffbildung verstanden werden kann, die im Deutschen traditionell auch durch die Termini Symbol, Metapher oder Bild benannt werden kann und die außerdem auch eine große semantische Nähe zu all dem hat, was mit dem Terminus Allegorie bezeichnet wird. Vor diesem sprach- und kulturgeschichtlichen Hintergrund lassen sich Sinnbilder im Prinzip als spezifische Realisationsformen des übergeordneten Begriffs Metapher verstehen. Die Besonderheit von Sinnbildern besteht dabei
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Vgl. B. Asmuth, Bild, Bildlichkeit, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, 1994, Sp. 19. S. Mödersheim, Emblem, Emblematik, a.a.O., Sp.1098.
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Die Sinnbildproblematik
darin, dass bei ihrer sprachlichen Konkretisierung in der Regel Substantive eine konstitutive Rolle spielen, während bei der sprachlichen Konkretisierung von Metaphern auch Adjektive und Verben im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen können. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass Sinnbilder ebenso wie Metaphern sprachlich nicht als einzelne Wörter in Erscheinung treten, sondern eigentlich als besondere Korrelationsphänomene sprachlicher bzw. kontextueller Art. Die Besonderheit von Sinnbildern besteht dabei darin, dass bei ihnen Sachvorstellungen als Erläuterungsvorstellungen bzw. als Bildspender herangezogen werden, die von uns in der Regel mittels Substantiven und nicht mittels Adjektiven oder Verben objektiviert werden. Die Bestimmung von Sinnbildern als spezifischen Erscheinungsweisen von Metaphern legt es nahe, sich zunächst etwas näher mit den allgemeinen Strukturmerkmalen von Metaphern bzw. mit ihren theoretischen Erfassungsmöglichkeiten zu beschäftigen, bevor man sein Augenmerk auf die Strukturbesonderheiten von Sinnbildern richtet. Dann lässt sich auch besser abschätzen, welche Stärken und Schwächen die Sinnbilder haben, die im Laufe der Kulturgeschichte für das Phänomen Sprache entwickelt und genutzt worden sind.
1. Die Strukturmerkmale von Metaphern und Sinnbildern Lange Zeit galt es als ziemlich selbstverständlich, Metaphern morphologisch als Einzelwörter anzusehen, die auf uneigentliche Weise gebraucht werden und die im Prinzip als Ersatzwörter für eigentlich zu verwendende Wörter dienen. Als Kriterium für die Wahl solcher Ersatzwörter griff man auf die Vorstellung zurück, dass es in dem Bedeutungsspektrum der Ersatzwörter und dem der eigentlich zu verwendenden Wörter ein semantisches Überschneidungsfeld (tertium comparationis) gibt, das es ermöglicht, das eine Wort auf ornamentale Weise an Stelle eines anderen zu verwenden. Ein solches Verständnis von Metaphern war natürlich solange immer recht plausibel, wie man es für ausgemacht hielt, dass Kosmos und Logos, Welt und Sprache bzw. Sachverhalte und Begriffe im Prinzip deckungsgleiche Systemordnungen seien, in denen jede Einheit aus dem einen System mit einer Einheit aus dem anderen korrespondierte. Unter diesen Umständen konnte man die Sprache auch leicht als ein direktes Abbildungsmittel für die Welt verstehen und musste sie nicht als ein heuristisches Erschließungsmittel ansehen, dem man immer nur ein vorläufiges Vertrauen schenken durfte. Angesichts dieser Denkprämissen lag es dann natürlich auch nahe, Metaphern als rein ornamentale Stilmittel zu betrachten, die man spielerisch nutzen durfte, um bestimmte sprachliche Objektivierungen als weniger trivial erscheinen zu lassen. Unter diesen Umständen konnte man Metaphern außerdem leicht als sprachliche Ersatzformen klassifizieren, die sich im Rahmen der sogenannten Substitutionstheorie erfassen und beschreiben ließen. Ein solches Metaphernverständnis ist von der Antike bis in die Gegenwart aktuell gewe-
Die Strukturmerkmale von Metaphern und Sinnbildern
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sen. Noch in der sogenannten Abweichungsstilistik hat man auf dieses Denkmodell zurückgegriffen, ohne sich die Frage zu stellen, welche kognitiven Gründe eigentlich dafür maßgeblich sind, Wörter bzw. Begriffe auf eine unübliche Weise zu verwenden. Als sich nach und nach sowohl im ontologischen als auch im sprachtheoretischen Denken grundsätzlich die Auffassung durchsetzte, dass Welt und Sprache nicht als symmetrische, sondern allenfalls als ähnliche oder miteinander interagierende Systeme anzusehen seien, war das Substitutionsmodell als Erklärungsmodell im Prinzip erledigt. Metaphern und Sinnbilder ließen sich nun nicht länger als ornamentale Ersatzwörter ansehen, sondern mussten als Sprachmuster wahrgenommen werden, in denen der Relations- bzw. Interpretationsgedanke eine zentrale Strukturierungsrolle spielte und bei denen deshalb auch ontologischen und syntaktischen Beziehungen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken war. Für das Metaphernproblem wurden jetzt Denkmodelle anderer Art entwickelt, die den Relationsgedanken in unterschiedlichen Ausprägungsformen in den Mittelpunkt des Interesses stellten. Diese sollen hier im Kontrast zu dem traditionellen Substitutionsmodell kurz unter den Stichwörtern Prädikations-, Projektions-, Interaktions- und Verstrickungsmodell diskutiert werden, weil sie auch recht aufschlussreich für die Analyse der Sinnbildproblematik sind.
Das Prädikationsmodell Im Prädikationsmodell wird die Metapher als eine Sprachform angesehen, die formal aus der ungewöhnlichen Kombination von mindestens zwei Wörtern zu einer neuen Spracheinheit resultiert. Wegen dieser Korrelationsstruktur ist sie deshalb auch morphologisch als kleines Stück Text und sprachlogisch bzw. grammatisch als widersprüchliche Prädikation gekennzeichnet worden.2 Diese Klassifikation wird insbesondere dann sprechend und plausibel, wenn man eine Prädikation bzw. eine Aussage logisch als eine Determinationsrelation versteht, in der es einen zu determinierenden Gegenstandsbegriff gibt, der durch einen determinierenden Bestimmungsbegriff näher qualifiziert wird. Solche Determinationsrelationen lassen sich sprachlich auf unterschiedliche Weise realisieren. In expliziter Form kann eine Prädikation dadurch in Erscheinung treten, dass ein grammatisches Subjekt direkt durch ein grammatisches Prädikat näher determiniert wird. In impliziter Form kann sie sprachlich auf indirekte Weise dadurch realisiert werden, dass ein Gegenstandsbegriff durch ein Attribut, ein Verb, ein Objekt oder ein Adverbial näher determiniert wird bzw. das Grundwort eines Kompositums durch ein Bestimmungswort.
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Vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 308, 319. Vgl. auch W. Köller, Semiotik und Metapher, 1975, S. 170 ff.
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Die Sinnbildproblematik
Das Eigentümliche von expliziten und impliziten metaphorischen Prädikationen im Vergleich mit üblichen Prädikationen ist nun, dass die jeweiligen Bestimmungsgrößen semantisch bzw. ontologisch eigentlich nicht zu den jeweiligen Grundgrößen passen. Sie können diese daher auch nicht auf logisch korrekte Weise näher bestimmen, weil sie kategorial ja zu ganz unterschiedlichen Welten gehören (Die Steine schweigen; die scharfe Zunge, farbig reden, ein Buch verschlingen, Sprachsalat). Deshalb sind dann auch Metaphern sprachlogisch als widersprüchliche Prädikationen, als semantische Anomalien oder gar als kalkulierte Absurditäten klassifiziert worden. Das Wunder von Metaphern wurde demzufolge darin gesehen, dass ihnen trotz ihrer massiven Verstöße gegen ontologische Grundannahmen und sprachliche Konventionen dennoch ganz spezifische kognitive, heuristische und kommunikative Leistungsfähigkeiten zugebilligt werden konnten, was sprachtheoretisch natürlich nicht leicht zu erklären war. Ganz ähnlich wie Metaphern können auch Sinnbilder sprachlich als ungewöhnliche Determinationen bzw. als widersprüchliche Prädikationen in Erscheinung treten (Die Sprache ist ein Gefängnis). Von Sinnbildern wird man aber außerdem sicherlich auch dann sprechen können, wenn ein Phänomen lediglich vergleichend auf ein anderes bezogen wird (Die Sprache ähnelt einem Gefängnis.). Auf jeden Fall ist bei Sinnbildern die Grundstruktur anzunehmen, dass ein substantivisch objektiviertes abstraktes oder komplexes Phänomen durch ein anderes substantivisch objektiviertes, aber sinnlich gut vorstellbares Phänomen erläutert bzw. näher bestimmt wird. Bei Sinnbildern werden wir ganz ähnlich wie bei Metaphern dazu aufgefordert, etwas durch die Brille bzw. im Raster von etwas anderem wahrzunehmen, wenn auch meist in einer etwas abgemilderten Form als bei Metaphern, da die jeweiligen Determinationsrelationen bei Sinnbildern eher auf analogisierende als auf identifizierende Weise in Erscheinung treten. In diesem Zusammenhang ist außerdem zu berücksichtigen, dass bei Sinnbildern substantivisch objektivierbare Erläuterungsvorstellungen sprachlich nicht immer direkt in Erscheinung treten müssen. Sie können auch indirekt fassbar werden. Wenn etwa von einer gewundener Sprache, von einer giftigen Bemerkungen oder von einem sprachlichen Biss die Rede ist, dann können wir das nicht nur als metaphorische, sondern auch als sinnbildliche Redeweisen verstehen, insofern durch sie indirekt die Vorstellung einer Schlange evoziert wird, die dann als Sinnbild für Sprache wirksam wird. Die Tendenz von Sinnbildern, in einem noch höherem Maße als Metaphern das vergleichende Denken zu aktivieren, impliziert nicht, dass Sinnbilder prinzipiell leichter und problemloser als Metaphern zu verstehen sind, weil sie nicht immer so massiv und offensichtlich gegen etablierte Denk- und Sprachkonventionen verstoßen. Die Wahrnehmung des Analogiepotenzials einer sinnlich fassbaren Vorstellungsgröße für eine sinnlich nicht so gut fassliche Größe kann ein schwieriges und zuweilen auch unabschließbares Geschäft werden, weil wir dabei in der Regel ein ziemlich umfassendes Weltwissen zu aktivieren haben. Die kognitiven Herausforderungen von sinnbildlichen Re-
Die Strukturmerkmale von Metaphern und Sinnbildern
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deweisen können sehr hoch sein, weshalb sich ihr Sinngehalt ebenso wie der von Metaphern meist nicht durch eine eigentliche Redeweise ersetzen lässt. Zu beachten ist weiterhin, dass der sinnbildliche Sprachgebrauch nicht ganz so leicht wie der metaphorische zu einem konventionellen Sprachgebrauch im Sinne von toten Metaphern werden kann, da das Bewusstsein für die kategoriale Differenz zwischen der zu erläuternden Sachgröße und der erläuternden Erfahrungsgröße bzw. zwischen dem Bildempfänger und dem Bildspender in der Regel immer recht lebendig bleibt. Das erklärt sich zum Teil auch dadurch, dass bei Substantiven die jeweiligen Referenzbereiche in der Regel klarer auseinandergehalten werden als bei Verben und Adjektiven. Das Prädikationsmodell legt beim Verstehen von Metaphern und Sinnbildern natürlich ganz andere Denkoperationen nahe als das traditionelle Substitutionsmodell, weil die Korrelationsbeziehungen zwischen den jeweils beteiligten Vorstellungsgrößen ganz anders akzentuiert werden. Die spezifischen Verstehensprobleme bei Metaphern und Sinnbildern lassen sich diesbezüglich auch noch durch andere Modellvorstellungen erläutern, die wie schon erwähnt durch die Stichwörter Projektion, Interaktion und Verstrickung angedeutet werden können.
Das Projektionsmodell Das Projektionsmodell für die Erläuterung bildlicher Redeweisen geht auf Karl Bühler zurück.3 Er hat betont, dass in metaphorischen Redeweisen zwei kategorial unterschiedliche Einzelvorstellungen bzw. „Begriffssphären“ aufeinander projiziert würden, die man üblicherweise kategorial klar auseinander hielte (Salonlöwe). Bei solchen Projektionen komme es zu einer Sphärenmischung, deren Besonderheit darin liege, dass dadurch ein neues Vorstellungsbild entstehe, insofern es auf eine nicht vorab berechenbare Weise zur Verstärkung, Auslöschung und Veränderung von Merkmalen der jeweils aufeinander projizierten Vorstellungsgrößen komme. Auf diese Weise bilde sich eine neue Vorstellungsgestalt heraus, die sich nicht logisch stringent aus den jeweils aufeinander projizierten Teilen ableiten lasse. Diese neue Vorstellungsgestalt sei einerseits im Sinne der Gestaltpsychologie mehr als die Addition der verbundenen Teilvorstellungen (Übersummativität), da faktisch ja eine neue Sinngröße entstehe, aber andererseits auch weniger (Untersummativität), da ja nur bestimmte Einzelaspekte der jeweiligen Teilvorstellungen aktuell in Erscheinung träten. Deswegen lasse sich das Verstehen von Metaphern auch prinzipiell nicht als ein bloßer Dekodierungsprozess beschreiben. Das metaphorische Verstehen müsse vielmehr als ein Sinnbildungsprozess qualifiziert werden, der den kognitiven Anstrengungen bei der Lösung von Rätseln ent-
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K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 348 ff.
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Die Sinnbildproblematik
spreche. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Projektionsmodell hat das semantische Überblendungsmodell (blending) von Fouconnier und Turner, nach dem es bei Metaphern zur Integration unterschiedlicher mentaler Vorstellungsbereiche (mental spaces) komme, wodurch dann wiederum neue Vorstellungsräume entstehen könnten.4 Der Syntheseanspruch, der mit dem Projektionsgedanken immer verbunden ist, kann dazu führen, dass im Verstehensprozess von Metaphern die jeweiligen Teilvorstellungen ganz verschwinden und eine neue autonome Sachvorstellung entsteht, die dann als stabiles Begriffsmuster in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeht, was wohl bei dem Kompositum Salonlöwe der Fall ist. Durch die jeweiligen Syntheseprozesse können sich auf diese Weise neue Begriffe in der Sprache etablieren, deren ursprünglicher metaphorischer Hintergrund sich dann erst durch metasprachliche Reflexionen erschließt. Sinnbilder bleiben von solchen Amalgamierungsprozessen zwar stärker als Metaphern verschont, aber durch einen häufigen Gebrauch können auch Sinnbilder durchaus selbstverständlich, wenn nicht trivial werden. Die kreativen Sinnbildungsleistungen von Metaphern, die Bühler mit Hilfe des Projektionsgedankens herauszuarbeiten versucht, hat Jean Paul bildlich als „Brotverwandlungen des Geistes“ bezeichnet. Wie Bühler weiß auch er, dass durch den häufigen Gebrauch metaphorischer Prädikationen die kategoriale Differenz zwischen den jeweils aufeinander projizierten Teilvorstellungen immer mehr verblassen kann. Das kann dann natürlich dazu führen, dass nach und nach die verwendeten Einzelwörter eine ganz andere Begriffsstruktur bekommen. Deshalb spricht Jean Paul auch davon, dass „ jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern“ sei.5
Das Interaktionsmodell Das Interaktionsmodell akzentuiert die Korrelationen zwischen den Teilelementen bei Metaphern und Sinnbildern auf noch dynamischere Weise als das Prädikations- und Projektionsmodell. Es ist insbesondere bestrebt, die wechselseitige Prägekraft der Teilvorstellungen aufeinander herauszuarbeiten. Außerdem ist bei dieser Modellvorstellung zu berücksichtigen, dass der wechselseitige Einwirkungsprozess kein natürliches, sondern immer nur ein methodisches Ende finden kann. Die jeweiligen Interaktionsprozesse können sich nämlich ständig fortzeugen, weil sich in ihnen nicht nur die verblassten semantischen Potenziale von Wörtern reanimieren lassen, sondern weil in sie auch ständig neue Erfahrungen bzw. neues Wissen einfließen können.
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G. Fauconnier / M. Turner, Conceptual integration networks, in: D. Geeraerts (ed.), Cognitive linguistics: Basic readings, 2006, S. 303–371. 5 J. Paul, Vorschule der Ästhetik, § 49, 50, Werke, Bd. 9, S. 184.
Die Strukturmerkmale von Metaphern und Sinnbildern
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Die Interaktionsvorstellung ist insbesondere von Richards und Black in die Metapherndiskussion eingebracht worden.6 Sie arbeiten mit der Idee einer Kopräsenz von zwei Einzelvorstellungen, die aus dem spezifischen Sprach-, Welt- oder Situationswissen der jeweiligen Sprachbenutzer abgeleitet werden. Diese Einzelvorstellungen ließen sich interaktiv so miteinander verschränken, dass dadurch ein komplexer Vorstellungszusammenhang erzeugt werde, dem auf andere Weise keine äquivalente sprachliche Objektivierungsform gegeben werden könne. Bei der Entfaltung ihrer Interaktionsidee haben sich beide zunächst noch in einem Denkrahmen bewegt, der stark an das Projektionsmodell erinnert, insofern sie von einer Grundvorstellung und einer Erläuterungsvorstellung sprechen bzw. von einem Denkgegenstand und einem Filter, welcher den Blick auf diesen vorstrukturiere. Der Gedanke der Wechselprägung bzw. der Rückprägung tritt erst deutlicher hervor, als Black in einer späteren Veröffentlichung auch die Verwender von Metaphern stärker in seine Überlegungen einbezieht und nun auch von der Emphase und der Resonanz der Teile einer Metapher spricht, die jeweils stärker oder schwächer ausfallen könnten.7 Das Interaktionspotenzial zwischen den Teilen von Metaphern und Sinnbildern wird besonders gut fassbar, wenn man diese, wie schon erwähnt, mit erotischen Vorstellungen in Verbindung bringt und wie Goodman von einer Affäre zwischen zwei Einzelphänomenen spricht bzw. von einer „bigamieverdächtigen Wiederverheiratung.“8 In diesem Denkhorizont tritt nicht nur die Vorstellung einer Prägung und Rückprägung der Einzelteile stark in den Vordergrund, sondern auch der Gedanke, dass durch das Interagieren von Teilen etwas qualitativ Neues entsteht. Auf diese Weise transformiert sich dann die Vorstellung einer Determination oder Projektion zwischen zwei Einzelgrößen zu der Vorstellung einer kreativen Neuschöpfung.
Das Verstrickungsmodell Das Verstrickungsmodell ist bisher noch nicht explizit für die Diskussion und Klärung des Metaphernproblems genutzt worden, obwohl es eine erhebliche Erklärungskraft hat und als Rahmenkonzept die einzelnen Erläuterungsfunktionen des Substitutions-, Prädikations-, Projektions- und Interaktionsmodells in sich integrieren kann. Mit seiner Hilfe lassen sich auf ausgesprochen dialektisch-dynamische Weise die Vermittlungsfunktionen von Metaphern und Sinnbildern als Leistungen beschreiben, die auf der Störung von etablierten Wahrnehmungsweisen und deren anschließender Neuordnung beruhen. Terminolo-
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Vgl. I. A. Richards, Die Metapher, in: A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher, 1983, S. 31–52. M. Black, Die Metapher, a.a.O., S. 55–79. 7 M. Black, Mehr über die Metapher, in: A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher, 1983, S. 388. 8 N. Goodman, Sprachen der Kunst, 1973, S. 82.
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Die Sinnbildproblematik
gisch und wissenschaftsgeschichtlich lässt sich dieses Denkmodell auf den Phänomenologen Wilhelm Schapp zurückführen, der sich um die Entwicklung eines Denkkonzeptes bemüht hat, mit dem komplexe und für Menschen lebensgeschichtlich wichtige Phänomene strukturiert werden können. Dabei hat er allerdings nicht direkt an die Metaphernproblematik gedacht, sondern eher an die Bedeutungsproblematik bei sprachlichen Formen im Allgemeinen. Die Vorstellung der Verstrickung hat Schapp entwickelt, um anthropologisch wichtige Phänomene nicht nur als Seins-Dinge, sondern auch als WozuDinge zu thematisieren. Er glaubt, dass sich das am besten bewerkstelligen lasse, wenn man sich die möglichen Erfahrungsphänomene nicht isoliert vorstelle, sondern als Phänomene, die in Geschichten verstrickt seien bzw. die sich in Geschichten verstricken ließen. Auf diese Weise könne man vermeiden, sich die Dinge mental als autonome Einzelphänomene zu repräsentieren, die nur mittelbare Bezüge zu genuin menschlichen Wahrnehmungsinteressen und Lebensbezügen hätten. Durch die Integration der Einzelphänomene in konkrete Handlungs- und Lebensprozesse konstituieren sich für Schapp ganz spezifische methodische und anthropologische Grundauffassungen. Mensch zu sein, heißt für ihn dann nämlich nicht, die Welt distanziert auf kontemplative Weise zu betrachten, sondern heißt vielmehr, in Geschichten verstrickt zu sein und sich in Geschichten verstricken zu lassen. Es bedeutet weiter, dass er sich die kognitiven Dimensionen des menschlichen Lebens im Prinzip primär immer über Handlungs- und Erzählprozesse zu erschließen versucht.9 Aus einem solchen Denkansatz ergibt sich, dass Wörter nicht wie üblich als Repräsentanten für Begriffe bzw. für usuelle Denkmuster zu betrachten sind, sondern vielmehr als Überschriften von Geschichten bzw. als Denkanstöße, sich Geschichten zu vergegenwärtigen. Die konventionalisierten Bedeutungen von Wörtern resultieren so gesehen dann aus den Ähnlichkeiten der mit ihnen verbundenen oder verbindbaren Geschichten. Da Geschichten für Schapp die grundlegenden Prämissen für menschliche Erkenntnisse und Erfahrungsmöglichkeiten sind, treten für ihn die einzelnen Dinge und Sachverhalte als Referenzobjekte von Wörtern erst aus denjenigen Geschichten hervor, in denen man sie kennengelernt hat oder kennenlernen kann.10 Auf die narrativen Implikationen von Metaphern hat in einem ähnlichen Denkansatz auch schon Vico hingewiesen. Er hat nämlich betont, dass die frühen Völker ihre eigenen Leidenschaften in die Dinge bzw. in die Sprachbilder von ihnen hineinprojiziert hätten. Das habe dazu geführt, dass jede Metapher schließlich „zu einem kleinen Mythos“ geworden sei. 11 Die besondere Eigenart von Geschichten besteht nun darin, dass sie formal zwar einen Beginn und einen Schluss haben, aber in der Sache eigentlich we-
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W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 19762. W. Schapp, Philosophie der Geschichten, 19812. W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 19762, S. 85. 11 G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, 1966, S. 77–81. 10
Der Sinnbegriff
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der einen Anfang noch ein Ende, da sie ihrerseits wieder in Vorgeschichten und Nachgeschichten verstrickt sind, die sich irgendwo im Halbdunklen verlieren. So betrachtet kann man Wörtern dann methodisch über Definitionen zwar eine bestimmte Bedeutung zuordnen bzw. einen bestimmten Referenzbereich, aber da man sie durch den aktuellen Gebrauch immer wieder in neue Geschichten verstrickt, ergeben sich für sie auch immer wieder neue Bedeutungen bzw. Referenzmöglichkeiten. Die Vorstellung einer stabilen Zuordnung von Signifikant und Signifikat, die der sprachwissenschaftliche Strukturalismus als Denkprämisse so liebt, ist im Denkrahmen des Verstrickungsgedankens eine methodische Abstraktion und eine faktische Illusion, die einer pragmatisch ausgerichteten Sprachwissenschaft eher hinderlich als dienlich ist. Auf diese Konsequenz wird dann ja auch im Energeia-Konzept Humboldts und im Sprachspielgedanken des späten Wittgenstein verwiesen. Wenn man dem Verstrickungsgedanken Schapps folgt, dann kollidieren bei Metaphern und Sinnbildern weniger unvereinbare Kategorien miteinander, sondern eher Geschichten, die zunächst für unvereinbar gehalten werden. Für die Rezipienten stellt sich dann die Aufgabe, aus den sehr unterschiedlichen Geschichten, die mit den sprachlichen Einzelteilen bzw. mit den Kontexten von Metaphern und Sinnbildern üblicherweise verbunden sind, eine sinnvolle Gesamtgeschichte zu formen. Diese muss dann mit dem vorhandenen Wissen, den gegebenen Welterfahrungen und den jeweiligen sprachlichen Objektivierungszielen vereinbar sein. Das hat zur Folge, dass Metaphern und Sinnbilder natürlich immer auch an die kulturellen Traditionen der Weltwahrnehmung anknüpfen müssen, weil sie ansonsten nur als Wortsalat oder als privatsprachliches Gemurmel in Erscheinung treten würden. Obwohl bei Metaphern und Sinnbildern Geschichten miteinander verstrickt werden, die oft schon bestimmte Überschneidungsbereiche haben, schließt das nicht aus, dass durch sie auch Geschichten miteinander verknüpft werden, für die wir solche Überschneidungsbereiche erst aus dumpfen Vorahnungen herauspräparieren müssen. Dabei sind dann heuristische Abduktionen bzw. kreative Hypothesen gefragt. So gesehen gründen sich Metaphern und Sinnbilder einerseits immer auf Traditionen, andererseits sind sie aber auch immer dazu bestimmt, Neuland zu erschließen bzw. vage Vorgestalten zu prägnanteren Endgestalten umzubilden. Beide haben eine natürliche Tendenz, vorhandene Geschichten aufzunehmen und weiterzuspinnen bzw. Konsequenzen aus gegebenen oder gesetzten Prämissen zu ziehen.
2. Der Sinnbegriff Nach den bisherigen Überlegungen verbietet es sich gleichsam von selbst, die Frage nach der pragmatischen Funktion und dem semantischen Gehalt von Sinnbildern durch einen Verweis auf deren Ersatzfunktionen für andere bzw. für eigentlich zu verwendende Sprachformen zu beantworten. Zumindest neu geprägte Sinnbilder erschöpfen sich nicht in der Aufgabe, präexistente Sach-
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Die Sinnbildproblematik
vorstellungen über die Brücke unüblicher Sprachformen von der Person A zu der Person B zu transportieren. Wir haben damit zu rechnen, dass durch Sinnbilder bestimmte Sachvorstellungen nicht nur intersubjektiv vermittelt, sondern sogar auf spezifische Weise konstituiert werden. Das geschieht natürlich nicht im Sinne einer ontischen Schöpfung, sondern vielmehr im Sinne einer ontologischen Strukturbildung, die mit Hilfe von Sprache intersubjektiv nachvollziehbar gemacht wird. Die enge Verzahnung von Konstitutions-, Kognitions- und Kommunikationsprozessen bei Sinnbildern macht es allerdings nicht leicht, diese auch theoretisch in den Griff zu bekommen. Die Gestalt- und Funktionsanalyse von Sinnbildern beginnt am besten mit der Klärung des Begriffs Sinn, der ja als ein attributiv zu verstehender Bestimmungsbegriff eine wichtige Rolle bei der Bildung der Komposita Sinnbild und Sinnbildung spielt. Um das Erkenntnis- und Determinationspotenzial des Sinnbegriffs zu erfassen, empfiehlt es sich, einen Blick auf seine Herkunft und Verwendungsgeschichte zu werfen. Das erleichtert es, die semantische Differenz zwischen den Begriffen Sinn und Bedeutung zu erfassen, die oft ja als recht gleichartig verstanden werden, obwohl der Sinnbegriff eigentlich sehr viel stärkere prozessuale und intentionale Implikationen hat als der eher statisch akzentuierte Bedeutungsbegriff.
Herkunft und Intention des Sinnbegriffs Das Wort Sinn lässt sich etymologisch nicht auf das lateinische Wort sensus (Wahrnehmungsvermögen, Denkweise) zurückführen, obwohl dieses Wort natürlich präsent wird, wenn wir von unseren fünf biologischen Sinnen sprechen. Das nhd. Wort Sinn geht sprachgeschichtlich auf das ahd. Substantiv sind bzw. mhd. sint (Weg, Reise, Richtung) zurück und ist stammverwandt mit dem ahd. Verb sinnan (reisen, eine Richtung einschlagen, einer Fährte nachgehen), das ja noch durchschimmert, wenn wir die nhd. Verben nachsinnen oder sinnen verwenden. Das ursprüngliche Verständnis des Wortes Sinn als Bezeichnung für einen Weg bzw. für eine Richtungs- oder Aktivitätsangabe hat sich noch heute sehr deutlich in folgenden sprachlichen Ausdrücken erhalten: Uhrzeigersinn, Hintersinn, Unsinn, Sinn eines Arguments, Sinnsuche, Sinngebung usw. Ganz zentral für das Verständnis des Sinnbegriffs ist, dass er ebenso wie der Theoriebegriff etymologisch in Reisevorstellungen wurzelt. Aus der Herkunft des Wortes Sinn ergeben sich für die semantische Analyse des Kompositums Sinnbild folgende Konsequenzen. Während uns das Grundwort Bild dazu auffordert, in einen kontemplativ strukturierten Wahrnehmungsprozess einzutreten und uns einen Sachverhalt als mehr oder weniger stabilen Ordnungszusammenhang vorzustellen, fordert uns das Bestimmungswort Sinn dazu auf, in einen dynamischen Denkprozess einzutreten, in dem es dann um die Klärung der Funktionsimplikationen der jeweiligen Grundvorstellung geht. Das bedeutet, dass das, was wir als Sinnbild und nicht als bloßes Bild wahrnehmen, uns von vornherein dazu anregt, eine Wahrnehmungsreise
Der Sinnbegriff
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anzutreten, bei der wir uns über Analogien etwas erschließen können, was auf andere Weise nicht oder zumindest nicht so gut fassbar werden kann. Wenn wir etwas nicht als ein Bild, sondern als ein Sinnbild wahrnehmen, dann ist klar, dass es primär nicht um die von dem jeweiligen Bild veranschaulichte Sache selbst geht, sondern vielmehr um das, was sich mit Hilfe dieser Sache in unseren Wahrnehmungshorizont bringen lässt. Sinnbilder sind so gesehen Aufforderungssignale dafür, eine bestimmte kognitive Reise anzutreten bzw. sich über die Brücke von Analogien Neuland zu erschließen. Diese Überlegungen machen plausibel, dass wir den Sinnbegriff als einen genuinen Beziehungs- und Funktionsbegriff zu verstehen haben und dass wir uns von der Vorstellung trennen müssen, ihn in irgendeiner Weise als einen Substanzbegriff zu verstehen, der auf eine ganz bestimmte ontische Wesenheit abzielt. Phänomene haben so gesehen keinen Sinn, sondern sie bekommen Sinn, wenn sie in eine intentional ausgerichtete Verstehensanstrengung eines Wahrnehmungssubjekts einbezogen werden. Sinn wird erzeugt, wenn man Orientierungsanstrengungen macht, Selektionsprozesse vornimmt, Komplexität reduziert und Korrelationen herstellt. Unsinn ergibt sich dagegen als Desorientierung mehr oder weniger von selbst. Deshalb hat Theodor Lessing das, was der Historiker aus dem Konglomerat und dem Chaos von Einzeldaten konstruktiv als Geschichte erzeugt, auch sehr bissig und erkenntnisskeptisch als „Sinngebung des Sinnlosen“ bezeichnet.12 Weiterhin ist zu beachten, dass der Sinnbegriff ein wertbesetzter Begriff ist. Wer nach dem Sinn von etwas fragt, der interessiert sich immer für Gesamtzusammenhänge oder Gesamtdeutungen (Sinn des Lebens / der Arbeit / der Kunst / des Leidens usw.). Über den Sinnbegriff sollen Teilerfahrungen konstruktiv aufeinander bezogen bzw. integrativ miteinander verbunden werden. Deshalb spielt der Sinnbegriff auch in der Gestaltpsychologie eine zentrale Rolle, da diese sich mit dem Problem beschäftigt, wie sich in sinnlichen und geistigen Wahrnehmungsprozessen aus Einzeldaten und vagen Vorgestalten über mehrere Stufen hinweg prägnante Endgestalten herausbilden, die jeweils ein höheres Maß an Gestaltschärfe und Gestalttiefe bzw. Sinnschärfe und Sinntiefe haben. Der Sinnbegriff spielt natürlich auch in der Metaphysik eine zentrale Rolle, insofern diese sich ja darum bemüht, das vordergründig Konstatierbare in umfassende Ordnungsvorstellungen einzubinden, um auf diese Weise aus Einzelerfahrungen übersichtliche Kosmoserfahrungen zu machen. Streng genommen wird Sinn nicht einfach gefunden, sondern vielmehr durch Aktivitäten gestiftet. Was wir erfahren und erleben ist nach Cassirer „immer schon durchsetzt und gewissermaßen beseelt von bestimmten Akten der Sinngebung.“13 Deshalb lassen sich Sinnbildungsprozesse im Prinzip auch als Zuwendungsprozesse verstehen. Sinngestalten sind dementsprechend auch
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Th. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 1919/1983. E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 19765, S. 214.
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Die Sinnbildproblematik
keine statischen Phänomene, sondern Wahrnehmungsgestalten, die ihre Stabilität durch ein Fließgleichgewicht erhalten. Sie bilden sich für Wahrnehmungssubjekte heraus, wenn diese sich auf einer konkreten Wahrnehmungsspur befinden, auf der bestimmte Erkenntnisinteressen mit unabweisbaren Erfahrungen konstruktiv miteinander verbunden werden können. Der Sinnbegriff ist deswegen auch als ein Bilanzierungsbegriff zu verstehen, der dem Denken eine Richtung und ein vorläufiges Ergebnis zuordnet, aber es gleichzeitig auch zu Folgeaktivitäten inspiriert. Ebenso wie die Begriffe Glück und Wert kann man auch den Begriff Sinn nicht einfach in den Plural setzen, weil das, was mit ihm thematisiert werden soll, nicht mehrfach als ein Phänomen gleichen Zuschnitts vorkommt. Das Phänomen Sinn lässt sich nicht unabhängig von seiner Genese und seiner Zielorientierung verstehen, ohne sich selbst zu verflüchtigen. Sinn ist als eine vorgegebene Größe nicht für sich selbst fassbar, sonder konkretisiert sich erst in Sinnbildungsanstrengungen. Ein Sinn hat deshalb auch immanente Verfallszeiten bzw. kann sich als solcher nur dann erhalten, wenn er immer wieder neu aufgebaut wird.
Sinn und Bedeutung Die dynamischen Implikationen des Sinnbegriffs und dessen Verschränkung mit den Interpretationsanstrengungen von Subjekten bringt ihn in eine latente Opposition zum Bedeutungsbegriff. Obwohl beide Begriffe sicherlich eine gewisse Gebrauchsüberschneidung haben, kann dennoch bei ihnen von einer semantischen Äquivalenz keine Rede sein. So können wir beispielsweise von Sinnbildern sprechen, aber wohl kaum von *Bedeutungsbildern. Wir können im Hinblick auf Wörter und Texte von sinngebenden Interpretationen reden, aber wohl kaum von *bedeutungsgebenden. Wenn wir von dem Sinn gesellschaftlicher Institutionen sprechen, dann meinen wir wohl etwas ganz anderes, als wenn wir von deren Bedeutung sprechen. Diese latente Differenz zwischen dem Sinn- und dem Bedeutungsbegriff lässt sich durch den Verweis auf die Herkunft des Bedeutungsbegriffs verständlich machen. Das Wort Bedeutung leitet sich als ein substantivisches Abstraktum von dem ahd. Verb diuten (erklären, übersetzen, zeigen) ab, das ursprünglich dazu benutzt wurde, die Dolmetscherarbeit eines kundigen Priesters zu bezeichnen, der die Zeichen der Götter für das Volk (diot) übersetzte. Das Wort Bedeutung etablierte sich dann als Bezeichnung für eine legitimierte Information bzw. Botschaft. Da solche Botschaften insbesondere im religiösen Bereich natürlich immer als wichtig angesehen wurden, kam es dann auch dazu, dass mit dem Wort Bedeutung zugleich auch die Relevanz eines bestimmten Vorstellungsinhaltes bezeichnet werden konnte (ein Gesetz von großer Bedeutung). Diese Herkunft des Wortes Bedeutung macht deutlich, warum mit diesem Terminus in der Regel der vorgegebene konventionelle Inhalt eines sprachlichen Zeichens bezeichnet wird, während das Wort Sinn eher dazu verwendet
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wird, um die Denkrichtung und semantische Grundorientierung zu bezeichnen, die mit einem sprachlichen Ausdruck verbunden ist. Weiterhin zeigt sich, dass der Bedeutungsbegriff eher eine Nähe zu einem monologischen und klassifizierenden Denken hat, das mit relativ stabilen semantischen Einheiten zu arbeiten versucht, während der Sinnbegriff eher eine Nähe zu einem dialogischen Denken hat, bei dem sich das Denken auf einen Partner oder auf widerspenstige Gegenstände einzustellen hat. Die Frage nach der Bedeutung eines Wortes ist so gesehen eher eine Frage nach der Bezeichnungsfunktion des jeweiligen Wortes für einen gegebenen Sachverhalt im Rahmen einer vorgegebenen Konvention bzw. eines bestimmten Kodes, während die Frage nach dem Sinn eines Wortes eher eine Frage nach seiner Orientierungsfunktion in einer kognitiven Strukturierungsanstrengung ist. Wenn man bei semantischen Überlegungen nach der Bedeutung eines Wortes fragt, dann sucht man diese in der Regel über die spezifischen Charakteristika der mit ihm konventionell verbundenen Gegenstände und Sachverhalte zu erkunden. Wenn man dagegen nach dem Sinn eines Wortes fragt, dann sucht man diesen in der Regel über die Rekonstruktion der Intention seines Gebrauchs zu ermitteln. Das impliziert, dass der Bedeutungsbegriff eher auf die Vorstellung von Sprache als Sprachsystem (langue) bezogen ist und der Sinnbegriff eher auf die Vorstellung von Sprache als Sprachgebrauch (parole). Diese Differenz macht nun auch verständlich, warum wir den Bedeutungsbegriff gerne verwenden, wenn es um die Analyse von Argumentationen und Schlussfolgerungen geht bzw. um die Verifikation oder Falsifikation von Aussagen. Dagegen greifen wir lieber auf den Sinnbegriff zurück, wenn es um die Interpretation von sprachlichen Handlungen oder um die Beurteilung der Fruchtbarkeit von Begriffsbildungen und Aussagen geht. Die Frage nach der Bedeutung eines Wortes ist in der Regel eine Frage nach dem Seienden, das mit diesem Wort referenziell erfasst werden kann oder soll. Die Frage nach dem Sinn eines Wortes ist dagegen zugleich immer eine Frage nach der Wahrnehmungsperspektive, in der dieses Seiende erfasst wird bzw. in der es eine Rolle in dem jeweiligen Denken spielen soll. Angesichts dieser Verhältnisse ist es dann auch kein Zufall, dass der Logiker Frege die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks von seinem Referenzobjekt abzuleiten versucht und seinen Sinn von der Gegebenheitsweise, in der dieses Referenzobjekt für Subjekte in Erscheinung tritt oder treten soll. Deshalb haben für ihn die Wörter Abendstern und Morgenstern dieselbe Bedeutung, weil beide referenziell den Planeten Venus bezeichnen, aber sie haben nicht denselben Sinn, weil sie dieses Referenzobjekt in unterschiedlichen Perspektiven thematisieren und in unterschiedliche Kontexte einordnen.14 Für Frege haben sprachliche Ausdrücke in der Regel immer einen Sinn, weil sie uns ja etwas Bestimmtes mitteilen wollen, aber sie haben keineswegs
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G. Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, 19693, S. 41.
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immer eine Bedeutung, weil es für sie möglicherweise keine realen, sondern allenfalls fiktive Referenzobjekte gibt. Diese Argumentation erscheint auf den ersten Blick sehr plausibel, sie wird aber höchst problematisch, wenn wir entscheiden müssen, welche Wörter tatsächliche und welche Wörter nur fiktive Referenzobjekte haben. Bei den Wörtern Baum, Pferd und Haus bzw. Kobold, Nixe und Klabautermann werden wir uns noch schnell einigen können. Wie steht es aber bei den Wörtern Teufel, Engel, Gerechtigkeit, Liebe und Sprache? Haben diese Wörter reale oder fiktive Referenzobjekte? Haben kulturspezifische Begriffsbildungen reale Referenzobjekte oder nur ideologische? Können wir Referenzobjekte von Wörtern überhaupt unabhängig von ihren jeweiligen sprachlichen oder semiotischen Objektivierungsweisen erfassen? Erkenntnistheoretisch und semiotisch gesehen müssen wir sicher einräumen, dass wir die möglichen Referenzobjekte von Wörtern auf inhaltlich strukturierte Weise eigentlich gar nicht losgelöst von ihren jeweiligen sprachlichen Objektivierungsanstrengungen erfassen können. Dabei müssen wir dann entscheiden, welche der möglichen Objektivierungsweisen wir jeweils für die verlässlichste und brauchbarste Wahrnehmungsweise halten. Deshalb ist es zweifelhaft, ob die Zielsetzung Freges grundsätzlich weiterführt, den Wahrheitsbegriff so zu konzipieren, dass wir den Sinnbegriff zu Gunsten des Bedeutungsbegriffs aufgeben. „Das Streben nach Wahrheit also ist es, was uns überall vom Sinn zur Bedeutung vorzudringen treibt.“ 15
Die Handlungsimplikationen des Sinnbegriffs Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Differenzierung der Begriffe Sinn und Bedeutung wird auch ganz gut verständlich, warum Searle die metaphorische ebenso wie die ironische Redeweise mit dem Konzept der indirekten Sprechakte bzw. mit seiner Unterscheidung von Satzbedeutung und Äußerungsbedeutung in Verbindung gebracht hat.16 Sinnbildliche Aussagen als indirekte Aufforderungen, einen analogisch orientierten Wahrnehmungsweg bei der Erfassung von komplexen Phänomenen zu gehen, entziehen sich einer direkten Wahrheitsbewertung in einem korrespondenztheoretischen Sinne. Sprechakte und sinnbildliche Prädikationen sind nämlich weder wahr noch falsch, sondern sie gelingen oder misslingen. Ihre spezifischen Mitteilungsintentionen werden entweder wahrgenommen oder sie verpuffen wirkungslos. Die illokutiven Handlungsfunktionen von Sinnbildern können ein breites Erscheinungsspektrum haben. Dieses reicht von der Auslösung bestimmter Assoziationen über die Postulierung bestimmter Analogien bis zu der indirekten Aufforderung, in metasprachliche Reflexionsprozesse einzutreten. Die
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G. Frege, a.a.O., S. 48. J. R. Searle, Ausdruck und Bedeutung, 1982, S. 98 ff., 134 ff.
Der Sinnbegriff
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verdeckten Sprechaktimplikationen einer sinnbildlichen Redeweise lassen sich vielleicht auf folgende allgemeine Formel bringen: Nimm mich als einen Sprachgebrauch ernst, in dem die Sprache als Denk- und Mitteilungsmedium nicht nur genutzt, sondern auch hergerichtet wird. Bei dem hier entwickelten Sinnbegriff liegt es nahe, Sinnbilder nicht nur als repräsentierende Darstellungsmittel für bestimmte Sachverhalte zu verstehen, sondern auch als sprachliche Manifestationsweisen von Gesten. Sinnbilder lassen sich nämlich ebenso wie Gesten eher nach den Kategorien des Gelingens und des Misslingens beurteilen als nach denen von wahr und falsch. Beide haben im Prinzip nicht die Aufgabe, etwas kategorial einzuordnen, sondern uns in einer bestimmten Perspektive auf etwas aufmerksam zu machen und auf diese Weise als einen potenziellen Dialogpartner ins Spiel zu bringen. Gerade in pragmatischen Denkansätzen ist immer wieder betont worden, dass die klassische philosophische Frage nach dem substanziellen Sein von Phänomenen durch die Frage nach unseren Erfahrungen mit den Phänomenen bzw. nach unseren Erfahrungsmöglichkeiten für die Phänomene ersetzt werden sollte. Deshalb spielt für Peirce die Frage nach der ontischen Referenz von Zeichen auch eine weniger wichtige Rolle als die Frage nach ihren Differenzierungs- und Erschließungsfunktionen. Die von ihm entwickelte pragmatische Maxime besagt, dass wir unsere Vorstellungen von Objekten aus der Summe der konkreten Erfahrungen abzuleiten haben, die wir mit ihnen gemacht haben bzw. die wir in ihrem Umkreis machen können. Das bedeutet, dass für ihn der Begriff einer Sache nicht aus Wesensspekulationen oder aus ihrer Einordnung in Begriffshierarchien abzuleiten ist, sondern aus den Möglichkeiten, unsere Erfahrungen mit dieser Sache in intersubjektiv verständlichen Zeichen zu objektivieren. Deshalb hat er im Hinblick auf die Frage nach dem Wert von Begriffen und Konzepten auch zustimmend auf die biblische Maxime Bezug genommen, dass man etwas an seinen Früchten erkennen und bewerten solle.17 Es ist daher auch einsichtig, dass man die Qualität von Sinnbildern nicht zureichend bestimmen kann, wenn man sein Interesse nur auf die Frage konzentriert, welche Ähnlichkeiten sie zwischen zwei Phänomenen hervorheben. Vielmehr ist auch danach zu fragen, auf welche neue Gedanken uns die jeweiligen Sinnbilder bringen können. Die Verknüpfung des Sinnbegriffs mit Handlungsvorstellungen bzw. mit den Begriffen des Suchens, Reisens und Strukturierens bringt diesen natürlich auch in eine große Nähe zu dem Ethos, dass Sokrates der Wissenssuche zugeordnet hat. Er war nämlich der Überzeugung, dass wir, „wenn wir glauben, das suchen zu müssen, was wir nicht wissen, besser werden und mannhafter und weniger träge, als wenn wir glauben, was man nicht wisse, sei nicht möglich zu finden, und man müsse es also auch nicht erst suchen…“18
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Ch. S. Peirce, Collected Papers, 5. 402 ff. Platon, Menon 86 b, Werke, Bd. 2, S. 28.
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3. Die Funktionen von Sinnbildern In den semiotischen Überlegungen zur Struktur sprachlicher Bilder ist auf das Konzept des abgeleiteten Ikons von Peirce zurückgegriffen worden, um die zeichentheoretischen Aspekte der Verstehensprobleme bei Sinnbildern in den Griff zu bekommen. Dieses Konzept postuliert für das Verstehen sprachlicher Sinnbilder zwei aufeinander folgende Denkschritte. In einem ersten Schritt wird durch einen bestimmten sprachlichen Ausdruck als Zeichenträger kraft gängiger Sprachkonvention eine bestimmte Sachvorstellung als Zeichenobjekt aufgerufen. In einem zweiten Schritt wird dann diese Sachvorstellung selbst zum Zeichenträger einer neuen Zeichenrelation, in der diese Vorstellung dann ikonisch bzw. kraft Analogie auf ein neues Zeichenobjekt verweist. Diese Beschreibung des Verstehens sprachlicher Sinnbilder ist recht umständlich, insofern der entsprechende Verstehensprozess als eine Sequenz von zwei aufeinander folgenden Schritten thematisiert wird, der beim Verstehenden selbst faktisch wohl recht synchron abläuft. Dennoch ist diese Linearisierung aber analytisch gesehen hilfreich, da dadurch plausibel gemacht werden kann, warum man sprachliche Bilder als sinnvolle Äußerungen wahrnimmt, obwohl in ihnen Denkkategorien syntaktisch korreliert werden, die eigentlich zu völlig verschiedenen Welten zu gehören scheinen. Ganz gleich, ob nun ein sprachliches Sinnbild in Form einer Metapher als eine widersprüchliche Prädikation in Erscheinung tritt (Die Sprache ist ein Gefängnis.) oder etwas moderater in Form eines bloßen Analogieangebots (Die Sprache gleicht einem Gefängnis.), so können wir doch in beiden Fällen seine sinnstiftende Funktion ganz gut durch die Formel Sehen-als näher beschreiben. Diese Formel soll deshalb auch als Ausgangspunkt genutzt werden, um sowohl auf die allgemeine Struktur der sinnbildlichen Konzeptualisierung von komplexen Phänomenen aufmerksam zu machen als auch auf die medialen Implikationen und intentionalen Funktionen von konkreten Sinnbildern.
Das Sehen-als Ricoeur hat betont, dass das Verstehen von Metaphern bzw. von sprachlichen Bildern eine ganz besondere Form geistiger Aktivität sei. In dieser müsse nämlich einerseits die Welt der Subjekte in Form von deren intentionalen Denkrichtungen präsent sein und andererseits auch die Welt der Objekte in Form von deren unabweisbaren Eigenständigkeiten und Widerständigkeiten als Sachen. „Das ‚Sehen als’ ist also halb Denken, halb Erfahrung.“19 Das Sehen-als kann daher auch als interpretierendes und sinnstiftendes Handeln auf einer ganz bestimmten Erfahrungsbasis gelingen, misslingen oder partiell gelingen.
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P. Ricoeur, Die lebendige Metapher, 1966, S. 204.
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Bei der Verknüpfung eines abstrakten zu erklärenden Phänomens mit einer konkreten bildlichen Vorstellung treffen zwei Energie- bzw. Gravitationsfelder aufeinander, deren Interaktionseffekte vorab kaum zu überschauen, geschweige denn zu berechnen sind. Deshalb ist bei der Erörterung der Analogieproblematik auch schon auf die Kategorie der Erotik verwiesen worden, weil mit dieser die Spannungsstruktur zwischen zwei unterschiedlichen, aber dennoch auch zusammengehörigen Größen am besten beschrieben werden kann. So betrachtet kann das Sehen-als durchaus als eine Denkuniversalie qualifiziert werden, die insbesondere in Syntheseanstrengungen zur Erscheinung kommt. In diesen sind nämlich unsere geistigen Aktivitäten primär darauf ausgerichtet, unterscheidbare Phänomene wegen ihrer Ähnlichkeit und ihrer Ergänzungsfähigkeit zusammenzuführen. Dagegen sind Analyseanstrengungen eher darauf ausgerichtet, Einheitserfahrungen in ihre unterschiedlichen Bestandteile zu zerlegen. Als Denkverfahren beinhaltet das Sehen-als kognitive Risiken und Chancen. Es ist keineswegs sicher, dass die erfahrenen oder postulierten Analogien zwischen zwei Phänomenen ein tragfähiges und weiterführendes Wissen über den zu erfassenden Sachverhalt vermitteln. Sinnbilder für abstrakte Phänomene können sicherlich der Kunst des Wissenserwerbs (ars inveniendi) zugerechnet werden, aber ob sie bzw. inwieweit sie auch der Kunst des Urteilens (ars iudicandi) und der Kunst des Erklärens (ars explicandi) dienlich sind, ist eine ganz andere Frage. Für die beiden zuletzt genannten Künste leisten Begriffe wohl eine größere Hilfe. Die Geschlossenheit und Übersichtlichkeit semantisch normierter Begriffe lässt sich vielleicht mit der Sicherheit von Höhlen vergleichen und die Offenheit und Anregungskraft von Sinnbildern mit den Chancen und Unsicherheiten von Wegen, die aus einem vertrauten Terrain hinausführen und prinzipiell darauf angelegt sind, vorgegebene Grenzen zu überwinden. Im Prinzip ist natürlich einzuräumen, dass auch Begriffe letztlich als kulturell erzeugte Ordnungshypothesen anzusehen sind. Aber wenn wir Begriffe verwenden, dann hängen wir in der Regel weitgehend dem Glauben an, dass in ihnen unser Wissen eine endgültige und verlässliche Form gefunden hat. Wenn wir dagegen Sinnbilder nutzen, dann ergibt sich meist das Begleitbewusstsein, dass wir hypothetische Ausgriffe machen und uns mit unserem Sehen-als auf eine etwas abenteuerliche Erkenntnisreise machen, die sowohl anregend als auch gefährlich werden kann. Natürlich kann sich jeder sinnbildliche Sprachgebrauch zu einem konventionellen und begrifflichen transformieren, was tote Metaphern und erstarrte Sinnbilder schlagend exemplifizieren (Der Strom fließt. Zeitraum). Brauchbare Hypothesen verlieren meist recht schnell ihren Status als heuristische Modelle und werden leicht zu anerkannten Wissensobjektivierungen. Oft lässt sich erst durch etymologische Analysen der sinnbildliche Ursprung von konventionalisierten Begriffen freilegen. So ist beispielsweise heute sicherlich keinem mehr bewusst, der das nhd. Wort Kummer verwendet, dass dieses auf das mhd. Wort
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kumber (Trümmerhaufen, Not) zurückgeht, das sich wiederum aus dem galloromanischen Wort comboros (Zusammengestürztes) herleitet. Zu beachten haben wir in diesem Zusammenhang nun allerdings auch, dass Redeweisen, die wir heute auf einer relativ späten Kulturstufe als sinnbildlich bzw. poetisch einordnen, zu früheren Zeiten nicht unbedingt in dieser Weise wahrgenommen worden sind, weil man gar nicht scharf zwischen poetischen und prosaischen Redeweisen unterschieden hat. Der rein begriffliche Sprachgebrauch, den wir heute als den normalen Sprachgebrauch ansehen, muss als ein kulturell relativ spät praktizierter Sprachgebrauch beurteilt werden, der für die Realisierung ganz spezifischer pragmatischer Zwecke ausgebildet worden ist. Diese lassen sich mit den Stichworten Objektorientierung, Wissenspräzisierung und Argumentationsdienlichkeit charakterisieren. Vico hat schon sehr früh nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass der Sprachgebrauch, der in späteren Zeiten oft als ausgesprochen poetisch angesehen werde, in frühen Kulturepochen eigentlich ein ganz normaler Sprachgebrauch gewesen sei. Sprachbilder seien deshalb auch keine „geistreichen Erfindungen der Schriftsteller gewesen“, sondern vielmehr natürliche Ausdrucksformen der frühen Völker, bei denen man in anthropomorphistischer Weise in die Dinge der Welt genau das hineinprojiziert habe, was man selbst besessen habe, „nämlich Sinne und Leidenschaften.“20 Der frühe Sprachgebrauch der Menschheit hat in der Tat ebenso wie der von Kindern keine Hemmungen vor bildlichen Redeweisen, weil er prinzipiell immer durch polyfunktionale Zielsetzungen geprägt ist. Er hat zugleich immer eine Ausdrucks-, Appell- und Darstellungsfunktion und scheut sich deshalb auch nicht, Affekte in die aktuellen Konzeptbildungen einzubeziehen. Diese Affektimplikationen haben in der Regel auch eine lebensweltliche Relevanz, da auf diese Weise die Speicherung von Wissen erleichtert wird, wodurch sich wiederum die eigenen Handlungsdispositionen ausweiten. Affekte führen einerseits zwar aus rein objektorientierten Realitätsvorstellungen hinaus, aber andererseits auch immer in lebensweltliche wichtige Realitäten hinein, insofern sie Subjekt- und Objektwelten korrelieren. Jean Paul hat dieses emotionsgeladene Sehen-als mittels affektbesetzter Bilder sehr prägnant beschrieben und dabei auch auf die damit verbundenen Konsequenzen aufmerksam gemacht. „Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen – nur aber für jeden anders.“ 21 Die Gefahr einer Auflösung und Aufsplitterung intersubjektiv gültiger Wirklichkeitsvorstellungen durch den bildlichen Sprachgebrauch besteht allerdings nur dann, wenn sich dieser allein auf ganz individuelle Wahrnehmungen gründen würde und nicht auch auf überindividuelle kulturelle Erfahrungen und Bildtraditionen. Die letzteren verleihen nämlich dem bildlichen Sprach-
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G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 1966, S. 77–81. J. Paul, Vorschule der Ästhetik, § 1, Werke, Bd. 9, S. 30.
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gebrauch bei der kognitiven Strukturierung und sprachlichen Objektivierung von Erfahrungen eine zentripetale Kraft, weil dadurch das Sehen-als faktisch zu einem Integrationsgeschehen wird. Die Verwendung von Sinnbildern lässt sich dementsprechend dann auch als eine Form der Konkretisierung von sozial wirksamen integrativen Ordnungskonzepten verstehen.
Begriffliche und sinnbildliche Konzeptualisierungen Ein lebendiger und polyfunktionaler Sprachgebrauch kann prinzipiell weder die Anstrengungen zu begrifflichen noch zu sinnbildlichen Konzeptualisierungen aufgeben, da beide sich ergänzende Objektivierungsfunktionen erfüllen. Begriffliche Musterbildungen sichern der Sprache eine klassifizierende Objektorientierung und eine intersubjektiv verlässliche Informationspräzision. Allerdings laufen Begriffe nach Nietzsche dabei auch Gefahr, zur „Begräbnisstätte der Anschauungen“ zu werden.22 Bildliche Konzeptualisierungen sichern der Sprache zwar Anschaulichkeit und lebensweltliche Brauchbarkeit, aber sie laufen auch immer Gefahr, als reine Affektbündel in Erscheinung zu treten. Dementsprechend kann man den Gebrauch von Sinnbildern entweder in das Vorfeld der eigentlich anzustrebenden Bildung von Begriffen verlegen oder als eine ganz eigenständige Leistungsform des Denkens würdigen, die nicht ersetzbar, sondern allenfalls ergänzbar ist. Die Auffassung, dass Metaphern und Sinnbilder eigenständige Objektivierungsmittel der Sprache sind und dass durch ihren Gebrauch nicht das strukturierende, sondern allenfalls das argumentierende und schlussfolgernde Denken gestört und behindert wird, wirft natürlich eine grundsätzliche sprachtheoretische Frage auf. Gibt es bildliche Sprachverwendungsweisen, die nicht nur schwer, sondern eigentlich gar nicht begrifflich übersetzbar, sondern allenfalls aspektuell paraphrasierbar sind? Hans Blumenberg hat unter dem Stichwort absolute Metapher diese Frage bejaht und eben deshalb bildliche Redeweisen auch für die Philosophie beansprucht. Durch sie könne etwas sprachlich objektiviert werden, was sich nicht oder nur sehr unzulänglich in die begriffliche Sprache bzw. in die Logizität zurückholen ließe. Deshalb fallen für ihn absolute Metaphern und wohl auch komplexe Sinnbilder ganz ausdrücklich in das Reich der Philosophie und der Philosophiegeschichte, weil man über sie an die Prämissen und Substrukturen des begrifflichen Denkens und Wissens herankommen könne. „Die Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will
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F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke, Bd. 3, S. 319.
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auch faßbar machen, mit welchem ‚Mut’ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.“23
Ebenso bildhaft und eindrücklich, wenn auch etwas salopper hat auch Odo Marquard dafür plädiert, Metaphern einen genuinen Platz im philosophischen Denken zuzuweisen. „Denn wie beim Grog gilt: Wasser darf, Zucker soll, Rum muß sein, gilt bei der Philosophie: Formalisierung darf, Terminologie soll, Metaphorik muß sein; sonst nämlich lohnt es nicht: dort das Trinken und hier nicht das Philosophieren.“24
Wie lässt sich nun die Hochschätzung des bildlichen Sprachgebrauchs für das Denken im Allgemeinen und für das philosophische Denken im Besonderen begründen? Metaphern und Sinnbilder sind zweifellos vom Menschen geschaffene Kulturprodukte, selbst wenn sie sich ontisch oder ontologisch gut rechtfertigen lassen. Sie können aber durchaus die Zwecke transzendieren, zu denen man sie ursprünglich in die Welt gesetzt hat. Gegenüber ihren Schöpfern gewinnen sie nicht selten ein Eigenleben, das sich als Pygmalion-Effekt beschreiben lässt. Dadurch, dass sie neue Sichtweisen auf altbekannte oder auf teilbekannte Phänomene eröffnen, können sie sowohl für ihre Schöpfer als auch für ihre Rezipienten zu Herausforderungen werden, die diese immanent dazu zwingen, neue Orientierungen zu suchen. So gesehen ergibt sich durch den bildlichen Sprachgebrauch auch ein gewisses Gegengewicht zur allgemeinen Hochschätzung des begrifflichen Sprachgebrauchs. Diesem ist nämlich ein gewisser Midas-Effekt eigen. Ebenso wie Midas alles zu Gold wurde, was er berührte, so kann uns auch leicht alles begriffsförmig werden, was wir mit Hilfe von Begriffen zu objektivieren versuchen. Dieser Midas-Effekt ist natürlich nicht nur Begriffen eigen, sondern im Prinzip allen Objektivierungsmedien. Beim Gebrauch der begrifflichen Sprache tritt er aber besonders nachdrücklich in Erscheinung, weil Begriffe ähnlich wie Gold eine besonders große soziale Wertschätzung genießen. Angesichts von Begriffen verblassen die Leistungskräfte und Ergebnisse aller anderen sprachlichen Objektivierungsformen sehr oft bzw. werden als vorläufig oder zweitrangig angesehen.
Die mediale Funktion von Sinnbildern Schelling hat einmal eine fast konstruktivistische These formuliert, die durchaus als eine Variante des Midas-Effekts angesehen werden kann: „Ueber die
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H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher, 1983, S. 290. 24 O. Marquard, Der Philosoph als Schriftsteller, in: H. Fechtrup u.a. (Hrsg.), Sprache und Philosophie, 1996, S. 12–13.
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Natur philosophieren heißt die Natur schaffen.“25 Diese These kann man sicherlich auch auf die Sprache beziehen: Über die Sprache philosophieren heißt die Sprache schaffen. Unter diesen Umständen wäre es dann natürlich für unser Sprachverständnis konzeptuell keineswegs unerheblich, ob wir begrifflich oder sinnbildlich über die Sprache philosophieren bzw. mit Hilfe welcher Begriffe und Sinnbilder wir das jeweils tun. Die Konturschärfe von Begriffen ist natürlich sehr viel ausgeprägter als die von Sinnbildern, aber dadurch ist keineswegs von vornherein sichergestellt, dass Sachverhalte durch Begriffe besser bzw. wirklichkeitsnäher objektiviert werden als durch Sinnbilder. Wir müssen immer damit rechnen, dass unsere Erkenntnisgegenstände selbst unscharfe Konturen haben können und sich deshalb gerade mit unscharfen Objektivierungsformen möglicherweise sachgerechter objektivieren lassen als mit scharf definierten Begriffen. Sinnbilder sind ebenso wie Aphorismen experimentelle Formen des Theoretisierens. Ihre Vagheit und ihre antisystematische Grundtendenz ist nicht in jeder Hinsicht nachteilig, denn dadurch werden wir vielleicht auch vor einem unsensiblen dogmatischen Denken geschützt, das durchaus als eine Realisationsform des Midas-Effekts betrachtet werden kann. Die konzeptionelle Unschärfe von Sinnbildern hat mehrere Ursachen, die im Prinzip alle damit zusammenhängen, dass Sinnbilder intentional nicht als Ebenbilder von etwas dienlich sind, sondern vielmehr als heuristische Erschließungsmittel für etwas. Sie laden nicht zu einem sezierenden und klassifizierenden Denken ein, sondern zu einem synthetisierenden und analogisierenden. Sie wollen keine statisch orientierten Kontemplationsprozesse fördern, sondern dynamisch orientierte Relationierungsprozesse. Sie wollen keinen einschichtigen Inhalten Ausdruck geben, sondern mehrschichtigen, die neben bestimmten Sachvorstellungen auch Affekte, Wertungen und Handlungsintentionen einschließen. Sie rufen Rezipienten nicht zu Dekodierungsprozessen auf, sondern zu Interpretationsprozessen. Sinnbilder fordern uns insbesondere dazu heraus, diejenigen Phänomene, die als Bildspender in Anspruch genommen werden, sensibel und umfassend wahrzunehmen, was keineswegs leicht ist, wie uns die Phänomenologie immer wieder gezeigt hat. Wir begegnen den jeweiligen Sachverhalten nämlich nicht mit unschuldigen Augen, sondern mit Augen, die durch Wahrnehmungstraditionen und Wahrnehmungswünsche entscheidend vorgeprägt sind. Das kann sogar dazu führen, dass wir auch an den jeweiligen Bildspendern nur das wahrnehmen, was durch unsere traditionellen Wahrnehmungsmuster leicht assimilierbar ist, und das übersehen, was außerhalb von deren Wahrnehmungsinteressen liegt. Sinnbilder fordern uns im Prinzip allerdings stärker als Begriffe dazu heraus, uns selbst geistig zu bewegen und die üblichen Assimilations-
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F. W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Ausgewählte Schriften von 1799–1801, 1982, S. 13.
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prozesse durch Akkommodationsprozesse zu ergänzen, um das Analogiepotenzial der jeweiligen Bildspender umfassend wahrzunehmen. Sinnbilder lassen sich nicht so einfach wie Begriffe rein instrumentell verwenden, da sie als Objektivierungsmittel gleichsam immer erst hergerichtet werden müssen, was den Verstehensprozessen von Sinnbildern natürlich wiederum eine gewisse Zirkelstruktur gibt. Die medialen Interpretationsfunktionen von Sinnbildern treten von Anfang an vor allem deswegen sehr viel deutlicher in Erscheinung als die von Begriffen, weil Phänomene miteinander in Beziehung gesetzt werden, die ganz offensichtlich sehr verschiedenen Wirklichkeitssphären angehören. Deshalb hat das Verstehen von Sinnbildern immer sowohl eine sachthematische als auch eine reflexionsthematische Ebene. Das Nachdenken über Sachobjekte und Sachprobleme muss unter diesen Bedingungen immer in ein Nachdenken über die Denkformen und Denkziele der Subjekte übergehen, die Sinnbilder als Objektivierungsmittel verwenden, was sich strukturtheoretisch dann auch als Reflexion der Reflexion bezeichnen lässt. Während im üblichen sachthematischen Denken und Sprechen die Sprache als Denkmedium in der Regel ganz aus dem Bewusstsein verschwindet, tritt sie im sinnbildlichen Denken und Sprechen sehr deutlich als Denk- und Mitteilungsmedium hervor. Diese selbstbezügliche Struktur des bildlichen Sprachgebrauchs hat Bruno Liebrucks so charakterisiert: „Die Metapher ist eine Reflexion des Tuns der Sprache innerhalb der Sprache.“26 Martin Seel hat denselben Gedanken so formuliert: „Eine Sichtweise a l s Sichtweise während der I n a n s p r u c h n a h m e dieser Sichtweise artikulieren, das vermag allein die figürliche, zum Beispiel die metaphorische Rede.“ 27 Diese mediale Doppelfunktion des bildlichen Sprachgebrauchs, in dem einerseits die Sprache als ein gegebenes und sozial akzeptiertes Formensystem (forma formata) genutzt wird und andererseits immer wieder indirekt darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Sprache auch ein ständig neu herzurichtendes Objektivierungsmedium ist (forma formans), birgt natürlich auch Gefahren. Wir geraten leicht in paradoxe Vorstellungen, wenn wir die Janusköpfigkeit der bildlichen Rede vergessen und etwas nur wortwörtlich verstehen, was durchaus sinnbildlich gemeint sein kann. Wenn wir beispielsweise die Rede von der Jungfrauengeburt rein begrifflich und biologisch verstehen, dann wirkt sie natürlich paradox. Das wird allerdings ganz anders, wenn wir wissen, dass diese Redeweise in der Antike eine gängige sinnbildliche Redeweise war, um auf die Besonderheit eines bestimmten Menschen aufmerksam zu machen. Ebenso wie wir im Prinzip nicht über unseren eigenen Schatten springen können, so können wir uns auch nicht gänzlich von der Sprache als Medium
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B. Liebrucks, Sprache und Bewusstsein, Bd. 1, 1964, S. 482. M. Seel, Am Beispiel der Metapher, in: Intentionalität und Verstehen, hrsg. vom Forum für Philosophie, 1990, S. 252.
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unseres Denkens, Wahrnehmens und Mitteilens freimachen. Aber ebenso wie wir unseren Schatten durch unsere Eigenbewegungen immer wieder anders gestalten und sehen können, so können wir auch den medialen Schatten der Sprache nicht überwinden, aber doch durch unsere geistigen und sprachlichen Eigenbewegungen immer wieder auf eine andere Weise gestalten und sichtbar machen. Dadurch können wir ihn hinsichtlich seiner Implikationen so verstehen, dass er keine gänzlich unhintergehbare Macht über uns bekommt Die semiotische Doppelfunktion bildlicher Redeweisen lässt sich als Syntheseleistung auf begriffliche Weise kaum befriedigend objektivieren. Auf sinnbildliche Weise gelingt das möglicherweise schon eher. Sei es, dass man die Doppelbödigkeit des bildlichen Sprachgebrauchs als Resultante von Kräften beschreibt, die in unterschiedlichen Richtungen wirksam sind, aber dennoch einen gemeinsamen Effekt haben; sei es, dass man die Differenzen und Spannungen im bildlichen Sprachgebrauchs als Manifestationsweisen von ganz besonderen Sinnbildungsanstrengungen versteht. Alexander Demandt hat das in einem Aphorismus folgendermaßen thematisiert: „Die Diagonale zeigt, wie man sich in mehreren Richtungen zugleich bewegt.“28 Zur Illustration dieser dialektischen Struktur bildlicher Redeweisen lässt sich vielleicht auch auf das Sinnbild der Spirale zurückgreifen. Dieses veranschaulicht nämlich sehr schön, dass es Denkbewegungen geben kann, in denen sich zentrifugale und zentripetale Kräfte nicht gegenseitig paralysieren, sondern vielmehr sinnvoll ergänzen, und in denen Expansions- und Integrationskräfte in ein gestaltbildendes Gleichgewicht miteinander gebracht werden können.
Die Intentionalität von Sinnbildern Sinnbilder sind im Prinzip kognitive Hypothesen, die mit Hilfe des Analogiegedankens dazu dienlich sein können, unübersichtliche Phänomene geistig zu konzeptualisieren und sprachlich zu objektivieren. Ihre Ausbildung und ihr Gebrauch ist ein Indiz für ein integratives Denken, das nicht nur etwas benennen, sondern auch strukturieren und interpretieren will. Logisch gesehen sind Sinnbilder deshalb auch nicht als Nominatoren, sondern als Prädikatoren zu verstehen, insofern sie indirekt Aussagen über ihre Bezugsgegenstände zu machen versuchen bzw. insofern sie diese in Geschichten verstricken, durch die wir sie besser kennenlernen können. Da Sinnbilder im Prinzip weniger argumentieren, sondern eher erzählen wollen, sind sie für den Gebrauch in einem schlussfolgernden und argumentierenden Denken auch ziemlich ungeeignet. Durch sie kann man zwar auf etwas aufmerksam machen, aber aus ihnen lassen sich nicht auf zwingende Weise andere Informationen ableiten.
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A. Demandt, Apseudestata, Aphorismen zur Logik des Lebens, 2006, S. 26.
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Die Sinnbildproblematik
Durch ihren Appell an unser sinnliches Vorstellungsvermögen haben Sinnbilder eine starke suggestive Wirkung. Über sie lassen sich bestimmte Erläuterungsvorstellungen unmittelbar auf die zu verstehenden Sachverhalte projizieren. Gegen die Suggestionskraft von Sinnbildern kann man meist eher mit Hilfe von anderen Sinnbildern ankämpfen als mit Hilfe von begrifflichen Argumentationen. Sinnbilder sollten deshalb auch nicht als abschließende Antworten auf bestimmte Erkenntnisfragen verstanden werden, sondern eher als Zwischenstationen auf einer Erkenntnisreise, die eigentlich nie endgültig abgeschlossen werden kann. Sinnbilder sind als sprachliche Darstellungsformen zu verstehen, die sehr deutlich zugleich einem bestimmten Objektivierungsverfahren und einem bestimmten Objektivierungsinhalt Ausdruck geben. Einerseits sind sie abhängige Werkzeuge im Dienste von Produzenten und Rezipienten, mit denen Unanschauliches anschaulich gemacht werden kann. Andererseits sind sie eigenständige Mächte, die ihre Nutzer herausfordern und nicht zur Ruhe kommen lassen. Für Sinnbilder gilt anthropologisch dasselbe, was im Hinblick auf Bilder schon unter dem Stichwort Blick aus dem Bilde erörtert worden ist. Sowohl bei Bildern als auch bei Sinnbildern wissen wir nicht genau, ob wir sie in Anspruch nehmen oder sie uns, ob wir die Rolle des Herren spielen oder die des Knechtes. Dieses komplizierte Interaktionsverhältnis lässt sich vielleicht am besten durch eine Anekdote über Niels Bohr illustrieren, die nach Odo Marquard der Renner auf dem Philosophenkongress von 1966 in Heidelberg gewesen sein soll. Bei einem Besuch auf der Skihütte von Niels Bohr habe ein Kollege ein Hufeisen über der Eingangstür bemerkt und daraufhin den Hausherren erstaunt gefragt, ob er als Naturwissenschaftler an solche Symbole glaube. Daraufhin soll Bohr die klassische dialektische Antwort gegeben haben: „Natürlich glaube ich nicht daran. Aber man hat mir versichert, daß Hufeisen auch dann wirken, wenn man nicht an sie glaubt.“ 29 Wenn man in dieser Weise das sinnbildliche Denken und Sprechen mit der Vorstellung einer wohlwollenden Skepsis in Verbindung bringt, in dem dogmatisches Denken aller Art in Frage gestellt wird, dann lässt sich dieses Denken auch als eine Erscheinungsform des Spielens verstehen. Als eine Manifestationsweise des Als-ob-Denkens ist es nicht nur nach seinem Sachinhalt zu beurteilen, sondern auch nach seiner Funktion, die Interpretations-, Syntheseund Spielfähigkeit der Menschen herauszufordern und lebendig zu halten. Gerade weil uns Sinnbilder sehr viel intensiver als Begriffe in Interpretationsanstrengungen und Geschichten verwickeln, leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Spracherneuerung und verhindern, dass die Sprache zu einem geschlossenen System von definierten Objektivierungskonventionen erstarrt.
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Zitiert nach O. Marquard, Religion und Skepsis, in: P. Koslowski (Hrsg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft, 1985, S. 45.
Die Sinnbilder als Kulturprodukte
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Wenn man Sinnbilder in einem umfassenden anthropologischen Sinne mit dem Spielgedanken in Verbindung bringt, dann wird deutlich, wie verkürzt man sie versteht, wenn man sie nur in der Perspektive ihrer ornamentalen, didaktischen, methodischen und gedächtnisunterstützenden Zwecke sieht bzw. im Kontext von ganz bestimmten pragmatischen Zielsetzungen. Im Rahmen eines anthropologisch orientierten Spielbegriffs können wir den sinnbildlichen Sprachgebrauch als eine prinzipiell nicht ersetzbare Intensivform der Sprachverwendung verstehen, da bei der Nutzung von Sinnbildern unterschiedliche Sprachfunktionen zugleich wirksam werden. Sinnbilder geben zwar immer auch Antworten auf bestimmte Sachfragen, aber sie tun das so, dass dabei zugleich neue Fragen und Probleme aufgeworfen werden, die den Sinn der Ausgangsfragen einerseits präzisieren und andererseits fortspinnen. Sinnbilder streben keinen Erkenntnisfortschritt an, der durch die Ausklammerung und Ausblendung von anderen Denk- und Fragemöglichkeiten erkauft wird.
4. Die Sinnbilder als Kulturprodukte Sinnbilder lassen sich zweifellos als Indikatoren für die Erkenntnisinteressen und Denkweisen von Individuen, Epochen und Kulturen verstehen bzw. als Zeugnisse von spezifischen Objektivierungsanstrengungen. Einmal in die Welt gesetzt verselbständigen sie sich meist schnell zu eigenständigen Wirkungsgrößen, die ihre Urheber und ihre Entstehungsgeschichte leicht vergessen lassen, weil sie selbst eine ganz eigenständige Wirkungsgeschichte entfalten. Dieser Emanzipationsprozess ist im Prinzip allerdings für alle Kulturprodukte kennzeichnend. Lichtenberg hat das im Hinblick auf Metaphern in einer Weise beschrieben, die sicher auch für Sinnbilder zutrifft: „Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge. Alles hat seine Tiefen.“ 30
Genese und Funktion von Kulturprodukten Seit Herder, Humboldt und Gehlen ist in der Kulturphilosophie immer wieder betont worden, dass Kulturgebilde und insbesondere die Sprache keine Luxusphänomene für die Menschen seien, sondern gleichsam in die Außenwelt verlagerte Organe seiner Existenzweise. Da der Mensch im Vergleich zu den Tieren hinsichtlich seiner lebensregulierenden Instinkte mangelhaft ausgestattet sei, benötige er kulturelle Institutionen vielerlei Art, um in der Welt überleben zu können. Als biologisches Mängelwesen gehöre für den Menschen die Kultur gleichsam als zweite Natur zu den Grundbedingungen seines Lebens.
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, 2005, S. 512, F. 369.
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Die Sinnbildproblematik
Im Anschluss an Hegel und Dilthey ist der Begriff objektiver Geist oft bemüht worden, um zusammenfassend alle vom menschlichen Geist hervorgebrachten kulturellen Ordnungsformen zu bezeichnen, die einen rückprägenden Einfluss auf das menschliche Leben und Denken ausüben. Diese Kulturphänomene die man vielleicht noch zutreffender als Formen des objektivierten Geistes bezeichnen kann, wurden dann von Dilthey als die ganz genuinen Gegenstände der Geisteswissenschaften angesehen, weil sie das konkrete Leben der Menschen in grundlegender Weise prägten. „In diesem objektiven Geist ist Vergangenheit dauernde beständige Gegenwart für uns.“ 31 Wenn wir in dieser Weise Kulturformen als Gebilde verstehen, die der Mensch zwar hervorgebracht hat, die sich aber im Laufe der Zeit dennoch so verselbständigt haben, dass sie einen rückprägenden Einfluss auf sein Denken und Handeln ausüben, dann kann man mit Landmann den Menschen auf eine fast paradoxe Weise als Schöpfer und Geschöpf der Kultur verstehen.32 Noch radikaler denkt diesbezüglich der Marxismus, wenn er den Menschen zum Produkt seiner Produkte erklärt. Sinnbilder haben dann als kulturelle Interpretationsformen für Welt auch eine genuine anthropologische Funktion, insofern sie als spezifische kulturelle Aneignungsformen von Welt verstanden werden können. Die Rückgeprägtheit des Menschen durch seine eigenen kulturellen Ordnungs- und Strukturierungsmuster hat auch Popper in etwas anderer Weise erhellend beschrieben. Er unterscheidet drei Welten, die der Mensch miteinander zu korrelieren habe. Die Welt 1 sei die physisch fassbare Welt, die unabhängig vom Menschen als Realität existiere. Die Welt 2 sei die Welt der bewussten Wahrnehmungen und Erlebnisse, die psychisch für den Menschen ebenfalls als eine unabweisbare Wirklichkeit vorhanden sei. Die Welt 3 sei schließlich die Welt der Kulturformen, die der Mensch im Laufe der Geschichte erzeugt habe und die für ihn einen prägenden Einfluss bei der Wahrnehmung von Welt 1 bzw. bei der Konstitution von Welt 2 bekomme. Der Welt 3 lässt sich nun nicht nur die Sprache insgesamt zurechnen, sondern sicher auch das Inventar von Sinnbildern und Metaphern, das eine Kultur für die Erfassung von bestimmten Gegenstandsbereichen der Natur und Kultur entwickelt hat.33 Die kulturellen Ordnungsformen der Welt 3 sind für Popper keine ahistorischen platonischen Ideen, sondern wandlungsfähige Ordnungshypothesen. Sie seien historisch veränderbar, aber sie hätten gegenüber den einzelnen Individuen gleichwohl eine bestimmende Macht, weil sich in ihnen Ordnungsleistungen manifestierten, die die Leistungs- und Fassungskraft einzelner Personen weit überstiegen. Deshalb hätten sie auch eine immanente Tendenz, sich zu
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W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 208. 32 M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961. 33 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, 19742 , S. 85 ff., S. 178 ff.
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festen Wissensobjektivierungen zu verhärten, deren ursprüngliche heuristische Funktionen dann leicht vergessen würden. Wenn diese Muster sich als praktikabel erwiesen, würden sie zu Führungssystemen, denen sich ihre Schöpfer kaum noch entziehen könnten. Gerade weil unserer ganzes subjektives Wissen, also all das, was die Welt 2 ausmacht, grundlegend von den Mustern der Welt 3 vorstrukturiert werde, spricht Popper auch davon, dass unsere Wahrnehmungen von Anfang an theoriegetränkt seien. So betrachtet bewegt sich unser ganzes Denken, und zwar auch dasjenige Denken, das wir für kreativ und innovativ halten, immer in dem Schwerkraftfeld der kulturellen Muster aus der Welt 3. Diese Situation kann man als Einschränkung unserer Denkfreiheiten bedauern, weil damit natürlich viele prometheische Kreativitätsansprüche zurückgenommen werden müssen. Man kann sie aber auch positiv bewerten, weil durch die Rückgriffe auf die Schatzkammer der Kultur unser Wahrnehmen und Denken erleichtert und inspiriert werden kann und nicht jede Generation bei der kognitiven Bewältigung der Welt von vorn beginnen muss. Für diese Situation hat Bernhard von Chartres im 12. Jahrhundert das schon erwähnte Bild geprägt, dass jede nachfolgende Generation wie Zwerge auf den Schultern von Riesen stünde.34 Auf dieses Denkbild soll im Zusammenhang der Überlegungen zur Wahrnehmung der Sprache als Speicher noch näher eingegangen werden, weil es sehr schön den ambivalenten Wert von Vorwissen und Traditionen beim Wissenserwerb veranschaulichen kann. Zweifellos gehören auch Sinnbilder zu den historisch entwickelten und überlieferten Produkten der Kultur. Sinnbilder für Sprache sind in diesem Zusammenhang natürlich besonders interessant, weil wir es hier ja nicht mit Sinnbildern für ein Naturphänomen zu tun haben, sondern mit solchen für ein Kulturphänomen. So sehr man sich auch bemühen mag, Sinnbilder über den Analogiegedanken als natürlich anzusehen und ontisch zu rechtfertigen, so wenig darf man darüber hinwegsehen, das Sinnbilder kulturspezifische Hypothesen sind, die sich aus kulturspezifischen Denkstilen und Bildfeldern herleiten. Zu beachten ist ferner, dass es zwischen zwei Phänomenen immer irgendwelche Ähnlichkeiten gibt und dass es eine genuin kulturelle Entscheidung ist, welche Ähnlichkeiten als relevant erachtet werden sollen und welche nicht. Dementsprechend können dieselben Dinge bzw. Vorstellungen in den verschiedenen Kulturen auch sehr unterschiedliche Sinnbildfunktionen übernehmen. So konnte beispielsweise die Schlange wegen ihrer Giftzähne zu einem Sinnbild für bedrohliche Mächte werden, aber wegen ihrer Fähigkeit zur Häutung auch zu einem Sinnbild für Erneuerungs- und Heilungsprozesse. Im mittelalterlichen Denken konnte der Löwe zu einem Sinnbild für Christus werden, insofern ihm zugeschrieben wurde, mit offenen Augen zu schlafen. Das machte ihn nämlich Christus ähnlich, da man davon ausging, dass dieser zwar als
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Vgl. R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, 1989.
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Mensch gestorben sei, aber als Gott dennoch weiterlebe und deshalb alles sehe. Der Löwe konnte aber sinnbildlich auch auf den Teufel verweisen, insofern dieser umherlaufe, um jemanden zu finden, den er verschlingen könne. Er konnte außerdem sogar ikonisch auf einen Häretiker verweisen, insofern ihm üble Gerüche aus dem Maule kämen ebenso wie dem Häretiker blasphemische Wörter.35 Die Sprache der Dinge kann von Kultur zu Kultur recht verschieden ausfallen. Sie ähnelt sich nur dort, wo die Dinge im Leben der Menschen ganz ähnliche Funktionen haben und deswegen hinsichtlich ihrer charakteristischen Merkmale auch auf ganz ähnliche Weise wahrgenommen werden. Sinnbildliche Traditionen ändern sich deshalb auch, wenn die Bildspender der jeweiligen Sinnbilder im Lauf der Zeit einen anderen lebensweltlichen oder kulturellen Stellenwert bekommen. Deshalb hat Weinrich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Bildung von Metaphern in hohem Maße immer auf kulturspezifische Bildtraditionen bzw. Bildfelder zurückgegriffen werde.36
Das Bildfeldkonzept Die Idee des Bildfeldes hat Weinrich in Analogie zu dem Konzept des Wortfeldes in der strukturell orientierten Semantik entwickelt, das auch unter dem Namen Begriffsfeld, Bedeutungsfeld und Assoziationsfeld bekannt geworden ist. Mit dem Konzept des Wortfeldes wollte man in der strukturellen Semantik darauf aufmerksam machen, dass man die Bedeutung eines Wortes nicht befriedigend allein im Blick auf seine jeweiligen semantischen Merkmale erfassen könne, sondern nur dann, wenn man auch seinen Stellenwert im Felde der Wörter mit ähnlicher Bedeutung berücksichtige. Das heißt konkret, dass man bei der semantischen Analyse von Wörtern zweierlei zu berücksichtigen hat. Einerseits ist nämlich zu beachten, dass jedes Wort in einer semantischen Oppositionsrelation zu seinen jeweiligen Feldnachbarn steht, insofern die Wahl eines Wortes im konkreten Sprachgebrauch natürlich immer auch als die Abwahl eines konkurrierenden Wortes verstanden werden kann. Andererseits steht jedes Wort aber auch immer in einer semantischen Ähnlichkeitsrelation zu seinen jeweiligen Feldnachbarn, insofern beide ja auf denselben Sachbereich bzw. denselben Sinnbezirk Bezug nehmen und eben deswegen auch als Unterbegriffe eines gemeinsamen Oberbegriffs in Erscheinung treten. So unterscheiden sich beispielsweise die beiden Wörter Schimmel und Rappe einerseits als Oppositionsbegriffe semantisch sehr deutlich voneinander, obwohl sie andererseits als Unterbegriffe des Oberbegriffs Pferd auch viel gemeinsam
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Vgl. F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 1977, S. 9 ff. Vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 283 ff.
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haben. Aus dieser Strukturdialektik ergeben sich nun wichtige Konsequenzen für die Diskussion der Bildfeldproblematik. Ebenso wie Wörter bzw. Begriffe lassen sich auch Sinnbilder hinsichtlich ihres semantischen und pragmatischen Wertes nicht isoliert beurteilen, sondern nur im Rahmen der Feldordnungen, in die sie eingebettet sind, bzw. im Kontext der Oppositions- und Ähnlichkeitsrelationen zu anderen Sinnbildern, die vergleichbare Interpretations- und Objektivierungsfunktionen haben. Das bedeutet, dass wir die Qualität und Funktionalität von Sinnbildern für Sprache feldmäßig betrachtet in einer doppelten Perspektive zu diskutieren haben. Einerseits können wir unser Interesse auf das Sachfeld richten, in dem der jeweilige Bildspender beheimatet ist. Dabei kommen dann insbesondere die Sachfelder der Natur (die Sprache als Organismus), der Kultur (die Sprache als Spiel) oder der Artefakte (die Sprache als Werkzeug) in Frage, aber auch die Subfelder dieser Großfelder wie beispielsweise das Sachfeld des Geldes, aus dem dann die Bildspender Münze, Prägung, Umlauf, Scheck usw. sinnbildlich für Sprache nutzbar gemacht werden können. Andererseits können wir alle Bildspender für Sprache als ein Bildfeld betrachten, dessen Mitglieder in einer bestimmten Oppositions- und Ähnlichkeitsrelation zueinander stehen. Das bedeutet wiederum, dass der Wert von einzelnen Bildspendern nur im Vergleich zu konkurrierenden Bildspendern bzw. im Hinblick auf deren besondere Perspektivierungsleistungen beschrieben und beurteilt werden kann. Das Konzept des Bildfeldes verdeutlicht außerdem, dass die Wahl eines spezifischen Bildspenders für einen zu strukturierenden Bildempfänger von ganz bestimmten Kulturtraditionen bedingt ist. Beispielsweise gibt es im abendländischen Kulturkreis eine gefestigt Tradition, Raumerfahrungen bzw. Raumvorstellungen als Bildspender zu verwenden, um das abstrakte Phänomen Zeit zu objektivieren und zu strukturieren. Ähnliches gilt für die Nutzung unserer Lichterfahrungen zur Konkretisierung unserer Vorstellungen von Erkenntnis und Erkenntnisprozessen. Wortfelder und Bildfelder sind keine ahistorischen stabilen Systemordnungen. Sie gestalten sich im konkreten Gebrauch vielmehr ständig um. Das bedeutet, dass die Mitglieder eines Bildfeldes im Laufe der Zeit auch einen jeweils anderen Stellenwert als Bildspender bekommen können. Beispielsweise haben sich im Verlauf der Geschichte unsere konkreten Sacherfahrungen von Werkzeugen oder von Geld so gewandelt, dass heute aus diesen Bildfeldern ganz andere spezifische Bildspender zur Verfügung stehen als zu früheren Zeiten. Zusammengehalten werden die einzelnen Bildfelder in der Regel durch eine gemeinsame Lebenspraxis sowie durch gemeinsame ontologische Grundanschauungen und Sehnsüchte. Aus der Wahl von Bildspendern zur Objektivierung und Strukturierung von unübersichtlichen oder komplexen Phänomenen wie etwa der Sprache lässt sich nicht nur etwas über diese Phänomene selbst in Erfahrung bringen, sondern auch etwas über die Denkstile der jeweiligen Individuen, Epochen und Kulturen, weil jede Wahl im Prinzip eine verdeckte Affirmations- oder Negationshandlung ist. Durch die Wahl von Bildspendern gibt ein Sprecher bewusst
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oder unbewusst zu erkennen, was er an dem Phänomen interessant findet, das als Bildempfänger bzw. als Erkenntnisobjekt im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit steht. Gerade über die konventionalisierten Metaphern lässt sich deshalb oft sehr gut rekonstruieren, welche Bildfelder kulturgeschichtlich besonders wirksam gewesen sind. Lakoff und Johnson haben gezeigt, dass unsere Konzeptualisierungen von abstrakten Phänomenen in der Regel einen metaphorischen Hintergrund haben. Ohne das Bildfeldkonzept zu kennen, haben sie beispielsweise hervorgehoben, dass unsere Vorstellung des Phänomens Argumentation weitgehend durch Bilder strukturiert werde, die aus den Bildfeldern der Reise (Argumentationsschritt), der Gebäude (Argumentationsstruktur) oder des Krieges (Argumentationsstrategie) stammten.37 Bei der Nutzung eines Bildfeldes bzw. eines Bildspenders für die Objektivierung und Strukturierung eines Bildempfängers werden nicht nur konkrete Einzelvorstellungen und Einzelerfahrungen aktiviert, sondern oft umfassende Wissens- und Assoziationsfelder bzw. ganze Geschichten, in die die jeweiligen Bildspender verstrickt sind oder verstrickt werden können. Die Lebendigkeit und Konzeptualisierungskraft von einzelnen Sinnbildern hängt deshalb auch im hohen Maße von dem historischen und systematischen Wissen der jeweiligen Sinnbildnutzer ab. Bildfelder sind deshalb auch als Traditionsfelder anzusehen, die im historischen Abstand immer schwerer lesbar werden. Durch Bildfelder und Sinnbilder wird allerdings nicht nur Asche weitergegeben, sondern immer auch Glut, die neue Feuer entzünden kann. Die aus den jeweiligen Bildfeldern entwickelten einzelnen Sinnbilder drängen immer auf Variation, Ergänzung und Kontrast, um nicht trivial und epigonal zu werden. Wer bei der Bildung und dem Gebrauch von Sinnbildern nur auf den Wegen bleibt, welche die jeweiligen Bildfeldtraditionen vorgeben, der stellt sicher, dass diese leicht verstanden werden. Wer aber nur in den Spuren dieser Traditionen bleibt, der kann weder den Anspruch erheben, neue Denkperspektiven zu eröffnen, noch den Anspruch, durch seine Sinnbilder bzw. durch den Stil seines Sprachgebrauchs auch die Physiognomie seines eigenen Geistes kenntlich zu machen oder gar selbst Spuren in der Sprache zu hinterlassen.
5. Die Vielfalt der Sinnbilder für Sprache Die sinnbildliche Objektivierung des Phänomens Sprache hat von vornherein eine ganz andere kognitive Intentionalität als die begriffliche. Die Frage nach dem Begriff von Sprache ist nämlich im Prinzip zugleich auch immer die Frage nach dem richtigen Begriff von Sprache, da Begriffe meist als Manifestati-
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G. Lakoff / M. Johnson, Leben in Metaphern, 20044, S. 114 ff.
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onsformen von platonischen Ideen bzw. von Wesensobjektivierungen verstanden werden. Dagegen wirkt die Frage nach dem richtigen Sinnbild von Sprache vornherein etwas merkwürdig, weil wir gar nicht erwarten, dass es nur ein einziges richtiges Sinnbild von Sprache geben könnte. Begriffe sind auf ihrer jeweiligen Abstraktionsebene immer auf Singularität hin angelegt, während Sinnbilder von vornherein auf eine gewisse Pluralität hin orientiert sind, obwohl wir einzelne Sinnbilder natürlich durchaus als überzeugender als andere ansehen können. Da Begriffe Bausteine von Aussagen bzw. Theorien sein wollen und nicht nur variable Elemente von Geschichten, dulden sie keine Konkurrenten für ihren jeweiligen Platz in Begriffssystemen, ganz gleich ob es sich um Begriffe an der Spitze einer Begriffspyramide handelt oder um Subbegriffe von Oberbegriffen. Deshalb gibt es auch einen ständigen Kampf darum, wie Begriffe richtig zu bilden bzw. zu definieren sind, um den jeweiligen Systemplatz richtig auszufüllen. Definierte Begriffe haben aus diesem Grunde auch immer eine große Nähe zu dogmatischen Denkformen. Deshalb kämpfen Philosophen und Sprachwissenschaftler ja auch ständig um den richtigen Begriff von Sprache. Sinnbilder haben dagegen eine genuine Abneigung gegen alle Formen dogmatischen Denkens. Sie wollen eigentlich nicht mit der Frage konfrontiert werden, ob sie wahr oder falsch sind, sondern vielmehr mit der Frage, inwiefern sie aufschlussreich und fruchtbar sind. Sprachwissenschaftliche Schulen, die sich dem Rationalismus im engeren Sinne sowie einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis verpflichtet fühlen, tun sich deshalb mit der Wertschätzung von Sinnbildern für Sprache ziemlich schwer. Das ist insofern auch gut verständlich, da Sinnbilder sich in sprachtheoretischen Argumentationsprozessen nicht gut verwenden lassen, sondern besser in hermeneutischen und phänomenologischen Reflexionsprozessen über Sprache, die eher nach Plausibilitäts- und Fruchtbarkeitskriterien beurteilt werden wollen als nach den Kriterien von wahr oder falsch in einem korrespondenztheoretischen Sinne. Alte Sinnbilder verlieren ihre Existenzberechtigung in der Regel nicht, wenn neue auftauchen, weil sie im Prinzip immer zu einem polyperspektivischen Denken einladen bzw. dazu, fortgesponnen und ergänzt zu werden. Sie wollen zwar bestimmte Sacherfahrungen in einer konkreten Vorstellungsgestalt zusammenführen, aber dabei die jeweils erzielten Vorstellungsbildungen nicht dogmatisch abschließen. Sinnbilder sind im Prinzip Ausdrucksformen eines experimentellen Denkens, in dem Erkenntnisprämissen und Erkenntnisziele immer wieder wechseln können. Deshalb streben Sinnbilder für Sprache auch keinen aperspektivischen göttlichen Blick auf Sprache von nirgendwo an, sondern vielmehr einen perspektivischen menschlichen Blick von einem lebensweltlich relevanten Sehepunkt her. Sinnbilder für Sprache sind also auf ganz natürliche Weise von vornherein auf Pluralität angelegt. Wenn ein Sinnbild todernst genommen wird, dann wird es falsch, weil dann seine heuristischen Perspektivierungsfunktionen und sein spezifischer Spielcharakter vergessen werden, die es verbieten, es als ein letztes Wort über einen Sachverhalt anzusehen. Wenn wir
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Sinnbilder nicht nur mit Hilfe von Begriffen, sondern auch mit Hilfe anderer Sinnbilder zu interpretieren versuchen, dann zeigt das, dass wir in einen hermeneutischen Zirkel des Verstehens eingetreten sind, der logisch zwar bedenklich erscheinen mag, der aber dennoch hilft, mit Problemen fertig zu werden, denen das analytische und lineare begriffliche Denken kaum gewachsen ist.
Pluralität als Ausdrucksform von Gewaltenteilung und Skepsis Wenn man Sinnbildern eine immanente Tendenz zur Pluralität zubilligt, dann liegt es nahe, die Opposition von Sinnbildern und Begriffen mit der von Polytheismus und Monotheismus zu vergleichen bzw. mit der von Polymythie und Monomythie. Auf diese Opposition hat Odo Marquard verwiesen, um seine Denkposition als Skeptiker und Ironiker zu motivieren und zu legitimieren. Wenn er von dem Polytheismus als einer genuinen Manifestationsweise des Freiheitsgedankens spricht, dann dürfen wir das nicht als eine empirische oder religionsgeschichtliche These verstehen, sondern eher als Ausdrucksform eines sinnbildlichen Denkens, durch das auf ganz bestimmte Strukturzusammenhänge aufmerksam gemacht werden soll. Und eben deshalb ist sein Denkansatz auch für den hier thematisierten Problemzusammenhang so interessant. Den antiken Polytheismus kann man mit Burkert als ein religiöses Denken verstehen, in dem nicht nur an demselben Ort und zu der gleichen Zeit viele Götter verehrt werden, sondern auch von derselben Gruppe bzw. von demselben Individuum. Im Polytheismus achte zwar jeder Einzelgott auf seine Ehre, aber er bestreite keinem anderen seine Existenzberechtigung. Verhängnisvoll für die Menschen sei nur, einen der Götter zu übersehen bzw. gering zu achten. Die ganze Götterwelt sei dabei weniger im Sinne eines organisierten Systems zu verstehen, sondern eher im Sinne eines komplexen Netzwerkes von Beziehungen mit relativ offenen Grenzen zwischen den Herrschaftsbereichen der einzelnen Götter. Diese seien sich bezeichnenderweise auch selbst nicht zu schade, sich wechselseitig hinters Licht zu führen.38 Der Polytheismus ist für Marquard nun vor allem deswegen so faszinierend, weil mit ihm zugleich eine Polymythie verbunden ist bzw. eine Vielfalt von sinnträchtigen Geschichten, die von vornherein jedweden Monomythos bzw. jedwede geschlossene Sinn- und Theoriebildung ausschließt. Derjenige, der nur an einem Monomythos teilnehmen will oder kann, lebt nach Marquard einerseits verarmt und andererseits gefährdet, da für ihn die Vielfalt von Geschichten zugleich auch eine Form der „Gewaltenteilung“ darstellt.39 Deshalb polemisiert er auch gegen jede Form eines Monomythos bzw. einer Monotheo-
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Vgl. W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, 1977, S. 331 ff. 39 O. Marquard, Lob des Polytheismus, in: O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 98.
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rie. Er plädiert für die Vielfalt von Geschichten, weil dadurch dem dogmatischen Denken vorgebeugt werde. Für ihn ist die geistige Gewaltenteilung in einer „aufgeklärten Polymythie“ sogar eine Voraussetzung für die Genesis des Individuums. Dieses brauche zu seiner Entfaltung sogar „ein gewisses Maß an Schlamperei, die durch die Kollision der regierenden Gewalten entsteht…; ein Minimum an Chaos ist die Bedingung der Möglichkeit der Individualität.“ 40 Die Vielfalt von Geschichten für einen Sachbereich, die sicherlich auch eine Vielfalt von Sinnbildern für diesen einschließt, ist für Marquard kein destruktiver Relativismus, der letztlich alles gelten lasse, sondern vielmehr Ausdruck einer geistigen Grundhaltung, die er Skepsis nennt und die für ihn zugleich eine Erscheinungsweise der Gewaltenteilung darstellt. Die Skepsis diene vor allem dazu, Fragen offen zu halten und Fortschritt nicht dadurch anzustreben, dass man methodisch all das ausklammere, was eine geschlossene Theoriebildung erschwere. Der Skeptiker sei nicht derjenige, der alles in Frage stelle, sondern derjenige, der ernsthaft mit Wörtern und Denkmöglichkeiten spiele, um sich selbst nicht vorschnell vom Aspektreichtum der Phänomene auszuschließen. Der Skeptiker, der das Risiko des offenen Auges nicht scheue, suche Distanz, verabscheue abschließende Antworten, halte keine Wahrnehmungsperspektive für endgültig, ertrage Widersprüche, plädiere für kleine Antworten und schwöre allen Formen einer Vollendungsphilosophie ab. „Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der A b s c h i e d v o m P r i n z i p i e l l e n.“ 41 Mit dieser Denkhaltung steht Marquard in einer langen Tradition von Philosophen, Sprachliebhabern und Dichtern, die eine Schwäche für den bildlichen Sprachgebrauch haben und für die die Vielfalt von Sinnbildern für dasselbe Phänomen überhaupt kein Anlass ist, in Depressionen zu verfallen. Jean Paul hat beispielsweise den Skeptiker auf ganz ähnliche Weise wie Marquard charakterisiert. „Der Skeptiker hat widersprechende Seiten gesehen; er weis genug, um sich die Brille des Systems nicht aufsezzen zu lassen; allein er weis zu wenig, um nicht Skeptiker zu sein.“42 Dem Widerstreit der Sinne und des Verstandes, der sich ja auch als ein Widerstreit zwischen dem bildlichen und dem begrifflichen Denken bzw. Sprechen betrachten lässt, kann Jean Paul gerade als Skeptiker eine fundamentale anthropologisch begründbare Wertschätzung abgewinnen. „Sinne und Verstand – siehe! zwei Feinde, die ewig mit einander im Streit liegen, und da ieder nur siegt, um in kurzem vom andern überwunden zu werden. Unseren Sinnen haben wir viel zu danken; wenigstens die Irrtümer, die uns auf die Wahrheit gebracht haben. Sie betrügen immer; allein in diesem Betrug liegt auch der
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O. Marquard, a.a.O., S. 108. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, a.a.O. S. 17. 42 J. Paul, Vom Menschen, Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 1, 19962, S. 267. 41
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Same der Wahrheit. Wir lösen das vermischte Licht der Sinne durch das Prisma der Vernunft in seine einfachen Farben auf; wir gehen weiter als uns der Schöpfer die Macht gab; wir sehen durch das Sonnenlicht nicht blos andre Gegenstände; wir sehen durch dasselbe uns selbst. Ein Licht zündet das andre an, und unsere Sinne erleuchten unsern Verstand. Der Mensch ist ein Sklav seiner Sinne und zu ewigen Irrtümern verdamt; allein er mus eben so gut der Vernunft gehorchen; er mus zween Herren dienen.“ 43
Wenn wir die Pluralität der Sinnbilder für Sprache durch die Augen eines Skeptikers im Sinne von Jean Paul und Marquard sehen, so ist deren Vielfalt eher als eine Stärke denn als eine Schwäche des menschlichen Denkens anzusehen, weil wir eben dadurch für die Vielfalt der möglichen Wahrnehmungsperspektiven für bestimmte Gegenstände sensibilisiert werden. Die verschiedenen Sinnbilder für Sprache veranschaulichen uns, dass wir Sprache in sehr vielfältigen Kontexten und Blickwinkeln wahrnehmen können. Außerdem ist zu beachten, dass die vielfältigen Sinnbilder für Sprache auch als Erinnerungskerne für vielfältige Geschichten über Sprache dienen können, in denen wir unsere Vorstellung von Sprache mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen verknüpfen können. Die unterschiedlichen Sinnbilder für Sprache können uns einerseits gegen ein dogmatisches Sprachdenken immunisieren, aber uns andererseits auch dazu zwingen, unsere eigenen Denkprämissen und Denkziele beim Nachdenken über Sprache immer wieder zu präzisieren.
Pluralismus und Monismus In den bisherigen Überlegungen ist immer wieder plausibel zu machen versucht worden, dass Sinnbilder nicht als bloße Vorstufen von Begriffen zu betrachten sind und dass ihre kognitiven und kommunikativen Objektivierungsleistungen keineswegs vollständig durch die von Begriffen ersetzt werden können. Das Leistungspotenzial von Sinnbilder und Begriffen ergänzt sich vielmehr und gewinnt erst durch diesen spannungsvollen Korrelationszusammenhang sein spezifisches Profil. Die Gewaltenteilung zwischen den sinnbildlichen und begrifflichen Objektivierungsformen bzw. zwischen den vielen sinnbildlichen Denkformen untereinander ist allerdings erst dann wirklich fruchtbar, wenn man die Macht der jeweiligen Eigengewalten sinnvoll untereinander ausbalancieren kann. Das bedeutet, dass wir den Pluralismus von Objektivierungsformen erst dann wirklich schätzen können, wenn er durch einen übergeordneten Monismus auch irgendwie zusammengehalten und strukturiert wird. Falls die einzelnen Teilgewalten nur in einer additiven Relation zueinander stehen, dann besteht immer die Gefahr, dass eine Teilgewalt zu einer Monogewalt werden
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J. Paul, a.a.O., S. 268.
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möchte. Deshalb haben wir auch ein Augenmerk darauf zu richten, in welches Ergänzungs- und Interaktionsverhältnis die Teilgewalten miteinander gebracht werden können. Daher kann sich das Vielheitsdenken letztlich auch nicht sinnvoll vom Einheitsdenken lösen bzw. der Pluralismus nicht vom Monismus.44 Aus der Interdependenz von Pluralismus und Monismus ergeben sich für die hier ins Auge gefasste Problematik dann folgende Konsequenzen. Wir können den Pluralismus von Sinnbildern für Sprache nicht nur als einen Ausdruck kognitiver Gewaltenteilung preisen, weil er uns vom Monomythos eines einzigen Begriffs oder Sinnbilds von Sprache befreit, wir haben auch danach zu fragen, wodurch dieser Pluralismus zusammengehalten wird und wie sich die einzelnen Sinnbilder wechselseitig ausbalancieren bzw. ergänzen lassen. Diese Frage ist wohl kaum abschließend zu beantworten, aber sie ist doch dazu dienlich, uns für ein wichtiges Problem zu sensibilisieren. Ebenso wenig wie wir uns dem Charme des polyperspektivischen Vielheitsdenkens entziehen können, ebenso wenig können wir uns auch der Sehnsucht nach einem stabilen Wahrnehmungsgegenstand und nach einem stabilen und übersichtlichen Wissen über ihn entziehen. Ein additiver Pluralismus von Sichtweisen auf Sprache ist uns letztlich wohl genauso suspekt wie das monistische Verständnis von Sprache als eines autonomen und in sich geschlossenen Systems. Sprache wird uns erst dann wirklich interessant, wenn wir sie in fast paradoxer Weise sowohl als feste als auch als variable Größe betrachten können. Einerseits wünschen wir, dass die Sprache ein autonomes Phänomen von konstanter Identität sein möge, um verlässlichen Gebrauch von ihr machen zu können. Andererseits wünschen wir, dass sie ein plastisch formbares Funktionsspektrum haben möge, um sie entsprechend unseren aktuellen Bedürfnissen variabel nutzen oder gar umgestalten zu können. Wie lassen sich nun diese gegenläufigen Wünsche unter einen Hut bringen? Wie können wir der Sprache Konstanz, Identität und Autonomie zubilligen und dabei zugleich akzeptieren, dass sie uns in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven auch unterschiedlich erscheint? Die Spannung zwischen diesen beiden gegenläufigen Wünschen lässt sich diskursiv und begrifflich wohl kaum auflösen, aber vielleicht bildlich, wenn wir die Wahrnehmung von Sprache mit der Wahrnehmung einer Skulptur vergleichen oder gar analogisieren. Eine Skulptur können wir in ihrer Einheitlichkeit und Vielfalt nicht von einem einzigen unveränderlichen Sehepunkt her erfassen, sondern nur, wenn wir um sie herum gehen und sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Je nach unserer eigenen Wahrnehmungsposition, je nach dem aktuellen Hintergrund und je nach den besonderen Lichtverhältnissen können wir uns perspektivisch unterschiedliche, aber sich doch ergänzende Wahrnehmungsinhalte von demselben Wahrnehmungsgegenstand erarbeiten. Bei einem solchen
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Vgl. A. Halbmeyer, Lob der Vielheit, 2000, S. 400 ff.
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Rundgang um eine Skulptur bzw. mit Hilfe unserer individuellen Eigenbewegung nehmen wir diese je anders und doch als dieselbe wahr. In einem solchen Verfahren entwickeln wir nicht nur ein Bewusstsein von aktuellen Wahrnehmungsinhalten, sondern auch ein Bewusstsein von der Relation unserer aktuellen Wahrnehmungsinhalte zu unseren potenziellen. Eine Skulptur verliert ihre Identität und Konstanz keineswegs dadurch, dass wir sie faktisch unterschiedlich wahrnehmen können, sondern bekommt vielmehr gerade dadurch ihre spezifische Charakteristik, dass sie Gegenstand von unterschiedlich perspektivierten Wahrnehmungsstrategien werden kann. In ähnlicher Weise verliert auch die Sprache ihre Identität keineswegs dadurch, dass wir sie uns über ganz unterschiedliche Wahrnehmungsstrategien bzw. Sinnbilder aspektuell zugänglich machen können, sondern gewinnt ihre für uns relevante Identität gerade erst durch ihre vielfältige Wahrnehmbarkeit. Die Parallelisierung der Erfassung von Skulpturen und Sprache ist einerseits sicherlich erhellend und plausibel, aber andererseits auch vereinfachend. Beide Phänomene lassen sich nämlich nicht so problemlos analogisieren, wie es auf den ersten Blick als möglich erscheint. Eine Skulptur ist ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen, das kraft seiner Materialität eine relativ stabile Existenz in Raum und Zeit hat, was eine intersubjektive Verständigung über ihre Identität natürlich sehr erleichtert. Eine Sprache ist dagegen ein Phänomen, das zwar auch eine sinnlich fassbare akustische Außenseite hat, aber diese bleibt in Raum und Zeit ja nicht stabil. Das Phänomen Sprache müssen wir vielmehr in hohem Maße als ein theoretisches Abstraktionsprodukt ansehen, das aus der Beobachtung von Regularitäten beim Gebrauch von verbalen Zeichen in kognitiven und kommunikativen Handlungen abgleitet worden ist. Daraus ergibt sich, dass die Sprache eine sehr unterschiedliche historische, räumliche und pragmatische Existenzweise bzw. Identität haben kann und dass sie eben deswegen auch nur in einem gewissen Sinne mit einer Skulptur analogisierbar ist. Aus diesem Grunde können wir uns das Phänomen Sprache auch nicht in derselben Weise perspektivisch erschließen wie das Phänomen Skulptur. Durch objektivierende Begriffe und Sinnbilder wird das Phänomen Sprache in einem sehr viel radikaleren Sinne für uns als Wahrnehmungsgegenstand konstituiert als eine Skulptur durch den objektivierenden Rundgang um sie. Die Faktizität einer Skulptur wird durch ihre Wahrnehmungsweisen nicht hergestellt, sondern nur interpretativ konkretisiert und differenziert. Die Faktizität von Sprache wird durch Begriffe und Sinnbilder über sie zwar auch nicht hergestellt, aber durch deren Nutzung wird doch in einem vergleichsweise sehr viel höherem Maße festgelegt, wie Sprache für uns zu einem konkreten Beobachtungs- und Denkgegenstand werden kann oder soll. Die Wahrnehmung von Sprache mit Hilfe von Sinnbildern ist deshalb weniger als ein nachbildender Objektivierungsprozess zu verstehen, sondern eher als ein demiurgischer Konstitutionsprozess auf der Basis eines recht unübersichtlichen Rohmaterials. Das bedeutet, dass Sinnbilder in hohem Maße nicht nur eine deskriptive, sondern zugleich auch eine normative Funktion bei der
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Konstitution des Vorstellungsphänomens Sprache haben können. Infolgedessen haben wir dann auch immer zu entscheiden, welche Sinnbilder für Sprache wir für plausibel halten und welche nicht bzw. wann die Pluralität von Sinnbildern unserem Erkenntnisziel zuwider läuft, der Sprache eine für uns konsistente Identität zuzuschreiben. Prinzipiell schließen sich Vielheit und Einheit in Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen nicht aus, weil sie sich ja wechselseitig Hintergrund geben. Allerdings müssen beide Erfahrungen auch immer wieder neu ausbalanciert werden. Die Fähigkeit zur Pluralisierung von Wahrnehmungsinhalten sollte deshalb weder einschränkungslos als Kreativität gepriesen noch als Ursache einer Gegenstandsauflösung und Quelle subjektiver Desorientierungen verdammt werden. Die Intention zur monistischen Vereinfachung und Konzentration von Wahrnehmungsinhalten sollte weder vorbehaltlos als ein stabilisierendes Objektivierungsmittel gepriesen noch als Quelle von ideologischen Simplifizierungen und Verzerrungen verdammt werden. Alle Wahrnehmungsprozesse haben nämlich sowohl eine immanente Tendenz zur aspektuellen Differenzierung als auch zur gestaltbildenden Vereinheitlichung von Wahrnehmungsgegenständen bzw. eine Neigung zur Analyse und zur Synthese. Dieses Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Tendenzen lässt sich nicht beseitigen, sondern nur auf mehr oder minder fruchtbare Weise ausbalancieren. Grundsätzlich haben wir zu beachten, dass sich ein komplexes Phänomen wie etwa die Sprache keineswegs mit nur einem einzigen methodischen Zugriff adäquat erfassen und vergegenständlichen lässt. Außerdem ist zu beachten, dass die Sprache für uns kein Phänomen in der Welt unter anderen ist, da sie zugleich eine Prämisse und ein Produkt all unserer geistigen Strukturierungs- und Objektivierungsanstrengungen ist. Sie ist, bildlich gesprochen, zugleich Henne und Ei und entzieht sich eben dadurch auch in einem hohen Maße jedem rein linearen und kausal organisierten Objektivierungsdenken. Wenn wir Sprache gebrauchen, dann können wir durch ihre spezifische Nutzung zugleich auf anderes und auch auf sie selbst aufmerksam machen, da sie nämlich sehr unterschiedliche Einzelfunktionen übernehmen kann (Repräsentieren, Klassifizieren, Bewerten, Andeuten, Korrelieren, Analogisieren, Interpretieren usw.). Die natürliche Sprache ist sicherlich als das umfassendste Zeichensystem anzusehen, das wir besitzen. Mit ihr können wir nämlich für uns und für andere die Welt sprachlich objektivieren, andere Zeichensysteme konstruieren und die Sprache selbst oder einzelne ihrer Formen interpretieren bzw. für neue Bedürfnisse sogar umgestalten. Deshalb ist auch kaum zu erwarten, dass sie nur durch einen einzigen Begriff bzw. durch ein einziges Sinnbild adäquat erschlossen und objektiviert werden kann. Genauso wie man viele Fragen nach der Struktur und Funktion der Sprache stellen kann, genauso kann man auch viele Sinnbilder für die Sprache entwerfen, die bei der Beantwortung dieser Fragen hilfreich sein können. Die Vielfalt von Sinnbildern lässt sich dementsprechend dann auch sowohl als ein Indiz für den Aspektreichtum der Sprache verstehen als auch als ein Indiz für
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den Einfallsreichtum der Menschen, sich diesen Reichtum semiotisch und geistig zu erschließen. Die spannungsreiche Variabilität und Funktionalität von Sprache, die sich in der Vielfalt und Komplexität der für sie entwickelten Sinnbilder und deren flexibler Interpretation widerspiegelt, lässt sich recht gut mit der in der Biologie entwickelten Denkfigur des Fließgleichgewichts in offenen Systemen erläutern.45 Diese Denkfigur veranschaulicht sehr schön die nur auf den ersten Blick paradoxe Situation, dass sich die Einheit und Stabilität von evolutionär gewachsenen Ordnungsgestalten durchaus auf deren innerer Flexibilität gründen kann. Daraus folgt, dass wir das Phänomen der Prozessualität bzw. Variabilität auf eine fast paradoxe Weise geradezu als eine konstitutive Voraussetzung für die Stabilität und Identität komplexer Systeme ansehen können. Ebenso wie ein Stelzengänger oder ein Seiltänzer sein Gleichgewicht nur dadurch aufrechterhalten kann, dass er sich ständig bewegt und nicht in einer einzigen Position beharrt, so gewinnen wir vielleicht auch nur dadurch eine ausgewogene und stabile Vorstellung von Sprache, dass wir bei ihrer Betrachtung nicht in einer einzigen Wahrnehmungsperspektive verharren. Vielleicht müssen wir bei ihrer Objektivierung in einen Wahrnehmungsprozess eintreten, in dem unterschiedliche und möglicherweise sogar gegenläufige Wahrnehmungsweisen sich wechselseitig im Sinne eines Fließgleichgewichtes austarieren. Die Entwicklung und Nutzung von unterschiedlichen Sinnbildern für Sprache wäre so gesehen dann ein Indiz dafür, dass wir die Sprache als widerborstiges, komplexes und dynamisches Objekt wirklich ernst nehmen und nicht dem Wahn verfallen, sie in einer einzigen Wahrnehmungsperspektive bzw. mit einem einzigen Begriff kognitiv bewältigen bzw. theoretisch erledigen zu können. Wenn man sich bemüht, konkret nachzuvollziehen, auf welche Fragen die einzelnen Sinnbilder für Sprache eine Antwort geben wollen, dann spricht ihre Vielzahl und Vielfältigkeit nicht gegen eine einheitliche Identität der Sprache, sondern nur für die Vielfalt ihrer Aspekte und Funktionsmöglichkeiten. Goethe hat das prägnant so beschrieben: „Mit den Ansichten, wenn sie aus der Welt verschwinden, gehen oft die Gegenstände selbst verloren. Kann man doch im höheren Sinne sagen, daß die Ansicht der Gegenstand sei.“ 46 Vielleicht kann man die fließende Vielfalt der sinnbildlichen Wahrnehmungsweisen von Sprache auch mit der wirklichkeitskonstitutiven Funktion des Zeitflusses vergleichen. Darüber hat Musil die folgende auf den ersten Blick recht paradoxe Aussage gemacht: „Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt.“ 47
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L. von Bertalanffy, Das biologische Weltbild, 1949, S. 120 ff. J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Werke, Bd. 12, S. 436, Nr. 517. 47 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke Bd. 2, S. 445 46
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Die Sprache und ihre Sinnbilder
Bei der Beschreibung der Leistungskraft von Sinnbildern für Sprache ist zweierlei zu beachten. Einerseits können wir einzelne Sinnbilder als eigenständige Größen mit einem ganz bestimmten Reichtum an Einzelaspekten und Analogiepotenzialen wahrnehmen. Andererseits müssen wir sie aber auch als Bestandteile von Bildfeldern sehen, deren Stellenwert sich erst in ihren Oppositions- und Äquivalenzrelationen zu ihren jeweiligen Bildfeldnachbarn im weiteren und engeren Sinn erschließt. Das bedeutet, dass wir die einzelnen Sinnbilder sowohl unter dem Aspekt ihrer Autonomie als auch unter dem Aspekt ihrer Familienähnlichkeit bzw. Funktionsähnlichkeit mit anderen Sinnbildern zu betrachten haben. Weiterhin ist zu beachten, dass die einzelnen Sinnbilder sowohl aus dem Bereich der Natur (Schlange, Organismus, Fluss) als auch aus dem Bereich der Kultur (Werkzeug, Bauwerk, Fenster) als auch aus einem Bereich kommen können, wo Natur und Kultur sich ineinander verschlingen können (Weg, Spiegel, Spiel). Die Grenze zwischen Natur- und Kulturphänomenen ist ohnehin nicht immer scharf zu ziehen, weil die Begriffe Natur und Kultur für uns eher eine typisierende als eine kategorisierende Ordnungsfunktion haben. Da wir Natur immer im Rahmen bestimmter kultureller Objektivierungsmuster wahrnehmen, treten einzelne Naturphänomene für uns immer schon kulturbewertet oder theoriegetränkt in Erscheinung. Das belegt nicht nur das Theorem von der Analogie des Seins, sondern auch unsere Rede vom Schatz der Natur oder von der Ausbeutung der Natur. In jedem anthropologisch akzentuiertem Denken treten Natur und Kultur immer als verwandte und ineinander verschlungene Seinsbereiche in Erscheinung. Was in der Natur und Kultur als Form wahrgenommen wird, das hat immer schon eine gewisse Sinnrelevanz. Deshalb eignen sich dann auch Naturund Kulturphänomene gleichermaßen gut dazu, als Bildspender für Sinnbilder in Dienst genommen zu werden, weil beide nicht als bloße Gegebenheiten verstanden werden, sondern vielmehr als strukturierte und bewertete Ordnungsgestalten, denen potenziell vielerlei Verweisungs- bzw. Sinnbezüge zukommen können.
I
Die Sprache als Schlange
Auf den ersten Blick liegt es gar nicht so nahe, die Schlange als ein Sinnbild für Sprache anzusehen, weil die Wörter bzw. die Begriffe Schlange und Sprache relativ selten direkt syntaktisch miteinander verknüpft oder gar miteinander identifiziert werden. Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass unsere Vorstellungen von Schlangen in vielen Wortbildungen, Redewendungen, Mythen, Märchen und Polemiken immer wieder unmittelbar oder mittelbar mit dem Phänomen Sprache verbunden worden sind. Deshalb rechtfertigt es sich sehr wohl, die Schlange als Sinnbild für Sprache ins Auge zu fassen und danach zu fragen, wie wir uns über unser alltägliches, zoologisches und kulturelles Wissen von Schlangen die Sprache als ein außerordentlich komplexes Phänomen auf fruchtbare Weise näher erschließen können. In diesem Zusammenhang kann man zunächst an folgende Redewendungen erinnern, die unsere Erfahrungen von Schlangen und Sprache miteinander analogisieren: gewundene Ausdrucksweise, sich argumentativ durchschlängeln, sprachlicher Biss, gespaltene Zunge, doppelzüngige Rede, sprachliche Häutungen usw. All diese Redeweisen haben sich im Sinne toter Metaphern phraseologisch verfestigt. Sie dokumentieren, dass die Analogisierung von Schlange und Sprache keineswegs an den Haaren herbeigezogen ist, sondern durchaus als ein festes, sprachlich verankertes Denkmuster zu bewerten ist. Eine kulturgeschichtlich sehr wirkungsvolle Verbindung unserer Schlangen- und Sprachvorstellung findet sich im abendländischen Kulturkreis im Gefolge der biblischen Geschichte von der Austreibung von Adam und Eva aus dem Paradiese bzw. vom sogenannten Sündenfall. In diesem Mythos wird die Sprache zwar nicht direkt mit der Schlange identifiziert oder analogisiert, aber in der Rezeptionsgeschichte dieser Erzählung ist die Sprache doch immer wieder direkt oder indirekt mit der Vorstellung der Schlange verbunden worden. Hamann spricht 1786 trotz seiner weitgehenden Identifizierung von Vernunft, Sprache und Logos vom „Schlangenbetrug der Sprache.“1 Kant redet 1797 von den „Schlangenwindungen“ der Lüge.2 Jacobi schreibt 1793 in einem Brief an Herder: „Die Sprache bleibt die alte Schlange die sie schon im Paradiese war.“3 Auch Mauthner nimmt 1906 auf den biblischen Text Bezug:
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J. G. Hamann, Golgotha und Scheblimini, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 298. I. Kant, Metaphysik der Sitten, B 35, Werke, Bd. 8, S. 685. 3 F. H. Jacobi, Werke, Bd. 3, S. 557. 2
Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange
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„…die Sprache ist die Teufelin, die der Menschheit das Herz genommen hat und die Früchte vom Baum der Erkenntnis dafür versprochen… Die Sprache hat die Menschheit aus dem Paradiese vertrieben.“ 4 Wenn wir die Schlange als Sinnbild für Sprache in Anspruch nehmen und dabei auf unser alltägliches, zoologisches und kulturhistorisches Wissen von Schlangen zurückgreifen, dann geht es natürlich weder um Sprache im Sinne eines abstrakten Sprachsystems (langue) noch um Sprache im Sinne einer konkreten Spachverwendung (parole), sondern um Sprache als ein sinnstiftendes Medium. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf das, was Humboldt im Auge hatte, als er die Sprache nicht als Werk, sondern als Tätigkeit bestimmte, nämlich als „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.“ 5 Nur wenn wir die Sprache in dieser genetischen Betrachtungsweise als ein universales Kognitions- und Kommunikationsmittel und damit als eine genuine Manifestationsform des Geistes betrachten, dann erschließen sich uns die komplexen sinnbildlichen Funktionen des Bildspenders Schlange für den Bildempfänger Sprache. In dieser Wahrnehmungsperspektive wird dann auch verständlich, warum in so vielen Mythen die Phänomene Schlange, Sprache und Geist miteinander in Beziehung gesetzt worden sind und warum sich auf einer rein phänomenologischen Betrachtungsebene so viele Ähnlichkeiten zwischen Schlange und Sprache herausarbeiten lassen. Es ist natürlich sehr gefährlich, den Begriff des Geistes in die Diskussion der Sinnbildfunktion der Schlange einzubeziehen, da dieser Begriff ein höchst schillernder Begriff mit einer sehr unübersichtlichen Geschichte ist. Aber es gibt wohl keinen besseren Begriff als den des Geistes, um die universale Kraft zu bezeichnen, die hinter allen Denkoperationen steht und die das Denken dazu befähigt, sich sowohl sachthematisch auf anderes als auch reflexionsthematisch auf sich selbst und seine eigenen Denkmittel und Denkverfahren zu beziehen. Wenn wir unsere Vorstellung von Geist entsubstanzialisieren und diesen stattdessen funktional über seine konkreten Tätigkeiten zu erfassen versuchen, dann liegt es nahe, ihn mit der Sprache zu analogisieren und die Schlange sowohl als Sinnbild der Sprache als auch des Geistes zu verstehen.
1. Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange Die Phänomenologie ist im Kontext der programmatischen Stichwörter phänomenologische Wesensschau und zu den Sachen selbst zuweilen als eine rein objektorientierte Seinswissenschaft verstanden worden. Es muss aber fest-
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, S. 87. W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ...., Werke, Bd. 3, S. 418.
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Die Sprache als Schlange
gehalten werden, dass sie sich seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert eigentlich immer als eine Erscheinungswissenschaft verstanden hat, die sich vornehmlich mit dem Problem zu beschäftigen hat, wie den Wahrnehmungssubjekten bestimmte Wahrnehmungsobjekte zugänglich werden können. Das bedeutet, dass die Phänomenologie im Prinzip als eine Methoden- und nicht als eine Seinslehre zu verstehen ist und dass sie eine Gegenstandserkenntnis immer über eine Wahrnehmungserkenntnis anstrebt, weshalb sie dann ja auch für die Hermeneutik und die Semiotik sehr aktuell geworden ist. Hinter der sogenannten phänomenologischen Wesensschau steht eigentlich nicht die Absicht, irgendeinen platonischen Ideenrealismus wiederzubeleben, sondern vielmehr die Zielvorstellung, über die sogenannten phänomenologischen Reduktionen den konstitutiven Grundtypus von Phänomenen herauszuarbeiten bzw. den Kern von bestimmten Phänomenen von allem Randständigen und Zufälligen abzusondern. Nun kann man sich natürlich trefflich darüber streiten, ob solche Abschälungsvorgänge überhaupt möglich sind bzw. welche Relevanzkriterien dabei verwendet werden können. Worüber man sich aber wohl nicht streiten muss, ist der Umstand, dass alle unsere Wahrnehmungen perspektivisch gebunden bzw. vorstrukturiert sind und dass es eine wichtige Aufgabe ist, die spezifischen Prämissen unserer jeweiligen Wahrnehmungsinhalte so weit wie möglich aufzuklären. Bei der Unterscheidung von elementaren und weniger elementaren Sachaspekten von Phänomenen spielt es sicher auch eine wichtige Rolle, genauer herauszuarbeiten, welche dieser Aspekte im Rahmen unserer jeweiligen Interessens- und Lebenswelten besonders relevant sind und welche weniger. Aus all dem ergibt sich, dass phänomenologische Analysen immer die genuine Aufgabe haben, herauszufinden bzw. methodisch überzeugend herauszuarbeiten, wie wir überhaupt Wahrnehmungen und Erfahrungen von bestimmten Gegenstandsbereichen machen können und wie sich die einzelnen Wahrnehmungsinhalte in einen fruchtbaren und konstruktiven Zusammenhang miteinander bringen lassen. Den phänomenologischen Untersuchungen geht es deshalb auch eigentlich nicht darum, die perspektivische Gebundenheit unserer Wahrnehmungsinhalte zu überwinden, sondern vielmehr darum, deren jeweilige Besonderheiten klar zu erfassen. Dabei lassen sich dann durchaus elementare und abgeleitete, deskriptive und emotionale, sinnliche und begriffliche, alltägliche und wissenschaftliche Wahrnehmungsinhalte bzw. Wahrnehmungsaspekte voneinander unterscheiden. Es ist offensichtlich, dass wir uns von Schlangen Wahrnehmungsinhalte objektivieren können, die keine fassbaren Analogien zur Sprache aufweisen. Deshalb ist es notwendig, genau zu überprüfen, welche unserer Schlangenvorstellungen wir heuristisch überhaupt zur Erschließung der Sprache einsetzen können und welche nicht. Aber gerade weil wir individuell und kulturell sehr unterschiedliche und ambivalente Schlangenerfahrungen haben, ist die Schlange ein sehr wichtiger Bildspender, um sich auch auf einer sinnbildlichen Ebene ein Wissen über die spezifische Ambivalenz der Sprache zu erarbeiten.
Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange
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Der Lebensraum und die Lebensweise der Schlange Der Lebensraum und die Lebensweise der Schlange sind in der Regel für Menschen sehr unübersichtlich. Einerseits lebt die Schlange nämlich im Verborgenen, weshalb sie in Mythen und Märchen auch immer wieder mit den Kräften der Unterwelt und der Triebe in Verbindung gebracht worden ist. Andererseits kann die Schlange aber auch als eine unmittelbare Gefahr erlebt werden, weshalb sie auch immer wieder als ein Sinnbild der Bedrohung verstanden worden ist. Die latente Omnipräsenz der Schlange, der man in frühen Kulturen ja sowohl in freier Natur als auch in menschlichen Behausungen begegnen konnte, hat sie zu einem faszinierenden Lebewesen für die Menschen gemacht. Sie ließ sich nämlich einerseits als ein befremdliches Lebewesen wahrnehmen, das unsere Standardvorstellung von Tieren nachdrücklich in Frage stellt, aber andererseits auch als ein vermittelndes Lebewesen, das uns Kontakt zu anderen Welten zu verschaffen vermag. In ganz ähnlicher Weise können wie offenbar auch die Sprache als omnipräsent, verborgen, gefährlich und hilfreich erfahren. Schlange und Sprache gehören einerseits zur faktischen Erfahrungswelt des Menschen und weisen andererseits aber doch über diese hinaus. Beide haben verständliche und unverständliche Eigenschaften, weshalb sie auch als sehr ambivalent erfahren werden können. Beide gehören zwar zur normalen Lebenswelt des Menschen, aber sie fallen in dieser eigentlich nur in Extremsituationen als bedrohliche oder hilfreiche Phänomene auf. Das Aktionsfeld der Sprache lässt sich offenbar genauso wenig begrenzen wie das der Schlange. Ähnlich wie die Schlange auch da sein kann, wenn wir sie nicht sehen, so ist auch die Sprache da, selbst wenn wir sie nicht nutzen und schweigen. Ebenso wie wir die Bedrohungen durch die Schlange nur in sehr allgemeiner Weise voraussehen können, so können wir auch die Bedrohungen durch die Sprache nur in sehr abstrakter Weise in Betracht ziehen. Sowohl Schlangengefahren als auch Sprachgefahren gehören aber faktisch zu den Gefahren unserer ursprünglichen Lebenswelt. In der Regel ignorieren wir aber beide, weil wir solche Gefahren nicht ständig in unsere Lebenswelt integrieren wollen und weil wir ihnen allenfalls eine randständige Bedeutsamkeit zuordnen möchten. Da Schlangen im Verborgenen leben, werden sie von den Menschen auch oft als Tiere der Tiefe, der Dunkelheit und der Toten bzw. als Dämonen wahrgenommen. So nagt beispielsweise nach der germanischen Mythologie die Schlange Nidhögg als schrecklicher Beißer an den Wurzeln der Weltesche Yggdrasil. Vögel und insbesondere Adler repräsentieren oft Gegenbilder zu Schlangen, insofern diese nicht mit den chthonischen Mächten der Erdtiefe in Verbindung stehen, sondern vielmehr mit den Göttern bzw. mit der Welt des Lichts. Die mythische Vorstellung des geflügelten Drachen bzw. der geflügelten Schlange bestätigt diese Polarität gerade dadurch, dass eine Synthese beider Vorstellungswelten versucht wird. Allerdings ist in diesem Zusammenhang nun auch zu beachten, dass die Nähe der Schlangen zu der Sphäre der Tiefe zuweilen auch positiv verstanden
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Die Sprache als Schlange
worden ist, insofern den Schlangen nämlich immer wieder nachgesagt worden ist, den Menschen Zugang zu verborgenen Schätzen verschaffen zu können. Da außerdem die Schlangen erfahrungsgemäß von Zeit zu Zeit aus ihren Höhlen hervorkommen, um sich von der Sonne wärmen zu lassen, erscheinen sie in der antiken Mythologie manchmal sogar als Begleiter der Götter des Lichts (Apollo, Athene). Die Ambivalenz unserer Schlangenerfahrungen und unserer Schlangendeutung macht die Schlange als Sinnbild für Sprache sehr attraktiv. Einerseits ist nämlich auch die Sprache immer wieder als ein Verbindungsglied zu den Mächten der Tiefe und des Unbewussten verstanden worden, was insbesondere in der Tiefenpsychologie immer wieder thematisiert worden ist. Andererseits ist die Sprache aber auch immer wieder mit unserer Vorstellung von Adlern als assoziativen Gegenbildern zu Schlangen in Verbindung gebracht worden, da sie uns durch ihre Fähigkeit zur abstrakten Weltwahrnehmung einen Überblick über unsere Gegenstandswelt verschaffen kann. Dabei ist dann zu beachten, dass der jeweils unterschiedliche Blick aus der Erde oder über die Erde nicht nur einen anderen, sondern zugleich auch einen komplementären Blick auf die Welt darstellt. Obwohl die Schlange uns im Prinzip als ein erdgebundenes Wesen erscheint, so ist sie in mythischen Vorstellungen doch auch immer wieder mit dem Phänomen der Intellektualität in Verbindung gebracht worden. Das liegt wohl insbesondere daran, dass sie als ein Tier verstanden werden konnte, das auf sehr vielfältige Weise auf eine Welt hinter der empirischen Welt zu verweisen vermag. Als besonders faszinierend ist bei der Schlange immer empfunden worden, dass sie je nach Art ihre Opfer nicht nur durch einen plötzlichen Giftbiss oder durch eine nicht parierbare Umschlingung in ihre Gewalt bringen kann, sondern dass sie ihre Beute auch unzerstückelt als Ganzes verschlingt und dann über längere Zeit hinweg verdaut. Eine folgenlose bloße Berührung mit ihr scheint es nicht zu geben. Was mit ihr in Kontakt kommt, das ist ihr auf die eine oder andere Art immer mehr oder weniger ganz ausgeliefert. Ähnliches gilt wohl auch von der Sprache. Dasjenige, was sie einmal benannt hat, das ordnet sie vollständig in ihr Reich bzw. in ihre Ordnungszusammenhänge ein. Die Sprache differenziert und separiert zwar durch ihre Begriffe die Bestandteile der Welt auf ganz bestimmte Art und Weise, aber durch die Systembindung ihrer Einzelzeichen und durch deren geregelte syntaktische Verknüpfung erhebt sie immanent doch auch immer den Anspruch, Sachverhalte ganzheitlich erfassen und repräsentieren zu können. Das macht sich in der natürlichen Sprache insbesondere durch den Gebrauch von wertakzentuierten Wörtern und von sprachlicher Bildern bemerkbar und in den formalisierten Fachsprachen durch stringente Begriffssysteme und Verknüpfungsregeln. Beides sind jeweils unterschiedliche, aber gleichwohl sehr umfassende Verfahren zur Bemächtigung von Welt.
Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange
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Die Gestalt der Schlange Von der körperlichen Gestalt der Schlange geht insbesondere deswegen eine besondere Faszinationskraft aus, weil sie unseren Standardvorstellungen von tierischen Körpern gar nicht entspricht. Bei ihr können wir den Rumpf nicht von ihren peripheren Teilen unterscheiden und keine Extremitäten identifizieren, die uns etwas über die Art und Weise ihrer Beweglichkeit sagen. Lediglich der Kopf lässt sich als spezifischer Körperteil recht gut identifizieren und in seine Bestandteile aufgliedern. Die extreme Beweglichkeit der Schlange hat außerdem zur Folge, dass sich ihre faktischen Bewegungsformen und Bewegungsziele kaum voraussehen lassen. Bei jeder Bewegung setzt die Schlange ihren ganzen Körper ein und nicht nur Teile desselben. Ihre Fortbewegung ist ein Effekt ganzheitlicher Körperbewegungen und kein Effekt der Bewegung von Einzelgliedern. All diese Tatbestände legen uns nahe, Distanz zur Schlange zu halten, weil sie von uns als ein nicht berechenbares und beherrschbares Kraftzentrum angesehen wird. Die Schlange gehört zwar zu unserer Erfahrungswelt, aber sie ist mit unserem üblichen Erfahrungswissen von Tieren nicht zureichend zu erfassen. Wenn man in dieser Wahrnehmungsperspektive nach Analogien zwischen Schlange und Sprache Ausschau hält, dann lässt sich darauf verweisen, dass uns auch die Sprache als ein ziemlich unüberschaubares Phänomen erscheint, das uns erst durch ganz bestimmte methodisch regulierte Wahrnehmungsanstrengungen hinsichtlich ihrer Einzelaspekte fassbar wird. Sprache erscheint uns immer in Gestalt von sprachlichen Äußerungen, die wir morphologisch und semantisch nicht problemlos in den Griff bekommen. Insbesondere im Hinblick auf die Gestalt von mündlichen Äußerungen scheint es auf den ersten Blick ebenso wenig isolierbare Einzelteile zu geben wie bei der Gestalt von Schlangen. Auch hier scheinen sich alle Einzelteile zu einer komplexen Gesamtgestalt zu vereinigen, deren Besonderheiten sich erst dann offenbaren, wenn wir uns nicht nur für statische Ordnungsstrukturen, sondern auch für dynamische Funktionszusammenhänge interessieren. Obwohl die Gestalt der Schlange rein morphologisch betrachtet sehr einfach erscheint, kann sie für uns phänomenal doch ganz unterschiedlich in Erscheinung treten, nämlich in Form einer Geraden, eines Kreises, eines Ovals, einer Acht, einer Wellenlinie oder gar einer Spirale. Diese unterschiedlichen Erscheinungsgestalten der Schlange machen sie ikonisch vielfältig interpretierbar, nämlich als ein Phänomen ohne Anfang und Ende, als ein Phänomen mit der Fähigkeit zum ständigen Gestaltwandel und als ein Phänomen, das sich in seinen Teilen faktisch zugleich in verschiedenen Richtungen bewegen kann, ohne aber dadurch sein Ziel zu verfehlen. Die Erfahrung, dass wir die Schlange trotz ihrer relativ einfachen äußeren Gestalt hinsichtlich ihrer Bewegungsmöglichkeiten und Funktionszusammenhänge doch auf sehr vielfältiger Weise erleben können, ist sicher ein wichtiger Grund dafür, dass sie immer wieder direkt oder indirekt mit der Sprache in Verbindung gebracht worden ist. Auch die Sprache erscheint uns auf den ers-
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Die Sprache als Schlange
ten Blick als ein relativ einfaches akustisches Phänomen mit einer begrenzten Anzahl von differenzierbaren Merkmalen. Aber auch sie kann sich in konkreten Gebrauchszusammenhängen in ein sehr vielschichtiges und polyfunktionales Phänomen verwandeln, das vielfältige klangliche, rhythmische, syntaktische, semantische und pragmatische Einzelaspekte bzw. Einzelzeichen zu erkennen geben kann. Die Impulse für die Wahrnehmung ihrer Besonderheiten können dabei nicht nur von der konkret wahrnehmbaren empirischen Gestalt der Sprache selbst ausgehen, sondern durchaus auch von den besonderen Erkenntnisinteressen der Subjekte, die eine bestimmte Wahrnehmungsneugier für Sprache haben. Als ein ikonisch sehr gut ausdeutbares Gestaltmerkmal der Schlange kann neben ihren möglichen Giftzähnen sicherlich auch ihre gespaltene Zunge gelten. Da wir das Wort Zunge sehr oft ersatzweise für das Wort Sprache verwenden, liegt es nahe, die Vorstellung der gespaltene Zunge immer wieder sinnbildlich dazu zu nutzen, um auf das Phänomen der sprachlichen Lüge und Täuschung zu verweisen bzw. darauf, dass es einen Sprachgebrauch gibt, bei dem faktisch etwas anderes gesagt als tatsächlich gewusst oder gedacht wird. Die Doppelzüngigkeit der Schlange ist deshalb zu einem festen Denkmuster geworden, mit dem man dann hinsichtlich des Gebrauchs von Sprache die Verletzung des pragmatisch wichtigen Aufrichtigkeits- und Kooperationspostulats anprangern kann. Der Tatbestand der doppelzüngigen Rede im Sinne einer bloß doppelbödigen Rede muss allerdings im Hinblick auf die metaphorische und ironische Sprachverwendung keineswegs als moralisch besonders anrüchig gelten. Das liegt wohl daran, dass bei diesem Sprachgebrauch gleichsam immer mitsignalisiert wird, dass das jeweils Gesagte nicht nur wortwörtlich zu verstehen ist. Die Doppelzüngigkeit im Sinne der Doppelbödigkeit gewinnt hier sogar eine gewisse ästhetische und kognitive Wertschätzung, weil dadurch indirekt zugleich auch immer auf den medialen Charakter der Sprache aufmerksam gemacht werden kann. Man denkt sicherlich zu kurz, wenn man die Metapher im Sinne der klassischen Rhetorik als Ersatzwort für ein eigentlich zu verwendendes Wort versteht oder die Ironie als einen Sprachgebrauch, in dem das Gegenteil dessen gesagt wird, was man eigentlich meint. Wenn man das Bild der gespaltenen Zunge als Hinweis darauf versteht, dass man doppelsinnig sprechen kann bzw. dass man in jeder Rede zugleich auf Tatbestände in der Welt aufmerksam machen kann und auch auf sich selbst oder auf die mediale Funktion der Sprache, dann wäre die Doppelzüngigkeit sogar ein Qualitätsurteil. Sie ließe sich dann als ein ikonischer Hinweis auf das Phänomen Intellektualität verstehen bzw. als ein Zeichen dafür, dass jemand in der Lage ist, Sprache zugleich sachthematisch und reflexionsthematisch zu gebrauchen. Für eine solche Fähigkeit ist sicherlich Goethes Mephisto als prototypisch anzusehen, der wie kaum ein anderer mit der Sprache zu spielen vermag. Die Giftzähne der Schlange werden sinnbildlich meist negativ als Instrumente gesehen, die dazu bestimmt sind, Beuteopfer zu töten, zu lähmen bzw.
Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange
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um ihre Handlungsfähigkeit zu bringen. Gleichzeitig ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Schlange gerade wegen ihrer Giftzähne in Mythen auch immer wieder mit Heilungsprozessen in Verbindung gebracht worden ist. Das exemplifiziert die sogenannte Äskulapschlange sehr schön, die die Apotheker bis heute noch als ihr Wappentier führen. Dabei spielt vielleicht auch eine Rolle, dass traditionell immer wieder davon Gebrauch gemacht worden ist, in Heilungsprozessen Gegengifte einzusetzen. Das heutige Verfahren, abgeschwächte Krankheitserreger zur aktiven Immunisierung anzuwenden, ist ja dem gleichen Prinzip verpflichtet. Auch das homöopathische Grundprinzip, das Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen sei, verweist in diese Richtung. So gesehen ist es dann naheliegend, ironische und satirische Bisse letztlich auch als heilende Bisse zu verstehen. Eine etwas untergeordnete Rolle bei der sinnbildlichen Inanspruchnahme unserer Schlangenvorstellung für die Wahrnehmung von Sprache spielt sicherlich der Umstand, dass Schlangen keine abdeckenden Augenlider haben, sondern nur eine durchsichtige Schutzhaut. Dieser Tatbestand ist allerdings wohl nicht sehr bekannt. Ikonisch könnte man ihn dennoch so deuten, dass Schlangen eine ständige Wahrnehmungsfähigkeit haben, was wiederum auch dafür spräche, sie mit dem Phänomen der Intellektualität in Verbindung zu bringen. Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass Schlangen faktisch sehr schlecht sehen und eher auf Vibrationen als auf optische Seheindrücke reagieren.
Die Häutungsfähigkeit der Schlange Für das allgemeine sinnbildliche Verständnis der Schlange ist sicherlich von grundlegender Bedeutung, dass sie die Fähigkeit besitzt, ihre alte Haut abzustreifen und sich eine neue wachsen zu lassen. Diese Eigenschaft ist in Mythen immer wieder als Sinnbild der Wiedergeburt, der Selbsterneuerung oder der Heilung thematisiert worden. Diese aspektuelle Wahrnehmung der Schlange steht wohl nicht nur hinter der Äskulapschlange, sondern auch hinter der Uroborosschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt und sich über diesen Selbstverzehr gleichsam immer wieder erneuert und damit unsterblich macht. Die sich häutende Schlange ist deshalb in ganz verschiedenen Kulturen immer wieder als Sinnbild des ewigen Lebens verstanden worden, was Egli mit eindrucksvollen Beispielen belegt hat.6 So ist etwa aus Südchina eine Geschichte überliefert, nach der sich die Menschen ursprünglich wie die Schlangen immer wieder durch Häutungen verjüngt hätten. Erst als eine Frau und ein Mann lieber sterben wollten als sich den Qualen der ständigen Häutungen auszusetzen, seien die Menschen sterb-
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H. Egli, Das Schlangensymbol, 1982, S. 58 ff.
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Die Sprache als Schlange
lich geworden. Aus Ostafrika gibt es eine Erzählung, nach der Gott alle Kreaturen gefragt habe, wer von ihnen nicht sterben wolle. Unglücklicherweise hätten alle Tiere und Menschen außer der Schlange geschlafen, so dass nur diese ihren Wunsch nach Unsterblichkeit angemeldet habe. Deshalb sterbe die Schlange auch nur, wenn man sie durch Gewalt töte. In Melanesien kann man traditionell mit der Redewendung – seine Haut abstreifen – auf das ewige Leben Bezug nehmen. Die Vorstellung, dass man sich vom Ballast aller Vorstellungen und Erfahrungen so lösen könne wie die Schlange von ihrer alten Haut, hat auch Goethe fasziniert. Nach Eckermanns Zeugnis hat er geäußert, dass das, was in den Liedern des West-östlichen Divans orientalisch und leidenschaftlich gewesen sei, durch die sprachlichen Benennungen aufgehört habe, in ihm fortzuleben. „Es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben.“ 7 Angesichts dieses sinnbildlichen Verständnisses der Häutung von Schlangen liegt es nahe, diesen Vorgang als eine Erscheinungsweise des Prinzips – stirb und werde – zu verstehen und im Hinblick auf die Sprache die These zu vertreten, dass diese ihre Stabilität nur durch ständige Wandlungsprozesse aufrecht erhalten kann. Nur wenn die Sprache ihre unzweckmäßig bzw. funktionslos gewordenen Formen wie alte Kleider ablegt und sich neue schafft, scheint sie ihre funktionale Universalität bzw. ihr ewiges Leben erhalten zu können. Dieser lebenserhaltende Wandlungsprozess der Sprache lässt sich in zwei unterschiedlichen, aber sich ergänzenden Perspektiven beschreiben, die mit den Stichworten Metamorphose und Evolution andeutet werden können. Biologisch gesehen ist die Häutung der Schlange ein genetisch verankerter Prozess mit einer ganz bestimmten Funktionalität. Die Schlange muss sich von Zeit zu Zeit ihrer eigenen relativ festen hornigen Haut entledigen, weil diese sich einerseits durch die Art ihrer Fortbewegung abnutzt und weil sie andererseits auch die eigenen Wachstumsprozesse behindert. Die Schlange bedarf also des Gestaltwandels bzw. der Metamorphose, um sich selbst treu bleiben zu können. Durch die Häutung ändert sie sich nicht substanziell bzw. genotypisch, sondern nur peripher bzw. phänotypisch. Die Schlange kann sich als Schlange nur erhalten, indem sie sich verändert bzw. häutet. Ähnlich geht es der Pflanze, die sich nur dadurch dauerhaft erhalten kann, dass sie sich zwischenzeitlich zu einem Samenkorn macht. Dieses Verständnis der Schlangenhäutung als einer Spielart des Metamorphoseprozesses übt natürlich einen gewissen Sog aus, auch den Sprachwandel nach diesem Erneuerungsmodell zu verstehen. Danach müsste sich dann auch die Sprache ständig wandeln bzw. erneuern, um ihre kognitiven und kommunikativen Funktionsmöglichkeiten dauerhaft erhalten zu können. Allerdings stellt sich dann auch die Frage, ob sich der Sprachwandel wirklich zutreffend
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J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, 1994, S. 207. Vgl. auch M. Scharfe, Schlangenhaut am Wege, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 100, S. 301–307.
Zur Phänomenologie des Analogiepotenzials der Schlange
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im Sinne des Häutungsgedankens bzw. des Metamorphose- oder Entelechiegedankens beschreiben lässt, da all diese Konzepte ja ontologisch eher dem Substanz- als dem Funktionsgedanken verpflichtet sind. Der Häutungsgedanke birgt nämlich die Gefahr, den Sprachwandlungsprozess nur als Erneuerungsprozess für schon vorhandene Ordnungsstrukturen zu verstehen und nicht darüber hinaus auch als einen Erzeugungsprozess für die Ausbildung ganz neuer Ordnungsstrukturen. Die letztere Sicht auf den Sprachwandel wäre zutreffender mit dem Evolutions- als mit dem Häutungskonzept im Sinne des Metamorphosegedankens zu beschreiben. Das Evolutionskonzept hat nämlich den großen Vorzug, bei Wandlungsprozessen sowohl auf den Kontinuitäts- als auch auf den Innovationsaspekt von Veränderungsprozessen aufmerksam zu machen. Der Evolutionsgedanke geht nämlich grundsätzlich davon aus, dass es bei der Reproduktion von biologischen Formen zu Mutationen bzw. zu zufälligen Abweichungen von einem Grundmuster kommt. Diese Abweichungen können sich in selektiven Siebungsprozessen erhalten, wenn sie sich als pragmatisch vorteilhafter als die ursprünglichen Formen erweisen. Wenn man nun den biologischen Evolutionsgedanken auch auf die Wandlungsprozesse von kulturellen und insbesondere von sprachlichen Formen ausweitet, dann wird es problematisch, Sprachwandlungsprozesse nur im Sinn sprachlicher Häutungsprozesse zu beschreiben, weil in ihnen ja durchaus ganz neue Formen entstehen bzw. alte Formen ganz neue Funktionen bekommen können. Während der Häutungsgedanke ontologisch gesehen eigentlich dem substanziellen Denken verpflichtet ist, da Wandlungsprozesse im Prinzip ja zur Erhaltung eines Grundmusters bestimmt sind, ist der Evolutionsgedanke eher dem funktionalen Denken verpflichtet, insofern die jeweiligen Wandlungsprozesse auch zur Ausbildung von völlig neuen Formen zu führen vermögen. Der Evolutionsgedanke hat einerseits eine Nähe zum Kontinuitätsgedanken, insofern er abrupte Umbrüche ausschließt und bewährten Formen immer ein stabiles Lebensrecht zubilligt. Andererseits ist er aber auch offen für den Innovationsgedanken, insofern er damit rechnet, dass im Laufe der Zeit unter dem Druck gewandelter Rahmenbedingungen auch ganz neuartige Ordnungsformen entstehen müssen. Außerdem geht das evolutionäre Denken davon aus, dass Strukturen und Funktionen sich wechselseitig bedingen und fließend in einander übergehen, was noch ausführlich erörtert werden soll, wenn die Organismusvorstellung als Sinnbild für Sprache thematisiert wird. Wenn man von sprachlichen Häutungen spricht, dann muss man nicht immer zwingend an Metamorphoseprozesse im Rahmen des Entelechiekonzeptes denken. Man kann auch an sprachliche Selbstregulierungs- und Erneuerungsprozesse denken, wie sie etwa im metaphorischen Sprachgebrauch exemplarisch zum Ausdruck kommen. Darauf hat beispielsweise Achim von Arnim 1828 im Blick auf Hölderlins Patmos-Hymne eindrücklich hingewiesen:
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„…das überaus glückliche, das Neue im Gebrauch abgenutzter Wörter ist es eben, was Hölderlins Poesie so eindrücklich macht.“ 8
2. Schlange und Sprache in Mythen und Märchen Da in Mythen und Märchen in der Regel Lebensprobleme und keine Sprachprobleme thematisiert werden, ist nicht zu erwarten, dass in ihnen Schlange und Sprache direkt miteinander analogisiert werden. Gleichwohl ist es für die hier entwickelte Fragestellung wichtig, Mythen und Märchen ins Auge zu fassen, weil in ihnen sehr oft die Phänomene Schlange und Sprache in gemeinsamen Geschichten miteinander verstrickt worden sind. Dadurch ergeben sich dann vielfältige Hinweise darauf, hinsichtlich welcher Einzelaspekte diese beiden Erfahrungsgegenstände miteinander in Verbindung gebracht werden können und auf welche Weise sie sich wechselseitig auch zu konturieren vermögen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Schlange in Mythen und Märchen zuweilen auch als Gegenmacht zur Sprache ins Auge gefasst wird bzw. als Negation all dessen, was Sprache verkörpert. Aber selbst wenn die Schlange sinnbildlich als Gegenspielerin der Sprache in Erscheinung tritt, sind beide Phänomene dennoch auf eine wechselseitig erhellende Weise eng miteinander verbunden, denn bei jeder Negation wird ja das Negierte immer psychisch als möglicher Denkinhalt präsent gemacht. Das ist eine aufschlussreiche Dialektik, mit der auch der Atheismus wider Willen ständig zu kämpfen hat. Die narrative Korrelation von Schlange und Sprache richtet ihr Hauptaugenmerk naturgemäß weniger auf die Gestalt- als auf die Funktionsanalogien zwischen beiden Phänomenen, insofern alles Erzählen danach strebt, uns dadurch mit Phänomenen bekannt zu machen, dass die mit ihnen verbundenen Handlungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden. Wenn also Schlangen- und Sprachvorstellungen narrativ miteinander verknüpft werden, dann ist zu erwarten, dass wir dabei primär etwas über die Prämissen und die Konsequenzen erfahren, die mit dem Gebrauch von Sprache verbunden sein können. In Mythen und Märchen wird die Schlange zwar in der Regel mit dem Phänomen Geist bzw. Intellektualität in Verbindung gebracht, aber diese Korrelation schließt ja Bezüge zu Sprache notwendigerweise ein. Deshalb ist dann auch danach zu fragen, warum Schlange und Sprache gerade über die Brücke der Intellektualität immer wieder miteinander in Beziehung miteinander gesetzt worden sind.
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F. Hölderlin, Sämtliche Werke, 19232, Bd. 4, S. 356.
Schlange und Sprache in Mythen und Märchen
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Die Schlange in der antiken Mythenwelt In den phänomenologischen Überlegungen zum Bildspender Schlange ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Gestalt und die Lebensweise der Schlange es ermöglicht, sie sowohl als bildliche Objektivierung des Dämonischen, Unterweltlichen, Triebhaften und Zerstörerischen zu verstehen als auch als bildliche Objektivierung der Wiedergeburt, der Erneuerung, der Heilung, des Ewigen und der Beweglichkeit des Geistes.9 Diese große Spannweite bzw. Ambivalenz der ikonischen Interpretation der Schlange als Zeichen dokumentiert sich sehr deutlich in vielen antiken Mythen. Dabei ist zu beachten, dass in diesen Mythen die Schlange als Inkarnation des Bösen allerdings keineswegs so ausgeprägt ist wie in der traditionellen kirchlichen Rezeption und theologischen Interpretation der biblischen Erzählung über die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradiese. Die Wahrnehmung der Schlange als einer Gegenmacht zu menschlichen Lebensanstrengungen begegnet uns schon früh in dem mesopotamischen Gilgamesch-Mythos.10 Nachdem Gilgamesch unter großen Lebensgefahren eine Pflanze aus den Tiefen des Meeres geholt hatte, die die Menschen zu verjüngen vermochte, badete er auf seiner Rückreise in einem Brunnen mit kühlem Wasser. Eine Schlange, die den Duft der wunderkräftigen Pflanze wahrgenommen hatte, stahl ihm dann aber seine arglos am Brunnen abgelegte Wunderpflanze. Sie verschlang diese sofort und begann sich danach zu häuten. Gilgamesch musste nun erkennen, dass all seine Bemühungen, Verjüngung und Unsterblichkeit zu gewinnen, vergeblich gewesen waren. Obwohl in diesem Mythos die Schlange nicht direkt mit der Sprache in Verbindung gebracht worden ist, so ist diese Korrelation zumindest im kulturgeschichtlichen Rückblick doch immer indirekt präsent. Die Schlange erscheint nämlich als eine letztlich siegreiche Gegenkraft zu dem Bemühen von Gilgamesch, sich über den Verzehr einer bestimmten Pflanze unsterblich zu machen. Auf diese Weise wird sehr subtil darauf aufmerksam gemacht, dass Menschen sich nicht durch eine bestimmte Nahrung biologisch unsterblich machen können. Allenfalls können sie sich durch bestimmte Handlungen kulturell unsterblich machen, die mit Hilfe von Sprache objektiviert und dann in Form von Erzählungen historisch tradiert werden. Insbesondere Heldensagen gründen sich ja auf dieses Prinzip, das sich etwas plakativ auf die gängige Kurzformel bringen lässt, welche bezeichnenderweise auch auf die episch konkretisierte Gestalt des Gilgamesch selbst zutrifft: Doch ewig lebt der Toten Tatenruhm. Im griechischen Kulturkreis wird die Schlange sehr deutlich als eine Gegenmacht zum Menschen im Laokoon-Mythos thematisiert. Der Seher und
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Vgl. W. H. Fischle, Das Geheimnis der Schlange, 1983. V. Zamarovský, Das Gilgamesch-Epos, 1976, S. 66.
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Die Sprache als Schlange
Priester Laokoon hatte die Trojaner sehr eindringlich vor dem hölzernen Pferd der Griechen gewarnt. Daraufhin kamen zur Bestrafung zwei von Apollon gesandte Seeschlangen, die zuerst die beiden Zwillingssöhne Laokoons erwürgten und dann ihn selbst.11 Für diese Geschichte ist bezeichnend, dass Laokoon, der ja als Priester auch ein Mann der Zeichen und Wörter ist, gegen die Schlangen als Wesen der Natur und der Tiefe nicht bestehen kann. Er und sein Geschlecht kämpfen zwar gegen die Schlangen, aber sie unterliegen deren Macht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die sprachlichen Warnungen Laokoons nicht von einer anderen Person ebenfalls mit Hilfe von Sprache in Frage gestellt werden, sondern dass sie vielmehr durch die Schlangen als genuinen Naturwesen mit Hilfe rein körperlicher Gewalt bestraft werden. Mit dem Phänomen der Intellektualität können die Schlangen im Gegensatz zur biblischen Schlange aus dem Paradiese allerdings auch hier kaum direkt in Verbindung gebracht werden, obwohl sie ein Gott geschickt hat. Als Widersacherin des Menschen tritt auch die vielköpfige Hydra von Larna in Erscheinung, deren bloßer Atem und Geruch schon Leben zu zerstören vermochte.12 Herkules konnte der Hydra zwar die Köpfe abschlagen, aber aus dem Hals jedes abgeschlagenen Kopfes wuchsen dann zwei neue Köpfe nach. Erst als die Hälse mit brennenden Ästen ausgeglüht wurden, ließ sich das Ungeheuer wirklich besiegen. Auch dieser Mythos weist keine direkten Bezüge zur Sprache auf. Er kann aber durchaus zur Veranschaulichung des Umstandes herangezogen werden, dass Gefahren aller Art, wozu natürlich auch sprachliche Gefahren gehören, in der Regel nicht nur mit einer einzigen Strategie bekämpft werden können. Neben der mythischen Darstellung der Schlange als einer unbesiegbaren oder einer nur schwer überwindbaren Widersacherin des Menschen gibt es auch Darstellungen, in denen der Sieg über die Schlange nicht nur konkrete Gefahren beseitigt, sondern auch anhaltend positive Konsequenzen für die Menschen zeitigt, die nicht zuletzt auch mit sprachliche Implikationen verbunden sein können. So tötete beispielsweise Apollon die Pythonschlange in einem Erdspalt in Delphi, über dem dann die Priesterin Pythia ihre interpretationsbedürftigen Orakel verkündigte.13 In anderen griechischen Mythen wird der Schlange selbst die Rolle eines Mittlers zugeschrieben, wenn es beispielsweise um das Verstehen unverständlicher Zeichen geht. Melampos, der erste Sterbliche mit der Gabe zur Prophetie, soll die Sprache der Vögel verstanden haben, nachdem ihm junge Schlangen, welche er vor dem sicheren Tode bewahrt hatte, die Ohren reingeleckt hatten.14 Athene, die den Teiresias zunächst blind gemacht hatte, weil dieser
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R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, 1965, Bd. 2, S. 321. R. von Ranke-Graves, a.a.O., Bd. 2, S. 102 ff. 13 R. von Ranke-Graves, a.a.O., Bd. 1, S. 65. 14 R. von Ranke-Graves, a.a.O., Bd. 1, S. 210. 12
Schlange und Sprache in Mythen und Märchen
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sie nackt beim Baden beobachtet hatte, soll dann aus Mitleid eine Schlange beauftragt haben, ihm mit ihrer Zunge die Ohren zu reinigen, damit er hernach die Sprache der prophetischen Vögel verstehen könne.15 Heilige Schlangen sollen auch die Ohren der Zwillinge Kassandra und Helenos gereinigt haben, woraufhin beide dann die Gabe der Prophetie bekommen hätten.16 Bemerkenswert im Hinblick auf die letzten Mythen ist es, dass der Schlange eine Katalysatorfunktion zugeordnet wird. Durch sie wird die im Menschen angelegte Fähigkeit, bestimmte Erfahrungen bzw. Dinge als Zeichen wahrzunehmen und zu deuten, auf umfassende Weise wirksam gemacht. Dadurch ergibt sich dann auch eine enge Beziehung der Schlange zur Welt der Zeichen bzw. zur Sphäre der Sprache, des Denkens, des Geistes oder gar der Prophetie. Die Schlange bekommt auf diese Weise eine Brückenfunktion zwischen der empirischen Erfahrungswelt des Menschen und denjenigen Welten, die jenseits dieser Welt liegen. Deshalb kann die Schlange auch auf eine sehr ambivalente Weise wahrgenommen werden, insofern die anderen Welten die vertraute Lebenswelt des Menschen nicht nur erweitern, sondern auch umstrukturieren und eben dadurch dann möglicherweise auch bedrohen können. Da auch die Sprache einen ähnlichen ambivalenten Wert für den Menschen hat, ist es verständlich, dass die Schlange in Mythen immer wieder direkt oder indirekt mit der Welt der Zeichen korreliert worden ist.
Die Schlange in der Märchenwelt Auch in der Märchenwelt wird die Schlange auf sehr ambivalente Weise wahrgenommen und immer wieder mit der Welt der Zeichen und der Sprache in Verbindung gebracht. Schlangen und Drachen werden einerseits als bedrohliche Tiere verstanden, die es zu besiegen gilt, aber andererseits werden sie auch als Hüter von Schätzen und daher dann auch als Schlüsseltiere zu anderen Welten wahrgenommen. Unter den Grimmschen Märchen finden sich zwei, in denen Schlangen eine ausgesprochene Helferfunktion für die Menschen haben. In dem Märchen – Die drei Schlangenblätter – verfügt eine Schlange über drei grüne Blätter. Diese hatten die Kraft, Tote wieder lebendig zu machen, wenn man sie mit diesen Blättern in Kontakt brachte. Bemerkenswert ist in diesem Märchen, dass die Schlange nicht durch ihre eigene Kraft die Toten wieder lebendig machen kann, sondern nur durch ein Mittel, welches sie verwaltet bzw. zweckdienlich einzusetzen weiß. Die Schlange bewirkt nicht auf eine magische, sondern nur auf eine instrumentelle Weise die Verlebendigung von etwas Abgestorbenem. Wenn man die Schlange in dieser Weise thematisiert, dann erscheint sie nicht als eine autonome Macht, sondern vielmehr als
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R. von Ranke-Graves, a.a.O., Bd. 2, S. 8. R. von Ranke-Graves, a.a.O., Bd. 2, S. 254.
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Die Sprache als Schlange
eine Instanz, die wertvolles Wissen bewacht und verwendet. Daraus lässt sich dann ableiten, dass die Schlange nicht unmittelbar als Sinnbild für Sprache zu verstehen ist, sondern allenfalls als Sinnbild für einen klugen Menschen, der sein Wissen von Sprache bewahrt und zweckdienlich zu verwenden weiß. In dem Märchen – Die weiße Schlange – treffen wir auf ein etwas anderes Schlangenverständnis, das durchaus an die antiken mythischen Schlangenvorstellungen erinnert. Hier wird von einem König berichtet, dessen Weisheit im ganzen Land gerühmt wurde, da ihm nichts verborgen blieb. Diese Weisheit gründete sich auf den Umstand, dass er regelmäßig ein Stück von einer weißen Schlange aß, wodurch er dann befähigt wurde, die Sprache der Tiere und insbesondere die Sprache der Vögel zu verstehen, die ihm Nachrichten aller Art zutrugen. Als auch sein Diener heimlich von der weißen Schlange kostete, konnte auch er die Sprache der Tiere verstehen. Das befähigte ihn dann dazu, eigentlich unlösbare Prüfungen zu bestehen und auf diese Weise sogar die Hand der Königstochter zu gewinnen. Dieses Märchen stellt eine sehr enge Verbindung zwischen Schlange und Sprache her, insofern die Schlange als ein Wesen thematisiert wird, das auf ganz substanzielle Weise etwas mit dem Verstehen von Zeichen zu tun hat. Wer sich ein Stück der Schlange einverleibt, der tritt damit zugleich in die Welt der Sprache der Tiere ein und kann daher auch seine eigene Alltagswelt auf eine Weise verstehen, die ihm vorher nicht möglich gewesen ist. Die Schlange kann so gesehen dann nicht nur als Sinnbild für die Macht der Sprache verstanden werden, sondern auch als Sinnbild für die Macht des Geistes, die Welt perspektivisch anders als üblich wahrzunehmen. Eine Parallele zu diesen beiden Märchen findet sich im nordischen Sagengut und in einem sizilianischen Märchen. Sigurd und Gudrun aßen das Herz des Drachen Fafnir, woraufhin beide die Sprache der Vögel verstehen konnten. In einem sizilianischen Märchen wird berichtet, dass ein Bauer aus einer getöteten Schlange eine Suppe macht. Als ein Knecht davon aß, verstand er die Sprache der Gräser und Bäume.17 Die Ambivalenz der Schlange ist auch von St. Exupéry thematisiert worden. Sein kleiner Prinz wurde von einer Schlange gebissen, woraufhin er dann auf seinen heimischen Stern zurückkehren konnte. Insgesamt lässt sich sagen, dass in vielen Mythen Schlangen als ambivalente Urkräfte dargestellt werden, die sowohl zum Tode als auch zu einem neuen Leben führen können. Das wird offensichtlich letztlich nicht als ein Widerspruch angesehen, weil Tod und Leben sich dialektisch bedingen. In vielen Varianten werden Schlangen deshalb auch immer wieder mit dem Problem der Begrenzung und Entgrenzung in Verbindung gebracht bzw. mit dem Problem des Übergangs von der einen Welt in eine andere Welt. Einerseits repräsentiert die Schlange tödliche Gefahren und nagt beispielsweise an den Wurzeln des Weltenbaumes, andererseits bewacht und bewahrt sie Schätze
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Vgl. H. Egli, Das Schlangensymbol, 1982, S. 138.
Die Schlange aus dem Paradiese
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oder kann den Menschen ein nicht-alltägliches Wissen vermitteln. Einerseits repräsentiert sie die Unterwelt und die Triebe, andererseits aber auch die Welt des Wissens und der Intellektualität. Als Verkörperung böser Dämonen können Schlangen Gegenspieler der Menschen sein, als Verkörperung guter Dämonen aber auch ihre Helfer und Partner. In jedem Fall werden Schlangen als Wesen verstanden, die die Menschen in Grenzsituationen über vorgegebene Grenzen hinauszuführen vermögen. Dabei können die Menschen dann ihre bisherige Existenzweise verlieren, aber auch eine neue gewinnen. Das ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass Schlangen insbesondere dazu beitragen, die Wahrnehmungssensibilität der Menschen zu erhöhen, wodurch diese dann auch Zugang zu neuen Zeichen- und Sprachwelten bekommen können. Schlangen werden auf diese Weise nicht nur zu Katalysatoren, die bestimmte Prozesse beschleunigen, sondern auch zu Impulsgebern, die neue Prozesse in Gang setzen können.
3. Die Schlange aus dem Paradiese Das sinnbildliche Verständnis der Schlange ist im abendländischen Kulturkreis neben den faktischen Erfahrungen mit Schlangen und dem Mythen- und Märchenwissen über sie sicherlich ganz wesentlich durch die biblische Erzählung über die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradiese geprägt worden. Seitdem sich in der Spätantike die Interpretationstradition immer stärker gefestigt hatte, diese Erzählung als eine Geschichte vom Sündenfall bzw. als eine Begründungsgeschichte für das theologische Konzept der Erbsünde zu verstehen, ist die Schlange dann weitgehend als eine Inkarnation des Teufels, des Bösen, der Versuchung und der Verführung angesehen worden. Die Möglichkeit, die Schlange auch als Sinnbild des Geistes, der Intellektualität oder der Sprache bzw. als ein sehr ambivalentes Sinnbild für unterschiedliche Kräfte wahrzunehmen, lag dieser Denktradition deshalb ziemlich fern. Erst im Zeitalter der Aufklärung begann man sehr nachdrücklich, die biblische Erzählung nicht mehr als eine Geschichte über den Sündenfall zu verstehen, sondern als eine Geschichte über das Essen vom Baum der Erkenntnis bzw. als eine Geschichte über die besondere Stellung des Menschen unter den Kreaturen. In diesem Zusammenhang bot sich dann auch an, auf andere Bibelstellen zu verweisen, in denen Schlangen positiver oder zumindest ambivalenter beurteilt worden sind als im Kontext der Sündenfallvorstellung. So wird beispielsweise im Alten Testament einerseits berichtet, dass Gott feurige Schlangen geschickt habe, um das sündige Volk Israel mit Todesbissen zu bestrafen. Andererseits wird aber auch darauf verwiesen, dass Gott nach Fürbitten von Moses diesem aufgetragen habe, eine eherne Schlange aufzurichten, deren Anblick den Gebissenen dann die Chance eröffnete, am Leben zu bleiben (4. Mose, 21.6–9). Im Neuen Testament gibt es bei Matthäus die Maxime: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“
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Die Sprache als Schlange
(Matth. 10.16). Beide Textstellen erlauben es, Schlangen mit dem Gedanken der Heilung, der Regeneration oder des Geistes in Verbindung zu bringen. In diesem Zusammenhang kann außerdem darauf verwiesen werden, dass auch in der kirchlichen Emblematik Schlangen als Zeichen der geistigen Erneuerung verstanden worden sind. Beispielsweise tragen die koptischen Bischöfe Stäbe, die an ihren Enden in zwei Schlangen auslaufen, die vermutlich als Zeichen der Klugheit zu deuten sind.18 Das schon zitierte Diktum Jacobis über die Schlange aus dem Paradiese eignet sich in mehreren Hinsichten recht gut dazu, die Schlange nicht nur als ein Sinnbild für Sprache zu verstehen, sondern darüber hinaus auch als ein Sinnbild für die Intellektualität und den Geist des Menschen. „Die Sprache bleibt die alte Schlange die sie schon im Paradiese war.“19 Wenn man nach den Prämissen und Implikationen dieser These fragt, dann ergeben sich wichtige Einsichten in den kulturhistorischen und anthropologischen Stellenwert dieser aphoristischen Äußerung.20
Der Kontext von Jacobis Aphorismus Der Aphorismus Jacobis über die Sprache als alte Schlange aus dem Paradiese ist weder Ausgangs- noch Endpunkt einer konkreten Argumentationskette. Er wird vielmehr recht unvermittelt in einem Brief an Herder in die Welt gesetzt, in dem sich Jacobi für die Übersendung von dessen Buch über das pfingstliche Verständigungswunder bedankt. Offenbar will Jacobi auf diese etwas verdeckte Weise gegen Herder geltend machen, dass die Sprache nicht zu euphorisch als allgemeines Verständigungsmittel gepriesen werden sollte, sondern dass sie eher als ein ziemlich ambivalentes Phänomen zu betrachten sei. Die sinnbildliche Mitteilungsform seines Sprachverständnisses gibt Jacobi die Chance, eine bestimmte Denkperspektive für die Beurteilung von Sprache zu eröffnen, ohne selbst gleich eine behauptende Aussage über sie machen zu müssen. Da Jacobi über die Einheit stiftende Funktion der Sprache sehr viel skeptischer denkt als Herder, kommt ihm die Vorstellung von der Schlange aus dem Paradiese als ein Sinnbild für Sprache gerade recht, um die Sprache etwas facettenreicher zu beurteilen bzw. in ambivalentere Kontexte zu stellen. Rein sprachlich gesehen ist an Jacobis Diktum zunächst auffällig, dass er nicht mit Hilfe der Kopula sein eine definierende metaphorische Aussage über
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M. Lurker, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, 19873, S. 320. F. H. Jacobi, Werke, Bd. 3, S. 557. 20 Die folgenden Ausführungen fußen auf zwei früheren Veröffentlichungen des Autors mit etwas anderen Zielsetzungen. W. Köller, Die Sprache als Schlange aus dem Paradiese, in: H. Herwig u.a. (Hrsg.), Lese-Zeichen, 1999, S. 161–177. W. Köller, Der Baum der Erkenntnis, in: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006 , S. 61–90. 19
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die Sprache macht (Die Sprache ist eine Schlange.), sondern dass er mit Hilfe des Verbs bleiben eine andauernde Ähnlichkeitsrelation der Sprache zu einer ganz bestimmten Schlange behauptet. Dadurch ergeben sich für ihn zwei wichtige Denkperspektiven. Einerseits ergibt sich die Chance, die postulierte Ähnlichkeit nicht als eine kategoriale statische Ähnlichkeit qualifizieren zu müssen, sondern sie vielmehr als eine veränderungsfähige dynamische Ähnlichkeit bestimmen zu können. Andererseits eröffnet sich die Möglichkeit, nicht nur unser allgemeines Wissen von Schlangen sinnbildlich für das Verständnis von Sprache aufzurufen, sondern auch unser spezifisches Verständnis von der Schlange aus dem Paradiese und den Interpretationsgeschichten, die sich im Laufe der Zeit mit dieser Schlange verbunden haben. Dadurch bekommt der Bildspender Schlange natürlich eine recht vielschichtige und ambivalente heuristische Erläuterungsfunktion für den Bildempfänger Sprache. Der Rückgriff Jacobis auf die Schlange aus dem Paradiese als Sinnbild für Sprache ist sicher auch dem Denkklima seiner Zeit geschuldet. Im Kontext des aufklärerischen Denkens gab es am Ende des 18. Jahrhunderts ein starkes Bemühen, die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradiese nicht mehr als eine Geschichte über den Sündenfall bzw. über das theologische Konzept der Erbsünde zu verstehen. Stattdessen begann man in dieser Zeit, die biblische Erzählung als einen Mythos über die Loslösung des Menschen aus der Natur bzw. aus einer instinktgesteuerten Lebensweise wahrzunehmen. Das bedeutete, dass diese Geschichte nunmehr als einen Mythos über die Genese des menschlichen Bewusstseins und Denkens verstanden wurde. Dadurch mutierte diese Erzählung allmählich von einer Geschichte über den Sündenfall zu einer Geschichte über das Essen vom Baum der Erkenntnis.21 Es ist offensichtlich, dass dieses neue Verständnis des Verhaltens von Adam und Eva natürlich auch die Funktion der biblischen Schlange in ein ganz neues Licht rückt, weil diese Wahrnehmungsweise nun nicht mehr zur Vorstellung einer strafwürdigen, sondern eher zur Vorstellung einer glücklichen Schuld (felix culpa) führt. Unter diesen Umständen lässt sich die Schlange nicht mehr als eine bloße Inkarnation des Bösen verstehen, sondern muss vielmehr als eine Art Geburtshelferin verstanden werden, die dazu beiträgt, die Menschen in eine ganz neue Existenzform zu führen. Aus dieser veränderten Wahrnehmung der Schlange ergeben sich dann natürlich auch ganz andere Möglichkeiten, die Schlange als Sinnbild für Sprache zu betrachten. Der Aphorismus von Jacobi eignet sich deshalb sehr gut dazu, das veränderte Verständnis der biblischen Erzählung auch sprachtheoretisch nutzbar zu machen. Dazu ist es allerdings notwendig, sich die Rolle der Schlange in dieser Erzählung etwas genauer zu vergegenwärtigen.
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Vgl. W. Schmidt-Biggemann, Mutmaßungen über die Vorstellung vom Ende der Erbsünde, in: B. Fabian u.a. (Hrsg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung, 1980, S. 171–192.
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Die Sprache als Schlange
Die biblische Schlange als Bildspender Allen frühen Phasen von Kulturen ist ein entwicklungsgeschichtliches Denken recht fremd. Die Entstehung von komplexen Phänomenen hat man sich hier in der Regel immer als ein punktuelles Ereignis vorgestellt und nicht als etwas, das allmählich aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren und Einzelentscheidungen hervorwächst. Dafür ist die biblische Erzählung über die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Garten Eden ein gutes Beispiel. Die biblische Erzählung besagt zunächst nur, dass Gott den Menschen in den Garten Eden gesetzt hat, um diesen zu bebauen und zu bewahren. Dieser Garten ist weder ein Paradies im Sinn eines Schlaraffenlandes noch ein Ort der vollendeten Harmonie zwischen Gott und Mensch, sondern vielmehr ein Paradies im ursprünglichen Sinne dieses Wortes persischer Herkunft. Mit dem Terminus Paradies wurde nämlich anfangs nur ein umwallter Lebensraum bzw. eine abgegrenzte Lebenssphäre mit klar vorgegebenen Ordnungsstrukturen und Lebensbedingungen bezeichnet, die den Menschen so etwas wie Heimat sein konnte. In der Mitte des Gartens Eden gibt es zwei besondere Bäume, nämlich den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Von den Früchten aller Bäume darf der Menschen essen. Verboten wird ihm lediglich, vom Baum der Erkenntnis zu essen, da er dann des Todes sterben müsse (1. Mose, 2.8–17). Zum Inventar des Gartens Edens gehört auch die Schlange, die als listiger als alle anderen Tiere charakterisiert wird, was nach altem deutschen Sprachgebrauch eigentlich nur klüger bedeutet und deshalb auch nicht gleich als eine abwertende Beurteilung verstanden werden sollte. Ihre besondere Klugheit bzw. ihre intellektuelle Flexibilität demonstriert die Schlange in der biblischen Erzählung dadurch, dass sie in Frageform einen Denkhorizont entwirft, in dem die eigentlich klar vorgegebene Ordnung im Garten Eden lediglich als eine Denkmöglichkeit unter anderen erscheint. „Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ Auf diese Weise profiliert sich die Schlange sehr deutlich als eine Hypothesenmacherin bzw. als eine Interpretin von Gegebenheiten, die von anderen als unumstößliche und nicht interpretationsbedürftige Fakten angesehen werden. Die Schlange verwendet die Sprache nicht auf pragmatisch elementare Weise in ihrer Ausdrucks- und Appellfunktion, sondern kulturgeschichtlich schon eine Stufe weiter in ihrer Darstellungsfunktion. Dabei dient die Sprache ihr aber nicht nur zur sprachlichen Repräsentation von vorgegebenen Sachverhalten, sondern auch zum hypothetischen Aufbau von alternativen Vorstellungs- und Handlungswelten. Das wird nicht nur durch die Formulierung ihrer hypothetischen oder gar rhetorischen Frage signalisiert, sondern auch durch den Gebrauch des Negationspartikels nicht. Dadurch wird nämlich angedeutet, dass die Schlange in der Lage ist, mit Hilfe der Sprache die faktisch gegebene Welt im Denken zu transzendieren und alternative bzw. hypothetische Denkinhalte zu entwickeln. Die Schlange praktiziert damit einen Zeichengebrauch,
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der weit über den hinausgeht, wozu Tiere bzw. die Menschen in ihrer ersten Entwicklungsphase fähig sind. Die besondere intellektuelle Raffinesse der Schlange beim Gebrauch der Sprache offenbart sich insbesondere in zwei Hinsichten. Zum einen trägt sie ihre Denkhypothese nicht in Form einer behauptenden Aussage vor, sondern in Form einer Frage, wodurch sie deren pragmatische Brisanz auf entscheidende Weise verschleiert bzw. abmildert. Zum anderen verschärft sie das spezielle Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, zu dem generellen Verbot, von allen Bäumen in Garten Eden zu essen. Durch diese etwas perfide Strategie spiegelt die Schlange Eva vor, ein individuelles Informationsdefizit zu haben, und bringt Eva auf diese Weise indirekt dazu, sich eine alternative Lebens- bzw. Verbotssituation vorzustellen, durch die dann die tatsächlich gegebene entscheidend relativiert wird. Zugleich animiert die Schlange durch die Frage nach einem allgemeinen Essensverbot Eva auch dazu, einen fälschlich behaupteten Tatbestand aus dem euphorischen Gefühl eines besseren Wissens heraus richtig zu stellen. Beide Strategien der Schlange sind erfolgreich und führen dazu, dass sie Eva aus dem Reich des Faktischen in das Reich des Möglichen locken kann und damit zugleich auch auf den schlüpfrigen Pfad der Interpretation einer vorgegebenen Ordnung bzw. eines klaren Verbots. Durch die Problematisierung des Inhalts und der Reichweite des von Gott ausgesprochenen Essensverbotes verliert dieses an Relevanz, weil es nun zu einer Möglichkeit unter anderen gemacht wird. Das strategische Verfahren der Schlange erweist sich denkklimatisch gesehen als außerordentlich erfolgreich, denn Eva übernimmt sogleich das hypothetisierende und interpretierende Denken der Schlange. Ohne Not thematisiert sie das Essensverbot Gottes in einer wesentlich verschärften Form, denn sie behauptet gegenüber der Schlange, dass nicht nur das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis zum Tode führe, sondern schon das Berühren dieser Früchte. Nachdem die Schlange gemerkt hat, wie leicht Eva über sprachlich konkretisierte alternative Vorstellungen mit dem Möglichkeitsdenken infiziert werden kann, geht sie als Hypothesenmacherin noch einen Schritt weiter. Sie wagt die Voraussage, dass das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis keineswegs zum Tode führen werde, sondern vielmehr zu einer ganz neuen Qualität von Wissen. Dabei deutet sie zugleich auch an, dass Gott sein Essensverbot möglicherweise aus Neid oder aus Missgunst ausgesprochen haben könnte. „Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon eßt, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (1. Mose, 3.4–5) Wenn man vor dem Hintergrund dieser Handlungen der Schlange nach ihren möglichen Funktionen als Bildspender für den Bildempfänger Sprache fragt, dann wird unsere Aufmerksamkeit insbesondere auf folgende Sprachaspekte gelenkt. Die Sprache tritt als ein unverzichtbares Hilfsmittel des Menschen in Erscheinung, mit dem dieser sein hypothetisches Denken und seine
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operative Intelligenz entfalten kann. Sie bietet ihm immer wieder neue Möglichkeiten, aus dem Bann von vorgegebenen Ordnungen und konventionellen Wahrnehmungsweisen herauszutreten und alternative Vorstellungen zu entwickeln, durch die die Dominanz des Vorgegebenen bzw. Faktischen relativiert wird. Außerdem tritt die Sprache als eine Kraft in Erscheinung, mit der alles Gegebene hinsichtlich seiner Prämissen und Konsequenzen interpretiert bzw. in unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen und bewertet werden kann. Dadurch lässt sich dann das Wirklichkeitsdenken auf vielfältige Weise durch das Möglichkeitsdenken ergänzen und erweitern. Außerdem ist festzuhalten, dass sich die mit Hilfe der Sprache realisierbaren Interpretationsaktivitäten nicht nur auf die außersprachliche Welt richten können, sondern auf einer logisch übergeordneten Reflexionsebene auch auf die konkreten sprachlichen Aussagen über die Welt bzw. auf die konventionalisierten Formen der Sprache selbst. Die Schlange führt vor, dass man Aussagen nicht einfach im Rahmen der üblichen Sprachkonventionen verstehen und befolgen muss, sondern dass man sie durchaus auch zum Gegenstand hermeneutischer Überlegungen machen kann. Etwas überspitzt ließe sich vielleicht sagen, dass die Schlange bei ihren hermeneutischen Anstrengungen sogar den immanenten Anspruch erhebt, die Intentionen von Aussagen besser zu verstehen als der Urheber diese selbst verstanden hat oder verstanden wissen wollte. Wenn man nun die operative hermeneutische Intelligenz der Schlange mit den operativen Funktionsmöglichkeiten der Sprache bzw. mit der operativen Intelligenz der jeweiligen Sprachbenutzer analogisiert, dann kann man sich dadurch sinnbildlich sehr gut folgende Strukturverhältnisse bewusst machen. Es scheint zu dem grundsätzlichen Leistungspotenzial der Sprache und des Denkens zu gehören, dass man sich mit seiner Hilfe nicht nur sachthematisch auf die Objektivierung der Welt beziehen kann, sondern auch reflexionsthematisch auf die Objektivierung der eigenen Zeichen- und Sinnbildungsmöglichkeiten. Dazu passt dann auch gut die mythische Vorstellung, dass Schlangen sich selbst in den Schwanz beißen können. Über die Vorstellung eines solchen Selbstbezugs oder gar Selbstverzehrs lässt sich darauf aufmerksam machen, dass Schlangen sich gleichsam durch sich selbst ständig erneuern können und dass sie sich eben dadurch dann auch eine gewisse Unendlichkeitsstruktur zu geben vermögen, was natürlich im Hinblick auf die Sprache eine recht interessante Hypothese ist. Daraus ließe sich nämlich die aparte Vorstellung ableiten, dass sowohl Schlangen als auch Sprachen als eigene, sich selbst stabilisierende und regenerierende Welten in der allgemeinen Welt in Erscheinung treten können. In dieser Denkperspektive wird dann auch verständlich, warum sowohl die Schlange als auch die Sprache immer wieder als Verführerinnen goutiert und denunziert worden sind. Beiden konnte man nämlich die Fähigkeit zuschreiben, die Menschen in neue Welten jenseits der üblichen Erfahrungswelt zu führen. Beide waren faszinierend, weil sie sich häuten und dadurch ihr altes Leben in erneuerter Form weiterführen konnten. Mit beiden sah man allerdings auch immer die Gefahr verbunden, dass sie in fiktive Welten führen, die
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durchaus auf tönernen Füßen stehen können. Faktisch kann sich die Schlange natürlich ebenso wenig von sich selbst ernähren wie die Sprache. Beide verlieren ihr Leben, wenn sie ihren unmittelbaren Kontakt zur tatsächlichen Außenwelt einbüßen bzw. sich nicht mehr das einzuverleiben versuchen, was faktisch zu ihrer Außenwelt gehört. Die Schlange bleibt als geistige Führerin und Verführerin ein ambivalentes Sinnbild für die Sprache, aber gerade deshalb vielleicht auch ein realistisches. Dieser Umstand macht es auch verständlich, warum Hamann bei aller Hochschätzung der Sprache dennoch, wie schon erwähnt, vom „Schlangenbetrug der Sprache“22 gesprochen hat. Ähnlich wie Eva sich der Schlange überlegen fühlt, so fühlt sich in der Regel auch der Mensch der Sprache überlegen. Beide glauben, die Schlange bzw. die Sprache zu beherrschen, und werden meist doch auf eine subtile Art von beiden beherrscht. Die Menschen merken meist erst etwas verspätet, dass die Sprache ein recht eigenständiges Phänomen von hoher Eigendynamik und Strukturierungsmacht ist, deren Wirkungskräfte sie keineswegs vollständig zu überschauen vermögen. Die Sprache, die man als Werkzeug zu dominieren glaubt, kann dann leicht zu einem Zauberbesen werden, dessen Kontrolle einem entgleitet.
Die kulturstiftende Funktion der Schlange Es wurde schon darauf hingewiesen, dass insbesondere das aufklärerische Denken eine starke Tendenz gehabt hatte, die biblische Schlange nicht negativ als eine Verführerin oder gar als eine Inkarnation des Teufels zu verstehen, sondern vielmehr positiv als eine Führerin des Menschen zu einer höheren Existenzstufe. Das bedeutet, dass sie eigentlich nicht mit der Vorstellung des Sündenfalls in Verbindung gebracht werden kann, sondern eher mit der Vorstellung des Fortschritts. Wie lässt sich nun eine solche Sichtweise aus der biblischen Erzählung selbst verständlich machen, ohne auf das mythische Verständnis der Schlange als Sinnbild der Wiedergeburt, der Erneuerung und der Heilung Bezug nehmen zu müssen bzw. auf die antiklerikalen Affekte der Aufklärung? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage erweist es sich als hilfreich, einerseits auf das Problem einzugehen, ob sich die Prophezeiung der Schlange über die Folgen des Essens vom Baum der Erkenntnis als richtig erwiesen haben, und andererseits auch darauf, welche faktischen Konsequenzen sich für Adam und Eva daraus ergeben, dass sie das von Gott ausgesprochene Essensverbot nicht befolgt haben. Zunächst ist festzuhalten, dass die Aussagen der Schlange über die Folgen der Übertretung des Essensverbotes zuzutreffen scheinen. Nach dem Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis sterben Adam und Eva keineswegs,
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J. G. Hamann, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 298.
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sondern leben weiter, wenn auch weniger fröhlich. Hat Gott also eine falsche Ankündigung gemacht oder hat seine Ankündigung einen ganz anderen Sinn gehabt, als es der direkte Wortlaut nahelegt? Was meint die Schlange oder könnte sie meinen, als sie das Essensverbot Gottes folgendermaßen kommentiert? „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon eßt, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (1. Mose, 3.4–5) Da Adam und Eva nach dem Genuss der Früchte faktisch keineswegs sterben, sondern nur aus dem Garten Eden vertrieben werden, könnte sich nämlich der Verdacht aufdrängen, dass Gott eine leere Drohung ausgestoßen hat oder dass er sich im Nachhinein als ein milder Richter gibt, der sich sein Schöpfungswerk nicht durch die Übertretung eines Einzelgebots durch seine Geschöpfe gefährden lassen will. Dieser Verdacht wird allerdings gegenstandslos, wenn man bei der Todesandrohung nicht an den biologischen Tod von Adam und Eva denkt, sondern an den geistig antizipierten Tod bzw. an das explizite Wissen davon, dass der Tod das Leben beschließt und dass die Menschen im Bewusstsein des kommenden Todes zu leben haben. In der Existenzphilosophie hat man deshalb auch zwischen dem biologischen Ableben als dem kleinen Tod und dem geistig antizipierten Lebensende als dem großen Tod unterschieden, durch den sich die Existenzform des Menschen grundsätzlich von der der Tiere unterscheide. Tiere könnten in konkreten Bedrohungssituationen zwar Todesangst haben oder sich im Rahmen von genetisch fixierten Verhaltensprogrammen auf den Tod einstellen. Im Gegensatz zum Menschen hätten sie aber kein wirkliches Todesbewusstsein, das sie mit Hilfe von Sprache bzw. mit Hilfe von Geschichten über den Tod objektivieren könnten. So gesehen ließe sich Tieren dann sogar ein ewiges Leben zuschreiben, insofern sie kein Bewusstsein vom kommenden Tode besäßen. Falls man so denkt, dann hat die Schlange durchaus Recht, denn Adam und Eva sterben nach dem Genuss der Früchte keineswegs den kleinen biologischen Tod. Aber Gott hat auch Recht, denn beide bekommen nach dem Essen der Früchte ein Todesbewusstsein und sterben so gesehen den großen Tod. Mit der Übertretung des Gebotes Gottes treten sie gleichsam aus dem Orden der Tiere im Sinne von Lebewesen schlechthin aus und konstituieren den besonderen Orden des Menschen. Sie verlassen ein Leben, das durch Instinkte geregelt ist, und treten in ein Leben ein, das durch kulturelle bzw. ethische Regeln gestaltet werden muss. In dieser neuen Existenzweise spielt dann das Todesbewusstsein eine ganz zentrale Rolle, da sich nun die unabweisbare Frage stellt, wie man angesichts des Todes sein Leben zu gestalten hat. Todesbewusstsein und Selbstbewusstsein verdanken sich so betrachtet derselben Tat. Wenn man die Todesandrohung Gottes in diesem Sinne versteht, dann passt sie recht gut in die Erzählung über die Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden, insofern das Bewusstsein des Todes psychisch keineswegs nur destruktive Folgen hat, sondern durchaus auch konstruktive, insofern es auch ganz spezifische menschliche Gestaltungskräfte aktivieren kann. Da nur der Tod selbst sicher ist, aber nicht die Todesstunde, besteht für den Menschen
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nun die Notwendigkeit, sein Leben von Anfang an inhaltlich zu formen und diese Aufgabe nicht in eine ferne Zukunft zu verlagern. In einem ewigen Leben bzw. in einem Leben ohne Todesbewusstsein gäbe es nämlich keine wirkliche Lebensspannung bzw. keine Notwendigkeit, die eigene Zukunft durch vorsorgendes Handeln gestalten zu müssen. Erst das Bewusstsein des zukünftigen Todes führt den Menschen aus den Reiz-Reaktions-Kreisen der Natur heraus und zwingt ihn dazu, sich selbst Lebensziele und Lebensnormen zu setzen und die instinktiven oder traditionellen Regelkreise des Verhaltens zu transzendieren. Dadurch ergibt sich dann auch zwangsläufig die Tendenz, zu jedem konkreten Sachbewusstsein eine Denkstufe höher ein Reflexions- bzw. Metabewusstsein zu entwickeln, in dem die Implikationen des jeweiligen Sachbewusstseins thematisiert werden können. Es ist offensichtlich, dass ein solches Reflexionsbewusstsein ohne die gleichzeitige Entwicklung eines Sprachbewusstseins gar nicht möglich ist und dass ein solches Sprachbewusstsein natürlich mehr umfassen muss als ein Wissen um das abrufbare Inventar konventioneller sprachlicher Zeichen und Regeln. Sofern man nun der Interpretation folgt, dass das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht zu dem kleinen, sondern zu dem großen Tod führt, dann wird auch verständlich, warum Gott nicht ausdrücklich verbieten musste, vom Baum des Lebens zu essen. Die Früchte dieses Baumes werden nämlich erst dann wirklich attraktiv, wenn man schon vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und ein Bewusstsein von seinem künftigen Tode besitzt. Es wird außerdem auch gut nachvollziehbar, warum Adam und Eva nach dem Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis aus dem Garten Eden verwiesen werden und hinfort ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen sollen. Das Bewusstsein, mit dem Tode rechnen zu müssen, zwingt nämlich nicht nur dazu, Regeln für das soziale Zusammenleben zu entwickeln, sondern auch dazu, durch Arbeit Vorsorge dafür zu treffen, dass das Leben nicht zufällig aus Mangel an Nahrung endet. Wenn man sein Leben nicht von den Zufällen des momentanen Findens abhängig machen will, dann muss man arbeiten und darf nicht einfach in den Tag hinein leben. Man muss Ackerbau und Viehzucht betreiben und kann nicht einfach darauf vertrauen, dass der Tisch der Natur schon reichlich gedeckt sein werde. Die Vertreibung aus dem Garten Eden bzw. aus dem Paradiese wäre dementsprechend dann auch nicht als eine Vertreibung aus einem geographisch fixierbaren Raum zu verstehen, sondern vielmehr als eine Vertreibung aus einer bestimmten Lebensweise oder aus einem bestimmten geistigen Raum. Die Cherubim würden dann nicht den Zugang zu einem konkreten Raum verhindern, sondern die Rückkehr zu einer alten Lebensform bzw. Bewusstseinsstufe, in der die Antizipation des Todes und die Notwendigkeit der Zukunftsvorsorge keine konstitutive Rolle spielt. Der Einfluss des Vorsorgedenkens auf die Gestaltung des biologischen und geistigen Lebens lässt sich sehr schön durch eine kleine Episode illustrieren, die sich im Gespräch des Polarforschers Peary mit einem Eskimo ergeben
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hat. Auf Pearys Frage, woran er denn gerade denke, soll dieser nämlich geantwortet haben: „Ich habe an nichts zu denken … ich habe eine Menge Fleisch.“23 Diese Antwort macht auf klassische Weise exemplarisch deutlich, welche anthropologische Bedeutsamkeit die Vorsorge, die Arbeit, das Denken, die Kultur und letztlich auch die Sprache für die Existenzform des Menschen hat. Not lehrt eben nicht nur beten, sondern macht auch erfinderisch. Ebenso wie die vorsorgende Arbeit von der Übermacht und den Zufälligkeiten des aktuell gegebenen Nahrungsangebotes zu befreien vermag, so kann auch die typisierende Sprache von der Übermacht und den Zufälligkeiten aktueller Wahrnehmungsinhalte befreien. Ebenso wie die Arbeit zur Aneignung der Natur durch den Menschen führt, so führt auch die Sprache zur Aneignung der Welt bzw. zur Aneignung des eigenen Lebens als eines zu gestaltenden Lebens. Zielorientierte kooperative Arbeit setzt immer ein differenziertes Bewusstsein und eine differenzierte Sprache voraus. Arbeit, Bewusstsein, Sprache und Kultur bedingen sich wechselseitig und müssen sich deshalb auch interdependent auf eine koevolutionäre Weise entwickeln. Wenn man diese Argumentation für stichhaltig hält, dann wird man wohl auch einräumen müssen, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis eigentlich nicht als ein individuelles Versagen von Adam und Eva zu werten ist bzw. als ein Betriebsunfall in der Schöpfungsgeschichte. Vielmehr liegt die Auffassung nahe, den sogenannten Sündenfall als Teil des gesamten Schöpfungsgeschehens zu verstehen bzw. als eine mythische Ausdrucksform des Grundgedankens, dass Adam und Eva aus dem instinktmäßig abgesicherten Kreis der allgemeinen Lebewesen bzw. der Tiere austreten und in den kulturell sehr viel labiler abgesicherten Kreis von Menschen eintreten. Dementsprechend wäre der sogenannte Sündenfall dann auch nicht als ein individuelles historisches Ereignis anzusehen, sondern vielmehr als die sinnbildliche narrative Darstellung eines lange andauernden evolutionären Vorgangs, durch den die Menschen in ihre besondere und eigentliche Existenzweise eintreten. Der Theologe Paul Tillich hat diesen Übertritt von einer Lebensform in eine andere Lebensform als den Übergang von einem Leben in träumender Unschuld zu einem Leben in der Freiheit und in der Notwendigkeit zur Entscheidung beschrieben. Das sei zugleich auch als ein Durchbruch zur Erfahrung der eigenen Existenz zu verstehen. In Mythen würden solche Übergänge in der Regel als einmalige Begebenheiten dargestellt, obwohl sie eigentlich sich immer wiederholende Vorgänge im menschlichen Leben seien.24 Eine solche Interpretation der biblischen Erzählung von der Vertreibung aus dem Garten Eden wertet die Gestalt und Funktion der Schlange gewaltig auf. Diese lässt sich nun nicht länger als Inkarnation des Bösen betrachten, sondern muss vielmehr als eine Geburtshelferin des Menschen auf seinem
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Zitiert nach R. Riedl, Die Strategie der Genesis, 19802, S. 291. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, 19582, S. 40 ff.
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Weg zu einem kulturfähigen und kulturbedürftigen Wesen angesehen werden. Dabei ist dann von zweitrangiger Bedeutung, ob sie sinnbildlich als Teil eines allgemeinen Schöpfungsplans anzusehen ist oder als eine im Menschen angelegte Kraft, die unter bestimmten Bedingungen in dessen phylogenetischer und ontogenetischer Entwicklungsgeschichte wirksam wird. In beiden Denkperspektiven lässt sich die Schlange als ein Sinnbild für Sprache verstehen, weil ein solcher Prozess ohne die Entwicklung und Wirksamkeit von Sprache überhaupt nicht denkbar ist. Allerdings ist nun natürlich auch einzuräumen, dass die Schlange wohl kaum als ein Sinnbild für Sprache zu werten ist, wenn man sich vorab schon entschieden hat, die Sprache nur als ein System von verbalen Zeichen und sozialen Konventionen zu verstehen, also als Ergon im Sinne Humboldts bzw. als langue im Sinne de Saussures. Erst wenn man die Sprache sehr viel umfassender als Energeia ins Auge fasst, wird man von der Schlange als Sinnbild für Sprache sprechen können. Dieses Verständnis der Schlange lässt sich vielleicht noch plausibler machen, wenn man danach fragt, was überhaupt mit der Aussage der Schlange gemeint sein kann, dass das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis dazu führen werde, dass den Menschen die Augen aufgetan würden und dass sie anschließend gottgleich wüssten, was gut und böse sei.
Das Wissen um Gutes und Böses Ebenso wie Adam und Eva nach dem Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht faktisch sterben, sondern sich nur geistig mit dem Problem des Todes auseinandersetzen müssen, so gewinnen sie auch nach dem Essen der Früchte kein faktisches Wissen darüber, was tatsächlich gut und böse ist. Sie werden vielmehr nun mit dem Problem konfrontiert, zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden zu müssen. Der Übergang von einer Natur- zu einer Kulturexistenz macht es nämlich erforderlich, das eigene Handeln nicht mehr allein durch Instinkte bzw. durch von außen auferlegte Normen zu regulieren, sondern das eigene Leben vielmehr mit Hilfe von selbst zu entwickelnden ethischen Prinzipien und moralischen Normen zu gestalten. Für ein solches Verständnis des Wissens über das Gute und Böse lassen sich folgende Überlegungen geltend machen. Wenn in dem Bibeltext davon gesprochen wird, dass Adam und Eva nach dem Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis die Augen aufgetan würden, so kann das sowohl in einem optischen als auch in einem geistigen Sinne verstanden werden. Als erstes werden beide nämlich gewahr, dass sie nackt sind, woraufhin sie sich Schürze aus Feigenblättern machen. In diesem Zustand haben sie sich faktisch schon vor dem Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis befunden, aber sie haben diesen Zustand als natürlich empfunden und nicht als einen Zustand des Entblößt-Seins, über den man Scham empfinden kann. Die von Ihnen empfundene Scham ist sicherlich nicht nur als eine sexuelle Form der Scham zu verstehen, sondern darüber hinaus wohl auch als eine
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allgemeine, wenn nicht sogar metaphysisch zu verstehende Form der Scham. Diese Form der Scham wäre dann aus der Erfahrung der Fragmentarität und der Ergänzungsbedürftigkeit des eigenen Seins abzuleiten bzw. aus der Erfahrung der Diskrepanz zwischen dem faktischen Sein und Handeln einerseits und dem intentionalen Wollen und moralischen Sollen andererseits. Das instinktgeleitete Leben der Tiere kennt keine Scham in diesem Sinne. Allenfalls kennen domestizierte Haustiere so etwas wie ein schlechtes Gewissen, wenn sie dabei ertappt werden, eingebläute Verhalternsweisen übertreten zu haben. Die metaphysische Form der Scham kann erst auftreten, wenn man sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, seine eigenen Lebensformen und Lebensentscheidungen in umfassende Ordnungszusammenhänge einfügen zu müssen, und wenn man dabei die Erfahrung macht, bestimmten Zielsetzungen und Normen nicht immer entsprechen zu können. Deshalb ist diese Form der Scham in anthropologischen Überlegungen auch immer wieder als ein entscheidendes Kriterium betrachtet worden, die menschliche Existenzform von der tierischen kategorial zu unterscheiden. Bröcker hat daher auch die Fähigkeit, Scham zu empfinden, als ein konstitutives Kriterium des Menschen angesehen. „Sie ist die Folge des Verlustes der tierischen Unbefangenheit, sie ist das Gefühl nicht mehr Tier und doch noch Tier zu sein.“ 25 Die Formel von der Erkenntnis des Guten und Bösen kann man allerdings auch noch sehr viel bescheidener in einem ganz pragmatischen Sinne verstehen. Der hebräische Sprachgebrauch scheint es zu erlauben, das Wissen um die Differenz zwischen dem Guten und Bösen auch als ein Wissen um die Differenz zwischen dem Nützlichen und Schädlichen anzusehen. Deshalb hat Buber vorgeschlagen, diese Formel als eine solche zu verstehen, die sich auf das „Wissen um alle guten und schlimmen Dinge“ beziehe.26 G. von Rad hat sogar darauf verwiesen, dass diese Formel im alttestamentarischen Sprachgebrauch nicht unbedingt in einem moralisch-ethischen Sinne zu verstehen sei. Sie bedeute in Opposition zu nichts wissen so viel wie alles wissen. „Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet also Allwissenheit im weitesten Sinne des Wortes.“ 27 Auf ein solches Verständnis der Formel hat übrigens auch schon Herder hingewiesen. „Erkenntniß des Guten und Bösen heißt bei den Morgenländern, soviel ich weiß, Klugheit. Es wird gewöhnlich von den Jahren gebraucht, da ein Mensch zu Verstande kommt; oder es bedeutet das moralische Urtheil eines Menschen, seine Fähigkeit dazu, kurz seinen praktischen Verstand.“ 28 Wenn man die Formel vom Wissen über das Gute und Böse in diesem pragmatischen Sinne versteht, der natürlich ethische Implikationen nicht aus-
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W. Bröcker, Der Mythos vom Baum der Erkenntnis, in: Anteile, M. Heidegger zum 60. Geb., 1950, S. 40. 26 M. Buber, Bilder von Gut und Böse, 19532, S. 20. Vgl. auch J. Feldmann, Paradies und Sündenfall, 1913, S. 568. 27 G. von Rad, Das erste Buch Mose, Genesis 1.1–11.29, in: Das Alte Testament, 1949/50, S. 65. 28 J. G. Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, Sämmtliche Werke, Bd. 11, S. 330.
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schließt, dann verführt die Schlange den Menschen zu der Fähigkeit und Freiheit, Unterscheidungen treffen zu können, bzw. zu der Notwendigkeit, Unterscheidungen treffen zu müssen, um seine kulturelle Existenzform zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Evolutionär gedacht würde das bedeuten, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis im Prinzip zu Wissensinhalten führt, die der Mensch erwerben muss, wenn er als kulturbedürftiges Wesen überleben will. Die Schlange beschleunigte so gesehen dann nur einen evolutionären Prozess, der ohnehin zur menschlichen Lebensform gehört. Vielleicht könnte man den Baum der Erkenntnis deshalb nicht nur als einen Baum des Wissens, sondern sogar als einen Baum des Gewissens im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des lat. Terminus conscientia (Mit-Wissen) bezeichnen. Eine solche Bedeutung liegt ursprünglich ja auch dem deutschen Wort Gewissen zu Grunde, da das Präfix ge- immer auf eine Gesamtheit von zusammengehörigen Einzelphänomenen aufmerksam machen soll (Gebirge, Gewölk, Geklirr). Das würde dann bedeuten, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis zu einem umfassenden Wissen führt, das nicht nur ein differenziertes Sachwissen beinhaltet, sondern auch ein Wissen vom richtigen Gebrauch dieses Sachwissens, also ein Metawissen zu letzterem. Das harmonierte dann auch mit der These, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis die Ausbildung des Selbstbewusstseins bzw. des selbstreflexiven Denkens ermöglicht. Es ist nun im Prinzip ziemlich unerheblich, ob man das Essen vom Baum der Erkenntnis als ein mythisches Bild für den Erwerb von praktischem und nützlichem Wissen versteht oder als ein mythisches Bild für die Ausbildung des menschlichen Selbstbewusstseins und Gewissens. In jedem Fall hat diese mythische Vorstellung immer etwas mit der Entwicklung von repräsentierenden, differenzierenden und wertenden Zeichen zu tun und deshalb auch etwas mit der Ausbildung einer vielfältig nutzbaren Sprache. Während das Tier in der Regel auf bestimmte Reizkonfigurationen direkt mit pragmatisch bewährten Handlungsmustern antwortet bzw. bestimmte Wahrnehmungsinhalte sofort als Nahrung, als Gefahr oder als etwas Belangloses klassifiziert, besitzt der Mensch kraft Sprache eine sehr viel größere Spannweite, Wahrnehmungsinhalte kategorial einzuordnen und handelnd darauf zu reagieren. Beispielsweise kann er dieselbe optische Reizkonfiguration je nach bevorzugter Wahrnehmungsperspektive als Fisch, als Nahrung, als Evolutionsprodukt, als Indiz für ein gesundes Gewässer oder sogar als religiöses Emblem wahrnehmen und eben dadurch auch in ganz unterschiedliche Wissensgeflechte, Handlungskontexte und Geschichten einordnen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch besser verständlich, warum nicht nur die Gnostiker, sondern auch die Entwicklungsdenker und Aufklärer die biblische Geschichte über das Essen vom Baum der Erkenntnis keineswegs bloß als eine Geschichte über den Sündenfall verstehen wollten, sondern vielmehr als einen sehr viel tiefgründigeren anthropologischen Mythos. Die Gnostiker, die ohnehin eine starke Tendenz hatten, alle traditionellen kirchlichen Lehren umzudeuten, haben deshalb das Essen vom Baum der Erkenntnis als den ersten Schritt zur Gnosis d.h. zu einem allumfas-
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senden Wissen interpretiert.29Auch die Aufklärer haben sich in unterschiedlichen Nuancen bemüht, diese Tat positiv zu beurteilen. Herder sah in der Verletzung des Essensverbots durch Adam und Eva im Prinzip eine Schuld, durch welche der Mensch sich aus „den Schranken seiner einfachen Bedürfnisse, Seligkeiten und Pflichten hinauswarf, ins unermeßliche Land des Wahns, der Phantasien und Begierden.“ Ganz negativ scheint er allerdings die Konsequenzen dieser Tat aber wohl doch nicht zu beurteilen, da er in diesem Zusammenhang zugleich auch an Ikarus, Prometheus und Sisyphos erinnert, die sich durch ihre Taten ebenfalls selbst Höllen bereitet hätten.30 Durch seine Tat habe sich der Mensch das „zweideutige Irrlicht Besinnung“ erzeugt, welches kein Tier benötige und das „seinem Besitzer mehr Irrthum und Plage, als Besitz und Glückseligkeit schaffet.“ Gleichwohl betont Herder aber auch folgendes: „ Nun war er G ö t t e r g l e i c h, s a h , was er s o n s t n i c h t g e s e h n hatte, konnte sich sogar Moralische Unterschiede des G u t e n und B ö s e n (das feinste Dichtungsspiel!) denken.“ 31
Das Verständnis der biblischen Erzählung in der Aufklärung und im Idealismus Den Aufklärern lag alles daran, die biblische Erzählung über die Vertreibung aus dem Garten Eden als eine Geschichte über die Emanzipation des Menschengeschlechts zu verstehen. Dieser Denkansatz wurde im deutschen Idealismus dann noch dahingehend ausgebaut, die Erzählung in einem dialektischen Sinne als eine Geschichte über die heilsame Wirkung des Bösen zu rezipieren. Kant hat in einem Aufsatz von 1786 ganz nachdrücklich darauf verwiesen, dass in der Geschichte über das Essen vom Baum der Erkenntnis gezeigt werde, wie sich der Mensch aus seiner Gebundenheit an die Instinkte und die Sinnlichkeit löse und sich der Führung durch die Vernunft anvertraue. Der Schritt aus dem Paradiese sei „der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen…“ 32 Noch enthusiastischer hat sich Schiller 1790 über die positiven Wirkungen des Essens vom Baum der Erkenntnis geäußert. Mit dieser Tat habe der Mensch den entscheidenden Schritt aus dem Reiche der Natur und der Instink-
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Vgl. J. Feldmann, Paradies und Sündenfall, 1913, S. 554. J. G. Herder, Abfall des Menschengeschlechts, Sämmtliche Werke, Bd. 11, S. 65. 31 J. G. Herder, a.a.O., Bd. 11, S. 74. 32 I. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, A 13, Werke, Bd. 11, S. 92. 30
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te in das Reich des Geistes getan, das er zugleich als ein Reich der Freiheit zur Entwicklung der Moral ansieht. „Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntniß verbot, in eine Stimme seines Instinktes verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders als – ein Abfall von seinem Instinkte – also, erste Aeußerung seiner Selbstthätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte der das moralische Uebel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralisch Gute darinn möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget.“ 33
Auch der siebzehnjährige Schelling hat sich in seiner Magisterarbeit über den Ursprung der menschlichen Bosheit mit der biblischen Erzählung beschäftigt. Für ihn beschreibt sie die Verbannung des Menschen aus dem goldenen Zeitalter und seinen Eintritt in das Reich der Vernunft, in dem er nun die engen Grenzen der Sinneswahrnehmungen transzendieren könne. Zentrale Aufgabe der Vernunft sei es, das Böse vom Guten zu unterscheiden und sich eben dadurch auch von der Herrschaft der Natur zu lösen. Die Schlange repräsentiert für Schelling die innere Kraft des Menschen, sich selbst zur Erkenntnis zu reizen. Die Vernunft habe uns zwar aus dem „glückseligen Naturzustand herausgeführt“ und uns durch ihre Anregungen zur „Erforschung der höchsten Ziele“ auch in Probleme verstrickt, aber gleichwohl ist er der Meinung, dass wir „auch angesichts dieser Mühseligkeiten niemals zurückkehren würden – auch nicht, wenn wir in jenes Arkadien zurückkehren könnten.“ 34 Aus dem Umstand, dass der Mensch sowohl auf das Reich seiner Sinnlichkeit als auch auf das des Geistes bezogen sei, resultiert für Schelling die Gefahr, die Normen des einen oder des anderen Reiches zu verletzen, wodurch dann das moralisch Böse Eingang in die Welt finden könne. Je mehr sich die Entscheidungsmöglichkeiten der Menschen ausgeweitet hätten, desto mehr habe seine Möglichkeit zur Bosheit zugenommen. Diesen Umstand beurteilt er aber keineswegs nur negativ, weil er darin zugleich auch eine stimulierende Kraft für die geschichtliche Entfaltung der Kultur sieht. Die auf uns einstürzende Macht des Bösen habe uns dialektisch „geradezu genötigt, mit dem immer mehr geschulten und geschärften Geist nach einer Schwächung der Bosheit in uns selbst zu forschen und den Geist von einer bloßen Betrachtung
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F. von Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 17, S. 399–400. 34 F. W. J. Schelling, Ein kritischer und philosophischer Auslegungsversuch des ältesten Philosophems von Genesis III über den ersten Ursprung der menschlichen Bosheit, Historischkritische Ausgabe, Reihe 1, Werke, Bd. 1, S. 140.
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dieser Bosheit auf die Suche nach dem Weg zu einer immer höheren und glückseligeren Vollkommenheit zu lenken.“ 35 Ganz ähnlich wie Schelling sieht auch Hegel das Essen vom Baum der Erkenntnis als das entscheidende Ereignis an, durch das der Mensch in die Welt des Geistes bzw. der Reflexion eingetreten sei, die für ihn allerdings zugleich immer auch eine Welt der Entzweiung ist. „Das Erkennen als Aufhebung der natürlichen Einheit ist der Sündenfall, der keine zufällige, sondern die ewige Geschichte des Geistes ist. Denn der Zustand der Unschuld, dieser paradiesische Zustand, ist der tierische. Das Paradies ist ein Park, wo nur die Tiere und nicht die Menschen bleiben können. Denn das Tier ist mit Gott eins, aber nur an sich. Nur der Mensch ist Geist, d.h. für sich selbst. Dieses Fürsichsein, dieses Bewußtsein ist aber zugleich die Trennung von dem allgemeinen göttlichen Geist. Halte ich mich in meiner abstrakten Freiheit gegen das Gute, so ist dies eben der Standpunkt des Bösen. Der Sündenfall ist daher der ewige Mythus 36 des Menschen, wodurch er eben Mensch wird.“
Für Hegel besteht die Besonderheit des Geistes bzw. der Reflexion darin, dass sich das Denken sowohl auf anderes als auch auf sich selbst beziehen könne. Anderes zu begreifen, heiße zugleich, sich auch selbst zu begreifen. In Reflexionsprozessen transformierten sich die Dinge für den Menschen aus dem Status des An-Sich zu dem Status des Für-Mich, so dass letztlich Sein und Wissen zusammenfallen könnten. Die Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Unmittelbarkeit der Dinge mit Hilfe von Begriffen aufgehoben würde und dass es eben dadurch zu einer vermittelten Unmittelbarkeit komme. Bei diesen Prozess spielt die Sprache für ihn eine ganz unersetzbare Rolle, weshalb er auch die folgende aufschlussreiche These formuliert: „Die Sprache ist Ertötung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein…“ 37 Auch Heinrich Heine hat es sich in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie des Idealismus nicht nehmen lassen, ironisch darauf zu verweisen, dass die Schlange aus dem Paradiese die Hegelsche Philosophie bereits vorweggenommen habe. Sie habe schon die Negation der Negation praktiziert und damit dem Geist bzw. dem Bewusstsein zum Wissen seiner selbst verholfen. „Es stehen überhaupt noch viele schöne und merkwürdige Erzählungen in der Bibel, die ihrer Beachtung wert wären, z.B. gleich im Anfang die Geschichte von dem verbotenen Baume im Paradiese und von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigt sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gotte werde durch die Erkenntnis, oder was dasselbe ist, wie Gott im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst gelange – Diese Formel ist nicht so klar wie die ursprüng-
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F. W. J. Schelling, a.a.O., S. 145. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, S. 389. 37 G. W. F. Hegel, Texte zur philosophischen Propädeutik, § 159, Werke, Bd. 4, S. 52. 36
Die Schlange als perspektivierendes Sinnbild
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lichen Worte: Wenn ihr vom Baume der Erkenntnis genossen, werdet ihr wie Gott sein! Frau Eva verstand von der ganzen Demonstration nur das Eine, daß die Frucht verboten sei, und weil verboten, aß sie davon, die gute Frau. Aber kaum hatte sie von dem lockenden Apfel gegessen, so verlor sie ihre Unschuld, ihre naive Unmittelbarkeit, sie fand, daß sie viel zu nackend sei für eine Person von ihrem Stande, die Stammutter so vieler künftiger Kaiser und Könige, und sie verlangte ein Kleid…Sonderbar, so wie das Weib zum denkenden Selbstbewußtsein kommt, ist ihr erster Gedanke ein neues Kleid!“38
4. Die Schlange als perspektivierendes Sinnbild Bei der Inanspruchnahme der Schlange als Sinnbild für Sprache müssen wir uns in einem viel höheren Maße als bei anderen Sinnbildern (Werkzeug, Kleid, Bauwerk usw.) mit dem phänomenologisch wichtigen Problem auseinandersetzen, dass wir nicht nur an empirisch gut fassbare Sachanalogien zu denken haben, sondern darüber hinaus auch an kulturspezifische Interpretationsanalogien. Dieser Tatbestand ist insbesondere auch deshalb wichtig, weil sich unsere empirische Erfahrung von Schlangen im Laufe der Zivilisationsgeschichte immer stärker vermindert hat, aber unser kulturspezifisches Sach- und Interpretationswissen von Schlangen immer mehr vergrößert. Das hat zur Folge, dass eine Kultur, die die Schlange als Sinnbild für Sprache in Anspruch nimmt, sich dabei gleichsam auch immer irgendwie mit sich selbst bzw. mit ihren eigenen Denkvoraussetzungen unterhält. Für das Ideal eines linearen Erkenntnisfortschritts ist das sicher eine ziemliche Horrorvorstellung, da man dabei natürlich Gefahr läuft, sich in zirkulären Denkformen zu verheddern bzw. zu Ergebnissen zu kommen, die man immer schon vorausgesetzt hat. Für das hermeneutische Denken ist diese Zirkelproblematik gleichwohl kein absolutes Schreckgespenst, weil sie in unseren Denkprozessen faktisch gar nicht völlig zu beseitigen, sondern allenfalls methodisch zu kontrollieren ist. Diesem Denken geht es primär nämlich nicht darum, eine solche Zirkelstruktur vollständig zu vermeiden, sondern vielmehr darum, auf eine sinnvolle und fruchtbare Weise in sie hineinzukommen und sie dann im Sinne eines spiralförmigen Fortschritts zu nutzen. In der Hermeneutik sind deshalb zirkuläre Denkstrukturen weder Teufelswerk noch Götterspeise, sondern bei methodisch richtiger Nutzung tägliches Brot. Für das hermeneutische Denken ist das Verfahren, Sprache mit Hilfe von kulturell akzentuierten Sinnbildern aufzuklären, nicht nur unvermeidbar, sondern sogar wünschenswert, insofern wir uns dabei Rechenschaft von unseren eigenen Denkprämissen und Denkzielen ablegen müssen und nicht den An-
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H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Vorrede zur zweiten Auflage 1852, Bd. 5, S. 510–511.
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Die Sprache als Schlange
spruch erheben dürfen, letzte Aussagen über die Sprache machen zu können. Die Vorstellung der Schlange ist unter diesen Umständen als perspektivierendes heuristisches Sinnbild für Sprache aus mindestens zwei Gründen besonders aufschlussreich. Einerseits kann die Schlange nämlich leicht als Zeichen für eine andere Welt bzw. als Vermittlungsinstanz zwischen verschiedenen Welten verstanden werden. Andererseits kann sie wegen der ihr immer wieder zugeordneten Beweglichkeit auf verschiedenen Ebenen aber auch mit dem Konzept einer umfassenden Funktionalität in Zusammenhang gebracht werden.
Die Schlange als Zeichen für eine andere Welt Die Schlange ist als Bildspender für die Veranschaulichung komplexer Phänomene vor allem deshalb so attraktiv gewesen, weil man sie als einen Zeichenträger verstehen konnte, der auf sehr vielfältige Weise ikonisch und indexikalisch auf anderes verweisen kann. Die Schlange ließ sich überzeugend als Repräsentantin der chthonischen Unterwelt verstehen, als Botin oder als Machtinstrument der Götter, als Hinweis auf Wiedergeburt, Heilung und Erneuerung, als Verkörperung des Bösen, das die Menschen dialektisch zur Besinnung auf das Gute motiviert, sowie als Verweis auf eine umfassende intellektuelle Beweglichkeit. Auf jeden Fall boten die unterschiedlichen Erfahrungs- und Vorstellungsmöglichkeiten von Schlangen dem sinnbildlichen Denken viele Ansatzpunkte, um die sinnliche Erfahrungswelt in Richtung auf eine andere Welt zu transzendieren. Im Rahmen der vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten von Schlangen hat es insbesondere nahegelegen, Schlange und Sprache hinsichtlich ganz bestimmter Aspekte und Funktionen zu analogisieren. Beide Phänomene gehören für die Menschen nämlich einerseits auf ganz selbstverständliche Weise zu der vorfindbaren Welt, aber sie weisen andererseits als Zeichen auch über diese hinaus, insofern man sie beide nicht nur als physisch und sinnlich vorfindbare Phänomene betrachten kann, sondern auch als Hinweise auf etwas von ihnen Unterscheidbares. Wenn Humboldt die Sprache als sinnstiftende Tätigkeit und Hegel als Ertötung der sinnlichen Welt verstehen, dann wollen sie vor allem den medialen Grundcharakter der Sprache hervorheben. Beide interessieren sich mehr für die vermittelnden und katalytischen Funktionen der Sprache als für ihre äußere Gestalt oder ihren Systemcharakter. Beide möchten sie als ein Mittel begreifen, mit dem man sich etwas erschließen und objektivieren kann, was nicht direkt vor Augen liegt. Ebenso wie die Schlange durch ihre spezifische Gestalt, ihre besondere Lebensweise und ihre spezifischen Handlungsmöglichkeiten zu der Frage provoziert, welchen besonderen Stellenwert sie unter den Tieren hat, so provoziert auch die Sprache durch die Vielfalt ihrer Formen und Funktionen zu der Frage, welchen Stellenwert sie unter den für den Menschen nutzbaren Zeichensystemen bzw. Medien hat. Dabei kann dann insbesondere die Frage interessant werden, zu welchen nicht direkt zugänglichen Welten die Sprache den
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Zugang ermöglicht oder erleichtert bzw. ob sie eher eine Brücke zu einer höheren Welt ist oder eher ein Tor zu einer unberechenbaren, chaotischen und gar bösen Welt. Außerdem stellt sich in diesem Zusammenhang dann natürlich auch das Problem, ob durch die Sprache die Erfahrung der Gebrechlichkeit und Fragmentarität der Welt aufgehoben und gemildert oder gar verstärkt und erzeugt wird. Mit den beiden Erfahrungsphänomenen Schlange und Sprache lässt sich relativ leicht die Denkkategorie Alterität verbinden. Mit dieser Kategorie können alle Möglichkeiten zusammengefasst werden, Alternativen und Hypothesen zu entwickeln, in Oppositionen zu denken und nach den Ursachen und Prämissen des jeweils Gegebenen zu fragen. Wenn man das menschliche Denken als eine Fähigkeit betrachtet, gegebene Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht einfach hinzunehmen und einzuordnen, sondern diese auch nach ihren jeweiligen Voraussetzungen und Konsequenzen hin zu befragen, dann ist der Begriff der Alterität eine wichtige Kategorie, um auf die Grundfunktionen des Denkens und der Sprache aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt tragen dann auch Sinnbilder dazu bei, das Denken im Sinne dieser Kategorie perspektivisch flexibel zu halten. Im Gegensatz zur Sprache ist die Schlange nun allerdings kein Artefakt, das der Mensch selbst hervorgebracht hat und das somit auch Fleisch von seinem Fleische ist. Es sei denn, man denkt bei der Verwendung des Wortes Schlange nicht an faktische gegebene Schlangen, sondern an unsere kulturellen Vorstellungen von Schlangen, die ja in einem gewissen Sinne durchaus als konstruktive menschliche Artefakte angesehen werden können. In jedem Fall eignet sich die Schlange aber recht gut dazu, sinnbildlich auf die spezifische Kraft des Menschen aufmerksam zu machen, im Denken die empirische Wahrnehmungswelt zu überschreiten und seine eigenen Vorstellungsinhalte ständig zu erneuern bzw. veränderten Aufgaben anzupassen. Insbesondere die biblische Schlange lässt sich sehr gut als Sinnbild dafür verstehen, dass wir mit Hilfe des sprachlich manifestierten Denkens in die Lage versetzt werden, alles Gegebene zu interpretieren, zu allen Denkinhalten Alternativen zu entwickeln und traditionelle Geltungsansprüche zu relativieren bzw. auf ihre jeweiligen Ursachen und Motive zurückzuführen. Diese Fähigkeit ist natürlich immer wieder als eine höchst ambivalente Kraft verstanden worden, insofern sie nicht nur zu hilfreichen neuen Orientierungen führen kann, sondern auch zu psychisch belastenden Desorientierungen. Sie kann nämlich Wahrnehmungsmöglichkeiten erweitern und methodisch konzentrieren, aber diese auch einengen und sachlich verkürzen. Das hat oft dazu geführt, diese Fähigkeit als eine dialektische Kraft zu verstehen, die in ihren Konsequenzen ziemlich unüberschaubar ist, weil sie das Denken und Handeln auch zu Zielen oder Ergebnissen führen kann, die ursprünglich gar nicht ins Auge gefasst worden sind. Diesen komplexen Wirkungszusammenhang des sprachlich manifestierten Denkens exemplifiziert Goethes Mephisto sehr schön. Dieser bezeichnet die Schlange nämlich nicht nur als seine „Muh-
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Die Sprache als Schlange
me“, sondern sich selbst auch als „Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ 39
Die Universalität der natürlichen Sprache Wenn man die Sprache einmal als ein Mittel entdeckt hat, mit dem sich nicht nur Vorstellungen sachthematisch objektivieren, sondern auch reflexionsthematisch interpretieren lassen, und mit dem man sein eigenes Handeln nicht nur planen, sondern das Handeln anderer auch beeinflussen kann, dann lässt sich die Strukturierungskraft der natürlichen Sprache nicht definitorisch begrenzen, sondern nur methodisch regulieren. Ebenso wenig wie man die körperliche Gestalt und die Bewegungsmöglichkeiten der Schlange definitiv bestimmen kann, ebenso wenig kann man auch die morphologische Gestalt und die sinnbildenden Funktionen der Sprache abschließend festlegen. Sowohl die Schlange als auch die Sprache können sich gestaltmäßig und funktional im Vollzug ihrer Aktivitäten verändern. Beide können sich nach Bedarf häuten, regenerieren und in neuen Formen und Funktionen in Erscheinung treten. Beide können variable Relationen zu anderen Vorstellungswelten herstellen. Ebenso wie man der biblischen Schlange die Kraft zuordnen kann, keine gesetzte Ordnung als unabänderlich anzusehen und für alles anscheinend strikt Vorgegebene neue Wahrnehmungsperspektiven zu entwickeln, so kann man auch der natürliche Sprache als eine ganz besondere innere Kraft zuordnen. Durch sie können die Menschen bei Gebrauch dieser Sprache befähigt werden, alle konkreten Denkinhalte reflexionsthematisch auf ihre jeweiligen Prämissen und Konsequenzen hin zu befragen und eben dadurch dann auch auf neue Weise zu sehen und zu beurteilen. Gerade wenn man die Sprache kulturhistorisch betrachtet, dann stellt sich heraus, dass es den Menschen nie genügt hat, eine Sprache zu besitzen, mit der man die Sachwelt in einer sachthematischen Perspektive kategorisieren und objektivieren kann. Immer haben sie danach gestrebt, eine Sprache zu entwickeln, mit der man in der Lage ist, Vorstellungsinhalte auch in einer reflexionsthematischen Perspektive hinsichtlich ihres sachlichen Stellenwertes zu qualifizieren und dabei zugleich auch subjektorientiert zu bewerten, wofür dann natürlich die Unterscheidung von gut und böse eine ganz fundamentale Bedeutsamkeit bekommen hat. Solange wir die ordnungstiftende Kraft des Denken nur im Sinne eines verrechnenden Denkens verstehen, das nur induktive und deduktive Denkoperationen vornimmt, solange verstehen wir diese Kraft auf eine sehr verkürzte Weise. Wir müssen diese Kraft darüber hinaus auch als ein Vermögen betrachten, das durch eine unberechenbare Spontaneität, einen unbegrenzbaren Ein-
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J. W. von Goethe, Faust, Vers 335 und 1335, Werke, Bd. 3, S. 18 und 47.
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fallsreichtum und eine sehr komplexe Intentionalität gekennzeichnet ist. Für die Bezeichnung einer solchen Kraft, die logisch betrachtet als Metakraft eine Stufe höher steht als die rein objektorientierte Differenzierungskraft des Denkens, hat sich im Deutschen in einer gewissen Opposition zum Begriff Verstand der Begriff Geist eingebürgert. Dieser Begriff ist semantisch zwar recht vage und muss in seiner Funktion als letzter Metabegriff für die Selbstaufklärung des Denkens notwendigerweise auch recht vage bleiben, da er eher eine Hinweis- als eine Einordnungsfunktion hat. Gleichwohl ist er aber unverzichtbar, um eine Potenz zu bezeichnen, die hinter allen konkreten kognitiven und sprachlichen Sinnbildungsanstrengungen steht. Die bisherigen Überlegungen sollten insgesamt plausibel machen, dass die Schlange nicht nur als Sinnbild für Sprache in Anspruch genommen werden kann, sondern auch als Sinnbild für Geist, weil dieser sich natürlich nur über seine konkreten Manifestationsformen fassen lässt und insbesondere über die von ihm entwickelten und genutzten Zeichen- und Sprachformen. Diesbezüglich ist dann allerdings auch zu beachten, dass wir bei der Analogisierung von Schlange, Sprache und Geist einer Gefahr unterliegen, die im Prinzip alle Sinnbilder für Sprache betrifft, die sprachlich mit Hilfe von substantivisch konkretisierten Vorstellungen in Erscheinung treten Da wir uns Schlangen sehr gut als Substanzphänomene vorstellen können, sind wir der immanenten Tendenz ausgesetzt, uns auch Sprache und Geist als Substanzphänomene vorzustellen und nicht als Relations- oder Aktionsphänomene. Wir haben aber zu fragen, ob es sachlich nicht viel angemessener wäre, bei der sprachlichen Objektivierung dieser beiden Phänomene nicht auf die Substantive Sprache und Geist zurückzugreifen, sondern vielmehr auf die Verben sprechen und denken. Aber dann ergibt sich natürlich die Schwierigkeit, für die sprachlich so objektivierten Sachverhalte auch geeignete konkrete Vorstellungs- bzw. Sinnbilder zu finden. Der metaphorische Sprachgebrauch zeigt zwar, dass man auch Verben bzw. Prozessvorstellungen auf analogisierende Weise gebrauchen kann. Aber bei der kognitiven Repräsentation komplexer Phänomene greifen wir sowohl bei begrifflichen als auch bei sinnbildlichen Objektivierungsanstrengungen in der Regel auf Substantive zurück, weil durch ihre Verwendung unseren jeweiligen Denkgegenständen eine viel größere gleichbleibende Stabilität gegeben wird als durch den Gebrauch von Verben. Offenbar gibt es eine sehr starke anthropologisch oder kulturell begründbare Neigung, uns die zentralen Objekte unseres Denkens sprachlich in einer Form zu vergegenwärtigen, die Substanzvorstellungen begünstigt und Prozessvorstellungen eher abwehrt. Wir wollen es im Denken offenbar mit stabilen Größen zu tun haben, die den verändernden Einwirkungen der Zeit nicht oder nur marginal ausgesetzt sind. Gerade Mythen und Märchen legen ja ein beredtes Zeugnis dafür ab, dass wir eine immanente Neigung haben, uns komplexe, prozessual wirksame Kräfte in Form von substanziell fassbaren handlungsfähigen Einzelphänomenen vorzustellen.
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Die Sprache als Schlange
Wenn wir die Schlange als Bildspender verwenden, um uns die universale sinnstiftende Kraft der Sprache bildlich zu vergegenwärtigen, dann haben wir immer zu beachten, dass die Sprache selbst natürlich nicht so intentional handeln kann wie eine Schlange, sondern nur eine Kraft im Rücken der Sprache, die sich die Sprache als Handlungsmedium dienstbar macht. Die Schlange bietet sich als Bildspender für die Objektivierung einer solchen Kraft an, weil sie einerseits für uns als handlungsfähige Größe gut fassbar in Erscheinung tritt und weil sie andererseits nicht unbedingt als eine in sich ruhende autonome Größe verstanden werden muss, sondern durchaus als ein Verbindungsglied zu einer anderen Welt bzw. als ein Medium oder als ein Katalysator. Wenn wir in diesem Denkrahmen die Schlange als eine sinnbildliche Verkörperung der menschlichen Denkkraft verstehen, dann eignet sie sich zweifellos auch recht gut dazu, auf sinnbildliche Weise die natürliche Sprache zu objektivieren und zu repräsentieren, die sicherlich als unser polyfunktionalstes Sinnbildungsmittel anzusehen ist. Denkkraft und Sprache sichern sich beide ihre vielfältigen pragmatischen Wirkungsmöglichkeiten nach außen gerade dadurch ab, dass sie sich nach innen hinsichtlich ihrer konkreten Erscheinungsformen und Funktionspotenziale relativ leicht umgestalten lassen. Die Flexibilität bzw. Schlangenhaftigkeit der natürlichen Sprache dokumentiert sich wohl am klarsten im metaphorischen Sprachgebrauch, der sowohl die Innovationsals auch die Verführungskraft der natürlichen Sprache exemplarisch veranschaulicht. Metaphern geben dem Denken immer eine Hilfe, allerdings keine, die es vollständig reguliert und damit auch irgendwie steif macht, sondern eine, die das Denken sowohl dazu anregt, seine aktuellen Objektivierungsprozesse seinen jeweiligen Denkgegenständen sachthematisch anzupassen, als auch dazu, seine eigenen Denkmittel auf immanente Weise reflexionsthematisch zu problematisieren und zu interpretieren.
II
Die Sprache als Werkzeug
Die Spannbreite und die Menge derjenigen Phänomene, die wir als Werkzeuge einordnen, hat sich kulturgeschichtlich so ausgeweitet, dass wir heute von einem Hammer über eine Maschine bis zu einer Formel oder Theorie alles als Werkzeug bezeichnen können, was man als Hilfsmittel zur Verwirklichung von bestimmten Intentionen funktional erfolgreich verwenden kann. Diese Ausweitung des Werkzeugbegriffs hat zur Folge, dass wir uns heute eigentlich keine klare sinnliche Vorstellung mehr von einem Werkzeug machen können, die sich ikonisch bzw. sinnbildlich so konkret ausdeuten ließe, wie beispielsweise die Vorstellung einer Schlange. Relativ klar konturierte Werkzeugvorstellungen stellen sich meist erst dann ein, wenn wir eine Abstraktionsstufe niedriger an Werkzeuge für elementare handwerkliche Tätigkeiten denken (Hammer, Zange, Messer). Hier haben wir es mit Werkzeugen zu tun, die die Funktionsmöglichkeiten der Hand erweitern oder präzisieren. Ziemlich klare Werkzeugvorstellungen ergeben sich auch, wenn wir an alltägliche Gebrauchsgegenstände denken, mit denen wir bestimmte praktische Aufgaben lösen können (Leiter, Netz, Schiff). Zu beachten haben wir im Zusammenhang mit Sprache ferner, dass wir uns über den Gebrauch von bestimmten Verben bzw. Partizipien ebenfalls konkrete Werkzeugvorstellungen ins Bewusstsein rufen können, ohne dass wir diese gleich explizit benennen müssten (Witze verletzen, zugespitzte Thesen, schlagende Argumente). Die Aussage – Die Sprache ist ein Werkzeug – wird man heute wohl kaum noch als eine metaphorische Aussage ansehen, sondern eher als eine definitorische. Sie scheint nämlich alle klassischen Grundanforderungen an eine Definition zu erfüllen, insofern in ihr der Begriff Sprache dem Oberbegriff Werkzeug (genus proximum) kategorial untergeordnet wird. Die spezifische Differenz (differentia specifica) der Sprache gegenüber anderen Werkzeugen wird zwar nicht ausdrücklich benannt, sie lässt sich aber problemlos ergänzend hinzufügen: Die Sprache ist ein Werkzeug zur Kognition und Kommunikation. Diese Argumentation verdeckt nun allerdings, dass es sich bei einer solchen Definition eigentlich nicht um eine begriffliche Definition im klassischen Sinne handelt, sondern eher um eine sinnbildliche Erläuterung. Die Begriffe Sprache und Werkzeug unterscheiden sich nämlich genau betrachtet nicht durch ihren geringeren oder höheren Abstraktionsgrad auf derselben Seinsebene, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu ganz verschiedenen Seinsebenen, die allenfalls analogisch miteinander in Verbindung gebracht werden können. Nur wenn man den Funktionsgedanken ganz in den Mittelpunkt seines Interesses
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Die Sprache als Werkzeug
stellt, was die klassische Definitionslehre als Seinslehre ja nicht macht, dann lassen sich beide Phänomene ontologisch der gleichen Seinsebene zuordnen. Ungeachtet dieser Probleme bei der ontologischen Einordnung der beiden Begriffe Sprache und Werkzeug ist das Phänomen Sprache gleichwohl immer wieder sinnbildlich über das Phänomen Werkzeug thematisiert und erschlossen worden. Deshalb stellt sich natürlich die Frage, was den Bildspender Werkzeug dazu befähigt, den Bildempfänger Sprache für uns genauer zu erschließen. Insbesondere müssen wir uns fragen, welche Werkzeugtypen bzw. welche Teilaspekte von Werkzeugen das ermöglichen. Eine solche Frage lässt sich dann sowohl kulturhistorisch als auch kultursystematisch ins Auge fassen. Zum einen kann man nämlich sein Interesse darauf lenken, auf welche Werkzeugformen und Werkzeugerfahrungen man jeweils zurückgegriffen hat, als man Werkzeug und Sprache bzw. Werkzeuggebrauch und Sprachgebrauch miteinander zu analogisieren begann. Dabei wird man dann insbesondere auf Werkzeuge stoßen, die bei ganz elementaren handwerklichen Arbeiten genutzt worden sind und von denen wir uns auch heute noch relativ klare Form- und Funktionsvorstellungen machen können. Zum anderen kann man sein Augenmerk darauf richten, dass sowohl das Werkzeug als auch die Sprache ein vom Menschen hergestelltes Artefakt für die Lösung ganz bestimmter Probleme ist und dass sich aus eben dieser gemeinsamen Genese auch viele Funktionsähnlichkeiten zwischen beiden Phänomenen ergeben. Deshalb bietet es sich nun auch aus kontrastiven Gründen an, nach den Überlegungen zu den Bildspenderleistungen des Naturphänomens Schlange nach den Bildspenderleistungen des Kulturphänomens Werkzeug zu fragen.
1. Phänomenologische Betrachtungen zu Werkzeugen Konstitutiv für unsere heutige Vorstellungsbildung von Werkzeugen ist natürlich weder der Substanz- noch der Formgedanke, sondern im Prinzip der Funktionsgedanke. Ein Werkzeug kann alles sein, was eine Dienlichkeit zur Realisierung von Zwecken hat. Dabei ist dann zweitrangig, aus welchem spezifischen Material das jeweilige Werkzeug besteht, welche konkrete Form es hat und von wem es faktisch benutzt wird. Werkzeuge konstituieren sich für uns als Wozu-Dinge und nicht als Seins-Dinge. Sie sind für uns im Prinzip immer sinnvoll genutzte und geformte Dinge, mit denen man auf andere Dinge einwirken kann. Das hat es Bühler dann auch leicht gemacht, die Phänomene Sprache und Werkzeug direkt miteinander in Verbindung zu bringen. „Die Sprache ist dem Werkzeug verwandt; auch sie gehört zu den Geräten des Lebens, ist ein Organon wie das dingliche Gerät, das leibesfremde materielle Zwischending; die Sprache ist wie das Werkzeug ein geformter Mittler. Nur sind es
Phänomenologische Betrachtungen zu Werkzeugen
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nicht die materiellen Dinge, die auf den sprachlichen Mittler reagieren, sondern es sind die lebenden Wesen, mit denen wir verkehren.“ 1
Wenn man in dieser Weise Werkzeug und Sprache analogisiert, dann sind von vornherein schon eine Reihe von wichtigen Vorentscheidungen für die Wahrnehmung von Sprache gefallen bzw. eine Reihe von konstruktiven Vorurteilen gebildet, um in den hermeneutischen Zirkel der Wahrnehmung von Sprache einzusteigen. Wir haben uns nämlich im Prinzip schon dafür entschieden, die Sprache unter dem Leitgedanken der Funktion wahrzunehmen und alle anderen möglichen Betrachtungsweisen, die sich auf die Genese, die Form oder die Lautgestalt der Sprache beziehen, dem Funktionsgedanken unterzuordnen. Die Sprache wird primär als Wirkungs- und nicht als Formphänomen betrachtet. Alle analytischen Bemühungen konzentrieren sich darauf, ihr pragmatisches Wirkungsprofil als kulturelles Artefakt zu erfassen und auszudifferenzieren.
Der Funktionscharakter von Werkzeugen Im Kontext dieses Denkansatzes ist aufschlussreich, dass Heidegger in seinen Bemühungen um eine neue ontologische Grundorientierung des Denkens den traditionellen substanz- bzw. wesensorientierten Dingbegriff zu Gunsten des Zeugbegriffs verworfen hat, der sich durch den Werkzeugbegriff prototypisch exemplifizieren lässt. Nach seiner Auffassung begegneten wir in unseren elementaren Erlebnisformen von Welt nicht isolierten oder isolierbaren Dingen als autonomen Seinsgegebenheiten, sondern vielmehr Dingen, die für uns in ganz bestimmten lebensweltlichen Dienlichkeitszusammenhängen stünden und eben deshalb für uns auch einen genuinen Zeugcharakter hätten (Schreibzeug, Fahrzeug, Werkzeug). Die Seinsart eines Zeugs sei nicht die der „Vorhandenheit“ in der Welt, sondern die der „Zuhandenheit“ für menschliche Handlungsprozesse.2 Wenn man ein Phänomen nicht als Ding, sondern als Zeug betrachte, dann sehe man es im Prinzip immer als ein Phänomen, das in einem bestimmten Verweisungszusammenhang stehe bzw. in bestimmte Geschichten eingebunden sei. Man verfehle es, wenn man es nur theoretisch begaffe und darauf verzichte, es praktisch zu verwenden oder es zumindest im Rahmen von Funktionszusammenhängen zu betrachten. So gesehen lassen sich Werkzeuge als Medien ansehen, mit denen Subjekte auf Objekte einwirken bzw. aus Vorobjekten neue Objekte herstellen. Das bedeutet, dass uns Werkzeuge einerseits immer von Objekten distanzieren, insofern sie diese ja verändern, gestalten und beherrschen wollen, und dass sie uns andererseits aber auch immer mit diesen verbinden, insofern sie die Subjektsphäre mit der Objektsphäre in einen Interaktionszusammenhang zu brin-
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K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. XXI–XXII. M. Heidegger, Sein und Zeit, §15, 196310, S. 68 ff.
Die Sprache als Werkzeug
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gen versuchen. In diesem Wirkungszusammenhang spielen dann die Phänomene Intentionalität und Widerständigkeit eine ganz zentrale Rolle. Werkzeuge treten nämlich nicht nur als Wirk- und Gestaltungsmittel für die Menschen in Erscheinung, sondern auch als Machtmittel. Das hat Nietzsche zu der These veranlasst, auch die Erkenntnis funktional als ein Werkzeug anzusehen. „Die Erkenntnis arbeitet als W e r k z e u g der Macht.“ 3 Auch wenn von der instrumentellen Vernunft gesprochen wird, steht letztlich die Grundauffassung im Hintergrund, dass es bei Erkenntnisvorgängen nicht um die begriffliche Abbildung von Dingen und Strukturen gehe, sondern vielmehr um das Ziel, Mittel zu finden, um zweckrational auf diese einwirken zu können. Deshalb ist der Mensch in anthropologischen Überlegungen nicht nur als Zeichentier, sondern auch als Werkzeugtier gekennzeichnet worden.
Werkzeuge als Artefakte Wenn man ein Werkzeug im handwerklichen Sinne als ein zweckrational geformtes Arbeitsmittel betrachtet, dann rückt seine Funktion als geformter Mittler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Werkzeuge erscheinen als kulturell geformte Artefakte, die zur Unterstützung der Hand als des genuinen menschlichen Handlungsmittels ausgebildet worden sind (Hammer, Messer, Pflug). Wer etwas zerschlagen oder einschlagen will bzw. wer einen Nagel hat, dem können viele verfügbare Dinge zum Hammer werden. Optimal wird ein Gegenstand als Hammer allerdings erst dann, wenn er eine zweckdienliche Form für seine Funktion bekommen hat, wenn er also ein geformter und kein zufälliger Mittler zwischen der Subjekt- und der Objektsphäre geworden ist. In diesem Zusammenhang ist nicht überraschend, dass gerade Hegel ein besonderes Interesse an der Werkzeugproblematik entwickelt hat. Eine der Grundfeststellungen seiner Philosophie besteht ja darin, dass die Menschen sich bei der Bewältigung der Natur im Laufe der Kulturgeschichte zunehmend mit Artefakten umgeben hätten. Dadurch besäßen sie nur einen mittelbaren Kontakt zur Natur, der dann allerdings prägend für ihre Existenzweise geworden sei, weil er ihre geistige Entwicklung nachhaltig stimuliert habe. „Die Naturgegenstände nämlich sind mächtig und leisten mannigfachen Widerstand. Um sie zu bezwingen, schiebt der Mensch andere Naturdinge ein, kehrt somit die Natur gegen die Natur selbst und erfindet Werkzeuge zu diesem Zweck. Diese menschlichen Erfindungen gehören dem Geiste an, und solches Werkzeug 4 ist höher zu achten als der Naturgegenstand.“
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F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Werke, Bd. 3, S. 751. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, S. 295.
Phänomenologische Betrachtungen zu Werkzeugen
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Die geformten Mittler bzw. die zweckrationalen Artefakte, die der Mensch zur Bewältigung der Natur entwickelt hat, schätzt Hegel als Manifestationsformen des Geistes sogar höher ein als die unmittelbaren Vorteile, die aus dem konkreten Gebrauch von einzelnen Werkzeugen resultieren: „ … der Pflug ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden und die Zwecke sind. Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußerliche Natur, wenn er auch nach seinen 5 Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.“
Bühlers Bestimmung von Werkzeugen als geformten Mittlern macht es auch verständlich, warum materielle und sprachliche Werkzeuge, die zunächst als relativ unselbständige Elemente in menschlichen Handlungsprozessen in Erscheinung treten, im faktischen Gebrauch nach und nach oft zu Mächten mit einem spezifischen Eigenleben werden, die auch gegen ihre Urheber und Nutzer wirksam werden können. Je mehr sich die Menschen ihre artifiziellen Werkzeuge nämlich geschichtlich zunutze machten, desto mehr wurden sie dann auch von ihnen abhängig, da sie ihre konkreten Handlungsmöglichkeiten natürlich immer schon vorstrukturierten. Durch den Gebrauch von Werkzeugen konnten die Menschen anders leben als ohne sie, aber durch ihre ständige Nutzung mussten sie auch anders leben als ohne sie. So gesehen sind Menschen dann nicht nur Schöpfer ihrer Werkzeuge, sondern zugleich auch immer ihre Geschöpfe. Die materialistische Anthropologie hat das dann auf die griffige Formel gebracht, dass der Mensch Produkt seiner Produkte sei. Die phänomenologische Bestimmung von Werkzeugen als geformten Mittlern, die sich gegenüber ihren Herstellern und Nutzern verselbständigen können, macht es auch verständlich, warum sich der Umfang des Werkzeugbegriffs im Laufe der Kulturgeschichte ausgeweitet hat und heute keineswegs mehr nur die Arbeitsgeräte der Handwerker umfasst, sondern im Prinzip alle Mittel, die einen bestimmbaren Funktionswert in Handlungsprozessen haben. Als Werkzeuge werden heute nicht mehr nur die Phänomene angesehen, die die Funktionsmöglichkeiten der Hand ausweiten (Hammer, Zange), sondern auch diejenigen, die die Funktionen unserer Wahrnehmungssinne präzisieren (Fernrohr, Thermometer), die zu bestimmten Rachehandlungen eingesetzt werden (Gift, Verleumdung), die wissenschaftliche Bemühungen unterstützen (Hypothese, Methode), die der Schwächere gegenüber dem Stärkeren verwenden kann (List, Ironie) usw. Deshalb ist es prinzipiell auch keineswegs überraschend, dass immer wieder die Sprache als ein Werkzeug der Kommunikation, des Denkens oder der Erkenntnis bezeichnet worden ist. Ein Werkzeug benutzt man meist gewohnheitsmäßig. Zum Gegenstand der Reflexion macht man es erst dann, wenn es nicht mehr richtig funktioniert
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G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke, Bd. 2, S. 453.
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oder wenn man nach Alternativen Ausschau hält. Erst über die Erfahrung von Defiziten werden uns die Funktionsmöglichkeiten und die Grenzen einzelner Werkzeuge bewusst und damit zugleich auch ihr vorstrukturierender Einfluss auf unser Handeln und Denken. Allerdings haben wir auch zu berücksichtigen, dass Werkzeuge nicht immer im Sinne ihrer Erfinder benutzt werden müssen bzw. im Sinne der Intentionen und Funktionen, die ursprünglich mit ihnen verbunden waren. Wenn die Gestalt und Funktion von Werkzeugen minimal variiert wird, dann können sich oft ganz neue Handlungsfelder für sie erschließen. Deshalb stehen auch alle Werkzeuge, seien es nun Zangen oder Theorien unter einem evolutionären Veränderungsdruck, wenn sie unter veränderten Rahmenbedingungen ihre pragmatischen Funktionen für die Menschen aufrecht erhalten sollen. Gerade weil mit Werkzeugen als geformten Mittlern immer gewisse Handlungsimperative verbunden sind, dürfen sie nicht in einer bestimmten Form erstarren, sondern müssen in der Lage sein, sich flexibel entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen umzugestalten. Sie müssen effiziente Formtraditionen in ein Fließgleichgewicht mit neuen Funktionsanforderungen bringen können. Je unspezifischer eine Form ist, desto größer ist natürlich auch ihr möglicher Anwendungsbereich. Je spezifischer eine Form ist, desto eingeschränkter, aber desto präziser sind natürlich auch ihre pragmatischen Funktionsmöglichkeiten. So hat beispielsweise ein Stein mehr, aber nicht immer so effektive Funktionsmöglichkeiten wie ein Hammer. Ein Wort in der natürlichen Umgangssprache hat wegen seiner begrifflichen Vagheit mehr, aber nicht so genaue Informationsmöglichkeiten als ein Wort in einer formalisierten Fachsprache. Die Effektivität vom Spezialwerkzeugen gerät immer dort an ihre Grenzen, wo es um komplexe und variable Funktionsanforderungen geht bzw. um Funktionen, die bei der Ausbildung dieser Werkzeuge noch nicht bedacht worden sind oder noch gar nicht bedacht werden konnten.
2. Platons Überlegungen zum Werkzeugcharakter der Sprache In der Geschichte der Bemühungen, sich die Sprache über Werkzeugvorstellungen sinnbildlich zu erschließen, spielt der platonische Dialog Kratylos eine ganz zentrale Rolle, da in ihm schon das ganze Problemfeld wegweisend strukturiert worden ist.6 In ihm wird zwar zunächst nur das Wort (onoma) als ein „Werkzeug“ (organon) bzw. genauer als ein „belehrendes Werkzeug“ thematisiert, aber diese Betrachtungsweise ist in der Rezeptionsgeschichte dann doch sehr schnell auf die gesamte Sprache ausgeweitet worden, was eine Aussage Bühlers sehr deutlich dokumentiert. „Ich denke, es war ein guter Griff Platons,
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Platon, Kratylos 388a–c, Werke, Bd. 2, S. 130 ff.
Platons Überlegungen zum Werkzeugcharakter der Sprache
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wenn er im Kratylos angibt, die Sprache sei ein o r g a n u m, um einer dem andern etwas mitzuteilen über die Dinge.“ 7
Die Richtigkeit der Namen Im Kratylos-Dialog geht es thematisch um die Richtigkeit der Namen für bestimmte Phänomene. Das Kreuz ist nur, dass der diesbezügliche griechische Terminus onoma keine eindeutige Semantik hat und im Deutschen mit den Termini Wort, Begriffsname, Eigenname, Benennung, Bezeichnung, wenn nicht sogar mit Begriff wiedergegeben werden kann. Einerseits erschwert diese vielfältige Referenz und schillernde Semantik des Terminus onoma das Nachdenken über das angesprochene Problem, weil man nicht genau weiß, um welche konkreten Problemstellungen es eigentlich geht. Andererseits zwingt sie uns aber auch dazu, uns genauere Rechenschaft über die vielfältigen Dimensionen und Aspekte des angesprochenen Problemfeldes abzulegen. Insbesondere stellt sich in diesem Zusammenhang ein Grundsatzproblem, welches sich über zwei konkrete Fragen mit recht alternativen Zielorientierungen übersichtlich strukturieren lässt. Soll die Frage nach der Richtigkeit der Namen dem Problem gelten, ob die von den jeweiligen Wörtern repräsentierten Begriffsbildungen sachadäquat sind und als Denkmuster zur Natur der damit bezeichneten Phänomene passen? Soll die Frage nach der Richtigkeit der Namen dem Problem gelten, ob aus der Struktur der jeweiligen Wörter als sprechenden Namen so etwas wie eine Sachbeschreibung oder gar eine Definition der von ihnen benannten Phänomene abgeleitet werden kann? In dem Dialog wird diese Problematik weder explizit angesprochen noch abschließend gelöst. Sie wird aber, wie bei Sokrates bzw. Platon üblich, als Problemzusammenhang ausführlich entfaltet. Die Diskussion der thematisierten Fragen vollzieht sich so, dass im ersten Teil des Dialogs eine These von Hermogenes vorgestellt und problematisiert wird, die dann als sogenannte Thesei-These in die Geschichte der Sprachphilosophie eingegangen ist. Sie besagt, dass in der Sprache Name und Sache bzw. Begriff nur kraft Konvention miteinander zusammenhingen und dass man folglich aus der Kenntnis der etikettierenden Namen noch gar nichts über die Natur der von ihnen benannten Phänomene erfahren könne. Auf die Spitze getrieben könnte man deshalb die Thesei-These sowohl im Hinblick auf die jeweils verwendeten Lautmuster als auch im Hinblick auf die jeweils verwendeten Begriffsmuster zur Legitimierung aller Kunst- oder Privatsprachen heranziehen. Wenn nämlich alle sprachlichen Laut- und Begriffsformen Konventionsformen sind, dann führt die Kenntnis von Sprachformen nicht zu einer
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K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 24.
Die Sprache als Werkzeug
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Kenntnis der von ihnen thematisierten Sachen, sondern allenfalls zu einer Kenntnis von subjektorientierten Denk- und Sprachkonventionen Im zweiten Teil des Dialogs wird dann die These von Kratylos problematisiert, die als sogenannte Physei-These in die Sprachphilosophie eingegangen ist. Sie besagt, dass es im Prinzip durchaus eine natürliche Richtigkeit der Namen geben könne und dass man daher aus der Kenntnis der richtigen Namen auch eine Kenntnis der mit ihnen benannten Dinge ableiten könne. In letzter Konsequenz könnte das bedeuten, dass es eine magische Identität von Name und Sache gäbe bzw. dass der Name vielleicht ein natürlicher Wesensbestandteil der damit bezeichneten Sache wäre. Ein solches Sprachverständnis begegnet uns oft in Mythen und Märchen bzw. im Namenszauber. Wer den Namen kennt, der hat auch Macht über die mit ihm verbundene Sache. Was man dem Namen antut, das tut man auch der damit bezeichneten Sache an.
Die Analyse- und Synthesefunktion von Wörtern Sokrates eröffnet den Angriff auf die Thesei-These damit, dass er den bekannten Satz des Protagoras in Frage stellt, der besagt, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und dass er deshalb auch die ihm begegnende Welt nach seinen jeweiligen Bedürfnissen differenzieren, strukturieren und benennen dürfe. Dagegen setzt er die These, dass die Dinge in der Welt unabhängig von den jeweiligen Wahrnehmungsweisen des Menschen durchaus ihr eigenes Wesen hätten und dass dieses Wesen natürlich bei ihren sprachlichen Objektivierungen und Benennungen zu berücksichtigen sei. Dieses Postulat versucht er über die Analogie zu der Tätigkeit von Handwerkern plausibel zu machen. Schneiden könne man nur vermittels eines adäquaten Messers, bohren nur vermittels eines adäquaten Bohrers, weben nur vermittels einer adäquaten Weberlade und benennen nur vermittels eines adäquaten Wortes. Das lege nahe, das Wort als ein Werkzeug zu betrachten, dass der Natur seiner Bezugsgegenstände angepasst sein müsse. Wie man bei einem erfolgreichen Schneiden das Messer nicht willkürlich einsetzen dürfe, sondern nur so, wie es der Natur des zu schneidenden Gegenstands angemessen sei, so dürfe man auch Wörter nicht willkürlich bilden und verwenden, sondern nur so, wie die Natur des jeweiligen Bezugsgegenstandes es erlaube. Daraus leitet Sokrates dann ab, dass das Wort nicht nur ein Gebilde sein müsse, das seinem jeweiligen Bezugsgegenstand sachlich zu entsprechen habe, sondern auch eines, das uns zugleich etwas über diesen Bezugsgegenstand mitzuteilen habe. „Das Wort ist also belehrendes Werkzeug und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes, wie die Weberlade das Gewebe sondert.“ 8
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Platon, Kratylos 388c, Werke, Bd. 2, S. 131.
Platons Überlegungen zum Werkzeugcharakter der Sprache
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Bemerkenswert bei dieser Aussage ist, dass Sokrates den Werkzeugcharakter des Wortes bzw. des Namens mit dem Werkzeugcharakter eines Gegenstandes analogisiert, den der Übersetzer Schleiermacher mit Weberlade bezeichnet hat. Dieser Gegenstand wird im Griechischen mit dem Wort kerkis benannt, was im Deutschen wohl auch mit dem Wort Weberschiffchen übersetzt werden könnte. Gemeint ist nämlich von Sokrates offenbar die Vorrichtung, die beim Weben dazu dient, die einzelnen Fäden voneinander abzusondern, so dass beim Webevorgang durch die geeignete Kombination vom längs und quer laufenden Fäden ein belastungsfähiges Gewebe entsteht. Diese Sachvorstellung legt nahe, die einzelnen Wörter kraft Analogie als Werkzeuge zu betrachten, die dazu dienen, die einzelnen Dinge entsprechend ihrem natürlichen Wesen von einander abzugrenzen, um auf dieser Grundlage dann anschließend die benannten Einzeldinge wieder auf sinnvolle und geordnete Weise zu komplexen Gesamtvorstellungen verbinden zu können. All das wäre natürlich nicht möglich, wenn die Wörter rein willkürliche Unterscheidungen träfen, die der Natur der benannten Phänomene nicht angemessen sind. Die von Sokrates vorgenommene Analogisierung von Wörtern und Werkzeugen ist nun insbesondere im Hinblick auf folgende Aspekte aufschlussreich. Sokrates wählt für seine Überlegungen keine Werkzeuge als Bildspender aus, deren primäre Funktion darin besteht, den Menschen bei der Erzeugung oder der Formgebung von etwas behilflich zu sein (Schreibstift, Töpferscheibe). Er nimmt vielmehr exemplarisch auf Werkzeuge Bezug (Messer, Weberlade/Weberschiffchen), die dazu dienlich sind, etwas von etwas anderem abzusondern bzw. zu unterscheiden. Sein Interesse gilt also Werkzeugen, die primär keine synthetisierende, sondern eher eine analysierende Funktion haben. Sein Beispiel erleichtert es deshalb, Wörter als belehrende, unterscheidende und sondernde Werkzeuge wahrzunehmen und nicht als Werkzeuge, die dabei helfen, natürliche Gegebenheiten umzugestalten oder gar ganz neue Phänomene herzustellen. In der letzten Wahrnehmungsperspektive würde nämlich der Gedanke sehr viel stärker in den Vordergrund treten, dass die primäre Aufgabe von Wörtern nicht darin besteht, Vorgegebenes mimetisch abzubilden, sondern eher darin, vagen Ausgangsvorstellungen bzw. rohen Materialien eine prägnantere Gestalt zu geben bzw. ganz spezifische Vorstellungen zu erzeugen. Die Analogisierung von Wörtern mit Werkzeugen, die eine trennende und abgrenzende Grundfunktion haben, ist sicherlich plausibel und aufschlussreich, denn die analytische Funktion von Wörtern und Sprache ist natürlich überhaupt nicht zu leugnen. Dennoch dürfen wir dem Suggestionssog der sokratischen Beispiele nicht ganz verfallen und müssen auch in Betracht ziehen, dass es noch andere Funktionstypen von Werkzeugen gibt und noch andere Funktionsaspekte von Wörtern bzw. Sprache. Die Sinnbildfunktion von Werkzeugen für Sprache erschöpft sich nämlich keineswegs in dem, was Sokrates hier argumentationstaktisch vorträgt, um die These vom reinen Konventionscharakter von Benennungen bzw. Begriffsbildungen anzugreifen.
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Die Beispiele von Sokrates legen nahe, die Fähigkeit zu Unterscheidungen bzw. die analytische Zerlegung von komplexen Erfahrungen und Vorstellungen in spezielle Einzelvorstellungen als die zentrale Aufgabe von geistigen Operationen bzw. von Sprache anzusehen. In dieser Denkperspektive gerät aber leicht aus dem Blick, dass auch das Verbinden, das Umformen und das Bilden von Vorstellungen eine elementare Grundfunktion des Denkens und der Sprache ist. Wenn wir der Sprache generell einen Werkzeugcharakter zuordnen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass geistige Operationen in der Regel immer aus einem Wechselspiel von Analyse- und Syntheseoperationen bestehen. Deshalb sollten wir auch solche Werkzeuge als Bildspender für Sprache in unsere Überlegungen einbeziehen, die nicht in Aufgliederungs- und Sonderungsprozessen eingesetzt werden (Messer, Weberlade), sondern auch solche, die in Gestaltbildungs- und Umwandlungsprozessen Verwendung finden (Schreibstifte, Töpferscheiben, Nähnadeln, Hämmer, Wasserräder). Selbst der Gebrauch von Messern dient ja nicht nur dazu, etwas Vorgegebenes gemäß seiner Struktur in Teile zu zerlegen, sondern auch dazu, neue Gestalten herzustellen (Schnitzmesser). Die Argumentationsstrategie von Sokrates, die Wörter als belehrende, unterscheidende und sondernde Werkzeuge zu qualifizieren, ist für den analysierenden Sprachgebrauch in den Wissenschaften sicherlich besonders erhellend. Darüber sollte man aber nicht vernachlässigen, dass sowohl für den alltäglichen und poetischen als auch für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch auch die synthetisierenden Sprachfunktionen eine ganz konstitutive Rolle spielen. Das spricht natürlich nicht generell gegen seinen Argumentationsansatz, sondern dokumentiert nur, dass sowohl die analysierenden begrifflichen als auch die synthetisierenden sinnbildlichen sprachlichen Objektivierungsstrategien immer eine selektive, akzentuierende und konzentrierende Wirkung auf die Inhalte unserer Denk- und Wahrnehmungsprozesse haben.
Argumente gegen eine natürliche Richtigkeit der Namen Im zweiten Teil des Kratylos-Dialogs problematisiert nun Sokrates die PhyseiThese bzw. die Möglichkeit einer natürlichen Richtigkeit der Namen oder Benennungen. Dabei stellt er insbesondere die Belehrungsfunktion in Frage, die er zunächst über seine Werkzeuganalogie zu rechtfertigen versucht hatte. Dabei verweist er darauf, dass es ebenso wie es bessere und schlechtere Maler und Baumeister auch bessere und schlechtere Wortbildner geben könne. Durch diese Argumentation schwächt er natürlich die These von der natürlichen Richtigkeit der Namen entscheidend ab, da man nun mit einer graduellen Abstufung der Richtigkeit der Namen zu rechnen hat. Deshalb verweist Sokrates dann auch darauf, dass weder ein Gemälde noch ein Wort eine Sache vollständig abbilden könne, sondern allenfalls in bestimmten Hinsichten.
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Diese Hinweise sind natürlich für den Geltungsanspruch der Physei-These höchst brisant. Sie implizieren nämlich, dass die Beschäftigung mit Wörtern nie ausreichen kann, um die Dinge wirklich kennenzulernen, sondern dass man sich im Prinzip auch immer mit den Dingen selbst zu beschäftigen hat, um sie richtig erkennen zu können. Sokrates gibt nämlich zu bedenken, dass das ganze System von belehrenden Wörtern in eine Schieflage komme, wenn der erste Wortbildner Fehler gemacht habe, weil spätere Wortbildungen natürlich immer von früheren abhängig seien. Außerdem sei zu beachten, dass der erste Wortbildner seine Kenntnis der Dinge ja nicht aus der Kenntnis von Wörtern ableiten könne, sondern allein aus der Kenntnis der Dinge selbst. Das lege dann nahe, auch die eigene Kenntnis der Dinge eher aus dem Umgang mit den Dingen selbst abzuleiten als aus dem Umgang mit den Wörtern für sie. Das Studium der Dinge sei prinzipiell unerlässlich, wenn man nicht annehmen wolle, dass der erste Wortbildner ein göttlicher Namengeber gewesen sei. Wenn man außerdem mit Heraklit in Betracht ziehe, dass sich die Dinge ständig änderten, sei die Annahme unsinnig, dass das Studium der Wörter das Studium der Dinge ersetzen könne. Mit dieser sprachskeptischen Argumentation schränkt Sokrates seine Ausgangsthese vom Werkzeugcharakter der Wörter erheblich ein bzw. präzisiert sie auf eine ganz spezielle Weise. Wörter können nun nicht mehr in einem abbildenden oder mimetischen Sinne als belehrende Werkzeuge verstanden werden, sondern nur noch in einem hypothetischen oder heuristischen Sinne. Sie können das Studium der Dinge nicht ersetzen, sondern nur Wahrnehmungsperspektiven für sie eröffnen, deren Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit immer im Umgang mit den Dingen selbst zu erproben ist. Dadurch wird der Werkzeugcharakter der Wörter bzw. Begriffe nicht aufgehoben, sondern nur in ganz bestimmter Hinsicht konkretisiert. Die Unterscheidungsfunktion von Wörtern wird nicht generell in Frage gestellt, sondern nur dahingehend eingeschränkt, dass mit ihr nicht unbedingt eine sachadäquate Belehrungsfunktion verbunden sein muss, sondern im Prinzip nur eine mehr oder minder brauchbare heuristische Erschließungsfunktion.
Die Werkzeugfunktion von Wörtern und Sprache Mit seinen Überlegungen zur Werkzeugfunktion von Wörtern und Sprache hat Platon in seinem Kratylos-Dialog direkt oder indirekt mindestens drei Grundprobleme angesprochen, die bis heute für jede Sprachtheorie von fundamentaler Bedeutsamkeit sind. Diese lassen sich durch die drei Stichwörter Funktionsproblematik, Erkenntnisproblematik und Verstehensproblematik näher kennzeichnen. Bei der Diskussion dieser Problemfelder überschreiten wir natürlich den Kratylos-Dialog, aber als Grundlage können wir ihn gleichwohl weiterhin nutzbar machen.
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Wenn wir uns entschieden haben, das Phänomen Sprache über den Bildspender Werkzeug zu erschließen, dann ist von vornherein klar, dass der Funktionsaspekt der Sprache im Vordergrund unseres Interesses steht und dass alle Form- und Systemfragen dem Funktions- und Handlungsgedanken unterzuordnen sind. Da Werkzeuge dazu dienen, auf etwas einzuwirken, etwas zu strukturieren und etwas zu beherrschen, sind auch die Abbildungs-, Belehrungs- und Informationsfunktionen der Sprache letztlich Partialfunktionen innerhalb ihrer grundlegenden Handlungsfunktion. Ganz im Sinne Humboldts nehmen wir Sprache dann auch nicht als Werk, sondern als Tätigkeit wahr. Ebenso wie Werkzeuge für den faktischen Gebrauch immer veränderbar und verbesserbar sind, so ist es auch die Sprache. Deshalb ist es im Prinzip auch nicht möglich, Werkzeuge und Sprache hinsichtlich ihrer Formen und Funktionen abschließend zu bestimmen, da diese sich ja prinzipiell wandeln können. Hinsichtlich der Erkenntnisproblematik legt das Sinnbild des Werkzeugs nahe, Erkenntnis nicht als eine reine Abbildung von Vorgegebenem zu verstehen, sondern eher als eine perspektivierende und strukturierende Objektivierung von Phänomenen mittels Zeichen und insbesondere mittels sprachlicher Zeichen. Das hat nun zwei wichtige Implikationen. Einerseits müssen sich Erkenntnisprozesse immer an der jeweiligen Objektsphäre ausrichten, insofern ja Ordnungsvorstellungen zu entwickeln sind, die sich in faktischen Handlungen in diesem Bereich zu bewähren haben. Andererseits müssen sie sich aber auch immer an der Subjektsphäre ausrichten, insofern Ordnungsvorstellungen zu entwickeln sind, die den aktuellen Differenzierungs-, Handlungs- und Beherrschungsinteressen der jeweiligen Subjekte dienlich sind. Deshalb ist gerade das von Sokrates thematisierte Werkzeug Messer kein schlechter Bildspender für die Versinnbildlichung der Funktionen von Wörtern. Über die Schneidefunktion des Messers lässt sich nämlich einerseits verdeutlichen, dass die Realität nicht sinnvoll über willkürliche Trennungsschnitte analytisch in ihre Bestandteile zerlegt werden sollte, sondern nur über Trennungsschnitte, die sich sowohl an der Natur der jeweiligen Sachverhalte als auch an den aktuellen Differenzierungsbedürfnissen der jeweiligen Subjekte auszurichten haben. Andererseits lässt sich am Beispiel des Messers aber auch gut zeigen, dass aus den jeweiligen Handlungsaufgaben von Messern auch bestimmte Postulate für ihre optimale Form resultieren. Die spezifischen Handlungsfunktionen eines Skalpells führen selbstverständlich zu ganz anderen Formgestaltungen als die viel unspezifischeren Handlungsfunktionen eines Taschenmessers. Dementsprechend sind dann auch mit fachwissenschaftlichen Wörtern sehr spezifische kognitive und kommunikative Handlungsmöglichkeiten verbunden und mit natürlichsprachigen Wörtern eher recht unspezifische, was im Hinblick auf konkrete pragmatische Bedürfnisse von Vorteil oder von Nachteil sein kann. Ebenso wie Spezialwerkzeuge prinzipiell nie Standardwerkzeuge verdrängen werden, so werden auch Spezialwörter und Spezialsprachen nie Standardwörter und Standardsprachen verdrängen.
Der Werkzeuggedanke im neueren Sprachdenken
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Die sokratischen Überlegungen zum Werkzeugcharakter der Sprache sind im Hinblick auf die Verstehens- und Hermeneutikproblematik in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen verweisen sie darauf, dass es gute und weniger gute Werkzeugmacher und Werkzeugnutzer bzw. Wortbildner und Wortnutzer gibt. Dadurch wird faktisch zum Ausdruck gebracht, dass der produktive und rezeptive Gebrauch der Sprache eine Kunst ist, die man erlernen muss. Zum andern werfen sie die Frage auf, worauf denn der erste Werkzeugmacher oder Sprachbildner zurückgreifen konnte, als er ohne Hilfe von Werkzeugen neue Werkzeuge und ohne Hilfe von Wörtern neue Wörter machen musste. Diese Frage ist im Rahmen eines linearen Kausaldenkens ebenso wenig befriedigend zu beantworten wie die Frage nach der Priorität von Henne und Ei. Sie lässt sich nur im Rahmen eines evolutionären und hermeneutischen Denkens beantworten. Hier kann man nämlich immer von Vorformen von Werkzeugen bzw. Sprachzeichen ausgehen, die man unter dem Druck von äußeren Anforderungen dann spezialisieren, aber auch wieder entspezialisieren kann. Die Werkzeug- ist ebenso wie die Sprachentwicklung in eine Zirkelstruktur eingebettet. Ohne unspezifische Vorformen kann es keine spezifischen Endformen geben. Formen sollten sich je nach den aktuellen pragmatischen Bedürfnissen funktional immer entweder spezifizieren oder universalisieren lassen. Außerdem sollten sie sich immer durch andere Formen konstruieren und interpretieren lassen. Unsere Vorstellung von Werkzeugen und Sprache kann sich nicht auf die Vorstellung eines geschlossenen Formeninventars mit ganz bestimmten Verwendungsmöglichkeiten beschränken, sondern muss immer auch die Vorstellung einschließen, dass sich ein Formeninventar auf einer Metastufe reflektieren, interpretieren und gegebenenfalls verändern lassen muss, um pragmatisch optimal zu sein. Die Dialektik des Relationsverhältnisses von Herr und Knecht gibt es sowohl bei den Werkzeugen als auch bei der Sprache. Boeckh hat deshalb in seinen grammatischen und hermeneutischen Überlegungen zum Problem der Interdependenz darauf verwiesen, dass der Sprechende nicht nur „Organ der Sprache selbst“ sei, sondern die Sprache „zugleich auch Organ der Sprechenden.“ 9
3. Der Werkzeuggedanke im neueren Sprachdenken Die im Kratylos-Dialog entwickelte These, dass die Sprache ein Organon bzw. ein Werkzeug sei, hat das abendländische Denken dazu angeregt, diese Sichtweise auszudifferenzieren und hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs immer genauer zu qualifizieren. Dabei war man sich weitgehend einig, dass der Werkzeuggedanke auf dem Funktionsgedanken aufzubauen hat und nicht nur
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A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, 1966, S. 125.
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physische, sondern auch soziale und geistige Dimensionen besitzt. Wer Werkzeuge, welcher Art auch immer, entwickelt und benutzt, der zeigt, dass er nicht nur lebt und wahrnimmt, sondern dass er auch Zwecke verfolgt. Um diesen Denkansatz besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie der Werkzeuggedanke mit dem Systemgedanken verknüpft ist, welche Rolle die Werkzeugkritik und die Werkzeugpflege zu spielen hat und wo die Grenzen der Analogisierung von Werkzeugen und Sprache liegen.
Die Vorstellung von Organen und Ordnungsfeldern Die Systemimplikationen des Werkzeuggedankens lassen sich gut über unsere Vorstellungen von Organen und Ordnungsfeldern erschließen. Die dynamisch orientierte Vorstellung von Organen geht primär von dem Grundgedanken aus, dass die einzelnen Organe eines Körpers Bestandteile eines Ganzen sind und ihre Existenzberechtigung letztlich nur aus dem funktionellen Verbund aller Einzelorgane gewinnen. Hand und Herz hören dann beispielsweise auf, Hand und Herz zu sein, wenn sie nur noch als Formteile und nicht mehr als Interaktionsteile existieren. Die Vorstellung von Ordnungsfeldern geht dagegen eher von dem Grundgedanken aus, dass die spezifische Charakteristik eines Feldmitgliedes nur in Relation zu der seiner jeweiligen Feldnachbarn präzise beschrieben werden kann. In beiden Fällen hat aber das Ganze eines Ordnungszusammenhangs immer eine Priorität gegenüber den jeweiligen Einzelteilen. Wenn wir von Wörtern als Organen und von der Sprache als einem Organismus sprechen, dann haben wir immer zu berücksichtigen, dass der Organismusbegriff, der Ende des 18. Jahrhunderts in der Sprachtheorie aktuell geworden ist, zunächst etwas anders als heute verstanden worden ist. Als Organismus konnte man nämlich zunächst alle Ordnungszusammenhänge bezeichnen, bei denen die Einzelteile in einer optimalen Organisation funktionell auf einander abgestimmt bzw. miteinander verbunden waren. Deshalb hatte man auch gar keine Probleme, von einem Organismus der Zeichen oder der Sprache zu sprechen. Das änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts, als man mit diesem Terminus nur noch einen biologischen Organismus bezeichnete bzw. eine eigenständige Funktionsgestalt mit ganz eigenständigen Entwicklungstendenzen und Handlungsintentionen. Wenn man unter diesen Voraussetzungen nun die Sprache als einen Organismus bezeichnete, dann legte man damit natürlich auch ganz andere Analogien nahe als zuvor, worauf später noch in einem eigenen Kapitel näher eingegangen werden soll. Im 20. Jahrhundert war es dann zunächst aus mindestens zwei Gründen ziemlich verpönt, die Sprache als einen Organismus anzusehen. Einerseits wollte man nämlich unbedingt die assoziative Nähe zu biologischen Organismusvorstellungen vermeiden. Andererseits interessierte man sich auch eher für die abstrakten Strukturzusammenhänge bzw. die anatomischen Aspekte der
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Sprache als für ihre konkreten Wirkungszusammenhänge bzw. ihre physiologischen Aspekte. Das dokumentiert sich sehr deutlich darin, dass de Saussure postulierte, dass der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft die Ordnung von Sprachzeichen in abstrakten Sprachsystemen (Langue-Aspekt) sei und nicht der faktische Wirkungszusammenhang von Sprachzeichen in konkreten Sprachverwendungen bzw. Texten (Parole-Aspekt). Das bedeutet, dass nun die einzelnen Sprachformen eigentlich nicht mehr als spezifische Organe in einem Sinnbildungsprozess interessant sind, sondern vielmehr als Mitglieder eines abstrakten Feldverbandes, in dem sie in einer spezifischen und konventionell gefestigten Opposition zu ihren jeweiligen Feldnachbarn stehen. Das hat dann dazu geführt, dass man sprachliche Formen eher als potenzielle Werkzeuge zu beschreiben versucht und nicht als Organe in konkreten sinnbildenden Funktionszusammenhängen. Das ursprünglich sehr viel stärker funktionsorientierte Verständnis sprachlicher Formen wird noch fassbar, wenn beispielsweise Hamann die Sprache als „das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als U e b e r l i e f e r u n g und U s u m“ bezeichnet.10 Ein ganz ähnliches Denken zeigt sich auch, wenn Humboldt die Sprache als „das bildende Organ des Gedankens“ qualifiziert und als allgemein anerkannt ansieht, „dass die verschiedenen Sprachen die Organe der eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten der Nation ausmachen, dass eine grosse Anzahl von Gegenständen erst durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen wurden, und nur in ihnen ihr Daseyn haben …“ 11 Die latente Spannung zwischen der Betrachtung von Wörtern als abstrakt vorgegebenen Werkzeugen in einem System von Werkzeugen und der Betrachtung von Wörtern als konkret wirksamen Funktionsorganen in Sinnbildungsprozessen hat auch das Sprachverständnis Wittgensteins entscheidend geprägt. In seiner frühen Denkphase sieht er die Wörter noch in recht positivistischer Weise als Vertreter von Gegenständen an.12 In seiner späten Denkphase beginnt er mehr und mehr, die Wörter nicht als Abbildungswerkzeuge zu sehen, sondern eher als Funktionswerkzeuge im Sinne von sinnstiftenden Handlungsmitteln, deren Einzelfunktionen durchaus unterschiedlich ausfallen können. „Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nagel, Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so
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J. G. Hamann, Metakritik, Schriften zur Sprache, 1967, S. 222. W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues …, Werke, Bd. 3, S. 426. Ueber den Einfluss des verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung, a.a.O., S. 26. 12 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.0312, 19685, S. 37. „Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.“ 11
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verschieden sind die Funktionen der Wörter.“13 Gerade durch sein Sprachspielkonzept wird Wittgenstein dann auch dazu angeregt, Wörter in Analogie zu Schachfiguren zu betrachten und sie ganz von ihrer Funktion in einem Handlungszusammenhang her zu bestimmen. „Die Frage >Was ist eigentlich ein Wort?< ist analog der >Was ist eine Schachfigur?< “14 Noch viel offener interpretiert Wittgenstein die sinnstiftenden Werkzeugfunktionen von Wörtern durch einen anderen Vergleich. „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“15 In ganz ähnlicher Weise hatte schon Humboldt die semantische Offenheit von Wörtern in Sinnbildungsprozessen charakterisiert. Die Menschen verstünden sich eigentlich nicht dadurch, dass sie mit denselben Zeichen bzw. Begriffen kommunizierten, „sondern dadurch, dass sie gegenseitig in einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen.“16
Werkzeugkritik, Werkzeugpflege und Werkzeugdimensionen Für dasjenige sprachtheoretischen Denken der Neuzeit, das sich aus der Tradition des Nominalismus entwickelt hat, war es recht selbstverständlich, die Sprache als ein kognitives und kommunikatives Werkzeug zu betrachten, mit dem sowohl Kontakt zur Welt als auch zu andern Subjekten hergestellt werden kann. Dementsprechend wurden Wörter nicht einfach als Mittel angesehen, die Welt auf der Ebene der Zeichen zu verdoppeln, sondern sie vielmehr zu interpretieren. Aus dieser Grundauffassung ergab sich dann sowohl die Notwendigkeit einer Sprachkritik als auch die einer Sprachpflege. Beispielsweise ist für Locke Sprachkritik notwendig, weil er die Wörter nicht als Stellvertreter für Begriffe im Sinne ewiger platonischer Ideen ansieht, sondern als Stellvertreter für Begriffe im Sinne konstruktiver menschlicher Denkmuster, die sich im praktischen Leben zu bewähren haben. Das instrumentelle Verständnis von sprachlichen Zeichen bzw. die „Verwendung der Wörter für bürgerliche Zwecke“ machen es für Locke notwendig, die einzelnen Wörter für den philosophischen Gebrauch spezifisch herzurichten. Sie haben für ihn nämlich die Aufgabe, uns „die genauen Begriffe von Dingen zu vermit-
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L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 11, 1967, S. 18. L. Wittgenstein, a.a.O., § 108, S. 66. 15 L. Wittgenstein, a.a.O., § 6, S. 16. 16 W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ... Werke, Bd. 3, S. 559. Vgl. auch S. 439. 14
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teln und in allgemeinen Sätzen sichere und zweifellose Wahrheiten auszudrücken, auf die sich der Geist verlassen kann …“17 Dementsprechend betrachtet Locke die Sprache dann auch als ein pragmatisches Mittel, mit dem die Menschen dasjenige Wissen objektivieren und miteinander austauschen können, das sie im direkten Umgang mit den Dingen erworben haben. Zur Versinnbildlichung dieser instrumentellen Wahrnehmungsweise von Sprache greift Locke zu der Vorstellung eines Kanals bzw. von Röhren. „Die Sprache ist der große Kanal, durch den die Menschen einander ihre Entdeckungen, Folgerungen und Erkenntnisse vermitteln. Nun kann zwar jemand, der sie verkehrt gebraucht, nicht die Quellen der Erkenntnis verunreinigen, weil diese ja in den Dingen selbst liegen; wohl aber kann man behaupten, daß er die Röhren, durch die die Erkenntnis zum allgemeinen Nutzen und zum Vorteil der Menschen verteilt wird – soweit er dazu imstande ist –, zerbricht oder verstopft. Wenn jemand Wörter ohne klaren und eindeutigen Sinn verwendet, so verleitet er nur sich und andere zum Irrtum.“18
Wörter, die einfache oder komplexe Vorstellungen bezeichnen, sind für Locke als Werkzeuge der Welterfassung und Wissensvermittlung in der Regel unproblematisch, weil sie einen empirisch überschaubaren Sachbezug hätten. Anders ist das seiner Meinung nach bei Wörtern, die sogenannte „gemischte Modi“ bezeichneten, da diese Denkeinheiten repräsentierten, die vom Verstand recht willkürlich „ohne jegliche Bezugnahme auf irgendeine reale Existenz“ geschaffen worden seien.19 Bei den sogenannten gemischten Modi denkt Locke an Wörter wie Blutschande, Kirchenraub oder Vatermord, die Vorstellungen bezeichneten, die nicht direkt auf empirischen Wahrnehmungen beruhten. Da diese Wörter auf relativ unkontrollierbare Weise deskriptive, emotionale und wertende Komponenten mischten, seien sie eher als Indizien für die psychische Verfasstheit der jeweiligen Verwender zu betrachten denn als Objektivierungen von empirisch fassbaren Realitäten. Wenn heute von der Sprache als einem Werkzeug gesprochen wird, dann denken wir meist ebenso wie Locke an ihre kognitiven Objektivierungs- und ihre informativen Vermittlungsfunktionen. Wir übersehen dabei leicht, dass die Sprache auch ein Werkzeug sein kann, mit dem man auf die Denkweisen und Handlungsdispositionen von Adressaten so einwirken kann wie mit einem Hammer auf die Gestalt und die Funktionalität eines physischen Gegenstandes. Diese Funktion ließe sich im Prinzip zwar auch noch zu den informativen bzw. kommunikativen Funktionen der Sprache rechnen, aber dann ist zu beachten, dass es sich dabei nicht mehr nur um die Übermittlung von Informationen über
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J. Locke, Über den menschlichen Verstand, 3. Buch, Kap. IX, § 2, S. 101. J. Locke, a.a.O., 3. Buch, Kap. XI, § 5, S. 146–147. 19 J. Locke, a.a.O., 3. Buch, Kap. V, § 3, S. 36. 18
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Sachen handelt, sondern auch um die Übermittlung von Informationen, die auf die Handlungsdispositionen der jeweiligen Adressaten einwirken sollen. Die mit sprachlichen Äußerungen immer verbundenen Handlungs- bzw. Einwirkungsfunktionen der Sprache sind zwar im Kontext der Rhetorik immer wieder thematisiert worden, sie sind aber wohl erst durch die Sprechakttheorie nachdrücklich als spezifische Werkzeugfunktionen der Sprache ins sprachtheoretische Bewusstsein gebracht worden.20 Durch die Unterscheidung zwischen dem Sachinhalt einer Äußerung (propositionaler Gehalt), der der Frage nach der Wahrheit unterworfen werden kann, und der Handlungsfunktion einer Äußerung (illokutive Funktion), die der Frage nach dem Gelingen unterworfen werden kann, lässt sich verdeutlichen, dass mit dem Phänomen Sprache mindestens zwei kategorial unterscheidbare Werkzeugfunktionen verbunden sein können, die aber faktisch meist synchron in Erscheinung treten. Die Handlungsimplikationen von Äußerungen lassen sich explizit durch Verben thematisieren, welche die jeweiligen Sprechakte bezeichnen (feststellen, erzählen, anklagen, warnen usw.). Sie lassen sich aber auch implizit über die Stimmführung oder über grammatische Formen (Tempus, Modus, Modalpartikel) signalisieren. Die Handlungsfunktionen der Sprache kommen im monologischen Sprachgebrauch nicht so klar zum Ausdruck wie im dialogischen. Im ersteren geht es nämlich handlungstheoretisch gesehen meist nur um die Übermittlung von feststellenden Aussagen über Sachverhalte und im letzteren um unterschiedliche Einwirkungsstrategien auf bestimmte Dialogpartner. Die Ausbildung von formalisierten Fachsprachen verdankt sich dem Bedürfnis, die vielfältigen Werkzeugfunktionen der natürlichen Sprache zu reduzieren und die Sprache nur noch für rein sachorientierte Objektivierungsaufgaben bzw. für die möglichst präzise Übermittlung von rein feststellenden Informationen zu nutzen. Aber ebenso wie die vielen Spezialmesser das Taschenmesser als polyfunktionales Universalmesser nicht überflüssig machen werden, so wird auch die natürliche Sprache im Ensemble mit den formalisierten Sprachen nie überflüssig gemacht werden können. Ähnliches gilt auch für die universalen Werkzeugfunktionen des natürlichen Auges im Vergleich mit den speziellen Funktionen von Fernrohren und Mikroskopen. Außerdem ist in diesem Zusammenhang immer zu beachten, dass die natürliche Sprache die unverzichtbare Konstruktions- und Interpretationssprache für alle formalisierten Sprachen ist und dass spezielle Sehwerkzeuge wie Fernrohre und Mikroskope ohne das natürliche Auge als Basissehwerkzeug auch funktionslos sind. Generell lässt sich feststellen, dass die natürliche Sprache ein universal verwendbares kognitives und kommunikatives Werkzeug ist, das zwar im Hinblick auf seine informative Präzision für bestimmte Aufgaben von speziell
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Vgl. J. R. Searle, Sprechakte, 1973.
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entwickelten Fachsprachen übertroffen werden kann, das aber gleichwohl pragmatisch immer unersetzbar bleiben wird. Die natürlich gewachsene Sprache ist nämlich nicht nur das letzte Metawerkzeug zur Konstruktion und Interpretation aller Fach- und Spezialsprachen, sondern auch zur Konstruktion und Interpretation aller denkbaren Zeichensysteme überhaupt.
Die Grenzen der Werkzeuganalogie Bei allen Analogien zwischen Werkzeugen und Sprache sollte man natürlich nicht die Unterschiede zwischen beiden vergessen, da sonst der Bildspender Werkzeug für die sinnbildliche Erschließung der Sprache leicht überstrapaziert werden kann. So hat beispielsweise Mauthner im Rahmen seines Sprachkonzepts darauf verwiesen, dass die Sprache etwas sei, was sich im Gegensatz zu Werkzeugen durch ständigen Gebrauch nicht abnutze und an Wert verliere. „Alle anderen Gebrauchsgegenstände werden durch den Gebrauch entweder vernichtet wie die Nahrungsmittel, oder verschlechtert wie Werkzeuge und Maschinen. Wäre die Sprache ein Werkzeug, so würde auch die Sprache verschlechtert und verbraucht werden. Nur Worte werden aber verbraucht, verschlissen, entwertet. Werden aber dadurch erst recht wertvoll für die Masse. Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs, auch kein Werkzeug, sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch. Da ist es doch kein Wunder mehr, wenn der Gebrauch mit dem Gebrauche sich steigert.“21
Diese Ausführungen Mauthners scheinen auf den ersten Blick die These zu desavouieren, dass unsere Werkzeugvorstellung ein brauchbares Sinnbild für Sprache sein könne, ja dass es überhaupt konkrete Sachvorstellungen gebe, die sich als Sinnbild für Sprache in Anspruch nehmen ließen. Wenn nämlich Sprache kein Gebrauchsgegenstand ist, sondern nur als Gebrauch von etwas angesehen werden kann, dann erübrigt es sich, Dinge der gegenständlichen Welt als Bildspender für den Bildempfänger Sprache heranzuziehen. Die Argumentation Mauthners ist nun allerdings nur solange nachvollziehbar, wie man das Phänomen Sprache perspektivisch allein unter dem Aspekt der Disposition zu einer geistigen Tätigkeit bzw. zum Gebrauch von sprachlichen Zeichen sieht, also als forma formans oder als Energeia im Sinne Humboldts. So wichtig und grundlegend diese Wahrnehmungsweise von Sprache auch ist, wenn man sich für die Prämissen und Möglichkeiten sprachlicher Sinnbildungsprozesse interessiert, so wenig darf man übersehen, dass die Sprache für uns auch als forma formata bzw. als Ergon in Erscheinung treten kann, in der sich kulturelle Differenzierungsanstrengungen objektiviert haben bzw.
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1906/1982, Bd. 1, S. 24.
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ein pragmatisches Wissen über die mögliche kategoriale Strukturierung von Erfahrungen. Mauther lehnt es ab, die Sprache als Werkzeug zu betrachten, weil er sie nicht als Ergebnis gesellschaftlicher und kultureller Arbeit sehen möchte oder im Sinne Hegels als objektiver bzw. als objektivierter Geist. Er will die Sprache nicht als Gebrauchsgegenstand betrachten, in dem sich ein Wissen verfestigt hat, das man bei jedem Gebrauch wieder nutzen kann, mit dem man sich aber auch bei jedem Gebrauch wieder auseinanderzusetzen hat, weil es die eigenen geistigen Aktivitäten sowohl fördert als auch kanalisiert und einschränkt. Er will die Sprache nur als eine geistige Strukturierungskraft sehen, die wie ein Muskel sich durch ständigen Gebrauch nicht abnutzt, sondern sich vielmehr erhält und verstärkt. Übersehen darf man in diesem Zusammenhang aber auch nicht, dass auch ein Muskel sich als Wirkungskraft eine reale Gestalt mit bestimmten Aktionsmöglichkeiten geben muss, um tatsächlich wirksam werden zu können. Mauthners Wahrnehmungsperspektive für Sprache ist natürlich nicht sinnlos, aber gleichwohl doch recht einseitig. Einerseits hat zwar auch Humboldt betont, dass die Sprache nicht als Werk, sondern primär als Tätigkeit zu betrachten sei und dass man letztlich nur die „Totalität dieses Sprechens als die Sprache“ ansehen könne,22 aber andererseits hat er auch hervorgehoben, dass die Sprache „ein Werk der Nation, und der Vorzeit“, sei, durch das der einzelne Sprachteilnehmer „bereichert, erkräftigt, und angeregt“ werde.23 Bei der Konstitution einer brauchbaren Sprachvorstellung kann man das Spannungsverhältnis zwischen der Sprache als Werk und als Tätigkeit nicht einfach methodisch oder definitorisch ausblenden, wie es Mauthner durch die Negation des Werkzeugcharakters von Sprache macht oder wie es de Saussure durch die Trennung von langue und parole vorführt. Man muss dieses für Sprache konstitutive Spannungsverhältnis vielmehr ständig präsent halten, was sich über das Sinnbild des Werkzeugs mit seiner Formgebundenheit einerseits und seiner Anwendungsoffenheit andererseits recht gut bewerkstelligen lässt. Werkzeuge sind wie Sprachformen Instrumente, die ein bestimmtes inhärentes Spektrum von historisch bewährten und potenziellen Funktionen haben. Nichts hindert uns daran, Werkzeuge traditionell, aber auch auf neuartige Weise zu verwenden bzw. im Hinblick auf neuartige Bedürfnisse zweckdienlich umzugestalten. Ebenso wie jedes Werkzeug einen intelligenten Nutzer voraussetzt, so setzt auch jede Sprachform einen umsichtigen und kreativen Verwender voraus. Ebenso wie das Fernrohr und das Mikroskop sinnlos werden, wenn es keine Menschen gibt, die diese Werkzeuge sinnvoll nutzen, so wird auch die
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W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues …, Werke, Bd.3, S. 418. 23 W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium …, a.a.O., S. 20.
Werkzeugtypen als Sinnbilder für Sprache
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Sprache sinnlos, wenn es keine Menschen gibt, die sie zweckdienlich einzusetzen und zu verändern wissen. Einzelne Werkzeuge und insbesondere lexikalische und textuelle Zeichen können sich durch ständigen Gebrauch abnutzen, aber der Werkzeug- und Sprachgebrauch ermöglicht es gleichwohl auch immer, einzelne Werkzeuge und Wörter zu erneuern und umzugestalten.
4. Werkzeugtypen als Sinnbilder für Sprache Wenn wir dem Werkzeugbegriff einen großen Umfang geben und mit ihm alle Mittel zusammenfassen, die der Verwirklichung bestimmter Ziele dienen (Instrumente, Modelle, Begriffe, Theorien, Methoden usw.), dann verliert unsere Werkzeugvorstellung ihre klaren Konturen und wird dementsprechend dann auch als Bildspender problematisch. Wenn wir dem Werkzeugbegriff einen geringen Umfang geben und mit ihm nur noch manuell handhabbare Werkzeuge zusammenfassen (Hammer, Messer, Bleistifte), dann gewinnt unsere Werkzeugvorstellung zwar an Konturschärfe, aber zugleich verliert sie auch an sinnbildlicher Fruchtbarkeit, weil sich ihr Potenzial von Funktionsanalogien zu anderen Phänomenen und insbesondere zur Sprache entscheidend verkleinert. Aus diesem Dilemma können wir uns nur befreien, wenn wir unserer Werkzeugvorstellung einen mittleren Abstraktionsgrad geben und prototypische Werkzeuge für ganz bestimmte pragmatische Funktionen näher ins Auge fassen. Dadurch wird es möglich, über den Werkzeuggedanken sinnbildlich etwas über Sprache in Erfahrung zu bringen, was nicht offen zu Tage liegt, was aber auf diesem Wege doch recht gut erschlossen werden kann. Um diesen Zweck zu erreichen, soll sich hier das Interesse auf die fünf Werkzeugtypen Waffe, Schlüssel, Netz, Leiter und Schiff konzentrieren, die als prototypische Werkzeuge für ganz bestimmte Funktionen gelten können, die beträchtliche Analogien zu den Funktionen von Sprache aufweisen. Natürlich ließe sich diese Reihe noch erweitern, aber darauf wird hier aus zwei Gründen verzichtet. Zum einen bräche man dadurch nämlich in die Domäne anderer Sinnbilder für Sprache ein, die noch gesondert untersucht werden sollen (Kleid, Geld, Spiegel usw.). Zum andern ist es vorteilhaft, sein Interesse gerade auf diese fünf Werkzeugtypen zu konzentrieren, weil sie Charakteristika haben, die besonders aufschlussreiche Analogierelationen zur Sprache besitzen. Die Waffe repräsentiert einen Werkzeugtyp, der nicht nur die Aktionsmöglichkeiten der Hand auf ganz spezifische Weise ausweitet, sondern der zugleich auch ein beträchtliches Aggressionspotenzial hat. Der Schlüssel repräsentiert einen Werkzeugtyp, dem ganz bestimmte kulturelle Funktionsmöglichkeiten zugewachsen sind. Das Netz repräsentiert einen Werkzeugtyp, der für das Problem des Einfangens und der Bemächtigung von Objekten besonders aufschlussreich ist. Die Leiter repräsentiert einen Werkzeugtyp, der eine sehr wichtige Funktion für die Erschließung von uns nicht direkt zugänglichen
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Räumen hat. Das Schiff repräsentiert schließlich einen Werkzeugtyp, der nicht nur unsere Bewegungsmöglichkeiten in bestimmten Erfahrungsräumen ausweitet, sondern der auch einer ganz besonderen Formpflege bedarf, um seine Funktion dauerhaft erfüllen zu können.
Die Sprache als Waffe Wenn man sich dazu entschlossen hat, die Sprache nicht als ein Abbildungswerkzeug im Sinne eines Spiegels zu verstehen, sondern als Waffe, dann hat man sich zugleich auch dafür entschieden, sie mit den aggressiven Aktivitäten ihrer jeweiligen Benutzer in Verbindung zu bringen, seien es nun Angriffsoder Verteidigungsaktivitäten. Sprache kann eine Waffe von Schwachen sein, die über keine physischen Waffen verfügen, die aber dennoch Gegner angreifen oder sich ihnen gegenüber verteidigen wollen. Sprache kann die Waffe von Machtmenschen sein, die ihre Gegner bloßstellen oder die ihre Gefolgschaft auf Linie bringen wollen. Sprache kann die Waffe von Theoretikern sein, die die widerborstige Welt zu kategorisieren und zu beherrschen versuchen. Wer Waffen hat und benutzen kann, der verfügt meist über ein höheres Selbstbewusstsein als der Waffenlose. Der Waffenbesitzer ist aber in der Regel kein Betrachter von Welt, sondern ein Akteur in der Welt. Waffen können einen zwiespältigen Charakter bekommen, wenn sie zu Zauberbesen werden, die man nicht mehr beherrscht, sondern durch die man beherrscht wird. Das drückt sich im Hinblick auf Sprache milde in der Vorstellung aus, dass die Sprache ein zweischneidiges Schwert ist, und genereller in der Vorstellung, dass der Waffengebrauch den Waffenbesitzer in seinem Denken und Handeln verändern kann. „Die Sprache ist die Peitsche, mit der die Menschen sich gegenseitig zur Arbeit peitschen. Jeder ist Fronvogt und jeder Fronknecht.“ 24 Selbst im Kontext der Lyrik hat der Gedanke nicht ferngelegen, die Sprache als Waffe zu betrachten. Goethe fragt in seinem Gedicht – Sprache – , ob sie „reich vergrabner Urne Bauch“ oder „Schwert im Arsenal“ sei.25 Wolfgang Weyrauch charakterisiert seine Gedichtvorstellung folgendermaßen:„Mein Gedicht ist die Welt / der diagonalen Messer.“ 26 Diese Thematisierung der aggressiven Dimension der Sprache überrascht nicht, wenn man berücksichtigt, dass schon Platon die analytischen Funktionen der Sprache mit Schneidevorgängen in Verbindung gebracht hat. Sein Hinweis darauf, dass das Messer sinnbildlich als Basisinstrument des guten Wortbild-
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906/1982, S. 86. J. W. von Goethe, Sprache, Werke, Bd. 1, S. 63. 26 W. Weyrauch, Mein Gedicht, in: H. Bender (Hrsg.):Mein Gedicht ist mein Messer, 1961, S. 35. 25
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ners anzusehen sei, zeigt deutlich, dass die Versprachlichung der Welt nicht nur als ein liebevoller Nachbildungsvorgang zu beurteilen ist, sondern auch als ein sezierender kämpferischer Akt gegen amorphe Globalerfahrungen, da diese nicht nur als unbefriedigend, sondern auch als bedrohlich empfunden werden. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass das Unbenannte immer wieder als eine potenzielle Bedrohung empfunden worden ist, die man dadurch aufheben oder zumindest mildern kann, wenn man das als bedrohlich Empfundene sprachlich benennen und kategorial einordnen kann. Aufschlussreich dafür ist die Differenzierung der Psychologen zwischen der Angst als dem Gefühl einer unfassbaren und amorphen Bedrohung und der Furcht als einer konkreten und benennbaren Bedrohung. Diese Problematik exemplifiziert auch eine gängige Redewendung: Gefahr benannt – Gefahr gebannt. In dieser Maxime tritt die Sprache dann allerdings eher als eine Verteidigungswaffe in Erscheinung und weniger als eine Angriffswaffe. Im Gegensatz zum einfachen Benennen kann das Fluchen in den meisten Fällen sowohl als eine sprachliche Verteidigungsals auch Angriffshandlung verstanden werden.27 Die Wahrnehmung von Sprache als Kampfinstrument kommt in vielen Metaphern und Redewendungen zum Ausdruck: Mit Worten fechten, eine scharfe Klinge führen, einen Text sezieren, Giftpfeile abschießen, Sperrfeuer inszenieren usw. Obwohl in solchen Redeweisen keine bestimmte Waffe beim Namen genannt wird, so werden durch sie doch immer ganz bestimmte Waffenvorstellungen evoziert. Auf jeden Fall wird die Wirksamkeit sprachlicher Formen mit derjenigen von bestimmten Waffen analogisiert. Wenn man von sprachlichen Giftpfeilen spricht, dann lässt sich an diesem Sinnbild sehr gut demonstrieren, wie man zugleich auf Form- und Funktionsanalogien zur Sprache verweisen kann. Der Pfeil ist im Gegensatz zum Schwert eine ausgesprochene Distanzwaffe. Er soll im Gegensatz zum geschleuderten Stein aber ganz punktuell mit seiner tief eindringenden Spitze verletzen. Einmal abgeschossen ist der Pfeil im Gegensatz zum Gebrauch von Hieb- und Stichwaffen vom Verwender nicht mehr umzusteuern. Deshalb ist seine Wirksamkeit in einem sehr hohen Maße von der Berücksichtigung aller mit ihm verbundenen Wirkungsfaktoren abhängig (Pfeilgewicht, Widerhaken, Befiederung, Abdrift, Spannkraft des Bogens usw.) Da Pfeile in der Regel aus dem Verborgenen abgeschossen werden, kann sich das Opfer von Pfeilen auch weniger gut auf diese Waffe einstellen als beispielsweise auf ein Schwert. Als Gift- oder Brandpfeil ist die pragmatische Wirksamkeit des Pfeils primär auch nicht durch das bestimmt, was er direkt anrichtet, sondern vielmehr durch das, was er indirekt bewirkt. Weiterhin ist auch zu fragen, was man bei der Vorstellung sprachlicher Pfeile dann als Bogen zu verstehen hat. Soll man darunter
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Vgl. F. Kiener, Das Wort als Waffe, 1983.
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das Sprachwissen, das Sachwissen oder den Intellekt des Sprechenden verstehen? Das Bild des Pfeils regt daher auch dazu an, nach weiteren Ähnlichkeiten zu suchen, die zwar nicht offen zu Tage liegen, die aber durchaus unser Struktur- und Funktionswissen von Sprache auf analoge Weise erweitern können.
Die Sprache als Schlüssel Es ist eine gängige Denk- und Sprachpraxis, die Sprache insgesamt oder einzelne Sprachformen als Schlüssel zur realen und zur geistigen Welt anzusehen. Davon zeugen nicht nur Buch- und Schulbuchtitel,28 sondern auch stereotype Formulierungen wie verschlüsselter Text, Texte entschlüsseln, Schlüsselwörter, Schlüsselfragen usw. An solchen Versinnbildlichungen ist insbesondere zweierlei bemerkenswert. Zum einen wird davon ausgegangen, dass man mit dem Schlüssel Sprache nicht nur empirische Phänomene erschließend kategorisieren bzw. interpretieren kann, sondern auch geistige Phänomene wie etwa Texte oder gar die Sprache selbst. Die Sprache ist so gesehen nicht nur ein Objektschlüssel für die Welt, sondern gleichsam auch ein Metaschlüssel für sich selbst. Zum anderen ist interessant, dass bei solchen sinnbildlichen Redeweisen über Sprache der Schlüssel meist nur als ein aufschließendes, aber nicht als ein abschließendes Werkzeug thematisiert wird. Das hat wohl auch damit zu tun, dass wir die Sprache in der Regel nicht als ein privates, sondern als ein soziales Medium verstehen. Wenn wir die Sprache als Mittel der Abschließung und Abgrenzung wahrnehmen wollen, dann greifen wir nicht zum Sinnbild des Schlüssels, sondern wohl eher zu dem des Filters, der Fessel oder des Gefängnisses. Warum eignet sich nun unsere Schlüsselvorstellung so gut dazu, als Bildspender für Sprache verwendet zu werden? Welche Struktur- und Funktionsmerkmale rechtfertigen diese Analogisierung? Auf welche Aspekte der Sprache richtet sich unsere Aufmerksamkeit und unser Erkenntnisinteresse, wenn wir uns das Rätsel der Sprache mit dem Sinnbild Schlüssel aufzuschließen versuchen? Phänomenologisch ist in diesem Zusammenhang zunächst festzuhalten, dass ein Schlüssel immer in einem Funktionszusammenhang mit einem Schloss steht bzw. mit einer zu überwindenden Zugangsbarriere. Die Wahrnehmung eines Schlosses provoziert immer auch die Frage nach dem dazugehörigen Schlüssel und umgekehrt. Ein Schloss ist in der Regel Bestandteil einer Tür, die Zugang zu einem anderen Raum ermöglicht, welcher sich deutlich als ein unerschlossener jenseitiger Raum von dem schon erschlossenen
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H. Gipper (Hrsg.), Sprache – Schlüssel zur Welt, 1959. R. Fischer (Hrsg.), Sprache – Schlüssel zur Welt, Handbuch zur Theorie und Praxis der Montessori – Pädagogik, 2005. Sprachschlüssel, Schulbuch des Klett-Verlages, 1986 ff.
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diesseitigen Raum unterscheidet. Schlösser bzw. Türen markieren so gesehen eine Grenze, die überschritten werden kann, wenn man einen passenden Schlüssel hat. Der Schlüssel ist das Werkzeug, mit dem die pragmatische Funktion des Schlosses, etwas abzuschließen und zu versperren, wieder aufgehoben werden kann. Das bedeutet im Prinzip, dass Schlüssel immer dazu dienen, unsere begrenzten aktuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten auszuweiten. Die Funktion von Schlüsseln, neue Erfahrungsräume bzw. Welten zugänglich zu machen, ist wohl auch das Motiv dafür gewesen, dass man Komposita wie Schlüsselerlebnis, Schlüsselreiz, Schlüsselqualifikation oder Schlüsselindustrie gebildet hat, durch welche metaphorisch die erschließende Funktion bestimmter Sachverhalte für andere Sachverhalte hervorgehoben werden soll. Naheliegend war dann natürlich auch, Komposita zu bilden, die auf analoge Weise die aufschließende Funktion von bestimmten sprachlichen Formen für einen ganz spezifische Sach- und Problemzusammenhang akzentuieren sollen: Schlüsselwort, Schlüsselfrage, Schlüsselroman usw. Wenn wir von der Sprache als einem Schlüssel zur Welt oder von einem Wort als einem Schlüssel zu einem Sachverhalt sprechen, so wollen wir damit kenntlich machen, dass Sprache und Wörter eher dazu dienlich sind, Zugänge zu noch unerschlossenen Sachwelten zu ermöglichen, als dazu, ein festes Inhaltswissen über diese zu objektivieren. Denkweisen letzterer Art stellen sich eher ein, wenn wir von der Sprache als einem Speicher oder einer Schatztruhe sprechen. Die Schlüsselvorstellung dient vor allem dazu, die Sprache als ein operatives Zugangsmedium zu kennzeichnen, das dabei hilft, Barrieren unterschiedlicher Art zu überwinden bzw. Verschlossenes zu öffnen. Was repräsentiert nun aber das Schloss, wenn wir die Sprache als Schlüssel verstehen? Diesbezüglich lässt sich vielleicht geltend machen, dass unsere unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen möglicherweise als ein solches Schloss bzw. als eine solche Barriere verstanden werden können. Zweifellos erzeugen sinnliche Wahrnehmungen bei uns die Vorstellung einer faktischen Realität. Aber immer wieder ist die Auffassung vertreten worden, dass es hinter dieser Realität noch eine andere Realität geben könne oder gar geben müsse. Diese zweite und möglicherweise fundamentalere Realität hat Platon in der Welt der Ideen vermutet. Die Philosophen der Renaissance haben sie in der Welt der Naturgesetze vermutet. Unter diesen Umständen sind dann die richtig gebildeten Begriffe bzw. die zutreffend formulierten Naturgesetze die Schlüssel, um das Schloss unserer faktischen sinnlichen Erfahrungen aufzuschließen und um Zugang zu der dahinter liegenden eigentlichen Realität zu finden. Wenn wir die Schloss-Schlüssel-Relation nun auf die Wahrnehmung sprachlicher Tatbestände und Formen beziehen, dann lassen sich folgende Überlegungen anstellen. Die Kenntnis von sprachtheoretischen Analysebegriffen, das Wissen über sozial gefestigten Sprachkonventionen und deren Genese sowie die Hypothesen über die jeweiligen sprachlichen Mitteilungsintentionen lassen sich als Schlüssel verstehen, um die verschiedenen Schlösser sprachli-
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cher Formen von grammatischen über lexikalische bis hin zu textuellen Objektivierungsmustern zu öffnen. Alle hermeneutischen Interpretationen von Sprachformen wären dann Anstrengungen, Sprachschlösser unterschiedlichen Typs zu öffnen, bzw. Bemühungen, Sprachbarrieren zu überwinden, um die semantischen Inhalte und die pragmatischen Funktionen der jeweiligen Sprachformen zu erfassen. Auch die Überlegungen zu der kognitiven und kommunikativen Leistungskraft von Sinnbildern wären dann letztlich immer Bemühungen, sowohl das Schloss unserer sinnlichen Sacherfahrungen als auch das Schloss unserer konventionellen Sprachformen zu öffnen, um neuartiges Wissen zu erschließen oder um neue Erfahrungen machen zu können. Die sehr unterschiedlichen Schlüsselfunktionen der Sprache lassen sich auch ganz gut durch Überlegungen zu den besonderen Schlüsselformen für die verschiedenartigen Schlösser erläutern. Diese Schlüsselformen reichen von einfachen Dietrichen über Standardschlüssel bis zu Gruppen- und Spezialschlüsseln. Die genaueste Abstimmung auf ein bestimmtes Schloss besitzen sicherlich Spezialschlüssel. Ihr pragmatischer Nachteil besteht allerdings darin, dass sie nur ganz wenige bzw. ganz bestimmte Schlösser öffnen bzw. nur sehr spezielle Verschlussprobleme lösen können. Das gibt ihnen eine große Ähnlichkeit mit fachwissenschaftlichen Termini bzw. mit formalisierten Fachsprachen. Demgegenüber haben Gruppenschlüssel und oft auch Standardschlüssel den Vorteil, dass sie immer mehrere Schlösser öffnen können, aber eben nicht alle und insbesondere nicht ganz spezielle. Dietriche sind nun diejenigen Schlüssel, die am wenigsten auf ganz bestimmte Schlösser abgestimmt sind. Das hat den Vorteil, dass sich mit ihnen viele Normalschlösser öffnen lassen, aber auch den Nachteil, dass es dabei durchaus knirschen kann und dass für den Gebrauch von Dietrichen auch eine ganz besondere Geschicklichkeit erforderlich ist. Außerdem kann sich ergeben, dass Dietriche für eine konkrete, erfolgreiche Nutzung auch schon mal umgeformt werden müssen. Deshalb lassen sich Dietriche recht gut mit unpräzisen, aber polyfunktionalen Begriffsbildungen in den natürlichen Sprachen vergleichen bzw. sogar mit der Ausprägung von natürlichen Sprachen selbst, mit denen sich in der Regel alle kognitiven und kommunikativen Probleme des alltäglichen Lebens trotz gewisser Knirscheffekte ganz gut lösen lassen. Evolutionär gesehen können sich deshalb auch die natürlichen Sprachen neuen Rahmenbedingungen sehr viel leichter und besser anpassen als formalisierte Sprachen. Die Schlüsselfunktion von Sinnbildern lässt sich nicht so leicht auf einen Nenner bringen. Einerseits sind sie recht gut mit universal verwendbaren Dietrichen zu analogisieren, die vielerlei Schlösser aufschließen können. Andererseits sind sie aber auch mit Spezialschlüsseln zu analogisieren, insofern sie uns Schlösser aufschließen können, für die es überhaupt noch keine verwendbaren Schlüsselformen gibt, insofern die jeweiligen Schlösser etwas verschließen, was hinter oder vor unseren üblichen empirischen Erfahrungsbereichen liegt.
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Beim Gebrauch von Sinnbildern kann es in Erkenntnis- und Mitteilungsprozessen deshalb durchaus knirschen oder zu Misserfolgen und Missverständnissen kommen. Aber da wir oft keine anderen Zugangsweisen zu diesen Phänomenen haben, müssen wir uns immer wieder mit diesen Sonderschlüsseln behelfen. Optimieren lassen sich die spezifischen Schlüsselfunktionen von Sinnbildern nur durch umfangreiche Sachkenntnisse über die jeweils verwendeten Bildspender, weil wir diese nur so in reflexionsthematisch kontrollierbarer Weise für unsere jeweiligen Erschließungsziele nutzen können. Wenn wir die üblichen Wörter als Schlüssel benutzen, um Zugang zu bestimmten Welten zu finden, dann haben wir zu berücksichtigen, dass uns insbesondere die sogenannten Schlüsselwörter Zutritt zu höchst komplexen Welten verschaffen können. Das lässt sich am Beispiel geschichtlicher und politischer Schlüsselwörter recht gut demonstrieren. Wörter wie Demokratie, Revolution, Kapitalismus, Liberalismus, Konservativismus usw. werden in der Regel so verwendet, dass sie uns nicht nur Zugang zu empirischen, sondern auch zu emotionalen und ethischen Welten eröffnen. Gerade wegen dieser polyfunktionalen Erschließungsfunktionen klassifizieren wir sie ja auch als Schlüsselwörter. Mit ihnen sollen nämlich nicht nur bestimmte Phänomene als empirische Gegebenheiten benannt werden, sondern durch sie sollen uns zugleich auch Zugänge zu den Motiven, Zielsetzungen und Leistungen historischer Gegebenheiten und Prozesse eröffnet werden. Allerdings ist nun einzuräumen, dass solche Schlüsselwörter nicht nur eine aufschließende, sondern durchaus auch eine abschließende Wirkung haben können. Diese tritt insbesondere dann ein, wenn sie nicht mehr dazu verwendet werden, Tiefenstrukturen hinter Oberflächenstrukturen zu erschließen, sondern dazu, interpretationsbedürftige und widerborstige Erfahrungsgegenstände in die Kiste einer bestimmten Ordnungskategorie einzuschließen. Unter diesen Umständen dienen sie dann nicht mehr dazu, Einzelerfahrungen typologisch auf den Begriff zu bringen und damit auch tiefenstrukturell zu erschließen, sondern vielmehr dazu, diese bloß zu etikettieren und damit als bewältigt und archivierbar anzusehen. So betrachtet bekommen natürlich alle Termini formalisierter Fachsprachen eine recht ambivalente Schlüsselfunktion. Einerseits können sie dabei helfen, die Tiefenschichten empirischer Wahrnehmungen zu erschließen und Einzelphänomene auf eine stringente Weise so exakt zu erfassen, wie das mit den semantisch vagen Sprachformen der natürlichen Sprache gar nicht möglich ist. Andererseits ist mit ihnen aber auch immer die Gefahr verbunden, den hypothetischen Grundcharakter aller Begriffsbildungen zu vergessen und einen kognitiven Erschließungsprozess als beendet anzusehen bzw. die Erfahrung zu verdrängen, dass hinter jedem geöffneten Schloss oder hinter jeder geöffneten Tür sich immer neue Schlösser und Türen befinden können. Was ursprünglich als aufschließender Schlüssel für den Erwerb neuer Erfahrungen gedacht war,
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das kann deshalb unversehens auch zu einem abschließenden Schlüssel bzw. zu einem Sarg werden, der uns von neuen Erfahrungen ausschließt. Der Kampf um die Ausformung, den Besitz und die Verwendung von Schlüsselbegriffen in der Politik und in den Wissenschaften zeigt deutlich, welche Dynamik mit Denkmustern verbunden sein kann, aber auch welche Stagnationsgefahren. Der Kampf in den Wissenschaften um die Geltung von Grundbegriffen bzw. um die Notwendigkeit von Paradigmenwechseln offenbart sehr klar, welche pragmatische Bedeutsamkeit Schlüsselbegriffe für die Entwicklung und Erstarrung von Wissensinhalten spielen können. Falls man sich Sprache über das Sinnbild des Schlüssels vergegenständlicht, dann wird deutlich, dass man sich Sprachformen letztlich nicht als bloße Behältnisse für Wissensinhalte vorstellen sollte, sondern eher als Handlungswerkzeuge zum Öffnen von Schlössern und Türen, aber außerdem auch zum Verschließen von Inhalten. Das heißt zugleich, dass uns jeder Sprachgebrauch im Prinzip immer wieder in selbstbezügliche Überlegungen führen kann, da wir wieder neue sprachliche Schlüssel entwickeln müssen, um die Sprache als Schlüssel zu verstehen und zu nutzen. Dazu können dann sowohl sprachtheoretische Analysebegriffe als auch Sinnbilder für Sprache dienlich seien. Wenn Heidegger in seinen philosophischen Überlegungen immer wieder mit etymologischen Analysen und Spekulationen arbeitet, dann ist darin auch ein Bemühen zu sehen, die ursprünglichen Schlüsselfunktionen unserer Grundbegriffe freizulegen. Das ist sicher ein legitimierbares Vorgehen, wenn man dabei nicht der Gefahr unterliegt, die ursprünglichen Schlüsselfunktionen als die eigentlichen und besseren zu bewerten. Allenfalls ist man vielleicht berechtigt, die ursprünglichen Schlüsselfunktionen der Wörter und Begriffe als anthropologisch elementarer als spätere zu bewerten. Die Leistungs- und Zauberkraft sprachlicher Schlüssel sollte man deshalb immer unter einen gewissen ironischen Vorbehalt stellen, den Goethes Mephisto im Faust unnachahmlich dem Schüler nahezulegen versucht: „Im ganzen – haltet Euch an Worte! /Dann geht ihr durch die sichre Pforte / Zum Tempel der Gewissheit ein.“ 29
Die Sprache als Netz Ein Netz ist zunächst einmal ein elementares Arbeitswerkzeug des Fischers. Er nutzt es, um Fische aus dem Wasser zu holen, die er mit bloßen Händen nicht fangen kann. Dabei spielen die Materialien, aus denen das Netz gefertigt ist, eine weniger große Rolle als seine Maschenstruktur und seine intelligente Nutzung durch den Fischer. Das Netz ist zweifellos ein menschliches Artefakt, das zur Realisierung bestimmter Zwecke variabel eingesetzt werden kann, um
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J. W. von Goethe, Faust, Vers 1990–1993, Werke, Bd. 3, S. 64.
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etwas in seine Verfügungsgewalt zu bekommen, was üblicherweise nicht in ihr liegt. Diese Funktion macht das Netz sehr brauchbar, um sowohl als Bildspender für den Bildempfänger Sprache als auch für die Bildempfänger Theorie oder Methode in Erscheinung treten zu können. Wie schon im Einleitungskapitel erwähnt hat der Physiker Eddington das Fischernetz als Sinnbild benutzt, um den Wissenserwerb in den Naturwissenschaften zu veranschaulichen. Das Netz entspreche den Sinneswerkzeugen und den gedanklichen Konzepten und Methoden, die die Wissenschaftler benutzten, um einen Fang zu machen, und der Fang entspreche dem Wissen, das sie mit diesem sinnlichen und gedanklichen Rüstzeug jeweils erwerben könnten.30 Das Bild des Netzes bzw. der Netzverwendung ist Eddington vor allem deswegen so wichtig, weil er damit sinnbildlich zweierlei sehr gut demonstrieren kann. Einerseits wird klar, dass die Maschenstruktur des Netzes immer vorherbestimmt, was mit ihm gefangen werden kann und was nicht. Andererseits wird klar, dass man nicht dem Wahn verfallen darf, dass nur das existiert, was man mit dem jeweiligen Netz gefangen hat bzw. einfangen kann. Wenn wir diesen Gedanken auf die Nutzung der Sprache übertragen, dann lässt sich sagen, dass auch die Sprache ein Netz ist, dessen Inventar und Struktur von Objektivierungsformen den Maschen eines Fischernetzes entspricht. Mit diesem Netz können wir bestimmte Phänomene unserer physischen, sozialen und geistigen Welt einfangen. Dabei dürfen wir aber nicht dem Wahn verfallen zu glauben, damit alles erfasst zu haben, was in diesen Welten tatsächlich vorhanden ist. Je nach unseren Fang- und Objektivierungsbedürfnissen können wir zwar die Maschengrößen unserer sprachlichen Netze verändern und dadurch dann auch unterschiedliches Wissen einfangen, aber dennoch werden wir immer nur dessen gewahr, was die jeweiligen Netzformen einfangbar machen. Auf diesen Tatbestand hat ja auch Whorf mit seinen Überlegungen zu dem sogenannten sprachlichen Relativitätsprinzip aufmerksam gemacht. Netzen und Sprachen lässt sich deshalb die Funktionsanalogie zuschreiben, dass sie gegebene Phänomene nicht abbilden wollen, sondern dass sie diese erst einmal einzufangen versuchen, um sie anschließend noch genauer kennenlernen zu können. Netze und Sprachen stimulieren so gesehen vor allem das Beziehungs- und Funktionsdenken, weil sie als Objektivierungsmedien in Erscheinung treten, die exemplarisch dem Wenn-dann-Prinzip unterliegen. Da Netze streng genommen nicht aus Maschen bestehen, sondern aus Fäden und Knoten, die Maschen bilden, wird unsere Aufmerksamkeit über das Bild des Netzes auch noch auf eine andere Besonderheit der Sprache gelenkt. Einzelne Sprachelemente gewinnen ihre spezifische pragmatische Funktionalität in Sätzen und Texten erst durch ihre Beziehungen zu anderen Elementen.
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A. Eddington, Philosophie der Naturwissenschaft, 1949, S. 28 ff. Vgl. auch S. 3 dieses Buches.
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Aus solchen Korrelationen ergeben sich dann nämlich die Maschengrößen, mit denen bestimmte Phänomene in der Welt einfangbar sind oder nicht. Die Netzstruktur einer Sprache lässt sich in zweierlei Hinsicht diskutieren. Einerseits kann das semantische Potential von Wörtern kaum sinnvoll bestimmt werden, wenn wir den Blick nur auf diese Wörter selbst richten und nicht auch auf die Nachbarn dieser Wörter in ihren jeweiligen Wort- bzw. Begriffsfeldern, was uns die Wortfeldtheorie ja sehr deutlich gezeigt hat. Andererseits lässt sich der konkrete Sinn einzelner Wörter in einem Satz oder Text nur dann genauer bestimmen, wenn wir auch den konkreten syntaktischen Korrelationszusammenhang der einzelnen Wörter mit anderen ins Auge fassen, was wiederum der metaphorische Sprachgebrauch sehr gut exemplifiziert. Ebenso wie die Struktur eines Netzes eine apriorische Funktion für das hat, was man potenziell mit ihm einfangen kann, so haben auch die strukturellen und textuellen sprachlichen Formnetze eine apriorische Funktion für das, was man mit ihnen einfangen bzw. bewusst machen kann. Aber ebenso wie wir die Maschenstrukturen von physischen Netzen ändern können, so können wir auch die Maschenstrukturen von sprachlichen Netzen ändern, um bestimmte Phänomene kognitiv besser einfangen und objektivieren zu können.
Die Sprache als Leiter Leitern gehören nicht zu denjenigen Werkzeugen, die die spezifischen Handlungsmöglichkeiten der Hand erweitern, sondern zu denjenigen, die die Bewegungsmöglichkeiten der Menschen im vertikalen Raum ausweiten und eben dadurch auch ihren Augen neue Wahrnehmungsperspektiven eröffnen können. Die Sinnbildfunktion der Leiter für die Sprache ist uns nicht ganz so präsent wie die des Schlüssels, weil wir kaum Redewendungen haben, in denen Leiterund Sprachvorstellungen direkt miteinander verbunden werden. Wenn wir die Leiter als Sinnbild für Sprache ins Auge fassen, dann müssen wir einen kleinen Umweg machen und uns mit der Funktion von Leitervorstellungen bei der Aufklärung der Struktur von Erkenntnisprozessen beschäftigen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang nun auch zu beachten, dass sich über das Verb leiten eine gewisse assoziative Nähe zwischen Leitervorstellungen und Sprachvorstellungen ergibt, obwohl dieses Verb im Normalfall eher unsere Beweglichkeit im horizontalen als im vertikalen Raum thematisiert. Aus dem Verb leiten hat sich nämlich nach und nach ein substantivisches Wortfeld entwickelt, dessen Mitglieder der Sprache unterschiedliche Führungsfunktionen bei der Organisation unseres Denkens und Wahrnehmens zuweisen: Leitartikel Leitbegriff, Leitfaden, Leitmotiv, Leitthema. All diese Wortbildungen evozieren zwar keine konkreten Leitervorstellungen bzw. keine direkten Aufstiegsvorstellungen, aber sie legen doch nahe, sprachlichen For-
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men eine immanente Führungsfunktion zuzuschreiben, was auch für die Wahrnehmung der Leiter als Bildspender sicherlich nicht unwichtig ist. Weiterhin ist nicht unerheblich, dass mit dem Bild der Leiter nicht nur die Vorstellung verbunden ist, im irdischen Normalraum eine höhere Wahrnehmungsposition mit einem weiterreichenden Blick zu gewinnen, sondern dass dieses Bild insbesondere im religiösen Denken auch dazu verwendet worden ist, um sinnbildlich ein Verbindungsglied zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt zu thematisieren. Die sogenannte Himmelsleiter Jakobs verdeutlicht das exemplarisch. „Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.“ (1. Mose, 28.12) Dieses Traumbild Jakobs hat Hamann zum Anlass genommen, um mit dem Bild der Leiter den Prozess der Umwandlung von Anschauungen in Begriffe zu beschreiben, wodurch dann auch ein recht deutlicher Bezug zur Sprache hergestellt wird. „So würd’ ich dem Leser die Augen öfnen, daß er vielleicht sähe – Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf- und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit herabsteigen, auf einer Leiter, die kein Schlafender sich träumen läst …“ 31
Auch Cassirer hat auf das Bild der Leiter zurückgegriffen, um das Anliegen seiner Philosophie der symbolischen Formen zu versinnbildlichen. „Auch sie will dem Individuum ‚die Leiter reichen’, die es von den primären Gestaltungen, wie sie sich in der Welt des »unmittelbaren« Bewußtseins finden, zur Welt der ‚reinen Erkenntnis’ hinführt. Keine Sprosse dieser Leiter ist, sub specie der philosophischen Betrachtung, entbehrlich; jede darf und muß den Anspruch erheben, berücksichtigt, gewürdigt, »gewusst« zu werden, wenn es sich darum handelt, die Erkenntnis nicht sowohl in ihrem Ergebnis, in ihrem bloßen Produkt, sondern in ihrem reinen Prozeß-Charakter, in der Art und Form des »Procedere« selbst, zu verstehen.“ 32
Wenn Cassirer hier betont, dass keine Sprosse der Leiter zur Erlangung umfassender Erkenntnis entbehrlich sei, dann ist das in einem rein prozeduralen Sinne ohne unmittelbare vertikale Implikationen zu verstehen. Er hat sich nämlich immer gescheut, die einzelnen symbolischen Formen als Sprossen der Erkenntnis hierarchisch zu ordnen, was beim Bild der Leiter natürlich naheliegt, weil er der grundsätzlichen Auffassung war, dass diese prinzipiell in einer eigenständigen, aber sich doch ergänzenden Relation zueinander stehen. Das Bild der Leiter hat Erkenntnistheoretiker und insbesondere Sprachkritiker immer wieder fasziniert, weil es sehr wichtige Implikationen hat. Einer-
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J. G. Hamann, Metakritik, Schriften zur Sprache, 1967, S. 225. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, 19542, S. VII.
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seits konnte mit Hilfe dieser Vorstellung nämlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass dieses Hilfsmittel der Wahrnehmungsausweitung immer eine feste Basis und einen festen Anlehnungspunkt braucht, um aufgestellt bzw. verwendet zu werden. Andererseits provoziert die Leitervorstellung natürlich auch die Frage, was folgt, wenn eine Erkenntnisbewegung die vermeintlich letzte Sprosse der Leiter erreicht hat. Gibt es dann einen nicht mehr ergänzungsbedürftigen Blick von höchster Position oder nur einen anderen Blick als vorher? Gibt es Chancen, die Leiter mit neuen Sprossen zu verlängern oder auf neue Leitern umzusteigen? Es ist offensichtlich, dass diese Fragen auch eine unmittelbare sprachtheoretische Brisanz haben können. Man muss sich bei der Nutzung der Leitervorstellung als Sinnbild für Sprache nämlich immer Rechenschaft darüber ablegen, worauf man die Leiter der Sprache stellen bzw. woran man sie anlehnen kann. Weiterhin wäre zu fragen, ob sich die Sprachleiter spontan verlängern lässt bzw. ob man nach ihrer Nutzung problemlos auf andere Aufstiegs- bzw. Objektivierungsmittel umsteigen kann. An diese Fragen können sich dann noch weitere anschließen. Woher beziehen wir das Baumaterial für sprachliche Leitern? Ist für sprachlich objektivierbare Erkenntnisprozesse die vertikal orientierte Leitervorstellung angemessener als die horizontal orientierte Wegvorstellung oder die zyklisch orientierte Spiralvorstellung? Diese Fragen lassen sich kaum abschließend beantworten. Es sind aber zweifellos wichtige methodische Fragen, da sie uns dazu zwingen, Einzelwahrnehmungen auf einer übergeordneten Stufe der Erkenntnis metareflexiv auf ihre Genese und ihre Bedingtheiten hin zu qualifizieren. Der extrem sprachkritisch eingestellte Mauthner hat das Bild der Leiter bzw. der Stufe deshalb auch herangezogen, um zu verdeutlichen, dass man bei seiner Erkenntnisarbeit einerseits auf die in der Sprache schon manifestierten Formen des Wissens angewiesen sei, dass man sich andererseits aber auch immer wieder vom „Wortaberglauben“ und der „Tyrannei der Sprache“ zu lösen habe. „Auf Stufen muß man emporsteigen und jede Stufe ist ein neuer Trug, weil sie nicht frei schwebt… Der ist kein freier Mann, der sich noch einen Atheisten nennt, einen Gegner dessen, den er leugnet. Der kann das Werk der Befreiung von der Sprache nicht vollbringen, der mit Worthunger, mit Wortliebe und mit Worteitelkeit ein Buch zu schreiben ausgeht in der Sprache von gestern oder von heute oder von morgen, in der erstarrten Sprache einer bestimmten festen Stufe. Will ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprossen wieder, um sie abermals zu zertrümmern.“ 33
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906 / 1982, S. 1–2.
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Die paradoxe Notwendigkeit, sich in seinen Denkprozessen einerseits an die in der Sprache konventionalisierten Denkmuster zu binden und sich andererseits von diesen zu Gunsten von neu zu entwickelnden wieder zu lösen, hat bei Mauthner deshalb auch tragikomische Züge. „Tragikomisch wäre der Clown, der im Zirkus bis zur Spitze einer freistehenden Leiter emporkletterte und dann versuchen wollte, seine Leiter zu sich emporzuziehen. Er würde das Schicksal der Philosophen teilen und herunterfallen. Wer die Naivität verloren hat, lacht auch den Clown nicht mehr aus. Wer sie behalten hat, der muß auch über die Sprachkünstler lachen, die auf Wortleitern in die Höhe klettern möchten und glauben, sie könnten während des Aufstiegs das Wort von der Erde lösen.“ 34
Die Kritik an der Sprache ist bei Mauthner so radikal und so selbstzerstörerisch, weil sie für ihn in ein selbstreflexives Denken mündet, das seine eigenen Grundlagen in Frage stellt. Die Sprachleiter hat für ihn weder einen festen Grund, auf dem sie steht, noch einen festen Anlegepunkt, der einen sicheren Aufstieg garantiert. Der Wissenserwerb ist für ihn zwar auf einen vertikalen Aufstieg hin angelegt, aber die Verwendung von Sprachleitern garantiert diesen keineswegs. Diese problematischen Implikationen des sprachlich fundierten selbstreflexiven Denkens, das auf alle Halt gebenden Prämissen verzichten muss, thematisiert Mauthner in einem anderen eindrucksvollen Bilde. „Wer also in seinem Denken das Denken kritisierte, das heißt mit Hilfe der Sprache die Sprache selbst untersuchen wollte, gleicht eigentlich einem Physiologen, der lebendigen Leibes sein eigenes Gehirn bloßlegen und damit experimentieren wollte, was schon darum seine Schwierigkeiten hätte, weil der Forscher durch die schweren operativen Eingriffe in seinen Fähigkeiten doch herabgestimmt werden müßte.“ 35
Im Grunde gibt es für Mauthner keinen wirklichen Ausweg aus dem Dilemma, in Erkenntnisprozessen die Leiter der Sprache zwar benutzen zu müssen, aber dieser nirgends einen festen Halt geben zu können, bzw. die Sprossen dieser Leiter zwar zu nutzen, sie aber im oder nach dem Gebrauch immer wieder metareflexiv relativieren oder gar zerstören zu müssen. Die von ihm ins Auge gefasste Lösung des Dilemmas ist allerdings nur eine Art heroischer Auswegssuche: „Die niederste Erkenntnisform ist die Sprache; die höhere ist im Lachen; die letzte ist in der Kritik der Sprache, in der himmelstillen, himmelsheiteren Resignation und Entsagung.“ 36
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F. Mauthner, a.a.O., Bd. 3, S. 632. F. Mauthner, a.a.O., Bd. 3, S. 633. 36 F. Mauthner, a.a.O., Bd. 3, S. 634. 35
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Auch der frühe Wittgenstein hat in seinen erkenntnis- und sprachtheoretischen Überlegungen auf das Bild der Leiter zurückgegriffen, wenn auch in einem ganz anderen Sinne als Mauthner. In seinem Tractatus hat er versucht, die Grundlagen eines wissenschaftlichen bzw. die Welt abbildenden Sprachgebrauchs zu skizzieren. Seine diesbezüglichen Aussagen teilen uns seiner Überzeugung nach nichts über die Realwelt mit, sondern nur etwas darüber, wie man die wissenschaftliche Sprache sachgerecht zu verwenden hat. Da solche Aussagen also einen rein propädeutischen Charakter haben, sind sie auch für denjenigen überflüssig, der die wissenschaftliche Sprache schon sachgerecht anwendet. „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)“ 37 Wittgensteins Vorstellung von der Leiter, die als Denk- und Wahrnehmungswerkzeug überflüssig wird, wenn man mit ihr ein bestimmtes Denk- und Wahrnehmungsniveau erreicht hat, ist mindestens in zwei Hinsichten interessant. Dabei ist unerheblich, ob Wittgenstein selbst diese Implikationen gesehen hat oder nicht, weil sie sich eigentlich aus der sinnbildlichen Potenz des Bildspenders Leiter von selbst ergeben. Dies ist insofern bedeutsam, als sich diese Vorstellung natürlich nicht nur auf den richtigen begrifflichen Gebrauch der Sprache beziehen lässt, wie es Wittgenstein wohl beabsichtigt hat, sondern auch auf ihren richtigen sinnbildlichen Gebrauch. Zum einen setzt Wittgensteins Vorstellung von der überflüssig gewordenen Leiter voraus, dass das inhaltliche Wissen von der Welt unabhängig von dem Weg ist, der zu ihm geführt hat, bzw. von der Form, in der es objektiviert wird. Die Entstehungsgeschichte des Wissens gehört für ihn nicht zu dem Wissen selbst, sondern allenfalls zu den historischen Bedingungen und Zufälligkeiten seiner Konkretisierungsgeschichte. Das von ihm ins Auge gefasste Wissen lässt sich phänomenologisch nicht als ein Wissen beschreiben, bei dem der jeweilige Wissensinhalt untrennbar mit seiner Genese und seiner medialen Objektivierung verwachsen ist. Da das Wissen, um das es dem frühen Wittgenstein geht, weder sprach- noch theoriegetränkt sein darf, fällt es ihm leicht, die Leiter als ein Sinnbild zu verstehen, das lediglich ein operatives Verfahren thematisiert und das keinen Einfluss auf das Verständnis des Inhalts hat, zu dem es Zugang verschafft. Deshalb lassen sich für Wittgenstein die Leitern von Erkenntnisprozessen nach ihrem Gebrauch auch problemlos entsorgen. Zum andern stellt sich bei Wittgensteins Leiterkonzept die Frage, wie sich das von ihm ins Auge gefasste Wissen überhaupt konkretisieren und objektivieren lässt. Kann es wirklich eine wissenschaftliche Protokollsprache geben,
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L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, § 6. 54, 19685, S. 115.
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bei der die Elemente der Sprache in einer direkten Abbildungsrelation zu den jeweilig ins Auge gefassten Elementen in der Welt stehen? Lässt sich die natürliche Sprache so reinigen, dass aus ihr alle Formen getilgt werden können, die keine Referenz in der faktischen Welt haben? Kann Wissen sprachunabhängig objektiviert und im Gedächtnis gespeichert werden? Gibt es Wissensformen, die so vertrauenswürdig sind, dass sich ihnen gegenüber jede empirische Erfahrungskontrolle erübrigt? Sind Wissensinhalte vorstellbar, zu denen wir weder Aufstiegsleitern noch Abstiegsleitern noch Transformationsverfahren brauchen? Wittgensteins Vorstellung von den wegwerfbaren Leitern in Erkenntnisprozessen ist sicher diskutierenswert. Natürlich ist es unmöglich, alle Wissensinhalte zusammen mit ihren jeweiligen Entstehungsbedingungen im Gedächtnis zu behalten. Wir haben offenbar so etwas wie ein abstraktes semantisches Gedächtnis, bei dem es keine große Rolle spielt, in welcher konkreten Einzelsprache bzw. in welchen konkreten Zeichenformen wir bestimmte Inhalte erworben haben. Ein Wissen, das wir ständig metareflexiv im Hinblick auf seine Genese und spezifische Geltung qualifizieren müssten, wäre für uns praktisch kaum noch handhabbar. Gleichwohl ist es aber höchst problematisch, wenn wir glaubten, den pragmatischen Stellenwert unseres Wissens ohne Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte wirklich beurteilen zu können. In Erkenntnisprozessen ist es wie im praktischen Leben höchst töricht, die Leitern, mit denen man eine bestimmte Handlungs- und Wahrnehmungsposition erreicht hat, anschließend einfach für überflüssig zu erklären. Dann würde man sich nämlich in die Gefangenschaft derjenigen Positionen begeben, die man mit Hilfe der jeweiligen Leitern erreicht hat. Das Wegwerfen einer benutzten Leiter hätte nur dann einen Sinn, wenn man die jeweils erreichte Position nie wieder verlassen möchte. Das wäre vergleichbar mit der Situation der meuternden Seeleute auf der Bounty, die ihr Schiff verbrannt haben, nachdem sie mit ihm die Insel der letzten Zuflucht erreicht hatten. Jede Rückkehr in die alte Welt hätte für sie als Meuterer nämlich am Galgen geendet. Viel lebensklüger wäre es, benutzte und bewährte Leitern zu behalten, zu pflegen oder umzubauen, um von unhaltbaren oder unfruchtbaren Denkpositionen oder Denkebenen auch wieder herunterkommen zu können. Das Wegwerfen von sprachlichen Aufstiegshilfen wie Metaphern oder Sinnbilder hätte nur dann einen Sinn, wenn man ganz sicher sein könnte, dass begriffliche Sprachverwendungsformen wirklich in jeder Hinsicht bessere Wissensobjektivierungen ermöglichten und nicht nur andere. Leitern bzw. Aufstiegshilfen sind in der Regel ja polyfunktionale Hilfen, die sich nicht nur für eine einzige Aufgabe nutzen lassen. Die Vorstellung von wegwerfbaren Sprachleitern hat Wittgenstein in seiner späten Philosophie auch selbst wieder verworfen. Sein Sprachspielkonzept lässt für seine ursprüngliche Sprachvorstellung wenig Raum, die ja mit einem ausgesprochen linearen Fortschrittsgedanken, wenn nicht mit einer positivistischen Fortschrittsideologie verbunden war.
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Das Bild der Leiter spielt auch bei dem sprachpragmatischen Denkansatz von Hayakawa eine wichtige Rolle, um ganz bestimmte Sprachfunktionen sinnbildlich zu thematisieren. Sein Konzept der sprachlichen Abstraktionsleiter dokumentiert allerdings, dass mit dem Aufstieg auf dieser Leiter keineswegs immer ein pragmatisch höheres bzw. wertvolleres Wissen erreicht wird, sondern eigentlich nur ein anderes, das je nach den spezifischen Erkenntnisund Mitteilungszielen entweder als Wissensgewinn oder auch als Wissensverlust qualifiziert werden kann. Hayakawas Vorstellung der sprachlichen Abstraktionsleiter ist durch den Grundgedanken geprägt, dass die Sprache durch die unterschiedliche Abstraktionshöhe ihrer jeweiligen Musterbildungen uns die große Chance bietet, in Wahrnehmungsprozessen dieselbe Reizkonfiguration auf ganz verschiedenen Abstraktionsebenen begrifflich zu objektivieren bzw. im Rahmen sehr unterschiedlicher Differenzierungsinteressen darauf Bezug zu nehmen. Die Spannweite reicht dabei von der Nutzung von Eigennamen für ganz konkrete individuelle Gegenstände bis zu abstrakten Begriffsnamen mit unterschiedlich großem Umfang. Beispielsweise könnten wir eine bestimmte Konstellation von Wahrnehmungsreizen sowohl mit dem Eigennamen Liesel benennen als auch mit Begriffsnamen unterschiedlicher Abstraktionshöhe wie etwa Kuh, Viehbestand, Betriebsinventar, Vermögen oder Reichtum.38 Durch die Wahl des jeweiligen Begriffsmusters in sprachlichen Objektivierungsprozessen legen wir immer von vornherein fest, hinsichtlich welcher Aspekte uns ein Wahrnehmungsphänomen interessieren soll und mit welchen anderen Phänomenen wir es in einer Gruppe zusammen sehen möchten. Wenn wir denselben Gegenstand als Liesel, als Kuh, als Wiederkäuer oder als Betriebskapital bezeichnen, dann haben wir faktisch immer schon entschieden, in welcher Denkperspektive wir es wahrnehmen wollen und in welcher nicht. Daraus ergibt sich, dass Begriffsmuster im Prinzip nicht dazu dienen, die Welt auf der Ebene der Sprache zu verdoppeln, sondern dazu, uns in unterschiedlichen Perspektiven Zugang zu ihr zu verschaffen. Die Idee einer rein abbildenden wissenschaftlichen Protokollsprache ist deshalb auch recht unrealistisch. Die Benennung eines Phänomens mit Begriffen, deren Abstraktionshöhe sich ständig steigert, ist keineswegs nur eine Gewinngeschichte, sondern immer auch eine Verlustgeschichte. Wenn wir ein Phänomen mit einem Eigennamen benennen, dann versuchen wir, es in seiner ganzen Individualität mit unübersehbar vielen Einzeleigenschaften ins Bewusstsein zu rufen. Dabei geraten wir dann allerdings auch immer in die Gefahr, in der Menge seiner jeweiligen Einzelcharakteristika zu ertrinken. Wir werden dann oft sogar unfähig, es kategorial einzuordnen bzw. es auch hinsichtlich seiner spezifischen
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S. I. Hayakawa, Sprache im Denken und Handeln, o. J., S. 187.
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Ähnlichkeiten zu anderen Phänomenen wahrzunehmen. Wenn wir für eine Kuh einen so abstrakten Klassifikationsbegriff wie Wiederkäuer oder Säugetier verwenden, dann gelingt uns die kategoriale Einordnung sicher recht gut. Aber dafür haben wir den Preis zu zahlen, dass das jeweilige Phänomen nur hinsichtlich ganz weniger Merkmale in unserer Bewusstsein tritt, die sich der direkten sinnlichen Wahrnehmung zudem auch noch ganz entziehen können. Pragmatisch gesehen wäre es höchst töricht, den Eigennamen Liesel oder den einfachen Begriffsnamen Kuh wegzuwerfen, wenn wir einmal die abstrakten Begriffsnahmen Wiederkäuer oder Säugetier entwickelt haben. Keine sprachliche Objektivierungsform ist einer anderen prinzipiell überlegen, sondern allenfalls hinsichtlich ganz spezifischer Differenzierungs- und Mitteilungsbedürfnisse. Der Aufstieg auf der sprachlichen Abstraktionsleiter kann sowohl zu einer spezifischen Wahrnehmungskonzentration führen als auch zu einem spezifischen Realitätsverlust. Nur wenn wir die Leiter als Sinnbild für Sprache so verstehen, dass wir auf dieser je nach unseren aktuellen Bedürfnissen auf- und absteigen können, wird es pragmatisch sinnvoll und aufschlussreich. Dann verdeutlicht es nämlich, dass wir in Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen pragmatisch immer sowohl eine abstraktive Distanz als auch eine konkrete Nähe zu unseren jeweiligen Wahrnehmungsgegenständen brauchen.
Die Sprache als Schiff Die gängigen Redensarten des üblichen Sprachgebrauchs legen nicht sehr nahe, das Schiff als Sinnbild für die Sprache zu verstehen. In solchen wird das Schiff eher als ein Sinnbild für den Staat verstanden, der durch einen kundigen Steuermann gelenkt werden muss. Allenfalls können Schiff und Sprache über den Begriff der Steuermannskunst in eine gewisse Ähnlichkeitsrelation zueinander gebracht werden. Wie ein Schiff durch einen erfahrenen Steuermann geführt werden muss, so muss auch die Sprache auf kundige Weise in Dienst genommen werden, worauf ja insbesondere die Rhetorik immer wieder verwiesen hat. In diesem Zusammenhang ist dann auch interessant, dass der 1948 von Norbert Wiener geprägte Begriff Kybernetik direkt auf die griechische Bezeichnung für die Steuermannskunst (kybernetike techne) Bezug nimmt. Auf einer eher indirekten Ebene gibt es nun allerdings eine Reihe von aufschlussreichen Analogiebeziehungen zwischen Schiff und Sprache. Das beginnt damit, dass das Schiff als ein Transportmittel für Güter und die Sprache als ein Transportmittel für Informationen verstanden werden kann. Allerdings hat diese Analogie auch ihre Tücken. In ihr erscheint die Sprache nämlich als Transportmittel für Inhalte, die eine von der Sprache unabhängige Existenz haben und die von dieser nicht mitgeformt oder mitbedingt werden. Die Sprache wird so gesehen als eine Summe von Konventionen thematisiert bzw. als
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ein Kode, der zur Übermittlung von Informationen dient, die als zu transportierende Inhalte bzw. Waren vorab immer schon bereit zu liegen scheinen. Dieses Denkmodell hat für die Nutzung von formalisierten Fachsprachen sicher eine gewisse Plausibilität und Berechtigung. Es stößt aber im Hinblick auf die natürliche Sprache sehr deutlich an seine Grenzen. Während sich beim Gebrauch von formalisierten Sprachen die Frage nach dem Anteil der Sprache an der Konstitution und Strukturierung von Vorstellungsinhalten aus guten Gründen methodisch ausgrenzen bzw. in das Vorfeld des konkreten Sprachgebrauchs verlagern lässt, kann sie bei der Nutzung der natürlichen Sprache nicht so einfach eliminiert werden. Wenn man das nämlich täte, dann würde man der Leistung der Sprache nicht mehr gerecht werden, sowohl einen Beitrag zur Zirkulationen als auch zur Konstitution von Vorstellungen zu leisten. Gleichwohl lässt sich aber auch dem Sinnbild des Schiffes eine heuristische Aufklärungskraft für die Struktur- und Funktionsanalyse der natürlichen Sprache zuschreiben. Das wird offenbar, wenn wir danach fragen, welche Kräfte und Faktoren ein Schiff bzw. eine Sprache überhaupt in eine zielgerichtete Bewegung bringen und auf Kurs halten können. Bei einem Segelschiff lässt sich in diesem Zusammenhang vorerst auf den Wind als eine äußere Kraftquelle verweisen und bei einem Motorschiff auf den Motor als eine innere Kraftquelle, obwohl dieser letztlich auch nur eine äußerlich zugeführte Energieform in eine andere umwandelt. Wie steht es nun aber mit den Kräften, welche eine Sprache nicht nur als Transportmittel für Informationsinhalte, sondern auch als Gestaltungsmittel für Vorstellungsinhalte in Bewegung und auf Kurs halten können? Inwieweit müssen wir hier auf sprachexterne Faktoren Bezug nehmen oder auf sprachinterne? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang das Denkpotenzial der jeweiligen Sprachverwender und die innere Form einer Sprache? Ein Ansatz für die Beantwortung dieser Fragen ergibt sich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf dass Problem richten, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Steuermann in der Lage ist, mit einem Segelschiff auch gegen den Wind anzusegeln bzw. gegen die vorgegebene Wirkungsrichtung seiner eigenen Energiequelle. Ganz ähnlich könnte man die Frage stellen, wodurch ein Sprecher befähigt wird, die tradierten Sprachformen, die ja auch immer ganz bestimmte Sinnbildungsrichtungen implizieren, so zu verwenden, dass es möglich wird, Sinngestalten zu erzeugen bzw. Sinnbildungswege zu entwickeln, die nicht durch das verwendete Sprachmaterial im Prinzip immer schon vorgegeben sind. Wie kann ein Sprecher die sozial genormten Muster einer Sprache so verwenden, dass er mit ihnen beispielsweise auch gegen die Sinnbildungsrichtungen anreden kann, die traditionell und immanent jeweils immer schon mit ihnen verbunden sind? Ein Segler kann gegen den vorgegebenen Wind ansegeln, wenn er ein bauchig geschnittenes Segel hat, durch welches der Wind auf das Segel nicht nur eine Druckkraft, sondern auch eine Sogkraft entfalten kann, und wenn sein
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Schiff in Gestalt von Kiel und Steuerruder Vorrichtungen besitzt, durch die sich eine seitliche Abdrift verhindern lässt. In vergleichbarer Weise kann ein Sprecher gegen die immanente Intentionalität der verwendeten Sprachmittel ansprechen, wenn er fähig ist, diese in einer Weise zu verwenden, dass sie nicht nur zu tradierten und konventionalisierten Sinnbildungen dienlich sind, sondern auch zu davon abweichenden. Der metaphorische und der ironische Sprachgebrauch exemplifizieren diese Verwendungsweise von Sprache sehr klar. Hier macht der Sprecher nämlich auf eine Weise von der Sprache Gebrauch, die der Fähigkeit des Seglers entspricht, mit dem Wind gegen den Wind anzusegeln, bzw. der Fähigkeit des Judokas, den Gegner durch dessen eigene Kraft zu Fall zu bringen. Das Inventar der Hilfsmittel und Fertigkeiten, die dazu dienlich sind, die Sprache in Sinnbildungsprozessen gegen die traditionellen Intentionsrichtungen der jeweils verwendeten Einzelformen zu nutzen, ist natürlich sehr viel größer und unübersichtlicher als das Inventar, das der Segler benötigt, um gegen den Wind anzukreuzen. So übersichtliche Mittel wie Segelform, Kiel, Steuerruder und die Fertigkeit, diese Gegebenheiten aufeinander abgestimmt zu verwenden, gibt es hier nicht. Gleichwohl lässt sich stichwortartig ein Inventar von Mitteln und Fertigkeiten benennen, deren abgestimmte Nutzung kraft menschlicher Sprachkompetenz bzw. Sinnbildungsfähigkeit einen entsprechenden Erfolg bringen kann. Diesbezüglich wäre beispielsweise an das geordnete Zusammenspiel folgender Mittel und Faktoren zu denken: sachthematische und reflexionsthematische Begriffsbildungen, lexikalische und grammatische Zeichen, Modalisierungssignale, Begriffe und Bilder, Sprachwissen und Weltwissen, empathetische Einstellung des Sprechers auf seine potenziellen Hörer, Berücksichtigung situativer Rahmenbedingungen, Kennzeichnung von spezifischen Denk- und Handlungsintentionen usw. Mit Hilfe des Bildspenders Schiff lässt sich außerdem noch ein anderer Aspekt der Sprache versinnbildlichen, der gerade für die Erfassung der Regenerationsmöglichkeiten und der Vitalität der natürlichen Sprache von großer Bedeutung ist. Wenn die natürliche Sprache sich nämlich ständig neuen Bedürfnissen anzupassen hat und sich deshalb auch ständig wandeln muss, um funktionsfähig bleiben zu können, dann stellt sich natürlich die Frage, ob man ihr überhaupt eine gleichbleibende Identität zusprechen kann, die mit der Identität materieller Gegenstände, zu denen ja im Prinzip auch ein Schiff gehört, vergleichbar ist. Diese Frage betrifft natürlich nicht nur die Sprache, sondern alle gesellschaftlichen Institutionen wie beispielsweise den Staat, das Gerichtswesen oder die Universitäten. Behalten all diese Institutionen ihre Identität, obwohl deren Repräsentanten ständig ausgetauscht werden und obwohl sich deren Organisationsstrukturen und Erscheinungsformen ständig ändern? In vergleichbarer Weise könnte man sogar fragen, ob ein Mensch, der immer mit demselben Namen benannt wird, wirklich immer derselbe ist, obwohl sich seine Zellen doch ständig erneuern und seine Erfahrungen sowie Hand-
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Die Sprache als Werkzeug
lungspotenziale sich im Laufe seines Lebens erheblich verändern. Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, kommt man nicht weiter, wenn man das Identitätsproblem im Rahmen des Substanzgedankens zu verstehen versucht und nicht in dem des Funktionsgedankens. Letzterer bietet viel größere Chancen, die Identitätsidee aus der Erfüllung von Aufgaben abzuleiten und dadurch auch als ein Phänomen zu verstehen, das durch Dauer im Wechsel geprägt sein kann. In dem einleitenden Kapitel über die Sprache als Medium wurde im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität komplexer Phänomene im Verlaufe der Zeit schon auf den antiken Mythos über das Schiff des Theseus aufmerksam gemacht. Auch bei diesem stellte sich ja das Problem, in welchem Sinne es seine Identität behalten hat, obwohl es in späteren Zeiten materiell aus ganz anderen Teilen bestand als in anfänglichen. Diese Frage, die ein zentrales Strukturproblem aller historisch wandelbaren Phänomene betrifft, soll hier wieder aufgenommen werden und mit Neuraths Überlegungen zur Möglichkeit der Ausbildung einer exakten Wissenschaftssprache fortgeführt werden, in denen das Sinnbild des Schiffes eine ganz zentrale Rolle spielt Im Kontext neopositivistischer Bestrebungen hatte es beim frühen Wittgenstein und Carnap große Anstrengungen gegeben, den schon von Leibniz entwickelten Gedanken einer exakten Wissenschaftssprache wiederzubeleben. Diese Anstrengungen konzentrierten sich vor allem darauf, die Sprache von allen Wörtern zu reinigen, die keine empirisch legitimierbaren Begriffsbildungen repräsentierten. Auf diese Weise sollte die Sprache von allen metaphysischen bzw. ideologischen Bestandteilen befreit werden, die ihren wissenschaftlichen Gebrauch beeinträchtigten. Dieses Programm konkretisierte sich in der Vorstellung, dass es möglich sein müsste, eine Sprache zu entwickeln, in der sich sogenannte Protokollsätze formulieren ließen, durch die die gegebene Welt in ihrer realen Tatsächlichkeit direkt repräsentiert werden könnte.39 Gegen die Realisierbarkeit und den Sinn eines solchen Programms hat Neurath erhebliche Einwände erhoben und dabei das Schiff als erläuterndes Sinnbild ins Spiel gebracht. Er bezweifelt grundsätzlich die Möglichkeit der Bildung von wissenschaftlichen Protokoll- bzw. Atomsätzen, aus denen sich dann konsistente wissenschaftliche Theorien konstruieren ließen. Ein solches Vorhaben sei selbst schon ideologischer oder metaphysischer Natur bzw. eine nicht realisierbare Fiktion. Es gebe keinen archimedischen Punkt außerhalb der Sprache, von dem aus man eine exakte weltabbildende Wissenschaftssprache konstruieren könne.
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Vgl. R. Carnap, Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft, Erkenntnis 2, 1931, S. 432–465. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2, 1931, S. 219–241.
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„Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ 40
Das von Neurath entwickelte Bild von den Rahmenbedingungen des Sprachgebrauchs und der Sprachkonstruktion ist in mindestens zwei Hinsichten aufschlussreich. Zum einen führt es uns nachdrücklich vor Augen, dass unsere Anstrengungen, die Sprache zu erneuern oder gar neu zu konzipieren durch eine doppelte Zirkelproblematik geprägt werden. Einerseits müssen wir dabei nämlich immer auf schon vorhandene Materialien mit eigener Charakteristik zurückgreifen, und andererseits müssen wir Sprache immer im Prozess ihres faktischen Gebrauchs erneuern. Dieses Schicksal teilt die Sprache freilich auch mit der Erneuerung von staatlichen Ordnungsstrukturen, die ja auch immer während ihres Gebrauchs erneuert und verändert werden müssen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass alle Prozesse der Spracherneuerung sehr schnell an ihre Grenze geraten, wenn sie auf dem Glauben beruhen, dass man sich dabei auf ein rein lineares Kausaldenken verlassen kann. Stattdessen werden wir uns diesbezüglich immer mit evolutionär orientierten Aktivitäten zufrieden geben müssen, die nur im Detail Verbesserungen erreichen können. Zum andern führt uns Neuraths Denkbild vor Augen, dass sich die Einzelbestandteile der natürlichen Sprache im Prinzip immer abnutzen, aber dass sich ihre Funktionalität insgesamt durchaus erhalten kann, selbst wenn man funktionsunfähige Einzelteile ständig erneuert. Daraus ergibt sich, dass die natürliche Sprache insgesamt ihre funktionale Identität behalten kann, obwohl sie in ihren materiellen Teilbestandteilen laufend erneuert und verändert wird. Allerdings darf nun auch nicht übersehen werden, dass Neuraths Analogisierung von Schiffserneuerung und Spracherneuerung durchaus ihre Grenzen hat. Neuraths Schiff lässt sich während der Fahrt auf hoher See nur mit den Materialien erneuern, die bereits an Bord sind oder an Bord entsprechend umgearbeitet werden können. Wenn ein Schiff ausfährt, dann muss immer schon eine entsprechende Materialvorsorge getroffen worden sein. Demgegenüber stellen sich die Umbaumöglichkeiten bei der natürlichen Sprache etwas anders dar. Hier können wir bei Bedarf nicht nur auf schon vorhandene oder leicht umformbare Materialien zurückgreifen, sondern zusätzlich auch auf neu gebildete Materialien bzw. Sprachformen auf der lexikalischen, grammatischen und textuellen Ebene. Das hat zwar immer behutsam und in evolutionärer Anknüpfung an die schon vorhandenen Materialien zu geschehen, aber die Möglichkeiten des Sprachzimmermanns sind sicherlich erheblich größer als die des Schiffszimmermanns.
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O. Neurath, Protokollsätze, Erkenntnis 3, 1932/33, S. 206.
III
Die Sprache als Kleid
Viele Redewendungen belegen, dass es dem alltäglichen Denken recht nahe liegt, die Sprache sinnbildlich als Kleid zu betrachten. Das gilt insbesondere dann, wenn wir unseren Begriff des Kleides auf alle Umhüllungs- und Verhüllungsformen ausdehnen, die etwas anderes schmücken, bedecken, verbergen oder schützen wie etwa Festgewänder, Mäntel, Schleier oder Masken (Gedanken in Worte kleiden, Mantel des Schweigens, unverschleierte Mitteilungen, sprachliche Maskeraden, Worthülsen usw.). Kleidervorstellungen können außerdem aktiviert werden, wenn wir Adjektive oder Verben, die üblicherweise auf Kleider Bezug nehmen, auf sprachliche Phänomene beziehen (unpassende Formulierung, armselige Sprache, nackte Wahrheit, sprachliche Fehler ausbügeln, Ausdrucksweisen glätten usw.). Angesichts dieser alltäglichen Parallelisierungen von Kleider- und Sprachvorstellungen stellt sich nicht nur die aktuelle Frage, welche speziellen Aspekte von Sprache durch den Bildspender Kleid in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden, sondern auch noch die viel grundsätzlichere anthropologische Frage, ob Kleider ähnlich wie Werkzeuge dazu beitragen, die kulturelle Existenzweise des Menschen zu befördern und zu sichern. Wenn nämlich Kleider nicht nur eine rein praktische Relevanz als Schutzhüllen gegen Witterungseinflüsse haben, sondern darüber hinaus auch eine anthropologische Relevanz als kulturelle Gestaltungsformen, dann bekommen Kleider als Bildspender für Sprache natürlich eine ganz besondere Bedeutsamkeit. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, vorab einige grundsätzliche anthropologische Überlegungen zur Funktion von Kleidern anzustellen, bevor man sich näher mit konkreten Analogien zwischen Kleidern und Sprache beschäftigt. Wenn man nämlich Kleidern auch eine anthropologische Funktion zubilligt, dann wird man durchaus von einer Sprache der Kleider sprechen können, die sowohl strukturell als auch historisch verstanden werden muss und die uns kraft Analogie auf Aspekte der Verbalsprache aufmerksam machen kann, die wir ansonsten nicht so deutlich in den Blick bekommen können.
1. Das Kleid als Kulturphänomen Auf den ersten Blick nehmen wir Kleider meist nicht als anthropologisch bedeutsame Kulturphänomene wahr, weil wir sie primär als physische Schutzhül-
Das Kleid als Kulturphänomen
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len verstehen und weil sie so in unsere alltägliche Lebenspraxis integriert sind, dass wir sie normalerweise nicht als eine eigenständige Welt von Zeichen wahrnehmen. Es bedarf deshalb bestimmter methodischer Anstrengungen und perspektivierender Fragen, um Kleider als Kulturphänomene zu sehen und zu interpretieren. Insbesondere ist es wichtig, bestimmte phänomenologische Überlegungen zur Dialektik von Kleid und bekleidetem Körper anzustellen, da diese uns helfen können, auch die Dialektik von Sprache und Welt besser verstehen zu können. Dabei kann sich dann herausstellen, dass das Verständnis von Kleiderstruktur und Kleiderverwendung im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlich ausgefallen ist und dass sich aus den diesbezüglichen Kenntnissen auch ein sensibleres kulturhistorisches Verständnis von Sprachstruktur und Sprachverwendung ableiten lässt.
Phänomenologische Überlegungen zu Oberflächen und Hüllen Die Kleidung ist oft als zweite Haut des Menschen bezeichnet worden. Diese Kennzeichnung provoziert natürlich die grundsätzliche Frage nach der Relation zwischen einem Körper und seiner Haut bzw. zwischen einem Körper und seiner sichtbaren Oberfläche. Nach welchen Kriterien lässt sich die Oberfläche eines Körpers von dem jeweiligen Körper selbst unterscheiden und als eigenständiges Phänomen mit einer konstitutiven oder einer schützenden bzw. ornamentalen Funktion beschreiben? Gibt es einen Körper als eigenständige Substanz, die sich wahlweise mit unterschiedlichen Akzidenzien als Oberflächen versehen lässt? Wird ein Körper ein anderer Körper, wenn er mit einer anderen Oberfläche bzw. mit einer anderen Einhüllung in Erscheinung tritt? Derartige Fragen lassen sich leichter stellen und alternativ zuspitzen als beantworten oder hinsichtlich ihrer Sinndimensionen verstehen. Wenn wir natürlich gegebene physische Körper wie etwa Steine ins Auge fassen, dann sind wir geneigt, ihre jeweilige Oberfläche als konstitutiven Teil ihrer selbst anzusehen, weil es zu unserer Grundvorstellung von solchen Dingen gehört, dass sie eine Ausdehnung, eine Gewicht und eine Oberfläche haben, die zugleich auch ihre Abgrenzung nach außen markiert. Schwieriger wird es schon, wenn wir physische Körper wie etwa Baumstämme betrachten, wo wir Stamm und Rinde deutlich unterscheiden können und wo sich die jeweilige Baumart oft leichter über die Rinde als über das Stammholz bestimmen lässt. Noch schwieriger wird es, wenn wir Körper ins Kalkül ziehen, deren Oberfläche vom Menschen künstlich poliert, aufgeraut oder gestrichen worden ist. Bei diesen wird es schwer, die artifiziell hergestellte Oberfläche als genuinen Teil des Körpers anzusehen, weil hier die Intentionen von Subjekten ins Spiel kommen, einen Körper in bestimmter Weise für Menschen als geprägte Gestalt wahrnehmbar oder verwendbar zu machen.
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Die Sprache als Kleid
Aus diesen Tatbeständen lässt sich der Schluss ziehen, dass gestaltete Oberflächen bzw. artifizielle Hüllen wie etwa Kleider nicht nur als natürliche Außengrenzen der jeweiligen Körper anzusehen sind, sondern durchaus auch als gestaltete bzw. als perspektivierte Zugangsweisen zu ihnen. Während eine natürliche Oberfläche nur die Grenze des jeweiligen Körpers zu seiner Umgebung ausmacht und damit gleichsam zu seiner physischen Identität beiträgt, signalisiert die gestaltete Oberfläche bzw. die angelegte Hülle, dass der jeweilige Gegenstand von den Betrachtern in einer ganz bestimmten Funktion bzw. in einer ganz bestimmten kategorialen Interpretation wahrgenommen werden soll. Die Spannweite dieser kulturellen Akzentuierungsmöglichkeiten ist groß. Sie reicht von der Hervorhebung bestimmter Eigenschaften von Gegenständen bis zur Verhüllung von Eigenschaften, um eben dadurch ein Neugierverhalten zu erzeugen. Wie eng Oberfläche und Gegenstand konstitutiv auf einander bezogen sein können, exemplifiziert bei Lebewesen das Verhältnis eines Körpers zu seiner Haut, seinem Fell oder seinem Schuppenkleid. Ohne diese evolutionär entwickelten Einhüllungen könnten die jeweiligen Lebewesen gar nicht existieren, da solche Hüllen den jeweiligen Körper nicht nur nach außen abgrenzen, sondern ihn auch vor gefährlichen Einflüssen von außen schützen. Das bedeutet, dass die Existenzweise der jeweiligen Lebewesen in einem erheblichen Maße dadurch bestimmt wird, wie sie eingehüllt sind, sich einhüllen können oder sich von ihrer Umwelt abgrenzen. Körper und Außenhaut lassen sich deshalb oft nur theoretisch, aber nicht faktisch voneinander trennen. Wenn wir nun das Kleid als eine zweite Haut des Menschen ansehen, durch die er zu einem kulturellen Lebewesen gemacht wird, dann ergibt sich kraft Analogie auch eine interessante sprachtheoretische Fragestellung. Sind sprachliche Benennungen so etwas wie eine zweite Haut für die Dinge, durch die diese dann so etwas wie eine anthropologische Relevanz bzw. eine kulturelle Identität für uns bekommen? Zwar existieren die Dinge faktisch natürlich auch vor und ohne ihren sprachlichen Benennungen, aber sie existieren dann nicht als von uns verstandene Dinge bzw. nicht als Dinge, die wir in unsere Erfahrungswelt eingeordnet und eben dadurch zu Bestandteilen unserer Lebenswelt gemacht haben. Der Hunger von Menschen und insbesondere von Kindern nach Namen ist so gesehen dann immer auch ein Hunger nach kulturellen Kleidern für die jeweiligen Phänomene bzw. ein Hunger nach einer verstandenen oder zumindest dialogfähigen Welt. Ein interessantes Übergangsphänomen zwischen den natürlichen und den artifiziellen Hüllen von Lebewesen ist das Federkleid von Vögeln. Vögel haben wie Menschen eine natürliche Haut, aber diese ist für die Existenzweise von Vögeln nicht so bezeichnend wie ihr Federkleid als ihre zweite natürliche Haut. Dieses Kleid hat für Vögel nicht nur die ganz praktische Funktion, sie vor Kälte zu schützen und ihnen das Fliegen zu ermöglichen, sondern darüber hinaus auch noch die Funktionsmöglichkeit über seine Buntheit die Aufmerk-
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samkeit von Artgenossen zu erregen. Das bedeutet, dass diese zweite Haut einen Vogel nicht nur als solchen definiert, sondern darüber hinaus auch noch in seiner Funktionsrolle als möglichen Geschlechtspartner kennzeichnen kann. Dieses Exempel zeigt, dass sich Umhüllungen bzw. Kleider eigentlich nicht auf eine einzige Funktion reduzieren lassen, sondern in der Regel zugleich mehrere Funktionen erfüllen können bzw. ihr Funktionsspektrum evolutionär auszuweiten vermögen. Das dokumentiert sich beispielsweise auch darin, dass die Augen sich evolutionär aus lichtempfindlichen Hautzellen entwickelt haben. Die biologischen Funktionen von Umhüllungen können im Prinzip immer in soziale und kulturelle übergehen, wenn ihnen zusätzliche Schutz-, Tarn-, Handlungs- und Selbstdarstellungsaufgaben zuwachsen. Wenn wir Kleider als zweite Haut des Menschen verstehen, dann stellt sich natürlich auch die Frage, inwieweit diese artifiziellen Umhüllungen das Funktionsspektrum der natürlichen Umhüllungen präzisieren, ergänzen und ausweiten. Der Ikarus-Mythos exemplifiziert diese Problematik sehr einprägsam, insofern das artifizielle Federkleid dem Ikarus nicht nur ganz neue Handlungsmöglichkeiten erschließt, sondern ihn zugleich auch mit ganz neuen Gefahren konfrontiert. Insgesamt ergibt sich in diesem Zusammenhang dann die grundsätzliche Frage, ob bzw. wie die Kultur das evolutionäre Differenzierungsprogramm der Natur fortsetzt. Wenn das so ist, dann ließen sich auch die sprachlichen Benennungen im gewissen Sinne als evolutionär entwickelte Einhüllungsformen verstehen, die etwas einkleiden und hervorheben, aber auch verkleiden und gefährden können.
Der kulturelle Status von Kleidern Wenn wir diese phänomenologischen Überlegungen zum Problem von Oberflächen bzw. zum Problem der Einhüllungen von Körpern kulturgeschichtlich fortsetzen, dann lässt sich mit guten Gründen die These rechtfertigen, dass neben dem Sprach- und Werkzeuggebrauch auch der Kleidergebrauch zu den elementaren Merkmalen der kulturellen Existenzweise des Menschen gehört. Das gestattet es dann auch, das Kleid als ein genuines Sinnbild für Sprache zu verstehen, weil beide Phänomene entwicklungsgeschichtlich und pragmatisch eng zusammengehören. Diese innere Verwandtschaft offenbart sich insbesondere dann, wenn wir beide Phänomene mit Hilfe der Stichwörter Freiheit und Zwang etwas näher ins Auge fassen. Einerseits illustriert der Gebrauch von Kleidern, dass die Menschen aus dem instinktgesicherten Orden der Tiere ausgetreten sind, insofern sie sich eine zweite Haut zugelegt haben, durch die sich ihre Lebensräume und ihre Lebensmöglichkeiten ganz beträchtlich erweitert haben. Kleider ermöglichen es außerdem, den menschlichen Körper nicht nur als einen physischen, sondern auch als einen sozialen Körper wahrzunehmen. Dadurch werden Kleider
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dann zu Zeugnissen menschlicher Freiheit und Gestaltungskraft. Die ursprüngliche Schutzfunktion von Kleidern wird auf diese Weise mit einer Strukturierungs- und Repräsentationsfunktion angereichert. Andererseits ist der Gebrauch von Kleidern aber nicht nur mit neuen Freiheiten und Lebensmöglichkeiten verbunden, sondern in Form von Kleiderordnungen auch mit neuen Zwängen. Über Kleider können gesellschaftliche Rollenfunktionen zugewiesen werden, was Uniformen, Statuskleider und Modekleider deutlich zeigen. Diese Funktionen von Kleidern müssen allerdings nicht immer als Zumutungen verstanden werden, sondern können auch als Hilfen empfunden werden, die die Orientierungen in der sozialen Welt erleichtern und Gruppenbildungen ermöglichen. Die Ambivalenz von Kleidern besteht dabei darin, dass die Menschen diese nicht nur ihren jeweiligen Bedürfnissen anpassen können, sondern dass sie sich umgekehrt selbst auch den mit bestimmten Kleidern verbundenen Erwartungen anzupassen haben. Auf diese Weise kann die kulturelle Institution Kleidung ein Eigenleben entwickeln, das die jeweils Betroffenen zu inspirieren, aber auch zu reglementieren vermag. Die verschiedenen Erscheinungsformen von Kleidern lassen sich zwischen zwei Extremformen ansiedeln. Einerseits gibt es Kleider, die als nicht zugeschnittene Stoffbahnen dem menschlichen Körper relativ frei angelegt werden können, wofür die römische Toga oder der indische Sari als prototypisch anzusehen sind. Andererseits gibt es Kleider, die genau auf den zu bekleidenden Körper zugeschnitten sind und in welche die jeweiligen Menschen dann auch hineinschlüpfen können oder sich sogar hineinzwängen müssen, was Anzüge, Uniformen oder Ritterrüstungen prototypisch exemplifizieren. Bei unzugeschnittenen Kleidern behält der bekleidete Körper immer eine natürliche Dominanz gegenüber all seinen Einhüllungen. Bei zugeschnittenen Kleidern besteht dagegen die Gefahr, dass diese eine gewisse Dominanz über den jeweils bekleideten Körper bekommen, weil sie ganz bestimmte Einzelaspekte des Körpers hervorheben oder dessen Bewegungsmöglichkeiten spezifisch einschränken. Solche Kleider können durchaus zu einem Körper passen, aber sie tun das natürlich immer nur in ganz bestimmten Hinsichten. Während bei unzugeschnittenen Kleidern der Körper als eigenständige Substanz und möglicher Träger von unterschiedlichen Akzidenzien kaum in Frage gestellt wird, kann bei zugeschnittenen Kleidern der Körper sehr viel leichter zu einer Funktion des jeweils getragenen Kleides werden. Außerdem legen zugeschnittene Kleider natürlich auch fest, hinsichtlich welcher Aspekte ein Körper in Erscheinung treten kann bzw. soll und hinsichtlich welcher nicht. Diese idealtypische Kontrastierung von zwei unterschiedlichen Kleiderformen legt es nahe, eine ähnliche Opposition auch zwischen relativ unzugeschnittenen und spezifisch zugeschnittenen Sprachformen als denkbar anzusehen. Während beim Gebrauch der natürlichen Sprache die Dominanz der jeweils benannten oder thematisierten Dinge eigentlich nicht in Frage gestellt wird, besteht beim Gebrauch von formalisierten Fachsprachen zumindest die
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Gefahr, dass die Dinge für die Rezipienten nur noch so in Erscheinung treten, wie die jeweiligen Begriffsbildungen bzw. Sprachformen es vorsehen. Das heißt nicht, dass die fachsprachlichen Benennungen uns nichts Zutreffendes über das Benannte offenbaren, sondern nur, dass sie uns das Benannte nur so sichtbar machen, wie es die jeweiligen sprachlichen Einhüllungsformen konventionell vorsehen, und dass sich die jeweiligen sprachlichen Objektivierungsformen ungern auf das einstellen bzw. sich von dem korrigieren lassen, was sie jeweils thematisieren. Deshalb haben dann auch Fachtermini immer eine gewisse Tendenz, das von ihnen Repräsentierte zu einem Uniformträger zu machen, dessen Charakteristika und Rollenfunktionen schon vorab festgelegt worden sind. Bei der Analogisierung von Kleiderformen und Sprachformen ist kulturhistorisch allerdings zu beachten, dass Kleider nicht nur dazu beitragen, ihre jeweiligen Träger zu uniformieren, sondern auch dazu, ihnen eine bestimmte soziale Identität zu geben, was sich im Prinzip keineswegs ausschließt. Dabei ist kulturgeschichtlich allerdings zu berücksichtigen, dass der Begriff der Identität nicht nur in einem individuellen Sinne verstanden werden kann, sondern auch in einem sozialen. Insbesondere in traditionsgeprägten Gesellschaften sind Kleider immer wichtige Mittel gewesen, um soziale Identitäten auszubilden und zu sichern. Das dokumentieren Standes-, Berufs- und Gruppenkleidungen bzw. regionale Trachten sehr klar. Hier signalisieren Kleider deutlich, wie sich die jeweiligen Kleiderträger sozial einordnen können und dass sich ein personales Selbstverständnis auch durch die Übernahme von bestimmten sozialen Rollen bzw. durch bestimmte Rollenflexibilitäten ausbilden kann. Wenn wir Kleider in dieser Weise als ikonische, indexikalische und konventionelle Zeichen verstehen, die zu sozialen Differenzierungs- und Integrationsprozessen beitragen, dann werden Funktionsanalogien zwischen Kleiderund Sprachformen ganz offensichtlich. Der stilistische Zuschnitt von Kleidern und Sprache veranschaulicht, wie man das jeweils Bekleidete und Benannte sieht bzw. zu Erscheinung bringen möchte. Die Ausbildung und die Wahl von Formen zeigt an, welche Sachaspekte man jeweils hervorheben will und welche nicht. Uniformierungstendenzen in der Kleidung und Jargontendenzen in der Sprache signalisieren, welchen Gruppen man sich zugehörig fühlt und von welchen man sich abgrenzen möchte. Berufe bilden Kleider- und Sprachformen aus, die für ihre jeweiligen Bedürfnisse sinnvoll sind, aber für andere Funktionszusammenhänge keineswegs sinnvoll sein müssen. Kultur- und sprachgeschichtlich ist in diesem Zusammenhang auch das Wort Person interessant, das etymologisch auf das lat. Verb personare (durchtönen) zurückgeht. Das erklärt sich dadurch, dass in der Antike die Schauspieler hinter einer Maske gesprochen haben, die gleichsam den faktisch auftretenden Menschen ähnlich wie ein Kleid verhüllen sollte, damit dieser besser als eine typisierte Gestalt (König, Priester, Krieger usw.) in einer ganz bestimmten Rollenfunktion wahrgenommen werden konnte. Dadurch ließ sich dann auch
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gut verdeutlichen, dass Menschen nicht nur in individuelle psychologisch beschreibbare Konflikte verstrickt sein konnten, sondern auch in überindividuelle soziale Rollenkonflikte. Die Maske ist so gesehen dann weniger eine tarnende Verhüllung, sondern eher eine Hilfe, Menschen typologisch wahrzunehmen und die Aufmerksamkeit auch auf die überindividuellen bzw. exemplarischen Aspekte von Konflikten zu konzentrieren. Die Maske verhüllt den faktisch auftretenden Menschen, damit die von ihm gespielte Rolle deutlicher fassbar werden kann. Der Maskenträger wird dadurch allerdings auch immer als eine Gestalt gekennzeichnet, die die Welt nur durch die Öffnungen seiner Maske wahrnehmen bzw. sprachlich beeinflussen kann. Wenn die Maske abgenommen wird, dann verliert diese ihre pragmatische Funktion, Medium der Sinnbildung zu sein, und wird ein Gegenstand unter anderen Gegenständen. Eine ähnliche Situation haben wir, wenn wir die Sprache nicht kognitiv und kommunikativ nutzen, sondern zum Gegenstand von theoretischen Betrachtungen oder grammatischen Analysen machen. Masken haben so gesehen zwar die Funktion, etwas abzudecken, aber nicht unbedingt die, etwas zu verstecken. Dafür sind dann eher Larven zuständig.
Kleidung und Scham Die kulturhistorisch Einsicht, dass Kleider nie allein mit Schutzfunktionen in Verbindung zu bringen sind, sondern immer auch mit sozialen Differenzierungs- und Integrationsfunktionen bzw. mit kulturellen Gestaltungsfunktionen, berechtigt dazu, nach den anthropologischen Funktionen der Kleidung zu fragen, wofür das Stichwort Scham eine ganz besonders fruchtbare Denkperspektive eröffnet. Die Frage nach den anthropologischen Implikationen der Kleidungsproblematik im Kontext der Schamproblematik kann uns nämlich auf Analogien von Kleidung und Sprache aufmerksam machen, die meist nicht unmittelbar ins Auge fallen, die aber dennoch keineswegs unwichtig sind. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die schon erwähnte Geschichte der ersten Menschen im Garten Eden. Als Adam und Eva die Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, bestand ihre erste intellektuelle Einsicht darin, dass sie nackt waren und dass sie sich dessen schämten. Diese Scham motivierte sie dazu, sich Schurze aus Feigenblättern zu machen, weil sie offenbar ihre biologisch unterschiedliche Körperlichkeit nicht nur als verhüllungsbedürftig ansahen, sondern auch als kulturell gestaltungsbedürftig. Die Herstellung und Nutzung von Kleidern signalisiert, dass beide in eine neue Existenzweise übergetreten sind, in der Sein und Sollen im Prinzip auseinanderfallen können und in der deshalb das
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Sein einen Postulatscharakter bekommt und infolgedessen als ein zu gestaltendes bzw. zu interpretierendes Sein zu verstehen ist.1 Diese Wahrnehmungsweise von Welt ist Tieren sicherlich ganz fremd. Sie ist wohl auch nur mit Hilfe der Sprache möglich, die dafür unterschiedliche Ordnungskonzepte bereitzustellen hat. Insofern lässt sich deshalb auch die Entwicklung und Nutzung von Kleidern und Sprache in anthropologischer Hinsicht sehr gut parallelisieren. Wenn man nun die Kleiderproblematik in dieser Perspektive wahrnimmt, so ist es auch nicht überraschend, das Hegel das Gefühl der Scham neben rein praktischen Erwägungen als ein Hauptmotiv dafür angesehen hat, warum Menschen ihren Körper mit Kleidern verhüllen. „Scham, ganz allgemein genommen, ist ein Beginn des Zorns über etwas, was nicht sein soll. Der Mensch nun, der sich seiner höheren Bestimmung, Geist zu sein, bewußt wird, muß das nur Animalische als eine Unangemessenheit ansehen und vornehmlich die Teile seines Körpers, Leib, Brust, Rücken und Beine, welche bloß tierischen Funktionen dienen oder nur auf das Äußere als solches deuten und keine direkt geistige Bestimmung oder keinen geistigen Ausdruck haben, als eine Unangemessenheit gegen das höhere Innere zu verbergen streben. Bei allen Völkern, bei denen ein Anfang der Reflexion gemacht ist, finden wir deshalb auch in stärkerem oder geringerem Grade das Gefühl der Scham und das Bedürfnis der Bekleidung.“ 2
Um auf die kulturstiftende Funktion der Scham und der Kleidung aufmerksam zu machen, verweist Hegel nicht nur auf die Paradiesesgeschichte, sondern auch auf die von Herodot erzählte Geschichte über Kandaules und Gyges.3 Herodot hatte nämlich berichtet, dass König Kandaules so stolz auf die Schönheit seiner Frau gewesen sei, dass er seinen Freund Gyges bedrängt habe, sie nackt anzuschauen. Dieser habe sich allerdings zunächst mit dem Argument verweigert, dass eine Frau, die ihr Gewand vor anderen ablege, sich auch ihrer Achtung entkleide. Schließlich habe Gyges aber dem Drängen von Kandaules nachgegeben, weil dieser versprochen habe, alles so zu arrangieren, dass seine Frau von alldem nichts bemerke. Diese Vertuschungsstrategie sei aber gescheitert. Die getäuschte Frau und Königin habe Gyges daraufhin vor die Wahl gestellt, entweder auf der Stelle zu sterben oder Kandaules zu töten, sie zur Frau zu nehmen und selbst König zu werden. Gyges habe die letztere Möglichkeit gewählt und dann tatsächlich den Thron bestiegen. Danach seien zwar Unruhen ausgebrochen, aber die neue Stellung von Gyges sei schließlich durch einen legitimierenden Orakelspruch aus Delphi gefestigt worden.
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Vgl. W. Köller, Der Baum der Erkenntnis, in : Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 61–90. 2 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik II, Werke, Bd. 14, S. 402–403. 3 Herodot, Historien, Buch I, 8–13, 19633 , S. 4 ff.
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Diese Geschichte ist für unseren Problemzusammenhang recht aufschlussreich. Die Frau von Kandaules, die bezeichnenderweise nicht mit einem Eigennamen benannt wird, sieht offenbar ihre Identität als Frau und Königin als vernichtet an, wenn sie ohne Gewand, das gleichsam als zweite Haut auch ihre soziale Rollenidentität zusammenhält, von einem anderen Mann nur in ihrer individuellen körperlichen Identität gesehen wird. Ihre soziale bzw. kulturelle Identität betrachtet sie offenbar erst dann als wieder hergestellt, wenn derjenige getötet worden ist, der dazu angestiftet hat, diese zu missachten. Kulturhistorisch interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Wahrung der kulturellen Rollenidentität der Frau vom delphischen Orakel offensichtlich als wichtiger eingeschätzt worden ist als die Bestrafung des Tötungsdelikts. Aus alldem lässt sich vielleicht die These ableiten, dass anthropologisch gesehen kulturelle Sollensordnungen immer wieder als höherrangig angesehen worden sind als physische Seinsordnungen. Das würde dann auch bedeuten, dass sprachliche Benennungen und begriffliche Objektivierungen als kulturelle Einkleidungen der Welt für die Menschen einen höheren Wert haben können als die faktischen Gegebenheiten selbst, weil solche Einkleidungen für sie wichtige Mittel sind, sich auch selbst in die Welt einzuordnen. Kleidung und Sprache sind so gesehen keine zu vernachlässigenden Größen bei der Weltwahrnehmung, sondern als Formen einer zweiten Haut jeweils Möglichkeiten, andere als rein physische Identitäten zusammenzuhalten. Das mag Hugo von Hofmannsthal vielleicht auch zu einem sehr bemerkenswerten Aphorismus inspiriert haben. „Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche.“ 4
Kleidung und Mode Die Relevanz der Kleidung als Kultur- und Zeichenphänomen und ihr Analogiepotenzial zur Sprache lässt sich auch gut an dem Phänomen der Mode exemplifizieren, das wir ja hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, mit dem Problem der Kleidung in Verbindung bringen. Die Herkunft des Wortes Mode von dem lat. Terminus modus (Maß, Gegebenheitsweise) verdeutlicht schon, dass unsere Vorstellung von Mode ursprünglich sehr eng mit der Vorstellung in Verbindung gebracht worden ist, dass etwas substanzhaft Vorgegebenes akzidenziell unterschiedlich eingekleidet bzw. repräsentiert werden kann. Wenn man in dieser Weise die Mode als eine Objektivierungsweise oder Interpretationsform von etwas anderem versteht, dann fällt ihr Analogiepotenzial zur Sprache deutlich ins Auge. Mode wie Sprache lassen sich dann als
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H. von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 15, 1973, S. 47.
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typische Relationsphänomene betrachten, die einerseits unsere Wahrnehmungsweise von etwas Gegebenen bestimmen, die aber andererseits auch durch das bestimmt werden, was sie jeweils objektivieren sollen. Das bedeutet, dass wir sowohl die Mode als auch die Sprache letztlich als ein Medienproblem im Sinne eines Erkenntnisproblems anzusehen haben. In beiden Fällen haben wir uns nämlich mit einer recht grundsätzlichen Frage auseinanderzusetzen. Sollen wir in einer eher objektorientierten Denkperspektive primär davon ausgehen, dass die jeweiligen Körper bestimmen, wie sie am besten modemäßig oder sprachmäßig eingekleidet werden können, oder sollen wir in einer eher subjektorientierten Denkperspektive primär davon ausgehen, dass die jeweiligen Subjekte bestimmen, durch welche Mittel welche Aspekte des jeweiligen Körpers am besten zur Erscheinung gebracht werden können? Wie wir uns auch entscheiden, immer lässt sich davon ausgehen, dass Mode und Sprache als Erschließungs- und Vermittlungsphänomene anzusehen sind. Das mediale Verständnis von Mode und Sprache impliziert, dass wir uns beiden Phänomenen eigentlich nie ganz entziehen können. Selbst wenn wir uns gegen beide zur Wehr setzen und uns ihren jeweiligen Eigenheiten nicht beugen wollen, so wird unsere Wahrnehmung doch durch beide immer nachhaltig geprägt. Sogar nackte Körper und die Vorstellung von Sachen an sich erscheinen nämlich im Kontext von Mode oder Sprache als ganz spezifische Gegebenheitsweisen von Körpern oder Sachen, eben weil diese nun auch in anderen als in den jeweils gegebenen Formen vorstellbar werden. Mode und Sprache verändern sich ständig, ohne dass man letzte Orientierungsmaßstäbe hätte, an denen man die jeweiligen Veränderungsprozesse positiv oder negativ qualifizieren könnte. Beide Phänomene finden deshalb auf eine fast paradoxe Weise ihr Selbstverständnis und ihre Stabilität in ihrer Variabilität und Flexibilität, weshalb sie sich im Prinzip sogar als Formen der Institutionalisierung von Veränderlichkeit und Dynamik beschreiben lassen. Sie sind gleichsam Formen der Produktion von Neuheiten, deren unabänderliches Schicksal es ist, durch neuere Neuheiten wieder zu Fossilien zu werden, was nicht ausschließt, dass auch Fossilien wieder Neuheiten werden können. Diese Argumentation ist natürlich etwas überpointiert, weil sich dabei die Aufmerksamkeit auf recht spektakuläre Einzelerscheinungen in Mode und Sprache richtet. Unter diesen Umständen kann leicht aus dem Blick geraten, dass es sowohl in der Mode als auch in der Sprache recht stabile Formen und Ordnungsstrukturen gibt, die aus den pragmatischen Grundfunktionen und der Strukturlogik dieser Vermittlungsphänomene resultieren. Nicht alle theoretisch denkbaren Objektivierungsweisen von Phänomenen können sich im Prinzip in der Mode oder der Sprache durchsetzen, sondern letztlich nur solche, die für die Beteiligten irgendwo auch eine Funktion bzw. ein Sitz im Leben haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Variabilität in Mode und Sprache lässt sich auch sozialpsychologisch thematisieren. So hat beispielsweise Georg Simmel betont, dass all unsere Lebensformen durch den Antago-
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Die Sprache als Kleid
nismus von Sozialismus und Individualismus geprägt würden bzw. durch den Wunsch nach Einordnung oder Hingabe an das Allgemeine einerseits und dem Wunsch nach Abgrenzung von dem Allgemeinen andererseits. In diesem Spannungsverhältnis müssten ständig Kompromisse geschlossen werden, die dann allerdings ein hohes Kreativitätspotenzial haben könnten. In der Mode sieht Simmel das Spannungsverhältnis zwischen Sozialismus und Individualismus prototypisch repräsentiert, insofern in ihr sowohl das Bedürfnis nach sozialer Anlehnung bzw. nach Gruppenanschluss zum Ausdruck komme als auch dass Bedürfnis nach Absonderung, Differenz und Individualität. In ständischen Gesellschaften könne sich dieses Spannungsverhältnis durch Standeskleidungen institutionalisieren und in offenen Gesellschaften durch Gruppenbildungen, die immer auch abgrenzende Kleidungsformen suchen würden. In offenen Gesellschaften könne die Mode alle Lebensformen durchdringen und dabei dann auch zum Tummelplatz von Individuen werden, die psychisch und inhaltlich unselbständig seien. Selbst derjenige, der sich bewusst gegen Moden zur Wehr setze, lege ungewollt ein Zeugnis für die Macht der Mode ab und gleiche demjenigen, der einen Verein der Vereinsgegner gründe. Das Merkwürdige an allen Formen der Mode sei, dass jede Einzelform zunächst immer als ultimative bzw. bestmögliche Formgebung empfunden werde und nicht als eine vorübergehende Form, die immer schon den Keim der Ablösung und Auflösung in sich trage.5 Es ist offensichtlich, dass das von Simmel postulierte Spannungsverhältnis von Sozialismus und Individualismus sich auch in dem Spannungsverhältnis zwischen dem normierten und dem individuellen bzw. kreativen Sprachgebrauch widerspiegelt. Lebendige Sprache lebt in Moden und von Moden, wenn sie nicht erstarren will. Sie lebt zugleich aber auch von Konventionen, wenn sie intersubjektiv verstanden werden will. Die metaphorische Sprache mit ihrer Bindung an die konventionelle Syntax und ihrer Loslösung von der konventionellen Semantik verdeutlicht das auf prototypische Weise. Der Hang nach Originalität kann sich sowohl in der Mode als auch in der Sprache selbst ad absurdum führen, wenn alles Tradierte abgelehnt wird und der Hang nach neuartigen Formen zu einem Manierismus führt, der sich darin erschöpft, zu einem reinen Aufmerksamkeitskitzel zu werden. Solche Formen von Mode werden dann zu Erscheinungsweisen des Kuriosen und verspielen ihre Chancen, als neue Interpretations- und Handlungsweisen in das kulturelle Gedächtnis (memoria) einzugehen. Grundsätzlich sollte man aber die Mode als eine Form des Experimentierens ansehen bzw. als eine Suchbewegung, in der auch etwas gefunden wird, was nicht gesucht worden ist, und in der auch etwas erzeugt wird, was wieder traditionsbildend wirksam werden kann.
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G. Simmel, Zur Psychologie der Mode, eine sociologische Studie, Gesamtausgabe, Bd. 5, 1992, S. 105–114.
Das Kleid als Zeichenphänomen
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2. Das Kleid als Zeichenphänomen Das Ziel der bisherigen Überlegungen bestand darin, plausibel zu machen, dass Kleider als Kulturphänomene zu betrachten sind, die nicht nur als Fellersatzformen rein praktischen Zwecken dienen, sondern denen als interpretierende und gestaltende Zeichen auch eine kognitive Dimension eigen ist. Diese Sicht auf Kleider mag auf den ersten Blick etwas überraschen, da Kleider ja eher etwas verhüllen als enthüllen. Deshalb scheinen Kleider auch in einer immanenten Spannung zu der Vorstellung der nackten Wahrheit zu stehen, um die es in Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen nach allgemeiner Meinung ja gehen soll. Erst wenn man akzeptiert hat, dass uns die Dinge nicht an sich zugänglich sind, sondern nur so, wie es uns die Strukturen unseres Verstandes und unserer Objektivierungsmittel erlauben, dann gewinnt die These von der Zeichennatur und der kognitiven Dimension von Kleidern an Plausibilität. Wer Kleider als Zeichen versteht, dem liegt natürlich auch die Vorstellung von der Sprache der Kleider sehr nahe, weil er es für ganz selbstverständlich hält, danach zu fragen, was uns Kleider über die jeweils bekleideten Objekte zu verstehen geben können bzw. über die Subjekte, die bestimmte Kleiderformen verwenden. So gesehen werden dann Kleider zu Zeichenträgern für ganz bestimmte Informationsintentionen, also zu Mitteln, die keineswegs nur etwas verhüllen, sondern die durchaus auch etwas enthüllen können. Deshalb haben sie dann neben ihren aktuellen Informationsfunktionen auch immer relativ abstrakte kognitive Strukturierungsfunktionen. Als Zeichen betrachtet haben Kleider in struktureller und funktioneller Hinsicht ein sehr breites Spektrum von Erscheinungs- und Informationsfunktionen. Sie lassen sich als Zeichenträger verstehen, die ihre jeweiligen Informationsinhalte indexikalisch, ikonisch und konventionell repräsentieren und vermitteln können. Auf jeden Fall muss man lernen, Kleider als Zeichenträger mit bestimmten offensichtlichen und verdeckten Charakteristika wahrzunehmen, um sie in spezifisch akzentuierten Interpretationsperspektiven auch inhaltlich als Zeichen verstehen zu können. Dazu sind dann Sachkenntnisse über die Materialien und Formen von Kleidern ebenso notwendig wie ein Wissen über die mit Kleidern verbundenen Traditionen und Wahrnehmungssensibilitäten. All das sind strukturell gesehen Wissensformen, die natürlich auch für jedes angemessene Sprach- und Textverständnis erforderlich sind. Da Kleider und Sprache sehr unterschiedliche Einkleidungsfunktionen haben können, müssen wir uns davor hüten, den einzelnen Formen nur eine einzige Aufgabe zuzuordnen. Je nach Betrachtungsperspektive können sich nämlich für die einzelnen Formen sehr unterschiedliche Funktionen ergeben, weshalb der frühe Wittgenstein die natürliche Umgangssprache dann auch als wissenschaftliche Abbildungssprache für recht ungeeignet gehalten hat.
Die Sprache als Kleid
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„Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides, nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen. Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert.“ 6
Funktionskleider und Funktionssprachen Im Verlaufe der Kulturgeschichte haben Kleider sehr schnell ihre Fellersatzfunktionen transzendiert. Es haben sich spezifische Funktionskleider herausgebildet, die für bestimmte Lebensformen bzw. Handlungsprozesse besonders nützlich waren, wie etwa die Kettenhemden der Ritter, die Tarnuniformen der Soldaten oder die Weltraumanzüge der Astronauten. Solche Funktionskleider können sehr sinnvoll für die Bewältigung ganz bestimmter Aufgaben sein, aber sie sind in der Regel recht unbrauchbar für alle anderen möglichen Funktionen von Kleidern. Ritterrüstungen exemplifizieren diese spezifische Funktionalität sehr klar, insofern sie einen guten Schutz vor Schwertern, Lanzen und Pfeilen bieten, aber keineswegs einen Schutz vor Feuerwaffen. Funktionskleider können durch ihre spezifische Formen und Materialien auf ganz bestimmte Tätigkeitsfelder ihrer Träger hinweisen und sich in diesen dann auch bewähren. Sie lassen sich allerdings nicht polyfunktional verwenden, weshalb sie auch immer durch andere Funktionskleider oder durch relativ unspezifizierte Universalkleider ergänzt werden müssen. Zu den Funktionskleidern sind auch solche Standes- und Repräsentationskleider zu rechnen, die klare Hinweise auf die sozialen Funktionsrollen ihrer Träger geben. Während man die Zeichenfunktionen der praktischen Funktionskleider weitgehend indexikalisch interpretieren kann, sind die Zeichenfunktionen der sozialen Funktionskleider eher ikonisch oder konventionsbezogen zu interpretieren. Da Kleider und insbesondere Funktionskleider mit spezifischen Gebrauchssituationen verschränkt sind bzw. bestimmte Kontexte evozieren, haben sie im sozialen Leben auch immer sachbezogene kognitive Implikationen. Die Zeichenfunktionen von Berufs-, Status- oder Ornatkleidern lassen sich nur durch ganz willentliche methodische Anstrengungen aus unseren Wahrnehmungsprozessen ausblenden. Sowohl an Kleidern als auch an Sprache kann das Axiom Watzlawicks sehr gut exemplifiziert werden, dass es im sozialen Zusammenleben faktisch unmöglich ist, nicht zu kommunizieren.7 Funktionskleider und Funktionssprachen haben sowohl hinsichtlich ihrer Stärken als auch hinsichtlich ihrer Schwächen eine große Ähnlichkeit mitein-
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L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4. 002, 19685, S. 32. P. Watzlawick u.a., Menschliche Kommunikation, 19744, S. 50.
Das Kleid als Zeichenphänomen
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ander. Beide sind für bestimmte Zwecke hocheffizient, aber für allgemeine Zwecke, die sowohl einen Objekt- als auch einen Subjektbezug haben, meist ziemlich unbrauchbar. Wenn sich jemand in einer Arbeitsuniform selbst darstellen will oder in einer medizinischen oder soziologischen Fachsprache eine Liebeserklärung formulieren möchte, dann wird er wohl scheitern. Funktionskleider und Funktionssprachen sind im Prinzip monofunktional, während die üblichen Kleider und die natürliche Sprache meist polyfunktional sind, da sie mehreren Zwecken zugleich dienlich sind und uns sowohl etwas über die eingekleideten Objekte als auch etwas über die einkleidenden Subjekte sagen. Das lässt sich über den Begriff des Stils, der ja gleichermaßen für Kleider und für Sprache verwendbar ist, sehr gut exemplifizieren. Generell kann man sagen, dass immer ein Bedürfnis besteht, Kleider und Sprache polyfunktional zu verwenden und ihr Funktionsprofil im konkreten Gebrauch ständig zu variieren. Kleider und Sprache müssen sich im Prinzip immer gestalten und umgestalten lassen, um ihre polyfunktionalen Aufgaben wirklich erfüllen zu können. Es liegt zwar eine gewisse Paradoxie darin, dass Kleider und Sprache als Zeichen bzw. Medien gerade dann pragmatisch besonders funktionstüchtig sein können, wenn sie relativ unspezifiziert sind, da Zeichen im Prinzip ja dem Differenzierungsprinzip verpflichtet sind. Diese Paradoxie löst sich aber schnell auf, wenn man in Betracht zieht, dass auch die Entspezialisierung eine besondere pragmatische Funktion haben kann, weil entspezialisierte bzw. semantisch unscharfe Zeichen sich situativ flexibler verwenden lassen als spezialisierte. Auffallende Moden bei der Konkretisierung von Kleider- und Sprachformen können momentan zwar einen sehr hohen Informationswert haben, aber langfristig haben sie oft einen ziemlich geringen Gebrauchswert, weil ihr Funktionsspektrum sehr eng ist und weil sich ihre spezifischen informativen Qualitäten rasch abnutzen können.
Kleider als Strukturierungsmittel Die Differenzierung der Kleiderformen für praktische Zwecke war von Anfang an auch von einer Differenzierung für soziale Zwecke begleitet. Kleider ließen sich nämlich wegen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und ihres Materials hervorragend dazu verwenden, dem Reichtum, dem Stand oder dem Selbstverständnis der jeweiligen Träger Ausdruck zu geben. Der Königsmantel, die Mönchskutte, die Uniform, der Arztkittel oder der Doktorhut dokumentieren das sehr klar. Kleider haben so gesehen dann auch immer wichtige Beiträge zur Orientierung der Menschen im sozialen Raum geleistet. Die Übernahme von Ämtern ist deshalb auch sehr oft mit Einkleidungsritualen verbunden worden. Die Standeskleider der Adligen, der Kleriker, der Bürger und der Bauern haben soziale Hierarchien gekennzeichnet und dazu beigetragen, dass die ursprünglichen Funktionsrollen der jeweiligen Träger sich zu dauerhaften Stan-
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Die Sprache als Kleid
des- und Statusrollen verfestigen konnten. Ihnen war deswegen auch immer eine gewisse Ambivalenz eigen, da sie einerseits soziale Identitätsbildungen erleichterten, aber andererseits auch zu deren Erstarrung beitrugen. Deshalb waren Kleiderfragen nicht selten Ansatzpunkte von sozialen Rebellionen. Alle Standes- und Statuskleider haben eine natürliche Tendenz, sich ornamental aufzuladen und indexikalische oder ikonische Zeichenfunktionen zu übernehmen. Der Königsmantel musste purpurfarben oder blau sein, weil das sehr kostbare bzw. metaphysisch interpretierbare Farben waren. Die Adelskleidung musste selbstverständlich die der Bürger ornamental übertrumpfen, die dann wiederum nicht müde wurden, die Kleidung des Adels entweder zu imitieren oder sich ganz bewusst von dieser abzusetzen. Statuskleider konnten sich so verselbständigen, dass ihre Träger gleichsam zu Statuspuppen wurden und als individuelle Menschen kaum noch wahrnehmbar waren. So war beispielsweise im spanischen Hofzeremoniell nicht nur geregelt, dass die Königin öffentlich nicht lachen durfte, sondern auch, dass sie sich so zu kleiden hatte, dass man nicht merkte, dass sie sich mit Hilfe ihrer Füße fortbewegte. Nicht der menschliche Leib sollte primär vorgeben, wie die jeweilige Kleidung zu gestalten war, sondern geometrisch-göttliche Formen wie etwa Quadrate, Kugeln oder Kegel sollten den Zuschnitt der jeweiligen Kleider bestimmen.8 Der Herzog St. Simon hat die Robe Ludwigs des XIV. so beschrieben, dass dieser schier unter ihr zusammenzubrechen drohte, weil sie mit Edelsteinen überreich besetzt war. Das verdeutlicht, dass der König die Kleidung eigentlich nicht trägt, sondern dass er durch sie vielmehr erst zum König gemacht wird. Eine Karikatur von Thackeray aus dem Jahre 1840 zeigt dann auch, wie ein König aus Perücke, hochhackigen Schuhen und Mantel sukzessiv zusammengesetzt wird.9 Gerade weil Standeskleider die Frage aufwerfen, ob sie von Standespersonen getragen werden oder ob sie Standespersonen machen, bekommen sie in revolutionären Umbruchssituationen sehr wichtige Zeichenfunktionen. So hat beispielsweise Rousseau eine naturgemäße und vernünftige Kleidung gefordert. Robespierre ist ganz bewusst in schlichter und schmuckloser Kleidung aufgetreten, um sich vom Standesdenken abzusetzen. Da die Revolutionäre ganz bewusst die Kniehosen und seidenen Strümpfe der Adligen verschmähten, sind sie von diesen zunächst als Sansculotten verspottet worden, bis dieser Spottname ebenso wie die Jakobinermütze dann zum Markenzeichen der Revolutionäre wurde. Diese Hinweise berechtigen sicher dazu, eine Analogie zwischen überzogenen Statuskleidern und ideologisch überzogenen Begriffsbildungen anzunehmen. Auch letztere unterliegen ja immer der Gefahr, nicht wirklich relevante Sachverhalte begrifflich zu objektivieren bzw. sprachlich einzukleiden. Oft
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Vgl. M. Bombek, Kleider der Vernunft, 2005, S. 138 ff. Vgl. M. Bombek, a.a.O., S. 183.
Das Kleid als Zeichenphänomen
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repräsentieren sie nur inhaltslose Attrappen, die nur deshalb nicht in sich selbst zusammenfallen, weil alle glauben, dass sie einen relevanten sachlichen Gehalt haben und nicht nur leere Worthülsen ohne sachlichen Inhalt sind. Welch enge Analogiebeziehungen zwischen Kleiderordnungen auf der einen und Denk- bzw. Sprachordnungen auf der anderen Seite bestehen, lässt sich auch an der Gestalt von Christian Thomasius demonstrieren. Dieser hatte nicht nur die Franzosen dafür gepriesen, dass sie die Landessprache in den Wissenschaften verwendeten, sondern 1687 auch erstmals Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache angekündigt und gehalten. Sein Kampf gegen das Latein als tradierte Wissenschaftssprache war zugleich auch ein Kampf gegen die verknöcherten scholastischen Begrifflichkeiten im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Aufregung erzeugte er aber nicht nur deswegen, sondern auch dadurch, dass er gegen die universitäre Kleiderordnung verstieß. So erschien er zu seinen Vorlesungen nämlich nicht mehr im pofessoralen Talar, sondern in der höfischen Kleidung seiner Zeit mit Perücke und Schmuckdegen, was dann von der Universität, dem König und der Kirche ausdrücklich gerügt wurde.10 Die gleichzeitige Rebellion gegen Kleider- und Sprachordnungen scheint ein generelles Strukturmerkmal von revolutionären Bewegungen zu sein. Das exemplifiziert auch die berühmt gewordene Parole der Studentenbewegung von 1968: Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren. Kleiderordnungen und Sprachordnungen werden offenbar immer wieder als prototypische Sozialordnungen angesehen, die eher einschränken als helfen und die eher eine Herrschafts- als eine Orientierungsfunktion haben. Das schließt natürlich nicht aus, dass sich im Verlaufe von Revolutionen neue Kleider- und Sprachordnungen institutionalisieren, die wiederum Anlass zu neuen Rebellionen geben können. Als jedermann Latzhose und Parka als revolutionäre Dienstkleidung trug bzw. das revolutionäre Kampfvokabular benutzte, da stumpften die ursprünglichen innovativen Zeichenfunktionen dieser Mittel ab und wurden zu Indizien für neue ideologische Denkverfestigungen. Revolutionäre Begriffe, die zunächst durchaus neuen Sichtweisen Ausdruck geben können, laufen immer Gefahr, zu leeren Worthülsen bzw. zu Bestandteilen eines Jargons zu werden, wenn ihre ursprünglichen Differenzierungs- und Objektivierungsintentionen in Vergessenheit geraten oder obsolet werden.
Die Verwandlungs- und Gestaltbildungskraft von Kleidern Wenn man das Kleid als zweite Haut ansieht, die einen Körper nicht nur zusammenhält, sondern auch Gestalt gibt, dann liegt natürlich der Gedanke nahe,
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M. Bombek, a.a.O., S. 98 ff.; W. Schmidt, Ein vergessener Rebell, 1995, S. 47 ff.
Die Sprache als Kleid
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Kleiderwechsel ähnlich wie Häutungen als Formen der Wiedergeburt oder zumindest als Übergangsmöglichkeiten in andere Welten oder Existenzweisen zu verstehen. Das zeigt sich auch darin, dass noch heute die Übernahme von Ämtern bzw. von bestimmten Funktionen mit der Übernahme von bestimmten Amtskleidern verbunden ist, was sich bei Richtern, Polizisten und Pfarrern deutlich dokumentiert. Ein besonders schönes Beispiel dafür, dass die Kleidung eine gestaltbildende Funktion bekommen kann bzw. seinem Träger den Eintritt in eine andere Welt erleichtert, dokumentiert sich in einer Äußerung Machiavellis, der 1513 an einen Freund Folgendes schrieb: „Wenn es Abend wird, kehre ich nach Hause zurück…und betrete mein Schreibzimmer. Beim Eintreten entledige ich mich meines schmutzbedeckten Alltagsgewandes und lege königliche und geweihte Kleider an. Und in dieser würdigen Bekleidung betrete ich die Säle der Männer von einst, die mich liebevoll empfangen; ich nehme diese Nahrung zu mir, meine einzige und für die ich geschaffen wurde. Auch schäme ich mich nicht, mit ihnen zu sprechen und nach den Gründen ihrer Handlungen zu fragen, und in ihrer Menschlichkeit geben sie mir Antwort.“ 11
In dieser Handlungsweise Machiavellis kommt sehr schön eine erkenntnistheoretische Grundüberzeugung zum Ausdruck, die erstaunlicherweise sowohl die Mystik als auch den Marxismus nachhaltig geprägt hat. Sie besteht in der Auffassung, dass sich der Mensch erst selbst ändern müsse bzw. in andere Lebensformen einzutreten habe, wenn er Kontakt zu anderen Welten bekommen will oder gar neue Einsichten gewinnen will. Die Wahl anderer Kleider wird von Machiavelli in ganz ähnlicher Weise als ein Verfahren zur Gewinnung von neuen Denkinhalten beschrieben. So betrachtet lässt sich deshalb die Wahl von bestimmten Kleiderformen recht gut mit der Wahl von bestimmten Sprachformen vergleichen, um Zugang zu anderen Welten zu finden. Auch im Historismus und in der Hermeneutik ist ja immer wieder betont worden, dass der Historiker bzw. der Interpret sich zu bemühen habe, aus der Haut seiner eigenen Wahrnehmungsweisen und Wahrnehmungskategorien herauszukommen, um in die Haut anderer Zeiten oder Personen hineinschlüpfen zu können bzw. um sich in andere Welten hineinzufühlen. Es ist nun allerdings ein Problem für sich, ob man sich in Verstehensprozessen wirklich der Haut seiner eigenen Zeit, seiner eigenen Erfahrungen und seiner eigenen Sprache entledigen kann oder ob es in ihnen nur zu sich ergänzenden oder zu teilweise kongruierenden Erfahrungen kommen kann. Gadamer hat deshalb ja auch davon gesprochen, dass es in hermeneutischen Bemühungen eigentlich nur zu Horizontverschmelzungen kommen könne, aber nicht zu vollständigen Einfühlungen oder gar Identitätswechseln. Geleugnet werden kann aber sicher-
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Zitiert nach: V. Cappeletti, Humanistische und aufgeklärte Wissenschaft, in: R. Toellner, Aufklärung und Humanismus, 1980, S. 252.
Die Schleierproblematik
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lich nicht, dass der Erkennende seine Erkenntnisgegenstände nicht immer direkt in seine Gewalt bringen kann, sondern dass er sich und seine Wahrnehmungsperspektiven auch diesen Gegenständen anzupassen hat, wenn er über sie etwas in Erfahrung bringen möchte, was nicht offen zu Tage liegt. Das Problem der sprachlichen Einkleidung bestimmter Inhalte stellt sich insbesondere im Bereich des religiösen Denkens. Wie soll man Sachverhalte jenseits aller möglichen empirischen Erfahrung in einer Sprache objektivieren, die sich für die Bewältigung empirischer Probleme herausgebildet hat? Im religiösen Sprachgebrauch hat sich deshalb nicht zufällig, sondern aus innerer Notwendigkeit eine Bildersprache ausgeformt, die sich gegen ein wortwörtliches Verständnis sperrt. Auch die Nutzung des weithin unverständlichen Lateins bzw. des Altkirchenslavischen in der Liturgie hat den Sinn, der religiösen Sprache eine gewisse Aura zu geben und indirekt darauf aufmerksam zu machen, dass es hier keineswegs um die Übermittlung von üblichen Sachinformationen geht. Die Verwendung einer besonderen rituellen Sprache ist hier nicht als eine besondere Einkleidung bzw. Drapierung von Inhalten zu verstehen, die man auch verständlicher objektivieren und vermitteln könnte, sondern eher als ein Verfahren, die Hörer auf eine andere Welt jenseits der üblichen Erfahrungswelt aufmerksam zu machen. Religiöse, aber auch poetische Texte werden insbesondere dadurch bedeutsam, dass sie Sprachformen verwenden, die sich gegen schematisierte Rezeptionsprozesse sperren. Die phänomenologische Banalität, dass jedes Kleid die Wahrnehmung des bekleideten Körpers prägt, gilt natürlich auch für sprachliche Einkleidungen, was im Kontext des Stilbegriffs noch näher untersucht werden wird. Hier soll die Aufmerksamkeit zunächst nur auf die dialektische Funktion von Einkleidungen gerichtet werden. Diese spezifische Funktion kann nämlich einerseits dazu dienen, Körper bzw. Inhalte einzuhüllen, zu verbergen, zu verkleiden oder sogar unkenntlich zu machen. Sie kann andererseits aber auch dazu dienlich sein, Körper und Inhalte in einer spezifischen Ausprägung und Akzentuierung sichtbar zu machen bzw. in einer ganz bestimmten Aura in Erscheinung treten zu lassen, was uns dann wiederum dazu zwingt, uns selbst geistig zu bewegen, um auch das zu erfassen, was sich normalerweise einem direkten bzw. konventionalisierten Blick entzieht.
3. Die Schleierproblematik Die heuristische Kraft unserer Kleidervorstellung für die sinnbildliche Erschließung von Sprache lässt sich sehr gut mit Hilfe unserer spezifischen Erfahrungen mit der Struktur und Funktion von Schleiern als ganz besonderen Kleidungsstücken exemplifizieren. Mit Hilfe unseres Wissens von Schleiern lässt sich auf mindestens drei große Strukturphänomene verweisen, die eine unmittelbare Verbindung zur Sprachproblematik haben.
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Die Sprache als Kleid
Zum Ersten lässt sich mit Hilfe unserer Schleiervorstellung sehr gut auf das Problem der nackten Wahrheit aufmerksam machen, das in der Philosophie, in den Fachwissenschaften und in unserem Alltagsdenken sowohl als Sach- als auch als Sprachproblem eine große Rolle spielt. Zum Zweiten lässt sich über das Bild des Schleiers besonders gut auf das schon angesprochene Problem der medialen Funktion von Kleidern und Sprache aufmerksam machen, da die genuine Funktion von Schleiern ja darin besteht, etwas sowohl zu verhüllen als auch sichtbar zu machen. Zum Dritten lässt sich über unsere Erfahrung mit Schleiern sehr gut auf die ästhetische Dimension von Kleidern und Sprache aufmerksam machen, da gerade Schleier unsere Einbildungskraft ganz besonders intensiv anzuregen vermögen. Ähnlich wie Fenster haben Schleier eine Doppelfunktion. Sie sollen einerseits zwei Sphären voneinander trennen, aber andererseits auch wechselseitig Durchblicke auf einander ermöglichen, was natürlich für die Veranschaulichung der Medienproblematik höchst bedeutsam ist. Deshalb haben Schleiervorstellungen kulturgeschichtlich immer eine große Rolle gespielt, wenn man über das Problem der Erkenntnis bzw. über die Relationen zwischen erkennenden Subjekten und zu erkennenden Objekten nachgedacht hat
Die Vorstellung der nackten Wahrheit Wenn man von der Metapher der nackten Wahrheit Gebrauch macht, dann setzt man eigentlich immer schon voraus, dass man im Prinzip Gegenstände bzw. Sachverhalte ohne mediale Brechung, Trübung und Verschleierung so wahrnehmen und sprachlich objektivieren kann, wie sie von Natur aus sind. Ebenso wie man einen Menschen seiner kulturbedingten Kleider entledigen kann, so glaubt man, auch Sachverhalte ihrer kulturbedingten Einkleidungen entledigen zu können, um sie so sehen zu können, wie sie von Natur aus sind. Insbesondere das Erkenntnispathos der Naturwissenschaften in der beginnenden Neuzeit und in der Aufklärung lebte von der Vorstellung, dass es möglich sein müsste, über Enthüllungs- und Entschleierungsvorgänge zur eigentlichen bzw. nackten Wahrheit vorzustoßen. Sei es, dass man die Natur durch geeignete Experimente dazu zwingen kann, sich selbst zu entblößen und ihre inneren Gesetzmäßigkeiten preiszugeben. Sei es, dass man durch geeignete Lichtquellen bzw. Fragen und Methoden die traditionsbedingten Verhüllungen und Verschleierungen der eigentlich gegebenen Natur beseitigen kann. Der Topos von der nackten Wahrheit lebt im Prinzip von dem naiven Glauben, dass es in den Wissenschaften so etwas wie einen göttlichen Blick des Menschen vom Orte Nirgendwo auf die Dinge und die Welt geben könne, der weder durch subjektbedingte Wahrnehmungsperspektiven noch durch kulturbedingte Vorurteile, Einkleidungstraditionen und Medien getrübt ist. In einem solchen Denkklima wird ganz selbstverständlich den Wissenschaften
Die Schleierproblematik
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bzw. der Logik und Heuristik gleichsam das Ziel vorgegeben, die Welt der Dinge an sich zu ent-decken oder zu ent-schleiern. Im Rahmen einer solchen Programmatik hat sich selbst Hegel nicht gescheut, die Logik, und das heißt konkret seine eigene Konzeption von Logik, „als das System der reinen Vernunft, als Reich des reinen Gedankens“ zu verstehen und folgendermaßen zu bestimmen: „Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an sich und für sich selbst ist.“ Er hat diesbezüglich auch keinerlei Bedenken, den Inhalt dieser Logik als „die Darstellung Gottes“ anzusehen, „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes“ ist.12 So unverzichtbar uns die aufklärerische Entschleierungsprogrammatik seit der Vorurteils- bzw. Idolenlehre Bacons in der abendländischen Kulturgeschichte auch geworden ist und so spezifische Grenzen dieser Programmatik auch durch die Vernunftkritik Kants gezogen worden sind, so wenig darf man vergessen, dass Kulturen auch immer davon leben, dass in ihnen nicht alle Geheimnisse gelüftet bzw. entschleiert werden. Der Wunsch nach göttlichem Wissen bzw. nach der nackten Wahrheit kann nämlich durchaus einen Pferdefuß haben. Die Einflüsterungen der Schlange aus dem Paradiese, Gott hinsichtlich des Erkennens ebenbürtig werden zu können (eritis sicut deus), versinnbildlicht das auf mythische Weise sehr deutlich. Nach allem, was wir kulturgeschichtlich wissen, brauchen Kulturen Tabuzonen, Fiktionen, Geheimnisse und nicht der Diskussion unterworfene Denkprämissen, um ihre innere Konsistenz zu behalten und um ihre innere Spannung nicht zu verlieren. Allzu leicht können nämlich Entschleierungsgeschichten auch zu Überforderungs- und Trivialisierungsgeschichten werden. Deshalb gibt es in den Kulturen auch einen ständigen Kampf darum, wo in ihnen die Grenze zwischen den zu enthüllenden und den zu respektierenden oder gar zu verhüllenden Geheimnissen zu ziehen ist. Wie attraktiv der Topos von der nackten Wahrheit bzw. von den menschlichen Entschleierungsbemühungen bis in die Neuzeit geblieben ist, verdeutlichen auch Heideggers Überlegungen zur Wahrheitsproblematik. Er hat nachdrücklich betont, dass zur Faktizität des Daseins „Verschlossenheit und Verdecktheit“ gehöre und dass die Wahrheit der Verborgenheit abgerungen werden müsse, weshalb sie gleichsam immer ein „Raub“ sei. Deshalb schlägt er auch vor, den Begriff der Wahrheit im Sinne des griechischen Terminus aletheia als Unverborgenheit im Sinne von „Entdecktheit“ oder „Erschlossenheit“ zu verstehen.13 Seine ganzen phänomenologischen Anstrengungen möchte er daher auch als Entschleierungsanstrengungen verstanden wissen. Im Anschluss an die Überlegungen Heideggers hat Schadewaldt vorgeschlagen, den griechischen Terminus aletheia im Deutschen nicht mit Unver-
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G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke, Bd. 5, S. 44. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44, 196310, S. 222.
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borgenheit, sondern besser mit „Unentzogenheit“ wiederzugeben. Dadurch will er in etwas anderer Akzentuierung kenntlich machen, dass uns die Dinge üblicherweise immer irgendwie entzogen seien und dass der griechische Terminus aletheia im Prinzip dazu diene, die Zuständlichkeit zu erfassen, in der diese Entzogenheit aufgehoben oder zumindest gemildert sei. Deshalb gebe es im Griechischen auch Verwendungsmöglichkeiten dieses Wortes, in denen es im Deutschen nicht mit Wahrheit, sondern eher mit Wirklichkeit zu übersetzen sei.14 In der Neuzeit ist der Topos der nackten Wahrheit bzw. die unbedingte Wertschätzung von Entschleierungsprozessen insbesondere in anthropologischen Denkzusammenhängen zunehmend problematisch geworden. Selbst Marx und Engels, die wahrlich nicht in dem Ruf stehen, Verschleierungen gutzuheißen, war der Gedanke nicht ganz fremd, dass Verschleierungen zumindest sozialpsychologisch auch gewisse positive Funktionen haben könnten. Im Zusammenhang mit der Beschreibung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie in der Geschichte merken sie nämlich folgendes an: „Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurück geführt.“15 Nietzsche hat herausgestellt, dass es gute Gründe geben könne, nicht alles zu entschleiern und ins helle Licht zu stellen, weil man dadurch den Dingen auch ihre Besonderheit, ihre Individualität und ihre Aura nehmen könne. „Wir glauben nicht mehr daran, daß die Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, daß man nicht alles nackt sehn, nicht bei allem dabei sein, nicht alles verstehen und ‚wissen’ wolle … Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewißheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen?“16
Kierkegaard hat den Spieß sogar umgekehrt und zu bedenken gegeben, dass wir nicht immer nur von der Entschleierung der wahrzunehmenden Objekte sprechen sollten, sondern vielmehr auch davon, dass wir uns auch selbst als wahrnehmende Subjekte zu entkleiden hätten, um zureichend für den Kontakt mit der Welt gerüstet zu sein. „Um zu schwimmen, kleidet man sich nackt aus; um nach der Wahrheit zu trachten, muß man in einem weit innerlichen Sinne sich ausziehen, von sich tun eine
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W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Tübinger Vorlesungen, Bd. 1, 1978, S. 195–200. 15 K. Marx / F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, 196729, S. 46. 16 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur zweiten Ausgabe, Werke, Bd. 2, S. 14 f.
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weit innerliche Bekleidung von Gedanken, Vorstellungen, Selbstsucht u.ä., ehe man nackt genug wird.“17
Alle Zeichentheoretiker haben darauf verwiesen, dass die Wahrnehmung einer nackten Wahrheit im Grunde eine Illusion sei, die allenfalls als regulative Idee akzeptabel sei. Peirce hat betont, dass in Erkenntnisprozessen Einkleidungen überhaupt nicht zu vermeiden seien, aber dass Einkleidungen durchaus mehr oder minder durchsichtig sein könnten.18 Ebenso wie die Spannweite der textilen Einkleidungen von der Uniform bis zum Negligé reichen kann, so reicht die Spannweite der sprachlichen Einkleidungen sicher auch von schematisierenden Begriffen bis zu durchsichtigen und andeutenden Bezeichnungen. Verwunderlich ist deshalb nicht, dass Cassirer im Kontext seiner Überlegungen zu den symbolischen Formen darauf verwiesen hat, dass jede sprachliche Objektivierungsform notwendigerweise eine Einkleidungsform sein müsse. „Gelänge es, alle Mittelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks und alle Bedingungen, die uns durch sie auferlegt werden, wahrhaft zu beseitigen, dann würde uns nicht der Reichtum der reinen Intuition, die unsagbare Fülle des Lebens selbst entgegentreten, sondern es würde uns nur wieder die Enge und Dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins umfangen.“ 19
Die Schleierproblematik bei den Dichtern Es ist sicherlich leicht nachvollziehbar, warum Poeten alle Entschleierungspostulate sehr viel skeptischer beurteilt haben als Wissenschaftler und Philosophen und warum bei ihnen die Idee der nackten Wahrheit nie sehr hoch im Kurs gestanden hat. Wenn man Sprache dazu verwendet, fiktive Welten zu entwerfen und zu gestalten, dann kann das Streben nach der sprachlichen Objektivierung der nackten Wahrheit eigentlich kein absolut erstrebenswertes Ziel sein, da das ja einschließen würde, die Sprache als eigenständige Größe bzw. als interpretierendes und gestaltendes Medium zu vergessen. Kleist hat in einem Brief an seine Schwester Ulrike sogar davon gesprochen, dass es eine „traurige Klarheit“ gebe, der keinerlei inspirierende Kraft innewohne. „Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst in
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S. Kierkegaard, Die Tagebücher, November 1848, 1949, S. 584. Ch. S. Peirce, Collected Papers, 1. 339. “But this clothing never can be completely stripped off, it is only changed for something more diaphanous.” 19 E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 19765, S. 199. 18
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seiner ganzen armseligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor diese Nacktheit.“ 20
Sehr nachdrücklich hat Schiller in seinem Gedicht – Das verschleierte Bild von Sais – darauf aufmerksam gemacht, dass Kulturen und Menschen immer Geheimnisse und Verhüllungen brauchten, um ihre Lebenskraft erhalten zu können, und dass Verschleierungen für sie letztlich von größerem Wert sein könnten als vollständiges Wissen bzw. nackte Wahrheiten. Entschleierungen könnten vor allem dann zum Problem werden, wenn dabei keinerlei Grenzen respektiert würden, weil dann nämlich auch das Problem der Schuld in Erscheinung treten könne. In seinem Gedicht berichtet Schiller, wie ein wissensdurstiger Jüngling in Ägypten vor ein verschleiertes Riesenbild gerät, hinter dessen Einhüllung sich die Wahrheit verbergen soll. Diesen Schleier darf aber kein Sterblicher ohne Zustimmung der Gottheit bzw. einer höheren Instanz lüften. Hin- und hergerissen zwischen seinem Wahrheitsstreben und einer warnenden Stimme in seinem Inneren hebt er den Schleier dann aber doch. Am folgenden Tage wird er von Priestern „besinnungslos und bleich“ aufgefunden. „Was er allda gesehen und erfahren Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig War seines Lebens Heiterkeit dahin. Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.“ 21
Schiller kennzeichnet hier die Wahrheit als eine ambivalente Größe, da sie einerseits das Ziel menschlichen Strebens sei, aber andererseits die Menschen auch überfordere und gefährde. Deshalb lässt sich dann auch die Metapher von dem Schleier der Wahrheit auf eine ambivalente Weise verstehen. Einerseits kann der Schleier das sein, was die direkte Sicht auf die Wahrheit beeinträchtigt und was deshalb auch von der Wahrheit selbst klar zu unterscheiden ist. Andererseits kann er aber auch als ein genuiner Teil der Wahrheit angesehen werden, weil diese für den Menschen ja nicht anders als verschleiert bzw. vermittelt erträglich ist. Auf jeden Fall hat aber der Schleier für Schiller eine genuine anthropologische Funktion, insofern er sowohl auf die Ziele als auch auf die Grenzen menschlichen Erkenntnisstrebens aufmerksam machen kann. Auf die Schutzfunktion von Schleiern bzw. von medialen Einhüllungen hat Schiller auch in seinem Gedicht Kassandra aufmerksam gemacht: „Frommt’s, den Schleier aufzuheben, Wo das nahe Schreckniß droht?
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H. von Kleist, Brief vom 5. 2. 1801, Werke Bd. 2, S. 628. F. von Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais, Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 1, S. 256.
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Nur der Irrthum ist das Leben, Und das Wissen ist der Tod.“22
Martin Luther hat in einem eindrucksvollen Bild ebenfalls auf die Schutzfunktion von faktischen Verhüllungen aufmerksam gemacht. Dabei nimmt er darauf Bezug, dass die Sprachen als Medien des Geistes die Funktion haben, etwas potenziell Gefährliches einzuhüllen und damit in gewisser Weise auch zu bändigen. „Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geystes stickt.“23 Dass Einhüllungen nicht nur als verdeckende Verhüllungen, sondern auch als Schutzhüllen in Erscheinung treten können, macht auch das Bild der Nussschale deutlich. Sie umschließt das Samenkorn, um es zu bewahren; sie muss aber dennoch gesprengt werden, wenn neues Leben entstehen soll. Ebenso wie Schiller hat sich auch Novalis mit dem Problem des Schleiers vor dem Bildnis zu Sais beschäftigt. Er hat den Schleier anthropologisch aber ganz anders gedeutet. Er verberge nicht die Wahrheit, sondern vielmehr die sinnstiftende Kraft des eigenen Ichs. Die Aufhebung des Schleiers sei deshalb gleichsam der Weg zur Selbstwahrnehmung oder gar Selbsterkenntnis. „Einem gelang es – er hob den Schleyer der Göttin zu Sais – Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – Sich Selbst.“ 24
Dem Lehrling zu Sais gibt Novalis dann folgenden Gedanken ein: „... und wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden versuchen; wer ihn nicht heben will, ist kein ächter Lehrling zu Sais.“ 25 Schriftsteller haben in ihren sprachtheoretischen Überlegungen immer wieder darauf verwiesen, dass es in der Dichtung nicht darum gehen könne, vorgegebene Inhalte nachträglich sprachlich einzukleiden, sondern vielmehr darum, Inhalte durch ihre konkrete sprachliche Formgebung als Inhalte erst auszubilden. Das bedeutet, dass das, was auf den ersten Blick als äußeres sprachliches Kleid angesehen wird, eigentlich ein genuiner Bestandteil des Inhalts selbst ist. So gesehen trägt der Inhalt poetischer Werke nicht wie ein Körper ein sprachliches Kleid. Vielmehr gewinnt hier ein Inhalt erst über seine wahrnehmbare sprachliche Form eine wahrnehmbare Gestalt. Das impliziert, dass es für den Poeten eigentlich keine konkreten sprachfreien Gegenstandsvorstellungen geben kann, sondern allenfalls kleidungsbedürftige vage Vorgestalten. Deshalb hat Valéry auch folgenden Gedanken
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F. Von Schiller, Kassandra, a.a.O., Bd. 2, S. 256 M. Luther, An die Burgermeyster und Radherren allerley stedte ynn Deutschen landen, Werke, Bd. 15, S. 38. 24 Novalis, Werke, Bd. 1, S. 128 25 Novalis a.a.O., S. 204. Zur Schleierproblematik bei Schiller und Novalis vgl. auch: C. Peres, Verhüllte und offenbare Wahrheit, in: H. G. Schwarz / J. V. Curran, (Hrsg.), Denken und Geschichte, 2002, S.46–73. J. Assmann, Das verschleierte Bild zu Sais, in: A. und J. Assmann (Hrsg.), Schleier und Schwelle, Bd. 3, 1999, S. 45–66. 23
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entwickelt: „Nackte Gedanken sind ebenso schwach wie nackte Menschen. Also muß man sie bekleiden.“ 26 Offen bleibt aber gleichwohl die Frage, wie solche Bekleidungen auszusehen haben. Soll etwas so eingekleidet werden, dass es nur in seinen groben Konturen in Erscheinung tritt und der individuellen Imagination große Spielräume eröffnet, oder so, dass die jeweiligen Bekleidungen etwas Substanzielles unmittelbar durchschimmern lassen? Dieses Problem wird in seinen unterschiedlichen Aspekten fassbar, wenn wir uns mit Schleiern als Vermittlungsformen bzw. Medien beschäftigen und danach fragen, was Bekleidungen in Form von Schleiern verbergen oder offenbaren können.
Der Schleier als Medium Wenn man den Schleier als ganz spezifisches Sinnbild für Sprache ins Auge fasst, dann ist im Vergleich zu dem etwas unspezifizierteren Sinnbild des Kleides zunächst ein Tatbestand auffällig. Von dem Substantiv Kleid können wir die Verben kleiden, verkleiden und entkleiden ableiten, von dem Substantiv Schleier aber nur die Verben verschleiern und entschleiern, aber nicht das Verb *schleiern im Sinne von vermitteln. Deshalb fällt es uns wohl auch leichter, dem Kleid eine Objektivierungs- und Vermittlungsfunktion zuzuordnen als dem Schleier. Wenn man dennoch nach den Möglichkeiten des Schleiers fragt, um sich sinnbildlich die medialen Funktionen der Sprache zu veranschaulichen, dann kann man insbesondere die sprachlichen Einkleidungsfunktionen von Eigennamen und Begriffsnamen kontrastiv miteinander vergleichen und danach fragen, welche Verschleierungs- und Entschleierungsfunktionen ihnen jeweils zukommen. Eigennamen betrachten wir heute meist als arbiträre Bezeichnungen für Personen, die diese sprachlich etikettieren sollen, um sie leichter auffinden zu können, die diese aber keineswegs interpretierend erschließen oder gar kategorial klassifizieren sollen. Eigennamen erfüllen so gesehen eigentlich die pragmatische Funktion von Personennummern, die diese Aufgabe technisch und funktionell allerdings noch perfekter lösen können. Kulturgeschichtlich gesehen ist diese pragmatische Funktionsbestimmung von Eigennamen allerdings viel zu simpel. In frühen Kulturen hat man den Eigennamen immer irgendwie als substanziellen Teil der jeweiligen Person angesehen bzw. als einen Namen, der das Wesen dieser Person durchschimmern lässt. Das dokumentiert sich einerseits darin, dass man Eigennamen nach Totemtieren oder nach bestimmten normativen Vorbildern vergeben hat, und andererseits in dem Glauben, dass man das, was man einem Namen antut, zugleich auch dem Träger dieses Namens zufügt. Selbst die Vergabe von Na-
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P. Valéry, Windstriche, 1959, S. 161.
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men nach Berufstätigkeiten verweist auf ein solches substanzielles Verständnis von Eigennamen. Der Eigenname scheint in dieser Sicht mit seinem Träger so verwachsen zu sein bzw. diesen faktisch so zusammenzuhalten wie eine zweite Haut. Das macht auch verständlich, warum in manchen frühen Kulturen die Kinder nach der Pubertät oft einen anderen Namen bekommen haben. Offenbar ging man davon aus, dass sie nach diesem biologischen Umbruch auch eine andere Identität hätten. Aus alldem kann man ableiten, dass der Eigenname auch als eine Art Schleier verstanden werden kann, der in gewisser Weise eine offenbarende Durchsicht auf die Substanz der benannten Person ermöglicht. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Stellungnahme Goethes, der sich darüber entrüstet, dass Herder in einem Brief an ihn Spekulationen über die Herkunft seines Namens angestellt hat („Der von den Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote.“). Diese Mutmaßungen empfindet Goethe als außerordentlich despektierlich. „Es war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß erlaubte: denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.“ 27
Diese Argumentation Goethes macht auf das Problem aufmerksam, dass wir bei Benennungen damit zu rechnen haben, dass sie für manche so fest mit den jeweiligen Inhalten verwachsen sind, dass beide psychisch nicht mehr voneinander getrennt werden können. Jede Umbenennung würde für sie einen Inhalt ganz anders zur Erscheinung bringen. Dieser Tatbestand relativiert zumindest auf der Ebene des konkreten Sprachgebrauchs das Arbitraritätsprinzip de Saussures erheblich. Ganz besonders deutlich tritt uns diese Problematik bei metaphorischen Benennungen bzw. bei den sogenannten durchsichtigen Wörtern vor Augen, bei denen de Saussure lediglich von einer relativen Motiviertheit spricht. Als durchsichte Wörter werden solche Wörter bezeichnet, die als Komposita (Goldrahmen, weglaufen, goldgelb) oder als Ableitungen (Bäckerei, verkleiden, tragbar) eine implizite Aussage bzw. Determinationsrelation aufweisen, die sie spontan verstehbar machen, sofern man syntaktische Konventionen und die Bedeutung ihrer jeweiligen Einzelelemente kennt.28 Auch im Hinblick auf Metaphern kann man deshalb nicht von rein ornamentalen Redeweisen sprechen, bei denen eine triviale sprachliche Bezeichnung lediglich durch eine schmückende ersetzt wird, insofern uns jede neue sprachliche Benennung eines Sachverhalts immer auch auf andere Sachaspekte und Kontexte verweist bzw. uns andere Wahrnehmungsweisen und Durchsichten ermöglicht.
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J. W. von Goethe, Dichtung und Wahrheit, Werke, Bd. 9. S. 407. Vgl. H.-G. Gauger, Durchsichtige Wörter, 1971.
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Gerade im Zusammenhang mit durchsichtigen Wörtern bzw. Begriffsbildungen gewinnt nun natürlich die Vorstellung eines Schleiers als ikonisches Zeichen an Bedeutsamkeit. Wenn man beispielsweise die Sprache mit Hilfe des Sinnbildes Schleier thematisiert, dann lässt diese sich sehr leicht als eine Zwischenwelt zwischen der Subjektsphäre und der Objektsphäre verstehen. Allerdings muss man ihr dann auch eine andere Struktur und Funktion zuschreiben als etwa den Zwischenwelten, die man sich mit Hilfe der Sinnbilder Kleid oder Umhang veranschaulichen kann. Unter einem durchsichtigen Schleier wird ein Körper auf ganz andere Weise wahrnehmbar als unter einem undurchsichtigen Kleid oder Umhang, weil ein Schleier als eine durchsichtige zweite Haut anzusehen ist, die nicht nur äußere Konturen sichtbar macht. Schleier haben pragmatisch bzw. medial gesehen eine fast paradoxe Funktion, weil sie etwas so verhüllen sollen, dass das Eingehüllte gerade in dieser Verhüllung eine ganz besonders akzentuierte Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Schleier holen etwas aus der Trivialität der bloßen Faktizität heraus und stimulieren dadurch unsere Einbildungskraft. Deshalb hat man Schleiern auch immer wieder eine besondere ästhetische Qualität zugesprochen. Diese ist nicht zuletzt auch dadurch bedingt, dass Schleier eine besondere Funktionalität als Zeichen aufweisen, da sie zugleich etwas verhüllen und enthüllen bzw. da sie zugleich auf sich selbst und auf anderes aufmerksam machen. Solche paradoxen Funktionen und Strukturen werden in Märchen immer wieder zum Prüfstein für besondere Klugheit gemacht. So wird beispielsweise in dem Grimmschen Märchen von der klugen Bauerntochter diese vor eine eigentlich unlösbare Aufgabe gestellt. Sie soll nämlich nicht gekleidet und nicht nackend vor den König treten. Sie löst diese Aufgabe dadurch, dass sie sich in ein Fischernetz hüllt und in dieser durchsichtigen Einkleidung dann zur Verblüffung aller vor dem König erscheint.
4. Einkleidungen als Ästhetik- und Stilfragen Im Verlaufe der Kulturgeschichte sind sowohl die textilen als auch die sprachlichen Formen von Einkleidungen immer wieder als ausgesprochene Stilphänomene wahrgenommen worden. In diesem Zusammenhang ergab sich dann allerdings das Problem, ob das Phänomen Stil eher statisch im Rahmen von Substanzvorstellungen oder eher dynamisch im Rahmen von Strukturbildungsprozessen und Zeichenvorstellungen zu betrachten sei. Während die substanzorientierte Wahrnehmung der Stilproblematik letztlich darauf hinausläuft, bestimmte ontische Gegebenheiten als schön zu qualifizieren, geht es bei der prozessorientierten Wahrnehmung vor allem darum, genauer zu klären, unter welchen Bedingungen bestimmte textile oder sprachliche Wahrnehmungsinhalte bzw. Einkleidungen überhaupt als ästhetisch oder stilistisch bedeutungsvoll gelten können bzw. auf welche Weise und in welcher Intensität Stilphänomene in Erscheinung zu treten vermögen.
Einkleidungen als Ästhetik- und Stilfragen
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Der letztere Denkansatz, der hier favorisiert wird, beinhaltet, dass Ästhetik- und Stilfragen als genuine Zeichenfragen anzusehen sind, da sich das Wahrnehmungsinteresse hauptsächlich darauf konzentriert, welche einzelnen Wahrnehmungsinhalte als Zeichen anzusehen sind, welche Verweisfunktionen jeweils mit ihnen verbunden sind und wie sich aus den verbundenen Einzelzeichen komplexe Sinngestalten herausbilden. Das bedeutet, dass die Frage nach dem Stil von Kleidern und sprachlichen Äußerungen letztlich auf das Problem ausgerichtet ist, wie Kleider und Sprache als Vermittlungsinstanzen bzw. Medien in Erscheinung treten, die sowohl auf anderes als auch auf sich selbst aufmerksam machen können.
Das semiotische Ästhetikkonzept Für das semiotisch orientierte Verständnis von Ästhetik ist bezeichnend, dass Peirce die Ästhetik und Ethik erstaunlicherweise als Subdisziplinen der Logik verstanden wissen will und dass er unterschiedliche Intensitätsgrade des ästhetisch Guten annimmt. Dieses zunächst etwas verblüffende Verständnis von Ästhetik wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Peirce die Logik nicht als Lehre vom rein schlussfolgernden Denken versteht, sondern viel umfassender als Lehre vom Denken schlechthin. In diesem Denkrahmen hat die Ethik dann die Aufgabe, sich mit den Zielen des Denkens zu beschäftigen, und die Ästhetik die Aufgabe, nach den Intensitätsformen des Denkens zu fragen.29 Das beinhaltet, dass die analytische semiotische Ästhetik sich vor allem mit den strukturellen, prozessualen und genetischen Implikationen von Zeichen- bzw. Sinnbildungsprozessen zu beschäftigen hat. Insbesondere hat sie zu klären, unter welchen Bedingungen bestimmte Wahrnehmungsinhalte einen hohen Grad von Prägnanz und Überzeugungskraft bekommen können bzw. wann Einzelteile zu einer kohärenten und prägnanten Sinngestalt miteinander verwachsen. Die Ableitung des Ästhetischen aus Prägnanzerlebnissen in zeichenfundierten Wahrnehmungsprozessen bietet gute Ansatzpunkte, um Kleider- und Sprachformen ästhetisch zu beurteilen und strukturell miteinander zu analogisieren. Dabei ist dann von grundlegender Bedeutung, dass sowohl Kleider- als auch Sprachformen im Prinzip nicht als bloße empirische Gegebenheiten erfasst werden, sondern vielmehr als Zeichenträger, die indexikalisch, ikonisch oder konventionell auf etwas verweisen, das von ihnen selbst unterschieden werden kann. Das bedeutet, dass strukturbildende Prozesse im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer semiotisch orientierten Ästhetik stehen und nicht die Frage nach dem Schönen als einer überzeitlichen substanziellen Gegebenheit oder gar die Frage nach der Wahrheit in einem abbildenden Sinne. Strukturbil-
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Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2. 197–199; 5. 129–132.
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dende Prozesse gründen sich grundsätzlich immer auf die Spannung zwischen dem unmittelbar Sichtbaren und Bekannten auf der einen Seite und dem Verhüllten und Unbekannten auf der anderen Seite, weil nur so die dialektischen Kräfte Gestalt gewinnen, die solche Prozesse vorantreiben. Geheimnisse leben davon, dass etwas verborgen ist, aber es muss so verborgen sein, dass es sich zumindest andeutet und damit schon partiell fassbar wird. Was total verborgen ist, kann keine Wahrnehmungsspannung erzeugen, weil es für den Wahrnehmenden eigentlich noch gar nicht existiert und deshalb auch keinerlei Attraktivität auf ihn ausüben kann. Das bedeutet nun paradoxerweise, dass Geheimnisse eigentlich erst dann Geheimnisse sind bzw. zu Geheimnissen werden, wenn sie nicht total, sondern nur partiell Verborgenes beinhalten. Suchaktivitäten für die Aufdeckung von Geheimnissen können nämlich erst dann einsetzen, wenn es zumindest grobe Vorstellungen davon gibt, was man möglicherweise finden kann und wo man suchen soll. Es ist offensichtlich, dass Kleider und insbesondere Schleier sowie andeutende Redeweisen eine wichtige Funktion bei der Konstitution von Geheimnissen bzw. bei den Bemühungen zur Aufdeckung von Geheimnissen spielen können. Besondere Kleider- und Sprachformen können sicherlich unseren Such-, Denk- und Wahrnehmungsanstrengungen eine größere Intensität geben als allgemein übliche, weil sie auch unsere Einbildungs- und Sinnbildungskräfte in intensiver Weise anzuregen vermögen. Semiotisch gesehen gründen sich ästhetische Erlebnisse deshalb weniger auf die Inhalte, die man sucht und findet, sondern eher auf die dabei aktivierten Such- und Wahrnehmungsaktivitäten selbst. Deshalb hat man das Ästhetische ja auch immer wieder mit dem Phänomen des Spiels in Verbindung gebracht, weil auch hier eigentlich nicht das Ergebnis, sondern vielmehr der Vollzug des Spiels dessen eigentlichen Reiz ausmacht. In ähnlicher Weise lässt sich deshalb vielleicht auch sagen, dass der eigentliche ästhetische Genuss nicht in der inhaltlichen Wahrnehmung dessen besteht, was jeweils als Gegenstand textiler und sprachlicher Einkleidungs- und Konkretisierungsprozesse angesehen wird, sondern vielmehr im Vollzug der Einbildungs-, Strukturierungs- und Sinnbildungsprozesse, die in solchen Aktivitäten Gestalt gewinnen. Nackte Wahrheiten sind so gesehen dann ästhetisch ohne wirklichen Belang. Die produktive Einbildungskraft lebt von den Möglichkeiten des Verhüllens und Enthüllens. Sie stirbt, wenn das jeweilige Ziel erreicht ist oder als erreicht angesehen wird bzw. wenn das Ergebnis nicht wieder neue Perspektiven eröffnet. Nackte Wahrheiten lösen weder produktive Spannungen noch operative Einfälle aus, da das Erstrebte ja erreicht ist, es sei denn, die erreichte nackte Wahrheit provoziert den Wunsch nach einer noch nackteren Wahrheit.
Ästhetische Formen von Kleidern und Sprache Wenn es zutrifft, dass vorenthaltenes, aber angedeutetes Wissen den Geist anregt und das Denken produktiv macht, dann gewinnen Kleider- und Sprach-
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formen insbesondere dann an ästhetischem Wert, wenn sie Wahrnehmungsund Sinnbildungsprozesse nicht abschließen, sondern dazu anregen, sie fortzuführen. Das bedeutet, dass in ästhetischen Prozessen Zeichen nicht ganz hinter den von ihnen repräsentierten Inhalten verschwinden dürfen, sondern sich als Vermittlungsformen auch immer selbst irgendwie zur Erscheinung bringen müssen. Unter den Kleiderformen ist sicher der Schleier diejenige semitransparente Verhüllungsform, die am deutlichsten zugleich sich selbst und anderes sichtbar macht. Unter den Sprachformen ist offensichtlich die Metapher bzw. die bildliche Redeweise diejenige semitransparente Verhüllungsform, die am klarsten zugleich auf sich selbst und auf anderes aufmerksam machen kann. Beiden Zeichenformen ist im Prinzip ein hoher Grad an Selbstthematisierung bei der Erschließung und Objektivierung von Sachverhalten eigen. Allerdings kann in semiotischer Sicht nicht nur dem Schleier ein hoher Grad an ästhetischer Qualität zugeschrieben werden, sondern auch anderen textilen Verhüllungsformen wie etwa einem lose fallenden Kleid. Hier ist allerdings zu beachten, dass diese Einkleidungsform die Vorstellungskraft im Gegensatz zu zugeschnittenen Kleidern weniger auf die Umrissgestalt des Körpers selbst konzentriert, sondern eher auf die Bewegungsimpulse, die von dem eingekleideten Körper ausgehen, insofern diese sich ja recht klar in den äußeren Formveränderungen des Kleides manifestieren. Solche Kleiderformen richten unsere Aufmerksamkeit weniger auf den bekleideten Körper selbst, sondern eher auf dessen Bewegungen im Raum. Die leichte und kaum zugeschnittene Bekleidung der Griechen ist dementsprechend für Winckelmann auch eine Einkleidungsform gewesen, die sich optimal allen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers habe anpassen können, gerade weil sie den physischen Körperformen der Menschen nicht direkt angepasst gewesen sei. Kleider dieses Typs würden seiner Meinung nach den Körper weder abbilden noch einengen, sondern nur aufscheinen lassen. Erst durch den jeweiligen Träger könne deshalb etwas vom Stoff zum Kleid werden. So konzipierte Kleider würden nicht die Gefahr heraufbeschwören, sich zu eigenen Größen zu verselbständigen und die jeweils Bekleideten zu bloßen Statisten für die Präsentation von Kleidern zu machen.30 In dieser Denkperspektive lässt sich dann im Hinblick auf Sprache die These vertreten, dass Fachbegriffe und Fachsprachen eigentlich kein großes ästhetisches Potenzial besitzen, weil sie tendenziell dazu neigen, sich selbst als Medien bzw. als interpretierende Zeichen ganz vergessen zu machen. Ihre Formen sollen im Prinzip ihren Inhalten so optimal angepasst sein, dass sie diese ohne mediale Interpretationen, Brechungen oder Verschleierungen gleichsam als nackte Tatsachen zur Erscheinung bringen können. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch sind deshalb auch alle Sprachverwendungsformen verpönt, die unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf die zu objektivierenden
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Vgl. K. Schneider, Natur – Körper – Kleider – Spiel, 1994, S. 145 ff.
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Die Sprache als Kleid
Sachverhalte selbst richten, sondern zugleich auch auf die besonderen Denkstrategien der Sprecher oder gar auf die Strukturimplikationen der Sprache. Die sachbezogenen Darstellungsfunktionen der Sprache sollen so im Vordergrund stehen, dass kein Raum bleibt, sein Wahrnehmungsinteresse auch auf die Ausdrucks- und Appellfunktionen der Sprache zu richten oder gar auf ihre medialen Interpretationsimplikationen. Metaphorische und bildliche Sprachverwendungsweisen sind sicherlich nicht als sprachliche Einkleidungen anzusehen, die auf ihre Gegenstände so zugeschnitten sind, dass sie diesen ganz eng anliegen. Deshalb haben sie in den Fachsprachen auch kein sehr hohes Prestige. Hier finden sie allenfalls dann Akzeptanz, wenn die üblichen konventionalisierten Sprachformen an ihre Funktionsgrenzen stoßen, aber man dennoch nicht auf sprachliche Objektivierungen bzw. Einkleidungen zu Gunsten des Gebrauchs von mathematischen Formeln verzichten möchte. Aus der pragmatischen Intentionalität von Fachsprachen ergibt sich weiter, dass das Andeutungspotenzial von Metaphern, welches ja immer auch eine Anerkennung der Eigenständigkeit und Widerständigkeit der jeweils thematisierten Phänomene beinhaltet, in diesen Sprachgebrauchsformen keine große Wertschätzung genießen kann. Solange die Intensität des Denkens weniger an seiner Mehrdimensionalität gemessen wird, sondern eher an seiner kategorialen Klarheit und an der informativen Präzision der jeweils verwendeten Zeichen, solange gibt es im Rahmen des semiotischen Ästhetikkonzeptes keine rechten Möglichkeiten, der fachsprachlichen Nutzung von Sprache eine potenzielle ästhetische Qualität zuzuordnen. In dieser Hinsicht ergeben sich für die Nutzung der natürlichen Sprache sehr viel größere Chancen, da diese zu einer Konkretisierung von Gedanken dienlich sein kann, bei der es nicht nur um die Repräsentation von Sachverhalten selbst geht, sondern zugleich auch um die Repräsentation der Beziehungen der jeweiligen Subjekte zu diesen Sachverhalten. In diesem Fall spielen bei der sprachlichen Objektivierung von Gedanken dann nicht nur die jeweils einzukleidenden Referenzobjekte eine wichtige Rolle, sondern zugleich auch die subjektbedingten Wertakzentuierungen, Imaginationen und Dialogambitionen bzw. die Bezüge dieser Objekte zu den jeweiligen Subjekten. Wenn man so ansetzt, dann sollte man eigentlich nicht mehr davon sprechen, dass die Sprache die Gedanken verkleidet, sondern vielmehr davon, dass sie die Gedanken einkleidet im Sinne von konkretisiert. Die sprachliche Einkleidung ist dann eine Form der Einhüllung, die sowohl etwas verhüllt als auch etwas enthüllt. Diesbezüglich hat Klopstock ein sehr apartes Postulat für den rechten Umgang mit Sprache entwickelt. „Wie dem Mädchen, das aus dem Bade steigt, das Gewand anliegt, so solt es die Sprache dem Gedanken.“ 31
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F. G. Klopstock, Guter Rath der Aldermänner, Werke und Briefe, Bd. 7.1, S. 66.
Einkleidungen als Ästhetik- und Stilfragen
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Diese aphoristisch zugespitzte Beschreibung der Einkleidungsfunktion von Sprache für Gedanken kann seine erotischen Implikationen nicht leugnen. Der inhaltliche Gedanke und seine sprachliche Einkleidung bzw. Konkretisierung scheinen ebenso wie die unterschiedlichen Geschlechter auf eine ganz ursprüngliche Weise zusammenzugehören, obwohl sie natürlich auch immer zu unterscheiden sind. Jede Trennung löst eine erotische Spannung nach Wiedervereinigung aus. Je mehr man glaubt, Gedanke und sprachliche Einkleidung des Gedankens absolut trennen zu können, desto mehr streben die getrennten Teile wieder zu einer einheitlichen Gestalt zusammen. Platons Mythos vom Kugelmenschen, der ursprünglich beide Geschlechter in sich vereinte und den Zeus dann aus Neid wegen seiner inneren Vollkommenheit in zwei Hälften teilte, die sich dann anschließend mühsam wieder suchen müssen, exemplifiziert diese Dialektik auf sehr einprägsame Weise.32 Die Einkleidung von Gedanken hat immer eine erotische bzw. ästhetische Dimension. Schiller hat die Grundfunktion von Sprache, die sowohl trennen als auch vereinigen kann, in seiner Anrede an den Dichter so formuliert: „Laß die Sprache dir seyn, was der Körper den Liebenden; er nur / Ists, der die Wesen trennt und die Wesen vereint.“ 33 Erheblich weniger erotisch akzentuiert als Klopstock und Schiller hat auch Herder darauf verwiesen, dass Einkleidung und Eingekleidetes prinzipiell zusammengehören. Er betont ausdrücklich, dass diejenigen Formen der Philosophie bzw. der Weltweisheit seine Zustimmung nicht fänden, die mit Worten nur so spielten wie die Arithmetik mit Zeichen. Es sei nicht sinnvoll, einen Begriff von der Hülle bzw. von der sprachlichen Einkleidung abzusondern, in welcher man ihn seit seiner Jugend zu sehen gewohnt war. „Er sträubt sich, und wenn wir ihn mit Gewalt einkleiden, so entwischt er, und lässt uns das Kleid in der Hand; oder wir verunstalten ihn, haben ihm mit seinem Gewande zugleich die Haut zerrissen: da steht er unkänntlich und verwundet in Philosophisch-Barbarischen Hüllen.“ 34
Der Stil als Einkleidung von Gedanken Unser heutiger Terminus Stil geht auf das lat. Wort stilus zurück, mit dem ursprünglich der Griffel für die Beschriftung von Wachstafeln bezeichnet wurde. Aus dem Namen für ein Schreibgerät ist dann im Laufe der Zeit zunächst eine Bezeichnung für eine bestimmte Schreibart bzw. für eine ganz spezifische Textgestaltung geworden und dann eine Bezeichnung für die be-
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Platon, Symposion, 189 c ff., Werke, Bd. 2, S. 221 ff. F. von Schiller, Musenalmanach für das Jahr 1797, Schillers Werke, Nationalausgabe Bd. 1, S. 302. 34 J. G. Herder, Über die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 419. 33
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Die Sprache als Kleid
sondere Gestaltung kultureller Phänomene ganz unterschiedlicher Art (Baustil, Führungsstil, Lebensstil usw.). Daher liegt es auch nahe, von einem Denkstil zu sprechen, der sich in der Besonderheit seiner sprachlichen Einkleidungen konkretisiert. Deshalb machen Kleider nicht nur Leute, sondern Sprachkleider auch Gedanken. Sprachen mit einer ganz spezifischen inneren Form im Sinne Humboldts haben so gesehen dann auch immer Rückwirkungen auf die Denkstile ihrer jeweiligen Verwender, insofern sie zu der konkreten Ausprägung von bestimmten individuellen und kollektiven Denkstilen beitragen. Der stereotype Gebrauch von Sprachformen birgt immer die Gefahr, auch stereotype Denkformen zu begünstigen. Sprachliche Formen müssen variabel verwendet und ständig erneuert werden, weil sie sonst wenig dazu beitragen, der Individualität von Personen und Gruppen Ausdruck zu geben. Ebenso wie Kleider sich durch ständigen Gebrauch physisch und psychisch abtragen und ihre genuinen Gestaltungsfunktionen verlieren, so lassen sich auch Sprachformen durch stereotypen Gebrauch verschleißen. Sie werden dann untauglich, individuellen und ästhetischen Denkformen Ausdruck geben zu können. Wenn man in dieser Weise den sprachlichen Stil aus der sprachlichen Einkleidung bzw. Gestaltung von Gedanken ableitet, dann konzentriert man seine Aufmerksamkeit vor allem auf folgende Aspekte der Sprache. Ebenso wie es ganz bestimmte Funktions- und Statuskleider gibt, so gibt es natürlich auch Sprachformen, die im Sinne eines Funktionalstils auf ganz spezifische pragmatische Zwecke zugeschnitten sind. Durch ihre Verwendung sollen dann nicht nur ganz bestimmte Inhalte bzw. bestimmte Aspekte von Inhalten zur Erscheinung gebracht werden, sondern zugleich auch ganz bestimmte Wahrnehmungssituationen und Kontexte hergestellt werden. Kleider und Sprachformen können deshalb sowohl auf ihre Gegenstände als auch auf die Absichten ihrer Verwender zugeschnitten sein. Sei es, dass sie bestimmte Charakteristika von Sachverhalten möglichst klar herausstellen sollen, sei es, dass sie bestimmte Intentionen ihrer Verwender effektiv verwirklichen sollen. Gute Kleider und guter Stil resultieren sowohl aus ihrem funktionsgerechten Material und Zuschnitt als auch aus der Klarheit der durch sie konkretisierten Hinweise bzw. Zeichenfunktionen. Nach guter alter rhetorischer Tradition soll der gute Stil ja vornehmlich dazu dienen, Dunkelheit und Unklarheit (obscuritas) zu beseitigen bzw. Durchsichtigkeit und Klarheit (perspicuitas) herzustellen. Kleider- und Stilformen, die nicht das Einzukleidende zur Erscheinung bringen, sondern nur sich selbst, bzw. die nicht funktional auf bestimmte Zwecke abgestimmt sind, sondern auf die Eitelkeit ihrer jeweiligen Verwender, sind nach alter rhetorischer Einschätzung fehl am Platze, weil sie sich nicht an den Normen orientieren, die aus der jeweiligen Sache oder den jeweiligen Aufgaben resultieren. Diese normativ orientierte Stilauffassung geriet ins Wanken, als man sich im Laufe der kulturgeschichtlichen Entwicklung mit dem Gedanken anfreunden musste, dass es historisch, systematisch und individuell ganz unterschiedliche, aber durchaus sinnvolle Einkleidungs- bzw. Objektivierungsformen für bestimmte Gegenstände geben kann. Man hatte nämlich mehr und mehr zu
Einkleidungen als Ästhetik- und Stilfragen
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berücksichtigen, dass die Einkleidungen nicht nur etwas mit den einzukleidenden Gegenständen und deren pragmatischen Funktionen zu tun haben, sondern auch mit dem unterschiedlichen Einkleidungs- oder Gestaltungswillen der einkleidenden Subjekte. Die Subdifferenzierung des allgemeinen Stilbegriffs als Machart von bestimmten Gestaltungsstategien in Epochenstil, Gattungsstil und Individualstil dokumentiert das sehr deutlich. Kleider- und Sprachstile konnten und mussten unter diesen Bedingungen dann nämlich durchaus als Manifestationsweisen der besonderen Gestaltungsziele von Epochen, Gruppen oder Individuen verstanden werden. Auf diese Weise wurde immer deutlicher, dass unterschiedliche sprachliche Objektivierungsformen das jeweils Eingekleidete nicht nur ornamental etwas anders zur Erscheinung bringen, sondern dass sie auch neue Inhaltsaspekte zugänglich machen bzw. neue Korrelationszusammenhänge stiften können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Entscheidung für die monologische oder die dialogische sprachliche Darstellungsweise von Problemzusammenhängen. Die monologische Darstellungsform einer theoretischen Abhandlung suggeriert von vornherein die Vorstellung, dass wir es direkt mit dem jeweils thematisierten Sachverhalt selbst zu tun hätten. Dagegen macht uns die dialogische Darstellungsform, wie sie uns z. B. in einem platonischen Dialog entgegentritt, von vornherein darauf aufmerksam, dass jede Sachaussage nicht so gilt, wie sie uns wortwörtlich entgegentritt, sondern nur so, wie sie in das jeweilige interaktive Sinnbildungsgeschehen eingebunden ist. Als Einzelaussage hat sie keinen absoluten Wahrheitsanspruch, sondern nur einen Stellenwert in einer interaktiven Sinnbildungsanstrengung. Deshalb kann man Sätzen in einem Dialog auch schwerlich den Status von Lehrsätzen zubilligen, was bei Sätzen in monologischen Abhandlungen sehr viel leichter fällt. Neue Stilformen repräsentieren so gesehen in der Regel neue Gedankenformen, weil Form und Inhalt bzw. Kleid und Gestalt sehr viel enger aufeinander bezogen sind, als man in der normative Stilistik ursprünglich angenommen hatte. Das postuliert ein Diktum Nietzsches über den Stil sehr klar: „Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter! “ 35 Die Frage ist nur, was man bei dem Diktum Nietzsches unter dem Terminus Gedanke zu verstehen hat. Ist der Gedanke die sprachliche Einkleidung einer Sache, durch die diese so authentisch wie möglich im Sinne der alten Adäquationstheorie der Wahrheit zur Erscheinung kommt (adaequatio intellectus et rei), oder ist der Gedanke die sprachliche Einkleidung einer Sache, durch die zugleich auch die Sichtweise bzw. der Gestaltungswille des betrachtenden Subjekts so authentisch wie möglich objektiviert wird. Isoliert betrachtet ist das Diktum für beide Interpretationsmöglichkeiten offen, wenngleich Nietzsche selbst wohl nur die letztere im Auge hatte.
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F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Werke, Bd. 1, S. 930.
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Die Abweichung einer bestimmten sprachlichen Einkleidung eines Sachverhalts von den üblichen Einkleidungsweisen kann natürlich auch zu einer bloßen Manier werden. Ebenso wie sich Kleider von ihren grundlegenden pragmatischen Schutz- und Interpretationsfunktionen für das Eingekleidete ablösen und sich zu bloßen ornamentalen Hüllen verselbständigen können, die weder stringente Rückschlüsse auf das Eingekleidete noch auf den spezifischen Einkleidungswillen des Kleiderträgers zulassen, so können sich auch Sprachformen von dem Gedanken lösen, den sie ursprünglich objektivieren und gestalten sollten. Ebenso wie das Übermaß an verzierender Kleidung das Bekleidete verbergen oder gar erdrücken kann, so kann auch die Manieriertheit von Sprachformen den zu repräsentierenden Gedanken verhüllen oder überwuchern. Diesen Tatbestand hat Lichtenberg in einem Aphorismus sehr schön zum Ausdruck gebracht. „Lieber Freund, du kleidest deine Gedanken so sonderbar, daß sie nicht mehr aussehen wie Gedanken.“36 Ganz ähnlich, aber in einem anderen Bilde hat auch Jean Paul die Vorstellung versinnbildlicht, dass die Einhüllung die adäquate Wahrnehmung nicht erleichtern, sondern erschweren kann. „Wer die Gebrechen seiner Gedanken in eine dunkle Sprache einkleidet und verhüllt, ahmet klüglich die Wirte nach, die gerne trübes Bier in einem undurchsichtigen Gefäs auftragen.“ 37
Der Stil ist der Mensch Die altbekannte Formel – Kleider machen Leute – muss man nicht nur so verstehen, dass man über seine angelegten Kleider in andere soziale Rollen schlüpfen kann. Man kann sie auch so verstehen, dass die Kleider als zweite Haut einen wesentlichen Beitrag zum Selbstverständnis und damit auch zur Identitätsbildung des jeweiligen Trägers leisten. Das hat Plenzdorf sehr plastisch thematisiert als er Edgar Wibeau Folgendes sagen lässt: „Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans sind die edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die ganzen synthetischen Lappen … Für Jeans könnte ich überhaupt auf alles verzichten …Ich meine natürlich echte Jeans. Es gibt ja auch einen Haufen Plunder, der bloß so tut wie echte Jeans … Echte Jeans dürfen zum Beispiel keinen Reißverschluß haben vorn. Es gibt ja überhaupt nur eine echte Sorte Jeans …Ich meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen.“ 38
Wenn sich jemand so über ein bestimmtes Kleidungsstück charakterisieren kann, dann liegt natürlich auch die Annahme nahe, dass Menschen ihr Selbst-
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, S. 136, B 346. J. Paul, Epigramme, Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 1, S. 520. 38 U. Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W., 1976, S. 26–27. 37
Einkleidungen als Ästhetik- und Stilfragen
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verständnis über die von ihnen favorisierten Sprachformen finden können. Ein solches Verständnis von sprachlichen Einkleidungsformen bzw. Stil ist durch Buffon sehr bekannt geworden. In seiner Antrittsrede vor der Académie Française hat er 1753 die These aufgestellt, dass die Dinge jenseits der menschlichen Sphäre lägen, dass aber der Stil der Mensch selbst sei.39 Dieses Diktum Buffons legt auf den ersten Blick nahe, das Phänomen Stil in der Denktradition des 19. Jahrhunderts als eine Manifestationsweise von Individualität bzw. von individueller Sicht auf die Welt zu verstehen. Wolfgang Müller hat nun aber einleuchtend nachgewiesen, dass dieser griffige Topos von Buffon ursprünglich ganz anders gemeint war, was natürlich nicht ausschließt, ihn auch in der angedeuteten Weise zu verstehen. Nach Müller hatte Buffon mit seiner These ursprünglich sagen wollen, dass die sprachliche Einkleidung der objektiv gegebenen Welt eine genuine Aufgabe des Menschen als eines rationalen Wesens sei und dass unter Mensch (homme) hier nicht ein individueller Mensch zu verstehen sei, sondern der Mensch als Gattungswesen in einem spezifischen Sinne (animal rationale). Dementsprechend habe Buffon den Stilbegriff eng mit dem Normbegriff verbunden und ihn deshalb sowohl auf ein umfassendes Sachwissen als auch auf die Respektierung logischer und grammatischer Ordnungsprinzipien und Regeln gegründet. Der Stil ist so gesehen dann zwar auch als eine Manifestationsweise und Selbstdarstellung des Menschen zu werten, aber weniger in einem individuellen als in einem bestimmten gattungsbezogenen Sinne. Interessant ist auch, dass Peirce in seinen semiotischen Überlegungen der Sprachgebung eine fundamentale anthropologische Funktion zugewiesen hat. Menschen und Worte würden sich wechselseitig konstituieren. Die verwendete Sprache sei die Summe der menschlichen Existenz, da sich der Mensch über seine Sprache bzw. über den Gebrauch von Zeichen definieren könne.40 Das Verständnis des Stils als eines genuinen Mittels, sich als Individuum selbst herzustellen kommt sehr gut in einer Aussage Steinthals zum Ausdruck, die sich auf die Funktion der Sprache für das Denken von Humboldt bezieht. „Die Sprache ist ihm nicht ein Gewand, das er frei um seine Gedanken schlägt, damit diese durchscheinen; sondern sie gehört zu ihrem Fleisch und ihrer Haut. Er denkt wirklich in Worten, die Sprache ist ihm ein Organ des Denkens: darum kann er den Gedanken nicht losschälen von der Sprachform, in der er ihn gefasst hat.“ 41
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„Les choses sont hors de l’homme, le style est l’homme même …” Zitiert nach: W. Müller, Topik des Stilbegriffs, 1981, S. 41. 40 Ch. S. Peirce, Collected Papers: “In fact, therefore, man and words reciprocally educate each other.” (5. 313); “It is that the word or sign which man uses is the man himself… Thus my language is the sum total of myself; for the man is the thought.” ( 5. 314) 41 H. Steinthal, Der Styl Humboldts, In: Wilhelm von Humboldt, Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt, hrsg. und erklärt von Heymann Steinthal, Berlin 1884, S. 23–34. hier S. 27. Zitiert nach R. Roscher, Sprachsinn, Studien zu einem Grundbegriff im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, 2006, S. 41.
Die Sprache als Kleid
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Die Individualisierung des sprachlichen Stilbegriffs im 19. Jahrhundert, die zugleich auch immer eine Psychologisierung beinhaltet, hat Schopenhauer sehr klar dokumentiert. „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher, als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. Wäre diese auch noch so schön, so wird sie, durch das Leblose, bald insipid und unerträglich; so daß selbst das hässlichste lebendige Gesicht besser ist … Die Sprache, in welcher man schreibt, ist die Nationalphysiognomie.“ 42
Dieses anthropologisch und sprachpsychologisch akzentuierte Stilverständnis Schopenhauers, das Stilfragen als konstitutive Einkleidungsfragen von Gedanken versteht, ist durch ein paradoxes Spannungsverhältnis geprägt, das nicht leicht auszubalancieren ist. Einerseits muss man sich nämlich bei der Einkleidung bzw. der Konkretisierung von Gedanken an Erfahrungsnormen und an Darstellungs- und Sprachtraditionen orientieren, um sowohl den Dingen gerecht als auch sich selbst und anderen verständlich zu werden. Andererseits soll man aber bei seinen sprachlichen Einkleidungsbemühungen auch seine individuelle Sicht auf die Dinge zum Ausdruck bringen und sich dadurch als Interpret der Dinge profilieren. Je schwächer das interpretative und kreative individuelle Denken ausgeprägt ist, desto mehr wird es sich bei der sprachlichen Objektivierung von Inhalten vertrauensvoll an die tradierten und konventionalisierten sprachlichen Einkleidungsformen binden. Je größer der Anspruch ist, die Dinge auf neuartige Weise zu sehen und zu repräsentieren, desto größer wird die Neigung sein, sie in neuartigen und überraschenden Sprachformen zugänglich zu machen. Eine große Hilfe leisten diesbezüglich dann immer metaphorische Einkleidungsformen. Einerseits arbeiten diese mit vertrautem Sprachmaterial und binden sich dabei auch an die üblichen syntaktischen Normen. Andererseits versuchen sie aber zugleich, das sprachlich zu Objektivierende in neuartigen Perspektiven und Kontexten sichtbar zu machen. Ein Aphorismus Lichtenbergs kennzeichnet sehr schön die Spannungen zwischen den vorgegebenen und normierten Sprachformen auf der einen Seite und dem individuellen Gebrauch dieser Sprachformen auf der anderen Seite, durch die dann nicht selten sehr attraktive interpretationsbedürftige Rätsel entstehen können. „Eine Livree und Uniform können noch so freudig sein, so bald aber jemand an seinem Leib die Sachen aus eigener Wahl trägt, so ist das Kleid nicht mehr Decke sondern Hieroglyphe.“ 43
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A. Schopenhauer, Paerga und Paralipomena II, § 282, Werke, Bd. 5, S. 455. G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, S. 507, F 334.
IV
Die Sprache als Bauwerk
Auf den ersten Blick liegt es nicht besonders nahe, Bauwerke als Sinnbilder für Sprache anzusehen. Dennoch gibt es viele aufschlussreiche Analogien zwischen beiden Phänomenen, die sich insbesondere darauf gründen, dass Bauwerke ebenso wie Werkzeuge und Kleider kulturelle Artefakte und Strukturgebilde sind, ohne die das menschliches Leben und Zusammenleben kaum noch vorstellbar ist. Eine gewisse Schwierigkeit, das Phänomen Bauwerk als Bildspender für den Bildempfänger Sprache zu nutzen, besteht darin, dass unsere Bauwerksvorstellung einen recht großen Umfang hat und sehr unterschiedliche Realisierungsformen von Bauwerken von einer Hütte über eine Brücke bis zu einer Großstadt umfassen kann. Deshalb wird es leichter, die möglichen Sinnbildfunktionen von Bauwerken für Sprache zu erfassen, wenn wir uns exemplarisch ganz bestimmte Erscheinungsformen von Bauwerken vor Augen führen wie etwa Häuser, Gefängnisse oder Städte, was hier geschehen soll. Darüber darf allerdings nicht vergessen werden, dass alle Realisierungsformen von Bauwerken Analogien zur Sprache aufweisen, da sie ebenso wie diese Kulturphänomene mit einer ganz spezifischen Genese und Funktion sind. Deshalb ist es vorteilhaft, zunächst einmal ein paar generelle Überlegungen zu Bauwerken als Kulturphänomenen anzustellen, bevor die spezifischen Bauwerktypen Haus, Gefängnis und Stadt näher auf ihre möglichen Sinnbildfunktionen für das Phänomen Sprache befragt werden. Bei der sinnbildlichen Nutzung dieser drei Bildspender besteht zweifellos die generelle Gefahr, die Sprache zu einem für sich existierenden Phänomen zu hypostasieren. Gleichzeitig bieten alle drei Einzelsinnbilder aber auch die Chance, diese Gefahr dadurch auszubalancieren, dass nicht nur ein Interesse für die jeweils beobachtbare statische Gestalt dieser drei Phänomene entwickelt wird, sondern auch für ihre historische Genese und ihre dynamischen Funktionszusammenhänge.
1. Bauwerke als Kulturphänomene Generell lässt sich sagen, dass Bauwerke insbesondere in drei Hinsichten eine Bedeutsamkeit als Sinnbilder bekommen können. Zum Ersten lassen sich Bauwerke als Ordnungskonstrukte von Menschen betrachten, bei denen Einzelteile konstruktiv miteinander korreliert sind. Zum Zweiten lassen sich Bauwerke als Ergebnisse von Arbeit betrachten, die einerseits bestimmte soziale Organisationsformen voraussetzen und andererseits bestimmte soziale Konse-
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Die Sprache als Bauwerk
quenzen haben. Zum Dritten lassen sich Bauwerke als Phänomene betrachten, die bestimmte pragmatische Funktionen zu erfüllen haben, auf die ihre jeweiligen Strukturen sinnvoll abgestimmt sein müssen.
Bauwerke als Konstrukte Bauwerke sind zweckorientierte menschliche Artefakte. Anthropologisch gesehen können sie deshalb als Formen der Lebensvorsorge verstanden werden bzw. als Ergänzungen von Naturordnungen durch Kulturordnungen. Deshalb sprechen wir ja auch ganz selbstverständlich nicht nur von Hausbau, sondern auch von Landbau, Bergbau und Maschinenbau. Auch die Rede von Theoriegebäuden, Theoriefundamenten und Theorielabyrinthen geht uns ganz selbstverständlich von den Lippen. Offenbar gelten strukturierte Bauwerke generell als ziemlich brauchbare Bildspender, um unanschauliche komplexe Ordnungsgestalten sinnbildlich zu objektivieren. Im Marxismus wird ganz unbefangen von der Basis und dem Überbau einer Gesellschaft gesprochen. Nietzsche hat ebenso unbefangen die allgemeine Baufähigkeit des Menschen mit seiner Sprachfähigkeit analogisiert. „Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Auftürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes gelingt …“ 1 Vergessen sollte man in diesem Zusammenhang auch nicht, dass das Lieblingswort der modernen Wissenschaften, nämlich Struktur, ursprünglich aus dem Bild- bzw. Sachfeld von Bauwerken kommt. Es leitet sich bezeichnenderweise von dem lat. Wort structura (Zusammenfügung, Ordnung, Bau) ab, das wiederum auf das lat. Verb struere (bauen, aufschichten) zurückgeht. Immer wenn man danach strebt, ein Sinnbild für den gegliederten Aufbau eines Ganzen aus Teilen zu finden, greift man offenbar gerne auf Bauwerksvorstellungen als Bildspender zurück. Gerade wenn wir Sprache und Sprachgebilde vom Systemgedanken her zu erfassen versuchen, dann sprechen wir ganz selbstverständlich von der Struktur der Lexik, der Struktur der Grammatik oder der Struktur des Textes bzw. von dem Bau eines Textes, von den Bauformen des Erzählens, von sprachlichen Fundamenten und Fassaden oder gar von sprachlichen Labyrinthen. Bauwerke scheinen prototypische Beispiele dafür zu sein, dass Menschen intentional funktionsfähige Ordnungsgestalten herstellen können. Zwar gibt es auch im Tierreich Aktivitätsprodukte, die man als Bauwerke klassifizieren könnte (Nest des Vogels, Damm des Biebers, Wabe der Biene), aber hier ist wohl davon auszugehen, dass diese Bauwerke nicht Ergebnisse intentionaler Planung bzw. nicht Realisierungen der geistigen Antizipationen von Ord-
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F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke, Bd. 3, S. 315.
Bauwerke als Kulturphänomene
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nungsgebilden sind, sondern eher Konsequenzen von genetisch verankerten Aktivitätsprogrammen, die sich evolutionär ausgebildet und bewährt haben. Das Verständnis von Bauwerken als intentional erzeugten menschlichen Konstrukten für die Verwirklichung bestimmter Zwecke hat nun wichtige Konsequenzen für die Nutzung der Vorstellung von Bauwerken als Bildspendern zur Erschließung von kulturellen Ordnungsgestalten wie etwa des Staates, des Rechts oder der Sprache. Es stellt sich nämlich die Frage, ob tatsächlich alle Bauwerke bzw. alle kulturell entwickelten Ordnungsgestalten aus der Verwirklichung eines vorab konzipierten Bauplanes resultieren oder ob es auch kulturell erzeugte Ordnungsgestalten gibt, die ähnlich wie die Bauwerke der Tiere nicht als intentional geplante Ordnungskonstrukte entstanden sind. Falls Letzteres zuträfe, dann erschiene auch die sinnbildliche Analogisierung von Bauwerken und Sprache in einem ganz anderen Licht. Vielleicht müssten wir nämlich dann damit rechnen, dass es sowohl im Bereich von physischen Bauwerken als auch im Bereich von geistigen Sinngebilden Ordnungsgestalten gibt, die zwar Ergebnisse menschlicher Handlungen sind, die aber keineswegs immer plangeleitet erzeugt worden sind, sondern die sich vielmehr ganz oder teilweise ungeplant auf evolutionäre Weise entwickelt haben. Insbesondere bei komplexen physischen Bauwerken wie beispielsweise alten Städten hätten wir uns die Frage zu stellen, ob sie nicht Ergebnisse von ungeplanten evolutionären Wachstumsprozessen sind. Im Rahmen einer solchen Sichtweise würden dann natürlich unseren Bauwerksvorstellungen auch noch ganz andere mögliche Sinnbildfunktionen als zunächst erwartet zuwachsen. Zur Klärung dieser Problematik lässt sich auf Überlegungen zurückgreifen, die F. A. von Hayek entwickelt hat, um die Genese von komplexen kulturellen Ordnungszusammenhängen wie etwa Rechts- und Wirtschaftsordnungen zu beschreiben, die sicherlich viele Ähnlichkeiten mit der Genese von Sprachordnungen aufweisen. Er hat sich entschieden gegen das Denkmodell des cartesianisch geprägten Rationalismus gewendet, nach dem alle kulturellen Ordnungssysteme Produkte der planenden Vernunft seien. Stattdessen hat er betont, dass insbesondere komplexe kulturelle Ordnungssysteme, die nicht nur einem einzigen klar definierbaren Zweck dienten, sondern vielen unterschiedlichen Zwecken zugleich, nicht nach dem Bauwerksmodell im Kontext eines Planungsgedankens beschrieben werden dürften. Um das plausibel zu machen, unterscheidet Hayek rational geplante monofunktionale Ordnungssysteme vom Typ Taxis, die für die Bewältigung klar bestimmbarer Probleme entworfen sind (Straßenverkehrsordnungen) von ungeplanten polyfunktionalen kulturellen Ordnungsgestalten vom Typ Kosmos (Sittenordnungen). Letztere hätten sich über lange Zeit evolutionär zur Bewältigung von Problemzusammenhängen herausgebildet, die so komplex seien, dass sie von niemandem in ihren vielfältigen Korrelations- und Interdepen-
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Die Sprache als Bauwerk
denzbeziehungen völlig durchschaut würden.2 So gesehen könnte man dann beispielsweise Bauwerke, die nach einem bestimmten Plan ausgeführt worden sind (Fabrikgebäude) dem Typ Taxis zuordnen und Bauwerke, die über lange Zeit historisch gewachsen sind und die gleichzeitig vielen unterschiedlichen Zwecken dienen (alte Städte), eher dem Typ Kosmos, insofern hier konkrete Planungen sicherlich immer nur partiell wirksam gewesen sind. Ordnungsgestalten vom Typ Kosmos sind nach Hayek nicht durch eine externe Instanz geplant, sondern haben sich mehr oder weniger spontan als Resultanten von vielfältigen individuellen und partiellen Ordnungsanstrengungen allmählich herausgebildet. Sie wachsen nach dem Prinzip von Mutation bzw. Setzung und Selektion bzw. Bewährung heran. Sie entwickeln in diesem evolutionären Prozess Mechanismen der Selbstregulation, die sie zu offenen Systemordnungen machen, die sich flexibel neuen Verhältnissen und Funktionsbedürfnissen anpassen können. Sie weisen Ordnungsstrukturen auf, die sich zu verschiedenen Zeiten zu ganz unterschiedlichen Zwecken herausgebildet haben und die eben deshalb auch nicht selten in vielfältigen Spannungen zueinander stehen. Aber gerade weil es in solchen Ordnungszusammenhängen immer eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gibt und weil nicht alle Systemteile derselben Funktionslogik unterworfen sind, besitzen Systemordnungen vom Typ Kosmos eine sehr viel größere Flexibilität bei der Bewältigung neuer Aufgaben als konstruierte Ordnungssysteme vom Typ Taxis. Ordnungen vom Typ Kosmos lassen sich nach Hayek erstaunlicherweise von Menschen durchaus sinnvoll und effektiv handhaben, obwohl sie von ihnen letztlich gar nicht vollständig durchschaut würden. Deshalb sind sie für Hayek auch eher als geisterzeugend denn als geisterzeugt zu beurteilen. Ihr Gebrauch macht die Menschen eher zu Problemlösern als zu Zweckverfolgern. Er kommt deshalb auch zu dem Schluss, dass die Kultur insgesamt eine so komplexe Ordnungsstruktur aufweise, dass man nicht annehmen könne, dass sie nach einem bestimmten Entwurf entstanden sei bzw. dass sie als Produkt der planenden Vernunft zu betrachten sei. „Unser Gehirn ist ein Organ, das uns zwar befähigt, Kultur aufzunehmen, aber nicht sie zu entwerfen.“ 3 Wenn wir mit Hayek weiterhin davon ausgehen, dass es in der Welt Ordnungen gibt, die auf drei recht unterschiedliche Quellen zurückgeführt werden können, nämlich Ordnungen, die aus Naturgesetzen resultieren, Ordnungen, die von Menschen konstruktiv entworfen sind, und Ordnungen, die vom Menschen gemacht, aber nicht konstruktiv geplant worden sind, dann ergeben sich für die sinnbildliche Nutzung von Bauwerksvorstellungen für sprachtheoretische Überlegungen folgende Konsequenzen. Ebenso wie es von Architekten zweckvoll entworfene Bauwerke gibt, so gibt es auch zweckvoll entworfene
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F. A. von Hayek, Freiburger Studien, 1969, S. 206 ff. F. A von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, 1980, S. 57 ff. 3 F. A. von Hayek, Die drei Quellen der menschlichen Werte, 1979, S. 15.
Bauwerke als Kulturphänomene
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Kunstsprachen (Esperanto) und zweckvoll entworfene fachsprachliche Terminologien. Ebenso wie es historisch gewachsene bzw. ständig umgebaute Bauwerke gibt, die mehreren Zwecken gleichzeitig zu dienen haben, so gibt es auch Ausprägungen von Sprache, die historisch gewachsen sind und die gleichzeitig sehr unterschiedliche Einzelfunktionen erfüllen können wie etwa die natürliche Sprache. Ebenso wie Bauwerke, die vielfältig nutzbar sein sollen, sich nicht optimal nach wenigen Kriterien durchgestalten lassen, weil sie sonst ihre Anpassungsfähigkeit an neue Funktionsanforderungen verlieren, so lässt sich auch die natürliche Sprache nicht stringent durchregulieren, weil sie dann nicht mehr polyfunktional verwendbar ist. Beispielsweise kann ein Architekt den Lichteinfall in ein Gebäude durch große Fenster optimieren, aber eben dadurch kann er auch die Wohnqualität dieses Gebäudes reduzieren, weil es sich durch die Sonneneinstrahlung zu sehr aufheizen kann oder weil sich seine Bewohner in ihm nicht mehr zureichend von ihrer Außenwelt abgegrenzt wissen. Wenn bei Bauwerken und Sprachen polyfunktionale Verwendungsinteressen ins Spiel kommen, dann verliert der Konstruktionsgedanke an Bedeutung und der Evolutionsgedanke gewinnt an Gewicht. Letzterer drängt immer darauf, unterschiedliche Funktionsaufgaben in ein optimales Gleichgewicht zu bringen, was in der Regel eher praktisch erprobt als konstruktiv geplant werden kann. Für gewachsene Ordnungsgestalten, seien es nun Städte oder Sprache, ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen deshalb auch kein Mangel, sondern ein Ausweis von Polyfunktionalität, die nicht nur auf rein praktische Zwecke ausgerichtet sein muss, sondern darüber hinaus auch emotionale und soziale Zielsetzungen einschließen kann.
Bauwerke als Arbeitsprodukte Bauwerke sind ebenso wie Sprachen Indizien und Ergebnisse der Zusammenarbeit in einem sozialen Raum. Sie dienen als kulturelle Institutionen, die das individuelle und kollektive menschliche Leben erleichtern sollen. Deshalb haben sie auch immer regulative soziale Funktionen, deren Implikationen von denen, die sie erzeugt haben, nur teilweise überschaut werden können, insofern sie meist erst während des konkreten Gebrauchs wirklich fassbar werden. Die Nutzung von Bauwerken hat ebenso wie die Nutzung von Werkzeugen anthropologische Rückwirkungen, die viele Ähnlichkeiten zur Nutzung von Sprachen aufweisen. In der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel haben wir einen Mythos, der auf sehr prägnante sinnbildliche Weise sowohl die sozialen und kulturellen Implikationen von Bauwerken thematisiert als auch die dialektische Verknüpfung von Arbeit und Sprache bei der Ausführung von großen Bauvor-
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Die Sprache als Bauwerk
haben.4 In diesem Mythos wird auf exemplarische Weise gezeigt, wie eine Gruppe von Menschen ihr nomadisches Leben aufgibt und durch ein großes Bauvorhaben bestrebt ist, sesshaft zu werden. Daraus ergeben sich dann Konsequenzen, die für die Beteiligten zunächst gar nicht überschaubar sind. Für die Errichtung des Turms, der sicherlich als exemplarisch für die Errichtung menschlicher Bauwerke aller Art steht, wird bezeichnenderweise kein unmittelbarer praktischer Zweck angegeben, wie etwa der Schutz vor Witterungseinflüssen bzw. vor Feinden oder das Bedürfnis, Waren einzulagern. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass man sich mit dem Bau des Turmes, dessen „Spitze bis an den Himmel“ reichen soll, „einen Namen machen“ könne und dass dadurch zugleich auch der Gefahr zu begegnen sei, in alle Länder zerstreut zu werden (1. Mose 11). Das bedeutet, dass die Menschen durch den Bau des Turmes nicht mehr als Jäger und Sammler bzw. als Naturmenschen in Erscheinung treten wollen, sondern als Kulturmenschen, die die gegebene Welt für ihre eigenen Bedürfnisse umzugestalten trachten (homo faber). Ihnen geht es nicht mehr darum, sich ähnlich wie die Tiere der Natur anzupassen, um in ihr zu überleben, sondern vielmehr darum, die Natur zu verändern, um selbst entworfenen Lebensziele zu verwirklichen bzw. um neue Lebensformen zu entwickeln. Dadurch wird der Turmbau dann auch zu einem sozialpsychologischen Phänomen. Die Menschen verstehen den Turmbau als ein Mittel, um ihre eigene Stärke zu zeigen und um ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation zu demonstrieren. Außerdem hoffen sie darauf, durch den Turmbau ihren Zusammenhalt und ihre Identität als Volk zu festigen. Aus dieser Motivation lässt sich nun aber auch ableiten, dass der Turmbau nicht nur als ein Zeichen der Stärke und der Schaffenskraft zu werten ist, sondern möglicherweise auch als ein Zeichen der Angst, ohne gemeinsame Arbeits- bzw. Bauprojekte als soziale Gruppe auseinanderzufallen. Das zeigt, dass die Arbeit an dem Turm auch als eine Erscheinungsweise einer neuen menschlichen Existenzform zu verstehen ist, in der die Kultur zu einer zweiten Natur des Menschen wird. Diese neue Lebensform lässt sich natürlich in einer arbeitsteiligen städtischen Lebensweise besser und umfassender realisieren als in einer bäuerlichen Lebensweise oder gar in einer Jäger- und Sammlergemeinschaft. Gerade weil die Verwirklichung von Bauwerken in hohem Maße ein gesellschaftliches Handeln mit Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung voraussetzt, eignen sich Bauwerke sehr gut dazu, als Exempel und als Sinnbilder für kulturelle Werke verstanden zu werden. Offen bleibt gleichwohl immer, ob die mit den Bauwerken erstrebten Ziele tatsächlich erreicht werden bzw. ob sich bei der Verwirklichung von Bauwerken nicht auch unerwünschte Nebenwirkungen einstellen können. Deshalb ist damit zu rechnen, dass sowohl materiel-
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Vgl. W. Köller, Der Turmbau zu Babel, in: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 91– 120.
Bauwerke als Kulturphänomene
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le als auch geistige Bauwerke immer auch eine gewisse Wertambivalenz haben. Der Theologe Reinhold Niebuhr hat daher betont, dass jede Kultur bzw. Zivilisation letztlich als eine Art Turmbau zu verstehen sei, der nicht nur Stärke demonstriere, sondern auch die Angst impliziere, ohne gemeinsame Projekte und Ordnungsanstrengungen Identität und Zusammenhalt zu verlieren. So habe beispielsweise das Mittelalter am Turmbau des Feudalismus gearbeitet, das Bürgertum am Turmbau des Kapitalismus und der Marxismus am Turmbau der klassenlosen Gesellschaft. Aus diesem Grunde erscheint Niebuhr der Turmbau zu Babel auch weniger als ein Mythos zum Thema Sprache bzw. Sprachverwirrung, sondern eher als ein Mythos zum Thema Geschichte bzw. Kultur. 5 Am Beispiel der Herstellung von großen Bauwerken lässt sich gut die Notwendigkeit der Arbeitsteilung aufzeigen sowie die Probleme, die sich daraus ergeben. Einerseits steigt durch die Arbeitsteilung bzw. durch die Differenzierung von Berufen die Effektivität von Arbeitsanstrengungen enorm an, weil nun individuelle Fähigkeiten und Fachkenntnisse optimal eingesetzt werden können. Andererseits entstehen aber durch die unterschiedlichen Berufe auch neue Formen von Welterfahrungen und damit natürlich auch andere Lebens- und Denkwelten. Das bedeutet, dass alle Arbeitsformen zugleich immer auch eine hohe anthropologische Relevanz haben, insofern sich die Menschen durch ihre Arbeitsanstrengungen als Kulturwesen gleichsam erst selbst herstellen. Im materialistischen Denken ist das dann auf die griffige Formel gebracht worden, dass der Mensch Produkt seiner Produkte sei. Es ist nun offensichtlich, dass alle Prozesse der Arbeitsteilung und Arbeitsplanung wichtige Implikationen für die Sprachentwicklung haben. Einerseits ergibt sich nämlich die Notwendigkeit, die Sprache als Kognitions-, Informations- und Steuerungsmittel differenziert auszubauen, da ohne präzise Fachsprachen ein effektives koordiniertes Handeln sehr erschwert wird. So gesehen lässt sich die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel auch so verstehen, dass Gott gar nicht strafend eingreifen muss, um die Hybris des Turmbaus zu bestrafen, weil die Sprachverwirrung immer schon eine unbeabsichtigte Nebenwirkung einer konsequenten Arbeitsteilung ist. Andererseits ergibt sich aus der Entwicklung von Fach- und Gruppensprachen aber auch die Notwendigkeit, die polyfunktionale Allgemeinsprache als übergreifende Kultursprache zu pflegen, damit die einzelnen Gruppen sich auch untereinander verständigen können bzw. damit die Leistungen und Grenzen der einzelnen Fachsprachen metareflexiv qualifiziert oder interpretiert werden können. Diese Allgemeinsprache können wir dann zu Recht als natürliche Sprache bezeichnen, weil sie auf naturwüchsige Weise entsteht und weil wir sie nicht durch Unterweisung, sondern durch Gebrauch erlernen. Sie si-
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Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, 1960, Bd. 3, S. 1775.
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Die Sprache als Bauwerk
chert uns einen polyperspektivischen Kontakt zur Welt und ist deshalb auch als ein universales Strukturierungs- und Sinnbildungsmittel verwendbar.
Die Funktionalität von Bauwerken Selbst wenn Bauwerke als Burgen, Lagerhäuser, Wohnhäuser oder Fabriken für ganz bestimmte Zwecke konzipiert und gebaut worden sind, so können sich bei ihrer Nutzung doch Konsequenzen einstellen, die man bei ihrer Planung nicht im Auge hatte oder gar nicht im Auge haben konnte. Außerdem ist zu beachten, dass Bauwerke eigentlich nie rein praktischen Zwecken gedient haben, sondern dass sie immer auch als indexikalische und ikonische Zeichen verstanden worden sind, die vom Gestaltungs- und Repräsentationswillen bzw. vom Reichtum oder gar Größenwahn ihrer Erbauer Zeugnis ablegen. Bauwerke können als Gegenwelten zur Natur konzipiert sein oder sich der Natur anpassen und deren Möglichkeiten weiter entwickeln. Sie können auf menschliche Bedürfnisse abgestimmt sein oder als ganz eigene Welten in Erscheinung treten. Sie können Geborgenheit geben oder Ängste auslösen. Sie können ganz selbstverständliche Teile von menschlichen Lebenswelten sein oder zu Fremdkörpern in diesen werden. Sie können durch An- und Umbauten wachsen und neuen Bedürfnissen angepasst werden oder durch ihr Alter und durch mangelnde Pflege zu Fossilien und Ruinen werden. Auf jeden Fall verbinden wir sowohl mit Bauwerken als auch mit Sprachen und Sprachformen als Kulturprodukten vielfältig akzentuierte Emotionen, Wertvorstellungen, Erwartungen und Verweisungsmöglichkeiten. Bauwerke und Sprachen bzw. Sprachformen, die konsequent auf eine einzige pragmatische Funktion abgestimmt sind, werden schnell zu anachronistischen Fremdkörpern, wenn diese Funktion ihre pragmatische Relevanz verliert. Bauformen und Sprachformen, die sich einer allgemeinen Wertschätzung erfreuen wollen, dürfen nicht nur rein praktischen Zwecken dienen, sondern müssen immer auch eine anthropologische Bedeutsamkeit bzw. Zeichenhaftigkeit auf verschiedenen Ebenen besitzen. Was nur einem Zweck dient, das verliert historisch schnell seine Vitalität. Die Lebenskraft der polyfunktionalen natürlichen Sprache besteht im Gegensatz zu der eindimensionalen Funktionalität von Fachsprachen darin, dass sie ein universal verwendbares Sinnbildungs- und Kommunikationsmittel ist, welches sich flexibel aktuellen Bedürfnissen anpassen kann. Ihre Vitalität und Stabilität basiert auf ihrem Fließgleichgewicht. Die perfekte Funktionalität von Bauwerken und Sprachen für einen einzigen Zweck hat in der Regel ein immanentes Verfallsdatum. So wurden Stadtmauern und Burgen anachronistisch, als Geschütze als Kriegswaffen verwendet wurden. Sie haben nur dort überlebt, wo man sie in andere als ihre ursprünglichen Funktionszusammenhänge zu integrieren wusste bzw. wo man sie zu Trägern von historischen Erinnerungen, von ästhetischen und emotionalen Werten bzw. von sozialen Identitätsbildungen machen konnte. So haben beispielsweise alte Fabrikhallen dort über-
Haus und Sprache
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lebt, wo sie zu Industriedenkmälern gemacht wurden. Alte Häuser blieben erhalten, weil sie ein anderes Wohngefühl vermitteln konnten als zweckrationale Wohnsilos. Ohne Zweckrationalität sind Bauwerke nicht lebensfähig, aber mit nur einer Zweckrationalität auch nicht. Bauwerke und Sprachen werden und bleiben erst dann vital, wenn sie auf mehreren Ebenen in kulturelle Strukturierungsanstrengungen und Lebenswelten einbezogen werden können.
2. Haus und Sprache Wenn man den Menschen als ein biologisches Wesen mit reduzierten Instinkten versteht, das der Kultur bedarf, um überleben zu können, dann bekommen alle Bauwerke und insbesondere das Haus eine fundamentale anthropologische Bedeutsamkeit, die der von Werkzeugen und Kleidern nicht nachsteht. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass das Haus immer wieder als Bildspender verwendet worden ist, um sinnbildlich auf die Funktionen von Kultur und Sprache aufmerksam zu machen. Ziemlich selbstverständlich sprechen wir von der Kultur und der Sprache als einer Behausung des Menschen, von einer kulturellen und sprachlichen Obdachlosigkeit oder bei der Rückkehr zu vertrauten Räumen und Zeichenwelten von einem Nach-Hause-Kommen. Novalis hat betont, dass die Philosophie „eigentlich Heimweh“ sei, nämlich „Trieb überall zu Hause zu seyn.“ 6 Das zeigt, dass das Haus für uns ein Sinnbild für eine vertraute und geordnete Welt bzw. für einen Kosmos ist, in dem alles einen sinnvollen und verstehbaren Platz hat. Wie erklärt es sich nun, dass das Haus kulturgeschichtlich einen so großen anthropologischen Stellenwert bekommen hat? Wenn man das historisch und systematisch erklären kann, dann fällt es sicher auch leichter, die Sinnbildfunktion des Hauses für das Verständnis von Sprache zu verstehen.
Haus und Höhle Die Zeichen- und Sinnbildfunktion des Hauses wird vielleicht am besten verständlich, wenn wir uns vorab vergegenwärtigen, dass Häuser kulturelle Fortentwicklungen von Höhlen als natürlichen Schutzräumen sind. Höhlen boten den Menschen der Frühzeit Schutz vor Witterungseinflüssen und vor wilden Tieren. Sie eigneten sich außerdem dazu, Vorräte aufzubewahren und Gruppen verlässliche Treffpunkte zu geben, was wiederum deren sozialen Zusammenhalt verbesserte. Höhlen konnten auf diese Weise zu gestalteten Innräumen werden, die sich von ungestalteten und unüberschaubaren Außenräumen abgrenzten. Sie boten den Menschen die Chance, sesshaft zu werden und im
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Novalis, Das allgemeine Brouillon, Nr. 857, Werke, Tagebücher und Briefe, 1999, S. 675.
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Die Sprache als Bauwerk
Raum der Natur einen besonderen Raum der Kultur auszubilden. Diese kulturellen Abgrenzungs- und Eingrenzungsanstrengungen der Menschen kommen dann durch den Bau von Häusern noch deutlicher zum Ausdruck. Die polyvalenten, wenn nicht ambivalenten Sinnbildfunktionen der Höhle und des Hauses lassen sich recht gut über das platonische Höhlengleichnis erschließen.7 In Platons Gleichnis haben die Höhlenbewohner ihre Höhle zwar nicht selbst bezogen und gestaltet, sondern finden sich gefesselt in ihr vor. Sie haben sich allerdings in ihr als einer gut überschaubaren Welt eingerichtet und wollen sie aus eigenem Antrieb nicht wieder verlassen. Einer der Höhleninsassen wird dann aber auf gewaltsame Weise entfesselt und in die eigentliche Welt geführt, in der er sich natürlich erst nach und nach zurechtfindet. Die Gesprächspartner des platonischen Dialogs, denen das Gleichnis erzählt wird, stellen dann Mutmaßungen darüber an, was geschehen würde, wenn der entfesselte Höhlenbewohner aus der Außenwelt wieder in die Höhlenwelt zurückkehrte und den dort Verbliebenen von der eigentlichen Welt erzählte. Man kommt dabei zu dem Schluss, dass die Höhleninsassen den Berichterstatter wahrscheinlich in einem ganz wörtlichen Sinne für verrückt erklären würden und dass sie keineswegs die ihnen vertraute Höhlenwelt verlassen wollten, um neue, aber vielleicht auch verwirrende Erfahrungen machen zu können. Nur von dem entfesselten und durch neue Erfahrungen in der Außenwelt bereicherten Höhlenbewohner wird angenommen, dass er um keinen Preis wieder in der alten Höhle leben möchte. Das platonische Höhlengleichnis thematisiert die Höhle im Prinzip recht klar als ein Exil bzw. als einen Ausschluss von der eigentlichen Welt. Es zieht kaum in Betracht, dass eine Höhle auch die Funktion eines Asyls haben kann, wo man vor den Gefahren und Unübersichtlichkeiten der eigentlichen Welt geschützt wird. Das ist auch verständlich, wenn man berücksichtigt, dass zu Platons Zeiten die Welt nicht prinzipiell als unverständlich und bedrohlich empfunden worden ist und dass man Natur und Kultur nicht als spannungsreiche Oppositionswelten eigener Qualität wahrgenommen hat. Deshalb lag es Platon auch nahe, die Höhle als eine negativ akzentuierte armselige Gegenwelt zu verstehen, in der es kein natürliches Licht gab, in der die Bewegungsfreiheit der Bewohner extrem eingeschränkt war und in der die Höhleninsassen keinerlei Gestaltungsaktivitäten entwickeln konnten. Als ein ausgestaltbarer Schutzraum tritt die Höhle in seinem Gleichnis jedenfalls nicht in Erscheinung. Wenn man das platonische Höhlengleichnis als Sprachgleichnis interpretiert, dann ergibt sich ein recht düsteres Bild von der Sprache. Diese wäre dann als ein Raum der Gefangenschaft zu verstehen, in dem die Sprachteilnehmer minimale geistige Bewegungsmöglichkeiten haben, in dem es nichts zu gestalten gibt, den man nicht ohne Hilfe von anderen verlassen kann und der keine unmittelbare Verbindung zur realen sonnenerhellten natürlichen Welt hat. In
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Platon, Politeia, 7. Buch, 514 a ff., Werke, Bd. 3, S. 224 ff.
Haus und Sprache
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dieser sinnbildlichen Denkperspektive kann die Sprache dann weder als eine eigenständige, sinnvoll strukturierte Ordnungswelt in Erscheinung treten noch als ein Mittel, imaginativ eigenständige Vorstellungswelten zu konkretisieren. Eine Asylfunktion kann der Sprache jedenfalls schwerlich zugeordnet werden.8 Die kulturelle Fortentwicklung der Höhle zum Haus verläuft über den Bau von Zelten aus Tierhäuten und dem Bau von Hütten aus Zweigen, die beide eigentlich noch zum nomadischen Lebensstil gehören, bis zum Bau von festen Häusern aus Baumstämmen oder Steinen, die als Wahrzeichen der Sesshaftigkeit anzusehen sind. Letztere geben dem Bestreben Ausdruck, sich durchstrukturierte Kulturräume zu schaffen, die sich dann mühelos vom Haus auf ganze Dörfer und Städte ausdehnen lassen. Häuser sind auf dauernde Bewohnbarkeit bzw. Behausung angelegt. Sie integrieren sich nicht in dem Ausmaße wie Zelte und Hütten in den allgemeinen Naturraum, sondern grenzen sich von diesem ausdrücklich ab. Häuser sind eigenständige Räume, in die man eintreten und die man wieder verlassen kann. Sie bilden gleichsam Inseln im Ozean der Welt, die jeweils einen mehr oder minder hohen Grad an Autarkie besitzen. Die Autarkie eines Hauses dokumentiert sich auch in seiner konstruktiven Ordnungsstruktur. Es hat ein Fundament, eine Nutzfläche, ein Dach, einen Eingang bzw. Ausgang sowie Fenster, Türen und Treppen. Die Form des Hauses ist durch seine Lage im natürlichen gegebenen Raum und durch die verwendeten Baumaterialien bedingt. Gleichwohl lässt der Bau eines Hauses doch große Freiheiten zu, spezifische Erfahrungen zu nutzen und einem ganz individuellen Gestaltungswillen bestimmte Spielräume zu eröffnen. Im Prinzip kann das Haus als ein Kulturerzeugnis angesehen werden, das in spannungsvoller Weise einerseits auf der Natur aufbaut, sich aber andererseits auch klar von der Natur abgrenzt. Das Haus setzt Grenzen, um das jeweils Abgegrenzte mit eigenem Leben erfüllen zu können. Als Ordnungsgestalt kann das Haus durch sehr vielfältige und sehr unterschiedliche Charakteristika geprägt sein. Es hat eine Schutzfunktion nach außen und eine Gestaltungsaufgabe nach innen. Es muss aufeinander abgestimmte und miteinander verzahnte Einzelteile haben. Als menschliches Arbeitsergebnis hat es für seine Nutzer auch einen emotionalen Wert, der um so höher zu veranschlagen ist, je mehr Energie in die Gestaltung des Hauses eingebracht worden ist. Das Haus ist in der Regel nicht Heimstatt für einzelne Menschen, sondern für Gruppen oder Generationen. Deshalb muss es auch nicht nur eine materielle, sondern auch eine soziale Stabilität haben. Häuser, die sich nicht in historische und soziale Traditionen integrieren lassen, die keine Rücksicht auf ihre Umwelt bzw. die Bedürfnisse ihrer Bewohner nehmen, können Produkte hoher Ingenieurskunst sein und vielleicht perfekte Wohnmaschinen, sie wer-
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Vgl. W. Köller, Das platonische Höhlengleichnis, in: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 190–221.
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Die Sprache als Bauwerk
den aber kaum eine Wertschätzung als Behausungen bzw. als Kulturräume und Kulturgestalten gewinnen. Menschen, die in ständiger Unruhe leben, die Abenteuer suchen und die sich ungern in feste Raumstrukturen einordnen, bauen keine Häuser und wollen auch keine bestimmten Häuser bewohnen. Für sie ist allenfalls das Zelt als transportables Haus, das Hotel als auswechselbares Haus oder das Schiff als leicht verschiebbares Haus aktuell. Typisch für eine solche nomadische Denkhaltung ist ein Bekenntnis Nietzsches. „Ich würde mir kein Haus bauen (und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein!).“ 9 Dass das historische und pragmatische Verhältnis des Menschen zum Haus viele Analogien zur Sprache aufweist, ist ziemlich offensichtlich. Die Bindung an bestimmte Hausformen und die Integration in bestimmte Hausformen ist bei den Menschen zwar kulturgeschichtlich immer sehr unterschiedlich ausgeprägt gewesen, aber das spricht keineswegs gegen eine Parallelisierung von Haus- und Sprachverständnis bzw. von Haus- und Sprachgebrauch, sondern nur für die Möglichkeit, beide Kulturformen flexibel zu nutzen.
Das Haus der Sprache Kulturgeschichtlich zeigt sich, dass die Geschichte des Hausbaus dadurch geprägt ist, dass man immer weniger Rücksicht auf die natürlich vorhandenen Räume und Materialien genommen hat und dass man versuchte, die jeweils gegebenen Räume und Materialien nach eigenen Bedürfnissen zu nutzen und umzugestalten. In ganz ähnlicher Weise lässt sich die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung und Nutzung von Sprache als ein Prozess beschreiben, in dem man immer weniger Rücksicht auf die Einbettung der Sprache in konkrete Situationen genommen hat und in dem die ikonische Nutzung von Lauten und Strukturen immer mehr an Bedeutsamkeit verloren hat. Häuser, Sprache und Texte haben eine immanente Tendenz gehabt, sich zu autonomen Ordnungsgestalten auszubilden, die nicht mehr unmittelbar mit ihrer Umwelt verwachsen sind. Diese Autonomietendenz zeigt sich nicht nur in der konstruktivistischen Planung und Nutzung von Häusern, sondern insbesondere auch im perfekt durchstrukturierten schriftlichen Gebrauch von Sprache. In diesem Streben nach Autonomie laufen Häuser und Sprachgebilde nun allerdings auch Gefahr, ihren anthropologischen Wert zu schwächen. Wenn sich die jeweiligen Konstrukte so verselbständigen, dass sie ihre vielschichtigen und vielfältigen Relationen zu Räumen, Situationen und Menschen immer mehr reduzieren, dann verlieren sie letztlich auch an allgemeiner pragmatischer Relevanz. Wenn Häuser nur noch als Konstrukte und Exempel der Baukunst in Erscheinung treten oder als Wohnwaben perfektioniert werden, dann
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F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 240, Werke, Bd. 2, S. 154.
Haus und Sprache
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werden sie in anthropologischer Hinsicht genauso problematisch und psychisch belastend wie formalisierte Fachsprachen, die grammatisch und lexikalisch perfekt durchorganisiert sind und die aber eben dadurch auch die Chance verspielen, individuellen Sinnbildungsanstrengungen leicht Ausdruck geben zu können. Zu einer auch emotional befriedigenden realen oder sprachlichen Behausung gehört offenbar nicht nur deren enge Verschränktheit mit der Umgebung und den Nutzern, sondern immer auch ein gewisser Grad an Dysfunktionalität für einen ganz bestimmten Einzelzweck bzw. positiv ausgedrückt eine immanente Polyfunktionalität für ganz unterschiedliche Zwecke. Gerade die mangelnde Perfektion von Häusern bzw. die begriffliche Vagheit von Sprachformen scheint den psychologischen Effekt zu haben, dass sich Menschen in solchen Formen wohlfühlen können, weil sie sich nicht mehr als bloße Nutzer von vorgegebenen Institutionen empfinden, sondern vielmehr als Schöpfer und Herren von ausgestaltbaren Ordnungszusammenhängen. In nicht-perfekten Gebilden bleiben den Menschen Spielräume für Kreativität, die nicht nur das eigene Selbstbewusstsein stärken, sondern auch die emotionale Bindung an das noch Ausgestaltungsfähige. Wenn Häuser perfekt auf einen einzigen Zweck hin konzipiert sind, verlieren sie ihren anthropologischen Charakter als Behausungen. Wenn eine Sprache nur noch als ein Mittel zur präzisen Kategorisierung und Informationsübermittlung genutzt wird, aber nicht mehr als ein universales Sinnbildungsmittel, dann verliert sie nicht nur an allgemeiner pragmatischer, sondern auch an anthropologischer Relevanz. Die prinzipielle Doppelfunktion von Häusern und Sprachen, einerseits als Schutzräume und andererseits als Gestaltungsräume in Dienst genommen zu werden, einerseits statische Festigkeit und andererseits dynamische Variationsfähigkeit zu zeigen, einerseits historische Kontinuität und andererseits zukunftsorientierte Innovation zu ermöglichen, kommt gut in einer fast mythisch raunenden sinnbildlichen Stellungnahme Heideggers zum Ausdruck. In seinem Brief über den Humanismus an Jean Beaufret schreibt er im Jahre 1946: „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.“ 10 Unabhängig von den spezifischen Denkintentionen Heideggers lässt sich für diese Denkperspektive vielleicht Folgendes geltend machen. Das Sein bzw. die Welt können wir nicht an sich wahrnehmen, sondern nur so, wie es uns unsere kulturellen Ordnungsmuster ermöglichen, die sich am umfassendsten in der Sprache ausgebildet und überliefert haben. Ebenso wie wir über das Haus als kulturelle Institution unsere Lebensformen in Korrelation mit und in Abgrenzung von der Natur konkretisieren, so konkretisieren wir auch über die Sprache als kulturelle Institution unsere Sicht und unseren Umgang mit dem Sein bzw. mit der Welt. Das Sein existiert für uns vorerst immer nur so, wie die Sprache es uns zugänglich macht und aufgliedert.
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M. Heidegger, Über den Humanismus, o. J. S. 5.
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Die Sprache als Bauwerk
Heideggers Bild von der Sprache als dem Haus des Seins und von den Denkenden und Dichtenden als den Wächtern der sprachlichen Behausungen hat nun freilich auch seine Grenzen, weil unsere Vorstellungen von Häusern meist recht statisch geprägt sind. Die Sprache erscheint in dieser sinnbildlichen Objektivierung als ein ziemlich unveränderliches statisches Phänomen, das von den Denkenden und Dichtenden eigentlich nur bewacht, aber nicht gestaltet und umgestaltet wird, und das seine spezifische Vitalität eigentlich nicht aus seiner inneren Wandlungsfähigkeit gewinnt. Die letztere Wahrnehmungsweise von Sprache wird durch das Sinnbild des Hauses zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, da Häuser sich natürlich auch umgestalten lassen, aber sie wird durch unsere übliche Hausvorstellung nicht unmittelbar nahegelegt. Die recht statische Vorstellung Heideggers von der Sprache als dem Haus des Seins, die der Sprache von vornherein ein sehr hohes Maß an Autonomie zuordnet, kommt auch in einem Gespräch Heideggers mit einem Japaner zum Ausdruck, in dem er dieses Bild folgendermaßen wieder aufgenommen hat: „Vor einiger Zeit nannte ich, unbeholfen genug, die Sprache das Haus des Seins. Wenn der Mensch durch seine Sprache im Anspruch des Seins wohnt, dann wohnen wir Europäer vermutlich in einem ganz anderen Haus als der ostasiatische Mensch.“ 11 Das Bemühen Heideggers, die Sprache als eine eigenständige Größe zu akzentuieren, der sich der Mensch anzuvertrauen habe bzw. auf die er zu hören habe, wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass sich sein Sinnbild eigentlich gegen die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität richtet. Für diese ist die Sprache nämlich weniger ein Haus des Seins, sondern eher ein Mittel zur Beherrschung des Seins, das es weniger zu bewahren als zu verändern gilt. Wenn man die Sprache als Herrschaftsinstrument betrachtet, dann lässt sie sich natürlich nicht als eine Form der Behausung verstehen, die dem Subjekt ein schützendes Dach über dem Kopf verspricht bzw. die Chance, im Einklang mit dem Sein zu leben. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der frühe Georg Lukács bei seinen Überlegungen zur Differenz von Epos und Roman indirekt auf das Sinnbild des Hauses zurückgegriffen hat. Für ihn ist der Roman im Gegensatz zum Epos ein Texttypus, in dem der Vorgang des individuellen Suchens und das Problem der Subjektivität im Mittelpunkt des Interesses stehen, aber nicht überindividuelle Konflikte wie im Epos. Deshalb ist für ihn der Roman auch auf sehr unterschiedlichen Ebenen von dem Phänomen der Ironie geprägt. Der Roman sei „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“, weil er im Gegensatz zum Epos nicht mehr auf eine allgemein verbindliche Werteordnung zurückgreifen könne.12
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M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 19827, S. 90. G. Lukács, Die Theorie des Romans, 1962, S. 35.
Gefängnis und Sprache
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Ein sehr sinnträchtiges Bekenntnis zur Vorstellung vom Haus der Sprache hat auch Karl Kraus abgelegt: „Ich bin nur einer von den Epigonen, / die im alten Haus der Sprache wohnen.“13 Diese Beichte ist gerade wegen ihrer ironischen Ambivalenz sehr aufschlussreich. Einerseits bezeichnet sich Kraus als einen epigonalen Nutznießer der Sprache bzw. als einen vielleicht unschöpferischen Nachfolger bedeutenderer Vorgänger, der einfach etwas übernimmt, was er nicht selbst geschaffen hat. Andererseits bekennt er, dass er offenbar nicht ungern das alte Haus der Sprache bewohnt, weil es für ihn auch Verlässlichkeit, Schutz und Kontinuität verbürgt. Wahrscheinlich sieht Kraus auch in diesem alten Haus immer noch viele Erlebnis- und Gestaltungsmöglichkeiten gegeben bzw. die Chance gewährleistet, es für Abenteuer verlassen zu können, ohne es als Refugium zu verlieren. Er fährt nämlich fort: „Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben, / ich breche aus, und ich zerstöre Theben.“
3. Gefängnis und Sprache Wenn ein Haus nicht als Schutzraum gegen widrige Einflüsse aus der Außenwelt erlebt wird, sondern als ein Gebilde, das Kontakte mit der Außenwelt unterbindet, dann kann es subjektiv schnell als Gefängnis empfunden werden. Ob ein Haus als ein Schutzraum oder als ein Gefängnis verstanden wird, das hängt aber nicht nur von seiner Machart ab, sondern auch davon, welche Erwartungen die jeweiligen Menschen mit einem Haus verbinden bzw. welche konkreten Bewegungs- und Gestaltungsspielräume sie für sich selbst beanspruchen. Wenn wir ein Bauwerk als Haus oder als Gefängnis einordnen, dann haben wir immer auch auf den subjektiven Bewusstseinsstand seiner Bewohner bzw. auf deren Bedürfnisse und Befürchtungen Bezug zu nehmen. Dasselbe Gebäude bzw. dieselbe Sprache kann nämlich von Menschen sowohl als schützendes Asyl als auch als isolierendes Exil empfunden werden. Für das sinnbildliche Verständnis von Bauwerken als Gefängnissen ist der antike Labyrinth- bzw. Dädalus-Mythos in mehrfacher Hinsicht recht aufschlussreich, da in ihm darauf aufmerksam gemacht wird, wie Menschen mit ihren möglichen Einschränkungen umgehen können. Nach dieser exemplarischen Geschichte hatte der geniale Baumeister und Erfinder Dädalus zunächst für den König Minos auf Kreta ein Labyrinth gebaut, um den gefährlichen Minotaurus gefangen halten zu können. Schließlich wurde Dädalus und sein Sohn Ikarus aber selbst in dieses Bauwerk eingesperrt. Als König Minos beide nicht in ihre Heimat gehen lassen wollte, kam der geniale Problemlöser Dädalus auf den Gedanken, sich und seinem Sohn künstliche Flügel zu bauen, damit beide sich durch eigene Kraft befreien könnten. Das gelang letztlich allerdings nur Dädalus, weil dieser weise genug war, sich selbst bei der neuen Freiheit
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K. Kraus, Über die Sprache, 1985, S. 31.
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Die Sprache als Bauwerk
des Fliegens Beschränkungen aufzuerlegen. Ikarus dagegen, der die neuen Möglichkeiten euphorisch und uneingeschränkt zu nutzen versuchte, stürzte ab, weil die Sonne, zu der er emporsteigen wollte, das bindende und stabilisierende Wachs an seinen künstlichen Flügeln zum Schmelzen brachte.
Die Umwelteinbettung als Gefängnis Der Biologe Jakob von Uexküll hat betont, dass die einzelnen Tiergattungen in relativ geschlossenen Welten bzw. Umwelten lebten, insofern aus ihrer biologischen Ausstattung mit bestimmten Sinnes- und Handlungsorganen eine ganz bestimmte „Merkwelt“ und „Wirkwelt“ resultiere.14 Diese geschlossenen Eigenwelten der einzelnen Tiergattungen lassen sich nun im Vergleich mit den viel umfassenderen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen durchaus als Gefängnisse beschreiben, obgleich die betreffenden Tiere das selbst sicherlich nicht so wahrnehmen, da sie sich wohl kaum Alternativen zu ihren eigenen konkreten Lebenswelten vorzustellen vermögen. Die Menschen können die jeweiligen Eigenwelten der Tiere und auch die von ihnen selbst vorgefundenen Lebens- und Kulturwelten auch nur deshalb als Gefängnisse wahrnehmen, weil sie ähnlich wie Dädalus durch die Erfindung von Werkzeugen und Sprache Mittel entwickelt haben, um das Gefängnis ihrer biologisch determinierten Merk- und Wirkwelten bzw. das Gefängnis ihrer vorgegebenen Kulturwelten zumindest partiell verlassen zu können. Gleichwohl stellt sich nun aber die grundsätzliche Frage, ob der Übergang des Menschen aus seiner gattungsmäßig vorstrukturierten Naturwelt in selbstgeschaffenen Kulturwelten als ein wirklicher Gefängnisausbruch zu verstehen ist oder nur als ein Übergang aus einer natürlichen Gefängniszelle in unterschiedliche kulturelle Gefängniszellen mit etwas größeren individuellen Wahrnehmungs- und Bewegungsspielräumen. Gerade wenn wir die Sprache als ein Kulturphänomen betrachten, das den Menschen die Chance eröffnet, Distanz zu der vorgegebenen Naturwelt zu gewinnen bzw. diese in unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und begrifflich zu interpretieren, so müssen wir uns doch die Frage stellen, ob mit diesen Freiheiten nicht gleichzeitig auch wieder neue Zwänge verbunden sind. Vielleicht tauschen die Menschen dann nämlich ihr allgemeines Naturgefängnis nur durch unterschiedliche Kulturbzw. Sprachgefängnisse ein. Außerdem stellte sich natürlich die konkrete Frage, mit welchen Flügeln wir aus diesen selbstgemachten Gefängnissen entfliehen können und wie weit uns solche Flügel dann wirklich tragen. Kulturen und Sprachen als vom Menschen selbst hergestellte Ordnungsgestalten haben die gleiche Ambivalenz wie Häuser. Sie können Schutzräume bzw. Behausungen darstellen, die den Menschen sehr eigenständige individu-
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J. von Uexküll, Theoretische Biologie, 1928/ 1973, S. 334 ff.
Gefängnis und Sprache
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elle Lebensformen ermöglichen, aber auch Gefängnisse, die sie von anderen Welten aussperren, oder sogar Labyrinthe, in denen sie sich heillos verirren können. Bedrohlich können Kultur- und Sprachwelten immer dann werden, wenn sie so kompliziert sind, dass man sich in ihnen nicht mehr zurechtfindet. Deshalb muss auch noch näher untersucht werden, was an den jeweiligen Kultur- und Sprachwelten als befreiend und was als einengend und verwirrend empfunden werden kann bzw. welchen Einfluss die einzelnen Menschen auf die Gestaltung und Umgestaltung dieser Welten haben. Etwas weniger spektakulär ließe sich auch fragen, wie die Menschen ihre kulturellen und sprachlichen Bewegungsfreiheiten so nutzen können, dass diese nicht mit einem Anspruch auf absolute Freiheit belastet werden bzw. mit überzogenen Erwartungen, die dann leicht zu psychischen Abstürzen führen. Die grundsätzliche Gebundenheit des Menschen an eine konkrete natürliche und kulturelle Umwelt bzw. an Traditionen, Konventionen, theoriegetränkte Wahrnehmungen und perspektivierende Zeichen wird man nicht aufheben können. Eine vollkommene Ungebundenheit und Freiheitsvorstellung verbinden wir üblicherweise nur mit der Idee eines absoluten Gottes. Die Vorstellung von der Möglichkeit, ganz spezifische Einschränkungen durch eigene Kräfte überwinden zu können, verbinden wir aber durchaus mit unserer Idee des schöpferischen Menschen, was der Dädalus-Mythos ja sinnbildlich sehr eindringlich veranschaulicht. Prinzipiell sollten wir die Chance nicht gering einschätzen, uns mit Hilfe von Kultur und Sprache eine variable Umwelt zu schaffen, die so große Spielräume aufweist, dass das Verständnis der Sprache als eines Gefängnisses eine überzogene Desavouierung der Sprache darstellt, weil die mit ihr verbundenen Gestaltungsspielräume verkannt werden. Es sollte auch nicht gering eingeschätzt werden, dass die kulturelle Institution Sprache das Denken nicht nur kanalisiert und einschränkt, sondern auch anregt, konzentriert und erleichtert, da sich in ihr auf evolutionäre Weise ein Wissen angesammelt hat, welches sich ein Individuum nie selbst erarbeiten könnte. Außerdem ist zu beachten, dass die Musterbildungen der Sprache auf sehr viel differenziertere Weise als die genetisch verankerten Wahrnehmungsmuster der Tiere dabei helfen, mit dem Problem der sinnlichen Reizüberflutung fertig zu werden. Nicht vergessen sollte auch werden, dass Häuser wie Sprachen die Voraussetzungen dafür sind, dass Menschen soziale Räume entwickeln können, in denen sie als soziale Wesen auf eine viel differenziertere Weise als Tiere existieren können.
Das sprachliche Relativitätsprinzip Die populärste Thematisierung der Sprache als Gefängnis bzw. als Fessel für das Wahrnehmen und Denken stellt wohl das von Whorf postulierte sprachli-
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Die Sprache als Bauwerk
che Relativitätsprinzip (linguistic relativity principle) dar, das zuweilen allerdings ziemlich undifferenziert verstanden wird.15 Dieses Prinzip ist von Whorf so vorsichtig und vage formuliert worden, dass es in seiner Rezeptionsgeschichte sowohl eine radikale bzw. deterministische als auch eine abgeschwächte bzw. heuristische Interpretation gefunden hat. Beide Interpretationen sind gleichwohl für das sinnbildliche Verständnis der Sprache als Gefängnis bzw. für die Vorstellung der vorstrukturierenden Macht der Sprache für das Wahrnehmen und Denken sehr interessant. Das radikale Verständnis dieses Prinzips, das meist mit einer besonderen Vorliebe für deduktive Schlussfolgerungsprozesse verbunden ist, kann sich auf die Aussage Whorf berufen, dass alle Sprechenden den sprachlichen Ordnungsstrukturen ungefähr so unterlägen, „wie alle Körper der Schwerkraft“ unterworfen seien, bzw. dass das Denken „einem Netzwerk von Geleisen, die in der jeweiligen Sprache festgelegt sind“, folge.16 Diese Bilder legen suggestiv nahe, dass das Wahrnehmen und Denken vollständig in den Strukturen der jeweils verwendeten Sprache gefangen sei. Gegen dieses deterministische Verständnis des sprachlichen Relativitätsprinzips, das gleichsam ein mechanisches Bedingungsverhältnis zwischen Sprachstrukturen und Denkstrukturen annimmt, spricht, dass Whorf immer wieder relativierende Partikel (ungefähr, irgendwie) in seine Aussagen einbezogen hat und außerdem oft Bilder und Vergleiche in seinen Argumentationen verwendet. Das legt nahe, das sprachliches Relativitätsprinzip im Sinne einer heuristischen Denkhilfe zu verstehen, die weniger auf determinierende Abhängigkeiten, sondern eher auf wirksame Korrelations- und Interdependenzbeziehungen aufmerksam machen soll. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass auch Einsteins Relativitätstheorie nicht besagt, dass ein Phänomen mit gleichem Recht so oder so gesehen werden kann, sondern vielmehr nur postuliert, dass es immer nur in Korrelation mit bestimmten Bedingungsfaktoren sinnvoll zu beschreiben ist, dann entschärft sich die Vorstellung, dass die Sprache für die jeweiligen Sprachverwender ein unentrinnbares Gefängnis sei. Aufrechterhalten kann aber durchaus die Vorstellung eines heuristisch zu verstehenden Bedingungs- bzw. Interdependenzverhältnisses zwischen Sprache und Denken. Das heuristische Verständnis des sprachlichen Relativitätsprinzips, bei dem das Denken im Prinzip logisch immer eine Stufe höher angesiedelt wird als die Mittel, von denen es Gebrauch macht, nimmt diesem Prinzip seinen Absolutheitsanspruch. Es impliziert lediglich, dass die jeweils verwendete Sprache immer als ein zu berücksichtigender Strukturierungsfaktor in Wahrnehmungs- und Denkprozessen zu berücksichtigen ist. Dieser Faktor wird insbesondere dann wichtig, wenn es sich um spontane Denkoperationen han-
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B. L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, 1963, S. 12. Vgl. auch: H. Gipper, Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? 1972. W. Köller. Philosophie der Grammatik, 1988, S. 265– 294. 16 B. L. Whorf, a.a.O., S. 20 und 58.
Gefängnis und Sprache
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delt. Er verliert an vorstrukturierender Wirksamkeit, wenn zeitgedehnte Reflexionssituationen gegeben sind, in denen sich das Denken sowohl auf bestimmte Sachverhalte als auch auf sich selbst und seine Denkmittel beziehen kann. Insbesondere der Gebrauch von Metaphern und Vergleichen zwingt das Denken auf immanente Weise immer dazu, den konkreten Sinn sprachlicher Zeichenstrukturen und Aussagen metareflexiv auf die jeweiligen Objektivierungs- und Mitteilungsintentionen abzustimmen bzw. den jeweiligen konkreten Geltungsanspruch sprachlicher Formen hermeneutisch zu qualifizieren. Dadurch können sprachlich bedingte Vorurteile entschärft bzw. mögliche sprachliche Fesseln gelockert werden. Wenn man die Sprache nicht als Abbildungsinstrument, sondern als flexibles Sinnbildungsinstrument versteht, dann kann man sie auch nicht mehr als ein Gefängnis betrachten, in dem die jeweiligen Sprachverwender unentrinnbar eingeschlossen sind. Die Sprache lässt sich aber durchaus als ein Haus mit begrenzten, aber dennoch vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten für die jeweiligen Hausbewohner betrachten. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass wir durch das Erlernen anderer Sprachen deterministische Einflüsse einer bestimmten Einzelsprache auf das Denken entschärfen oder gar überwinden können. Wir vermögen die Struktur der einen Sprache im Spiegel einer anderen zu thematisieren und können dadurch die Bewegungsmöglichkeiten unseres Denkens ausweiten. Weiterhin haben wir zu beachten, dass eine Sprache gar nicht so homogen ist, wie sie uns auf den ersten Blick erscheint. Wir beherrschen nämlich innerhalb einer Muttersprache gleichsam immer mehrere Subsprachen, die sich jeweils in Form von Dialekten, Funktiolekten oder Idiolekten konkretisieren. Außerdem können wir unser konkretes Verständnis von einzelnen Sprachformen immer auch auf bestimmte historische Sprachstufen oder bestimmte Textsorten abstimmen.17 Beim Gebrauch einer Sprache müssen wir uns dieser keineswegs so anpassen, wie sich der Fisch den Struktureigenschaften des Wassers oder der Vogel denen der Luft anpassen muss, weil wir die Sprache ja nicht nur als eine konventionell vorgegebene Denkwelt besitzen, sondern auch als ein veränderbares Denkwerkzeug. Wenn man von den Fesseln der Sprache für das Denken spricht bzw. von der Gefängnisfunktion der Sprache für die Sprachverwender, dann kann man auch auf das verwandte Bild des Gängelbandes verweisen. Dieses determiniert zwar auch die Bewegungsmöglichkeiten des jeweils Betroffenen, aber diese Einschränkung muss nicht in jeder Hinsicht als negativ empfunden werden. Ursprünglich war das Gängelband nämlich das Band, durch das die Kinder beim Erlernen des Laufens sowohl geführt als auch unterstützt werden konnten. Dieses Bild ist im Kontrast zu dem der Fessel und des Gefängnisses insofern aufschlussreich, weil es darauf aufmerksam macht, dass in Lernprozessen eine Einschränkung von Bewegungsmöglichkeiten durchaus förderlich sein
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Vgl. M. Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, 1979.
Die Sprache als Bauwerk
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kann, weil es die Konzentration auf bestimmte Bewegungsformen zu erleichtern vermag. Wenn man von der Einschränkung des Denkens durch die Sprache spricht, dann werden auch gerne zwei Sätze von Wittgenstein aus dem Traktat zitiert: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“18 Nicht beachtet wird dabei allerdings oft, dass sich diese Sätze nur auf den argumentativen wissenschaftlichen Sprachgebrauch beziehen. Auch der frühe Wittgenstein zieht nämlich durchaus in Betracht, dass sich mit Hilfe der Sprache nicht nur etwas sagen, sondern auch etwas zeigen lässt. Dieses könne lebensgeschichtlich höchst relevant sein, obwohl es wissenschaftlich gesehen dennoch etwas Mystisches sei. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies z e i g t sich, es ist das Mystische.“ 19 Die Vorstrukturierung des Wahrnehmens und Denkens durch die Sprache, auf die Whorf mit seinem sprachlichen Relativitätsprinzip aufmerksam machen wollte, können wir im Prinzip nicht unterlaufen, weil wir als Menschen nur perspektivisch mit Hilfe von Medien wahrnehmen und denken können. Das ist aber keineswegs nur als ein beklagenswerter Nachteil zu verstehen, sondern lässt sich durchaus auch als ein ganz spezifischer Vorteil ansehen oder zumindest als etwas, was zur realistischen Einschätzung der menschlichen Erkenntnisbedingungen gehört. Das gilt insbesondere dann, wenn wir unser Denken und unseren Sprachgebrauch metareflexiv so begleiten, dass wir uns das immanente Spannungsverhältnis zwischen Objektsphäre und Subjektsphäre ständig präsent halten und nicht vergessen, dass die Sprache letztlich ein interpretierendes und kein abbildendes Medium ist. Wenn das gewährleistet ist, verfallen wir nicht dem Wahn, absolute Erkenntnis gewinnen zu können, aber auch nicht der Gefahr, uns hoffnungslos im Netz unserer Wahrnehmungsund Erkenntnisverfahren zu verfangen. Um auf diese Problematik aufmerksam zu machen, hat Mauthner ein apartes Bild entwickelt. „Immer besteht die Anstrengung eines philosophischen Kopfes darin, sich teilweise von dem Netz der alten Kategorien zu befreien. Denn es ist das Eigentümliche bei diesem Netzwerk, daß der Fischer mit seinem eigenen Kopfe selbst ins Netz gerät. So ist die Sprache niemals so nützlich, wie sie sein könnte.“ 20
4. Stadt und Sprache Da Städte sehr viel komplexere Bauwerke als Türme, Häuser oder Gefängnisse sind, stellt sich bei der Inanspruchnahme unserer Stadtvorstellung als Bild-
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L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5. 6 und 7, 19855, S. 89 und 115. L. Wittgenstein, a.a.O., 6. 522, S. 115. 20 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906/1982, S. 79. 19
Stadt und Sprache
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spender für Sprache in verschärfter Form die Frage, auf welche Aspekte der Stadt wir dabei zurückgreifen wollen und welche dabei als belanglos angesehen werden können. Eine Stadt kann von uns nämlich recht unterschiedlich wahrgenommen werden. Ganz gleich, ob wir die Stadt aus der Ferne oder aus der Nähe betrachten, ob wir sie aus der Vogel- oder aus der Froschperspektive erfassen, ob wir sie uns als Fußgänger oder als Autofahrer erschließen, ob wir sie als ein Funktions- oder als ein Wachstumsgebilde betrachten, ob wir sie psychisch als Heimat oder als Fremde erfahren, in jedem dieser Fälle erleben wir das Phänomen Stadt als Ordnungsgebilde auf ganz unterschiedliche Weise. Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass Städte als kulturelle Zeichen bzw. als Sinnbilder immer wieder anders verstanden worden sind. So lässt sich beispielsweise eine Stadt hinsichtlich ihrer internen Ordnungsstrukturen als ein Kosmos verstehen, hinsichtlich ihrer Gemachtheit und ihrer inneren Funktionszusammenhänge als eine Maschine, hinsichtlich ihres pulsierenden Lebens, ihrer interdependenten Teile bzw. ihres Strebens nach Gleichgewicht als ein Organismus und hinsichtlich ihrer Befestigungen, Mauern, Türme und Tore als ein Herrschaftsgebilde.21 Unsere unterschiedlichen Erfahrungen mit einer Stadt und unsere unterschiedlichen Vorstellungen von einer Stadt legen auch unterschiedliche Auffassungen über die Planbarkeit, die Veränderlichkeit, die Pflege und das Wachstum städtischer Strukturen nahe bzw. unterschiedliche Auffassungen über die Stadt als indexikalisches, ikonisches oder konventionelles Zeichen. Auf jeden Fall kann man aber die Architektur einer Stadt immer als eine sprechende Architektur verstehen. Städte verdanken ihre konkrete Existenz vielfältigen Motiven und Bedingungen, die sich abschließend weder aufzählen noch hierarchisieren noch in ihren Wechselwirkungen erschöpfend beschreiben lassen. Städte können sich im Umkreis von Kultstätten entwickeln, weshalb auch oft Götter als Gründungsväter für sie in Anspruch genommen worden sind. Sie können entstehungsgeschichtlich dadurch motiviert sein, dass Menschen das Bedürfnis nach Schutzzonen hatten, weshalb sie sich dann auch sehr oft im Umkreis von Burgen entwickelt haben. Sie können aus Handelsplätzen an Flussübergängen oder an Knotenpunkten von Handelswegen hervorgegangen sein. Sie können zu militärischen oder zu repräsentativen Zwecken planvoll gegründet worden sein. Sie können im Laufe der Zeit aus Teilsiedlungen zusammenwachsen sein. Sie können wie antike Tochterstädte und mittelalterliche Hansestädte Bestandteile von überregionalen Lebens- und Rechtsverbünden sein. Sie können sich von ihrer ländlichen Umgebung durch Mauern und durch eigene Rechtsordnungen ausdrücklich abgrenzen oder auf ihr Umland kulturell, rechtlich und ökonomisch ausstrahlen. Sie können sich primär als eine architektonische bzw. physische Formation verstehen, aber im Sinne der antiken Polis auch als eine soziale Formation bzw. als organisierte Bürgerschaft.
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Vgl. S. Kostof, Das Gesicht der Stadt, 1992, S. 15 ff.
Die Sprache als Bauwerk
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Aus verständlichen Gründen muss sich hier das phänomenologische Interesse an den prinzipiell sehr vielfältigen Aspekten von Städten auf diejenigen Ordnungsstrukturen beschränken, die offensichtliche oder verdeckte Ähnlichkeiten zur Sprache aufweisen. Deshalb werden sich die folgenden Überlegungen darauf konzentrieren, die Stadt als eine historisch gewachsene kulturelle Ordnungsgestalt bzw. als ein strukturiertes Sozialphänomen wahrzunehmen. Beide Betrachtungsweisen sind natürlich auf interdependente Weise miteinander verwachsen und lassen sich kaum sachlich, sondern eigentlich nur methodisch voneinander trennen. Gleichwohl sind sie geeignet, unseren Blick auf bestimmte Eigentümlichkeiten von Städten zu konzentrieren, die in realen Städten in ganz unterschiedlichen Intensitäten vorkommen, weshalb dann auch manche unserer konkreten Stadtvorstellungen und Stadterfahrungen als Sinnbilder für Sprache überzeugender als andere sind.
Stadt und Sprache als gewachsene Ordnungen Wenn wir eine Stadt als ein evolutionär gewachsenes Ordnungsgebilde wahrnehmen wollen, dann denken wir üblicherweise an Städte, die wir als mittelalterlich bezeichnen. Diese Städte sind für unsere heutigen Lebensbedürfnisse nicht immer sehr funktional strukturiert, aber als sinnfällige Manifestationen von Traditionen sind sie gleichwohl von einem nicht geringen Charme, insofern sie trotz oder wegen ihrer Verwinkeltheiten, Umständlichkeiten und Dysfunktionalitäten immer auch ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat zu vermitteln vermögen. Das ist offenbar möglich, weil sie nicht aus einem stringenten rationalistischen Denken hervorgegangen sind, das Blaise Pascal als eine Ausdrucksform des esprit de géométrie bezeichnet hat und das er von einem pragmatisch orientierten Denken abzugrenzen versucht hat, das er als eine Manifestationsform des esprit de finesse verstanden hat. Deshalb hat eine historisch gewachsene Stadt für den späten Wittgenstein auch große Ähnlichkeiten mit einer historisch gewachsenen Sprache. „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ 22
Diese sinnbildliche Thematisierung der Sprache verdeutlicht, dass Wittgenstein die natürlich gewachsenen Städte und Sprachen als Erscheinungsweisen
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L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 10, 1967, S. 20. Zu diesem Wittgensteinzitat vgl. auch: A. Peyer, „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: …“, Der Deutschunterricht, 58, 2006, H. 6, S. 26–35.
Stadt und Sprache
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einer evolutionär entstandenen Ordnung im Sinne der Kosmosvorstellung von Hayek aufgefasst haben will und nicht als Manifestationsweisen einer geplanten Ordnung im Sinne von dessen Taxisvorstellung. Diese würde allenfalls auf eine am Reißbrett geplante Stadt zutreffen. Auf ganz ähnliche Weise hat auch Glinz die Sprache mit einem ständig umgeänderten Fabrikgebäude verglichen. „So darf man die Sprache nicht als ideales System betrachten, wie z.B. die Mathematik. Sie ist vielmehr wie der mächtige, weitverzweigte Gebäudekomplex einer Fabrik, der einmal vor mehr als 100 Jahren nach gewissem Plane begonnen und seither unter mehrfacher Änderung des Planes immer weitergebaut worden ist, wobei oft die nicht zum neuen Plan stimmenden früheren Teile nicht abgerissen, sondern nur notdürftig angepaßt wurden und dann in ganz anderem Zusammenhang eine Funktion erhielten, für die sie ursprünglich nicht angelegt waren, und wo umgekehrt auch die neuen Teile selten aus ganz neuem Baumaterial aufgeführt wurden, sondern aus Balken, Fenstern und Türen, ja ganzen Raumeinheiten früherer Bauteile, die man an ihrem alten Platz und ihrer alten Funktion nicht mehr brauchen konnte." 23
Eine historisch gewachsene Stadt hat als kulturelles Evolutionsprodukt natürlich auch immer einen gewissen Systemcharakter, weil sie sonst gar nicht zweckdienlich genutzt werden könnte. Der Bau und Ausbau von Städten muss sich an geographische Gegebenheiten, an Baumaterialien, an praktische Aufgaben, an sozialen Ordnungsstrukturen und an kulturellen Gestaltungszielen orientieren, also an einem sehr großen Spektrum von Faktoren und Funktionen, die nicht leicht miteinander ausbalanciert werden können. Gewachsene Städte und gewachsene Sprachen sind natürlich Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht Ergebnisse einer konstruktiven Gesamtplanung, sondern eher die Konsequenzen der Lösung von Einzelproblemen. Durch sie profilieren sich die Menschen weniger als rational planende Baumeister, sondern eher als praxisnahe Problemlöser. Die Struktur gewachsener Ordnungen in Städten und Sprachen lässt sich auch noch durch ein anderes Denkbild veranschaulichen. Beide Phänomene können nämlich als Nebenprodukte von Handlungen verstanden werden, welche sich ursprünglich auf ganz andere Ziele ausgerichtet haben als auf die, konkrete Städte und konkrete Sprachen herzustellen, die aber letztlich doch alle zur Folge gehabt haben, dass bestimmte Städte und Sprachen als strukturierte Ordnungsgebilde entstanden sind. Popper hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass auch Vogelnester eigentlich als Nebenprodukte des Fortpflanzungsstrebens von Vögeln zu betrachten seien. „Und die Sprache selbst ist, wie ein Vogelnest, ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt von Handlungen, die sich auf andere Ziele richteten.“ 24
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H. Glinz, Die innere Form des Deutschen, 19736, S. 21. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, 19742, S. 134.
Die Sprache als Bauwerk
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Die Faktoren und Intentionen, die den Entstehungsprozess von Städten und Sprachen bedingen, lassen sich kaum abschließend auflisten, analysieren und gewichten. Hier spielen sich selbst organisierende Entwicklungsprozesse eine Rolle, die sich sehr gut mit Hilfe des Evolutionskonzeptes bzw. mit Hilfe des Sinnbilds Organismus veranschaulichen lassen. Schon vor Wittgenstein hat auch Mauthner Stadt und Sprache miteinander analogisiert. Aber im Kontext seiner sprachkritischen Grundintentionen nimmt er dabei primär nicht auf die idyllischen, evolutionären und funktionalen Aspekte einer Stadt Bezug, sondern vielmehr auf ihre bedrückenden Schattenseiten bzw. auf ihre problematischen Tiefenschichten, die bei dem Blick auf ihre Oberflächenstrukturen leicht verdrängt werden. „Die Sprache ist geworden wie eine große Stadt. Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel, und das alles ist ineinander geschachtelt, miteinander verbunden, durcheinander geschmiert, durch Röhren und Gräben … Zwar hat auch die Stadt wie die Sprache ihre Gasröhren, die ein vergiftetes Licht in alle Kammern treiben, die Bleiröhren, die ein verseuchtes Wasser in alle Küchen liefern, die Kanäle, die den Unrat der Millionen in schöner Symmetrie zu dem oberirdischen Leben munter unter der Erde weiterplätschern lassen nach neuen Gebieten der kommenden Menschheit, den Rieselfeldern … Der Steuerexekutor steht am Hahn und verlangt Geld. Da ist die Sprache eine weit lustigere Sache. Um es grell auszudrücken: In ihren verrosteten Röhren fließt durcheinander Licht und Gift, Wasser und Seuche und spritzt umsonst überall aus den Fugen, mitten unter den Menschen.“ 25
Wenn man Städte und Sprachen als historisch gewachsene Ordnungsgebilde betrachtet, die Ordnungsstrukturen auf verschiedenen Ebenen haben müssen, um für ihre Nutzer brauchbar zu sein, dann liegt es nahe, gewachsene Städte auch mit gewachsenen Texten wie beispielsweise Sagen Märchen oder Epen zu vergleichen, die in der Regel auch keinen individuellen konstruktiven Autor haben, sondern viele Mitgestalter in unterschiedlichen Zeiten. Solche Städte und Texte lassen sich als komplexe Ordnungsmuster verstehen, in denen Zeichen aus unterschiedlichen historischen Epochen miteinander interagieren, in denen es offene und verdeckte Zitate gibt, in denen die einzelnen Betrachter sehr unterschiedliche Oberflächen- und Tiefenstrukturen wahrnehmen können und in denen sie sich durch sehr unterschiedliche Einzelphänomene angesprochen fühlen. Ebenso wie es Städte nicht als völlig individuelle Ordnungsgestalten losgelöst von vorgegebenen Traditionen, Vorbildern und bewährten Grundmustern gibt, so gibt es auch keine Texte, die völlig unabhängig von tradierten Texttypen sind. Das Verständnis von Städten, Sprachen und Texten als evolutionär gewachsenen Ordnungsgestalten steht in keiner prinzipiellen Opposition zum Systemgedanken, sondern allenfalls in einer partiellen. Allerdings leitet sich in
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906/1982, S. 27.
Stadt und Sprache
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dieser Wahrnehmungsperspektive der Systemcharakter dieser Gegebenheiten nicht aus ihrer konstruktiven Planung ab, sondern aus dem Systematisierungsdruck, der aus ihrer konkreten Handhabung resultiert. Das bedeutet, dass die Ordnung von Städten, Sprachen und Texten letztlich pragmatische Ursachen hat und sich eher induktiv als deduktiv erzeugt. Als evolutionär entstandene Ordnungsgestalten tendieren alle Städte dazu, sich nach außen abzugrenzen, Hauptstraßen und Nebenstraßen zu bilden, sich zentrale Plätze und repräsentative Bauten zu geben, Wohnbezirke und Arbeitsbezirke auszubilden, sozial homogene Wohnviertel zu entwickeln usw. Das alles muss nicht immer explizit gewollt sein, sondern stellt sich im Kontext von Funktionsanforderungen meist mehr oder weniger von selbst ein. Ganz ähnliche Entwicklungstendenzen gibt es auch in der Sprache. Alle Sprachen müssen lexikalische Nennzeichen und grammatische Funktionsbzw. Interpretationszeichen entwickeln, um funktionsfähig zu werden. Alle Sprachen müssen Satzglieder ausbilden, um intersubjektiv verständliche Aussagen machen zu können. Das schließt ein, dass bestimmte sprachliche Zeichen semantisch und syntaktisch nicht immer eindeutig bestimmbar sind, weil es nämlich zur Funktionalität der natürlichen Sprache gehört, dass in ihnen die möglichen Funktionsrollen einzelner Zeichen unscharf bestimmt sind, um sie flexibel verwenden zu können. Nur was sich neuen Bedürfnissen anpassen kann bzw. sich zu wandeln vermag, bleibt evolutionär gesehen überlebensfähig und entgeht dem Schicksal, abzusterben oder zu einem Fossil zu werden.
Stadt und Sprache als Konstrukte Natürlich ist es nicht sinnvoll, Städte generell als evolutionär entstandene Ordnungsgebilde anzusehen. Städte wie Karlsruhe oder Brasilia bzw. bestimmte Viertel von Städten sind zumindest im Rahmen eines bestimmten Zeitabschnitts sicherlich Realisierungen eines bestimmten Plans. Sie verdanken ihre Ordnung einer planenden Setzung von außen, bei der in der Regel eine beschränkte Zahl von Gestaltungsfaktoren berücksichtigt worden sind. Dadurch werden sehr stringente und durchsichtige Ordnungsstrukturen möglich, die für bestimmte Funktionsanforderungen sehr effektiv sein können, die aber der Polyfunktionalität von Städten als Lebensräumen nicht immer dienlich sind. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass Menschen solche Reißbrettstädte zwar sehr oft imponierend finden, aber gleichwohl nicht dauerhaft in ihnen wohnen möchten, weil ihnen keine gewachsene Individualität und keine emotionale Bindefähigkeit eigen ist. Ebenso wie es geplante Konstruktstädte gibt, so gibt es auch geplante Konstruktsprachen, die stringent strukturierte Systemzusammenhänge repräsentieren. Für die Realisierung bestimmter Verständigungszwecke haben sie einen hohen Funktionswert, aber für die komplexen menschlichen KognitionsKommunikationsbedürfnisse reichen sie meist nicht aus. Sie sind in der Regel darauf beschränkt, Sachverhalte präzise darzustellen, aber nicht in der Lage,
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Die Sprache als Bauwerk
diese in der jeweiligen Darstellung zugleich auch zu bewerten bzw. emotional zu akzentuieren. In ihnen gibt es keine anheimelnden Schurrworte und keine abweisenden Knurrworte. Mit ihrer Hilfe lassen sich kaum Informationen auf verschiedenen Ebenen zugleich vermitteln bzw. die psychische Nähe und Ferne des Sprechers zu bestimmten Sachverhalten kennzeichnen. Natürlich gewachsene Sprachen sind demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen zwar nicht immer etwas präzise mitgeteilt wird, dass in ihnen aber im Prinzip über alles auf eine sinnvolle Weise gesprochen werden kann, weil sich in ihnen die einzelnen Sprachmittel als Sinnbildungswerkzeuge immer wieder aktuell neu herrichten lassen. Während der metaphorische Sprachgebrauch im Rahmen des sprachlichen Konstrukt- und Systemgedankens als ein sehr unzweckmäßiger und zu Missverständnissen führender Sprachgebrauch erscheint, ist er im Kontext einer evolutionär akzentuierten Sprachvorstellung als ein unverzichtbares Mittel anzusehen, die Sprache neuen Anforderungen anzupassen bzw. sie polyfunktional zu verwenden. Sicher kommt keine Stadtpflege ohne Global- und Detailplanung aus und keine Sprachpflege ohne normative Setzungen und ohne normative Sprachunterweisung. Die Frage ist nur, inwieweit dabei der esprit de géométrie die Überhand über den esprit de finesse gewinnt. Dieses Problem dokumentiert sich sehr deutlich bei der Pflege von Altstädten. Die Ziele und Normen des Denkmalschutzes können dabei so stringent realisiert werden, dass dadurch zwar ursprüngliche Verhältnisse wiederhergestellt werden, dass aber dabei zugleich die konkreten Bedürfnisse der gegenwärtigen Bewohner ziemlich vernachlässigt werden. Das führt dann leicht zu einer Musealisierung von Stadtbezirken, die zwar gut vorzeigbar, aber nicht gut bewohnbar sind. Ähnliche Probleme und Effekte können sich auch in der Sprachpflege einstellen, die ja in der Regel hauptsächlich die Schriftsprache betrifft. Diese Pflege kann so ausfallen, dass zwar eine bestimmte historische Systemordnung bzw. eine bestimmte Funktion von Sprache optimal erhalten oder verfügbar gemacht wird, dass dabei aber zugleich auch die Polyfunktionalität und Flexibilität der Sprache entscheidend geschwächt wird. In der normativen Stilistik offenbart sich dieses Dilemma sehr deutlich. Gleichwohl kann Sprachpflege aber natürlich auch dazu dienen, dass die historisch entwickelten und bewährten Ordnungsstrukturen der Sprache lebensfähig und tradierbar gehalten werden. Das hat dann den Effekt, dass die Sprache nicht nur für flexible Sinnbildungsstrategien nutzbar bleibt, sondern dass auch historische Texte von späteren Generationen noch verstanden werden können. Jede Pflege tradierter Städte, Häuser und Sprachen hat einerseits natürlich immer etwas Epigonales, aber andererseits auch immer etwas Lebenssicherndes an sich, weil niemand mit allzu großen Innovationen, Umstrukturierungen und Reglementierungen psychisch fertig wird. Jedes Wiedererkennen von Vertrautem, selbst wenn es systemtheoretisch gesehen voller Ungereimtheiten und Umständlichkeiten ist, hat immer etwas emotional Stabilisierendes und damit auch Befriedigendes an sich. Perfekte Systeme mag man bewundern, lieben wird man sie kaum. Inkonsequenzen, Vagheiten und Ambiguitäten sind
Stadt und Sprache
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in stringenten Systemordnungen höchst ärgerlich, in historisch gewachsenen und lebendigen Ordnungsgebilden aber oft von großem Charme, weil sie eine Individualität ermöglichen, der Sympathie entgegengebracht werden kann. Die kontrastive Gegenüberstellung von gewachsenen und geplanten Städten bzw. von gewachsenen und geplanten Sprachen ist natürlich eine idealtypische Vereinfachung, die zwar methodisch für die aspektuelle Konzentration unserer Aufmerksamkeit gerechtfertigt werden kann, die aber nicht als Ergebnis von empirischen Untersuchungen zu legitimieren ist. Die Behauptung einer solchen Opposition lässt sich auf der Basis des Systemgedankens recht gut begründen, sie wird aber problematisch, wenn wir den Strukturgedanken in den Mittelpunkt unseres Interesses stellen und von hier aus den inneren Ordnungszusammenhang von Phänomenen zu erfassen versuchen. Systeme und insbesondere geschlossene Systeme sind eigentlich nur durch tyrannische Eingriffe von außen zu verändern. Dagegen können sich Strukturen relativ leicht immanent ändern. Da Strukturen Beiträge zur Ausgestaltung von Ordnungszusammenhängen leisten, sind sie natürlich auch irgendwie als Bestandteile von Systemen anzusehen. Sie können ihr Ordnungspotenzial aber eigentlich nicht in starren, sondern nur in flexiblen bzw. offenen Systemen entfalten, weil in diesen die einzelnen Funktionselemente immer einen gewissen Funktionsspielraum haben müssen, damit sich konkrete Chancen für Umstrukturierungsprozessen ergeben können. Ein Exempel für ein offenes System mit variablen Strukturen ist sicherlich die demokratische Staatsordnung, deren Stabilität bzw. deren Fließgleichgewicht sich aus dem flexiblen Zusammenspiel von unterschiedlich variablen Einzelstrukturen ergibt. Ein Exempel für ein geschlossenes System ist dagegen die totalitäre Staatsordnung, die zwar zur Realisierung ganz bestimmter Zwecke höchst effektiv sein kann, die aber bei geänderten Rahmenbedingungen über kurz oder lang doch an ihren eigenen Stringenz bzw. Starrheit zu Grunde gehen kann. Geschlossene Systeme lernen wir am besten im Rahmen von deduktiven Überlegungen und in anatomischen Analysen kennen. Offene Systeme lernen wir dagegen am besten durch induktive Überlegungen und durch die Beobachtung der Dynamik von Prozessen kennen, in die wir uns auch selbst einzubeziehen haben. Um bei der Klärung der Ordnungsstruktur einer Stadt aus der Dichotomie zwischen einem stringent geordneten System und mehr oder weniger zufällig entwickelten Strukturen herauszukommen und um die Stadt als ein offenes System beschreiben zu können, hat Kostof auf das Bild des Gitternetzes zurückgegriffen.26 Diese Vorstellung ist ihm wichtig, weil sie es ermöglicht, sich die innere Ordnung einer Stadt in vielfältigen Variationen vorstellbar zu machen, nämlich von einer Schachbrettordnung mit rechtwinklig sich kreuzenden Straßen über kreisförmige und spindelförmige Grundrissstrukturen bis zur
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S. Kostof, Die Anatomie der Stadt, 1992, S. 50 ff., 95 ff., 136 ff.
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Die Sprache als Bauwerk
flexiblen Anpassung von städtischen Baustrukturen an gegebene Berge oder Flüsse. Die Gitternetzordnung einer Stadt könne vielfältigen Anforderungen gerecht werden (Verteidigung, Verkehr, Zentralismus, Stadtviertelbildung usw.) und komme sowohl in geplanten als auch in gewachsenen Städten zum Ausdruck. Deshalb möchte er die Gitternetzstruktur auch als eine Universalie der Ordnung von Städten ansehen. Gitternetze zeigten sowohl Städte, die nach Monumentalität und Prachtentfaltung strebten, als auch Städte, deren Struktur ganz auf praktische Bedürfnisse ausgerichtet sei. In analoger Weise lässt sich vielleicht die These vertreten, dass die Gitternetzstruktur auch als eine Art Ordnungsuniversalie für den Bau von Sprachen angesehen werden kann. Die Vorstellung des Gitters macht uns dabei auf die Notwendigkeit von festen Ordnungszusammenhängen in der Sprache aufmerksam und die Vorstellung des Netzes auf die Notwendigkeit von flexiblen Ordnungsstrukturen, über die letztlich alles mit allem variantenreich verbunden werden kann. Die Polyfunktionalität bzw. die Flexibilität von lebendigen Städten und Sprachen wird uns in der Regel erst dann verständlich, wenn wir beide Ordnungsgebilde nicht nur in einer historischen und einer systematischen Perspektive betrachten, sondern auch in einer sozialen. Als komplexe soziale Institutionen müssen sich Städte und Sprachen sowohl einer starren Systemordnung als auch einer mehr oder weniger beliebigen Strukturordnung entziehen, um funktionsfähig zu sein und zu bleiben. Deshalb sollte es sich auch von selbst verbieten, Städte und Sprachen morphologisch bzw. anatomisch nur als starre Systeme zu beschreiben. Es darf nicht darauf verzichtet werden, sie auch als soziologisch und psychologisch beschreibbare Ordnungszusammenhänge mit flexiblen und interagierenden Einzelstrukturen und Einzelelementen zu betrachten. Nur dann werden wir Städten und Sprachen als polyfunktionalen und strukturflexiblen Ordnungszusammenhängen bzw. offenen Systemen gerecht.
Stadt und Sprache als soziale Institutionen Wenn wir eine Stadt als Polis wahrnehmen, dann ist von vornherein klar, dass wir uns nicht darauf beschränken können, sie nur als ein materielles Bauwerk zu betrachten und nicht zugleich auch als ein soziales. Die antike Polis hat sich nie allein aus ihren Gebäuden und deren Anordnungen konstituiert, sondern immer auch durch ihre Bürgerschaft und die von ihr entwickelten Rechts- und Kulturordnungen. Gerade wenn man den Menschen als ein Wesen versteht, das sozialer Institutionen bedarf, um überleben zu können, dann bekommt die Stadt als kulturell gestalteter Lebensraum eine fundamentale anthropologische Bedeutung. Die Stadt ist demzufolge dann nicht nur als ein geographisch beschreibbarer Lebensraum zu verstehen, sondern immer auch als ein sozial, rechtlich und psychologisch zu beschreibender Lebensraum von hoher Interaktionsintensität, der viele Ähnlichkeiten zur Sprache aufweist. Der städtische Lebensraum muss sich anders strukturieren als der ländliche, weil er heteroge-
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ner ist und weil er vielfältigere Assimilations- und Akkommodationsprobleme zu lösen hat. So gesehen konstituiert sich die Stadt ursprünglich ganz wesentlich durch ihre Abgrenzung von dem weniger bzw. anders durchstrukturierten Land. Das dokumentierte sich nicht nur durch ihre Stadtmauern, sondern auch durch ihre jeweiligen Rechtsordnungen. Es überrascht deshalb nicht, dass in ikonisch organisierten Begriffsschriften (sumerische Keilschrift, chinesische Schrift) die Stadt durch ein stilisiertes Mauerbild repräsentiert wird und dass das englische Wort town stammverwandt mit dem deutschen Wort Zaun ist. Durch ihre Mauern wird die Stadt gleichsam eine spezifisch geordnete Insel im Ozean des kulturell weniger durchstrukturierten Landes. Das hat sich im Mittelalter dann auch sehr deutlich durch die Vergabe von Stadt- und Marktrechten dokumentiert sowie durch die Ausgestaltung des Zunftwesens mit seiner streng reglementierten Arbeitsverteilung. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass in Städten immer eine andere Lebensordnung entwickelt worden ist als in Burgen, Klöstern und Dörfern. So gesehen haben Stadtmauern für die Bewohner einer Stadt nicht nur eine Schutzfunktion gegen äußere Bedrohungen, sondern zugleich auch eine Abgrenzungsfunktion gegenüber anderen Lebensformen. Deshalb macht auch nicht die Stadtluft frei von den feudalistischen Strukturen auf dem Lande, sondern paradoxerweise eigentlich die Stadtmauer. Stadtmauern wurden sowohl in einem realen als auch in einem rechtlichen Sinne zu einem entscheidenden Definitionsmerkmale der Stadt als Ordnungs- und Lebensraum. Das Verständnis der Stadt als Manifestation eines spezifischen Kulturraums und als Menschenwerk soll im 16. Jahrhundert in Florenz sogar zu hitzigen Debatten darüber geführt haben, ob beispielsweise Bäume als Repräsentanten der Natur und des Landes in die Stadt gehören oder nicht. Bezeichnend ist auch, dass sich der städtische Lebensraum nicht als ein einheitlicher Lebensraum für alle Stadtbewohner konstituiert, sondern dass er sich selbst wieder sehr differenzierte räumliche, soziale und geistige Ordnungsstrukturen gibt. Handwerker bilden Zünfte, deren Mitglieder in derselben Straße wohnen, und bestimmte Familien beherrschen direkt oder indirekt das öffentliche Leben. Die Stadt grenzt sich vom Land ab und entwickelt sich dabei zu einem eigenen Kosmos mit ganz bestimmten Ordnungsstrukturen, die teilweise gesetzt werden, die sich teilweise aber auch spontan aus bestimmten Korrelationen und Funktionen entwickeln. Historisch und geographisch ist es auf diese Weise zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen des städtischen Lebensraumes gekommen. Die antiken Städte haben sich sozial und kulturell keineswegs so klar vom ländlichen Lebensraum abgegrenzt wie die mittelalterlichen Städte. Das Land wird hier von der Stadt aus organisiert und die reichen Bürger haben selbstverständlich Landsitze. Die antiken Städte haben außerdem viele öffentliche Plätze und eben dadurch auch vielfältige Versammlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die mittelalterlichen Städte sind dagegen durch recht rigide Funktions-
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Die Sprache als Bauwerk
anweisungen an ihre Bürger geprägt, wodurch sich der Bedarf an öffentlichen Kommunikationsplätzen wiederum sehr reduziert hat. Städte, die sich dem Land öffnen, haben natürlich auch ganz andere stadtinterne Straßenführungen als solche, die sich vom Land abzuschotten versuchen. Sackgassen und abgegrenzte Binnenquartiere bis hin zu Ghettobildungen sind für mittelalterliche Städte deshalb durchaus typisch und werden zum Teil sogar angestrebt. Gleichwohl ist generell festzuhalten, dass sich in Städten im Prinzip der soziale Strukturwandel schneller vollzieht als auf dem Lande. Es ist nun leicht einzusehen, dass die Abgrenzung von Stadt und Land bzw. die Abgrenzung von unterschiedlichen Lebensaufgaben einen wichtigen Einfluss auf das Kommunikationsverhalten der einzelnen Gruppenmitglieder ausübt und damit auch auf die Ausgestaltung der Sprache als Kommunikationsmittel. Die einzelnen Gruppen versuchen, sich nicht nur durch ihre Kleidung, durch ihre Umgangsformen und durch ihre Wohnquartiere voneinander abzugrenzen, sondern auch durch ihr Sprachverhalten und ihre Sprachformen. Die Sprache bekommt auf diese Weise in vielfachen Hinsichten eine ähnliche Funktion wie eine Stadtmauer, da sie einerseits nach außen abschirmen soll, aber andererseits auch nach innen Zusammenhalt und Gruppenidentität festigen soll. Gruppensprachen und Soziolekte entstehen, die einen wichtigen Beitrag zur sozialen Identitätsbildung leisten, insofern sie nämlich auch immer zu einem bestimmten Stallgeruch führen. Historisch gesehen eröffnete sich im Mittelalter durch die Kenntnis des Lateins die Bildungswelt. Im Absolutismus spielte die Kenntnis des Französischen eine ähnliche Rolle. Heute ermöglicht die Kenntnis des Englischen die Chance zur Teilnahme an der globalen Kommunikation. Sprachmauern können einerseits Lebenswelten voneinander abgrenzen, aber andererseits auch den jeweiligen Sprechern bestimmte soziale Identitäten bzw. bestimmte Entfaltungsmöglichkeiten geben. Sozialkämpfe treten deshalb nicht selten auch als Sprachkämpfe in Erscheinung. Die Etablierung von Nationalsprachen, von Hochsprachen und Wissenschaftssprachen hatte außerdem auch immer Konsequenzen für die Ausbildung der Denkwelten der jeweils Betroffenen, die diese meist gar nicht ganz überschauen konnten. Mauthner hat in seinem sprachkritischen Denkansatz noch auf eine andere mögliche Analogie zwischen Stadt und Sprache als genuinen Kulturprodukten aufmerksam gemacht, die er allerdings weitgehend negativ beurteilt. Stadt und Sprache sind für ihn Zivilisationsprodukte, die er auf keinen Fall als Kunstwerke verstehen möchte, da für ihn solche nur aus dem Schöpfungsakte eines Individuums hervorgehen könnten. Stadt und Sprache sieht er als Resultate eines Sozialismus an, dem er weder anthropologisch noch kulturell eine Wertschätzung entgegenbringt. Es ist ihm ganz fremd, Städte und Sprachen als kollektive Kulturleistungen zu verstehen bzw. als kreative Reaktionen vieler auf bestimmte pragmatische Herausforderungen. Im Zusammenhang mit seinen kritischen Überlegungen zu den problematischen Tiefenstrukturen von Städten als Zivilisationsgebilden entwickelt er die Überlegung, dass die Spra-
Stadt und Sprache
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che ein Kunstwerk hätte werden können, wenn sie aus dem monologischen Donnerbedürfnis eines einzelnen kreativen Individuums entstanden wäre. „Die Sprache aus dem Donnerbedürfnis hätte ein Kunstwerk werden können. Die Sprache aus dem gemeinen Mitteilungstrieb ist schlechte Fabrikarbeit, zusammengestoppelt von Milliarden von Tagelöhnern … Ist die Sprache aber kein Kunstwerk, so ist sie dafür bis heute die einzige Einrichtung der Gesellschaft, die wirklich schon auf sozialistischer Grundlage beruht …; die ganze Gesellschaft ist nichts als eine ungeheure Gratiswasserkunst für dieses Gemengsel, jeder einzelne ist ein Wasserspeier, und von Mund zu Mund speit sich der trübe Quell entgegen und vermischt sich trächtig und ansteckend, aber unfruchtbar und niederträchtig, und da gibt es kein Eigentum und kein Recht und keine Macht. Die Sprache ist Gemeineigentum. Alles gehört allen, alle baden darin, alle saufen es, und alle geben es von sich ...“ 27
Es ist sicher auch kein Zufall, dass gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere die Großstadt und die Sprache als Kultur- bzw. Zivilisationsphänomene gleichzeitig in die Kritik gekommen sind. Die Expressionisten beschreiben die Stadt immer wieder als bedrohliches molochartiges Phänomen. Hugo von Hofmannsthal lässt Lord Chandos in dem fiktiven Brief an Francis Bacon sagen, dass ihm die Sprache weder ein verlässliches Sinnbildungswerkzeug sei noch eine Heimat, weil sie ihm einerseits in Einzelteile zerfalle und andererseits zu einer bedrohlichen Gegenmacht werde. „ … die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze … Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Wörter schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß.“ 28
Wenn man die sozialen Institutionen Stadt und Sprache in der durch Mauthner und durch Hofmannsthal akzentuierten Weise sieht, dann kann man sie natürlich nicht mehr als verlässliche und Halt gebende kulturelle Behausungen im realen und geistigen Raum verstehen. Natürlich ist einzuräumen, dass die realen Ausprägungsformen von Städten und Sprachen ihre Bewohner und Nutzer individuell einschränken und bedrohen können. Aber die Einschränkungen der realen und geistigen Bewegungsmöglichkeiten engen eben nicht nur ein, sondern sie eröffnen auch Schutzräume für Gestaltungsprozesse. Völlig offene reale und geistige Räume können psychisch ebenso belastend werden wie völlig geschlossene. Deshalb kommt alles darauf an, Grenzen flexibel zu halten, weil Grenzen sich letztlich nie aufheben, sondern nur verschieben lassen.
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906 / 1982, S. 26–27. H. von Hofmannsthal, Ein Brief, Werke in Einzelausgaben, Prosa II, 1952, 2–13.
V
Die Sprache als Organismus
Die Wahrnehmung der Sprache als Organismus hat eine lange Tradition. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich unsere Organismusvorstellungen seit dem 18. Jahrhundert erheblich gewandelt haben und dass mit dem Terminus Organismus im Verlaufe der Zeit auf ganz unterschiedliche Sachverhalte bzw. Begriffsbildungen aufmerksam gemacht worden ist. Deshalb ist es hilfreich, sich zunächst einmal Rechenschaft über die Entwicklung unserer Organismusvorstellung abzulegen, bevor näher auf dessen mögliche Sinnbildfunktionen für die Erschließung der Sprache eingegangen wird. Zunächst ist festzuhalten, dass der Organismusbegriff anfangs keineswegs als ein ausgesprochener Oppositionsbegriff zum Bauwerkbegriff verstanden worden ist, sondern dass beide Begriffe ursprünglich ein großes Überschneidungsfeld aufwiesen bzw. eine große Nähe zu den Begriffen Mechanismus und Maschine. Deshalb rechtfertigt sich die Thematisierung der Sprache als Organismus im Anschluss an ihre Thematisierung als Bauwerk methodisch nicht nur in einem kontrastiven, sondern auch in einem ergänzenden und spezifizierenden Sinne. Der Terminus Organismus ist außerdem sowohl historisch als auch systematisch in so unterschiedliche Kontexte und Geschichten verstrickt, dass sich jede normative Definition seines begrifflichen Inhalts für die hier verfolgten Ziele als ziemlich kontraproduktiv erwiese. Wir haben uns heute daran gewöhnt, den Organismusbegriff als einen rein biologischen Begriff zu verstehen. Dieses Verständnis hat es aber keineswegs immer gegeben. Deshalb müssen wir auch damit rechnen, dass die Kennzeichnung der Sprache als Organismus früher keineswegs immer sinnbildlich verstanden worden ist, sondern zuweilen durchaus als eine Art kategorialer Einordnung bzw. als eine definitorische Bestimmung.
1. Die Entwicklung des Organismusgedankens Historisch gewachsene Begriffe lassen sich in der Regel nicht völlig befriedigend definieren, weil sie im Laufe der Zeit in sehr unterschiedliche Sinnbildungsstrategien verstrickt gewesen sind, die auch dann noch durchschimmern, wenn man sie für den systematischen methodischen Gebrauch semantisch zu normieren versucht hat. Die begriffsgeschichtlichen Rekonstruktionen solcher Begriffe haben deshalb nicht nur einen antiquarischen, sondern immer auch einen sachsystematischen Sinn, weil dadurch ihr mögliches Operationsfeld überschaubarer wird. Erkenntnistheoretisch gesehen sind alle begriffsge-
Die Entwicklung des Organismusgedankens
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schichtlichen Überlegungen dem genetischen Prinzip verpflichtet. Dieses besagt, dass sich erst aus der Entwicklungsgeschichte eines Begriffs wirklich erschließen lässt, welche konkreten kognitiven Strukturierungsintentionen hinter ihm stehen, und dass wir aus der Kenntnis dieser Intentionen auch das Sachfeld besser kennenlernen, auf dass die jeweiligen Begriffsbildungen bezogen sind. So gesehen spiegelt die Entwicklungsgeschichte von Begriffen dann nicht nur ganz unterschiedliche kulturgeschichtliche Differenzierungsinteressen wieder, sondern auch ganz unterschiedliche Sachaspekte der jeweiligen Gegenstandsbereiche. Gerade wenn man das sinnbildliche Potenzial von bestimmten Sachvorstellungen erschließen will, dann muss man die Geschichte der Begriffe rekonstruieren, die zu deren sprachlicher Objektivierung entworfen worden sind. Das schließt sowohl ein Interesse an der Etymologie der begriffsbezeichnenden Wörter ein als auch ein Interesse an der Verschränkung der jeweiligen Begriffsbildungen mit der allgemeinen Kulturgeschichte. Deshalb soll zunächst versucht werden, aus der Entwicklungs- und Funktionsgeschichte des Organismusbegriffs insbesondere diejenigen Aspekte herauszuarbeiten, die für die sinnbildliche Erschließung des Phänomens Sprache fruchtbar sein können.
Die Hintergründe des Organismusbegriffs Der heutige Terminus Organismus leitet sich etymologisch von dem griechischen Terminus organon ab, der ja schon im Zusammenhang mit den Überlegungen zu der Sprache als Werkzeug diskutiert worden ist. Dieser Terminus hatte ursprünglich einen recht breiten Sachbezug, insofern mit ihm sowohl technische Werkzeuge, Sinnesorgane und Körperteile bezeichnet werden konnten als auch Gehilfen oder Sklaven. Dieser weitgespannte Anwendungsbereich des Terminus lässt sich abstrakt wohl dahingehend zusammenfassen, dass mit ihm immer Mittel bezeichnet werden konnten, die zur Realisierung eines bestimmten Zweckes dienlich waren.1 Diese funktionale Grundorientierung des Organonbegriffs verdeutlicht, dass dieser ursprünglich eher in prozessual und physiologisch orientierte Kontexte gehörte als in statisch und anatomisch orientierte. Als Organon wurde etwas aufgefasst, was im Dienste von etwas anderem stand, was Bestandteil eines umfassenden Ordnungszusammenhangs war und was seine Besonderheiten und Leistungsfähigkeiten erst in Wirkungszusammenhängen offenbarte. Dabei war zunächst recht unerheblich, ob es sich um Wirkungszusammenhänge in der Natur (physis) oder in der Kultur (techne) handelte.
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Vgl. Th. Ballauf, Organon. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 1317–1326
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Die Sprache als Organismus
Angesichts der griechischen Denktradition, die Begriffe Natur und Kultur weniger als Oppositions-, sondern eher als Ergänzungsbegriffe zu verstehen, wird auch verständlich, warum die Wortprägung Organismus, die Ende des 17. Jahrhunderts in Umlauf kam, zunächst keinen Begriff bezeichnete, der kontrastiv zum Begriff Mechanismus verstanden wurde. Beide Begriffe dienten in etwas anderer Akzentuierung dazu, strukturierte und organisierte Ganzheiten zu bezeichnen. Bis ins 19. Jahrhundert lässt sich deshalb in vielen Argumentationszusammenhängen das Wort Organismus problemlos durch das Wort Organisation ersetzen, da immer das sinnvolle Zusammenspiel von unterscheidbaren Teilen im Mittelpunkt des Interesses stand. Erst am Anfang des 19. Jahrhunderts verstärkte sich allmählich die Tendenz, den Organismusbegriff vorrangig als biologischen Begriff zu verstehen und ihn kontrastiv vom technischen Begriff Mechanismus abzusetzen, obwohl der Gedanke der Organisation für beide Begriffsbildungen weiterhin wirksam blieb. Diese Entwicklung hat dann dazu geführt, dass sich das sinnbildende Potenzial der Organismusvorstellung erheblich verschob. Mehr und mehr schenkte man nämlich nun dem Problem Aufmerksamkeit, durch welche Symbioseund Interaktionsfähigkeit ein Phänomen bestimmt wurde, welche Autonomie ihm zukam und wie es sich eigenständig entfalten konnte. Der biologisch orientierte Organismusbegriff bündelte natürlich auch ganz andere faktische Erfahrungszusammenhänge und metaphysische Hypothesen als der mechanisch orientierte Organismusbegriff, wenngleich der Organisationsgedanke für beide Begriffsausprägungen gleichermaßen prägend blieb. Als man dann kulturelle Institutionen wie etwa den Staat, die Kunst oder die Sprache mit der biologisch orientierten Organismusvorstellung sinnbildlich zu erschließen versuchte, so konnte man sich dabei nun nicht mehr nur auf die bloße Organisiertheit dieser Phänomene konzentrieren, sondern musste natürlich auch nach ihrer Autonomie, ihrer Historizität, ihrer Entwicklungsfähigkeit und ihrer Reproduktionsfähigkeit fragen. Der Systemgedanke spielte für die sinnbildliche Nutzung der Organismusvorstellung zwar auch weiterhin eine wichtige Rolle, aber er konnte nicht mehr in einem rein mechanischen Sinne verstanden werden, weil jetzt natürlich auch die Frage nach der Systemgenese und dem Systemwachstum eine zunehmende Bedeutung gewann. Im Denkklima des 17. und 18. Jahrhunderts lag des Verständnis des Terminus Organismus als eines Synonyms für den Terminus Organisation und Systemordnung insbesondere auch deshalb nahe, weil man noch nicht historisch und entwicklungsgeschichtlich dachte und im Kontext des rationalistischen Denkens eine große Neigung hatte, komplexe Phänomene mit Hilfe der Vorstellung von kausalen Mechanismen zu beschreiben. Maschinen in Gestalt von Uhrwerken und Automaten übten in dieser Zeit eine sehr große Faszination auf die Menschen aus und wurden immer wieder als Modelle für die Erklärung komplexer Phänomene in Anspruch genommen. An Maschinen glaubte man demonstrieren zu können, wie Teile zweckmäßig zusammenwirken können, wenn sie strukturell sinnvoll aufeinander bezogen werden.
Die Entwicklung des Organismusgedankens
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Die von Descartes vorgenommene Trennung von Geist (res cogitans) und Körper (res extensa) und das Verständnis des Körpers als einer mathematisch berechenbaren und beherrschbaren Größe im Raum legte außerdem nahe, den Körper als einen bloßen Mechanismus zu verstehen. Für Descartes waren deshalb die Tiere auch Automaten, die von künstlichen Automaten nur graduell, aber nicht prinzipiell zu unterscheiden waren, da man den Schöpfergott natürlich als einen besseren Werkmeister als den Menschen ansehen konnte. Hinsichtlich seines Leibes war der Mensch für Descartes deshalb auch nicht mehr als eine aufgezogene Uhr mit einer begrenzten Aktionsfähigkeit und Aktionsdauer. Diesen Denkansatz hat dann de la Mettrie in seinem materialistisch orientierten Denken noch verschärft, als er 1748 lapidar erklärte: „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfeder aufzieht.“ 2 Bei der Umorientierung des Organismusbegriffs auf lebende Phänomene mit einer eigenen Konstitutions- und Entwicklungsgeschichte spielt Kant eine ganz zentrale Rolle. Er hat im Hinblick auf die Bestimmung des Organismusbegriffs Denkperspektiven und Denkkategorien ins Spiel gebracht, die bis heute konstitutiv geblieben sind und die auch für das Verständnis der Sprache als Organismus keineswegs unerheblich sind. In seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft hat Kant betont, dass ein Ding, welches als Naturzweck existiere, als ein organisiertes Wesen anzusehen sei, das grundsätzlich drei charakteristische Merkmale besitze.3 Erstens sei ein organisiertes Wesen bzw. ein Organismus im Hinblick auf sich selbst Ursache und Wirkung, was natürlich allen Formen linearen Kausaldenkens die allergrößten Schwierigkeiten bereitet. Beispielsweise sei ein Baum einerseits als ein Gattungsexemplar von der Natur bzw. von einem anderen Baum verursacht und eben deshalb ein Produkt der Natur. Andererseits sei er aber auch ein Mittel, um seine eigene Gattung in der Natur aufrechtzuerhalten, weil er neue Bäume ins Leben rufen könne und somit an seiner eigenen Reproduktion beteiligt sei. Zweitens besitze ein Baum als Organismus eine Individualität, insofern seine Gestalt durch individuelle Wachstumsprozesse geprägt worden sei. Drittens zeichne sich ein Organismus als Ganzheit dadurch aus, dass seine Teile in einer Wechselwirkung zueinander stünden und sich eben dadurch auch selbst erhielten. Deshalb versteht Kant ein Naturprodukt im Gegensatz zu einem Kunstprodukt wie etwa eine Uhr „als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen.“ „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich
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J. O. de la Mettrie, L’homme machine, Die Maschine Mensch, 1990, S. 35. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 64 ff, A 282 ff., Werke, Bd. 10, S. 316 ff.
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fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus) nicht erklärt werden kann.“ 4
Die Fähigkeit von Naturorganismen zur Individualitätsausbildung, zur Selbsterneuerung und zur Selbstorganisation führt Kant zu der Überzeugung, dass man Naturorganismen nicht zureichend erfasse, wenn man sie nur in Analogie zu Kunstorganismen betrachte, weil der Kausalgedanke in Naturorganismen ganz anders in Erscheinung trete. „Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen.“ 5 In einem anderen Zusammenhang hat Kant hervorgehoben, dass Blumenbach in seiner Naturgeschichte von 1779 durch den Begriff des Bildungstriebes (nisus formativus) sehr viel Licht in die Eigenart von organisierten Naturwesen gebracht habe, was auch Goethe zustimmend registriert hat.6 Mit dem Hinweis auf das Phänomen des Bildungstriebes in Naturorganismen will Kant offenbar verdeutlichen, dass diese von Ordnungsformen geprägt werden, denen ein lineares bzw. ein bloß mechanisch-kausales Denken nicht gerecht werden kann, weil in ihnen mit rückprägenden Einflüssen von Endzwecken zu rechnen ist und weil eben deswegen dann auch teleologische Erklärungen erforderlich sind. Verwunderlich ist auch nicht, dass der Organismusgedanke eine große Rolle in der Romantik gespielt hat. Ihr bot der Organismusbegriff nämlich die Chance, einem dialektischen Denken Ausdruck zu geben bzw. die Welt nicht als eine statische, sondern als eine dynamische Ordnungsgestalt zu verstehen, was Friedrich Schlegel ausdrücklich bezeugt hat. „Es zerfällt demnach unsere Theorie der Welt in Thesis, Antithesis und Synthesis. Thesis geht auf die Materie, Antithesis auf die Form, und Synthesis (auf) die Vereinigung beyder. Wir haben nun einen Begriff zu suchen, der die Vereinigung beyder bezeichnet. Materie und Form müssen wir auf Realität beziehen; so erhalten wir eine Materie, die sich selbst die Form giebt, und eine Form, die sich eine Materie erzeugt – dies ist Organismus. Aber wir sagen vorerst Energie, weil dies die lebendige innere Kraft bedeutet, und weil es das Prinzip der Organisazion ist. Dies ist also der Mittelbegriff, die Synthesis der Materie und Form.“ 7 An einer anderen Stelle thematisiert Schlegel sein Verständnis von Organismus als lebendiger Organisation folgendermaßen: „Organisation ist nichts anders, als an den Körper gebundenes Leben in mannigfaltigster Entwicklung.“ 8
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I. Kant, a.a.O., § 65, B 293, Bd. 10, S. 322. I. Kant, a.a.O., § 65, B 294/295, Bd. 10, S. 323. 6 I. Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, A 126 f., Werke, Bd. 9, S. 163. J. W. von Goethe, Bildungstrieb, Werke, Bd. 13, S. 32. 7 F. Schlegel, Philosophische Vorlesungen 1800–1807, Kritische Friedrich Schlegelausgabe, 1964, Bd. 12, S. 35. 8 F. Schlegel, a.a.O., Bd. 12, S. 462. 5
Die Entwicklung des Organismusgedankens
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Im Zusammenhang mit den biologischen Überlegungen von Lamarck und Darwin zu der historischen Wandlungsfähigkeit von Arten haben sich dann neue Wahrnehmungsweisen und Denkperspektiven für die Organismusproblematik ergeben. Nun wurde nämlich weniger die Entwicklungsgeschichte von individuellen Organismen zum Thema, sondern die von Organismustypen bzw. von Arten und Gattungen. Während Lamarck dabei noch an die Vererbung von individuell erworbenen Eigenschaften dachte, vertrat Darwin die Auffassung, dass die Veränderung von Arten auf Variationen bzw. Mutationen in Reproduktionsprozessen zurückzuführen sei, die sich dann in Selektionsprozessen durchsetzten. Das implizierte dann eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Umweltfaktoren, die bei der der Reproduktion von Organismen Einfluss auf deren Selbstorganisation nehmen konnten. Im 20. Jahrhundert hat sich dann eine besondere Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungsprozesse gerichtet, durch die Organismen in ihren internen und externen Korrelationsbezügen geprägt werden. Darauf hat man dann durch die beiden Stichworte Stoffwechsel und offenes System aufmerksam gemacht. Organismen wurden nun als Phänomene gesehen, die in Wechselwirkungsund Selbstregulationsprozesse eingebunden sind und bei denen sehr unterschiedliche Einflussfaktoren wirksam werden, deren Auswirkungen nicht von vornherein genau berechenbar sind. Das bedeutet, dass das, was man als Organismus ansehen kann, nicht von vornherein definitiv feststeht, sondern vielmehr etwas ist, was methodisch aus bestimmten Abstraktionsprozessen und Erkenntniszielen hervorgeht. So gesehen besteht jeder Organismus einerseits immer aus Suborganismen und ist andererseits immer auch in noch umfassendere Organismen eingebunden. Deshalb lassen sich Organismen auch als offene Systeme verstehen, da sie immer auf andere Systeme übergreifen bzw. in ihrer Struktur und Funktion von anderen Systemen beeinflusst werden.
Die sprachtheoretische Relevanz von Organismusvorstellungen Wenn man vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung von Organismusvorstellungen danach fragt, warum das Phänomen Sprache immer wieder mit dem Organismusgedanken in Verbindung gebracht worden ist, dann ergibt sich ein sehr vielfältiges, wenn nicht diffuses Bild. Es ist keineswegs immer klar, ob die Kennzeichnung der Sprache als Organismus bzw. als organisch als eine begriffliche Klassifizierung oder als eine sinnbildliche Hypothese mit einer durchaus begrenzten heuristischen Funktion gemeint ist. Diese Situation ändert sich allerdings, wenn man die von Kant vorgenommene Differenzierung von Naturprodukten und Kunstprodukten akzeptiert. Nun stellt sich nämlich die Frage, ob bzw. in wie weit wir die Sprache zu den Naturprodukten oder zu den Kulturprodukten zu rechnen haben. Die von Kant ins Spiel gebrachten Merkmale von Naturprodukten (Reproduktion ihrer selbst, Individualität durch spezifisches Wachstum, Selbstorganisation der Teile) treffen zumindest bis zu einem gewissen Grade auch auf die Sprache zu.
Die Sprache als Organismus
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Ebenso wird man wohl annehmen dürfen, dass man der Sprache mit einem rein linearen kausalen Denken nicht recht beikommen kann, sondern dass man zu ihrer Strukturbeschreibung auch auf teleologische Überlegungen zurückzugreifen hat bzw. dass man auch bei ihr mit rückprägenden Effekten rechnen muss. Dennoch hätte sich Kant wohl gescheut, die Sprache unter die Naturorganismen einzuordnen, weil er ihr zumindest nicht denselben Grad von Eigenständigkeit und Selbstreproduktionsfähigkeit wie Naturorganismen zugeordnet hätte. Er hätte sicher betont, dass die Sprache sich nicht selbst reproduziere, sondern dass das nur mit Hilfe der Menschen möglich sei, die Gebrauch von ihr machten. Deshalb stellt sich natürlich die Frage, wie weit die Analogien zwischen Naturorganismen und Sprache reichen bzw. welches Verständnis des Organismusbegriffs vorliegt, wenn im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder vom Organismus der Sprache gesprochen wird. Humboldt hat noch ziemlich unbefangen darauf verwiesen, dass der Gegenstand des vergleichenden Sprachstudiums „die Untersuchung des Organismus der Sprache“ sei. „Der Organismus der Sprachen entspringt aus dem allgemeinen Vermögen und Bedürfniss des Menschen zu reden, und stammt von der ganzen Nation her; die Cultur einer einzelnen hängt von besondren Anlagen und Schicksalen ab, und beruht grossentheils auf nach und nach in der Nation aufstehenden Individuen. Der Organismus gehört zur Physiologie des intellectuellen Menschen, die Ausbildung zur Reihe der geschichtlichen Entwicklungen. Die Zergliederung der Verschiedenheiten des Organismus führt zur Ausmessung und Prüfung des Gebiets der Sprache und der Sprachfähigkeit des Menschen; die Untersuchung im Zustand höherer Bildung zum Erkennen der Erreichung aller menschlichen Zwecke durch Sprache.“ 9
Diese Aussagen machen klar, dass für Humboldt ein Organismus etwas ist, was eine vollendete Organisation hat, und dass der Organismus der Sprache für ihn konstitutiv mit der operativen Intellektualität des Menschen zusammengehört. Letzteres impliziert dann wiederum, dass ein Sprachorganismus nicht als eine autonome Größe zu betrachten ist, weil er aus dem gestaltenden Geist der Menschen hervorgeht. Ein rein biologisches Verständnis des Begriffs Organismus liegt Humboldt aber recht fern. Deshalb spielt für ihn auch die allmähliche evolutionäre Entwicklung der Sprache aus groben und primitiven Vorstufen keine entscheidende Rolle. „Es ist eine bemerkenswerthe Erscheinung, dass man wohl noch keine Sprache jenseits der Gränzlinie vollständigerer grammatischer Gestaltung gefunden, keine in dem flutenden Werden ihrer Formen überrascht hat … Es kann auch die Sprache nicht anders, als auf einmal entstehen, oder um es genauer auszudrücken, sie muss
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W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium …,Werke, Bd. 3, S. 6–7.
Die Entwicklung des Organismusgedankens
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in jedem Augenblick ihres Daseyns dasjenige besitzen, was sie zu einem Ganzen macht.“ 10
Einerseits hat Humboldt immer wieder eindeutig betont, dass die vorfindbaren Sprachen vollendet organisiert sind: „Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Theil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhang stehen.“ 11 Andererseits möchte er die Sprache aber keineswegs als einen autonomen Organisationszusammenhang verstehen, der von seinem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtzusammenhang abgelöst werden kann. Deshalb hat er auch immer wieder hervorgehoben, dass die Sprache kein monologisches, sondern ein dialogisches Sinnbildungsinstrument ist, das erst im aktuellen Gebrauch seine konkreten Konturen und Strukturen bekommt. Modern gesprochen lässt sich deshalb sagen, dass Humboldt die Sprache nicht als ein geschlossenes, sondern als ein offenes System verstanden wissen wollte, welches mit anderen Ordnungszusammenhängen so vernetzt ist, dass ein umfassendes Fließgleichgewicht zwischen ihnen entstehen kann. Karl Friedrich Becker fühlte sich selbst zwar in der Nachfolge Humboldts, als er betonte, dass die Sprache als „eine leiblich gewordene Funktion des menschlichen Lebens“ zu betrachten sei. Gleichwohl verselbständigt sich ihm die Sprache aber dennoch zu einer relativ selbständigen Größe. „Zwar ist die Sprache nicht an und für sich ein selbstständiger Organism; als Erzeugniß des menschlichen Organism hat sie nur innerhalb der Sphäre dieses Organism ein Dasein. Aber wie jede besondere Funktion eines organischen Ganzen sich in einem besondern Organe, z.B. die Funktion des Sehens in dem Auge, verkörpert, und wie dieses Organ für sich gewissermaßen einen geschlossenen Organism ausmacht; so ist auch die Funktion des Sprechens in der gesprochenen Sprache etwas Bleibendes – gleichsam ein besonderes Organ des menschlichen Gattungsorganism – geworden, welches sich auch für sich als ein in allen seinen Theilen und Verhältnissen organisch gegliedertes Ganze darstellt, und dem selbstständigen Organism nachgebildet ist.“ 12
In einem Brief an Becker hat Humboldt betont, dass er mit ihm darin übereinstimme, dass die Sprache aus der innersten Natur des Menschen entspringe. Gegen ihn macht er allerdings geltend, dass die Sprache nicht als ein relativ selbständiger Teil des menschlichen Organismus zu betrachten sei. Die Sprache überhaupt und jede einzelne ist für ihn „ein Werk des ganzen Menschengeschlechts.“
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W. von Humboldt, a.a.O., Bd. 3, S. 2. Diesen Gedanken hat Humboldt an anderer Stelle in folgendes Bild gebracht: „ Wie eine schöne Frühlingsnacht auf einmal alle Blüthen eines vollen Baumes hervortreibt, damit und damit allein möchte ich die Sprache vergleichen.“ Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, Werke, Bd. 3, S. 279. 11 W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues …, Werke, Bd. 3, S. 446. 12 K. F. Becker, Organism der Sprache, 18412 /1970, S. 11 und 12.
Die Sprache als Organismus
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„Sie ist auch im Organismus dieses Ganzen gegründet, aus dessen durch seine Natur gegebenen Trennungen und Mischungen sie hervorgeht. Gesellschaft ist die nothwendige Bedingung der sonst sich nicht bildenden Sprache, und so entspringt die Sprache in ihren Einzelheiten auch aus allen die Bildung der menschlichen Gesellschaft leitenden Gesetzen.“ 13
Auch Karl Wilhelm Ludwig Heyse hat Vorbehalte gegen Beckers Qualifizierung der Sprache als eines relativ eigenständigen Organismus entwickelt. Er gesteht zu, dass man zwar von einer organischen Beschaffenheit der Sprache sprechen könne, da sie „ihrer Entstehung und ihrer ganzen formellen Beschaffenheit nach ein organisches Gebilde, keine Maschine, kein todtes Werkzeug“ sei. Aber er hat erhebliche Vorbehalte dagegen, „das Organische zur substanziellen Bestimmung der Sprache“ zu machen, „welche das Wesen, die ganze innere Natur derselben erschöpfend ausdrücke“ und dazu berechtige, die wissenschaftliche Sprachlehre als eine Physiologie der Sprache zu betreiben.14 Heyse macht geltend, dass die Sprache „ihr Lebensprincip nicht in sich, sondern außer sich in dem menschlichen Geiste“ habe, der sich „ihrer als seines Organes bedient.“ Allenfalls könne man sie einen „secundären Organismus“ nennen, weil jeder Organismus durch sich selbst und für sich selbst lebe. „Die Sprache aber spricht sich nicht selbst; sie ist kein selbständiges Dasein, sondern nur ein dienendes Organ des Geistes.“15 Wie Humboldt möchte auch Heyse die Sprache nicht zu einer eigenen Wirkungsgröße verselbständigen, sondern als eine Funktion des menschlichen Geistes gewertet wissen, was er bei Becker nicht zureichend gewährleistet sieht. Im Kontext des Evolutionsgedankens bekommt der Organismusgedanke dann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz neue Dimensionen. Jetzt müssen Organismen nämlich nicht mehr als ahistorische und in sich stabile Wesenheiten betrachtet werden, sondern lassen sich vielmehr als Ordnungsgestalten ansehen, die nur solange gleich bleiben, wie die Rahmenbedingungen gleich bleiben, unter denen sie existieren. In Bezug auf die Organismusvorstellung muss nun jedes substanzorientierte Denken zu Gunsten eines relationsund funktionsorientierten Denkens aufgeben werden. Dadurch ergeben sich dann auch für die sinnbildliche Nutzung von Organismusvorstellungen bei der Erschließung kultureller Phänomene wie etwa Staat oder Sprache ganz andere Aufmerksamkeitsprofile. Das Erkenntnisinteresse kann sich nun nämlich nicht mehr nur auf die Ordnungszusammenhänge in den jeweiligen Phänomenen selbst richten, sondern muss auf alle Faktoren ausgedehnt werden, die für deren Konstitution, Konstanz und Veränderung maßgeblich sind. Außerdem ergibt sich auch noch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Problem, was biologische und kulturelle Ordnungsgebilde gemeinsam haben und was sie
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Brief W. von Humboldts an Karl Friedrich Becker vom 20. Mai 1827, Werke, Bd. 5, S. 267. K. W. L. Heyse, System der Sprachwissenschaft, 1856/1973, S. 58. 15 K. W. L. Heyse, a.a.O., S. 59–60. 14
Die Entwicklung des Organismusgedankens
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voneinander unterscheidet. Das wirft dann wiederum die Frage auf, ob man zur Beschreibung kultureller Veränderungsprozesse eher auf das Entwicklungskonzept von Lamarck oder auf das von Darwin zurückgreifen soll. Für alle Varianten des Organismusgedankens ist die Vorstellung der Selbstorganisation bzw. der Wechselwirkung von Einzelelementen aufeinander interessant. Die Frage ist nur, wie weit man die Operationsfelder ausdehnt, in denen diese Prozesse stattfinden. Dieses Problem stellt sich insbesondere im Hinblick auf die Sprache, weil es sicher kein Mittel gibt, welches vielfältiger nutzbar ist, um Relationszusammenhänge darzustellen oder gar herzustellen. Es ist deshalb auch nicht leicht, den Organisations- und Organismusgedanken im Hinblick auf Sprache zu konkretisieren. Wenn man beispielsweise die Sprache nur als Zeichensystem zur Übermittlung von Informationen ansieht, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild, als wenn man sie als ein Mittel betrachtet, durch das Wissen gebildet, gespeichert und tradiert werden kann bzw. mit dem man handelnd auf andere einwirken kann. Vielleicht lässt sich in drei typologisch vereinfachten Hauptperspektiven das Phänomen Organismus mit dem Phänomen Sprache in Verbindung bringen. Diese können durch die Stichwortpaare Ganzheit und Gestalt, Wirkung und Wechselwirkung sowie Entwicklungsfähigkeit und Evolution konkretisiert werden. Diese Stichwortpaare eignen sich sehr gut dazu, auf die strukturelle Ordnung, die dynamische Wirksamkeit und das Veränderungspotenzial von Organismen und Sprache aufmerksam zu machen. Zu beachten ist dabei allerdings, dass diese Differenzierung von Teilaspekten sich im Grunde nur methodisch rechtfertigen lassen, da sie faktisch alle miteinander verwachsen sind. Die Frage nach der Ganzheit und Gestalt von Organismen und Sprache zielt darauf ab, diese Gegebenheiten als relativ geschlossene Ordnungszusammenhänge zu betrachten, die von anderen abgrenzbar sind und die eine bestimmte interne hierarchisch gegliederte Ordnungsstruktur aufweisen. Diese Betrachtungsweise ist primär anatomisch bzw. statisch orientiert, weil sie die Hauptaufmerksamkeit auf den Systemzusammenhang der verbundenen Teile richtet und den Formgedanken stärker akzentuiert als den Funktionsgedanken. Die Frage nach der Wirkung und Wechselwirkung bei Organismen und Sprache zielt darauf ab, deren interne und externe Funktionszusammenhänge aufzuklären. Eine solche Betrachtungsweise ist primär physiologisch und dynamisch orientiert. Sie ist insbesondere daran interessiert, die Vernetzung von Teilelementen bzw. Teilsystemen aufzuklären, sowie die Interaktion der jeweiligen Gebilde mit ihren spezifischen Umwelten. Die Frage nach der Entwicklungsfähigkeit und Evolution von Organismen und Sprache zielt primär darauf ab, die Genese und die historische Variabilität von Formen und Funktionen ins Auge zu fassen bzw. die Faktoren, die für die Stabilisierung und Destabilisierung von Ordnungszusammenhängen maßgeblich sind. Hier ist dann insbesondere danach zu fragen, ob und wie das biologische Evolutionskonzept sich auf Kultur und Sprache übertragen lässt.
Die Sprache als Organismus
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2. Ganzheit und Gestalt Mit der Frage nach der Ganzheit eines Organismus soll auf seine relative Abgeschlossenheit aufmerksam gemacht werden und mit der nach seiner Gestalt auf seine spezifische Durchstrukturiertheit und potenzielle Dynamik. Beides gibt es natürlich in unterschiedlich ausgeprägten Intensitätsformen. Dabei kann man sich auch trefflich darüber streiten, ob die jeweils wahrgenommenen Intensitätsformen primär aus den offenkundigen Eigenschaften der jeweiligen Wahrnehmungsobjekte abzuleiten sind oder aus den besonderen Erfassungsstrategien der jeweiligen Wahrnehmungssubjekte. Außerdem ist zu beachten, auf welchen Abstraktionsebenen man Ganzheiten und Gestalten eigentlich konstatieren und wie man sie auf untergeordnete oder übergeordnete Einheiten beziehen kann. Je nach Betrachtungsweise kann man Ganzheiten und Gestalten eher als statische Phänomene betrachten, die man abstraktiv aus konkreten Funktionszusammenhängen herauslöst, oder als dynamische Phänomene, die man im Kontext ihrer Wirkungszusammenhänge wahrzunehmen versucht. Generell lässt sich sagen, dass die Frage nach der Ganzheit bzw. Gestalt von Organismen und komplexen Kulturphänomenen immer zu kurz greift, wenn man sie nur objektbezogen und ontologisch ausrichtet und nicht auch subjektbezogen und wahrnehmungspsychologisch. Sie darf ihr Erkenntnisinteresse nicht nur auf empirisch gut fassbare Sachverhalte richten, sondern muss auch die anthropologischen Rahmenbedingungen berücksichtigen, unter denen sich Menschen Sachvorstellungen von etwas machen und Einzelinformationen aufeinander beziehen.
Wahrnehmungsstrategien für Ganzheiten und Gestalten Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die sogenannte Gestaltpsychologie in der Tradition des Ideen- und Kategoriendenkens und in deutlicher Opposition zur empirisch orientierten Assoziations- und Elementenpsychologie nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass unsere konkrete Wahrnehmung von Objekten durch zwei Denkprämissen entscheidend vorstrukturiert werde. Diese hat sie, wie schon anfangs in dem Teilkapitel zur Phänomenologie von Bildern erwähnt wurde, terminologisch als Primatsthese und als Übersummativitätsthese bezeichnet.16 Beide Thesen sind für die Konkretisierung von Organismus- und Sprachvorstellungen recht aufschlussreich. Mit der Primatsthese will die Gestaltpsychologie darauf aufmerksam machen, dass sich unsere Vorstellung eines Ganzen nicht induktiv und sukzessiv aus der Verbindung von Einzelteilen ableite, sondern dass umgekehrt die Vorstellung eines Ganzen immer der Vorstellung von Einzelteilen vorangehe. Das
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Vgl. A. Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, 19692, S. 49 ff.
Ganzheit und Gestalt
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bedeutet, dass die primäre bzw. hypothetische Vorstellung eines Ganzen immer bedingt, welche Phänomene nachträglich als Teile eines Ganzen identifiziert werden. Aus dieser These ergibt sich außerdem die Auffassung, dass Wahrnehmungsprozesse weitgehend als analytische Aufgliederungsprozesse zu verstehen sind und dass je nach Betrachtungsebene dasselbe Einzelphänomen sowohl als Ganzes als auch als Teil wahrgenommen werden kann. Ganzheiten und Einzelteile erweisen sich so gesehen nicht als ontisch vorgegebene Größen, sondern als Konstitute von aktuellen Wahrnehmungsprozessen. Das Ziel von Wahrnehmungsprozessen besteht daher darin, aus globalen und vagen Vorgestalten über bestimmte Zwischengestalten prägnant durchstrukturierte Endgestalten herzustellen, die sich von ihren jeweiligen Vorgestalten durch eine größere Strukturklarheit und Inhaltsträchtigkeit unterscheiden. Mit der Übersummativitätsthese will die Gestaltpsychologie darauf aufmerksam machen, dass in komplexen Ganzheiten das Ganze immer mehr als die Summe seiner Teile sei, weil aus der konstruktiven Verfügtheit der Teile neue Qualitäten entstünden, die nicht stringent aus der Kenntnis der jeweiligen Einzelteile abgeleitet werden könnten. Das bedeutet, dass sich das Verständnis eines Ganzen nicht allein über logische Folgerungsprozesse bzw. über die Aufdeckung von Implikationen ableiten lässt, sondern immer auch der Bildung von umfassenden sinnstiftenden Ordnungshypothesen bedarf. Wenn wir nun die Organismus- und Sprachproblematik im Lichte der Primats- und Übersummativitätsthese betrachten, dann ergeben sich folgende Konsequenzen. Unsere Aufmerksamkeit wird insbesondere darauf gerichtet, dass für die Erfassung von komplexen Ordnungszusammenhängen sowohl der Differenz- als auch der Organisationsgedanke eine zentrale Rolle spielen. Die Ungleichheit der Teile und ihre konstruktive Verfügtheit muss als eine entscheidende Voraussetzung dafür angesehen werden, dass Organismen und Sprache bzw. Texttypen als komplexe Organisationsgestalten wahrgenommen werden können. Die Entwicklung dieser Phänomene ist dadurch bestimmt, dass im Laufe der Zeit nicht nur immer mehr unterschiedliche Einzelteile ausgebildet werden, sondern dass diese Einzelteile auch auf immer differenziertere Weise in eine Wechselwirkung miteinander gebracht werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird dann auch besser verständlich, warum im 18. Jahrhundert die Maschine und insbesondere die Uhr eine so wichtige Rolle bei der Versinnbildlichung von Organismen als komplexen Organisationseinheiten gespielt hat. Gerade am Beispiel der Uhr ließ sich nämlich gut demonstrieren, dass sich Teile morphologisch und funktional ausdifferenzieren müssen, um auf einer höheren Ebene wieder konstruktiv aufeinander bezogen werden zu können, und dass auf diese Weise Ordnungsund Funktionsgestalten entstehen können, die nicht mehr stringent aus den jeweiligen Einzelteilen abzuleiten sind. Die Vorstellung von natürlichen Ganzheiten im Sinne durchstrukturierter Gestalten bzw. gut organisierter Systeme kommt auch in der schon erwähnten Geschichte von Menenius Agrippa über den konstruktiven Funktionszusammenhang der einzelnen Körperteile zum Ausdruck. Der organische Korrelati-
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Die Sprache als Organismus
onszusammenhang zwischen Magen und Gliedern wird von ihm dazu benutzt, um sinnbildlich auf den organischen Lebenszusammenhang von Patriziern und Plebejern im römischen Staate aufmerksam zu machen, durch den dieser seiner Meinung nach erst Kohärenz und Effektivität gewonnen hat. Für die Wahrnehmung von Ganzheiten spielt der Systembegriff als regulative Idee eine ganz zentrale Rolle. Ganzheiten stellt man sich gern als geschlossene Systeme mit festen Außengrenzen und klaren Binnenstrukturen vor, selbst wenn man sie als Teilsysteme von übergeordneten Systemen versteht. Aus dem Systemgedanken ergeben sich wahrnehmungstheoretisch einerseits Vorteile, weil sich über ihn die Komplexität von Ordnungszusammenhängen abstraktiv vereinfachen lässt, aber andererseits auch Nachteile, weil sich durch ihn die Wahrnehmungssensibilität für Veränderungsprozesse abschwächen kann, die aus dynamischen Interdependenzrelationen resultieren. Der Ganzheits- und Systemgedanke hat eine immanente Tendenz, Phänomene auf rein synchrone Weise zu betrachten und dabei ihre Entwicklungsgeschichte abstraktiv auszuklammern, da durch ein solches Interesse die Geschlossenheit, die Strukturiertheit und die Abgrenzbarkeit von Phänomenen durchaus zu einem Problem werden kann. Die Frage nach der Form und Funktion von Teilen lässt sich im Rahmen von abgrenzbaren und geschlossenen Systemen natürlich sehr viel leichter beantworten als im Rahmen von sich bildenden und sich fortentwickelnden Ordnungszusammenhängen. Deshalb eignet sich auch die Uhr so gut dazu, um sich Ganzheiten und geschlossene Systeme sinnbildlich zu vergegenwärtigen. In offenen Systemen können Grenzen im Gegensatz zu geschlossenen immer nur als vorläufige Grenzen angesehen werden, die sich je nach den konkreten Betrachtungsweisen und je nach dem faktischen Aktionsverhalten der thematisierten Phänomene durchaus verschieben können. Lebende Organismen müssen deshalb im Prinzip immer als offene Systeme betrachtet werden, weil sie sich in den Wechselwirkungsprozessen mit ihrer Umwelt und ihren Subsystemen morphologisch und funktionell ständig wandeln können und sogar wandeln müssen, um in einem Fließgleichgewicht Stabilität zu gewinnen. Dabei muss man nicht nur an die Reproduktionsprozesse von Organismen denken, sondern kann auch auf ihre mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit zu Lernprozessen Bezug nehmen. Es ist nun offensichtlich, dass man die Frage nach der Individualität und dem Gestaltprofil einer angenommenen Ganzheit ganz anders beantworten wird, je nachdem ob man sie als ein geschlossenes oder als ein offenes System versteht bzw. als einen logisch völlig durchdachten oder als einen sich entwickelnden und damit wandelbaren Ordnungszusammenhang. Bei der Denkprämisse eines geschlossenen Systems richtet man seine Aufmerksamkeit primär auf die Morphologie des jeweiligen Ordnungszusammenhangs und versucht von hier aus, seine Funktionen zu beschreiben. Bei der Denkprämisse eines offenen Systems richtet man sein Interesse primär auf dessen Funktionen bzw. auf dessen ordnungsstiftende Kräfte. Wenn Humboldt die Sprache nicht als Werk (Ergon), sondern als Tätigkeit (Energeia) verstanden wissen will, dann
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hat er sich zugleich auch schon dafür entschieden, sie als einen offenen Organisations- bzw. Gestaltzusammenhang zu betrachten.
Die Sprache als geschlossene Ganzheit Eine sehr entschiedene Thematisierung der Sprache als Ganzheit im Sinne eines durchstrukturierten geschlossenen Organisationszusammenhangs stellt sicher das Langue-Konzept von de Saussure dar. Seine methodische Konstruktion des Begriffs Sprache (langue) als Gegenstandsbereich seiner spezifischen Vorstellung von Sprachwissenschaft intendiert von vornherein nicht, Sprache als einen lebendigen Organisationszusammenhang bzw. als einen dynamischen Organismus zu betrachten. Eine solche Sichtweise ließe sich allenfalls im Rahmen seines Parole-Konzepts konkretisieren. Sein Konzept von Sprache ist dadurch geprägt, dass methodisch ganz bewusst das Interesse an allen Faktoren ausgeblendet wird, die die Sprachgenese, die Sprachgeschichte und die kognitive und kommunikative Nutzung und Variation von Sprache betreffen, weil er unter diesen Umständen sein Ziel nicht realisieren könnte, die Sprachwissenschaft als genuine Systemwissenschaft zu etablieren. De Saussures LangueKonzept ist deshalb auch ein Musterbeispiel dafür, wie man ein unübersichtliches komplexes Phänomen durch methodologische Setzungen und Abstraktionen so vereinfachen kann, dass es zu einem gut überschaubaren wissenschaftlichen Analyseobjekt wird. In seinem Langue-Konzept thematisiert de Saussure die Sprache ausdrücklich als eine „soziale Tatsache“ (fait social) im Sinne einer geschlossenen Ganzheit von Zeichen und Regeln, die als ein System von sozialen Konventionen eine von den jeweiligen Sprechern und Hörern unabhängige Existenz als soziale Institution hat.17 Den Begriff soziale Tatsache hat de Saussure allem Anschein nach von seinem Zeitgenossen Emile Durkheim übernommen, den dieser zu einem Zentralbegriff seiner Soziologie gemacht hatte. Von Durkheim stammt auch die methodologische Basisthese, die für de Saussures Auffassung von Sprachwissenschaft keine geringe Rolle gespielt hat. Sie beinhaltet, dass soziale Tatsachen als soziale Kollektivvorstellungen wissenschaftlich „wie Dinge zu betrachten“ seien.18 Durch diese Konstruktion des Begriffs Sprache bzw. durch diese abstraktive Loslösung der Vorstellung von Sprache von allen konkreten Gebrauchszusammenhängen und Funktionen kann man ihr relativ leicht die Vorstellung eines geschlossenen Systemzusammenhangs zuordnen. Man läuft dabei allerdings auch Gefahr, die Sprache als anthropologisches Phänomen aus dem
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F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 19672, S. 8 und 16. E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, 19764, S.105. Vgl. dazu auch W. Köller, der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 19 ff.
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Die Sprache als Organismus
Blick zu verlieren und theoretische Übersichtlichkeit durch eine Armut an Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erkaufen, da unter diesen Umständen die umfassenden Ordnungs- und Interaktionszusammenhänge nicht mehr sichtbar werden, in die Sprache eigentlich immer verstrickt ist. Gleichwohl darf man trotz dieser Kritik aber nicht übersehen, dass das Langue-Konzept die Chance eröffnet, insbesondere für diejenigen Aspekte von Sprache aufmerksam zu werden, die ihren Systemcharakter betreffen. Darauf lässt sich insbesondere durch das Stichwort Strukturalismus aufmerksam machen. Zweifellos hat dieser Begriff viel dazu beigetragen, für die vielfältigen internen Ordnungsrelationen in der Sprache zu sensibilisieren, die nicht nur wichtig sind, wenn man die Sprache als ein relativ geschlossenes Ordnungssystem zu beschreiben versucht, sondern die auch dann von Interesse sind, wenn man die Sprache als einen umstrukturierungsfähigen offenen Systembzw. Strukturzusammenhang zu erfassen versucht. Für einen umfassenden Strukturgedanken ist nämlich prinzipiell konstitutiv, dass den jeweiligen Ordnungselementen nicht von vornherein bestimmte feste Charakteristika zugeschrieben werden, die vorab klar bestimmen, welche Relationen sie eingehen können und welche nicht. Vielmehr ist für ihn bestimmend, dass sich aus den faktischen relationalen Verknüpfungen der Elemente oft erst ergibt, welche Charakteristika an ihnen wahrnehmbar sind bzw. welche sie potenziell entwickeln können. Für einen konsequenten Strukturalismus sind Elemente keine unabänderlichen Primärgegebenheiten, sondern variable Relationsgrößen bzw. Relata, die ihre fassbare Gestalt erst durch ihre Einbettung in konkrete Relationen bekommen. Dem Relationsgedanken kann man eine relativ statische Fassung geben, wenn man an geschlossene Systeme denkt, aber auch eine ausgesprochen dynamische Fassung, wenn man an offene Systeme denkt, die durch ein Fließgleichgewicht geprägt werden. Demzufolge lässt sich der Strukturgedanke sowohl für die Beschreibung geschlossener als auch offener Systeme verwenden. Das kann man sehr schön an sprachlichen Feldordnungen auf der lexikalischen, grammatischen und textuellen Ebene demonstrieren. An ihnen lässt sich gut exemplifizieren, unter welchen Bedingungen sprachliche Ordnungszusammenhänge den Charakter von statischen Ganzheiten oder dynamischen Gestalten bekommen können.
Sprachliche Feldordnungen Die Vorstellung von der Feldordnung sprachlicher Formen aller Art gründet sich auf einen Tatbestand, den schon Humboldt sehr klar benannt hat. „Es giebt nichts Einzelnes in der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Theil eines Ganzen an.“19 Diese Organisationsgebundenheit sprachlicher
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W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium…, Werke, Bd. 3, S. 10.
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Einzelelemente hat de Saussure dadurch bekräftigt, dass er die Elemente der Sprache als ein System von Werten qualifiziert hat, die sich nicht als autonome Substanzen für sich bestimmen lassen, sondern nur als Relata der Systeme, in die sie morphologisch, semantisch, syntaktisch und pragmatisch eingebunden sind. Deshalb hat er auch immer wieder nahegelegt, die Systemordnung der Sprache mit der des Schachspiels zu analogisieren, wobei er sowohl auf die Zahl der Figuren als auch auf deren Aktionsmöglichkeiten als auch auf deren Positionen in bestimmten Spielkonstellationen Bezug nimmt.20 Die Vorstellung von der System- bzw. Feldordnung sprachlicher Einzelelemente, die eine natürliche Konsequenz des relationalen Denkens ist, wird meist auf den Bereich der Lexik bezogen. Sie lässt sich aber durchaus auch auf den der Phonologie, der Morphologie, der Grammatik und der Textsorten beziehen. In der sogenannten Wortfeldtheorie, die eigentlich Begriffsfeldtheorie heißen müsste, hat sie sich als besonders nützlich erwiesen, um die semantische Organisation des Wortschatzes einer Sprache zu beschreiben. Die Wortfeldtheorie postuliert indirekt, dass ein bestimmtes Sachfeld bzw. ein bestimmter Sinnbezirk wie etwa der Bereich der Schulnoten, der militärischen Ränge, der Tiergattungen oder auch der Bereich der Formen des Sterbens im Prinzip lückenlos in lexikalische Subeinheiten aufgegliedert werden könne, die systemhaft geordnet seien. Ähnlich wie die Steine in einem Mosaik hätten auch die begrifflichen Bausteine einer Sprache scharfe Grenzen zu ihren jeweiligen Feldnachbarn. Diese These ist im Hinblick auf die Begriffsbildungen in Fachsprachen sicherlich recht brauchbar, sie wirft aber im Hinblick auf den Wortschatz der natürlichen Sprachen Probleme auf, weil wir hier nicht mit fest durchstrukturierten semantischen Systemordnungen rechnen können. Die Wortfeldtheorie im Sinne des Mosaikmodells ist prinzipiell zu statisch orientiert und lässt die Faktoren Zeit und Kontext als Organisationsfaktoren weitgehend unberücksichtigt. Deshalb möchte Trier die Feldordnung von Wörtern bzw. Begriffen auch nicht nach dem Bilde eines Mosaiks verstanden wissen, sondern vielmehr nach dem Bilde eines Pferderennens, bei dem sich die Feldordnung der beteiligten Pferde je nach der Betrachtungszeit ganz unterschiedlich darstellen könne.21 Wenn man den Zeitfaktor bei der Organisation von sprachlichen und insbesondere semantischen Feldern berücksichtigt, dann stellt sich deren Organisationsstruktur zwangsläufig nicht nur als ein logisches und damit statisches Aufgliederungsproblem dar, sondern auch als ein historisches und damit dynamisches Variationsproblem, in dem auch die jeweils aktuellen Kontexte eine wichtige Rolle spielen können. Eine weitere Notwendigkeit, semantische Feldordnungen zu dynamisieren, ergibt sich dadurch, dass in den natürlichen Sprachen einzelne lexikalische
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F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 19672, S. 104 f., 132 ff. J. Trier, Altes und Neues vom sprachlichen Feld, in: L. Schmidt (Hrsg.), Wortfeldforschung, 1973, S. 459.
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Einheiten nicht nur auf einer rein sachlichen bzw. denotativen Ebene ins Auge gefasst werden können, weil sie natürlich immer auch emotionale, soziale, historische und intentionale Implikationen aufweisen. Solche konnotativen Anreicherungen eines denotativen Kerns dokumentieren sich sehr deutlich, wenn wir beispielsweise das Wortfeld des Sterbens näher betrachten. Hier können wir die einzelnen Mitglieder des Wortfeldes im Sinne des Mosaikmodells nicht scharf voneinander abgrenzen, da sie verschiedenen semantischen Sinnebenen angehören bzw. da man das Sterben in kategorial sehr unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven thematisieren kann (verhungern, fallen, einschlafen, krepieren, über den Jordan gehen, den Löffel weglegen usw.). Gerade die Sachfelder, die einen hohen emotionalen Stellenwert für die Menschen aufweisen, werden nach sehr unterschiedlichen Kriterien bzw. Aspekten semantisch perspektiviert und aufgegliedert. Wenn man sich weiterhin vergegenwärtigt, dass Sprecher und Hörer in quantitativer und qualitativer Hinsicht eine sehr unterschiedliche Kenntnis des Vokabulars einer Sprache haben können, das potenziell für die denotative und konnotative Strukturierung eines Sachfelds zur Verfügung steht, dann wird deutlich, dass die lexikalische Organisation einer Sprache sehr viel komplizierter ist, als es das einfache Mosaikmodell nahelegt. Deshalb hat dann auch Dornseiff konsequent gegen die Vorstellung durchstrukturierter lexikalischer Felder opponiert und stattdessen betont, dass der Wortschatz einer natürlichen Sprache nur sehr grob nach Gruppen semantisch verwandter Wörter aufgegliedert werden könne. Die einzelnen Wörter würden einen Sachbereich nicht systematisch begrifflich durchstrukturieren, sondern vielmehr in sehr unterschiedlichen und sehr variablen Objektivierungsperspektiven semantisch erschließen. „Die Realität der Welt und des Lebens wird vielmehr durch die Wörter an immer einer anderen Stelle selbständig angeschnitten. Sie sind nicht als Ganzes gegliedert und nicht voneinander abhängig.“22 Nachdrücklich hat Dornseiff auch die These Ipsens unterstützt, dass die einzelnen Wörter der natürlichen Sprachen von ganz unterschiedlichen Seiten spontan auf einen Sachbereich einstürmten und dass sie diesen eben deshalb auch nicht vollständig und nicht systematisch begrifflich aufgliedern könnten und wollten. Gerade am Wortfeldproblem zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen dem vorgegebenen Sprachsystem (langue) und dem aktuellen Sprachgebrauch (parole) oder zwischen einer synchronen und einer diachronen Sprachbetrachtung eine eher methodisch als sachlich zu rechtfertigende Unterscheidung ist. Mit diesen Differenzierungen lässt sich die Organisationsstruktur der Sprache nicht abschließend kennzeichnen. Das hat zur Folge, dass es gleichsam eine innere Notwendigkeit gibt, den alten Organismusgedanken als bloßen Organisationsgedanken zu transzendieren, um die komplexe semantische Ordnungs-
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F. Dornseiff, Das „Problem des Bedeutungswandels“, Zeitschrift für deutsche Philologie, 63, 1938, S.127. Vgl. auch F. Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen 19707.
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struktur der Sprache adäquat erfassen zu können. So ist es auch kein Wunder, dass der biologisch Organismusgedanke, der neben dem Ordnungsgedanken auch den Prozessgedanken akzentuiert hat, immer wichtiger geworden ist. Im Bereich der Wortfeldtheorie hat sich insbesondere Kandler bemüht, diesen Denkansatz über den Tätigkeitsbegriffs Humboldts mit Prozessvorstellungen in Verbindung zu bringen. Bezeichnenderweise greift er dabei sinnbildlich auf unsere Vorstellung des Waldes als eines lebenden, sich selbst ordnenden und reproduzierenden Organismus zurück. „Die Sprache ist wie ein Wald, mit dem festen Holz der gemeingültigen Sprachmittel, aber voll aufschießenden Unterholzes und noch unverfestigter Sinngebungen, eben Andeutungen, die teils gleich wieder eingehen, teils eine größere Festigkeit, einen mehr oder minder großen Grad von Konventionalität und schließlich muttersprachlicher Gemeingeltung erreichen können. Und selbst an festen Stämmen wachsen die grünen Blätter des Okkasionellen . Sprachtheoretisch ist jedenfalls zu beachten, daß das Wort nicht nur seinen Sinn aus der Ganzheit des Feldes gewinnt, sondern auch aus der Rede ... Das Wort in einer Sprachäußerung steht jedoch in mindestens zwei hermeneutischen Zirkeln: dem Zirkel der Gesamtsprache und dem Zirkel des Textes. Dazu kommt noch der Zirkel der sachlichen Gegebenheiten als solcher. Das Sprachtun des Einzelnen ist nur ein unendlich kleiner Beitrag zum Ganzen. Und doch machen alle Einzelbeiträge, auch wo sie nur weitertragen, das Dasein der Sprache aus. Sie sind ein lebendiger Wirkungszusammenhang, ein Gespräch der lebenden Generation auf Grund der Hinterlassenschaft aller früheren; gespeicherte Kraft der tradierten Muttersprache, lebendig gemacht mit der Sprachkraft der lebenden Einzelnen: der Prozeß des Wortens der Welt durch eine Sprachgemeinschaft nach Weisgerber, die Totalität des Sprechens nach Humboldt.“ 23
3. Wirkung und Wechselwirkung Wenn man Ordnungszusammenhänge bzw. Organismen nicht nur in der Perspektive des Systemgedankens, sondern auch in der des Funktionsgedankens wahrnimmt, dann interessieren Ordnungsgestalten nicht nur als anatomisch zu analysierende Strukturzusammenhänge, sondern auch als physiologisch zu analysierende Wirkungszusammenhänge. Dadurch steigert sich dann auch die Aufmerksamkeit für das Wachstum, für die Selbstorganisation, für die Variabilität und für die Selbstreproduktion dieser Phänomene bzw. für Wechselwirkungsprozesse aller Art. In einer solchen Sichtweise erscheinen Organismen als Phänomene, bei denen eigenartigerweise sowohl die Teile das Ganze erhalten und bestimmen als auch die Teile durch das Ganze erhalten und bestimmt werden. Das Ganze tritt als etwas in Erscheinung, das sich einerseits aus Prozessen ergibt, in denen
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G. Kandler, Die „Lücke“ im sprachlichen Weltbild, in: H. Gipper (Hrsg.), Sprache, Schlüssel zur Welt, 1959, S.269–270.
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alles allem dienlich ist, und das andererseits seine Stabilität gerade dadurch gewinnt, dass es seine Teile in ein Fließgleichgewicht zu bringen vermag. Unser lineares Kausaldenken stößt bei der Analyse solcher mehrdimensionalen Wirkungszusammenhänge schnell an seine Grenzen, weil es im Prinzip immer mit der Unveränderlichkeit der jeweils verbundenen Elemente rechnet und weil es sich schwer tut, Interaktions- und Rückkoppelungsprozesse adäquat zu verstehen und bei theoretischen Modellbildungen zu berücksichtigen. Biologische Organismen sind grundlegend dadurch geprägt, dass in ihnen alle Formen ein recht komplexes Funktionspotenzial haben. Dieses ist dadurch bestimmt, dass bei der Ausbildung von Formen ständig Kompromisse im Hinblick auf unterschiedliche Funktionsanforderungen geschlossen werden müssen bzw. dass Formen sich nur dann dauerhaft erhalten, wenn sie variabel verwendet werden können. Beispielsweise stellt der Schnabel im Organismus Storch eine Form dar, die sowohl dazu dienlich sein muss, Nahrung zu packen, Junge zu füttern, ein Nest zu bauen, das Gefieder zu pflegen und das Balzverhalten zu unterstützen. Starre Systemordnungen sind in biologischen Organismen in der Regel nicht anzutreffen, weil solche Ordnungen sich nicht flexibel auf die Veränderung von allgemeinen Rahmenbedingungen einstellen können. In ähnlicher Weise können wir auch beim Organisationszusammenhang Sprache damit rechnen, dass einzelne Formen in sehr unterschiedliche Funktionszusammenhänge eingebunden sein können. Die sehr vielfältigen Aufgaben von sprachlichen Formen lassen sich exemplarisch durch folgende Stichwörter zu ihren möglichen Werkzeugfunktionen benennen: Kommunikation, Kognition, Wissensspeicherung, Handlungsintentionen, soziale Integration, personale Selbstdarstellung usw. Das komplexe Funktionsprofil sprachlicher und biologischer Formen macht es lohnend, sich insbesondere für das Problem der Prozessualität und der Selbstorganisation in offenen Systemen zu interessieren und die Frage zu stellen, welche Rolle die Bildung und Aufhebung von Grenzen in solchen Systemen spielt.
Funktionalität und Prozessualität Wie schon erwähnt lebt der konsequent zu Ende gedachte Funktions- und Strukturgedanke davon, dass Einzelelemente in komplexen Wirkungszusammenhängen nicht als feste Größen mit vorgegebenen Charakteristika verstanden werden dürfen, sondern als variable Relata aufgefasst werden müssen, deren Charakteristika wir erst kennenlernen, wenn wir sie im Kontext von Funktionszusammenhängen wahrnehmen. Das hat die fast paradoxe Konsequenz, dass wir ein Phänomen nicht durch den Blick auf dieses selbst zureichend kennenlernen, sondern gerade dadurch, dass wir auch auf etwas anderes, aber mit ihm Verbundenes blicken. Das bedeutet, dass unsere Kenntnis von Elementen immer davon abhängt, in welchen Wirkungszusammenhängen wir sie jeweils betrachten bzw. im Rahmen welcher Wahrnehmungsstrategien und Fragen wir sie uns methodisch zu erschließen versuchen.
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Beispielsweise erwies es sich als notwendig, Körperorgane wie das Herz, die Lunge oder die Nieren nach der Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey im 17. Jahrhundert ganz anders als vorher zu verstehen, da man sie nun natürlich als Elemente von ganz anderen Funktionszusammenhängen zu betrachten hatte. Eine ganz ähnliche Situation ergibt sich beispielsweise, wenn wir uns die Frage stellen, ob es eine Sprache der Bienen gibt. Wenn wir die einzelnen Bienen als Individuen verstehen, die ihren Artgenossen über bestimmte Bewegungsformen bzw. Tänze Mitteilungen über die Lage von Trachtquellen zukommen lassen, dann fällt es uns relativ leicht, von einer Bienensprache zu reden. Eine ganz andere Situation ergibt sich, wenn wir die einzelnen Bienen nicht als Individuen bzw. als relative selbständige Einzelorganismen betrachten, sondern als Teilorgane des Gesamtorganismus Bienenvolk, in dem sie jeweils spezifisch reduzierte Funktionsrollen einnehmen. Das Verfahren der Einzelbienen, über Rumpel- und Schwänzeltänze anderen Bienen Informationen über die Lage von Futterquellen zu übermitteln, wäre dann nicht mit dem Gebrauch der menschlichen Wortsprache zu analogisieren, sondern vielmehr mit der Nutzung von chemo-elektrischen Signalen zwischen einzelnen menschlichen Körperorganen. Die Rede von einer Bienensprache müsste man unter diesen Umständen in einem sehr viel höheren Maße als metaphorisch ansehen als beim Verständnis von Bienen als relativ selbständigen Individuen. Im Rahmen eines biologischen Organismusbegriffs, der primär dem Gedanken der Wechselwirkung und der Selbstreproduktion verpflichtet ist, ergeben sich noch weitere Konsequenzen für die sinnbildliche Nutzung der Organismusvorstellung. Vielleicht erweist es sich bei höher entwickelten Lebewesen, die ja grundlegend durch das Prinzip der Geschlechterdifferenzierung geprägt sind, als notwendig, nicht einzelne Individuen, sondern vielmehr Geschlechterpaare als Einzelorganismen anzusehen. Dafür spräche, dass sich bei solchen Lebewesen nur Geschlechterpaare selbst reproduzieren können, während bei Einzellern und einfachen Pflanzen die Selbstreproduktion auch über Zellteilungs- bzw. über Ablegerverfahren möglich ist. Auf ein solches Verständnis des Organismusgedankens verweist uns beispielsweise der schon erwähnte platonische Mythos vom Kugelmenschen. Dieser Typ von Mensch, der beide Geschlechter in sich vereinigte und der eben deshalb auch einen hohen Grad an Autonomie und Autarkie aufwies, machte die Götter neidisch. Deshalb teilte ihn Zeus in zwei Hälften und erzeugte dadurch bei den getrennten Teilen die immanente Bestrebung, die jeweils andere Hälfte wiederzufinden, um die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen.24 Möglicherweise hat Novalis an diesen Mythos anzuknüpfen versucht, als er folgende These formulierte, die nur auf den ersten Blick voll-
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Platon, Symposion 189 d ff., Werke, Bd. 2, S. 220 ff.
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kommen paradox erscheint: „Das ächte Dividuum ist auch das ächte Individuum.“ 25 Die These von Novalis ist für unseren Denkzusammenhang gerade deswegen so aufschlussreich, weil sie darauf aufmerksam zu machen versucht, dass Individualität eine Größe ist, die nicht aus der Unteilbarkeit oder der Autonomie von etwas Gegebenem resultiert, sondern vielmehr aus dem besonderen Wirkungszusammenhang von etwas mit einer Partnergröße. Das bedeutet, dass jedes Individuum eher als ein Relatum zu betrachten ist denn als eine autonome Substanz. Weiterhin lässt sich aus dieser These ableiten, dass auch die Individualität eines Ordnungszusammenhangs bzw. eines Organismus nicht als eine fest vorgegebene Größe zu verstehen ist, sondern eher als eine flexible Größe, deren spezifischer Gestaltcharakter sich erst in konkreten Interaktionszusammenhängen konkretisiert. Zweifellos müssen wir sowohl den Individuen als auch den Organismen Grenzen zuordnen, weil wir sie ansonsten nicht als solche erfassen können, aber wenn diese Grenzen als starre Grenzen in Erscheinung treten, dann können solche Phänomene nur noch sehr bedingt und fragmentarisch als dynamische Ordnungszusammenhänge sichtbar werden. Ludwig von Bertalanffy hat in aufschlussreicher Weise darauf verwiesen, dass bei der Ausdehnung des zeitlichen Betrachtungsrahmens bei biologischen Organismen zwischen einer Struktur und einer Funktion kein prinzipieller, sondern nur noch ein gradueller Unterscheid gemacht werden könne. „Strukturen sind, für unseren menschlichen Maßstab lang ausgedehnte, langsame, Funktionen hingegen kurze und rasche Prozesswellen. Sagen wir, dass eine Funktion, etwa die Kontraktion eines Muskels, an einer Struktur ablaufe, so heisst dies, dass einer langgestreckten und langsam dahinlaufenden Prozesswelle eine kurze und rasche superponiert ist.“ 26
Wenn wir diese Auffassung von Strukturen und Funktionen in lebenden Organismen auf die Sprache übertragen, dann ergeben sich folgende Denkperspektiven und Analogien. Zunächst lässt sich festhalten, dass die Trennung von Sprachstruktur bzw. Sprachsystem (langue) auf der einen Seite und Sprachfunktion bzw. Sprachgebrauch (parole) auf der anderen Seite nur eine methodisch legitimierbare Differenzierung mit begrenzter Erklärungskraft ist, aber kein unhintergehbares sprachtheoretisches Axiom, das sich jeder Diskussion entzieht. So nützlich diese Differenzierung auch für die Analyse von formalisierten Fachsprachen ist, so problematisch ist sie für die der natürlichen Sprachen. Die Existenz des sogenannten Sprachsystems generiert kurzfristig gesehen zwar den aktuellen Sprachgebrauch, aber langfristig gesehen generiert der faktische Sprachgebrauch das Sprachsystem als Konventionssystem. Sprachsystem und Sprachgebrauch sind so gesehen deshalb als interdependenten Größen anzusehen, die aus Prozesswellen resultieren, welche eine unterschied-
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Novalis, Das allgemeine Brouillon, Nr. 952, Werke, Bd. 2, S. 692. L. von Bertalanffy, Das biologische Weltbild, 1949, S. 129.
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liche Dauer und eine unterschiedliche pragmatische Funktion haben. Das bedeutet, dass die Sprachen ihre besondere Individualität dadurch gewinnen, dass zwei unterschiedliche Prozesswellen auf spezifische Weise früher einmal aufeinander eingewirkt haben bzw. aktuell aufeinander einwirken können. Das Spannungsverhältnis von unterschiedlich schnellen ordnungstiftenden Prozesswellen bzw. von Veränderungs- und Beharrungstendenzen in der Sprache dokumentiert sich sehr klar im metaphorischen Sprachgebrauch. Metaphern können als solche nur dann in Erscheinung treten, wenn es einerseits sehr stabile Gebrauchskonventionen für bestimmte Wörter gibt, aber wenn es andererseits auch die Möglichkeit gibt, diese verfestigten Konventionen so zu durchbrechen oder zu variieren, dass neuartige sprachliche Sinngestalten entstehen können. Ähnlich wie der platonische Kugelmensch zwei unterscheidbare Seinsformen in sich vereinigt, so vereinigt auch eine lebendige Metapher zwei unterschiedliche Ordnungstendenzen der Sprache in sich. Sprachtheorien, die das produktive Spannungsverhältnis zwischen stabilisierenden und flexibilisierenden Organisationstendenzen in der Sprache ignorieren oder methodisch auszuklammern versuchen, verfehlen eigentlich das Phänomen, das sie begrifflich zu modellieren versuchen. Bertalanffys Hinweis auf die unterschiedlichen zeitlichen Ebenen von Prozessualität in Organismen ist deshalb auch sprachtheoretisch sehr aufschlussreich, weil sich dadurch sinnbildlich sehr gut auf das produktive Spannungsverhältnis von unterschiedlichen Ordnungstendenzen in natürlichen Sprachen aufmerksam machen lässt. Die Semantik von einzelnen Wörtern lässt sich je nach ihrem situativen Gebrauch und je nach der Kombination mit anderen Wörtern relativ leicht variieren. Diese semantische Flexibilität ist aber nur möglich, weil die grammatische Ordnungsstrukturen in der Sprache einen sehr hohen Grad an Konstanz bzw. Beharrungsstreben haben und deshalb auch als sehr langsam ablaufende ordnungsstiftende Prozesswellen zu betrachten sind, auf die sich die schnell ablaufenden semantischen Prozesswellen auflagern können. Gerade metaphorische Redeweisen dokumentieren sehr klar, dass die Respektierung von grammatischen Regularitäten die Voraussetzung dafür ist, dass sich die semantischen relativ leicht verändern können. Ebenso wie sich in Wachstumsprozessen von Bäumen ein stabiler Stamm herausbilden muss, damit eine variable Krone entstehen kann, so müssen sich auch in der Sprache stabile grammatische Muster herausbilden, damit lexikalische Muster einen großen semantischen Entfaltungsspielraum bekommen können. Alle erfolgreichen Funktionsprozesse haben eine natürliche immanente Tendenz zur Verholzung. Umgekehrt braucht aber jeder Verholzungsprozess periphere Wachstums- und Veränderungsprozesse, um nicht in Sterbeprozesse hineingezogen zu werden. Variable Lexik und stabile Grammatik erhalten sich so gesehen wechselseitig, wenn die sie prägenden Prozesswellen sinnvoll aufeinander abgestimmt sind. Die Individualität von Lexik und Grammatik ergibt sich so gesehen dann gerade dadurch, dass sie konstitutiv aufeinander bezogen sind, also im Sinne von Novalis dialektisch als Dividualitäten in Erscheinung treten.
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Die Selbstorganisation offener Systeme Die These, dass lebendige Organismen ihre Stabilität durch ihr Fließgleichgewicht und ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation gewinnen, schließt die Vorstellung ein, sie in einem doppelten Sinne als offene Systeme zu verstehen. Einerseits lassen sie sich als offene Systeme betrachten, weil sie sich auf variable Weise mit übergeordneten Ordnungszusammenhängen vernetzen können und müssen. Andererseits lassen sie sich als offene Systeme betrachten, weil sie sich aus variabel vernetzten Subsystemen konstituieren. Ludwig von Bertalanffy hat das prägnant thematisiert. „Ein lebender Organismus ist ein Stufenbau offener Systeme, der sich auf Grund seiner Systembedingungen im Wechsel der Bestandteile erhält.“ 27 Diese Selbstorganisation lebender Systeme ist mit dem traditionellen Entelechiegedanken nicht zureichend zu erfassen. Mit diesem lassen sich zwar die genetisch programmierten Entfaltungsgeschichten einzelner Organismen ins Auge fassen, aber wohl kaum ihre Selbstregulierungsprozesse, die durch antagonistische Tendenzen geprägt werden, welche immer wieder zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Solche Selbstregulierungsprozesse können ganz gut durch die Bedingungen veranschaulicht werden, denen Seiltänzer und Stelzengänger unterworfen sind. Beide müssen nämlich ständig in Bewegung bleiben, um ihr Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Dadurch entstehen dann Organisationsformen für die Bändigung antagonistischer Kräfte, die oft mit der Formel Dauer im Wechsel beschrieben worden sind. Aus Überlebensgründen muss jeder Organismus eine immanente Tendenz haben, seine funktionsfähigen Organisationsformen zu stabilisieren und zu reproduzieren. Aus den gleichen Gründen muss er aber zugleich auch eine immanente Tendenz haben, sich mit anderen Organismen bzw. Gegebenheiten variabel zu vernetzen, was dann wiederum ständige evolutionäre Veränderungsprozesse erforderlich macht. Wenn sich Organismen behaupten wollen, dann müssen sie auf fast paradoxe Weise zugleich nach Systemstabilität und nach Systemwandel streben. Das gelingt nur, wenn sie in der Lage sind, ihre antagonistische Kräfte auszubalancieren und ihre Grenzen nach außen sowohl zu akzentuieren als auch zu öffnen. Die Lebendigkeit und die Überlebensfähigkeit von Organismen wird nur dadurch garantiert, dass sie in der Lage sind, die Kontinuität und die Funktionalität ihrer Formen gerade dadurch zu erhalten, dass sie diese kontinuierlich neuen Anforderungen anzupassen wissen. Das kann nur gelingen, wenn sie interne Ordnungsstrukturen ausbilden, die unterschiedliche Grade an Beharrungskraft und Wandlungsfähigkeit haben. Wenn man lebende Organismen in dieser Perspektive betrachtet, dann verbietet es sich von selbst, diese mit der Vorstellung einer ganz stringent gestaffelten Ordnungshierarchie in Verbindung zu bringen wie sie üblicher-
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L. von Bertalanffy, Das biologische Weltbild, 1949, S. 124.
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weise für die Organisation einer Maschine oder einer Armee angenommen wird. Rational völlig durchstrukturierte und hierarchisierte Systeme können bei der Bewältigung ganz bestimmter überschaubarer Aufgaben sicher sehr effizient sein. Sie versagen aber meist, wenn die von ihnen zu lösenden Aufgaben sich ständig verschieben bzw. wenn die Prämissen sich ändern, auf denen sie aufbauen. Das zeigt sich sehr deutlich in sozialen Systemordnungen, deren Rahmenbedingungen in der Regel instabil sind. Ihre perfekte rationale Durchstrukturierung müssen sie deshalb bei neuartigen Aufgaben oft mit spezifischen Funktionsschwerfälligkeiten oder gar Funktionsdefiziten bezahlen. Beispielsweise muss in einer primitiven Gesellschaft jedes Mitglied sehr unterschiedliche Funktionen bzw. Berufe ausüben können (Jäger, Bauer, Handwerker, Krieger usw.). In entwickelten Gesellschaften gibt es dagegen spezialisierte Berufe, die die einzelnen Arbeitsaufgaben natürlich sehr viel effizienter erfüllen können. Dieser Vorteil kann aber für die Lebensfähigkeit einer Gesellschaft zu einem Nachteil werden, wenn bestimmte Berufsträger ausfallen oder wenn Aufgaben zu erfüllen sind, die mit einer einzigen Spezialfertigkeit nicht zu bewältigen sind. Ähnliches gilt auch für die spezialisierten Einzelorgane in komplexen Organismen. Lebensfähige Organismen sind deshalb immer gezwungen, auf evolutionäre Weise Ordnungsstrukturen zu entwickeln, die es ermöglichen, dass bei Systeminstabilitäten Ausgleichsleistungen von Organen erbracht werden können, die dafür eigentlich nicht zuständig sind. Dadurch werden Ordnungsstrukturen unübersichtlicher, aber zugleich auch flexibler. Viele Unstimmigkeiten oder gar Widersprüchlichkeiten in der Organisationslogik von Organismen bzw. offenen Systemen erweisen sich deshalb in der faktischen Lebenspraxis von Organismen als wichtige Flexibilitätsreserven für die Bewältigung unvorhergesehener bzw. mehrdimensionaler Probleme. Eine ganz ähnliche Organisationsproblematik zeigt sich auch in Rechtsordnungen. Ein perfekt durchstrukturiertes Gesetzeswerk, das dem Richter keine Interpretations- und Handlungsfreiheiten mehr lässt, ist keineswegs dazu prädestiniert, Recht und Gerechtigkeit zu sichern, sondern kann durchaus Gefahr laufen, eine eigentlich sinnvolle Rechtsordnung ad absurdum zu führen. Deshalb haben schon die römischen Juristen die These entwickelt, dass ein perfekt durchstrukturiertes Recht zur Ungerechtigkeit führen könne, weil es dem unvorhergesehenen Einzelfall nicht mehr gerecht werde (summum ius, summa iniuria). Ähnliches gilt sicherlich auch für die allgemeine pragmatische Funktionalität einer perfekt durchstrukturierten Sprache. Ein zweistelliges Zeichenmodell wie etwa das von de Saussure ist deshalb schwerlich mit dem Organismusgedanken in Verbindung zu bringen, weil es eine immanente Tendenz hat, die Relation zwischen einem Zeichenträger bzw. Signifikanten und einem Zeicheninhalt bzw. Signifikat als eine vorgegebene statische Konvention anzusehen. Ein dreistelliges Zeichenmodell wie etwa das von Peirce hat dagegen eine sehr viel größere innere Affinität zum Organismusgedanken, insofern es Zeichen prinzipiell als dynamische Relationsgebilde betrachtet, bei denen ein sinnlich wahrnehmbarer Zeichenträger in einer be-
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stimmte Interpretationsperspektive ein bestimmtes Zeichenobjekt mental konkretisiert bzw. als aktuelle Vorstellungsgröße aus dem Kontinuum der Welt herausdifferenziert. Dreistellige Relationsgebilde haben im Gegensatz zu zweistelligen daher prinzipiell immer große Flexibilitätsreserven, weil sie Interaktionsprozessen weite Spielräume gewähren, ohne die lebendige Organisationszusammenhänge bzw. Organismen sich gar nicht entfalten können.28 Sehr interessant für die Analogisierung der Phänomene Organismus und Sprache ist auch das schon erwähnte Synechismus-Konzept von Peirce. Den Terminus Synechismus hat Peirce aus der Terminologie der antiken Chirurgie entlehnt, wo er die Zusammengehörigkeit bzw. die natürliche Verwachsenheit von morphologisch durchaus isolierbaren Teilen bezeichnet.29 Der Synechismusbegriff dient Peirce dazu, die Korrelation und die Interaktion unserer Erfahrungsgegenstände von den natürlich gegebenen Sachen bis zu den kulturell entwickelten Zeichen zu thematisieren. Durch ihn will er nicht nur nachdrücklich auf den Gedanken der Relation (relationship), sondern auch auf den der Vermittlung (mediation) und den der Kontinuität (continuity) aufmerksam machen, die alle drei sein ontologisches und zeichentheoretisches Denken grundlegend geprägt haben. Im Rahmen des synechistischen Denkens gibt es für Peirce keine grundlegende Opposition von Materie und Geist, Sein und Denken, Natur und Kultur. Allenfalls gibt es für ihn eine fruchtbare Spannung zwischen diesen Phänomenen, weil für ihn letztlich alles in einem direkten oder indirekten Kontakt miteinander steht und sich eben dadurch auch wechselseitig beeinflusst und interpretiert. Ontologisch gesehen impliziert das Synechismus-Konzept, dass man die Vorstellung von letzten autonomen Teilen aufgeben muss, da für ihn Phänomene erst in Relation zu anderen Phänomen als isolierbare Teile in Erscheinung treten können, aber nicht an sich. Weiterhin impliziert dieser Denkansatz, dass sich prinzipiell alle Erfahrungsphänomene als Zeichen verstehen lassen, insofern sie im Prinzip immer etwas von ihnen Unterscheidbares, aber doch mit ihnen Verbindbares und Verbundenes ins Bewusstsein rufen können. Wenn man nun aber Zeichen und Sprache wie Peirce nicht über den Seinsund Abbildungsgedanken erschließt, sondern über den Relations- und Synechismusgedanken, dann liegt es nahe, die Organismusvorstellung als Sinnbild für Sprache zu nutzen. Ebenso wie sich jeder biologische Organismus dadurch lebendig erhält, dass er in produktive Wechselwirkungen zu seiner Umwelt eintritt und sich in eben diesem Prozess selbst organisiert, so erhält sich auch die Sprache nur dadurch lebendig, dass sie vielfältige pragmatische Funktionen übernimmt und sich eben dabei immer wieder neu strukturiert. Sprache muss mit ihren physischen, sozialen und kulturellen Bezugswelten so verwachsen,
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Vgl. W. Köller, der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 19 ff. 29 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 6. 169–173, 7. 565, 7. 570, 7. 573.
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dass sie mit diesen in fruchtbare Interaktionen treten kann, ohne vollständig in ihnen aufzugehen bzw. von ihnen nicht mehr unterscheidbar zu werden.
Die Funktion von Grenzen Wenn man die Begriffe Interaktion, Korrelation, Vernetzung, Verwachsung, Prozessualität, Selbstorganisation und Fließgleichgewicht verwendet, um über die Organismusvorstellung das Phänomen Sprache zu erschließen, dann muss man sich auch mit der Funktion von Grenzen für die Konstitution von Formen bzw. Organismen beschäftigen. Jede Frage nach der Form eines Phänomens ist natürlich immer zugleich auch eine Frage nach seiner Abgrenzung von anderen Formen. Nur Begrenztem und Begrenzbarem lässt sich eine gut fassbare Form und Funktion zuordnen. Grenzen sind höchst dialektische, wenn nicht sogar paradoxe Phänomene, weil ihnen ziemlich gegenläufige Funktionen eigen sind. Einerseits haben Grenzen nämlich eine Schutzfunktion, insofern sie bestimmte Gestaltungsräume konstituieren und dadurch etwas vor unkontrollierbaren Außeneinflüssen abschirmen und auf eben diese Weise dann auch erkennbar und wieder erkennbar machen. Andererseits haben Grenzen aber auch eine Einengungsfunktion, insofern sie die Interaktionsmöglichkeiten von etwas reduzieren und eben dadurch dann zu dessen Erstarrung beizutragen. So gesehen können Grenzen deshalb die Ausbildung von Identitäten sowohl fördern als auch behindern, da zu lebenden Formen sowohl die Tendenz zur Bildung als auch zur Überschreitung von Grenzen gehört. Interaktionsprozesse sind infolgedessen immer ein Spiel mit Grenzen in ihren recht unterschiedlichen Funktionen. Bei biologischen Organismen tritt die Funktion von Grenzen sehr klar im Zusammenhang mit Stoffwechselprozessen in Erscheinung. Jede Zelle bzw. jeder Organismus muss sich nach außen abgrenzen, um sich nach innen organisieren zu können. Stoffe aus der Außenwelt müssen im Hinblick auf ihre Verträglichkeit mit der eigenen Organisation geprüft werden. Sie müssen abgewehrt, integriert, umgebaut oder ausgeschieden werden, damit der jeweilige Organismus seine Funktionalität und seine Identität erhalten kann und nicht an seiner eigenen Offenheit oder Abgeschlossenheit zu Grunde geht. Sprachliche Vorgänge, die mit Stoffwechselvorgängen in biologischen Organismen vergleichbar sind, können in sehr unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten. Ganz offensichtlich zeigen sich solche Vorgänge, wenn einzelne sprachliche Formen aus anderen Sprachen übernommen werden. Das kann so geschehen, dass diese Formen direkt als Zitate übernommen werden, oder so, dass sie phonetisch, morphologisch, semantisch und pragmatisch verändert in das eigene Sprachsystem integriert werden. Sprachliche Stoffwechselvorgänge dokumentieren sich aber auch darin, dass bestimmte Wörter aus den Sprachen verschwinden, die keine pragmatisch wichtigen Differenzierungs- und Objektivierungsfunktionen mehr haben. Sei es, dass die Sachverhalte aus der Welt verschwunden sind, auf die diese Wörter ursprünglich Be-
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zug genommen haben (Raspelhaus, Hand- und Spanndienste), sei es, dass sie Unterscheidungen treffen, die in späteren Zeiten als irrelevant angesehen werden (Jungfer, Fräulein). Auf eine weniger offensichtliche Parallele zwischen Stoffwechselvorgängen in biologischen Organismen und Sprachen stoßen wir, wenn wir dieses Problem auf einer ganz elementaren Ebene ins Auge fassen. Organismen können sich nur dann erhalten, wenn sie auch konkrete Funktionen auszuüben haben. Organismen, die sich nicht verändern, die sich gegenüber anderen nicht behaupten müssen, die nicht wachsen und die sich nicht reproduzieren, brauchen keinen oder nur einen sehr reduzierten Stoffwechsel. Auch eine Sprache, die nicht dazu verwendet wird, neue Erfahrungen kategorial zu ordnen, neue Aspekte an altbekannten Sachverhalten herauszuarbeiten, Wissen zu speichern oder Einfluss auf andere Menschen auszuüben, braucht keine sich ständig erneuernde Selbstorganisation. Sie stirbt ab und wird zu einem bloßen Fossil. Wenn eine Sprache nicht mehr dazu benutzt wird, Außenreize kognitiv zu verarbeiten, individuellen Sinnbildungsanstrengungen eine Gestalt zu geben oder argumentativ eingesetzt zu werden, dann muss sie natürlich weder spezifisch gestaltet noch umgestaltet werden. Metaphorische Redeweisen als Formen der Selbsterneuerung von Sprache exemplifizieren das sehr deutlich. Weder biologische noch kulturelle Ordnungszusammenhänge sind ungeschichtliche autonome Phänomene, die unabhängig von ihren konkreten pragmatischen Funktionen existieren. Wenn man sich dazu entschlossen hat, etwas als einen Organismus wahrzunehmen, dann hat man sich immer auch dazu entschlossen, etwas als einen Vernetzungszusammenhang wahrzunehmen, der interne und externe Korrelationszusammenhänge ausgebildet hat bzw. ausbilden muss, die alle in ein bestimmtes Fließgleichgewicht zu bringen sind. Eine Sprache, die nicht mehr dazu herausgefordert wird, Ordnungsaufgaben semiotisch zu bewältigen und Sinn zu stiften, verliert nicht nur ihre Lebendigkeit, sondern auch ihre Existenzgrundlage. Deshalb gehören Formsicherungsprozesse als Grenzakzentuierungsprozesse und Formbildungsprozesse als Grenzerprobungsprozesse auf genuine Weise zu jeder lebendigen Sprache. Wenn man dem Phänomen Grenze in dieser Weise eine konstitutive Funktion in Gestaltbildungsprozessen zuordnet, dann kann man es ontologisch gesehen eigentlich weder der Gestalt selbst noch der Umwelt der jeweiligen Gestalt zuordnen. Denn dieses Phänomen macht es nämlich eigentlich erst möglich, dass etwas als Gestalt oder als Umwelt bzw. als Figur oder als Grund in Erscheinung treten kann. Ähnlich wie es das Phänomen Gegenwart eigentlich nicht als eine eigenständige Größe gibt, weil es nur so etwas wie die Kontaktstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, so gibt es auch bei Organismen und Sprache das Phänomen Grenze nicht als eine eigenständige Größe, weil auch dieses Phänomen nur die Kontaktstelle zwischen variablen Wirkungszusammenhängen repräsentiert. Diese kann sich selbst natürlich ständig ändern und verschieben. So gesehen stellen sich Grenzen eigentlich als virtuelle Phänomene dar, die ganz entscheidend von den Betrachtungsweisen für
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bestimmte Wirkungszusammenhänge abhängen bzw. von konkreten Funktions- und Werdensprozessen. Aus diesem Grund fällt es uns auch so schwer, die Sprache als ein eigenständiges ontisches Phänomen von ihren jeweiligen Bezugsphänomenen, von ähnlichen anderen Phänomenen und von ihren Verwendern abzugrenzen. Das dokumentiert sich beispielsweise darin, dass wir normalerweise ganz unbefangen nicht nur von der Sprache der Wörter sprechen, sondern auch von der Sprache der Kunst, der Sprache der Fäuste oder der Sprache der Bienen. Je nach unseren dominanten Differenzierungsinteressen und Betrachtungskategorien geben wir dem Sprachphänomen jeweils ganz andere Grenzen. Ähnliches gilt auch von der Abgrenzung der einzelnen Sprachformen untereinander. Die Unterscheidung von Wortarten, grammatischen und lexikalischen Zeichen, begrifflichen und metaphorischen Redeweisen sowie von Textsorten lässt sich ohne bestimmte, aber zugleich auch variable Grenzkriterien gar nicht leisten. Formen können im Verlauf ihrer Nutzung sowohl an der starren Fixierung als auch an der Auflösung ihrer jeweiligen Grenzen sterben. Deshalb ist der Kampf um funktionsfähige Grenzen zugleich auch ein Überlebenskampf von Formen bzw. Organismen. Infolgedessen müssen Grenzen nicht nur in einer anatomischen und morphologischen, sondern immer auch in einer physiologischen und funktionalen Denkperspektive thematisiert werden, weil sie sich eigentlich immer erst im Kontext von Wirkungszusammenhängen ausbilden bzw. in der spannungsreichen Dialektik von Beharren und Werden. Wenn man lebendige Ordnungszusammenhänge bzw. Organismen im Kontext der Grenzbildungsproblematik betrachtet, dann wird auch verständlich, warum die klassische Logik so außerordentliche Schwierigkeiten hat, mit den Ordnungsstrukturen von natürlichen Sprachen fertig zu werden. Diese Logik lebt nämlich als Begriffs- und Schlussfolgerungslogik von den Denkaxiomen, dass Denkgegenstände feste Grenzen haben, immer mit sich selbst identisch bleiben und deshalb im Prinzip auch immer klar kategorial eingeordnet werden können. Das ist verständlich, weil man in exakten Schlussfolgerungen ja nur mit stabilen Größen arbeiten kann, die sich nicht je nach Kontexten und Relationsverhältnissen chamäleonsartig ändern. Die Vorstellung, dass der Mensch mit der Welt und mit der Sprache einen flexiblen Funktionskreis bilden könnte, dass das Denken von der jeweiligen Sprachstruktur beeinflusst werden könnte, dass die Sprache einerseits Organ des Menschen, aber andererseits der Mensch auch Organ der Sprache sein könnte, liegt eigentlich außerhalb des substanzorientierten Realitätsverständnisses der klassischen Logik. In ihr sind alle Relationen von der Natur bzw. von dem Wesen der jeweiligen Denkgegenstände abhängig, aber die jeweiligen Denkgegenstände nicht von den Relationen, in denen wir sie wahrnehmen. Auch die Thesen Humboldts, dass die Sprache „das bildende Organ des Gedanken“ sei und dass die Sprache wegen ihrer universalen sinnbildenden Funk-
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tionen „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen“ müsse, liegen außerhalb dessen, was die klassische Logik als Denkvoraussetzung akzeptieren kann.30 Die beiden Thesen Humboldts thematisieren die Sprache nicht als autonomen Organisationszusammenhang, sondern als Teil eines komplexen Wirkungszusammenhangs von Welt, Mensch und Zeichen, in dem Grenzen ständig neu konstituiert und konkretisiert werden müssen. Für ihn verändern sich die Gestalt und die Funktion sprachlicher Formen im Sprachgebrauch ständig, aber nicht die Fähigkeit des Menschen zur Formbildung, welche sich gerade dadurch erhält, dass er Formen ständig verändert oder gar neu erzeugt. Sinnbildungsprozesse sind deshalb für Humboldt in ganz genuiner Weise Prozesse der Ausbildung und der Variation von übernommenen oder selbst hergestellten Grenzziehungen in konkreten Lebensprozessen. Gerade wenn man der Auffassung ist, dass die Sprache weniger auf anatomische Weise als ein vorgegebener Systemzusammenhang beschrieben werden sollte, sondern eher als ein pragmatisch motivierter Wirkungszusammenhang von vielfältigen innersprachlichen und außersprachlichen Faktoren, dann liegt eine Analogisierung von Organismus- und Sprachvorstellungen nahe. Deshalb hat auch Cassirer betont, dass das Interesse für den Wirkungszusammenhang von Formen notwendigerweise zu Organismusvorstellungen führe. „Die Eigentümlichkeit eines Organismus läßt sich nicht durch irgendeine besondere Eigenschaft ausdrücken, sondern beruht auf der Korrelation, die zwischen all seinen Einzelbestimmungen waltet ... Das Wissen von einer Einzelform setzt daher, wenn es wirklich in die Tiefe dringen soll, stets das Wissen von der Formenwelt als Ganzes voraus.“ 31
4. Entwicklungsfähigkeit und Evolution Der Entwicklungs- bzw. der Evolutionsgedanke ist nicht nur für die Präzisierung der biologischen Organismusvorstellung selbst von zentraler Bedeutung, sondern auch für dessen sinnbildliche Nutzung. Dabei hat man sich vor allem zweierlei zu vergegenwärtigen. Einerseits darf man den Evolutionsbegriff nicht mit dem Entelechiebegriff verwechseln, da er sich nicht wie letzterer auf die teleologisch beschreibbare Lebensgeschichte eines individuellen Lebewesens bezieht, sondern vielmehr auf die offene Entwicklungsgeschichte eines Typs von Lebewesen im Laufe der Zeit. Zweitens ist der Evolutionsbegriff kulturgeschichtlich gesehen kein genuin biologischer Begriff. Er wurde nämlich schon im 18. Jahrhundert in der Sozialwissenschaft benutzt, um die Ver-
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W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ... , Werke, Bd. 3, S. 426 und 477. 31 E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, 1906/1973, Bd. 4, S. 139–140.
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änderungsgeschichte von sozialen Ordnungssystemen zu beschreiben. Gleichwohl ist seine biologische Präzisierung in der Nachfolge der Überlegungen von Darwin die Voraussetzung dafür, ihn heute sinnbildlich auch auf nichtbiologische Phänomene zu beziehen und neben der biologischen auch von einer kulturellen Evolution zu sprechen. Fruchtbar ist der biologische Evolutionsgedanke für die hier thematisierten Problemzusammenhänge vor allem deshalb, weil er den geistesgeschichtlich sehr wirksamen Wesensgedanken relativiert hat und außerdem in der Lage ist, das lineare Kausaldenken durch ein vielfach vernetztes Bedingungs- und Beziehungsdenken zu ersetzen. Dadurch kann er insbesondere dabei helfen, die flexible Struktur offener Systeme und Systemverbünde aufzuklären bzw. die Anpassungsfähigkeit von gegebenen Ordnungsstrukturen an neue Funktionsaufgaben. Deshalb kann dann auch der Evolutionsgedanke einen wertvollen Beitrag dazu leisten, dass Spannungsverhältnis von Konstanz und Variabilität in der Sprache zu erhellen und hinsichtlich seiner Implikationen aufzuklären.
Das Evolutionskonzept Da seit Darwin die Evolutionsfähigkeit als ein Kriterium des Lebendigen gelten kann, ist der Evolutionsgedanke zu einem universalen Erklärungskonzept sowohl für die Naturwissenschaften als auch für die Geisteswissenschaften geworden. In beiden Bereichen versucht man, mit Hilfe des Evolutionsbegriffs kenntlich zu machen, dass gegebene Formen nicht ahistorische Wesenheiten sind, sondern wandelbare Ordnungsmuster, die nur solange stabil bleiben, wie die dafür maßgeblichen Rahmenbedingungen, Vernetzungsstrukturen und Funktionsanforderungen gleich bleiben. Deshalb kann biologischen und kulturellen Formen im Rahmen des Evolutionsgedankens sowohl eine Tendenz zur Systembildung und Systemstabilisierung zugeschrieben werden als auch eine zur Systemvariation und Systemauflösung. Diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Tendenzen machen aber letztlich Ordnungszusammenhänge im Sinne eines Fließgleichgewichtes möglich, lebendig und lebensfähig. Während es lange Zeit als ganz selbstverständlich gegolten hatte, dass biologische Gattungen und Arten historisch stabil bleiben, hatte Lamarck am Anfang des 19. Jahrhunderts darauf aufmerksam gemacht, dass diese sich im Laufe der Zeit durchaus wandeln, was natürlich eine abschließende Klassifizierung im Sinne des Systemgedankens von Linné sehr erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Lamarcks Erklärung des Wandels biologischer Arten durch Vererbung individuell erworbener Eigenschaften hat sich biologisch zwar nicht als haltbar erwiesen, weil sich erworbene Eigenschaften genetisch nicht verankern können. Das ist dann auch der Grund dafür, dass sie in biologischen Reproduktionsprozessen nicht weitergegeben werden können. Dennoch blieb aber der von ihm in die Diskussion gebrachte Transformationsgedanke aktuell. Darwin konnte dann die Ursachen des biologischen Artenwandels durch sein Evolutionskonzept sehr viel schlüssiger und wirksamer erklären.
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Mit seinem evolutionären Entwicklungskonzept hat Darwin die gut begründete Auffassung vertreten, dass Arten sich unscharf reproduzieren, weil es dabei zu zufälligen Variationen bzw. Mutationen kommt. Diese sind für die betroffenen Individuen in der Regel nachteilig. Zuweilen sind sie aber für diese auch vorteilhaft, weil sie deren Überlebens- und Fortpflanzungschancen in der alten Umwelt oder in einer gewandelten Umwelt verbessern. Da sich nun jede biologische Art in der Regel quantitativ über das jeweils erforderliche Maß hinaus reproduziert, haben gerade diejenigen Individuen im Überlebenskampf Wettbewerbsvorteile, die vorteilhafte Mutationen aufweisen, weil sie die ständigen Selektionsprozesse besser überstehen und sich deshalb auch zahlreicher vermehren können. Auf diese Weise führen dann zufällige Mutationen und umweltspezifische Selektionsprozesse allmählich zur Variation von Arten bzw. zur Ausbildung von neuen Arten und Gattungen. Die innere Logik dieses Evolutionsgeschehens hat Monod dann sehr plastisch auf die Formel Zufall und Notwendigkeit gebracht.32 Wenn man den Entwicklungs- bzw. Evolutionsgedanken auch für die Erklärung des Wandels kultureller Formen und insbesondere für den Wandel sprachlicher Formen in Anspruch nimmt, so wird man nicht darum herumkommen, sowohl auf die Argumentationsketten von Lamarck als auch auf die von Darwin Bezug zu nehmen. Das mag auf den ersten Blick als problematisch erscheinen. Es rechtfertigt sich aber dadurch, dass biologische und kulturelle Entwicklungen bzw. Evolutionen doch unter ziemlich unterschiedlichen Rahmenbedingungen ablaufen. Das Evolutionskonzept von Lamarck ist zwar auf der biologischgenetischen Ebene unhaltbar, aber auf der kulturellen durchaus zu rechtfertigen. Das Wissen, das sich in kulturell entwickelten Formen und Verhaltensweisen niedergeschlagen hat, kann in Reproduktionsprozessen natürlich nicht auf eine genetisch, sondern nur auf eine traditionell abgesicherte Weise weitergegeben werden. Es muss von einer Generation auf die andere mit Hilfe von expliziten Belehrungs- oder von impliziten Nachahmungsprozessen tradiert werden. Das hat einerseits den großen Vorteil, dass sich in kulturellen Formen Wissen sehr viel schneller anhäufen und umgestalten kann als in biologischen Formen, da alle kulturellen Formbildungs- und Selektionsprozesse sehr viel schneller ablaufen als biologische. Es hat aber auch den großen Nachteil, dass bei Tradierungsbrüchen kulturell erarbeitetes Wissen auch sehr schnell wieder verloren gehen kann, insofern es genetisch ja weder kodiert noch abgesichert ist. Beispielsweise kann ein Vogel ein Nest bauen, ohne von seinen Vorfahren darin unterrichtet worden zu sein. Ob allerdings ein Mensch ähnlich effektiv ein Haus bauen kann, ohne dass ihm das dazu notwendige Wissen kulturell von seinen Vorfahren vermittelt worden ist, lässt sich sicherlich bezweifeln.
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J. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 1971.
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Genetisch fixierte Wissens- und Gestaltungsformen sind in ihrem Bestand inhaltlich gesichert, wenn die biologische Reproduktion der jeweiligen Art gewährleistet ist. Kulturell fixierte Wissens- und Gestaltungsformen sind nur dann abgesichert, wenn die kulturelle Tradierung der jeweiligen Kulturinhalte gewährleistet ist. Die genetische Speicherung und Umgestaltung von Wissen bedarf sehr langer Zeiträume. Sie ist außerdem auch quantitativ begrenzt, weil die genetischen Speicherungsmöglichkeiten ja nicht beliebig auszuweiten sind und sich deshalb insbesondere auf solche Inhalte beschränken müssen, die für die Mitglieder einer bestimmten Art unmittelbar überlebensrelevant sind. Gleichwohl ist aber festzuhalten, dass auch das Darwinsche Evolutionskonzept mit seinen konstitutiven Faktoren Mutation und Selektion eine große Erklärungskraft für Entwicklungsprozesse in der Welt der Kultur hat. Keineswegs alle kulturellen Ordnungsformen sind Ergebnisse einer planenden Vernunft bzw. einer bewussten konstruktiven Anstrengung. Gerade sehr komplexe kulturelle Ordnungszusammenhänge wie etwa Rechts-, Handels- und Sprachordnungen sind meist nicht Ergebnisse planmäßiger Arbeit, sondern eher Ergebnisse von Versuch und Irrtum bzw. von mehr oder weniger zufälligen Setzungen, Konventionsbrüchen und Spielaktivitäten, die sich in den Selektionsprozessen der alltäglichen Lebenspraxis als brauchbar erwiesen haben und die eben deshalb auch beibehalten worden sind. Die Nutzer dieser Ordnungsformen können daher auch keineswegs immer argumentativ stringent begründen, wodurch deren Brauchbarkeit jeweils konkret bedingt ist. Typische Beispiele für die unscharfe Reproduktion bzw. Tradierung von Formen in kulturellen Überlieferungsprozessen sind die unterschiedlichen Bauformen von Häusern und Texten, der unorthodoxe Gebrauch von Wörtern in metaphorischen Redeweisen oder die neuartigen Wortbildungen im poetischen und kindlichen Sprachgebrauch. In all diesen Fällen kann die unscharfe Reproduktion vorgegebener Muster durchaus Vorteile haben, weil die jeweils veränderten Formen möglicherweise für bestimmte pragmatische Funktionen einen sehr viel besseren Passungscharakter haben als die althergebrachten. Für das Darwinsche Evolutionskonzept ist außerdem kennzeichnend, dass den jeweiligen Veränderungsprozessen keineswegs bestimmte inhaltliche Zielorientierungen im Sinne des Entelechiegedankens unterstellt werden müssen. Allenfalls gibt es für das Evolutionsgeschehen die recht formale allgemeine Zielorientierung, dass sich alle Teilordnungen vertikal und horizontal immer umfassender und immer besser miteinander vernetzen müssen. Das kann im Einzelfall bedeuteten, dass eine Teilordnung an Binnendifferenzierung verliert, damit sie sich optimaler in andere Ordnungen einpassen kann, es kann aber auch bedeuteten, dass sie eine größere Binnendifferenzierung und Komplexität ausbildet, um bestimmte Funktionen flexibler oder weniger schematisch erfüllen zu können. Deshalb hat man bei lebenden Ordnungssystemen in Natur und Kultur sowohl mit einer prägenden Beeinflussung der jeweiligen Subsysteme durch übergeordnete Systeme zu rechnen als auch mit einer prägenden Beeinflussung der übergeordneten Systeme durch die mit ihnen vernetzten Subsysteme.
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Die Sprache als Organismus
Diese Offenheit von Evolutionstendenzen berechtigt nun aber keineswegs dazu, das Evolutionsgeschehen als ein ziemlich ordnungsfernes Chaosgeschehen zu verstehen, worauf Monod ja auch mit seinem Prinzip von Zufall und Notwendigkeit prägnant hingewiesen hat. Wenn sich in der Natur beispielsweise ein bestimmter Organismustyp durch zufällige Mutationsprozesse einmal darauf festgelegt hat, sich über das Legen von Eiern oder durch das Austragen von Jungen in der Gebärmutter zu reproduzieren, dann wird er diesem Prinzip auch weiterhin folgen müssen, was natürlich nicht ausschließt, diese Reproduktionsweise variantenreich auszugestalten. Ähnliches gilt für die evolutionäre Fortentwicklung kultureller Ordnungssysteme. Wenn einmal in der Sprachentwicklung der Weg eingeschlagen worden ist, grammatische Informationen über die Formveränderung bzw. Flexion von Wörtern zu signalisieren, dann gibt es natürlich eine immanente Entwicklungstendenz, das Flexionssystem der Sprache auszubauen und zu systematisieren bzw. die historische Fortentwicklung der jeweiligen Sprache in dieser Spur zu halten. Gleichwohl ist es aber in kulturellen Ordnungssystemen sehr viel leichter als in biologischen, solche Grundsatzentscheidungen wieder zu korrigieren bzw. durch andere und möglicherweise gegenläufige zu ergänzen. So gibt es beispielsweise in der Entwicklung der englischen Sprache die Tendenz, das ursprünglich gegebene Flexionsprinzip wieder abzubauen und die Sprache somit von einer flektierenden zu einer isolierenden Sprache vom Typ des Chinesischen umzugestalten. Dadurch haben dann Stellungsmuster im Englischen im Gegensatz zum Lateinischen und Deutschen eine ganz bedeutsame grammatische Informationsfunktion bekommen. So muss beispielsweise im heutigen Englisch das Akkusativobjekt immer hinter dem Subjekt platziert werden, da es über Kasusmorpheme ja nicht eindeutig als solches identifizierbar ist. Ein mögliches Motiv für diese allmähliche evolutionäre Umorientierung und Umgestaltung von grammatischen Ordnungszusammenhängen in der englischen Sprache haben manche darin gesehen, dass sich nach der Invasion der Normannen der Wortschatz des Englischen durch die Übernahme von Wörtern romanischen Ursprungs so vergrößert habe, dass es zu einem immanenten Bedürfnis nach einer Reduktion des grammatischen Morpheminventars im engeren Sinne gekommen sei. Vergleichbare Neu- bzw. Ergänzungsorientierungen von Evolutionsrichtungen gibt es allerdings auch in biologischen Organisationszusammenhängen. Als die Vorfahren unserer heutigen Wale begannen, das Land zu verlassen und das Wasser zu ihrem Lebensraum zu machen, behielten sie ihre Lungenatmung und ihr Fortpflanzungsprinzip bei. Aber gleichzeitig kam es dazu, dass sich ihre Extremitäten evolutionär in Flossen umgestalteten, um in ihrer neuen Umwelt überleben zu können. Wenn man das Evolutionsprinzip von der biologischen auf die kulturelle Ebene ausweitet, dann ist noch ein anderer Evolutionsaspekt interessant, der insbesondere die Vernetzung von biologischen und kulturellen Ordnungssystemen betrifft. Sofern man mit Herder und Gehlen den Menschen als biologisches Mängelwesen betrachtet, das sich Kultur bzw. soziale Institutionen ent-
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wickeln muss, um trotz seiner im Vergleich zu Tieren mangelhaften Ausstattung an Instinkten bzw. an genetisch verankerten Verhaltensprogrammen überleben zu können, dann ergeben sich folgende Konsequenzen. Die Kultur im Allgemeinen und die Sprache im Besonderen lassen sich in dieser Denkperspektive als eine zweite Natur des Menschen betrachten bzw. als ein spezifisches, nach außen verlagertes Teilorgan des Gesamtorganismus Mensch. Das bedeutet, dass sich die Menschen Kultur und Sprache evolutionär haben erschaffen müssen, um im individuellen und gattungsmäßigen Überlebenskampf zu bestehen bzw. um sich optimal als Teilorganismen mit dem Gesamtorganismus Welt vernetzen zu können. Offen bleibt bei diesem Denkansatz dann allerdings die Frage, ob die Reduktion von Instinkten beim Menschen als Ursache für die Kulturentwicklung anzusehen ist oder ob die Kulturentwicklung als Ursache für die Reduktion der Instinkte zu werten ist. Möglicherweise hat man diesbezüglich auch von einer Koevolution auszugehen bzw. von einem Interdependenzverhältnis von Kulturentfaltung und Instinktreduktion. Auf jeden Fall lässt sich aber die anthropologische These vertreten, dass der Mensch auf eine ziemlich paradoxe, aber letztlich doch dialektische und fruchtbare Weise sowohl als Schöpfer als auch als Geschöpf der Kultur und der Sprache anzusehen ist.33 Die Übertragung des Evolutionskonzepts von der Sphäre der Natur auf die der Kultur ist hilfreich und gefährlich zugleich. Hilfreich ist sie, weil man natürliche und kulturelle Phänomene gleichermaßen als offene Systeme betrachten und beschreiben kann. Beide müssen sich durch die Vernetzung mit jeweils anderen Ordnungszusammenhängen in einem Fließgleichgewicht halten und haben sich eben deshalb auch auf eine vergleichbare Weise zu organisieren. Gefährlich ist die Übertragung, weil man leicht in die Versuchung gerät, diese Analogie überzustrapazieren und dabei zu übersehen, dass in Natur und Kultur unterschiedliche Ordnungsprinzipien wirksam sind, aus denen dann wiederum auch spezifische Strukturdifferenzen resultieren. So darf man beispielsweise nicht unberücksichtigt lassen, dass Kulturphänomene wie etwa die Sprache nicht denselben Selbständigkeitsgrad haben wie etwa eine biologische Art oder Gattung und dass sie sich auch nicht auf dieselbe Weise fortpflanzen bzw. am Leben erhalten. Kulturphänomene reproduzieren sich nicht selbst, sondern nur über die Menschen, die sie nutzen, pflegen, fortentwickeln und tradieren. Diesen Tatbestand kann man sich dadurch ganz gut im Bewusstsein präsent halten, dass man Kulturphänomene wie etwa die Sprache als nach außen verlagerte Teilorgane des Menschen ansieht, die aber immer nur eine relative Eigenständigkeit haben, weil Mensch und Kultur im Prinzip einen gemeinsamen durchstrukturierten Organisationszusammenhang bilden. Wenn man Kulturphänomene wie die Sprache als soziale Tatsache von ihren Trägern bzw. von ihrem Gebrauch abtrennt, dann wird man zweifellos
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Vgl. M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961.
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für bestimmte Organisationsaspekte hellsichtiger. Zugleich übersieht man aber auch leicht, dass Teilordnungen erst durch übergreifende Relationszusammenhänge ihren spezifischen Stellenwert bekommen. Kulturelle Institutionen mit individuellen biologischen Organismen zu analogisieren, die einen immanenten Lebenszyklus von Entstehung, Entfaltung und Auflösung durchlaufen, ist ein gängiges geistesgeschichtliches Denkmodell. So wird z. B. recht selbstverständlich von der Bildung, der Entfaltung und dem Untergang von Staaten und Reichen gesprochen. Oswald Spengler hat die Entwicklungsgeschichte von Kulturen mit der von Pflanzen parallelisiert und betont, dass Kulturen wachsen, blühen und absterben.34 Das hat sicher eine gewisse Plausibilität, aber impliziert auch die nicht unproblematische Auffassung, die innere Dynamik von Kulturen und Kulturphänomenen im Sinne einer vorgegeben Entelechie zu verstehen bzw. als teleologisch determiniert. Ähnliche Suggestionseffekte können sich ergeben, wenn wir die Entwicklungsgeschichte von Sprachen ohne Einschränkung mit der Evolutionsgeschichte einer biologischen Art parallelisieren. Generell darf nämlich bei der Nutzung des evolutionären Denkansatzes für das kulturgeschichtliche Denken nicht vergessen werden, dass kulturelle Phänomene sich im Gegensatz zu biologischen Organismen nicht selbst reproduzieren, sondern nur mit Hilfe der Menschen, die diese Phänomene in ihre jeweiligen Lebensaktivitäten integrieren.
Das sprachliche Evolutionsverständnis von Schleicher An Schleichers Verständnis des Organismus- und Evolutionsgedankens lässt sich sehr gut demonstrieren, welche heuristischen Chancen und Gefahren diese Konzepte für sprachtheoretische Überlegungen beinhalten können. Beide Konzepte haben Schleicher fasziniert, weil er glaubte, mit ihrer Hilfe sowohl die innere Systematik als auch die Entwicklungsgeschichte von Sprachen besser verstehen zu können. Das hat er dann auf folgende prägnante Formel gebracht: „Wenn wir nicht wissen, wie etwas geworden ist, kennen wir es nicht.“ 35 Schleicher hatte sich schon früh auf Anregung seines zoologischen Kollegen Ernst Häckel an der Universität Jena mit Darwins Konzeption vertraut gemacht. Er war von dessen biologischen Überlegungen auch deshalb so fasziniert, weil sie seinen eigenen Vorstellungen über die Entwicklungsgeschichte und Organisation von Sprachen sowie den spezifischen Forschungszielen der Sprachwissenschaft zu entsprechen schienen. Seine Abhandlung über Darwin und die Sprachwissenschaft aus dem Jahre 1863, die er als offenes Sendschreiben an Häckel konzipiert hatte, ist aus zweierlei Gründen für unseren Prob-
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Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1923/1963. A. Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, in: H. H. Christmann (Hrsg.), Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, 1977, S. 90.
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lemzusammenhang besonders aufschlussreich. Einerseits sagt sie uns nämlich viel über das sprachwissenschaftliche Denkklima in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Andererseits sagt sie uns aber auch etwas über die Probleme, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat, wenn man Konzepte aus der Biologie bzw. Naturwissenschaft direkt in die Sprachwissenschaft übernimmt und deren analytische Funktionen nicht heuristisch, sondern kategorial versteht. Zunächst ist bemerkenswert, dass Schleicher Sprachen nicht in einem sinnbildlichen, sondern in einem begrifflichen Sinne als Naturorganismen verstanden hat. Aus diesem Grunde hat er auch keinerlei Skrupel, sie mit naturwissenschaftlichen bzw. biologischen Kategorien zu erforschen und die Sprachwissenschaft als eine Naturwissenschaft zu verstehen und nicht als Teil der Philologie. Er setzt ihr nämlich das Ziel, die inneren Gesetzmäßigkeiten der Sprache aufzuklären, was für ihn mehr oder weniger impliziert, von allen Bezügen der Sprache zu den sprechenden Subjekten zu abstrahieren. Diese programmatische Ausrichtung seines Denkens hat er sehr klar formuliert. „Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen ‚Leben’ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe, wie die der übrigen Naturwissenschaften. So konnte mir denn auch das Studium des Darwinschen Buches, zu dem Du mich veranlaßtest, nicht als meinem Fache allzu ferne liegend erscheinen.“ 36
Erleichtert wurde Schleicher diese Sicht auf Sprache und seine programmatische Ausrichtung der Sprachwissenschaft auch dadurch, dass das Wissenschaftsklima seiner Zeit immer stärker naturwissenschaftlich geprägt wurde und dass er sich selbst eher für die phonologischen und morphologischen Aspekte der Sprache interessierte als für die semantischen. Deshalb hatte er auch keinerlei Hemmungen, noch andere Parallelen zwischen biologischen und sprachwissenschaftlichen Betrachtungsweisen zu postulieren. „Was die Naturforscher als Gattungen bezeichnen würden, heißt bei den Glottikern Sprachstamm, auch Sprachsippe; näher verwandte Gattungen bezeichnen sie wohl auch als Sprachfamilien einer Sippe oder eines Sprachstammes ... Die Arten einer Gattung nennen wir Sprachen eines Stammes; die Unterarten einer Art sind bei uns die Dialecte oder Mundarten einer Sprache ... Bekanntlich sind sich die einzelnen Individuen ein und derselben Art nicht absolut gleich, völlig dasselbe gilt von den sprachlichen Individuen; auch die Sprechweise der einzelnen eine und dieselbe Sprache redenden Menschen ist stets mehr oder weniger stark individuell gefärbt.“ 37
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A. Schleicher, a.a.O., S. 88. A. Schleicher, a.a.O., S. 92.
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Ganz besonders bemerkenswert ist nun, dass Schleicher Darwins Denkfigur vom Kampf ums Dasein auch für den Bereich der Sprache übernimmt. Er vertritt nämlich die Auffassung, dass manche Sprachtypen sich in diesem Kampf als anderen überlegen erwiesen hätten und sich eben deshalb im direkten Konkurrenzkampf über Selektionsprozesse auch durchsetzten. „In der gegenwärtigen Lebensperiode der Menschheit sind vor allem die Sprachen indogermanischen Stammes die Sieger im Kampfe ums Dasein; sie sind in fortwährender Ausbreitung begriffen und haben bereits zahlreichen anderen Sprachen den Boden entzogen“ 38
Diese Äußerung Schleichers dokumentiert sehr klar, welch merkwürdiges Sprachverständnis entstehen kann, wenn man Organismus- und Evolutionsvorstellungen nicht auf sinnbildliche Weise zu heuristischen Zwecken auf Sprache bezieht, sondern auf kategoriale Weise. Dann entsteht nämlich schnell die Auffassung, dass Sprachen ontisch eigenständige Phänomene seien, die eine von ihren Verwendern unabhängige Existenz hätten und sich nach eigenen Gesetzen fortentwickeln würden. Auf diese Weise würden Sprachen dann zu autonomen Ordnungszusammenhängen, die sich als Denkgegenstände ganz problemlos aus menschlichen Kognitions-, Kommunikations- und Interaktionszusammenhängen herauslösen lassen. Durch einen solchen Zugriff wird das Phänomen natürliche Sprache allerdings typologisch nicht prägnanter erfasst, sondern vielmehr auf eine sehr verzerrende Weise vereinfacht. Zu Recht hat der amerikanische Sprachwissenschaftler Whitney 1871 die beiden Thesen Schleichers, dass Sprachen eigenständige Organismen seien, die nicht vom Willen des Menschen bestimmt würden, und dass die Veränderungen in der Sprache nach eigenen Gesetzlichkeiten abliefen, als unangemessen und dogmatisch bezeichnet. Im Kontrast dazu hat er selbst ein ganz anderes Konzept von Sprache entworfen. „Wenn der menschliche Wille irgendeinen Einfluß auf die Schaffung und Veränderung der Sprache hat, dann ist die Sprache insoweit kein Naturorganismus, sondern etwas vom Menschen Geschaffenes. Und wenn dieser Wille die einzige Kraft ist, durch die die Sprache erzeugt und verändert wird, dann ist die Sprache überhaupt kein Naturorganismus und gehört als Forschungsgegenstand auch nicht in die Naturwissenschaft.“39
Whitney ist sich natürlich im Klaren darüber, dass ein Einzelner ebenso wenig eine Sprache erschaffen kann wie er eine Pyramide bauen kann. Dennoch sind für ihn Sprachen und Pyramiden durchaus Menschenwerk und nicht Naturwerk. Sprachen versteht er als Erzeugnisse menschlicher Anstrengungen, selbst wenn es wie etwa beim Lautwandel gewisse physikalische und physio-
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A. Schleicher, a.a. O., S. 104. W. D. Whitney, Schleicher und die naturwissenschaftliche Sprachauffassung, in: H. H. Christmann (Hrsg.), Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, 1977, S.112.
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logische Gesetzmäßigkeiten gebe. Insbesondere beim Bedeutungswandel sieht Whitney aber menschliche Aktivitäten am Werke und keine Naturgesetzlichkeiten. Deshalb kommt er auch zu dem Schluss, dass Sprachen „alles andere als Naturorganismen“ seien. „Wenn wir der Sprache einen Namen geben sollen, der ihr eigentliches Wesen am deutlichsten und schärfsten zum Ausdruck bringt – und gerade denjenigen zum Trotz, die sie zu einem Organismus machen möchten – , so nennen wir sie eine Institution, und zwar eine der Institutionen, aus denen sich die menschliche Kultur 40 zusammensetzt.“
Mit der Bestimmung der Sprache als kultureller Institution negiert Whitney ihre Bestimmung als Organismus in einem biologischen Sinne, aber keineswegs ihre Bestimmung als durchstrukturierten Organisationszusammenhang. Allerdings stellt sich dann auch die Frage, wie organisierte kulturelle Institutionen zu Stande kommen und inwieweit man dabei willentlich verfolgte Gestaltungsziele annehmen kann. Deshalb ist zu prüfen, ob sich die Ausbildung komplexer kultureller Institutionen durch kollektive Arbeit mit Hilfe der Prinzipien von Evolutionsprozessen beschreiben lässt. Die Verselbständigung der Sprache zu einem autonomen quasibiologischen Organismus bei Schleicher hat eine gewisse Parallele zu der Verselbständigung der Sprache als soziale Tatsache (fait social) bei de Saussure. Beide Objektivierungen, wenn nicht theoretische Konstruktionen von Sprache sind problematisch, weil sich in beiden Fällen die Wahrnehmungsperspektive für Sprache so verengt, dass die Verschränkung der Sprache mit den kognitiven und kommunikativen Intentionen ihrer Verwender sowohl historisch als auch aktuell ganz aus dem Blickfeld gerät. Dieser Abstraktionsprozess hat bei Schleicher und de Saussure zwar ganz andere Prämissen und Motive, aber er führt dennoch zu ganz ähnlichen Konsequenzen. Die Sprache verselbständigt sich nämlich unter der Hand zu einer autonomen Wirkungsgröße, die nicht mehr im Kontext ihrer Interaktions- und Interdependenzrelationen wahrgenommen wird, sondern vielmehr als ein Ding an sich oder zumindest als ein Ding unter Dingen. Außerdem führt diese Sicht auch zu einem eher monologisch als dialogisch orientierten Sprachverständnis.
Evolutionär entstandene Ordnungszusammenhänge Bei konstruktiv entworfenen Ordnungszusammenhängen wie etwa einer Maschine lässt sich die jeweils gegebene Ordnung auf die Planung eines Konstrukteurs zurückführen. Bei evolutionär entstandenen Ordnungsgebilden muss man auf eine solche Annahme verzichten, weil es einen solchen nicht gibt und weil das jeweilige Ordnungsgebilde irgendwie Konstrukteur seiner selbst ist.
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W. D. Whitney, a.a.O., S. 127.
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Für ein linear strukturiertes Kausaldenken ist eine solche Selbsterzeugungshypothese ziemlich abstrus. Für ein vernetztes Kausaldenken, das für Interaktionsprozesse und Interdependenzrelationen aufgeschlossen ist, ist sie dagegen durchaus akzeptabel. Hier richtet das Denken nämlich seine Aufmerksamkeit nicht nur auf den jeweils gegebenen Systemzusammenhang selbst, sondern zugleich immer auch auf all die Faktoren, die bei Genese, der Entfaltung und der Reproduktion solcher Ordnungsformen eine Rolle spielen können. Schon bevor der Evolutionsgedanke als Erklärungskonzept für vorfindbare Ordnungsgebilde und für deren interne Ordnungsdynamik verwendet worden ist, hat man diesbezüglich schon andere Denkmodelle entwickelt. Allerdings sind diese meist sehr stark durch den Entelechiegedanken geprägt worden. So hat man beispielsweise im Mittelalter die Ordnungsstruktur der Natur in einer doppelten Perspektive zu erfassen versucht und zwischen der Natur als einer erzeugten und direkt beobachtbaren Ordnungsgestalt (natura naturata) und der Natur als einer ordnungstiftenden Kraft (natura naturans) unterschieden. Cassirer hat diese Denkfigur auf die Kultur übertragen und zwischen einer direkt fassbaren kulturellen Form (forma formata) und einer dahinterliegenden formbildenden Kraft (forma formans) unterschieden. Über diese Differenzierung hat er auch Humboldts Unterscheidung zwischen der Sprache als Werk (Ergon) und der Sprache als Tätigkeit (Energeia) zu erläutern versucht bzw. dessen These, dass die wahre Definition der Sprache nur eine genetische sein könne.41 Wie bekommen aber nun gewachsene Ordnungszusammenhänge, seien es nun biologische oder kulturelle eine immanente Systemordnung, wenn man dahinter keinen Konstrukteur oder keine inkorporierte Entelechie vermuten will? Auf welche Weise wird in einer lebendigen Ordnungsgestalt ein Ausgleich zwischen der Notwendigkeit zur Konstanz und Stabilität auf der einen und zur Plastizität und Flexibilität auf der anderen Seite hergestellt? In welchem Ausmaß können zufällige oder erzwungene Änderungen in einem System oder in den Außenbedingungen eines Systems zu einer Umstrukturierung des ganzen Systems führen? Unter welchen Umständen ergeben sich aus den Veränderungen von Systemelementen neue Ordnungsqualitäten für den gesamten Ordnungszusammenhang, die logisch nicht aus den Veränderungen der Teilelemente ableitbar sind? Ist der Tod von Einzelelementen eines Systems die Voraussetzung für dessen Selbsterneuerung? Muss ein System periodisch Opfer bringen, um seinen Typus von Ordnung aufrecht erhalten zu können? All diese Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Mögliche Antworten sind eher nach Plausibilitätskriterien zu beurteilen als nach den Kriterien von richtig und falsch. Gleichwohl muss man sich solche Fragen aber stellen, wenn man sich das Phänomen Sprache mit Hilfe des Sinnbilds Organismus zu erschließen versucht. Eine Denkhilfe ist in dieser Hinsicht vielleicht
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E. Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, 1985, S. 125.
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die Metapher von der unsichtbaren Hand (invisible hand), die der Ökonom und Sozialwissenschaftler Adam Smith im 18. Jahrhundert in die Welt gesetzt hat. Mit ihr hat er zu veranschaulichen versucht, dass Menschen insbesondere in ihrem ökonomischen Handeln hintergründig Ziele befördern könnten, die sie vordergründig gar nicht angestrebt hätten, und dass sich als Resultanten von sehr unterschiedlich ausgerichteten Einzelhandlungen gleichsam unter der Hand funktionsfähige Ordnungszusammenhänge ausbilden könnten, die niemand bewusst intendiert habe. Mit der Denkfigur von der unsichtbaren Hand, die natürlich auf den ersten Blick ein religiöses Verständnis nahelegt, wollte Smith aber keineswegs auf eine göttliche Hintergrundsinstanz oder auf eine entelechieorientierte Vorprogrammierung von Entwicklungsprozessen Bezug nehmen. Vielmehr hat er mit dieser Metapher eher beiläufig die Vorteile eines freien Marktgeschehens gegenüber einer merkantilistischen zentralen Wirtschaftsplanung mit dezidierten Handelsbeschränkungen plausibel machen wollen. Dieses Denkmodell sollte die These veranschaulichen, dass die Verfolgung egoistischer Partialinteressen paradoxerweise langfristig gesehen für die Allgemeinheit von großem Nutzen sein könne. Der Einzelne strebe im freien Handel zwar nach eigenem Gewinn, aber er bewirke eben dadurch auf eine ziemlich wundersame Weise auch noch etwas ganz anderes. „Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“ 42 Zur Begründung dieser These von Smith lässt sich anführen, dass durch die Verfolgung von egoistischen Partialinteressen unbeabsichtigt Prozesse der Arbeitsteilung in Gang gesetzt werden, dass die Ausweitung von Handelsbeziehungen angeregt wird und dass gesellschaftliche Institutionen wie etwa Rechts- und Handelsordnungen ausgebildet werden, was letztlich alles der Förderung des Gemeinwohls dienlich ist. Zwar wird man einräumen müssen, dass optimale Teillösungen für einzelne nicht automatisch zu optimalen Gesamtlösungen für alle führen, aber sicherlich ist nicht ausgeschlossen, dass in längeren Zeiträumen die Summe suboptimaler Teillösungen für einzelne im Rahmen von Kooperationszwängen zu optimalen Gesamtlösungen für viele führen können bzw. dass sich auf evolutionäre Weise funktionsfähige Gesamtordnungen ausbilden können, die niemand bewusst angestrebt hat. Diese vorwiegend ökonomisch orientierten Grundüberlegungen von Adam Smith haben den Nationalökonomen und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek wie schon erwähnt dazu angeregt, die Frage zu stellen, ob man die Genese und die Ausbildung von kulturellen Ordnungszusammenhängen wie etwa Rechts- und Sprachsystemen nicht auch mit der Denkfigur der unsichtbaren Hand veranschaulichen könne. Für ihn liegen nämlich auch hier Ordnungsgestalten vor, die zwar niemand explizit angestrebt habe, die sich aber
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A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, Buch 4, Kap. 2, 200511, S. 371.
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dennoch aus immanenten pragmatischen Zwängen über Ausgleichshandlungen gleichsam von selbst ergeben hätten. Diesbezüglich stellt er dann folgende Überlegungen an. Idealtypisch vereinfacht unterscheidet Hayek drei Typen von Ordnungen. Erstens gebe es Ordnungen, die der Mensch als Naturordnungen vorfinde und die er in Form von Naturgesetzen auch objektivieren könne. Zweitens gebe es Ordnungen, die der Mensch intentional konstruktiv erzeugt habe wie etwa die Straßenverkehrsordnung. Drittens gebe es Ordnungen, die zwar vom Menschen gemacht seien, die aber nicht als Ergebnisse der planenden Vernunft anzusehen seien, sondern eher als Folgen ungeplanter kultureller Evolutionsprozesse. Solche Ordnungen entstünden dadurch, dass sich bestimmte Verhaltensweisen von Menschen in sozialen Interaktionsprozessen als nützlich erwiesen hätten und sich dann im Lauf der Zeit über Variations-, Ausgleichs- und Selektionsprozesse konkret so ausgestaltet hätten, dass dadurch mehr oder weniger übersichtliche Systemordnungen entstanden seien.43 Zu den evolutionär entstandenen Ordnungen des dritten Typs kann man sicherlich nicht nur natürlich gewachsener Rechtsordnungen wie etwa das angelsächsische Gewohnheitsrecht rechnen, sondern sicherlich auch gewachsene Sprachordnungen. Beide Ausprägungsweisen von Ordnung sind Ergebnisse menschlichen Tuns, aber nicht Ergebnisse bewusster menschlicher Planungen und Vereinbarungen. Beide Typen von Ordnungsgebilden weisen wegen ihrer langen Wachstumsgeschichte und ihrer oft spontan getroffenen Einzelregelungen meist eine Fülle von Ungereimtheiten und Inkonsequenzen auf, die es unmöglich machen, sie als rational durchstrukturierte Ordnungssysteme anzusehen. Gleichwohl sind diese Ordnungsgebilde im Prinzip aber doch so gut organisiert, dass sie sich im praktischen Gebrauch durchaus bewähren. Aus diesem Grunde hat man ja auch immer wieder darauf verwiesen, dass man eine natürliche Sprache nicht allein auf der Basis von Regelkenntnissen beherrschen könne, sondern letztlich nur über dass Sprachgefühl als der Summe aller intuitiv erworbenen Sprachkenntnisse. Das lässt sich nicht nur im Hinblick auf die Kenntnis von grammatischen Regeln und von akzeptierten Ausnahmen rechtfertigen, sondern auch im Hinblick auf das Phänomen des sprachlichen Stils. In einer perfekt durchstrukturierten und normierten Sprache ist es recht müßig, von dem individuellen Stil einer sprachlichen Äußerung zu sprechen, weil es eigentlich keine Spielräume für individuelle sprachliche Gestaltungsprozesse bzw. für das Spiel mit sprachlichen Formen und sprachlichen Gebrauchsnormen gibt, sondern im Prinzip nur einen regulären oder einen irregulären Sprachgebrauch.44
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F. A. von Hayek, Arten der Ordnung, in: F. A. von Hayek, Freiburger Studien, 1969, S.32–46. F. A. von Hayek, Die drei Quellen menschlicher Werte, 1969. 44 Vgl. W. Köller, Stil und Grammatik, in: U. Fix, A. Gardt, J. Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik, 2. Halbband, 2009, S. 1220–1230.
Entwicklungsfähigkeit und Evolution
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Es ist nun sicherlich gut nachvollziehbar, dass historisch gewachsene kulturelle Ordnungssysteme, wie sie Hayek thematisiert hat, eine große Analogie zu evolutionär gewachsenen biologischen Organismen aufweisen. Beide sind aus Variations- und Selektionsprozessen hervorgegangen und durch das Prinzip von Zufall und Notwendigkeit geprägt worden. Beide weisen große systemtheoretische Inkonsequenzen und Ungereimtheiten auf bzw. schleppen oft einen Organisationsballast von Ausnahmen mit sich herum, der zwar historisch zu erklären, aber funktional kaum zu rechtfertigen ist. Allerdings sind die partiellen Inkonsequenzen historisch gewachsener Ordnungszusammenhänge nur dann rein negativ zu beurteilen, wenn man dem jeweiligen Ordnungssystem vorab ein klar abgrenzbares Funktionsspektrum zuweisen kann. Wenn nämlich ein Ordnungssystem sehr vielfältige und sehr unterschiedliche Funktionen hat und wenn sich seine Funktionsmöglichkeiten ständig verändern, dann können sich die Inkonsequenzen von Ordnungssystemen durchaus als spezifische Vorteile erweisen, weil in ihnen gleichsam Funktionsreserven für neuartige Ordnungsaufgaben stecken. Die Metapher von der unsichtbaren Hand, für die das lineare rationale Denken meist nur Spott und Hohn bzw. bestenfalls noch Mitleid übrig gehabt hat, ist für Hayek deshalb hilfreich, weil er mit ihr sinnbildlich auf die selbstregulierenden Kräfte in komplexen Systemordnungen aufmerksam machen kann, die die Voraussetzung dafür sind, dass solche Systeme ihre Polyfunktionalität aufrecht erhalten können. Deshalb hat auch Rudi Keller die Metapher von der unsichtbaren Hand aufgenommen, um die Besonderheiten des Sprachwandels zu beschreiben. Was uns auf den ersten Blick in der Sprache als äußerst inkonsequent und systemwidrig erscheine, das verdanke seine Herkunft mehr oder weniger zufälligen Variationsprozessen und begründe den spezifischen Charme sowie die pragmatische Flexibilität natürlicher Sprachen.45 Die Polyfunktionalität von evolutionär gewachsenen sprachlichen Ordnungen sowie die systemorientierten Ausgleichstendenzen in ihnen lassen sich ganz gut am deutschen Tempussystem demonstrieren. Wenn man bei der Analyse des Tempussystems nur von der Denkprämisse ausgeht, dass die sechs deutschen Tempusformen ausschließlich chronologische Differenzierungsfunktionen hätten bzw. nur dazu dienten, den chronologischen Stellenwert von Ereignissen, Sprechzeitpunkten und Betrachtungszeitpunkten auf einer linearen Zeitachse zu kennzeichnen, dann müssen uns viele faktische Gebrauchsweisen von Tempusformen als ziemlich problematisch, wenn nicht als absurd erscheinen. Warum können wir beispielsweise in bestimmten Erzählzusammenhängen das Präteritum mit einem zukunftsbezeichnenden Adverbial kombinieren (Morgen ging sein Schiff nach Amerika, er wusste nicht, ob er mitfahren sollte.)? Warum können wir uns mit dem Perfekt auf drei ganz unter-
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Vgl. R. Keller, Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 1990.
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Die Sprache als Organismus
schiedliche chronologische Zeitstufen beziehen (Gestern / heute / morgen hat er seine Arbeit abgeschlossen.)? Erst wenn wir in Betracht ziehen, dass die verschiedenen Tempusformen ursprünglich nicht dazu gedient haben, einzelne Ereignisse chronologisch auf einer Zeitachse einzuordnen, weil das rein chronologische Zeitverständnis zur Zeit der Ausbildung der Tempusformen noch keine große Rolle gespielt hat, dann verliert der scheinbar paradoxe Tempusgebrauch seine Unsystematik und Inkonsequenz. In dieser Denkperspektive ergibt sich dann nämlich, dass die Tempusformen ursprünglich die Hauptaufgabe hatten, die pragmatische und psychische Relevanz von Ereignissen, deren besondere aktionale Struktur (Abschluss, Verlauf, Allgemeingültigkeit) sowie die mit den jeweiligen Äußerungen verbundenen Sprechakte (Behauptung, Erzählung, Voraussage usw.) näher zu kennzeichnen. So betrachtet entpuppt sich dann der scheinbar unsystematische Gebrauch von Tempusformen als eine Nutzung von Funktionsmöglichkeiten, die heute entweder an Bedeutsamkeit eingebüßt haben oder die mit unserem heutigen theoretischen Zeitverständnis zwar nicht mehr gut vereinbar sind, wohl aber mit unserem praktischen.46 In sprachgeschichtlichen Entwicklungsprozessen haben wir immer damit zu rechnen, dass gegebene sprachliche Formen neue kognitive und kommunikative Funktionen entwickeln können, ohne dass die alten dadurch funktionslos werden. Die polyfunktionalen Verwendungsmöglichkeiten von sprachlichen Formen empfinden wir theoretisch oft als inkonsequent und paradox, obwohl wir sie mit Hilfe unseres Sprachgefühls in der Regel praktisch recht gut beherrschen und faktisch auch gar nicht missen möchten. In diesem Zusammenhang ist auch noch ein anderer Umstand zu berücksichtigen, der ganz bestimmte systemtheoretische Probleme aufwirft. Alte Sprachformen haben im Prinzip immer ein größeres Funktionsspektrum als jüngere, die zunächst meist als zusätzliche Sproßformen für die Realisierung ganz spezieller Einzelintentionen innerhalb des allgemeinen Funktionsspektrums der alten Formen ausgebildet worden sind. Die Ausbildung solcher Sproßformen hat dann beispielsweise für die Organisation des deutschen Tempussystems folgende Konsequenz gehabt. Die sehr alten Tempusformen Präsens und Präteritum versuchen aus Gründen der Tradition bzw. der Besitzstandswahrung ihr weites Operationsgebiet beizubehalten, obwohl sie dieses eigentlich aus systemtheoretischen Gründen zugunsten der neu entwickelten zusammengesetzten Tempusformen Futur I , Futur II , Perfekt und Plusquamperfekt einschränken müssten. Dieser Tatbestand wirft nun das Systemproblem auf, dass die alten Tempusformen in manchen Gebrauchssituationen als ziemlich undifferenzierte Pauschalformen verwendet werden können und in anderen als dezidierte Oppositionsformen zu den neu entwickelten Spezialformen. Das bedeutet wieder-
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Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 421– 444.
Entwicklungsfähigkeit und Evolution
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um, dass sich das Funktionsspektrum der sechs deutschen Tempusformen systematisch nicht so aufteilen lässt, wie man eine Torte in sechs Tortenstücke aufteilen kann, weil die Entwicklungsgeschichte des Tempussystems eine solche systematische Funktionsaufteilung nicht zulässt. Solche systemlogischen Inkonsequenzen sind theoretisch zwar höchst ärgerlich, aber pragmatisch oft sehr hilfreich, weil dadurch das ganze System eine große Gebrauchsflexibilität bekommt und gewährleistet, auch spezifischen Sinnnuancen Ausdruck geben zu können. Ein anderes Beispiel für die funktionale Flexibilität organisch gewachsener Ordnungen bildet der unterschiedliche Gebrauch der beiden subordinierenden Kausalkonjunktionen weil und da. Auf den ersten Blick scheint hier ein überflüssiger Luxus der Sprache vorzuliegen, weil beide Konjunktionen scheinbar dieselben Informationsleistungen erbringen. Ein genauerer, historisch orientierter Blick ergibt dann allerdings ein etwas anderes Bild. Wenn man nämlich berücksichtigt, dass sich das Phänomen Kausalität als empirische Seinskategorie kaum legitimieren lässt und wohl eher als eine pragmatisch brauchbare Denkkategorie zu werten ist, dann wird man nämlich für ganz andere Ordnungszusammenhänge sensibel. Nicht ohne Grund hat ja auch Hume die Kausalitätsvorstellung und damit natürlich auch die sprachlichen Formen, mit denen wir uns Kausalität objektivieren, auf ein spezifisches Bedürfnis des menschlichen Denkens nach der Objektivierung und Spezifizierung von Bedingungszusammenhängen zurückgeführt. In dieser Betrachtungsperspektive wird für uns dann der sprachhistorische Umstand interessant, dass die Konjunktion weil etymologisch auf den mhd. Ausdruck dî wîle zurückgeht, der ursprünglich dazu diente, die zeitliche Nähe zwischen zwei Ereignissen bzw. Sachverhalten zu kennzeichnen. Dagegen geht die Konjunktion da wohl auf das mhd. Lokaladverb dâ zurück, mit dem die örtliche Nähe zwischen zwei Ereignissen bzw. Sachverhalten hervorgehoben werden konnte. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsgeschichte lässt sich nun das unterschiedliche Funktionsspektrum der beiden Kausalkonjunktionen besser beschreiben als ohne dieses etymologische Wissen. Heute dient uns die Konjunktion weil im Prinzip nämlich dazu, zwei Ereignisse bzw. Sachverhalte kausal so miteinander in Beziehung zu setzen, dass im Hauptsatz das Ergebnis und im Nebensatz die dafür verantwortliche Ursache genannt wird (Die Straße ist nass, weil es geregnet hat.). Dagegen verwenden wir die Konjunktion da meist in Nebensätzen, die keine sachlogische Begründung im strengen Sinne liefern wollen, sondern eher dazu auffordern, etwas im Kontext einer bestimmten Situation oder Vorgeschichte wahrzunehmen. Deshalb werden solche Nebensätze auch meist den jeweiligen Hauptsätzen vorangestellt, insofern sie eigentlich nur ein bestimmtes Wissen rekapitulieren sollen (Da es geregnet hat, ist die Straße nass.). Das bedeutet stilistisch, dass im heutigen Sprachgebrauch der Konjunktion weil eher eine Begründungsfunktion und der Konjunktion da eher eine Erläuterungsfunktion zugeschrieben werden kann, selbst wenn letztere auch in nachgestellten Nebensätzen verwendet wird.
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Die Sprache als Organismus
Im gegenwärtigen mündlichen Sprachgebrauch scheint sich noch eine andere sinnbildende Funktionsrolle der Konjunktion weil auszuformen, die systemtheoretisch höchst merkwürdig, aber pragmatisch vielleicht durchaus nützlich ist. Das zeigt sich darin, dass die eigentlich subordinierende Konjunktion weil syntaktisch wie eine koordinierende Konjunktion mit Verbzweitstellung verwendet wird. Dabei ist allerdings zu beachten, dass nach ihrer Nennung im Unterschied zu ihrem üblichen Gebrauch meist eine kleine Sprechpause eingeschoben wird (Zu dem Unfall kam es, weil – der Fahrer war betrunken.). Informationslogisch betrachtet bedeutet diese Nutzung der Konjunktion weil, dass sie in diesem Fall eher als Indikator für einen psychologisch motivierten begründenden Sprechakt des jeweiligen Sprechers verwendet wird als für die Thematisierung einer objektiven Geschehensursache. Formalisierte Fachsprachen haben für die semantischen Nuancen sprachlicher Formen, die sich aus deren individueller Evolutionsgeschichte ergeben, keine Sensibilität. Sie konzentrieren sich außerdem im Prinzip auf den Inhaltsaspekt der Kommunikation und versuchen, den Beziehungsaspekt konsequent auszuklammern bzw. alle semantischen Aspekte, die mit der Interpretation und Wertung von Inhalten aus subjektiver Sicht zu tun haben. Sie favorisieren konsequent durchstrukturierte grammatische und lexikalische Systeme ohne evolutionär bedingte Inkonsequenzen und Besonderheiten. Die aus der Wachstumsgeschichte sprachlicher Formen resultierenden Vagheiten, Inkonsequenzen und Doppeldeutigkeiten von Organisationszusammenhängen in der natürlichen Sprache sind pragmatisch gesehen aber keineswegs ein absoluter Nachteil. Diese Eigentümlichkeiten können nämlich zu einem Vorteil werden, wenn zugleich auf unterschiedlichen Ebenen kommuniziert werden soll, wenn Sachverhalte zu versprachlichen sind, für die es noch keine konventionalisierten sprachlichen Objektivierungsformen gibt, oder wenn die Sprache weniger dazu benutzt wird, abschließende Behauptungen aufzustellen, sondern eher dazu, etwas anzudeuten und bestimmte Assoziationszusammenhänge zu eröffnen. Fachsprachen, seien sie nun gewachsen oder konstruiert, können optimal auf ganz bestimmte kognitive und informative Bedürfnisse abgestimmt sein. Sie ähneln dann Organismen, die optimal an bestimmte ökologische Nischen angepasst sind. Sie können aber ebenso wie gut angepasste Organismen in größte Schwierigkeiten kommen, wenn sich die Rahmenbedingungen für diese Lebenssphären ändern oder wenn ganz neue Funktionsanforderungen aktuell werden. Die natürlichen Sprachen, die nicht optimal auf ganz spezifische Funktionen abgestimmt sind, können ebenso wie unspezialisierte Organismen in sehr unterschiedlichen ökologischen Nischen leben und überleben. Sprachformen mit großer semantischer Trenn- und Informationsschärfe werden immer dann problematisch, wenn diese Angepasstheit an bestimmte Funktionen nicht mehr gefragt ist oder wenn sie gar zu einem Gebrauchsnachteil wird. Ebenso wie eine Pflanze nur dort weiterwachsen kann, wo sie noch weich ist, so wächst auch die Sprache nur dort weiter, wo sie noch nicht konventionell verholzt ist.
VI
Die Sprache als Weg
Die Vorstellung Weg bzw. verwandte Vorstellungen wie Spur, Pfad, Geleise, Bahn, Brücke, Leitfaden usw. verwenden wir ganz selbstverständlich, wenn wir uns die Voraussetzungen, die Zielsetzungen und die Verfahrensweisen des Denkens sinnbildlich zu veranschaulichen versuchen. Wir stellen uns vor, dass das Denken vorgebahnten Wegen folgt, sich neue Wege sucht, vom rechten Weg abkommt, am Scheideweg steht, Umwege macht, einen Königsweg findet, auf Holzwege gerät, in Sackgassen endet, sich Brücken und Eselsbrücken baut oder in eine Aporie bzw. eine Weg- und Brückenlosigkeit gerät. Denkwege können als ausgetreten oder als neu, als berechenbar oder als unberechenbar sowie als langweilig oder als inspirierend in Erscheinung treten. Sie können vorab gegeben sein oder sich erst durch die Schritte konstituieren, die man tatsächlich in einem bestimmten Gelände macht. Erst wenn man einen Weg faktisch gegangen ist, weiß man, ob er zu dem angestrebten Ziel geführt hat oder nicht bzw. zu etwas gar nicht Angestrebtem. Wege sind im Prinzip Phänomene von großer anthropologischer Bedeutsamkeit. Tiere haben Trampelpfade, aber eigentlich keine Wege, durch die sie willentlich die Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Orten bzw. Sphären herstellen und durch die sie etwas als getrennt, aber doch auch als zusammengehörig erleben können. Wege haben immer kognitive Implikationen, insofern sie sich auch als Methoden ansehen lassen, menschliche Lebens- und Wahrnehmungswelten auszuweiten. Die Veranschaulichung kognitiver Aktivitäten durch das Sinnbild des Weges legt natürlich auch nahe, dieses Vorstellungsbild zur sinnbildlichen Veranschaulichung der Funktionen von Sprache zu verwenden, da ja auch die Sprache als eine genuine Form der Aneignung von Fremdem anzusehen ist, die sogar alle anderen menschlichen Aneignungsformen von Welt überwölbt und strukturiert. Deshalb ist es sicherlich sinnvoll, sich zunächst phänomenologisch Rechenschaft über unserer Verständnis von Wegen abzulegen, bevor man näher auf die heuristischen Sinnbildfunktionen unserer Wegvorstellungen für die Erschließung von Sprache eingeht und sich die Frage stellt, ob über dieses Sinnbild etwas gefunden oder erfunden wird.
1. Wahrnehmungsweisen für Wege Der Gegenstandsbereich, auf den wir mit dem Terminus Weg Bezug nehmen, ist so aspektreich und vielschichtig, dass es schwer fällt, ihn phänomenologisch und begrifflich zu erfassen. Da sich in unseren Wegvorstellungen physi-
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Die Sprache als Weg
sche und kulturelle, strukturelle und funktionelle, sachliche und emotionale, aktuelle und historische Komponenten auf eine kaum zu entwirrende Weise verschlingen, kann man sich fragen, ob es überhaupt möglich ist, ein allgemeines und in sich konsistentes Konzept von Wegen zu entwickeln. Gleichwohl spricht viel dafür, die verschiedenen Erfahrungsmöglichkeiten von Wegen doch als so zusammengehörig zu betrachten, dass es sich lohnt, so etwas wie eine Phänomenologie des Weges zu entwickeln, um das Sinnbild des Weges nicht nur suggestiv, sondern auch argumentativ zur Erschließung des Phänomens Sprache verwenden zu können.
Sprachliche Objektivierungen von Wegvorstellungen Wie wichtig Wegvorstellungen für die räumliche und kognitive Weltorientierung des Menschen sind, dokumentiert sich in der Vielfalt der sprachlichen Objektivierung von konkreten Wegvorstellungen. Diesbezüglich lässt sich insbesondere auf dreierlei aufmerksam machen. Erstens bildet der Begriff Weg den Zentralbegriff für ein ganzes Begriffsfeld, in dem der Wegbegriff paradoxerweise sowohl als ein zusammenfassender Oberbegriff für alle Wegformen dient als auch in Opposition zu anderen Begriffen als ein spezifizierender Unterbegriff (Weg, Straße, Pfad, Allee, Spur, Bahn usw.). Diese Doppelfunktion ist logisch ärgerlich, aber pragmatisch zu bewältigen, weil wir die aktuelle Bedeutung des Wortes Weg kontextuell präzisieren können. Zweitens hat sich über Kompositabildungen ein stabiles Wortfeld im engeren Sinne ergeben, insofern unterschiedliche Bestimmungsbegriffe das Grundwort präzisiert haben (Rückweg, Heimweg, Waldweg, Scheideweg, Umweg, Ausweg usw.). Eine ähnliche Spezifizierung unserer Wegvorstellungen dokumentiert sich auch darin, dass wir das Wort Weg als Bestimmungsbegriff für unterschiedliche Grundbegriffe benutzen können (Wegweiser, Wegbau, Wegstrecke, Weggenosse usw.). Drittens haben sich über bestimmte metaphorische und phraseologische Redeweisen bestimmte Wegvorstellungen konkretisiert, die unser faktisches und unserer metaphorisches Wegverständnis nachhaltig geprägt haben (rechter Weg, den Weg ebnen, krumme Wege gehen, den Weg verlieren, jemandem nicht über den Weg trauen, den Weg allen Fleisches gehen, der Weg ist das Ziel usw.). Die sehr unterschiedlichen Verwendungsweisen des Wortes Weg machen deutlich, dass unsere Vorstellung von Wegen sowohl von deren physischer Gegenständlichkeit als auch von deren pragmatischer Funktionalität als auch von deren emotionaler Wertschätzung geprägt sein kann. Dadurch gewinnt dann auch unsere allgemeine Wegvorstellung ein sehr komplexes Relief. Das wird auch noch dadurch unterstützt, dass vielfältige Ableitungen von dem Substantiv Weg entwickelt worden sind, so dass sich um dieses Grundwort gleichsam eine ganze Wortfamilie gebildet hat (Bewegung, bewegen, beweglich, verwegen usw.). All diese Ableitungen machen deutlich, dass Wegvor-
Wahrnehmungsweisen für Wege
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stellungen immer eine dynamische Komponente haben bzw. natürliche Beziehungen zu Bewegungs- und Handlungsvorstellungen. Selbst wenn wir uns einen Weg als einen physisch fassbaren und begehbaren Weg zwischen zwei konkreten Orten vorstellen und nicht als eine geistige Verbindungslinie zwischen zwei unterschiedlichen Welten, so wird doch deutlich, dass Wege prinzipiell dazu da sind, begangen bzw. genutzt zu werden. Wegvorstellungen verarmen, wenn wir aus ihnen alle Funktions- und Intentionsaspekte eliminieren. Wege haben immer etwas mit menschlichen Orientierungs- und Bahnungsanstrengungen in physischen und geistigen Räumen zu tun, die diesbezüglich oft einen ganz bestimmten, aber nicht unüberwindbaren Widerstand leisten. Wege sind so gesehen einerseits physische Phänomene, die eine gewisse Konsistenz aufweisen müssen, um bestimmten Zwecken dienlich sein zu können, aber andererseits auch geistige Phänomene, die eine gewisse Variationsfähigkeit haben müssen, um etwas zu verbinden, was auch getrennt voneinander existieren kann. Diese dialektische Spannung in unseren Wegvorstellungen ist eine wichtige Grundlage für ihre sinnbildlichen Nutzungsmöglichkeiten.
Physische Aspekte von Wegvorstellungen Sowohl natürlich gegebene als auch artifiziell hergestellte Wege müssen eine physische Konsistenz und eine sinnlich fassbare Erscheinungsweise haben, um als Wege dienlich sein zu können. Sie müssen begehbar oder befahrbar sein. Sie müssen sichtbar sein, um nicht von ihnen abzukommen. Sie müssen eine Zielorientierung haben, aber sie müssen nicht unbedingt gradlinig sein. Sie müssen dem jeweiligen Gelände und den jeweiligen Funktionen angepasst sein oder angepasst werden können. Die kürzesten Wege sind nicht immer die besten Wege, sondern diejenigen Wege, die einen guten Kompromiss zwischen den pragmatischen Ansprüchen der Menschen und den Bedingungen der Natur für eine mögliche Wegführung darstellen. Deshalb sind Wege einerseits als Werke der Menschen anzusehen, aber andererseits auch als Bestandteile der Natur, da sie sich weder gegen die konkreten Zwecksetzungen der Menschen noch gegen die Natur konkretisieren lassen. Der Grad der menschlichen Einflussnahme auf die Anlage und die Konsistenz von Wegen kann so groß werden, dass sie zu rein artifiziellen Wegen werden bzw. zu befestigten Straßen, die durch Brücken und Tunnel ihre Bindung an natürliche Vorgegebenheiten immer mehr zu verleugnen versuchen. Auf diese Weise erleichtern sie die Bewegungsmöglichkeiten der Menschen nicht nur, sondern regen diese sogar noch an. All diese Tendenzen und Motive zur Optimierung von physischen Wegen haben in der Sprache ihre Parallele. Die morphologische Konsistenz und Linienführung der natürlichen Sprache lässt sich durch äußere Eingriffe verändern und für bestimmte Zwecke optimieren, was die Ausbildung von formalisierten Fachsprachen sehr deutlich dokumentiert. Ebenso wie man das physische Wegenetz im Laufe der Zeit
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Die Sprache als Weg
immer differenzierter ausgestaltet hat, so hat man auch das sprachliche Wegenetz im Laufe der Zeit immer differenzierter und stringenter ausgeformt und neuen Bedürfnissen angepasst. Ähnlich wie sich bei Wegen keine scharfe Trennlinie zwischen natürlich gewachsenen und artifiziell hergestellten Wegen ziehen lässt, so lässt sich auch keine scharfe Trennlinie zwischen natürlich gewachsenen und artifiziell hergestellten oder regulierten Sprachen ziehen. Der Terminus Weg kann sowohl dazu benutzt werden, einen umfangreichen Globalbegriff zu bezeichnen, unter den alle möglichen Verbindungslinien zwischen zwei unterschiedlichen Orten bzw. Sphären fallen, als auch dazu, einen Spezialbegriff zu bezeichnen, welcher feldmäßig gesehen in einer Opposition zu anderen Spezialbegriffen (Straße, Pfad, Allee usw.) steht. Ebenso kann auch der Terminus Sprache dazu verwendet werden einen umfangreichen Globalbegriff zu bezeichnen, unter den alle Zeichensysteme fallen, als auch dazu, einen Spezialbegriff zu bezeichnen, der verbale Zeichensysteme in Opposition zu anderen benennt. Die physischen Wegenetze eines bewohnten Raumes und die sprachlichen Wegenetze einer lebendigen Kultur weisen beide wegen ihrer evolutionären Entstehungsgeschichte eine hohe morphologische und funktionale Komplexität auf. Diese lässt sich begrifflich nicht immer befriedigend erfassen, aber sie lässt sich im praktischen Gebrauch durchaus befriedigend nutzen. Ebenso wie sich für den zweckdienlichen Gebrauch von Wegen und Wegformen kulturgeschichtlich gleichsam ein sechster Sinn herausgebildet hat, so ist das auch für den zweckdienlichen Gebrauch von Sprache und Sprachformen geschehen. Dieses praktische Gebrauchswissen von Sprache bezeichnen wir meist als Sprachgefühl. Es steuert unseren Sprachgebrauch und unser Sprachverstehen recht wirksam, aber lässt sich schwerlich begrifflich und theoretisch durchstrukturiert objektivieren. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Sprache durch ihre praktische Nutzung auch ständig verändert wird, was ganz analog auch von Wegen gilt. Wie aber soll ein Sachverhalt theoretisch auf den Begriff gebracht werden, der sich im alltäglichen Gebrauch ständig chamäleonsartig verändert? Das lässt sich vielleicht ganz gut an der Entstehungs- und Funktionsgeschichte von Spuren erläutern. Wenn sich Lebewesen in der Natur bewegen, dann hinterlassen sie zwangsläufig Spuren, die als Indices sowohl auf diese Lebewesen selbst verweisen als auch auf deren bevorzugte Bewegungsrichtungen und Bewegungsmöglichkeiten. Wenn Lebewesen bzw. Menschen einer brauchbaren Spur immer wieder folgen, dann entsteht daraus ein Pfad, dann ein Weg und schließlich durch mögliche artifizielle Eingriffe vielleicht eine Straße. Ganz ähnliche Verhältnisse haben wir auch in der Sprache. Aus nützlichen Lautverwendungen bzw. Lautspuren können im Lauf der Zeit sehr brauchbare Kognitions- und Kommunikationswege entstehen. Wenn alle dem gleichen Gebrauch von bestimmten Lauten folgen, dann kann sich daraus morphologisch und semantisch allmählich eine für den ständigen Gebrauch funktionsfähige Verbalsprache ausbilden.
Wahrnehmungsweisen für Wege
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Funktionale Aspekte von Wegvorstellungen Die Überlegungen zur Genese von physischen Wegen haben verdeutlicht, dass unsere Wegvorstellungen im hohen Maße durch pragmatische Aspekte und Implikationen geprägt sind. Wege haben für uns immer eine Erschließungsfunktion für geographische, soziale und geistige Räume. Außerdem sind sie generell dazu bestimmt, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen.1 Aus diesem Grunde haben Wege bzw. Wegbildungen aller Art auch eine fundamentale anthropologische und kulturgeschichtliche Bedeutsamkeit. Welten, die durch Wege gut miteinander verbunden sind, haben für uns prinzipiell eine andere Struktur und einen anderen Wert als Welten, die nicht oder nur rudimentär mit anderen vernetzt sind. Deshalb liegt es auch recht nahe, das Sinnbild des Weges für die Vernetzungs- bzw. die Korrelationsfunktionen der Sprache in Anspruch zu nehmen. Wie sehr unsere Wegvorstellungen pragmatisch geprägt sind, dokumentieren die vielen Komposita, bei denen der Grundbegriff Weg durch sehr unterschiedliche Bestimmungsbegriffe näher determiniert wird, die uns Hinweise auf den Zweck und die Struktur von Wegen geben (Fußweg, Privatweg, Seeweg usw.). Ähnliches gilt auch für die adjektivischen Attribute, die üblicherweise auf das Wort bzw. den Begriff Weg bezogen werden. Diese können sowohl die physische Beschaffenheit von Wegen (ebener Weg, steiniger Weg, gerader Weg) als auch die soziale Funktion von Wegen (freier Weg, verbotener Weg, öffentlicher Weg) qualifizieren. Auch in phraseologischen Wendungen mit sinnbildlichen Implikationen wird sehr häufig auf die funktionalen Aspekte von Wegen Bezug genommen (seinen Weg gehen, sich auf den Weg machen, sich auf halbem Wege treffen, aus dem Weg räumen, im Wege stehen usw.). Gerade in solchen Redewendungen lässt sich das Wort Weg nicht durch Straße ersetzen, weil letzteres eher auf die physische Konsistenz als auf die pragmatische Funktion einer Verbindungsvorstellung aufmerksam macht. Gerade wenn man Wegvorstellungen sinnbildlich zu nutzen versucht, stehen funktionale bzw. pragmatische Aspekte von Wegen im Vordergrund des Interesses, weil diese sich auch leichter mit Emotionen verbinden lassen (vom rechten Weg abkommen, krumme Wege gehen, seinen letzten Weg gehen usw.). Zur funktionalen Vorstellung von Wegen gehört weiterhin, dass man sie in seine eigenen Aktivitäten einbezieht, sei es, dass man auf ihnen ein bestimmtes Ziel erreichen will, sei es, dass man sie als Erfahrungsmöglichkeiten genießt, sei es, dass man sich über sie etwas zugänglich macht, was einem ansonsten gänzlich verschlossen bleibt. Deshalb haben die Begriffe Reise und Grenze auch für die phänomenologische Beschreibung von Wegen eine ganz fundamentale Bedeutsamkeit. Wege laden nämlich immer dazu ein, den jeweils gegebenen Lebens- und Erfahrungsraum zu Gunsten von anderen zu verlassen.
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Vgl. G. Simmel, Brücke und Tür, Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 55 ff.
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Die Sprache als Weg
Reisen sind so gesehen nicht nur Reisen zu anderen Orten, sondern beinhalten zugleich auch die Notwendigkeit, im Rahmen von neuen Erfahrungen alte Erfahrungen anders als bisher zu bewerten. Eine Reise zu machen, bedeutet nicht nur, seinen räumliche Sehepunkt für die Welt zu verändern, sondern auch seinen geistigen. Jede Reise macht es erforderlich, sein Handeln (vita activa) und sein Denken (vita contemplativa) neu auszubalancieren.2 Auf Reisen nimmt der Mensch nicht nur die Welt anders wahr als üblich, sondern auch sich selbst, weil er seine Einzelwahrnehmungen auf andere Art miteinander vernetzen und auf sich selbst zuordnen muss als vorher. Es entwickeln sich andere Bewertungs- und Korrekturverfahren für vorhandenes und neu erworbenes Wissen, insofern den neuen Erfahrungen andere Formen von Leibgebundenheit und Relevanz zu Grunde liegen als den alten. Phänomene werden auf Reisen eher als wandelbare Relata denn als unveränderliche Wesenheiten wahrgenommen. Für den Reisenden ist die ständige Erweiterung, Neuorientierung und Umstrukturierung seiner Vorstellungswelt einerseits eine Belastung, weil er vertraute Sehweisen und Weltinterpretationen aufgeben muss, aber andererseits auch ein inspirierendes Ereignis, weil er auch etwas wahrnehmen kann, was vorher für ihn oft noch gar nicht existiert hat. Durch das Reisen bzw. durch die Nutzung von Wegen wird das Verhältnis von Objektsphäre und Subjektsphäre entscheidend verändert, da Grenzen und das Problem der Grenzziehungen ganz anders in Erscheinung treten als vorher. Grenzen lassen sich phänomenologisch nicht leicht beschreiben, weil sie einen ausgeprägten dialektischen Grundcharakter haben. Wie schon im Organismuskapitel hervorgehoben worden ist, braucht jeder Organismus einerseits Grenzen, um sich von seiner Umwelt abzugrenzen und seine Identität auszuprägen. Andererseits muss er aber auch ständig Grenzen transzendieren, um sich entfalten und mit seiner Umwelt flexibel vernetzen zu können. Das Merkwürdige an Grenzen ist, dass sie sich eigentlich nie aufheben, sondern allenfalls verschieben lassen. Jede erfolgreiche Grenzüberschreitung lässt nämlich neue Grenzen in Erscheinung treten bzw. bedingt die Notwendigkeit, sich selbst neue Grenzen zu setzen. Aktivitäten, die sich nur auf die Ziehung von Grenzen konzentrieren, beschwören immer die Gefahr herauf, die Erstarrung von bestimmten Lebensformen fördern. Aktivitäten, die sich nur auf die Aufhebung von Grenzen konzentrieren, können dagegen dazu beitragen, dass Lebensformen gestaltlos werden. Leben konstituiert sich so gesehen im Prozess der Bildung und Überwindung von Grenzen. Grenzen haben immer einen gewissen Aufforderungscharakter, insofern sie sowohl dazu einladen, sie aus Mut zum Wagnis oder wegen einer Einladung von außen zu überschreiten, als auch dazu, sie als schützende Abgrenzungen auszubilden und zu respektieren. Als Scheidelinien
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Vgl. Ch. Schildknecht, Reisen, in: R. Konersmann (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 2007, S. 301–311.
Wahrnehmungsweisen für Wege
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gehören Grenzen weder zu den jeweiligen Objektwelten noch zu den jeweiligen Subjektwelten, weil sie diese ja gerade konstituieren und miteinander in Beziehung setzen sollen.
Wege als Denkwege Die Überlegungen zur Form und Funktion von Wegen bzw. zu den Implikationen des Reisens und zu dem Umgang mit Grenzen haben vielleicht plausibel gemacht, warum der Vorstellung eines Weges so leicht die Funktion eines Sinnbildes zuwachsen konnte bzw. warum wir ganz selbstverständlich von Denkwegen und Lebenswegen sprechen können. Die Analogisierung des Denkens und Lebens mit der Formung und der Nutzung von Wegen wird heute wohl kaum noch als eine heuristische Hypothese verstanden, sondern eher als eine begriffliche Sachbeschreibung, deren metaphorische Herkunft man sich erst nachträglich bewusst machen kann. Das lässt sich auch sehr schön an den beiden Termini Theorie und Methode demonstrieren, die heute aus dem begrifflichen Denken gar nicht mehr wegzudenken sind, die aber ursprünglich sehr eng mit konkreten Weg- bzw. Reisevorstellungen verknüpft waren. Wie schon anfangs in dem Kapitel über die Funktion sinnbildlicher Redeformen erwähnt worden ist, hat der griechische Terminus theoria eine sakrale Herkunft. Er diente nämlich ursprünglich dazu, die Schau des Göttlichen bei einem religiösen Fest zu bezeichnen. Diese Schau war nur dann möglich, wenn der Schauende sich vorher aus den Rahmenbedingungen bzw. aus den Fesseln seines alltäglichen Lebens gelöst hatte und eine Reise zu einem heiligen Ort unternommen hatte, wo sich ihm dann die Chance eröffnete, ganz neuartige Erfahrungen machen zu können.3 Der Terminus theoria war deshalb dazu bestimmt, auf solche Inhalte zu verweisen, die nicht im Kontext der alltäglichen Lebenserfahrungen zugänglich waren, sondern die sich nur einstellten, wenn man sich durch eine Reise örtlich und geistig in eine neue Wahrnehmungsposition gebracht hatte. Diese Grundüberzeugung, dass man bestimmte Einsichten nur dann gewinnen kann, wenn man sich vorher schon irgendwie selbst bewegt hat, hat insbesondere das mystische und religiöse Denken zu allen Zeiten tief geprägt, aber keineswegs nur dieses. Im Laufe der Zeit hat sich der Terminus theoria dann mehr und mehr säkularisiert. Herodot diente er schon dazu, dasjenige Wissen zu bezeichnen, das einen befähigte, Reiseeindrücke nicht nur vordergründig aufzunehmen, sondern auch hintergründig und untergründig zu verstehen. Trotz seiner zunehmenden Säkularisierung zielte der Terminus aber im Prinzip auch weiterhin immer darauf ab, profanes oder triviales Wissen von einem qualitativ höher-
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Vgl. H. Rausch. Theoria, von ihrer sakralen zur philosophischen Bedeutung 1982, S. 9 ff., 35 f., 42 ff., 149 ff.
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Die Sprache als Weg
wertigen Wissen abzugrenzen, das dann mehr und mehr als wissenschaftliches Wissen angesehen wurde. Dieses Wissen hat Aristoteles dann ausdrücklich von dem praktischen und dem poetischen Wissen unterschieden. Das theoretische Wissen wurde im Laufe der Zeit zunehmend als ein Wissen verstanden, das einerseits Zugang zu einer Realitätsebene ermöglichte, die den Sinnen nicht direkt zugänglich war, und andererseits als ein Wissen, das dazu dienlich war, die alltägliche Welt im Handeln besser zu beherrschen. In vergleichbarer Weise wurde mit dem Terminus bzw. dem Begriff Methode ursprünglich der Weg zu einem ganz bestimmten Inhalt bezeichnet (meta = hin, nach, hinter; hodos = Weg). Methoden sollten dementsprechend der planmäßigen Beantwortung von Fragen bzw. der planmäßigen Lösung von Problemen dienen. Als Methode konnte dann beispielsweise in Platons Höhlengleichnis das Verfahren angesehen werden, einem Gefangenen durch planmäßig aufeinander folgende Entfesselungen zu einer verlässlicheren Form von Wissen zu verhelfen, also einen Weg zu eröffnen, auf dem er von einer bloßen Meinung (doxa) zu einem wirklichen Wissen (episteme) vorstoßen konnte. Im Lauf der Philosophiegeschichte hat es dann einen lebhaften Streit darüber gegeben, ob man beim Erwerb verlässlichen Wissens auf einen Methodenmonismus setzen sollte (Descartes) oder auf einen Methodenpluralismus (Vico). Wenn heute von einer analytischen und einer synthetischen, einer deduktiven und einer induktiven, von einer axiomatischen und einer hermeneutischen oder von einer empirischen und einer spekulativen Methode gesprochen wird, dann werden damit sehr unterschiedliche Wege zum Wissenserwerb bezeichnet, denen zugleich meist auch ein ganz unterschiedlicher Wert zugeschrieben wird. Grundsätzlich ist man sich aber in der Grundauffassung einig, dass der Inhalt, die Form und die Relevanz von Wissen nicht losgelöst von seiner Genese bzw. von den Wegen zu seiner Objektivierung qualifiziert werden sollte. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass im Mittelalter das Studium der sieben freien Künste (septem artes liberales), welches als orientierendes Grundstudium dem eigentlichen Fachstudium der Theologie der Jurisprudenz und der Medizin vorgeordnet war, explizit mit der Vorstellung von Wegen in Zusammenhang gebracht worden ist. Dieses propädeutische Grundstudium der sieben freien Künste wurde nämlich in den Dreiweg (trivium) unterteilt, der Grammatik, Logik und Rhetorik beinhaltete, und den Vierweg (quadrivium), der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie umfasste. Während sich das Trivium auf die sprachlichen und begrifflichen Implikationen des Wissenserwerbs und der Wissensvermittlung konzentrierte, war das Quadrivium insbesondere dazu bestimmt, die Grundlagen des Relationszusammenhangs von einzelnen Wissensinhalten zu thematisieren.4
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Vgl. D. Westkamp, Weg, in: R. Konersmann, Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 2007, S. 530
Formen sprachlicher Wegbildungen
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2. Formen sprachlicher Wegbildungen Wenn man das Denken als eine Aktivitätsform versteht, in der es darum geht, Wege zur Erschließung realer und geistiger Welten auszubilden und diese Wegenetze übersichtlich zu strukturieren, dann liegt es nahe, die Ausbildung von Sprachformen als Manifestationen eines kulturellen Wegebaus zu verstehen. Das Spektrum sprachlicher Wege kann dabei von einfachen lexikalischen und grammatischen Mustern über komplexe Satz- und Textmuster bis zu Textund Kommunikationsmuster reichen. Deshalb hat ja auch Cassirer nachdrücklich betont, dass unser Weltverständnis grundlegend durch die Objektivierungsformen geprägt werde, die wir jeweils verwendeten. Die Besonderheit dieser symbolischen Objektivierungsformen (Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Wissenschaft) sieht er darin, dass sie keineswegs als bloße Abspiegelungen von Sachverhalten anzusehen seien, sondern dass sie vielmehr als sinnbildende Weg- und Handlungsformen verstanden werden müssten. „Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das ‚Sein’ ist hier nirgends anders als im ‚Tun’ erfassbar.“ 5 Jede Form der Ausbildung von sprachlichen Zeichen, Zeichentypen und Zeichenbildungsprinzipien kann zweifellos als eine Manifestation kulturellen Wege- und Brückenbaus verstanden werden. Im Prinzip ist die Sprache sicherlich die wichtigste kulturelle Vermittlungsform zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre, die die Menschen für die Realisierung ihrer geistigen und sozialen Bedürfnisse historisch entwickelt haben. Die Formen und Funktionen sprachlicher Wegbildungen sind sehr unterschiedlich und vielfältig. Sie reichen von der Ausbildung einfacher und komplexer Sprachmuster über die Ausbildung sprachlicher Formbildungsstrategien bis zur Ausbildung spezieller Funktionssprachen. In all diesen sprachlichen Wegbildungen manifestieren sich kulturelle Differenzierungsleistungen, die im Prinzip auch ganz anders hätten ausfallen können, was sich in der unterschiedlichen Baustruktur der einzelnen Sprachen auch sehr deutlich dokumentiert. Wenn sich dennoch große Ähnlichkeiten im Wegebau der einzelnen Sprachen zeigen, so liegt das daran, dass dabei aus anthropologischen Gründen jeweils sehr ähnliche pragmatische Aufgaben zu lösen waren. Die ursprünglichen Ansätze und Formen sprachlichen Wegebaus können wir kaum noch rekonstruieren, da wir bei unserem gegenwärtigen Spracherwerb immer schon ein ausgebautes sprachliches Wegenetz vorfinden, das wir eigentlich nur noch fortentwickeln und systematisieren können. Wenn man nun annimmt, dass es zwischen dem stammesgeschichtlichen bzw. phylogenetischen Spracherwerb einerseits und dem individuellen bzw. ontogenetischen Spracherwerb andererseits eine Analogie gibt, dann bietet sich die Chance, am
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E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 11.
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Beispiel des Spracherwerbs von Kindern den anfänglichen sprachlichen Wegebau des Menschengeschlechts teilweise zu rekonstruieren. Das betrifft dann insbesondere die Motive für die Bildung von sprachlichen Formen und die Abfolge von Formbildungsverfahren. Wenn man in dieser Weise Wege und Sprache mit Bühler als geformte Mittler betrachtet, dann muss man natürlich auch immer damit rechnen, dass man durch diese Medien nicht nur zu Zielen geführt werden kann, sondern auch in die Irre. Wittgenstein hat diese Ambivalenz sehr schön auf den Punkt gebracht. „Die Sprache hat für Alle die gleichen Fallen bereit; das ungeheure Netz gut gangbarer Irrwege.“ 6
Die Wegeimplikationen lexikalischer Grundformen Unstrittig ist sicherlich, dass die Grundfunktion sprachlicher und insbesondere lexikalischer Zeichen darin besteht, die Vielfalt und Komplexität empirischer Einzelerfahrungen durch Musterbildungen so zu vereinfachen und zu typisieren, dass Menschen dadurch eine sinnvolle Welterschließung, ein effektives Handeln, eine verlässliche Wissensspeicherung und ein intersubjektiv verständlicher Austausch von Informationen möglich wird. Im Hinblick auf diese Vereinfachungs- und Typisierungsanstrengungen kann es natürlich Streit darüber geben, wovon und wie dabei abstrahiert werden darf und ob es dabei um die sprachliche Abbildung von schwer zugänglichen Wesenheiten gehen soll oder um die Konstruktion pragmatisch brauchbarer Erschließungsperspektiven für mögliche Erfahrungsgegenstände. Im ersten Fall könnte man für die Veranschaulichung der sprachlichen Formbildungsanstrengungen dann auf das Sinnbild des Spiegels zurückgreifen und im zweiten Fall auf das des Weges. Allen Begriffsbildungen liegen Abstraktionsvorgänge zu Grunde, in denen einerseits von bestimmten Aspekten der jeweiligen Denkgegenstände abgesehen wird und in denen andererseits das Aufmerksamkeitsinteresse auf ganz bestimmte Einzelaspekte konzentriert wird. Unter Begriffen bzw. sprachlichen Mustern werden dann dingliche, strukturelle oder funktionelle Phänomene jeweils zu einer Klasse von Phänomenen zusammengefasst, die hinsichtlich bestimmter Eigenschaften bzw. Aspekte einander ähnlich sind, ähnlich erscheinen oder als ähnlich erscheinen sollen. Diese Argumentation impliziert, dass sich Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Erfahrungsphänomenen nicht einfach feststellen lassen, sondern dass sie Ergebnisse von Interpretationsprozessen sind, in denen über vereinfachende Denkmuster und sinnvolle Denkwege die Objektsphäre mit der Subjektsphäre vermittelt wird. Solange man Begriffe als außermentale Seinseinheiten im Sinne von platonische Ideen versteht, solange lässt sich das Sinnbild des Weges kaum in
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L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Werkausgabe, Bd. 8, S. 474.
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Anspruch nehmen, um die Aufgabe von Begriffen zu veranschaulichen. Wenn man aber Begriffe als pragmatisch motivierte Denkhypothesen versteht, dann liegt es nahe, das Sinnbild des Weges zur Veranschaulichung der Funktion von Begriffen heranzuziehen. Dann sind diese nämlich als heuristische Hypothesen, Methoden oder Wegbahnungen zu verstehen, mit denen man sich die faktische Welt durch die Reduktion von Komplexität zugänglich und beherrschbar machen kann. Während sich das antike Denken meist weitgehend darauf konzentrierte, Begriffe als vorgegebene Seinseinheiten bzw. als ewig gültige Klassenbegriffe freizulegen und genauer zu bestimmen, haben die Nominalisten im mittelalterlichen Universalienstreit die damals recht provokante These aufgestellt, dass Begriffe eigentlich menschliche Denkprodukte (entia rationis) seien, wenn nicht sogar menschliche Denkkonstrukte (res fictae), die nur für ganz bestimmte Erkenntniszwecke konzipiert würden. Begriffe hätten sich in ganz bestimmten Handlungszusammenhängen zu bewähren und könnten deshalb auch keinen allgemeinen Wahrheitsanspruch stellen. Allgemeine Begriffe (universalia) existieren so gesehen dann nicht wie platonische Ideen vor den empirisch fassbaren Einzelphänomenen (universalia ante res), sondern als zweckrationale Denkformen (intentiones animae) nur nach diesen (universalia post res).7 Diese ganze Problematik lässt sich sehr gut durch die Tatsache veranschaulichen, dass die einzelnen Sprachen die Grenzen für ihre Begriffsmuster jeweils ganz anders gezogen haben. So wird beispielsweise im Englischen ganz konsequent zwischen einer astronomischen Himmelsvorstellung (sky) und einer religiösen (heaven) unterschieden, während es im Deutschen lexikalisch gesehen gleichsam nur einen Einheitshimmel gibt. Dieser Mangel an Differenzierung kann dann bei Übersetzungen durchaus zu einem Problem werden. Das exemplifiziert sehr schön die sprachliche Objektivierung einer Pilotenweisheit, die sich kaum direkt und prägnant vom Englischen ins Deutsche übersetzen lässt: Watch the sky, heaven is near. Auf einer etwas anderen Ebene dokumentieren sich die wegbildenden methodischen Funktionen sprachlicher Muster bei der Ausbildung von Wortarten. Diese werden oft als natürliche Sprachmuster angesehen, die direkt mit bestimmten Seinsmuster korrespondierten. Substantive, Verben und Adjektive in der Welt der Sprache würden dann Substanzen, Prozessen und Eigenschaften in der Welt des Seins entsprechen. Ein genauerer Blick zeigt dann aber doch, dass Wortarten keineswegs direkt mit ontischen Seinseinheiten korrespondieren, sondern eher mit brauchbaren ontologischen Ordnungshypothesen. Nicht alle Sprachen und Sprachfamilien grenzen Wortarten semantisch, morphologisch und syntaktisch so scharf gegeneinander ab wie die indogermanischen Sprachen. Allerdings wird diese klare Abgrenzung dadurch wieder etwas relativiert, dass aus einem Wortstamm unterschiedliche Wortarten abge-
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Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 340 ff.
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leitet werden können, um bestimmte Erfahrungsphänomene aspektuell unterschiedlich zu erfassen (Wärme, wärmen, warm; Schmerz, schmerzen, schmerzhaft). Außerdem lässt sich beispielsweise im Deutschen im Gegensatz zum Lateinischen durch den Einsatz des bestimmten Artikels auch verhältnismäßig leicht ein Wortartwechsel bewerkstelligen, was eigentlich nicht toleriert werden dürfte, wenn man einzelnen Wortarten bestimmte ontische Seinstypen zuordnen müsste (laufen, das Laufen; wahr, das Wahre; nichts, das Nichts). Weiterhin muss man sich auch die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, sich bestimmte Erfahrungsbereiche mit Hilfe von Substantiven zu repräsentieren (Blitz, Welle) statt mit Hilfe von Verben, da wir es bei diesen Gegebenheiten nicht immer mit stabilen Substanzen zu tun haben, die über längere Zeit mit sich selbst identisch bleiben. Auch die ontogenetische und phylogenetische Entwicklungsgeschichte von Begriffsbildungsprozessen, auf die schon in dem Kapitel über die Leistung von Begriffen eingegangen worden ist, lässt sich mit dem Sinnbild des Weges gut veranschaulichen. Wenn Kinder sich die Welt zunächst über Handlungsmuster objektivieren (aktionale Repräsentation), dann über die Vorstellung von Prototypen (ikonische Repräsentation) und schließlich über variable Begriffe (symbolische bzw. konventionelle Repräsentation), dann sind das alles kognitive Verfahren, die als Erschließungswege für die Welt sicherlich ihr genuines anthropologisches Recht haben. Wenn man den letzten dieser Objektivierungswege geht, dann werden die früheren nicht überflüssig, sondern nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise ergänzt.8
Die Wegeimplikationen grammatischer Grundformen Im Hinblick auf die Ausbildung und Verwendung grammatischer Muster lässt sich das Sinnbild des Weges auf ganz unterschiedlichen Ebenen verwenden. Zum einen kann man sein Interesse darauf konzentrieren, wie sich über konkrete syntaktische Kombinationsverfahren aus einfachen sprachlichen Mustern komplexe herstellen lassen. Das lässt sich exemplarisch sehr gut an dem grammatischen Verfahren zur Bildung von Komposita demonstrieren. Zum andern kann man sein Interesse auf die Frage richten, warum alle Sprachen in ihrer historischen Entwicklung den Weg eingeschlagen haben, sowohl lexikalische als auch grammatische Ordnungsmuster bzw. Zeichen auszubilden. Die Kompositabildung ist ein Wortbildungsverfahren, bei dem das erste Wort als Bestimmungsbegriff das zweite Wort als Grundbegriff näher determiniert. Dadurch wird es möglich, aus der Kombination von zwei bekannten Wörtern ein neues herzustellen, das in der Regel spontan verständlich ist,
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Vgl. J. S. Bruner, Der Verlauf der kognitiven Entwicklung, in: D. Spanhel (Hrsg.), Schülersprache und Lernprozesse, 1973, S. 49–83. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 140 ff.
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selbst wenn man es bisher noch nie gehört hat (Fensterglas, weiterfahren, himmelhoch). Die konkrete Determination des zweiten Gliedes durch das erste bleibt bei Komposita zwar relativ offen, aber aus unserem allgemeinen Weltwissen ergeben sich in der Regel doch genügend Hilfen, um den realen Sachbezug des jeweiligen Kompositums adäquat zu verstehen (Eisverkäufer, Straßenverkäufer). Wegen ihrer impliziten Aussagestruktur sind deshalb Komposita zu Recht auch als durchsichtige Wörter bezeichnet worden, weil sie nicht nur etwas benennen, sondern zugleich auch irgendwie definitorisch zu bestimmen oder zu beschreiben versuchen. Bei der Bildung solch neuer Begriffsmuster haben die einzelnen Sprachen unterschiedliche morphologische Wege beschritten. Während im Deutschen die beiden Teilbegriffe gleichsam in einem synthetisierenden Verfahren zu einem neuen Begriff miteinander verschmelzen (Tischwein), ist es im Französischen zu einem eher analysierenden Verfahren gekommen, bei dem die Teilbegriffe durch die Verwendung von Präpositionen sehr viel stärker voneinander isoliert werden (vin de table). Auf ein ähnliches Verfahren treffen wir auch bei der Verwendung von Adjektivattributen. Im Deutschen wird das Adjektivattribut nämlich in der Regel seinem Bezugswort vorangestellt. Das hat wahrnehmungspsychologisch zur Folge, dass das jeweilige Adjektiv eine Denkperspektive eröffnet, die dann inhaltlich durch das jeweilige Bezugswort gefüllt wird. Da das adjektivische Attribut und das substantivische Bezugswort außerdem durch Flexionskongruenzen morphologisch eng miteinander verbunden werden, verschmelzen beide Einzelelemente leicht zu einer komplexen Gesamtvorstellung. Dagegen wird im Französischen das Adjektivattribut dem jeweiligen Bezugswort in der Regel nachgestellt. Das hat wahrnehmungspsychologisch zur Folge, dass es sehr viel weniger mit diesem semantisch verschmilzt und im Prinzip eher die Funktion übernimmt, eine Grundvorstellung nachträglich auf analytische Weise zu spezifizieren (das weiße Kaninchen – le lapin blanc). Daraus haben manche den Schluss gezogen, dass das Französische wegen dieser grammatischen Besonderheit die Disposition zu einem analysierenden Denken begünstige und das Deutsche zu einem synthetisierenden. Wenn man sich mit dem Problem der möglichen Vorbahnungen des Denkens durch sprachliche Ordnungsstrukturen beschäftigt, dann hat man sich natürlich auch mit den Motiven zu beschäftigen, die dazu geführt haben, in der Sprache sowohl lexikalische als auch grammatische Ordnungsmuster auszubilden. Die Entstehungsgeschichte dieser Wegbildung können wir heute natürlich nicht mehr direkt beobachten, aber aus systemtheoretischen Überlegungen und aus der Beobachtung beim Spracherwerb von Kindern können wir die Impulse und Motive für solche Wegbildungen doch recht gut rekonstruieren. Systemtheoretisch gesehen ergibt sich für alle komplexen Zeichensysteme die Notwendigkeit, Zeichen für Denkgegenstände und Zeichen für die möglichen Relationen zwischen den jeweiligen Denkgegenständen zu entwickeln. Deshalb hat Lambert mit Blick auf die Mathematik und komplexe Zeichensysteme schon im 18. Jahrhundert postuliert, dass es hier Zeichen für „Größen“
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und Zeichen für „Operationen“ geben müsse.9 In ganz ähnlicher Weise hat auch Humboldt im Hinblick auf die Sprache darauf verwiesen, dass es in ihr Wörter geben müsse, „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen.“ 10 Dieses Postulat Humboldts lässt sich auch so verstehen, dass es in einer Sprache einerseits autosemantische lexikalische Inhaltszeichen geben müsse, über die bestimmte Vorstellungsinhalte ins Bewusstsein gerufen werden können, und andererseits synsemantische grammatische Funktionszeichen, die uns Instruktionen darüber geben, welche syntaktischen Funktionsrollen die einzelnen Vorstellungsinhalte jeweils zu übernehmen haben, damit komplexe sprachliche Zeichen wie Satzglieder, Sätze und Texte entstehen können. Ebenso wie wir die Orte von den Wegen unterscheiden können, durch die sie untereinander verbunden sind, so können wir dann auch in Äußerungen die Basisinformationen von den Metainformationen unterscheiden, durch welche die Basisinformationen einen bestimmten Stellenwert in komplexen sprachlichen Ordnungsgestalten bekommen. Auf sehr prototypische Weise repräsentieren beispielsweise Konjunktionen die Klasse der grammatischen Zeichen, da sie metainformativ die Relation zwischen zwei Aussagen qualifizieren. Deswegen sind sie auch nicht als Bestandteile der durch sie verbundenen Einzelaussagen anzusehen, sondern als erläuternde Verbindungswege zwischen ihnen. Beim Spracherwerb von Kindern lässt sich sehr gut beobachten, wie sich der Gebrauch von Sprache von der Nutzung sogenannter Einwortsätze über die von Zweiwortsätzen und Mehrwortsätzen bis zu der von Satzgefügen ausdifferenziert. Während das Verständnis von Einwortäußerungen noch extrem kontextabhängig ist, gewinnen Mehrwortsätze eine immer größere semantische Autonomie, weil die einzelnen Äußerungsbestandteile einen bestimmten Stellenwert in einen Geflecht von Einzelinformationen bekommen. Die Gefahr von möglichen Missverständnissen wird dadurch drastisch reduziert. Diesen sprachlichen Entwicklungs- und Präzisierungsprozess konnte ich exemplarisch beim Spracherwerb meiner Tochter beobachten. Im Alter von knapp zwei Jahren stand sie einmal vor einem Schrank, dessen obere Tür ihr nicht zugänglich war. Nachdem sie mehrfach erfolglos mit der Hand auf die Tür gezeigt hatte, sagte sie in einem sehr herausfordernden Tone „haben“. Als ich ziemlich böswillig so tat, als ob ich nicht verstünde, was sie wollte, griff sie zu einer präzisierenden Zweiwortäußerung und sagte „Keks haben“. Als auch das nicht zum Erfolg führte, entwickelte sie die noch präzisere Variante „Elisabeth Keks haben“. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass der mangelnde kommunikative Handlungserfolg immanent dazu zwingt, komplexe Gesamtvorstellungen in
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J. H. Lambert, Neues Organon, 1764/1990, Bd. 2, § 54, S. 33. W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 438–439.
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Teilvorstellungen zu zerlegen und diese dann in eine ganz bestimmte Relation miteinander zu bringen. Dabei wird dann schon auf einer frühen Entwicklungsstufe zwischen einer Handlung und den jeweils beteiligten Handlungsobjekten und Handlungssubjekten unterschieden. Die Valenztheorie unterscheidet deshalb ja auch nicht zufällig zwischen der von Verb repräsentierten Handlungsvorstellung und den Mitspielern und Umständen der jeweils benannten Handlungsvorstellung. Nach und nach werden solche Funktionsrollen von Einzelvorstellungen in Spracherwerbsprozessen dann durch grammatische Zeichen immer eindeutiger markiert. Diese Grammatikalisierungsprozesse lassen sich sicherlich auch als Ausbauprozesse des grammatischen Wegenetzes einer Sprache bzw. einer individuellen Sprachkompetenz beschreiben. Durch den Gebrauch der Schrift wird dieser grammatische Ausbauprozess ganz entscheidend gefördert. Da sich beim schriftlichen Sprachgebrauch die situative Einbindung des Sprachgebrauchs entscheidend vermindert, müssen die jeweiligen sprachlichen Äußerungen semantisch immer autonomer werden. Wygotski hat deshalb die schriftlich gebrauchte Sprache auf eine erhellende Weise strukturell so charakterisiert: „Es ist eine auf maximale Verständlichkeit für andere Personen gerichtete Sprache. Alles muß darin bis zu Ende gesagt werden.“ 11
Die Ziele von Wegebildungen in den Wissenschaftssprachen Viele Sprachtheoretiker haben die begrifflichen Gegenstandsobjektivierungen und die grammatischen Interpretations- und Relationsformen der natürlichen Sprache als zu ungenau, als zu instabil und als zu zufällig angesehen. Sie böten dem Wahrnehmen und Denken keine verlässliche Grundlage und ermöglichten keinen präzisen Informationsaustausch. Deshalb ist dann auch immer wieder die Forderung erhoben worden, zumindest für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch regulierend in das System gewachsener sprachlicher Formen und sprachlicher Wegenetze einzugreifen. Schon die Grammatiker der Antike haben sich die Aufgabe gestellt, eine übersichtliche Systemordnung für das Griechische und Lateinische auszuarbeiten und regionale Absonderlichkeiten auszumerzen. Dabei gingen die sogenannten Analogisten von der Denkprämisse aus, dass in der Sprache im Prinzip eine ähnliche Harmonie, Symmetrie und Logik wie in der Natur herrsche, was nur erkannt und gepflegt werden müsse. Dagegen haben die sogenannten Anomalisten die These vertreten, dass es in der Sprache keine durchgehende Systemordnung bzw. Ratio gebe, weil alle sprachlichen Formen aus der Verfestigung von zufälligen Gewohnheiten resultierten. Ihre Einwände gegen die Ordnungshypothesen und Ordnungspostulate der Analogisten führten dann auf
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L. S. Wygotski, Denken und Sprechen, 19712, S. 227–228.
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eine höchst dialektische Weise dazu, dass diese ihre Systemtheorien immer mehr ausdifferenzierten und präzisierten, wodurch der Streit dann nach und nach einschlief, da er immer gegenstandsloser wurde. Die sich ausbreitende Schriftkultur führte außerdem dazu, dass schon aus pragmatischen Gründen eine überregionale Normierung der Sprache immer dringlicher wurde.12 Die Bemühungen, die Sprache für wissenschaftliche Zwecke als System von Größen und Relationen zu präzisieren, um mit ihr reale und geistige Räume zu erschließen, spiegeln sich auch in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bemühungen um eine wissenschaftliche Universalsprache wieder. Sowohl die Kombinationslehre (ars magna) von Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert als auch die universalsprachlichen Entwürfe von Dalgarno und Wilkins im 17. Jahrhundert zielten darauf ab, Kalkülsprachen zu entwickeln, mit deren Zeichen man ebenso regelhaft und verlässlich operieren konnte wie die Mathematik mit den Zahlen. Der junge Leibniz träumte von dem Ideal einer zu entwickelnden Wissenschaftssprache. Diese sollte Grundlage des kombinatorischen Denkens sein, zur methodischen Erzeugung von Wissen dienen und außerdem von der Bürde der empirischen Einzelforschung entlasten. All diese Bemühungen lebten von der Hoffnung, dass bei der Verwendung einer solchen Wissenschaftssprache Denkfehler sofort als Grammatikfehler ins Auge springen und dass Logikregeln unmittelbar als Sprachregeln in Erscheinung treten. Swift hat all diese Spekulationen über die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Idealsprache in seiner Satire über die Erkenntnismaschine an der Akademie von Lagado glänzend karikiert, mit der Gulliver auf seiner Reise nach Laputo Bekanntschaft macht. In Gestalt dieser Erkenntnismaschine hatten sich die Akademiemitglieder einen ganz besonderen Weg bzw. eine ganz spezifische Methode zum Erwerb von Wissen ausgedacht. Alle Wörter der Sprache waren auf kleinen Klötzchen notiert und konnten durch ein mechanisches Verfahren so miteinander korreliert werden, dass dadurch im Prinzip mehr oder weniger zufällig alle denkbaren Wortkombinationen bzw. alle denkbaren Sätze einer Sprache erzeugt werden konnten. Dabei hegte man die Hoffnung, dass die Erzeugung aller denkbaren Sätze eigentlich nichts anderes sei als die Erzeugung aller denkbaren Aussagen bzw. allen denkbaren Wissens.13 Im 20. Jahrhundert taucht das Konzept und Ideal einer exakten, realitätsnahen Wissenschaftssprache dann wieder beim frühen Wittgenstein und Carnap auf. Beide zogen ernsthaft in Betracht, durch sprachregulierende Maßnahmen die gegebene Sprache in Lexik und Grammatik so präzise ausgestalten zu können, dass bei ihrem regelgerechten Gebrauch dann im Prinzip auch gar
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Vgl. E. Siebenborn, Die Lehre von der Sprachrichtigkeit und ihre Kriterien, 1976, S. 118 ff. H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, 1890/912 / 1971/72, Bd. 1, S. 357 ff., Bd. 2, S. 121. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 18 ff. 13 J. Swift, Gullivers Reisen, 1975, III, Kap. 5, S. 260 ff. Vgl. auch W. Köller, Die Erkenntnismaschine von Lagado, in: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 250–284.
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nicht mehr falsch gedacht werden könne. Die Möglichkeit des Satzes beruht dabei für den frühen Wittgenstein „auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.“14 Bei diesem Bemühen geht er davon aus, dass die Elemente und die syntaktischen Relationen in der Sprache die Elemente und das Netz von Relationen in der Welt isomorph abbilden könnten. Der relationsstiftende und relationssuchende Mensch kommt in diesem Denkansatz allerdings nicht vor. „Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht.“ 15 Der Vorstellung, man könnte eine wissenschaftlich brauchbare Sprache dadurch konstituieren, dass man aus der jeweils gegebenen Sprache alle Scheinbegriffe eliminiert und ihre Syntax stringent nach den Prinzipien der Logik normiert, hat auch der frühe Carnap angehangen. Durch ein solches Verfahren glaubte er, die Sprache von allen metaphysischen Sätzen reinigen zu können, die für ihn zugleich auch immer illusionäre Scheinsätze sind.16 Unter einen allgemeinen Sinnlosigkeitsverdacht geraten für Carnap insbesondere diejenigen Begriffsbildungen, bei denen nicht angegeben werden kann, welche empirisch nachprüfbaren Eigenschaften Phänomene haben müssen, die unter sie fallen sollen. Das trifft für ihn beispielsweise für Begriffsbildungen zu, die mit folgenden Wörtern bezeichnet werden: die Idee, das Unbedingte, das Nichts. Diese Wörter repräsentieren für Carnap Scheinbegriffe ohne faktische Referenz in der Welt, deren Gebrauch dann auch zur Bildung von Scheinsätzen führt. Solche Sätze dienten nicht zur Darstellung von Sachverhalten, sondern allenfalls „zum Ausdruck des Lebensgefühls.“ 17 Das Ideal einer exakten Wissenschaftssprache macht es für Carnap erforderlich, das semantische Feld der Begriffe und das syntaktische Wegenetz einer Sprache stringenter zu regeln, als das in der natürlichen Sprache der Fall ist. Beispielsweise muss für ihn das Vokabular viel strenger nach Wortarten bzw. syntaktischen Funktionsklassen geordnet werden, um von vornherein bestimmte Wortkombinationen als ungrammatisch qualifizieren zu können. So rechnet Carnap beispielsweise die Worte Primzahl und Caesar bzw. Feldherr zu unterschiedlichen Wortarten mit je unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten. Das impliziert dann, dass der folgende Satz nicht nur unsinnig, sondern zugleich auch ungrammatisch wäre: „Caesar ist eine Primzahl“. Carnaps Sprachreinigungs- und Sprachnormierungsprogramm hat sich schon bald als unrealisierbar erwiesen, weil es auf ganz unrealistische Weise voraussetzt, dass sich Begriffe als faktische Seinsgegebenheiten normativ definieren ließen. Carnap hat nämlich ganz aus den Augen verloren, dass die Bedeutung von Wörtern Größen sind, die sich oft erst aus denjenigen Relatio-
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L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4. 0312, 19855, S. 37. L. Wittgenstein, a.a.O. , 5. 631, S. 90. 16 R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2, 1931, S. 219–241. 17 R. Carnap, a.a.O., S. 238. 15
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nen ergeben, in denen man sie vorfindet. Wenn man Carnaps Denkansatz folgte, dann wären alle metaphorischen bzw. sinnbildlichen Redeweisen von vornherein ungrammatisch und schon allein deswegen auch sinnlos. Damit wäre dann auch gleichzeitig die Chance vertan, durch den spielerischen Gebrauch von Wörtern neue Denkwege zu eröffnen bzw. sich Denkinhalte zu erschließen, die vorher gar nicht zu existieren schienen. Lichtenberg hat deshalb auch schon sehr hellsichtig betont, dass nur der Mut, auch ganz neue Wege zu gehen, letztlich den Fortschritt des Denkens garantieren könne. „Das Verbessern der eingeschlagenen Wege ist es, was die Fortschritte des Geistes aufhält.“ 18
Wegebildungen in Lehr- und Lernprozessen Das Problem, neue Denk- und Sprachwege zu entwickeln und zu finden, gibt es auch beim Wissenserwerb bzw. in Lehr- und Lernprozessen. Einerseits kann man im Dienste einer effektiven Wissensvermittlung und Wissensbildung nicht darauf verzichten, bewährte Denk- und Sprachwege zu nutzen. Andererseits ist es oft wenig hilfreich, die Lernenden sofort dazu zu zwingen, vorgebahnte Denk- und Sprachwege zu gehen, weil diese nicht als eigene Wege verstanden werden bzw. weil sie nicht zu Zielen führen, die man als eigene Ziele ansieht. In Lernsituationen können deshalb zuweilen Umwege als höchst nützliche und fruchtbare Wege gewertet werden, da die Lernenden sie als eigene Erschließungswege ansehen. Das beinhaltet auch, dass die Lernenden nicht vorschnell auf eine vorgegebene Fachsprache festgelegt werden dürfen, sondern die Chance haben müssen, sich eine eigene Erschließungs- und Objektivierungssprache entwickeln zu dürfen, die in den Augen der Lehrenden natürlich oft einen ausgesprochen metaphorischen Charakter hat. Diese ambivalente Problemlage verdeutlicht sehr einprägsam ein Beispiel, das der Physikdidaktiker Wagenschein dokumentiert hat. In einer Unterrichtsstunde zum Thema Schwerkraft hat sich der neunjährige Bernhard folgendermaßen geäußert, um ein Phänomen sprachlich zu erschließen, das er zwar faktisch schon kannte, das er aber vorher nie sprachlich objektivieren musste. „Da fließt's allein mit dem Gewicht, wie's auch im Bach fließt, weil alles Wasser nach unten will.“ Der Lehrer fragt: „Weil's nach unten will?“ Bernhard: „Ja, ich sag's halt so. Ich weiß, daß das Wasser nicht denkt. – Wir sagen halt so, weil's so halt leichter zum Denken ist.“ 19
Dieses Dokument ist für unseren Problemzusammenhang insbesondere in zwei Hinsichten interessant. Zum einen zeigt es, dass der neunjährige Bernhard sich
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher, 2005, Bd. 2 , S. 523–524, L 913. M. Wagenschein, Naturwissenschaftliche Bildung und Sprachverlust, in: Sprache – Brücke oder Hindernis, 1972, S. 83.
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völlig im Klaren darüber ist, dass seine sprachliche Objektivierung eines beobachtbaren Sachverhalts diesen nicht direkt sprachlich abbildet, sondern allenfalls in einer bestimmten Denkperspektive sprachlich erschließt. Angesichts seiner sprachlichen Notsituation verstummt er aber nicht, sondern wählt denjenigen sprachlichen Ausdrucksweg, über den er sich persönlich dem Darstellungsziel seiner Rede am besten nähern kann. Seine Formulierung („Wir sagen halt so, weil's so halt leichter zum Denken ist.“) ist sprachtheoretisch gesehen geradezu genial, weil sie die mediale Funktion metaphorischen Sprechens punktgenau trifft. Diese Formulierung zeigt außerdem, dass man die Wegfunktion der Sprache nutzen kann, ohne ihrer Leitfunktion dabei ganz zu verfallen. Zum anderen exemplifiziert dieses Beispiel auch, dass der vorschnelle Gebrauch der physikalischen Fachsprache, Schülern den Zugang zu physikalischen Phänomenen verbauen kann, weil dieser Sprachgebrauch sie auf Denkwege zwingt, die noch nicht zu ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten passen. Deshalb hat Wagenschein dafür plädiert, den Schülern zunächst immer eine metaphorische, wenn nicht sogar eine animistische Rede bei Naturbeschreibungen zu gestatten, damit sie überhaupt sprachlichen Zugang zu Naturphänomenen finden und damit sie dabei auch ihr eigenes Strukturierungs- und Interpretationsvermögen erproben können. Die Schüler dürften nicht gleich mit einem fertigen Wissen konfrontiert werden, sondern müssten auch die Entstehungs- bzw. Darstellungsgeschichte dieses Wissens nachvollziehen können. Dieses didaktische Grundprinzip hat Wagenschein dann als genetisches Prinzip bezeichnet. Es impliziert nicht nur, dass bei der Objektivierung und Vermittlung von Wissensinhalten immer deren Genese zu beachten ist, sondern darüber hinaus auch, dass jedes sachthematische Denken reflexionsthematisch begleitet werden kann. Diese sehr komplexe Denkform demonstriert der neunjährige Bernhard trotz seines jugendlichen Alters mustergültig.20
3. Sprachliche Geleise und Brücken Die Überlegungen zu den sprachlichen Implikationen von Wissenserwerbsprozessen haben gezeigt, welche Spannweite die medialen Funktionen der Sprache haben können. Diese Spannweite lässt sich sehr gut durch die recht unterschiedlichen Sinnbilder Geleise und Brücke veranschaulichen. Durch sie kann sehr deutlich sowohl auf die einschränkenden als auch auf die hilfreichen medialen Funktionen der Sprache aufmerksam gemacht werden. Außerdem helfen beide Sinnbilder dabei, neben den praktischen auch die emotionalen Implikationen der wegbildenden Funktionen der Sprache ins Auge zu fassen.
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Vgl. W. Köller, Die Anregungskraft des „genetischen Prinzips“ für Sprachdidaktik und Sprachwissenschaft, in: N. Kruse u. a. (Hrsg.), Martin Wagenschein – Faszination und Aktualität des Genetischen, 2012, S. 175–192.
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Das Leistungsprofil von Geleisen Geleise exemplifizieren auf prototypische Weise die Idee eines bewusst geformten Weges. Geleise sind Wege, die sich nicht wie Pfade flexibel dem jeweiligen Gelände anzupassen versuchen und die auch nicht durch ständige Nutzung gleichsam ein natürlicher Bestandteil des Geländes werden. Geleise und insbesondere Eisenbahngeleise sind artifizielle Wege, die aus menschlichen Planungen resultieren, die zu ihrer Konkretisierung direkte Arbeit erforderlich machen, die einen soliden Unterbau und eine klare Linienführung benötigen, die eine normierte Breite haben müssen und die keine Abwege kennen, sondern allenfalls Abzweigungen. Geleise haben als Erschließungs- und Transportwege eine sehr hohe Funktionalität. Wenn man sie benutzt, dann sind sie optimale Methoden der Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen. Sie minimieren den Kraftaufwand für Transporte, da sie Reibungsverluste aller Art drastisch reduzieren. Aus diesen positiven pragmatischen Funktionen von Geleisen ergeben sich ganz dialektisch auch ihre problematischen Implikationen, die wir immer zu bedenken haben, wenn wir Geleise als Sinnbild für den geformten Mittler Sprache verwenden. Das hat Lichtenberg sehr prägnant formuliert. „Die Geleise oder vielmehr die gebahnten Wege sind etwas sehr Gutes, – aber wenn niemand nebenher spazieren gehen wollte, so würden wir wenig von der Welt kennen.“ 21 Geleise sind Wege, die so stark vorgebahnt sind, dass sie allen individuellen Bewegungsintentionen eine extreme Richtungsstarrheit geben. Bei ihrer Nutzung hat man keine Freiheiten, den Raum nach individuellen Zielsetzungen zu erschließen. Man muss das wahrnehmen, was die Linienführung der Geleise vorgibt. Die Möglichkeit ist vergeben, sich ein Gelände durch die Bildung eigener Wege bzw. durch eigenständige Anstrengungen zu erschließen. Man kann nicht seine eigenen Beine verwenden, sondern muss sich technischen Hilfsmitteln anvertrauen. Man lernt die Welt durch die Hilfe einer technischen Prothese kennen, die die eigenen Fortbewegungsmöglichkeiten sicherlich in bestimmten Hinsichten optimiert, aber keineswegs in allen Hinsichten verbessert und intensiviert. Während Pfade sich als natürlich entwickelte Erschließungswege recht gut mit der natürlich gewachsenen Sprache analogisieren lassen, können Geleise als artifizielle Wege eher mit formalisierten Fachsprachen verglichen werden, die ebenfalls nur für ganz bestimmte Zwecke eine hohe Effizienz haben. Natürliche Wege und Sprachen machen die Erschließung von realen und geistigen Räumen zu einer Anstrengung, die nicht routinemäßig zu bewältigen ist, sondern die immer wieder neu zu organisieren ist. Durch den Gebrauch von Fachsprachen lässt sich der Aufwand an kognitiven Strukturierungs- und Or-
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher, 2005, Bd. 2, S. 455, K 312.
Sprachliche Geleise und Brücken
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ganisationsanstrengungen vermindern bzw. auf ganz bestimmte Realitätsaspekte konzentrieren, aber der Intensitätsgrad von Erfahrungen steigert sich dadurch keineswegs automatisch. Nicht zufällig hat Whorf bei seinen Überlegungen zu der vorstrukturierenden Macht der Sprache auf das Wahrnehmen und Denken bzw. zu dem sogenannten sprachlichen Relativitätsprinzip auf das Bild des Geleises zurückgegriffen. Dabei nimmt er allerdings keineswegs nur auf bestimmte Fachsprachen Bezug, sondern auch auf die verschiedenen Ausprägungsformen von natürlichen Sprachen. Seiner Meinung nach folgt nämlich „das Denken einem Netzwerk von Geleisen, die in der jeweiligen Sprache festgelegt sind, einer Ordnung, die gewisse Züge der Realität systematisch hervorhebt, gewisse Seiten des Verstandes begünstigt und andere systematisch abtut, die von anderen Sprachen herausgestellt werden.“ 22 Das Verständnis von Sprachen als Netzwerk von Geleisen ist durch eine aufschlussreiche Ambivalenz geprägt. Einerseits kann man Geleise natürlich als etwas verstehen, was die eigenen Bewegungsmöglichkeiten und damit auch die eigenen Erfahrungsmöglichkeiten entscheidend einschränkt. Andererseits kann man Geleise aber auch als Hilfsmittel verstehen, in dem sich eine vorab geleistete Arbeit konkretisiert hat, die dann die aktuellen individuellen Bewegungs- und Erfahrungsmöglichkeiten in bestimmten Hinsichten außerordentlich erleichtert oder gar verbessert. So gesehen wären dann Geleise und Sprachen als geronnene Formen vorsorgender Erschließungs- und Strukturierungsarbeit zu verstehen, die der einzelne Sprecher ähnlich wie ein angespartes Kapital in hilfreicher Weise bei späteren Aktivitäten nutzen kann. Das ambivalente Verständnis der Sprache als Netzwerk von Denkgeleisen verliert allerdings an Brisanz, wenn wir unser sprachtheoretisches Interesse auf die Strukturverhältnisse in der natürlichen Sprache richten. Diese Erscheinungsform von Sprache hat nämlich zumindest im lexikalisch-semantischen Bereich gar nicht eine so feste Ordnung wie das Bild des Geleises es eigentlich nahelegt. Wenn wir mit ihrer Hilfe sprechen und denken, dann haben wir neben der Sprachsteuerung auch immer mit einer Erfahrungs- bzw. Sachsteuerung unseres Denkens zu rechnen. Das bedeutet, dass wir den jeweils verwendeten Sprachformen gar nicht so hilflos ausgeliefert sind wie vorab verlegten Geleisen, weil wir diese Formen immer im Rahmen unseres allgemeinen Weltwissens interpretieren und variieren können und uns ihnen deshalb auch keineswegs blind anvertrauen müssen. Im Rahmen der natürlichen Sprache können wir vorgegebene Sprachformen durchaus als vorbahnende Hilfsmittel des Denkens nutzen, ohne dabei ganz an sie gebunden zu sein oder ihnen gar vollständig zu verfallen.
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B. L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, 1963, S. 58.
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Die Sprache als Weg
Das Leistungsprofil von Brücken Brücken sind als ganz besondere Manifestationsformen von Wegebauanstrengungen zu betrachten. Sie bilden sich nicht evolutionär heraus, sondern resultieren wie auch Geleise aus einem bestimmten Bauwillen und einer bestimmten Bauplanung. Dadurch, dass Brücken Flüsse oder Schluchten überspannen, können sie etwas miteinander verbinden, was von Natur aus zwar getrennt ist, was aber kulturell dennoch irgendwie miteinander verwachsen soll. Deshalb sind Brücken auch als Zeichen eines bestimmten kulturellen Integrationswillens zu werten, selbst wenn der jeweilige Brückenbau ursprünglich primär durch militärische oder ökonomische Motive bestimmt gewesen sein sollte. Die phänomenologische Beschreibung von Brücken darf sich nicht nur auf die Beschreibung ihrer Funktionen beschränken, sondern muss auch ihren faktischen Erscheinungsformen Aufmerksamkeit schenken. Die Struktur von Brücken bedingt nämlich ganz entscheidend ihre pragmatischen Funktionen und ihre Belastbarkeiten. Brücken können stabil oder labil bzw. dauerhaft oder provisorisch gebaut sein. Sie können außerdem plump oder grazil in Erscheinung treten. Die ästhetische Gestalt von Brücken trägt jedenfalls nicht unerheblich dazu bei, ob bzw. wie von uns etwas Getrenntes dennoch als zusammengehörig verstanden wird. Konstruktiv gesehen braucht jede Brücke feste Verankerungspunkte bzw. Widerlager in zwei Welten, um tragfähig zu werden bzw. um ihre Belastungsspannungen sicher abzuleiten. Das gilt gleichermaßen für Balken-, Bogen- und Pfeilerbrücken. Letztere benötigen außerdem noch Stützpunkte in der zu überbrückenden Zwischenwelt. Brücken besitzen je nach Konstruktion und Baumaterial ein spezifisches Eigenleben, das bei ihrer Nutzung immer zu berücksichtigen ist. Sie benötigen Dehnungs- bzw. Toleranzfugen, um sich bei Temperatur- oder Belastungsschwankungen nicht selbst zu schaden oder gar zu zerstören. Brücken können gefährliche Eigenschwingungen entwickeln, weshalb oft auch verboten werden muss, dass Menschen sie im Gleichschritt und nicht im Individualschritt nutzen. Diese wenigen Hinweise machen schon verständlich, warum Brücken seit alters her als Sinnbilder dafür verstanden worden sind, unterschiedliche Welten miteinander zu verbinden, wobei insbesondere die Analogie zu den Vermittlungsfunktionen der Sprache immer eine große Rolle gespielt hat. Das dokumentiert sich nicht nur darin, dass die Römer ihrer Priester Brückenbauer (pontifices) genannt haben, sondern auch darin, dass die Brückenvorstellung in phraseologischen Wendungen immer wieder als Bildspender verwendet worden ist (Brücken schlagen, Brücken hinter sich abbrechen, goldene Brücken bauen, diplomatische Brücken suchen usw.). Das Bild der Brücke ist auch immer wichtig geworden, um die Spannungen zwischen dem menschlichen Gestaltungswillen auf der einen Seite und den elementaren Naturgegebenheiten und Naturgewalten auf der anderen Seite zu veranschaulichen, was eine Ballade von Fontane exemplarisch belegt (Die Brücke am Tay).
Sprachliche Geleise und Brücken
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Für die sinnbildliche Nutzung unserer Brückenvorstellungen spielt natürlich auch die Frage eine zentrale Rolle, worauf die Stabilität und Tragfähigkeit von Brücken eigentlich beruht. Bei einfachen Balkenbrücken ist diese Frage noch verhältnismäßig einfach zu beantworten. Bei Bogen- bzw. Gewölbebrücken, die aus vielen Einzelteilen bestehen, ist dagegen nicht so leicht eine befriedigende Antwort zu finden. Aber gerade die Stabilität dieser Brücken weist möglicherweise große Analogien zur Stabilität von sprachlichen Gebilden wie Sätzen und Texten auf, die ja auch aus vielen syntaktisch miteinander verbundenen Einzelteilen bestehen. In diesem Zusammenhang sind vielleicht die Überlegungen Heinrich von Kleists zu der Ordnungsstruktur von Gewölben interessant, welche er durchaus auch sinnbildlich verstanden wissen wollte. Für ihn ist wichtig, dass Gewölbe gerade dadurch an Stabilität und Funktionalität gewinnen, dass alle Einzelteile auf ganz bestimmte Weise aufeinander einwirken. An Wilhelmine von Zenge schreibt er am 16. 11. 1800: „Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost ...“ 23
Auf die Sprache bezogen lässt sich aus diesen Überlegungen von Kleist vielleicht der Schluss ziehen, dass in komplexen sprachlichen Gebilden die unterschiedlichen sprachlichen Einzelteile durch bestimmte syntaktische Korrelationen so aufeinander bezogen sind, dass sie trotz oder wegen ihrer unterschiedlichen Verweisungstendenzen dennoch insgesamt stabile Sinngebilde ergeben. Um das gewährleisten zu können, brauchen sprachliche Ordnungsgebilde ebenso wie steinerne Gewölbe oder Bogenbrücken allerdings stabile Widerlager. Wenn die kommunizierenden Subjekte nicht über verlässliche Welt- und Sprachkenntnisse einerseits und hermeneutische Fähigkeiten andererseits verfügen, dann können Sätze und Texte nicht als stabile Verbindungsbrücken zwischen Objektwelten und Subjektwelten bzw. zwischen verschiedenen Subjektwelten in Erscheinung treten. Während Bogenbrücken mit adäquaten Widerlagern gerade dadurch an Stabilität gewinnen können, dass sie belastet werden, gelten bei Balkenbrücken etwas andere Stabilitätsgesetze, da hier alles von der Belastungsfähigkeit der verwendeten Balken und deren festen Auflageflächen abhängt. In ganz analoger Weise kann vielleicht auf die unterschiedlichen Stabilitätsstrukturen von natürlichen und formalisierten Sprachen Bezug genommen werden. Während natürliche Sprachen gerade dadurch innere Stabilität gewinnen bzw. funktionstüchtig werden, dass sie mit ganz neuen Objektivierungs- und Mitteilungsintentionen belastet werden, tendieren Fachsprachen in der Regel dazu, alle Belastungen abzuwehren, die für sie nicht vorgesehen sind. Deshalb sind dann
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H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 19622, Bd. 2, S. 593.
Die Sprache als Weg
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auch metaphorische Redeweisen beim Gebrauch der natürlichen Sprache wohlgelitten, aber keineswegs auch beim Gebrauch von Fachsprachen. Brücken sind nicht immer dazu bestimmt, sich auf ihnen niederzulassen, sondern oft nur dazu, sie vorübergehend zu nutzen. Ihre Bestimmung, Welten zu verbinden, wird gefährdet, wenn sie nicht transitorisch, sondern dauerhaft belastet werden. Paul Valéry hat die Belastbarkeit von bestimmten Brücken auf erhellende Weise mit der Belastbarkeit eines bestimmten Sprachgebrauchs analogisiert und herausgestellt, dass die Sprache ihre Brücken- bzw. Verständigungsfunktion verlieren könne, wenn man in zeitgedehnten Reflexionsprozessen auf ihr und ihren Einzelelementen herumtanze, um ihre kognitiven und kommunikativen Belastungsgrenzen zu prüfen. „Jedes Wort, jedes der Worte, die uns erlauben, den Raum eines Gedankens so rasch zu durchschreiten und dem Impuls der Idee zu folgen, die sich selbst ihren Ausdruck baut, erscheint mir als eine jener leichten Planken, die über einen Graben geschlagen werden oder über einen Bergspalt und die den Menschen tragen, wenn er sie in rascher Bewegung passiert. Aber er muß hinübergehen, ohne darauf zu lasten, muß hinübergehen, ohne stehen zu bleiben – und vor allem darf er sich nicht das Vergnügen erlauben, auf dem dünnen Brett zu tanzen, um dessen Widerstand auf die Probe zu stellen! ... Sogleich schaukelt die zerbrechliche Brücke oder bricht durch, und alles stürzt in die Tiefe. Befragen sie Ihre eigene Erfahrung; Sie werden finden, daß wir die anderen nur verstehen und daß wir uns selbst nur verstehen dank der Schnelligkeit, mit der wir über die Worte hinweggehen. Man darf sich auf ihnen nicht schwer machen, wenn man nicht damit gestraft werden will, daß man die klarste Rede in Rätsel, in mehr oder weniger gelehrte Illusionen zerfallen sieht.“ 24
Die These Valérys, dass zeitgedehnte Reflexionen über die Bedeutung sprachlicher Formen die Gefahr einer völligen Desorientierung beinhalten können bzw. die Auflösung unseres intuitiven Wissens über bestimmte Phänomene und den zulässigen Gebrauch bestimmter Wörter, lässt sich sehr schön durch eine Erfahrung illustrieren, die Augustin im Hinblick auf das Verständnis bzw. die Definition des Phänomens und des Begriffs Zeit gemacht hat. „Was ist also ‚Zeit’? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ 25 Eine sehr wichtige Funktion haben sprachliche Brücken auch im Bereich der Diplomatie. In den Dialogen der Diplomaten geht es keineswegs nur um den Austausch von Sachinformationen, um argumentative Auseinandersetzungen oder um strategische Überzeugungsarbeit. Oft geht es beim Sprechen nur darum, einen Gesprächsfaden zwischen den Konfliktparteien nicht abreißen zu lassen bzw. mögliche Kommunikationsbrücken nicht zu zerstören. Selbst der Austausch von erkennbaren Fiktionen oder gar Lügen kann unter diesen Um-
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P. Valéry, Dichtkunst und abstraktes Denken, in: Französische Poetiken, Teil II, hrsg. von F. R. Hausmann u.a., 1978, S. 364. 25 Augustin, Confessiones – Bekenntnisse, 11. Buch, 14, 19663, S. 629.
Die Leitfadenfunktion der Sprache
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ständen eine wichtige Brückenfunktion zwischen zwei Personen oder Welten bekommen, die sich aktuell eigentlich nichts Substanzielles mehr zu sagen haben. Eine ähnliche Funktion können auch nichtssagende Formulierungen oder Gespräche über das Wetter bekommen, weil man durch sie zumindest signalisieren kann, dass man im Gespräch bleiben möchte. Die hohe Kunst der Diplomatie kann deshalb zuweilen gerade darin bestehen, neue Kommunikationsbrücken zu bauen oder zu finden, wenn die alten nicht mehr zu nutzen sind.
4. Die Leitfadenfunktion der Sprache Das Verständnis der Sprache als eines Leitfadens für den Prozess des menschlichen Wahrnehmens und Denkens bzw. für den Prozess der menschlichen Weltorientierung ruft natürlich die mythische Vorstellung vom Faden der Ariadne ins Bewusstsein. Dieser war Theseus außerordentlich hilfreich, als er zum Kampf gegen den Minotaurus antrat, der im Labyrinth auf Kreta eingesperrt war und dem laufend Menschenopfer gebracht werden mussten. Als Theseus in dieses Labyrinth eindrang, gab ihm Ariadne vorausschauend ein Wollknäuel mit, das sie von Dädalus dem genialen Erfinder und dem Erbauer des Labyrinths geschenkt bekommen hatte. Sie wies Theseus an, das eine Ende des Wollfadens am Eingang des Labyrinths zu befestigen und dann das Wollknäuel bei seinem Eindringen in das Labyrinth so abzuwickeln, dass er später an diesem Leitfaden wieder aus dem Labyrinth herausfinden konnte.26 Das Sinnbild des Leitfadens ist im abendländischen Denken immer wieder verwendet worden, wenn es darum ging, eine schwierige Aufgabe mit Hilfe einer vorausschauenden Handlungsstrategie und angemessener Hilfsmittel zu lösen. Es liegt deshalb auch nahe, die Sprache als eine Art Ariadnefaden zu betrachten, der uns dabei hilft, so in das Labyrinth der Welt einzudringen, dass wir uns darin orientieren können und auch wieder herauszufinden vermögen. Allerdings stellen sich in diesem Zusammenhang dann noch eine Reihe weiterer Fragen, die kaum abschließend zu beantworten sind. Gehört die Sprache nicht auch selbst zum Labyrinth der Welt? Ist der Leitfaden der Sprache so fest, dass er allen Belastungsanforderungen standhält? Wer hat diesen Faden gemacht bzw. von wem haben wir ihn bekommen? Wie weit kann man mit ihm in das Labyrinth der Welt eindringen? Woran lässt sich der Leitfaden der Sprache anknüpfen, wenn man mit seiner Hilfe so in das Labyrinth der Welt eindringen will, dass man auch wieder herausfinden kann? Gerade im Hinblick auf die letzte Frage zeigt sich die Grenze der Vorstellung vom Faden der Ariadne als eines Sinnbilds für Sprache. Wir werden kaum einen sprachunabhängigen Punkt benennen können, an dem wir den Faden der Sprache befestigen können, um in das Labyrinth der physischen,
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Vgl. R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1, 1965, S. 307.
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Die Sprache als Weg
sozialen und geistigen Welten einzudringen. Außerdem werden wir einräumen müssen, dass all unsere Sacherfahrungen und Vorstellungen theorie- bzw. sprachgetränkt sind und dass wir keinen neutralen Ausgangspunkt finden, von dem aus wir unsere Sprachreise in die Welt beginnen können. Auch unsere Sinneswahrnehmungen sind nicht so sprachunabhängig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, weil wir zunächst nur das wahrnehmen, was irgendwie in unsere sprachlichen bzw. kognitiven Muster passt. Bei all unseren Bemühungen, den archimedischen Punkt zu finden, von dem aus wir die Leistungsfähigkeit der Sprache erfassen und beurteilen können, sehen wir uns immer wieder mit dem Problem des hermeneutischen Zirkels konfrontiert. Wir können uns bei unseren sprachtheoretischen Überlegungen nicht völlig aus der Welt der sprachlichen Zeichen zurückziehen, um diese in einer sprachunabhängigen Denkperspektive von außen beschreiben zu können. All das müssen wir nämlich mit vorgegebenen und vorstrukturierenden sprachlichen Denkformen bewerkstelligen. Allerdings haben wir die Chance, das mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Formen zu machen und diese im konkreten Gebrauch dann so aufeinander abzustimmen, dass wir eine bestimmte sprachliche Objektivierungsform für Sprache durch eine andere interpretieren und ergänzen können. Gerade im Hinblick auf eine umfassende kognitive Erschließung von Sprache stellt sich ein rein begriffliches und lineares analytisches Denken als sehr einseitig und problematisch heraus, weil all unsere diesbezüglichen Denkprämissen selbst wieder aufklärungsbedürftig werden. Gleichwohl wird man annehmen dürfen, dass man im Wechselspiel von begrifflichen, bildlichen und narrativen Formen des Sprachgebrauchs nicht nur mehr von der Sachwelt, sondern auch mehr von der Sprachwelt erfasst als bei der Nutzung einer einzigen sprachlichen Objektivierungsstrategie. Das bedeutet für unseren Problemzusammenhang, dass man die Vorstellung von der Leitfadenfunktion der Sprache für das Wahrnehmen und Denken nicht nur auf die begrifflichen Objektivierungsformen der Sprache zu beziehen hat, sondern auch auf die bildlichen und narrativen und dass man deshalb auch sprachliche Formen mit sprachlichen Formen gleichsam selbstreflexiv interpretieren kann.
Spinnenfäden als Leitfäden Wenn man die Weg- bzw. die Leitfadenfunktion der Sprache am Beispiel von Spinnenfäden zu veranschaulichen versucht, dann ergeben sich aparte Analogien. Dabei kann man zunächst auf Überlegungen von Kierkegaard Bezug nehmen, der das dialektische Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft bzw. von Prämisse und Konsequenz sehr schön am Beispiel des Spinnenfadens exemplifiziert hat. Außerdem hat er gezeigt, dass der selbst gesponnene Faden der Spinne einen spezifischen Weg in die Welt ermöglicht, der mit der Funktion des Ariadnefadens durchaus gewisse Ähnlichkeiten hat.
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„Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir steht ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt.“ 27
Interessant ist bei Kierkegaards Überlegungen, dass er nicht konkret auf das Problem eingeht, an welchem Punkt die Spinne den Faden verankert, den sie selbst spinnt und an dem sie sich selbst in die ihr unbekannte Welt bzw. Zukunft herunterlässt. Diesbezüglich spricht er schlicht und einfach von der Vergangenheit. Wichtig ist ihm aber, dass die Spinne mit einem Hilfsmittel den Raum erkundet, das sie zwar selbst erzeugt hat, von dem sie dann aber dennoch wieder abhängt. Das alles ist natürlich im Hinblick auf die Frage nach der Genese und Funktion von Sprache interessant, die der Mensch ja ebenfalls aus sich selbst heraus gesponnen hat und an der er dann zumindest hinsichtlich seiner geistigen Existenz auch selbst wieder hängt. Von der Sprache kann ebenfalls nicht exakt gesagt werden, woran sie eigentlich befestigt werden kann und wohin sie den Menschen einen Weg eröffnet. In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch noch ein anderer Tatbestand von Interesse, der gewisse Analogien zur Sprache aufweist. Spinnen besitzen nämlich die Fähigkeit, ihre eigenen Fäden wieder aufzufressen, um aus dem alten Material wieder neue Fäden spinnen zu können. Das Bild des Spinnenfadens kann deshalb einerseits als Sinnbild dafür verstanden werden, dass die Sprache dazu dient, sich in die empirische Welt herabzulassen und sich auch wieder aus ihr zurückzuziehen, und andererseits als Sinnbild dafür, dass man die Sprache in einer Realisierungsform vernichten kann, um sie in einer anderen Realisierungsform wieder als einen Weg in die Welt benutzen zu können. Spinnenfäden sind sicher ebenso wie Sprachfäden besondere Wege in die Welt. Zum einen können Spinnen einzelne Fäden zu einem Netz verknüpfen, in dem sich dann ihre Beute verfangen kann. Dieses Netz kann die Spinne beherrschen, aber möglicherweise sich auch selbst in ihm verfangen. Da es sehr artifiziell ist, ist es dann natürlich auch durch Einwirkungen von außen sehr gefährdet. Zum anderen können Spinnenfäden der Spinne zwar einen Ortswechsel ermöglichen, aber nur dann, wenn Rückkoppelungen an feste Ausgangspunkte erhalten bleiben. Als Leitfäden betrachtet ähneln Spinnenfäden in gewissen Hinsichten auch Holzwegen. In der Forstwirtschaft sind Holzwege nämlich keineswegs Wege aus Holz, sondern vielmehr Wege ins Holz bzw. in den Wald. Wenn man auf einem Holzweg ist, dann kommt man letztlich nicht zu einem ganz bestimmten Ziel, sondern nur in eine Region, in der Holz geschlagen bzw. aus der Holz abtransportiert werden kann. Holzwege sind deshalb auch weniger dazu be-
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S. Kierkegaard, Werke, Entweder – Oder, 19682, S. 33.
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Die Sprache als Weg
stimmt, etwas von A nach B zu bringen, sondern eher dazu, etwas aus einer bestimmten Region zu holen, um es in einer anderen nutzbar zu machen. Wenn man die Vorstellung eines Leitfadens am Beispiel des Spinnenfadens konkretisiert, dann lässt sich die pragmatische Funktion von Leitfäden folgendermaßen bestimmen. Leitfäden sind dazu bestimmt, von einem bestimmten Ausgangspunkt her in unbekannte und unerschlossene Räume vorzudringen und hier etwas zu erwerben, was man verwenden kann, wenn man zu seinem ursprünglichen Ausgangspunkt zurückgekehrt ist. Dabei hat man nicht nur an materielle Beute zu denken, sondern auch an immaterielle Erfahrungen. Leitfäden ermöglichen es, neue Erfahrungen in ständiger Rückkoppelung zu einem bestimmten Ausgangspunkt zu machen. All das trifft sicher auch auf Sprache zu. Anders als Brücken haben Leitfäden meist nur auf einer Seite einen vertrauenswürdigen Befestigungspunkt bzw. ein Widerlager. In einer gewissen Analogie, aber auch spannungsvollen Opposition zu der Vorstellung eines Spinnenfadens kann man nun natürlich auch die Sprache als einen Leitfaden verstehen, den unsere Vorfahren gesponnen haben, damit sie selbst oder ihre Nachfolger ihn für bestimmte Zwecke nutzen können. In der bloßen Existenz eines Fadens bzw. einer Sprache repräsentiert sich so gesehen dann immer auch schon ein spezifisches Wissen, das dann für spätere Verwendungszusammenhänge nützlich gemacht werden kann. Das hat Karl Philipp Moritz so formuliert: „Allein die Sprache ist der unzerstörbare Knäuel, von welchem wir den Faden abwikkeln, der uns aus diesem Labyrinth unserer Vorstellungen den einzigen Weg zeigt.“ 28
Habitus und Stil Die Thematisierung der Sprache als eines Leitfadens für den Prozess der Erkundung unerschlossener Regionen legt den Gedanken nahe, die konventionalisierten Muster der Sprache mit dem Habitusbegriff von Bourdieu in Verbindung zu bringen, der schon scholastische Ursprünge hat. Er verwendet den Habitusbegriff, um das System der verinnerlichten Muster zu erfassen, „die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.“29 Einen Habitus sieht Bourdieu als Zusammenspiel von praktischen Hypothesen an, die auf früheren Erfahrungen fußen und die dann als individuelle und kollektive Praktiken zur Bewältigung von Problemen dienlich sind. Zweifellos lassen sich Sprachen insgesamt sowie die in ihnen konventionalisierten lexikalischen, grammatischen und textuellen Muster als Habitusformen bzw. als traditionell bewährte Leitfäden zur kogniti-
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K. Ph. Moritz, Auch eine Hypothese über die Schöpfungsgeschichte Moisis, Berliner Monatsschrift, Bd. 3, 1784; abgedruckt im Kommentar zum Anton Reiser, Bd. 1, Teil II, 2006, S. 950. 29 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, 1974, S. 143. Vgl. auch P. Bourdieu, Sozialer Sinn, 1987, S. 97 ff.
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ven Erschließung der Welt verstehen, durch die bewährte Handlungserfahrungen immer wieder neu aktiviert werden können. Obwohl diese Muster den jeweiligen Nutzern als Leitfäden für sprachliche Handlungsprozesse und sinnbildende Interpretationsprozesse in der Regel meist nicht bewusst sind, beeinträchtigt das keineswegs ihre faktische Wirksamkeit. Als kulturell erzeugte Leitfäden treten sie meist erst dann in Erscheinung, wenn sich der mit ihnen angestrebte Handlungserfolg nicht einstellt, wenn man zwischen Alternativen auszuwählen hat oder wenn man sich mit Mustern konfrontiert sieht, deren Anwendungsmöglichkeiten man nicht überschaut. Wahrnehmung und Qualifizierung eines bestimmten Habitus werden erst dann möglich, wenn sich das Denken von seiner sachthematischen Ebene gelöst hat und sich reflexionsthematisch auch mit den Mitteln beschäftigt, mit denen es jeweils operiert. Der Habitusbegriff hat auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Stilbegriff, sofern man unter dem Phänomen Stil eine normorientierte Machart von Texten versteht, welche sprachliche Objektivierungs- und Mitteilungsprozesse erleichtert, weil sie das Wahrnehmungsinteresse perspektivisch auf ganz bestimmte Ziele konzentriert. Der Stil eines Textes gibt uns so gesehen immer unausgesprochene Hinweise auf den Ausgangspunkt eines Sinnbildungsprozesses, er sensibilisiert uns für bestimmte Sinnbildungsziele und er erleichtert es uns, das neu zu erwerbende Wissen mit dem schon vorhandenen Wissen zu verbinden. Als eine Erscheinungsform des kulturellen Habitus kann man auch das verstehen, was seit Humboldt als innere Sprachform benannt wird. Mit diesem Begriff lässt sich die fundamentale Formungs- und Organisationsstrategie (forma formans) einer Sprache bezeichnen, die der Ausbildung konkreter Sprachformen (formae formatae) zu Grund liegt. Zur inneren Form einer Sprache gehört dann beispielsweise die Strategie einer Sprache, die syntaktischen Funktionsrollen von bestimmten Inhaltsgrößen durch Flexionsmorpheme oder durch Stellungspositionen zu kennzeichnen, den Wortartwechsel morphologisch zu erleichtern oder zu erschweren, Attribute mit ihren Bezugsgrößen durch Flexionskongruenzen zu verschmelzen oder durch eigenständige Erscheinungsformen voneinander zu isolieren usw.30
Sprache als Leitfaden in der Philosophie Seit dem Aufkommen einer expliziten Sprachphilosophie im 19. Jahrhundert gibt es eine lebendige Diskussion darüber, ob die Philosophie ihr Geschäft am Leitfaden der Sprache betreiben darf oder gar muss, welcher Grad an Sprach-
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Vgl. W. Köller, Stil und Grammatik, in: U. Fix / A. Gardt / J. Knape (Hrsg.) , Rhetorik und Stilistik, 2. Halbband, 2009, S. 1218 ff.
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vertrauen ihr zuträglich ist und ob sie sich eine eigenständige philosophische Fachsprache schaffen darf oder soll. Je klarer das Bewusstsein von der medialen Funktion der Sprache geworden ist, desto heftiger sind die Vorwürfe gegen diejenigen geworden, die zumindest ihr erkenntnistheoretisches Philosophieren nicht sprachkritisch begleitet haben. Im Rahmen des sogenannten linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat man dann sogar die These vertreten, dass letztlich alle Philosophie als Sprachkritik zu konzipieren sei bzw. dass die Philosophie letztlich ein Kampf gegen die Verhexung des Denkens durch die Sprache verstanden werden könne. Beispielsweise hat man schon im 19. Jahrhundert Aristoteles ein viel zu großes Sprachvertrauen vorgeworfen. Er habe sprachliche Denkmuster naiv als Repräsentationen ontischer Seinsmuster verstanden und unkritisch am Leitfaden der grammatischen Struktur der griechischen Sprache entlang philosophiert. Trendelenburg hat ihm vorgehalten, dass seine zehn logischen Grundkategorien (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Wo, Wann, Lage, Haben, Wirken, Leiden) „zunächst einen grammatischen Ursprung haben und dass sich der grammatische Leitfaden durch ihre Anwendung durchzieht.“ 31 Steinthal hat Aristoteles sogar vorgeworfen, nie aus dem Bannkreis der Sprache herausgetreten zu sein und sprachliche Unterscheidungen naiv als sachliche Differenzen verstanden zu haben. Er habe „von der Sprache als solcher kein Bewusstsein; und es begegnet ihm wol, dass er meint, bei den Sachen, Metaphysiker zu sein, während er wie ein Lexikograph Wortbedeutungen bestimmt.“ 32 Auch Mauthner hat Aristoteles eine große sprachtheoretische Naivität bzw. eine Gefangenschaft in der griechischen Sprache bescheinigt. „Die ganze Logik des Aristoteles ist nichts als eine Betrachtung der griechischen Grammatik von einem interessanten Standpunkte aus. Hätte Aristoteles Chinesisch oder Dakotaisch gesprochen, er hätte zu einer ganz anderen Logik gelangen müssen, oder doch zu einer ganz anderen Kategorienlehre.“ 33 Diese Kritik an Aristoteles, er habe naiv am Leitfaden der griechischen Sprache entlang philosophiert und gar nicht erkannt, dass die Sprache möglicherweise eine sachverhaltsverschleiernde oder gar sachverhaltsverzerrende Funktion für Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse haben könne, ist recht herbe und pauschal. Sie schießt wohl auch erheblich über das hinaus, was man in der Tat gegen Aristoteles und das recht große Sprachvertrauen der ganzen antiken Philosophie einwenden kann. Diese Kritik hat möglicherweise nämlich nicht nur einen sachlichen, sondern auch einen psychologischen Ursprung. Das neu entstandene Sprachbewusstsein im 19. Jahrhundert brauchte seine
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A. Trendelenburg, Geschichte der Kategorienlehre, 1846, S. 33. H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, Bd. 1, 18902/ 1971, S. 213. 33 F. Mauthner Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3, 1906/1982, S. 4. 32
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Schlachtopfer. Da bot sich natürlich an, jeden herbe zu kritisieren, der als Autorität galt, aber die Sprachkritik nicht zum Ausgangspunkt oder gar zum Angelpunkt seiner Philosophie gemacht hatte. Deshalb stellt sich in diesem Zusammenhang dann auch grundsätzlich die Frage, ob es wirklich so abwegig ist, am Leitfaden der Sprache bzw. am Leitfaden kultureller Muster zu philosophieren. Vielleicht erleichtert und inspiriert dieser Ansatz auch das philosophische Denken, obwohl damit sicherlich allerlei Probleme verbunden sind. Wolfgang Wieland hat im Hinblick auf Aristoteles überzeugend gezeigt, dass es philosophisch weder abwegig noch unfruchtbar sein müsse, eine philosophische Prinzipienlehre am Leitfaden der Sprache zu betreiben. Zu Recht hat er darauf aufmerksam gemacht, dass all unser Wissen auf irgendeine Weise abgeleitetes Wissen sei. Alle Denkansätze müssten von Prämissen ausgehen, die im Vollzug des Denkens selbst nicht mehr problematisiert werden könnten. Wenn man nicht mit der Hypothese eines angeborenen Wissens arbeiten wolle, dann müsse man das in sprachlichen Ordnungsmustern sedimentierte Wissen als ein Wissen akzeptieren, an das alle konkreten Sachanalysen zustimmend, differenzierend oder ablehnend anknüpfen könnten. Die konsequente Unterscheidung von Sache und sprachlicher Objektivierung der Sache sei ein spätes Produkt philosophischer Reflexion, die in der natürlichen Einstellung zu den Dingen noch gar nicht existiere, sondern nur in dem Denkrahmen von entwickelten Theorien über die Dinge. Wenn Aristoteles seine philosophische Prinzipienanalyse am Leitfaden der Sprache beginne, dann hieße das zunächst nur, dass er die natürliche sprachliche Einstellung zu den Dingen zum Ausgangspunkt seines Denkens mache und nicht eine vorab entworfene Theorie. Deshalb kommt er im Hinblick auf das Denken von Aristoteles auch zu folgendem Schluss: „Er überträgt nicht einfach sprachliche Kategorien auf die Wirklichkeit – weil es phänomenologisch ursprünglich eine solche sprachfreie Wirklichkeit ebensowenig gibt wie eine gegenständliche Sprache. Indem er sprachliche Formen untersucht, analysiert er also zugleich die Strukturen der Wirklichkeit – nur eben, daß es sich bei dieser Wirklichkeit um die Lebenswelt des natürlichen Bewußtseins handelt und nicht um eine bewußtseinstranszendente ‚Außenwelt’.“ 34
Das Philosophieren am Leitfaden der Sprache lässt sich so gesehen auch als Einstieg in den hermeneutischen Zirkel der Weltinterpretation verstehen. In den Formen der Sprache hat sich sicherlich kein absolutes göttliches Wissen angesammelt, aber wohl doch ein praktisch gut verwertbares Wissen, das sich evolutionär gebildet und in Selektionsprozessen pragmatisch bewährt hat. Selbst wenn dieses Wissen für bestimmte Zwecke als Sachwissen zu grob oder zu emotional akzentuiert ist, so ist es doch ein Wissen, das zumindest zum Ausgangspunkt einer Präzisierungs- und Ergänzungsarbeit gemacht werden kann, da es keineswegs so zufällig ist, wie viele Sprachkritiker glauben.
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W. Wieland, Die aristotelische Physik, 19702, S. 145.
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Man wird jedenfalls schwerlich andere Wissensformen finden, welche anthropologisch elementarer und vertrauenswürdiger für die Entwicklung weiteren Wissens sind, als die Wissensformen, die sich in unseren Sprachformen konkretisiert und evolutionär bzw. historisch bewährt haben. Die Tatsache, dass sich in den Forminventaren der verschiedenen Sprachen recht unterschiedliche Wissensinhalte manifestiert haben, spricht nicht generell gegen die Vertrauenswürdigkeit dieses Wissens, sondern eher für die Vielfalt und Ergänzungsbedürftigkeit aller durch Menschen konkretisierter Wissensinhalte und Wissensformen. Wenn man prinzipiell der Auffassung ist, dass zu der Vollständigkeit eines Wissens immer auch das Wissen über dessen Prämissen und dessen Entstehungsgeschichte gehört, dann kann man Denkprozesse am Leitfaden der Sprache nicht generell, sondern allenfalls partiell kritisieren. Auf jeden Fall ist es aber notwendig, das Denken für seine medialen Implikationen zu sensibilisieren. Dabei ist es insbesondere wichtig, die Genese von Begriffen zu thematisieren, wofür insbesondere etymologische Überlegungen und Analysen hilfreich sein können. Es ist nun allerdings auch zu beachten, dass solche Analysen uns im Gegensatz zu den Hoffnungen der ersten Etymologen nicht zu den eigentlichen und wahren Bedeutungen der Wörter führen, sondern allenfalls zu frühen und elementaren. Sie helfen uns zu verstehen, in welchen Denkperspektiven und mit welchen Zielen und Hoffnungen unsere Vorfahren bestimmte Begriffe gebildet haben. Dadurch kann dann auch verdeutlicht werden, dass alle Phänomene vielfältige Einzelaspekte aufweisen und dass wir sie eben deshalb auch in sehr vielfältigen Perspektiven betrachten können. Das impliziert nun allerdings nicht, dass alle Wahrnehmungsmöglichkeiten für die Dinge auch als gleich wichtig oder als gleich brauchbar oder richtig anzusehen sind. Die These des späten Heideggers, dass die Sprache selber spreche und dass wir gleichsam in die Höhe fielen, wenn wir uns ihr anvertrauten, klingt ziemlich märchenhaft geraunt. „Die Sprache spricht. Wenn wir uns in den Abgrund, den dieser Satz nennt, fallen lassen, stürzen wir nicht ins Leere weg. Wir fallen in die Höhe.“35 Man kann dieser These nur dann eine gewisse Plausibilität einräumen, wenn man annimmt, dass sich in allen natürlichen und poetischen Sprachformen und Sprachverwendungsweisen ein anthropologisch sinnvolles Wissen manifestiert hat bzw. objektiviert werden soll. Heideggers etymologische Argumentationsverfahren sind als Sachargumente sicherlich nicht durchschlagend. Sie sind aber möglicherweise dienlich, um am Leitfaden der Sprache in den Prozess der Weltinterpretation einzusteigen und um die spezifischen Differenzierungs- und Objektivierungsinteressen unserer Vorfahren zu erfassen.
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M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 19827, S. 13.
VII Die Sprache als Fluss Im heutigen Sprachgebrauch können wir dem Wort Fluss sowohl eine recht abstrakte als auch eine ziemlich konkrete Bedeutung zuordnen. Ursprünglich scheint das Wort wohl dazu gedient zu haben, auf sehr verallgemeinernde Weise die kontinuierliche Bewegung des Fließens und Strömens von unfesten Substanzen zu bezeichnen (Fluss des Wassers). Dann wurde es mehr und mehr auch dazu benutzt, natürlich gegebene Wasserläufe kategorial von stehenden Gewässern wie etwa Teichen und Seen abzugrenzen. Das eröffnete dann auch die Möglichkeit, das Wort im Plural zu verwenden, was zunächst nicht möglich und auch nicht sinnvoll war. Beide Flussvorstellungen ermöglichen eine sinnbildliche Nutzung, weil sie Bezüge zu unserem sinnlichen Vorstellungsvermögen haben. Gleichwohl scheint die ursprüngliche Flussvorstellung eine größere sinnbildliche Wirksamkeit entfaltet zu haben als die spätere, wofür folgende Wortprägungen und Redewendungen sprechen: Redefluss, Gedankenfluss, Fluss der Zeit, in Fluss kommen, in Fluss bringen usw. All diese Verwendungsweisen des Wortes Fluss dienen dazu, den ständigen Gestaltwandel bzw. die dynamische Kontinuität von Phänomenen über die spezifische Vorstellung des Fließens kognitiv zu erfassen. Gleichwohl ist aber auch festzuhalten, dass die Vorstellung konkreter Wasserläufe ebenfalls sinnbildlich wirksam geworden ist, was beispielsweise folgende Wortprägungen dokumentieren: Flussbett, Flussbiegung, Flussschleife, aber vielleicht auch Einfluss, und Zufluss. Zwar spielt auch bei diesen Sprachformen die relativ abstrakte Vorstellung des Strömens eine wichtige Rolle, aber im Prinzip scheint doch die Vorstellung eines direkt beobachtbaren fließenden Gewässers im Vordergrund der Aufmerksamkeit zu stehen. In den folgenden Überlegungen zu dem sinnbildlichen Potenzial beider Flussvorstellungen für die sinnbildliche Veranschaulichung von Sprache soll sich das Interesse zunächst auf den Fluss als ein konkret beschreibbares Gegenstandsphänomen konzentrieren, weil dieses Vorstellungsbild ganz gut dazu dienen kann, auf grundlegende Struktur- und Funktionsanalogien zwischen einem Fluss und einer Sprache aufmerksam zu machen. Anschließend soll dann der Fluss als allgemeines Strömungs- bzw. Bewegungsphänomen ins Auge gefasst werden, weil in dieser Sichtweise sehr gut auf ganz bestimmte Ähnlichkeiten zwischen der inneren Dynamik eines Flusses und einer Sprache aufmerksam gemacht werden kann. Dabei ist natürlich zu beachten, dass beide Betrachtungsweisen ein ganz beträchtliches Überschneidungsfeld besitzen.
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Die Sprache als Fluss
1. Der Fluss als Gegenstandsphänomen Wenn wir Flüsse als beschreibbare Gegenstandsphänomene ins Auge fassen, dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf ihre konkrete Gestalt und das Spektrum der damit verbundenen möglichen Funktionen. Wir haben zu fragen, wie Flüsse für uns in Erscheinung treten, welche Probleme sie uns stellen und welche Vorteile wir von ihnen haben. Daraus ergeben sich dann perspektivisch bestimmte Wahrnehmungsaspekte für Flüsse, die wir auf ihre möglichen Analogien zur Sprache näher untersuchen können.
Der Fluss als Hindernis und Verbindung In der Regel treten konkrete Flüsse für die Menschen zunächst einmal als Hindernisse in Erscheinung, weil sie ihre natürlichen Bewegungsmöglichkeiten im Raum einschränken. Sie trennen Räume bzw. Lebenssphären von einander und haben damit auch die Funktion von Grenzen, die aufzeigen, dass es für die Lebenswelt der Menschen ein Diesseits und ein Jenseits gibt. Diese Abgrenzungsfunktion von Flüssen provoziert nun die Menschen allerdings auch dazu, die von Flüssen gezogenen Grenzen sowohl mental als auch real überschreiten zu wollen. Sei es, dass sie sich etwas vorstellen, was es jenseits des Flusses geben kann, sei es, dass sie Furten suchen, um Flüsse zu überqueren, sei es, dass sie Fährmittel entwickeln, um Flüsse als natürliche Grenzen zu überwinden, oder sei es, dass sie Brücken bauen, um die Grenzfunktionen von Flüssen prinzipiell aufzuheben. All diese Aktivitäten schließen ein, dass man Flüsse zwar als Grenzen wahrnimmt, dass man sie aber nicht als dauerhafte Abgrenzungen akzeptiert und dass man danach strebt, mit Kulturleistungen gegen Grenzen als einschränkende Naturgegebenheiten anzukämpfen. So gesehen ist die Vorstellung eines Flusses dann auch eigentlich kein Sinnbild für Sprache, sondern eher ein Sinnbild für die Trennungslinie zwischen zwei unterschiedlichen Sphären, die man gerade mit Hilfe der Sprache als Kulturphänomen überwinden möchte. Diese Trennungslinie lässt sich dann als Grenze zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre oder als Grenze zwischen unterschiedlichen Denkräumen oder Individuen verstehen. Die Entwicklung der Sprache wäre dementsprechend als ein Versuch zu werten, Furtstellen zu finden, Fährmittel zu entwickeln oder Brücken zu bauen, um natürlich gegebene Trennungslinien zu überwinden, ohne diese zu leugnen oder generell beseitigen zu wollen. Dadurch würde die Sprache dann als ein Mittel in Erscheinung treten, mit dem man natürliche Barrieren zwar nicht beseitigt, aber doch zu überwinden oder zu beherrschen versucht. Diese sinnbildliche Wahrnehmung von Flüssen ändert sich, wenn wir Flüsse nicht als Trennungslinien zwischen unterschiedlichen Seinssphären ins Auge fassen, sondern vielmehr als Verbindungslinien zwischen ihnen. Das geschieht beispielsweise, wenn wir danach fragen, woher ein Fluss kommt
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oder wohin er fließt. Solche Fragen stellen wir beispielsweise, wenn wir Flüsse als mit Schiffen befahrbare Handelswege ansehen. Dann laden Flüsse nämlich auch dazu ein, sich an ihren Ufern anzusiedeln, weil sie Menschen eine Lebensgrundlage bieten können. Ähnliches gilt auch, wenn Flüsse zum Fischfang genutzt werden. Unter diesen Bedingungen werden einzelne Flüsse zu Bestandteilen eines vielschichtigen Netzwerkes, mit dessen Hilfe Menschen sich räumlich, wirtschaftlich und kulturell miteinander in Verbindung setzen bzw. miteinander interagieren können. Flüsse werden dann nicht mehr als Grenzen und Hindernisse wahrgenommen, sondern vielmehr als Chancen, die eigenen Lebensaktivitäten auszuweiten und neue Erfahrungen zu machen. Diese Wahrnehmungsweise von Flüssen, die zugleich auch immer eine Wahrnehmung von Flüssen als Bestandteilen von Flusssystemen einschließt, regt dazu an, seine Aufmerksamkeit analogisch auf folgende Aspekte von Sprache und Sprachsystemen zu lenken. Auch Sprachen trennen uns ja nicht nur von anderen Welten, sondern helfen uns auch dabei, andere Welten zu erschließen. Sie erleichtern uns die kognitive Strukturierung fremden Terrains und den Austausch von Informationen zwischen unterschiedlichen Kulturräumen und Personen. Allerdings sind dafür immer auch persönliche Anstrengungen notwendig sowie die Einbeziehung weiterer Hilfsmittel, da Flüsse und Sprachen zwar Verbindungswege eröffnen, aber nur grob vordeterminieren, wie diese konkret genutzt werden können. Außerdem kann ein Fluss mit seinen unterschiedlichen Zuläufen auch gut veranschaulichen, wie sich aus vielen Idiolekten, Dialekten, Soziolekten und Funktiolekten allmählich eine umfassende Allgemeinsprache ausbilden kann, in der die Besonderheiten einzelner Sprachformen zwar einerseits aufgehoben werden, aber andererseits auch irgendwie noch bewahrt bleiben. Die unterschiedlichen Zuläufe ergeben bei Flüssen nicht nur eine bloße Addition von Wasser, sondern auch eine neue Flussqualität. Sei es, dass die jeweils zunehmende Menge an Wasser zu einer Beruhigung der Fließgeschwindigkeit und zu neuen Nutzungsmöglichkeiten eines Flusses führt, sei es, dass ein Fluss durch die Verbindung mit anderen Flüssen andere Formen von Grenzen konkretisiert. Auf jeden Fall ist zu beobachten, dass Flüsse wie Sprachen durch Zuflüsse eine größere Eigenmächtigkeit und Eigenständigkeit gewinnen, die sie einerseits gegen punktuelle Eingriffe der Menschen resistenter machen, die aber andererseits den Menschen auch differenziertere Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. Sowohl das Interesse an der Genese von Flüssen als auch das an ihrer Funktion legt es nahe, sich noch genauer mit ihnen als eigenständigen Größen und Machtfaktoren zu beschäftigen. Gerade wenn man sich mit den Abgrenzungs- und Vermittlungsleistungen von konkreten Flüssen beschäftigt, ist es unumgänglich, sich ein Bild davon zu machen, wie sich Flüsse einerseits den Räumen anpassen, zu denen sie gehören, aber andererseits auch immer den Raum verändern, in dem sie in Erscheinung treten. Es ist deshalb auch zu erwarten, dass sich gerade in dieser Wahrnehmungsperspektive interessante Analogien zwischen den Phänomenen Fluss und Sprache ergeben.
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Die Sprache als Fluss
Der Fluss als Medium Wenn wir von den medialen Funktionen des Flusses für die Menschen sprechen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass der Fluss natürlich auch eine innerweltliche Ordnungsfunktion hat. Diese besteht darin, überschüssiges Wasser zum Meer zu transportieren und dadurch zu verhindern, dass bestimmte Regionen versumpfen oder zu Seen werden. Diese Aufgabe kann er allerdings nur dann erfüllen, wenn er sich flexibel dem jeweiligen Raum und den Gesetzen der Schwerkraft anpasst, was sich natürlich auch sinnbildlich recht gut ausdeuten lässt. Ein Fluss exemplifiziert außerdem, dass der direkte Weg zu einem Ziel nicht immer der beste ist. Der beste Weg ist vielmehr derjenige, der unter den gegebenen Rahmenbedingungen die wenigsten Probleme aufwirft. Der Mäander ist deshalb auch zu einem Beispiel dafür geworden, dass ein Fluss trotz vieler Umwege dennoch sein Ziel erreichen kann und dabei sogar noch positive Nebenwirkungen zu erzielen vermag. Daraus könnte dann kraft Analogie abgeleitet werden, dass auch sprachliche Formen, die ihr Ziel direkt erreichen wollen, faktisch nicht immer die brauchbarsten sein müssen, sondern eher diejenigen Formen, die sich den jeweiligen Kognitions- und Kommunikationsbedingungen am flexibelsten anzupassen wissen. Wenn wir den Fluss als ein Vermittlungsphänomen betrachten, dann reicht es nicht aus, ihn als Erschließungsweg für Räume und als Abführweg für überflüssiges Wasser zu betrachten. Wir haben auch zu berücksichtigen, dass er Wasser auch dorthin bringen kann, wo es benötigt wird, und dass er auch noch andere Stoffe als Wasser durch den Raum transportieren kann, nämlich Erde, Steine, Mineralien oder gar Goldkörner. All diese Leistungen fallen nicht unmittelbar ins Auge, aber langfristig gesehen sind sie doch wichtig, weil sie dazu beitragen, Landschaften zu verändern oder ganz neues Land entstehen zu lassen, wenn man beispielsweise an die Deltagebiete der großen Flüsse denkt. Weiterhin haben wir zu beachten, dass Flüsse zumindest in bestimmten Hinsichten über längere Zeit hinweg nicht identisch mit sich selbst bleiben. Sie können viel oder wenig Wasser führen und ihr Bett verändern. Obwohl es faktisch immer eine Grenze zwischen Fluss und Land gibt, so ist diese Grenze doch nicht stabil, sondern ändert sich ständig, weil Land an- oder abgeschwemmt wird. Deshalb verändern Flüsse auch den Raum, aus dem sie kommen, den Raum, durch den sie fließen, und den Raum, in dem sie enden. Sie nehmen gleichsam selbstbezüglich immer wieder Einfluss auf die Bedingungen, unter denen sie als Flüsse existieren, da sie dem Raum eine andere Gestalt geben, zu dessen Bestandteilen sie gleichwohl auch selbst gehören. Menschen können Flüsse in der Regel nur mit mäßigem Erfolg regulieren. Unter Extrembedingungen können Flüsse schnell zu unbeherrschbaren Phänomenen werden. Deshalb werden in Mythen Flüsse auch immer wieder in einem positiven oder negativen Sinne als eigenständige handlungsfähige Wesenheiten oder gar Gottheiten thematisiert.
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Wenn wir nun den Fluss als Sinnbild für Sprache in Anspruch nehmen, dann thematisieren wir ihn in der Regel als eine natürliche Größe, auf die die Menschen nur bedingt Einfluss nehmen können und die wegen ihrer komplexen Funktionen und Implikationen auch nur begrenzt von ihnen beherrschbar ist. Ähnlich wie ein Fluss sich und seine Umwelt schon dadurch merklich und unmerklich verändert, dass er seine vielfältigen Funktionen ausübt, so verändert auch die Sprache sich und ihre Umwelt merklich und unmerklich allein schon dadurch, dass sie verwendet wird. Ebenso wie ein Fluss ruhig dahinfließen kann, aber unter bestimmten Bedingungen auch zu einem reißenden Strom oder gar Wasserfall werden kann, so kann auch die Sprache ruhig dahinfließen oder zu einer mitreißenden Kraft werden, der sich niemand entziehen kann. Ebenso wie ein Fluss Land wegschwemmen oder anschwemmen kann, so kann auch die Sprache verfestigte Denkinhalte auflösen, aber auch neue entstehen lassen. Ebenso wie der Fluss seine konkrete Einbettung in die Landschaft ändern kann, so kann auch die Sprache ihre Einbettung in soziale und geistige Räume ändern und eben dadurch auch diese Räume selbst verändern. Ebenso wie der Fluss sowohl als vermittelndes als auch als trennendes Phänomen in Erscheinung zu treten vermag, so kann auch die Sprache Welten zusammenführen oder trennen. Ebenso wie der Fluss als korrelierendes Medium nicht neutral ist, sondern auch auf das einwirkt, was er verbindet, so verändert auch die Sprache das, zwischen dem sie bestimmte Beziehungen herstellt. Ebenso wie der Fluss allein schon dadurch Umstrukturierungsprozesse auslöst, dass er seine Grundfunktionen ausübt, so ändert auch die Sprache die Welt allein schon dadurch, dass sie faktisch verwendet wird. Wittgenstein hat das Phänomen, dass ein Fluss sich selbst und anderes ständig verändern muss, wenn er seiner Bestimmung treu bleiben will, so formuliert: „Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.“1 Ähnliches gilt sicher auch für die Existenz der Sprache in der Welt. Mauthner hat vom „Strombett der Sprache“ gesprochen, um darauf aufmerksam zu machen, dass jede Sprache im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung Abschleifungsprozessen unterliegt.2 Insbesondere die phonetische Gestalt der Sprache verändere sich im Laufe der Zeit, um Artikulationsprozesse zu erleichtern. Außerdem verweist er darauf, dass sich die Inhalte der Sprache ebenso ändern könnten wie die Zusammensetzung des Wassers in einem Fluss. Ähnlich wie sich die Zusammensetzung von Wassertropfen verändern könnte, weil ein Fluss die von ihm durchflossenen Mineralläger erschöpfte, so
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L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Werkausgabe Bd. 8, 1984, S. 140, Nr. 97. F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906/1982, S. 7f.
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könnten sich auch die Bedeutungen von Wörtern ändern, wenn sich deren Herkunfts- bzw. Bezugswelten im Laufe der Zeit änderten. Oft ist das mythische Bild des Prokrustesbetts bemüht worden, um das Verhältnis von Sprache und Denken zu veranschaulichen. Denkinhalte stünden in der Gefahr, ebenso wie Reisende gedehnt oder verkürzt zu werden, um in das Bett der jeweiligen Sprachkonventionen zu passen. Vielleicht lässt sich aber die Vorstellung des Flussbettes in viel adäquaterer Weise als die des Prokrustesbettes verwenden, um das Verhältnis von Sprache und Denken sinnbildlich zu veranschaulichen. Die Vorstellung des Flussbettes legt zwar auch nahe, dass der aktuelle Gedankenfluss durch das Formbett der jeweiligen Sprache gestaltet wird, aber diese Vorstellung impliziert zugleich auch, dass der aktuelle Gedankenfluss sein vorgegebenes sprachliches Leitbett umgestalten kann. So gesehen versinnbildlicht das Flussbett dann wohl besser als das Prokrustesbett die dialektische Korrelation von Sprache und Denken. Unsere Flussvorstellung wird sinnbildlich auch dann wirksam, wenn wir von Einflüssen sprechen. Dieses Bild legt nahe, dass sich sowohl Wassermassen als auch Denkinhalte verschiedener Herkunft nach einiger Zeit so miteinander vermischen bzw. so miteinander verbinden, dass sie als unterscheidbare Teile kaum noch fassbar sind. Das dokumentiert sich bei der Vereinigung von Flüssen unterschiedlicher Herkunft optisch sehr deutlich. Es zeigt sich aber auch in der metaphorische Rede, bei der Wörter ganz unterschiedlicher kategorialer Herkunft durch faktische syntaktische Korrelationen schließlich so gut zusammenfinden, dass sie dann zu Bestandteilen einer einzigen kohärenten sprachlichen Form- bzw. Inhaltsgestalt werden.
2. Der Fluss als Bewegungsphänomen Bei der Verwendung unserer Flussvorstellung als Sinnbild für Beweglichkeit, Veränderung, Dynamik usw. hat man im abendländischen Denken immer wieder auf Heraklit Bezug genommen, obwohl sich dessen faktische Denkposition wegen der fragmentarischen Überlieferung und der schillernden Interpretationsgeschichte seiner Aussagen nicht eindeutig fixieren lässt. Aber auch unabhängig von den überlieferten Denkfragmenten Heraklits hat die Vorstellung des Flusses als eines Sinnbildes für die spannungsvolle Dialektik von Identität und Wandel, von Dauer und Wechsel, von Sein und Werden, von Stabilität und Flexibilität, von Trägheit und Strömung eine große Plausibilität und Attraktivität. Die Hintergründe dieser Dialektik sollten deshalb aufgeklärt werden, weil alle hier wirksamen Faktoren sicherlich auch die Struktur und Funktion der natürlichen Sprache tief geprägt haben und weiterhin prägen.
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Der Fluss in der Denktradition Heraklits Zwei Fragmente dokumentieren sehr klar, dass Heraklit von der Vorstellung und Erfahrung des Flusses Gebrauch gemacht hat, um das Problem von Identität und Wandel ontologisch auf sinnbildliche Weise zu veranschaulichen: „Wer in denselben Fluß steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.“ „Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht.“ 3
Diese beiden Fragmente sind philosophiegeschichtlich sehr wirksam geworden und haben dazu geführt, dass man Heraklit die ontologische Basisthese zugeschrieben hat, dass nichts dauerhaften Bestand habe, sondern alles fließe (panta rhei). In der Tat wird Heraklit der Fluss ebenso wie das Feuer zu einem Sinnbild für eine Einheit, die sich aus dem spannungsvollen, aber gerade deshalb auch gestaltbildenden Zusammenhang von Gegensätzlichem konstituiert. Mit Hilfe dieser beiden Sinnbilder versucht Heraklit, das Werden in das Sein zu integrieren bzw. das Sein als etwas zu verstehen, dass gerade in Wandlungsprozessen seine eigentliche Gestalt gewinnt. Diese Auffassung wirkt auf den ersten Blick ziemlich problematisch, da sie die Möglichkeit in Frage zu stellen scheint, dauerhaft gültige und wahre Aussagen zu formulieren bzw. Wissenschaft zu betreiben. Über das, was sich ständig ändert, kann man nämlich kaum etwas Verlässliches sagen. Erst bei einer genaueren Prüfung verliert diese Denkposition ihre innere Widersprüchlichkeit. Sie lässt sich dann durchaus als ein ontologisches Denkkonzept verstehen, das hervorheben soll, dass man das Sein nicht als ein statisches, sondern als ein dynamisches Phänomen zu betrachten hat, und dass man auch ein Interesse dafür entwickeln muss, was beim Sein in Wandlungsprozessen relativ stabil bleibt und was sich recht leicht ändert. In dieser Denkperspektive werden dann Fluss und Feuer recht selbstverständlich zu Sinnbildern, die die Möglichkeit einer bestimmten Beständigkeit in Wandlungsprozessen veranschaulichen können. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass insbesondere Hegel von Heraklit fasziniert war, da er in dessen Denken seine eigene Dialektik und Logik vorgebildet sah. „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“ 4 Die sprachtheoretische Relevanz der sinnbildlich ausdeutbaren Flussvorstellung Heraklits wurde schon in der Antike gesehen. Aristoteles hat Kratylos als Anhänger Heraklits kritisiert, weil er dessen Lehre überstrapaziert habe, als er bezweifelt habe, dass wahre Aussagen über eine sich ständig verändernde Welt möglich seien.
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W. Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, 1968, S. 132, Fragment 12 und 49 a. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke Bd. 18, S. 320.
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„Aus dieser Annahme ging die überspannteste unter den erwähnten Ansichten hervor, derer nämlich, die sich Anhänger des Herakleitos nennen, und des Kratylos, der zuletzt gar nichts mehr glaubte sagen zu dürfen, sondern nur den Finger zum Zeigen bewegte und dem Herakleitos Vorwürfe darüber machte, daß er erklärte, man könne nicht zweimal in denselben Fluß einsteigen; denn er selbst meinte, man könne es auch nicht einmal.“ 5
Aristoteles thematisiert hier sehr eindringlich, dass alle Aussagen und alle Begriffsbildungen Gefahr laufen, ihre Grundlage zu verlieren, wenn sich die jeweiligen Referenzbereiche nicht nur in ihren aktuellen Erscheinungsweisen, sondern auch in ihren dauerhaften Seinsweisen ständig ändern. Wenn das nämlich so wäre, dann verlöre letztlich sogar jede Zeigegeste ihre Berechtigung, denn auch das sinnvolle Zeigen setzt ja einen identifizierbaren und irgendwie mit sich selbst identischen Zeigegegenstand voraus. Wenn es keine fassbare Stabilität und Identität von Phänomenen in überschaubaren Zeitabschnitten mehr gäbe, dann verlöre auch die Rede von der Veränderung der Phänomene ihre Grundlage, weil dann auch die Kriterien und Maßstäbe verloren gingen, mit deren Hilfe sich Veränderungen überhaupt feststellen ließen. Wenn man die Wandlungsproblematik in die Seinsproblematik hineinzieht, was das Sinnbild des Flusses natürlich nahelegt, dann stellt sich heute eine Entscheidungsfrage, die in ihrer alternativen Zuspitzung der Antike allerdings noch recht fremd gewesen wäre. Soll man die Einheit der wandlungsfähigen Betrachtungsgegenstände in der Objektsphäre selbst verankern oder soll man sie aus der Subjektsphäre bzw. aus konstanten Wahrnehmungsmethoden ableiten? Im ersten Fall müsste man bei den Betrachtungsgegenständen eine wandlungsfähige Außenseite bzw. Oberflächenstruktur von einer unwandelbare Innenseite bzw. Tiefenstruktur unterscheiden. Im zweiten Fall müsste man die Einheit der Betrachtungsgegenstände primär aus der Einheit und Beständigkeit der Wahrnehmungsperspektiven der jeweiligen Subjekte ableiten. Diese Perspektiven dürften dann allerdings nur eine bestimmte, anthropologisch begründbare Variationsbreite haben, die es ermöglichte, den jeweiligen Dingen noch einen relativ festen Kern bzw. eine stabile Natur zuzuordnen. Da beide Sichtweisen eine gewisse Plausibilität haben, wird man sich wohl kaum für eine der beiden endgültig entscheiden können. Vielleicht ist das auch gar nicht notwendig, denn die heuristische Funktion dieser alternativen Zuspitzung besteht eigentlich nur darin, die Spannweite der ontologischen Probleme aufzuzeigen, die mit der Thematisierung der Sprache durch das Sinnbild des Flusses verbunden ist. Zunächst müssen wir uns nämlich die Frage stellen, was an einem Fluss bzw. an einer Sprache über längere Zeit hinweg stabil bleibt bzw. als gleichbleibend angesehen werden kann und was sich leicht und schnell ändern kann. Wir haben uns Rechenschaft darüber abzulegen, was uns dazu berechtigt, Fluss und Sprache bei allen Unterschieden
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Aristoteles, Metaphysik IV, 5, 1010a, Philosophische Schriften, Bd. 5, 1995, S. 80.
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doch als ähnlich anzusehen. Diese Fragestellung wird wahrscheinlich dazu führen, der Kategorie der Funktion eine größere Aufmerksamkeit schenken zu müssen als der Kategorie der Substanz.
Der Fluss als ein Bild für Stabilität und Flexibilität Welche Einsichten für Sprache eröffnen sich nun, wenn wir im Kontext der Überlegungen Heraklits und unserer eigenen Erfahrungen mit Flüssen die Frage nach der Ähnlichkeit von Fluss und Sprache stellen? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich vielleicht am besten finden, wenn wir in dem ersten Fragment Heraklits das Wort Fluss durch das Wort Sprache ersetzen und das Wort Wasser durch das Wort Bedeutung. Die assoziative Nähe von Fluss- und Sprachvorstellungen bleibt dabei durch das Verb fließen gleichwohl immer noch erhalten: Wer in dieselbe Sprache steigt, dem fließt andere und wieder andere Bedeutung zu. Die vorgenommene Austauschoperation kann uns darauf aufmerksam machen, dass der Sprache ebenso wie dem Fluss im Prinzip immer eine gleichbleibende Identität zugeschrieben werden kann, obwohl die konkreten Teile, mit denen man jeweils in Berührung kommt, sich ständig ändern. Unter diesen Bedingungen kann die Identität von Fluss bzw. Sprache, die auch im Wechsel eine gewisse Stabilität garantiert, letztlich nicht aus der Materialität der jeweiligen Phänomene abgeleitet werden, sondern eher aus ihrer Funktionalität. Fluss und Sprache bleiben funktionell dieselben, obwohl sie sich materiell ständig ändern, weil sie jeweils dieselben konkreten Aufgaben erfüllen. Der Fluss transportiert Wasser von A nach B und die Sprache Bedeutungen bzw. Informationen. Dabei kann das Problem vorerst noch ausgeklammert werden, ob die Sprache tatsächlich Bedeutungen transportiert oder nur Zeichen, die die Menschen dazu anregen, Bedeutungen zu aktivieren oder zu konstituieren. Die Art und Menge der von dem Fluss oder der Sprache transportierten Inhalte sowie deren jeweilige Fließgeschwindigkeit kann sehr unterschiedlich sein, aber dadurch wird die pragmatische Funktionalität beider Phänomene im Prinzip nicht berührt. Das geschieht erst, wenn die zu transportierenden Inhalte nicht mehr als solche gegeben sind. Dieser Fall tritt beim Fluss ein, wenn das Wasser versickert, verdunstet oder gefriert bzw. wenn der Fluss sein Gefälle verliert und zu einem stehenden Gewässer wird. Dieser Fall tritt bei der Sprache ein, wenn diese ihre sinnliche Fassbarkeit verliert, wenn sich die Semantik ihrer Wörter verflüchtigt oder wenn es keine Wissens- und Denkdifferenzen mehr zwischen den jeweiligen Kommunikanten gibt und damit dann auch kein Informationsgefälle bzw. keinen möglichen Informationsfluss. Aus diesem phänomenologischen Befund lässt sich ableiten, dass die Identität und Stabilität der Phänomene Fluss und Sprache letztlich nicht auf deren Substanzialität, sondern eher auf deren Funktionalität zurückzuführen ist. Der Fluss verliert sich selbst, wenn er kein Gefälle mehr hat, und die Sprache verliert sich selbst, wenn es keine auszugleichenden Wissens- und Denkdifferen-
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zen mehr zwischen den Menschen gibt. Wie ein Fluss zu einem stehenden Gewässer bzw. zu einem bloßen Wasserreservoir werden kann, wenn er kein Gefälle mehr hat, so kann auch die Sprache zu einem bloßen Inventar von Zeichen werden, wenn sie ihre intersubjektive Vermittlungsfunktion bzw. ihr dialogisches Gefälle verliert. Wenn wir in einen Fluss steigen bzw. wenn wir mit Sprache in Kontakt kommen, dann erwarten wir, dass uns etwas aus einer anderen Welt zufließt. Derjenige, der in einen Fluss steigt, muss außerdem mit Wasser anders umgehen können als derjenige, der in einen See steigt. Derjenige, der in einen Dialog einsteigt, muss mit Sprache anders umgehen können als derjenige, der in einen Monolog einsteigt. Wenn wir nun das zweite Fragment Heraklits entsprechend dem ersten umformen, dann ergibt sich die folgende interpretationsbedürftige These: Wir steigen in dieselbe Sprache und doch nicht in dieselbe; wir sind es, und wir sind es nicht. Auch in dieser Umformung spitzt sich alles auf die Dialektik von Identität und Wandel auf zwei recht unterschiedlichen Ebenen zu. Auf der einen Ebene geht es um das Problem, ob die Sprache ihre Identität behält, wenn wir sie faktisch aktiv oder passiv nutzen. Auf der anderen Ebene geht es um das Problem, ob derjenige, der in die Sprache bzw. in den jeweiligen Sprachgebrauch eingestiegen ist, derselbe bleibt, der er vorher war. Falls wir in einen Fluss steigen, so steigen wir einerseits natürlich in denselben Fluss, da wir ja in ein Gewässer steigen, das zeitlich und örtlich genau lokalisierbar ist. Andererseits steigen wir aber natürlich nicht in denselben Fluss, da dieser sich ständig aus anderen Wasserbestandteilen konstituiert. Ähnlich geht es uns auch beim Einstieg in dieselbe Sprache bzw. in das Sprechen. Einerseits werden wir dabei in der Regel mit einer bestimmten Sprache konfrontiert, die sich von anderen unterscheiden lässt. Andererseits werden wir aber auch mit Sprachelementen konfrontiert, die sich zwar in morphologischer und semantischer Hinsicht typologisch gleichen, die aber gleichwohl immer einen partiell anderen Inhalt repräsentieren. Das dokumentiert sich insbesondere in Sprachwitzen sehr deutlich, die ja mit den unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten der jeweils verwendeten Wörter spielen. Bei genauerer Betrachtung müssen wir einräumen, dass die Annahme einer mit sich selbst identischen Sprache nur eine pragmatisch nützliche abstraktive Vereinfachung ist. Die Grenzen dieser Vereinfachung zeigen sich sehr deutlich, wenn wir mit Humboldt der Meinung sind, dass sich die Sprache in jedem Sprachgebrauch auf der Basis bestimmter Traditionen faktisch immer wieder neu herstellt, um den „articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.“ 6 Selbst wenn man einräumt, dass bestimmte Sprachgebrauchskonventionen sich systemhaft so verfestigen können, dass man in gewisser Weise von einer
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W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ..., Werke, Bd. 3, S. 418.
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mit sich selbst identischen Sprache sprechen kann, so wird man sich doch dem Gedanken nicht verschließen können, dass es innerhalb eines stabilen Sprachsystems durchaus Varianten geben kann. Wandruszka hat deshalb betont, dass es eine ganz natürliche „muttersprachliche Mehrsprachigkeit“ gebe.7 Weinrich hat postuliert, dass mit dem Begriff der Sprache eigentlich immer Pluralitätsvorstellungen zu verbinden seien, insofern es von einer Sprache immer unterschiedliche Gebrauchsvarianten gebe. Eine bestimmte Sprache trete für uns immer in unterschiedlichen historischen, regionalen, funktionalen und individuellen Varianten in Erscheinung, die wiederum ständig verändernd aufeinander einwirkten.8 Was an einer Sprache auf den ersten Blick als substanziell identisch erscheint, das erweist sich in der Tat auf den zweiten Blick meist nur als funktionell ähnlich. Aus all dem ergibt sich dann auch, dass diejenigen, die in die Nutzung einer Sprache einsteigen, in einem strengen Sinne auf Dauer auch nicht vollständig mit sich selbst identisch bleiben können, weil ihnen mit dieser Sprache ja nicht nur anderes zufließt, sondern weil sie im Umgang mit diesem anderen auch selbst andere werden. Sie erweitern ihre Fähigkeiten, ihre Wahrnehmungshorizonte und ihr Wissen. Dabei bleiben sie sich einerseits natürlich gleich, weil sie ihre spezifische eigene Herkunft und Handlungsfähigkeit ja nicht verlieren, aber sie werden andererseits auch andere, weil sie sich nun auch mit anderem in Beziehung setzen müssen.
Die universale Geltung des Veränderungsprinzips Ebenso wie es in Flüssen unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten bzw. unterschiedliche Intensitäten des Gestaltwandels und der Funktionalität von Wasser gibt, so gibt es auch in der Sprache unterschiedliche Intensitäten des Gestaltwandels und der Funktionalität von Formen. Grammatische Formen ändern sich morphologisch, semantisch und funktional langsamer als lexikalische und textuelle, weil sie fundamentalere Ordnungsstrukturen der Sprache betreffen. An der Gebrauchsgeschichte einzelner Wörter lässt sich gut demonstrieren, dass das Veränderungsprinzip ein konstitutives Grundprinzip der Sprache ist, das sich sehr gut im Bilde des Fließens veranschaulichen lässt. Bei jedem Gebrauch wird ein Wort in ähnliche, aber nicht in identische Kontexte integriert. Der Phänomenologe Schapp hat deshalb davon gesprochen, dass Wörter laufend in neue Verwendungsgeschichten verstrickt würden und dass die Ähnlichkeit ihrer Bedeutungen letztlich aus der Ähnlichkeit der Geschichten resultiere, in die die Wörter verstrickt waren bzw. verstrickt wer-
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M. Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, 1979, S. 13. H. Weinrich, Sprache, das heißt Sprachen, 20032, S. 9 ff.
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den können.9 Dieser Denkansatz macht plausibel, dass Wörter im Laufe ihrer Verwendungsgeschichte nicht nur eine mehrdimensionale Bedeutung bzw. Verweisungsfunktion bekommen, sondern im Fluss der jeweiligen Geschichten auch in ganz neue Referenzregionen vorstoßen können. Das lässt sich sehr schön am Beispiel der Verwendungsgeschichten demonstrieren, in die das Wort Revolution im Lauf der Zeit verstrickt worden ist und in denen es alten Sinn bewahrt, aber auch neuen bekommen hat. Ursprünglich hat der Terminus Revolution dazu gedient, den Umlauf eines Himmelskörpers zurück zu seinem Ausgangspunkt zu bezeichnen. Das dokumentiert ein Buch von Kopernikus aus dem Jahre 1543 sehr gut, das den folgenden Titel trägt: De revolutionibus orbium coelestium (Über die Umläufe der Himmelskörper). Den Sinn dieses Titels würden wir heute gänzlich verfehlen, wenn wir die folgende Übersetzung wählten: *Über die Revolutionen der Himmelskörper. Erst im 17. Jahrhundert ist der Terminus Revolution in den politischen Sprachgebrauch übernommen worden, als die Engländer die Vertreibung der absolutistisch orientierten Stuarts und die vermeintliche Wiederherstellung der alten Verfassungsordnung 1688 als Glorreiche Revolution (glorious revolution) bezeichneten. Diese neuartige Verstrickung des Terminus Revolution in eine politische Geschichte trägt einerseits noch den ursprünglichen restaurativen Sinn des astronomischen Revolutionsbegriffs weiter, aber eröffnet andererseits gleichzeitig auch ganz neue Denkrichtungen. Ähnliches gilt auch noch für die Verwendung des Revolutionsbegriffs zur Erfassung der Ereignisse von 1789 in Frankreich. Auch bei der sogenannten Französischen Revolution spielte ja programmatisch zunächst noch die Wiederherstellung einer ursprünglichen bzw. einer natürlichen Gesellschaftsordnung eine wichtige Rolle. Allerdings führten die neuen Verwendungsweisen des Terminus Revolution und die neuen Erfahrungen mit dem Bezugsbereich dieses Terminus dann doch mehr und mehr dazu, diesen als Bezeichnung für gewaltsame politische Umstürze zu verwenden, aus denen dann ganz neue gesellschaftliche Strukturverhältnisse entstehen können oder entstehen sollen. Wenn wir heute den Terminus Revolution verwenden, dann steigen wir natürlich nicht mehr in die Geschichten ein, in die dieser Begriff vor fünfhundert Jahren eingebettet war. Dennoch haben wir aber wohl einzuräumen, dass auch die heutigen Verwendungsgeschichten dieses Begriffs noch gewisse Überschneidungen mit den alten haben. Diese Überschneidungen werden insbesondere dann für uns aktuell, wenn wir ältere Texte lesen und dabei unser sprachhistorisches Wissen hermeneutisch fruchtbar machen müssen. Anders ausgedrückt: Wenn wir heute das Wort Revolution verwenden, dann steigen wir einerseits in ähnliche Denkzusammenhänge wie frühere Generationen ein, aber
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Vgl. W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 19762, S. 85 ff., 143.
Das Bildfeld der Gewässervorstellungen und die Sprache
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andererseits nicht in dieselben, weil dieses Wort inzwischen auch noch in ganz andere Kontexte verstrickt ist oder verstrickt werden kann. Der grundsätzlichen These Heraklits, dass nicht nur der Fluss, in den die Menschen steigen, nicht mit sich selbst identisch bleibt, sondern dass auch die Menschen nicht dauerhaft mit sich selbst identisch bleiben, wenn sie in dem Fluss neue Erfahrungen machen, wird man heute sicher einen recht universalen Geltungsanspruch zuordnen können. Das liegt sicher auch darin begründet, dass in unserem heutigen Denken die Kategorien Substanz und Wesen eine sehr viel weniger wichtige Rolle spielen als die Kategorien Funktion und Struktur. Wenn wir die Eigentümlichkeit eines Phänomens aus seiner Funktionalität ableiten, dann muss sich dieses Phänomen zwangsläufig ändern, um auch unter anderen Rahmenbedingen noch ähnliche Funktionen übernehmen zu können. Das gilt gleichermaßen für Flüsse, Menschen, Wörter und Sprache. Was vollständig mit sich selbst identisch bleiben will, ist dem Tode geweiht, nur was sich wandeln kann bzw. was wandlungsfähig bleibt, hat zumindest nach Maßgabe des Evolutionsgedankens eine Überlebenschance. Streit kann es eigentlich nur darüber geben, welche Aspekte oder Ebenen von Phänomenen von solchen Wandlungsprozessen primär betroffen werden und welche sekundär, welches Ausmaß und welche Schnelligkeit von Wandlungsprozessen ihnen jeweils zuträglich sind und unter welchen Bedingungen wir sich wandelnde Phänomene als neuartige Phänomene betrachten. Unberührt davon bleibt aber die ontologische Basisthese, dass lebende Phänomene sich ständig ändern müssen, um in einem pragmatischen Sinne gleich bleiben zu können bzw. um ihre innere Kontinuität und Funktionalität zu erhalten. In diesem Zusammenhang kann auch noch einmal auf den schon mehrfach erwähnten Begriff Fließgleichgewicht Bezug genommen werden, den der Biologe Ludwig von Bertalanffy in Anlehnung an Heraklit ins Spiel gebracht hat.10 Mit ihm wollte er darauf aufmerksam machen, dass offene Systeme und insbesondere Organismen sich nur im Vollzug ständiger Aufbau- und Abbauprozesse als eigenständige Größen erhalten und funktionelle Autonomie und Identität gewinnen können. Wenn nun aber alles Lebendige durch die Spannung von Dauer und Wechsel bzw. von Stabilität und Flexibilität geprägt ist, dann bietet es sich natürlich an, die Vorstellung des Flusses als Sinnbild für alles lebendig Wirksame und damit auch für Sprache in Anspruch zu nehmen.
3. Das Bildfeld der Gewässervorstellungen und die Sprache Die Inanspruchnahme des Flusses als Sinnbild für Sprache führt natürlich zu der Frage, ob auch noch anderes Gewässervorstellungen wie etwa die Vorstellung der Quelle, des Brunnens, des Sees, des Meeres, des Kataraktes, des
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L. von Bertalanffy, Das biologische Weltbild, 1949, S. 120 ff., 136 ff.
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Sumpfes usw. tauglich sind, um sinnbildlich auf die Sprache bzw. auf bestimmte Sprachaspekte aufmerksam zu machen. Dieser Fragestellung soll hier exemplarisch nachgegangen werden.
Quelle und Brunnen Das Vorstellungsbild des Brunnens und der Quelle hat man immer wieder genutzt, um sich das Problem der Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart sinnbildlich zu veranschaulichen. Während sich mit dem Bilde des Brunnens eher statische Vorstellungen von der Vergangenheit als einer eigenen Sphäre oder Welt verbinden, assoziieren sich mit dem Bilde der Quelle eher dynamische Vorstellungen von den Einwirkungsmöglichkeiten der Vergangenheit auf die Gegenwart. Der Brunnen tritt für uns als ein Wasserspeicher in Erscheinung, aus dem die Menschen nach Bedarf das von ihnen benötigte Wasser entnehmen können. Deshalb spricht man ja auch von dem Brunnen der Vergangenheit, aus dem man aus früheren Zeiten das entnehmen kann, was man für die Gegenwart benötigt. Dabei wird zugleich nahegelegt, dass das Vergangene nicht offen zu Tage liegt, sondern mit einer gewissen Anstrengung aus der Tiefe hervorgeholt werden muss, in der es eine kühle Abgeklärtheit gefunden hat. Zur Vorstellung eines Brunnens gehört weiterhin, dass er als Reservoir von Wasser ausgeschöpft, zugeschüttet oder gar vergiftet werden kann und dass er eben dadurch dann auch die Funktionen verlieren kann, die ihm üblicherweise zukommen. Wenn wir den Brunnen als Sinnbild für Sprache thematisieren, dann tritt die Sprache insbesondere als Reservoir historisch erarbeiteten Wissens in Erscheinung, das zwar einerseits aus einer anderen Welt kommt, das aber andererseits auch für die aktuelle Lebenswelt nutzbar gemacht werden kann. Obwohl das Wasser im Brunnen bzw. das Wissen in der Sprache aus der faktischen Lebenswelt kommt, so verselbständigt es sich in diesem Sinnbild doch immer zu einer eigenständigen Größe, die in einer gewissen Distanz und Spannung zur aktuellen Lebenswelt steht. Die sinnbildliche Thematisierung der Sprache als Quelle impliziert dagegen ganz andere Assoziationen. Eine Quelle sprudelt, sie bringt ihr Wasser ohne unser Zutun wieder in die ursprüngliche menschliche Lebenswelt zurück. Quellen muss man nicht wie Brunnen bohren oder graben, sondern allenfalls so einfassen, dass sich ihr Wasser gut nutzen und ableiten lässt. Brunnen muss man herstellen, Quellen muss man finden. Das Wasser des Brunnens holt man sich nach Bedarf aus einem gegebenen Vorrat, das Wasser der Quelle sprudelt einem ohne eigenes Zutun einfach entgegen. Deshalb lässt sich die Quelle auch nicht nur als Sinnbild des Ursprungs verstehen, sondern auch als Sinnbild eines Überflusses, der allerdings auch versiegen kann. Nicht zufällig arbeitet die Geschichtswissenschaft mit dem Sinnbild der Quelle. In ihr hat sich dieses Sinnbild geradezu zu einem Begriff verselbständigt, mit dem man das Inventar aller Zeichen, Hinterlassenschaften und Spuren
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erfasst, aus dem sich Geschichte als ein kohärenter Gestaltzusammenhang rekonstruieren lässt. Für die Geschichtswissenschaft gibt es je nach ihren Fragestellungen verlässliche und problematische bzw. ergiebige und unergiebige Quellen. Erst konkrete Wahrnehmungsinteressen und Fragen machen historische Relikte zu Zeichen bzw. Quellen, aus denen dann Informationen fließen, die man vorher nicht oder nicht so gehabt hat. Zu den Quellen des Historikers gehören keineswegs nur überlieferte Texte, sondern historische Hinterlassenschaften aller Art, die sich als Zeichen für etwas anderes interpretieren lassen. Quellenfindung, Quellenerschließung, Quelleninterpretation und Quellenkritik gehören deshalb zu den genuinen Aufgaben des Geschichtsschreibers. Wenn man sich nun die Sprache mit Hilfe des Sinnbilds Quelle zu erschließen versucht, dann erscheint uns die Sprache zunächst als etwas, was uns auf vielfältige Weise mit der Vergangenheit bzw. mit historisch erarbeitetem Wissen bekannt machen kann. Allerdings müssen wir die richtigen Fragen stellen, damit die Sprache als selbständige historische Wissensquelle für uns sprudeln kann. In diesem Zusammenhang kann man sowohl an konkrete Texte denken, in denen sich bestimmte Sinnbildungsanstrengungen unserer Vorfahren konkretisiert haben, als auch an das Repertoire grammatischer lexikalischer, stilistischer und textueller Formen, in denen sich ein praktikables sprachliches Differenzierungs- und Objektivierungswissen angesammelt hat. Das Sinnbild der Quelle veranschaulicht so gesehen sehr gut, dass altes und neues Wissen immer in einer Kontinuitätsrelation zueinander stehen. Die Sprache kann insgesamt als eine Quelle für unser konkretes Denken verstanden werden, weil sie uns auf verschiedenen Ebenen den Einstieg in den hermeneutischen Zirkel der Weltinterpretation ermöglicht. So gesehen verliert die schon erwähnte These Heideggers, dass die Sprache selbst spreche, auch etwas von ihrem paradoxen Charakter.11 Wir benutzen die sprachlichen Formen nicht nur, um differenzierter zu denken, sondern auch dazu, um uns durch sie zum Denken anregen zu lassen. Allein durch den Gebrauch von Sprache können wir retrospektiv und prospektiv neue Gedanken induzieren.12 So gesehen lassen sich neben unseren Sacherfahrungen auch unsere Spracherfahrungen als erste Ursachen bzw. Prinzipien oder als Quellen unseres Wissens ansehen. Wir können davon ausgehen, dass sich in allen überlieferten Manifestationsformen von Sprache ein brauchbares Wissen von der Welt angesammelt hat, das sich über lange Zeit hinweg auf evolutionäre Weise gebildet und über Selektionsprozesse gefestigt und als brauchbar bestätigt hat. Gerade weil dieses Wissen keine endgültige Gestalt gefunden hat, sondern sich ständig wandeln und abwandeln kann, lässt es sich als eine ständig sprudelnde Wissensquelle verstehen, deren Inhalte vielfältig verwendbar sind.
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Vgl. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 19827, S. 13. Vgl. H. von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, Werke, Bd. 2, 19622, S. 319 ff.
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Aus all dem ergibt sich dann, dass die Antworten auf die Frage nach dem in sprachlichen Formen angesammelten Wissens nicht nur einen gegebenen Wissensdurst zu löschen vermögen, sondern durchaus auch neuen Wissensdurst erzeugen können. Blumenberg hat diesbezüglich auf eine interessantes Diktum von Goethes Schwager Christian August Vulpius verwiesen, der 1788 unter dem Stichwort Universität in einem Glossarium folgende Definitionsformel vermerkt hat: „... der schönste Ort, an der Quelle Durst zu leiden.“ 13
Meeresvorstellungen und Sprache Während der Fluss für uns ein Gewässer ist, mit dem wir die Vorstellungen von zielgerichteter Bewegung, kontinuierlicher Vergrößerung sowie von Ursprung und Ziel verbinden, ist das Meer für uns ein Gewässer, mit dem wir die Vorstellungen von Unendlichkeit und Autarkie verbinden und nur unter bestimmten Voraussetzungen die Vorstellung von Bewegtheit, Gefahr und Unbeherrschbarkeit. Diese Wahrnehmungsimplikationen von Flüssen und Meer haben den Chinesen Chi Li Anfang des 20. Jahrhunderts wohl dazu motiviert, eine interessante Opposition zwischen der abendländischen und der chinesischen Kultur zu postulieren. Dabei nimmt er insbesondere auf die alphabetische Schrift des Abendlandes und die hieroglyphische Begriffsschrift der Chinesen Bezug, die jeweils in einer bestimmten inneren Verwandtschaft zu ihren jeweiligen Bezugssprachen stünden. In der alphabetischen Schrift sieht Chi Li ein ständiges Bemühen repräsentiert, bestimmte Spracheinheiten analytisch in ihre Bestandteile zu zerlegen und anschließend wieder synthetisch zusammenzufügen. Dadurch bekomme das Denken bzw. die Kultur eine ungeheure Dynamik und Beweglichkeit, weil alles auf Wandel angelegt sei, was dann allerdings auch die Gefahr des Wankelmutes impliziere. Demgegenüber sei die traditionelle chinesische Schrift, Kultur und Sprache auf große Beständigkeit und gleichbleibende Ruhe angelegt, was eher eine Ähnlichkeit zur Vorstellung des Meeres als des Flusses nahelege. Diesen Unterschied charakterisiert er dann konkret so: „Gewiß kann dieses Phänomen zum Teil mit der außerordentlichen Flüssigkeit der alphabetischen Sprache erklärt werden, auf die man sich nicht als ein geeignetes Organ für die Aufbewahrung einer beständigen Idee verlassen kann. Die intellektuellen Inhalte dieser Völker können eher mit Wasserfällen und Katarakten verglichen werden als mit Seen und Ozeanen. Kein anderes Volk ist reicher an Ideen als sie; aber auch kein anderes Volk ist so schnell bereit, seine wertvollen Ideen aufzugeben. Die chinesische Sprache ist in jeder Hinsicht das Gegenstück zu dem alphabetischen Sprachschatz. Ihr fehlen die meisten Vorzüge, die sich in alphabetischen
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Vgl. H. Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte, 15, 1971, S. 195.
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Sprachen finden; aber als Verkörperung einfacher und endgültiger Wahrheiten trotzt sie jedem Sturm und Druck. Schon mehr als vier Jahrtausende schützt sie die chinesische Kultur. Sie ist beständig, ausgeglichen und schön, ebenso wie der Geist, den sie repräsentiert. Ob es der Geist ist, der diese Sprache geschaffen hat, oder aber diese Sprache ihrerseits den Geist gebildet hat, ist eine Frage, deren Beantwortung noch aussteht.“14
Aufschlussreich für das sinnbildliche Potenzial unserer Gewässervorstellungen ist auch, dass unsere Termini Stagnation bzw. stagnieren auf die lateinischen Termini stagnum (See, Teich, stehendes Gewässer) bzw. stagnare (einen Teich bauen, Wasser zum Stehen bringen) zurückgehen. Das zeigt, dass wir Flüsse in der Regel mit der Vorstellung der Bewegung und Dynamik verbinden und stehende Gewässer mit der Vorstellung der Ruhe und des Stillstandes. Stehende Gewässer laufen immer Gefahr, auf Dauer zu versumpfen, zu verlanden oder auszutrocknen, wenn sie keine erneuernden Zuflüsse von außen haben. Wenn man diesen Umstand sinnbildlich auf die Sprache bezieht, dann ergibt sich, dass auch sie Gefahr läuft, zu faulen oder auszutrocknen, wenn sie sich nicht durch ständige Zuflüsse von außen regenerieren kann, seien es nun Zuflüsse aus anderen Sprachen, aus neuen Formbildungen oder aus metaphorischen Sprachverwendungsweisen. Bei der Vorstellung des Meeres fällt die Notwendigkeit der regenerierenden Zuflüsse wegen der ungeheueren Wassermengen nicht so klar ins Auge, es sei denn, dass man an das Tote Meer denkt. Meer und Sprache haben für den Menschen gleichermaßen den Charakter der Unendlichkeit, weil beide Bereiche für ihn nur partiell überschaubar und beherrschbar sind. Angesichts der Größe und Komplexität dieser Phänomene wird der Mensch recht klein. Er muss lernen, sich auf sie einzustellen, weil er sie nicht einfach für seine Zwecke in Dienst nehmen kann, sondern auch von ihnen in Dienst genommen bzw. von ihnen abhängig werden kann. Deshalb soll zum Abschluss noch kurz auf zwei Aphorismen eingegangen werden, die am Beispiel einer bestimmten Meereserfahrung das spannungsreiche Verhältnis des Menschen zur Welt thematisieren. Ähnliche Gedanken könnte man sicherlich auch am Beispiel einer entsprechenden Spracherfahrung entwickeln. Robert Musil hat in einem schon erwähnten Aphorismus auf sehr aparte Weise im Kontext von Wasser- und Meeresvorstellungen zur Wahrheitsproblematik Stellung genommen, die ja hochgradig mit der Sprachproblematik verwachsen ist. „Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“15 In dieser sinnbildlichen Rede erscheinen die Wahrheit und, wenn man so will, wohl auch die Sprache nicht als Größen, die man einfach in seine Gewalt bringen kann. Beide haben nicht den Gegenstandscharakter, den man ihnen im
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Chi Li, 1922, zitiert nach F. Coulmas, Alternativen zum Alphabet, in: Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit, hrsg. von K. B. Günther / H. Günther, 1983, S.171–172. 15 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, 1987, Bd. 2, S. 533–534.
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alltäglichen Denken gerne zuschreiben möchte. Deshalb identifiziert Musil die Wahrheit auch mit einer unendlichen Flüssigkeit, die keine direkt fassbare und beherrschbare Form hat. Das bedeutet, dass man sich der Wahrheit bzw. der Sprache irgendwie anpassen muss, um beide für das eigene Leben tragfähig zu machen. In beiden Phänomenen kann man versinken, wenn man sich nicht angemessen in ihnen bewegt. Allerdings werden sowohl das Wasser als auch die Sprache für den Menschen nur dann tragfähig, wenn man sich adäquat auf sie einstellt und wenn man sich zweckdienlich und sinnvoll in ihnen bewegt. Der zweite Aphorismus stammt von Jacob Burckhardt und ist auf das Problem der Erfahrung der Geschichte im Ozean unserer allgemeinen Erfahrungen bezogen. In ihm wird thematisiert, dass die Geschichte eigentlich keine klar abgrenzbare Größe ist, die den Menschen durch die Zeit trägt und die er auch von außen betrachten kann, sondern dass sie vielmehr als eine Größe anzusehen ist, die der Mensch über Korrelations- und Interpretationsanstrengungen erst selbst als eine fassbare Sinngestalt konstituiert. Das bedeutet, dass die Geschichte als konkret vorgestellte oder vorstellbare Geschichte auch immer ein Produkt des Menschen ist und damit auch ein Teil seiner selbst. „Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.“16 Wenn wir diesen Aphorismus nicht nur auf unser Verständnis von Geschichte beziehen, sondern auch auf unser Verständnis von Sprache, dann ergeben sich vielleicht folgende Einsichten. Ebenso wie man die Geschichte nicht als eine von den handelnden und verstehenden Menschen klar abgrenzbare eigenständige Größe zu verstehen hat, so sollte man auch die Sprache nicht als ein System von eigenständig existierenden Zeichen und Regeln verstehen. Sie sollte vielmehr als eine Erscheinungsweise von menschlichen Aktivitäten und stabilisierten semiotischen Handlungstraditionen verstanden werden und damit im Prinzip als eine spezifische Manifestationsform des Menschen als eines Zeichen- und Kulturwesens (animal symbolicum). Der Mensch wäre dann weder denkbar als ein Lebewesen, das keine Geschichte ausbildet, noch denkbar als ein Lebewesen, das keine Sprache ausbildet. Das, was auf den ersten Blick als ein autonomes Phänomen erscheint, das von menschlichen Aktivitäten abtrennbar ist, wäre in Wirklichkeit etwas, was Menschen konstituieren und was zur Verwirklichung von Menschen als Menschen gehört. So gesehen müsste die Sprache dann als eine genuine Vollzugsform der kulturellen bzw. geistigen Existenz von Menschen verstanden werden. Sie dürfte nicht abstraktiv auf ein System von direkt beobachtbaren Zeichen und Regeln reduziert werden bzw. auf ein Werk (Ergon) im Sinne Humboldts oder auf ein Sprachsystem (langue) im Sinne de Saussures. Sprache wäre dann als Denkgegenstand primär immer über den dialogischen bzw. den sinnbildenden Sprachgebrauch zu erschließen.
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J. Burckhardt, Historische Fragmente, 1988, S. 288.
VIII Die Sprache als Speicher Die These, dass sich mit Hilfe der Sprache Wissen objektivieren und für einen späteren Gebrauch speichern lasse, ist sicherlich unstrittig, wenn nicht trivial. Sie wird erst dann interessant, wenn wir nach ihren Implikationen fragen und zu klären versuchen, auf welche faktischen Erscheinungsformen von Sprache sich diese These beziehen lässt und welche Typen von Wissen wir dabei im Auge haben können. Sollen wir uns z. B. auf bestimmte Sachbehauptungen in konkreten Sachtexten beziehen, die wir der Wahrheitsfrage unterwerfen können, oder auf hypothetische Denkinhalte in Fiktivtexten, die wir mit Hilfe der Sprache intersubjektiv verständlich objektivieren können? Sollen wir uns auf die Inhalte von konkreten Prädikationen beziehen oder auf die abstrakten Denkmuster, die in lexikalischen, grammatischen und textuellen Formen zum Ausdruck kommen und die ein sehr allgemeines, aber durchaus verwendungsfähiges Differenzierungs- und Handlungswissen repräsentieren? Sollen wir uns auf das Wissen beziehen, das uns als Gegenstandswissen etwas über die physische, soziale und geistige Welt sagt, oder auf das Wissen, das uns als Handlungswissen etwas über den adäquaten Umgang mit solchen Welten sagt? Es ist offensichtlich, dass sich die Frage nach der Speicherfunktion der Sprache für Wissen gar nicht so leicht beantworten lässt, wie es auf den ersten Blick als möglich erscheint, weil wir dabei zugleich immer auch Antworten auf unseren bevorzugten Zeichen-, Sprach- und Wissensbegriff geben müssen. Auf jeden Fall wird schnell deutlich, dass sich in der Sprache Wissen nicht auf dieselbe Weise speichern lässt wie Waren in einem Lagerhaus und dass uns die Frage nach der Speicherfunktion der Sprache zugleich in anthropologische und semiotische Grundprobleme führt, die kaum endgültig zu lösen sind, weil sie nicht nur sachsystematische, sondern auch kulturhistorische und emotionale Dimensionen haben. Das wird schon deutlich, wenn wir verwandte Sinnbilder ins Auge fassen und die Sprache nicht nur als Speicher, sondern auch als Schatzkammer, Schwamm, Museum oder Ruine betrachten. Außerdem zwingt uns die Frage nach der Sprache als Speicher auch grundsätzlich dazu, uns mit dem Problem der Schrift und des Gedächtnisses auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang taucht dann zugleich das Problem des Ballastes auf, das in der Schifffahrt ja recht ambivalente Implikationen hat, insofern der Ballast ein Schiff einerseits zwar unbeweglicher macht, es aber andererseits auch in stürmischem Wetter stabilisiert. Beim Sprechen macht der Ballast der überlieferten Sprachformen und Sprachinhalte das individuelle Denken sicherlich schwerfälliger, aber gibt diesem zugleich auch eine größere Stabilität. Hugo von Hofmannsthal hat diese Traditionsbe-
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lastung und Traditionshilfe in einem schon erwähnten prägnanten Bilde thematisiert: „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.“1 Die Erschließung der Sprache mit Hilfe des Sinnbildes Speicher legt zunächst einmal nahe, die Unterscheidung zwischen Sprachsystem (langue) und Sprachverwendung (parole) für sehr plausibel zu halten. Je mehr wir uns allerdings mit dem Problem beschäftigen, wie abgespeicherte Wissensinhalte in der Sprache aufzufinden sind und wie sie gebraucht, umgestaltet oder innovativ miteinander kombiniert werden können, desto mehr zeigen sich auch die Grenzen dieser eigentlich nur methodisch zu rechtfertigenden Unterscheidung. Wenn wir von sprachlichen Sinnbildungen sprechen, dann wird einerseits klar, dass wir auf die Vorstellung eines sprachlich eingelagerten und abrufbaren Wissens nicht verzichten können. Andererseits wird aber auch klar, dass sich dieses Wissen nicht mechanisch verwenden lässt, weil es sich bei jeder Verwendung auch partiell wieder verändert, insofern es ja in neue Kontexte eingebettet wird und in diesen seine Funktionalität und Vitalität beweisen muss.
1. Die Sprache und das Bewahrte Die sinnbildliche Thematisierung der Sprache als Speicher konfrontiert uns auf ganz unmittelbare Weise mit der Frage, ob und wie sich sprachlich konkretisiertes Wissen bewahren, anhäufen und abrufen lässt bzw. ob es sich diesbezüglich überhaupt mit natürlichen oder artifiziellen Waren analogisieren lässt. Solche Fragen wird man kaum abschließend beantworten können, aber sie können durchaus unser Erkenntnisinteresse an der Sprache auf fruchtbare Weise heuristisch perspektivieren. Außerdem werden wir durch sie auch vor die Entscheidungsfrage gestellt, ob wir die Sprache primär in einem monologischen Blickwinkel betrachten wollen, der sich im Prinzip auf das Interesse an ihren Darstellungsfunktionen für Sachverhalte konzentriert, oder in einem dialogischen Blickwinkel, in dem auch ein Interesse an ihren Einwirkungsfunktionen auf etwaige Kommunikationspartner besteht. Weiterhin nötigt uns diese sinnbildliche Sicht auf Sprache dazu, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob wir unseren bevorzugten Sprachbegriff an der natürlichen Umgangssprache orientieren sollen oder an formalisierten Fachsprachen. Die Wahrnehmung der Sprache als Wissensspeicher zwingt außerdem dazu, uns Rechenschaft über unser Verständnis des Begriffs Ware abzulegen, da ja Speichervorstellungen und Warenvorstellungen assoziativ eng miteinander verbunden sind. Dabei müssen wir uns dann allerdings davor hüten, unser gegenwärtiges Warenverständnis, das oft einen etwas abschätzigen ökonomischen Beigeschmack hat (Konsumware, Warenfetischismus, Warenverbrauch) zu einer normativen Leitvorstellung zu machen. Wenn wir nämlich unsere
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H. von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa I, S. 267.
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Vorstellung von Waren in historischer und anthropologischer Perspektive betrachten und unseren Warenbegriff mit der Vorstellung einer produktiven Anstrengung im Rahmen der allgemeinen Lebensvorsorge verbinden, dann ergibt sich ein ganz anderes Verständnis von Waren und damit auch von gespeichertem Wissen.
Die Warenvorstellung Das Wort Ware hat in unserem heutigen Sprachgebrauch vor allem deswegen einen fast negativen Klang bekommen, weil wir es weitgehend als Bezeichnung für industriell gefertigte Konsumgüter benutzen, die für uns eher einen pragmatisch-ökonomischen als einen kulturell-anthropologischen Wert haben. In früheren Zeiten hat dieses Wort allerdings einen ganz anderes semantisches Profil gehabt und dementsprechend auch eine ganz andere kulturelle Aura, was dann natürlich auch seine sinnbildlichen Verwendungsmöglichkeiten maßgeblich beeinflusst hat. Etymologisch gesehen ist aufschlussreich, dass der Terminus Ware ursprünglich offenbar nicht dazu gedient hat, nur praktische Gebrauchsgüter begrifflich zu erfassen, sondern vielmehr alle Güter, die man in Gewahrsam genommen hatte und für die man dann aufsichtspflichtig war. Dafür spricht, dass das ahd. Wort wara ursprünglich soviel wie Treue, Vertrag und Wahrheit bedeutet hat. Als Waren wurden zunächst daher Gegenstände und Sachverhalte bezeichnet, die man unter seiner Obhut hatte und die man schützen musste. Unser heutiges Verständnis von Waren wird durch diese ursprüngliche Semantik des Begriffs Ware natürlich nicht mehr normativ geprägt, aber dieses etymologische Wissen macht uns gleichwohl dafür sensibel, den Begriff der Ware nicht nur in einem rein ökonomischen Denkhorizont zu verstehen. Das würde dann auch ermöglichen, das in der Sprache gespeicherte Wissen als eine schützenswerte Leihgabe früherer Generationen an spätere anzusehen. Wichtig wäre diesbezüglich dann weiterhin, dass unserer Warenbegriff anfangs offenbar in einem engen Zusammenhang mit unserem Wahrheitsbegriff gestanden hat. Wenn man nun vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund des Warenbegriffs die Sprache als Aufbewahrungsort für kulturell erarbeitetes Wissen ansieht, dann stellt sich natürlich die Frage, wie man das sprachlich konkretisierte Wissen lebendig und wirksam halten kann. Dabei führt sicherlich die Vorstellung nicht viel weiter, dass in der Sprache Wissen auf dieselbe Art aufbewahrt werden könne wie Nägel in einem Lagerhaus oder Mumien in einem Museum. Immer werden wir mit dem Tatbestand konfrontiert, dass sich in der Umgangssprache nur dasjenige Wissen als lebendiges Wissen aufbewahren lässt, welches unmittelbar relevante Bezüge zur Lebenswelt der Menschen besitzt. Goethe hat in seinem Gedicht – Sprache – auf diese Problematik wie schon erwähnt dadurch aufmerksam gemacht, dass er die Sprache sowohl mit der Vorstellung „reich vergrabener Urne Bauch“ in Zusammenhang gebracht
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hat als auch mit der Vorstellung „Schwert im Arsenal.“2 Durch diese beiden Bilder macht er uns darauf aufmerksam, dass die Sprache einerseits Aufbewahrungsort für die Überreste vergangenen Lebens sein kann, aber andererseits auch eine Sammlung von sprachlichen Waffen, welche aus diesem Aufbewahrungsort nach Bedarf entnommen werden können. Gerade die Vorstellung, dass die Sprache ein Aufbewahrungsort für Waffen sein kann, erinnert an ein schon thematisiertes Sinnbild für Sprache, das für Luther eine große Rolle gespielt hat. „Die Sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt.“ Darüber hinaus sieht Luther aber auch, dass die Sprachen zugleich Aufbewahrungsorte für Inhalte sind, die noch ganz andere lebenswichtige Funktionen haben, denn er fährt fort: „Sie sind der schreyn, darynnen man dis kleinod tregt. Sie sind das gefess, darynnen man disen tranck fasset. Sie sind die kemnot, darynnen diese speyse ligt. Und wie das Euangelion selbs zeygt, Sie sind die körbe, darynnen man dise brot und fische und brocken behellt.“ 3
Die Nahrungsvorstellung Wie das Zitat von Luther dokumentiert, lässt sich das in der Sprache Aufbewahrte nicht nur mit Werkzeugvorstellungen, sondern auch mit Nahrungsvorstellungen in Verbindung bringen. Deshalb sprechen wir ja auch recht unbefangen von geistiger Nahrung, von Begriffsvorräten, von sprachlichem Genuss, von dem Verdauen neuer Informationen oder auch von einem Wissenshunger. Bezeichnenderweise hat Baudy sogar die Auffassung vertreten, dass das gerechte Verteilen der Nahrung als „Urtypus sozialer Distribution“ anzusehen sei, die „kulturgeschichtlich auf das Verteilen der Jagdbeute durch die frühzeitlichen Jäger zurückgeht“, und dass die Idee der Hybris ursprünglich mit der Vorstellung verbunden gewesen sei, „sich auf Kosten anderer zu überfüllen.“ 4 Erhellend für die traditionelle Verknüpfung des Vorstellungsfeldes Nahrung mit dem von Geist oder Sprache ist auch, dass das Wort Nahrung etymologisch auf das ahd. Verb nerian (retten, am Leben erhalten) zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass man ursprünglich wohl davon ausging, dass wir sowohl für die Aufrechterhaltung unserer körperlichen Handlungsfähigkeiten als auch für die unserer geistigen Handlungsfähigkeiten einer ständigen Nahrungszufuhr bedürften. Deshalb wird auch immer wieder sowohl die Zubereitung von Speisen als auch die Konzipierung von Denkinhalten als eine genuine
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J. W. von Goethe, Sprache, Werke Bd. 1, S. 63. M. Luther, An die Burgermeyster und Radherren allerley stedte ynn Deutschen landen, Werke Bd. 15, S. 38. 4 G. J. Baudy, Metaphorik der Erfüllung, Archiv für Begriffsgeschichte, 25, 1981, S. 17. 3
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Kulturleistung angesehen. Über vertraute Speisen scheint sich ebenso wie über vertraute Sprachformen ein Heimatgefühl erzeugen zu lassen. Außerdem können wir uns bezeichnenderweise ja sowohl exquisite Speisen als auch außergewöhnliche sprachliche Formulierungen auf der Zunge zergehen lassen. Ebenso wie man Speisen individuell würzen kann, so lassen sich auch Aussagen durch sogenannte Würzwörter (Modalpartikeln) individuell anreichern. Ebenso wie es eine natürliche Nahrung gibt, so gibt es auch eine natürliche bzw. spontane Sprache. Ebenso wie es ein vorgefertigtes Kantinenessen gibt, so gibt es auch Texte aus vorgefertigten Versatzstücken. Ebenso wie es eine unverwechselbare persönliche Zubereitungsform von Mahlzeiten gibt, so gibt es auch eine unverwechselbare persönliche Realisationsform von Sprache, wofür ja auch immer wieder der Stilbegriff in Anspruch genommen worden ist. Ebenso wie es Traditionen und Rituale der Zubereitung von Speisen und des Essens gibt, so gibt es auch Traditionen und Rituale der Textherstellung und des Sprechens, die niemand ungestraft verletzen darf. Aufschlussreich ist weiterhin, dass wir bei der attributiven Qualifizierung sprachlicher und geistiger Formen bzw. bei der Prägung idiomatischer Formeln immer wieder ganz ungeniert auf Geschmacksvorstellungen Bezug nehmen: verdorbene Sprache, fade Sätze, abgestandene Thesen, aufgewärmte Theorien, ungenießbare Sprache, ekelhafte Ausdrücke, süße Mitteilungen, merkwürdiger Beigeschmack, köstliche Bemerkungen usw. Ebenso wie wir Nahrungsmittel polysensorisch genießen können (visuell, taktil, olfaktorisch), so können wir auch Sprachgebilde polysensorisch genießen (klanglich, rhythmisch, semantisch, begrifflich, bildlich), ohne solche komplexen Ganzheitserlebnisse immer analytisch aufschlüsseln zu müssen. Bei der Aufnahme von Nahrung und beim Verstehen von Texten gibt es vielfältige Parallelen, die sich über den Begriff Assimilation recht gut thematisieren lassen. Dieser ursprünglich biologische Begriff war zunächst dazu bestimmt, darauf aufmerksam zu machen, dass ein Körper die von ihm aufgenommenen Nahrungsmittel nicht vollständig und nicht direkt verwerten kann, sondern nur partiell bzw. nach einer bestimmten Umformung. Ein Organismus muss aus der angebotenen Nahrung diejenigen Bestandteile auswählen, die für ihn brauchbar sind bzw. die er über Enzyme in solche Grundelemente aufspalten kann, die für ihn direkt verwertbar sind. Das, was nicht in den Systemzusammenhang eines Körpers integrierbar ist, kann nicht aufgenommen werden, weil es für den Stoffwechsel des Körpers keine Funktion hat. Ganz ähnliche Prozesse gibt es auch bei der Rezeption von Sprache bzw. von Texten durch Individuen. Informationen, welche in die jeweiligen Erwartungs-, Erfahrungs- und Denkhorizonte passen, werden spontan assimiliert. Informationen, die nicht in diese Horizonte passen, werden entweder gar nicht wahrgenommen oder auf frühen Wahrnehmungsstufen so umgestaltet, dass sie in diese integrierbar sind. Das erklärt dann auch, warum dieselben Texte von unterschiedlichen Rezipienten faktisch ganz anders wahrgenommen bzw. ganz anders verstanden werden können.
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Allerdings gibt es nun auch wichtige Unterschiede zwischen der Nahrungsaufnahme und der textuellen Informationsaufnahme. Diese können mit dem Begriff Akkommodation recht gut thematisiert werden. Menschen können in ihren geistigen Rezeptionsprozessen ihre Wahrnehmungsmuster bzw. ihre Wahrnehmungsperspektiven so umgestalten, dass ihnen dadurch auch das wahrnehmbar wird, was zunächst gar nicht oder nicht zureichend in ihre Denkwelt integrierbar ist. Das bedeutet, dass in sprachlichen Verstehensprozessen die Subjektsphäre nicht nur bestimmt, was aus der Objektsphäre in sie eindringen kann, sondern dass die Objektsphäre zuweilen auch so auf die Subjektsphäre einzuwirken vermag, dass diese ihre Assimilationsmöglichkeiten verändert. Diese geistige Rezeptionsflexibilität setzt allerdings eine gewisse sprachliche und kulturelle Reife voraus, die in frühen Kulturen und bei Kindern meist noch nicht gegeben ist, insofern es beiden recht schwerfällt, eine kontemplative geistige Distanz zu ihren jeweils verwendeten Denksystemen und Denkstrategien zu finden. Piaget hat geistige Prozesse als Prozesse der Gleichgewichtsbildung von Assimilations- und Akkommodationstendenzen beschrieben.5 Wenn man das akzeptiert, dann ist offensichtlich, dass das Wissen, das sich in sprachlichen Formen speichern lässt, nicht immer als eine mit sich selbst identische Größe angesehen werden darf. Es muss vielmehr als eine Größe betrachtet werden, die für die jeweils wahrnehmenden Subjekte auf eine ganz unterschiedliche Weise in Erscheinung treten kann bzw. von diesen in ganz unterschiedlicher Weise als Nahrung genutzt werden kann. Mauthner hat das komplexe Interaktionsverhältnis zwischen dem assimilierenden und dem akkommodierenden Denken bei der Nutzung von sprachlich manifestiertem Wissen auf eine aparte Weise ins Bild gesetzt. „Worte sind eingesalzene Heringe, konservierte alte Ware. Wer zu denken glaubt, der hat Hunger nach Mitteilung, und darum schmeckt ihm die eingesalzene alte Ware. Und wenn man mag, so darf man das Denken mit der Heringslake vergleichen, die das konservierte Zeug um so reichlicher umspült, je weniger Ware im Umfang und Begriff der großen Tonne noch vorhanden ist, die, an sich wertlos und kraftlos, sich für die Hauptsache hält ...“ 6
Mauthners ikonische Analogisierung der Wörtern mit Salzheringen und des Denkens mit der Heringslake ist in zweierlei Hinsichten interessant. Zum einen kann er dadurch nämlich darauf aufmerksam machen, dass mit Hilfe der Sprache bestimmte Denkinhalte für spätere Bedürfnisse konserviert und eingelagert werden können. Zum anderen kann er dadurch aber auch darauf verweisen, dass das Denken nicht mit den von ihm verwendeten Wörtern bzw. Begriffen identifiziert werden sollte, sondern allenfalls mit etwas, das den Umgang mit
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J. Piaget, Sprechen und Denken des Kindes, 1972, S. 172 ff. ; J. Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung, 1978, 230 ff. 6 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1906/1982, S. 176.
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diesen betrifft. Dadurch ergibt sich hinsichtlich der Qualifizierung des Denkens eine bezeichnende Ambivalenz. Einerseits wertet Mauthner das Denken durch die Identifizierung mit der Heringslake in gewisser Weise auf, weil er es ja sachlogisch eine Stufe höher einordnet als die Inhalte, mit denen es jeweils umgeht bzw. die es konserviert. Andererseits scheint er das Denken durch diese Analogisierung aber auch in gewisser Weise abzuwerten, insofern er nahelegt, dass das Denken selbst im Prinzip recht inhaltsleer ist und seine Existenzberechtigung eigentlich nur seiner Bearbeitungs- und Konservierungsfunktion für anderes verdankt. Dabei muss man dann allerdings von dem Umstand absehen, dass die Heringslake aus mit Salz angereichertem Wasser besteht. Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz wird nun auch verständlich, warum Mauthner letztlich weder den Sprachinhalten noch dem Denken den höchsten Wert zuordnet, sondern allenfalls den Menschen, die faktisch denken und sprechen. „Und die sprechenden Menschen sind das Salz der Erde.“7 Auf eine sehr aufschlussreiche Weise hat Paul Valéry auf die spezifischen Werte hingewiesen, die in der poetischen Sprache auf verdeckte Weise eingelagert seien. Mit einer solchen Sprache könne man eine Nahrung aufnehmen, deren Werthaltigkeit man zunächst gar nicht als solche erkenne, weil der bloße Genuss dieser Sprachformen im Vordergrund der Aufmerksamkeit und des Interesses stünde. „Der Gedanke muß in den Versen verborgen sein wie die Nährkraft in der Frucht. Eine Frucht ist Nahrung, und scheint doch nur Genuß. Man weiß nur, daß man sie genießt und nimmt doch neue Substanz auf. Das Entzücken verhüllt diese heimliche Nahrung, die es begleitet.“ 8
2. Die Sprache und das Produzierte Die Vorstellung eines sprachlich gespeicherten Wissens wirft die Frage auf, wer dieses Wissen gespeichert hat und inwieweit die jeweiligen Wissensobjektivierungen ihr Fundament in den Dingen haben oder in den Differenzierungsbedürfnissen der abspeichernden Menschen. Diese Frage wird insbesondere wichtig, wenn wir jede Wissensbildung als eine produktive Anstrengung ansehen, bei der Vorbewusstes in Bewusstes, Einzelerfahrungen in Erfahrungsmuster und Unübersichtliches in Übersichtliches transformiert wird. Sprachlich manifestiertes und gespeichertes Wissen kann dann als ein kulturelles Arbeitsprodukt verstanden werden, dem auch eine anthropologische Relevanz zugeschrieben werden kann, weil sich dadurch der Mensch nicht nur die Welt als seine eigene Lebenswelt begrifflich, bildlich und narrativ objektiviert, sondern auch irgendwie sich selbst bzw. sein spezifisches Interesse an der Welt.
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F. Mauthner, a.a.O., S .176. P. Valéry, Windstriche, 1959, S. 163.
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Wenn in dieser Weise die Sprache als eine Manifestationsform der menschlichen Gestaltungs- und Einbildungskraft verstanden wird und die Ergebnisse sprachlicher Objektivierungsanstrengungen als Kulturprodukte, dann ergibt sich natürlich die Notwendigkeit, uns etwas näher mit den Implikationen des Produktionsgedankens zu beschäftigen. Diese werden in einem ersten Zugriff schon fassbar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass unser Verb produzieren etymologisch auf das lat. Verb producere zurückgeht, das so viel bedeutet wie herausführen, geleiten oder hervorbringen.
Der Produktionsgedanke Die Herkunft des Produktionsbegriffs legt nahe, ihn nicht nur ökonomisch und technisch zu verstehen, sondern auch anthropologisch und kulturell. Ebenso wie sich in einem produzierten Brot auf eine nicht mehr direkt wahrnehmbare Weise die Arbeit des Bauern, des Müllers und des Bäckers manifestiert, so manifestiert sich auch in gegebenen Sprachformen auf eine nicht mehr direkt wahrnehmbare Weise die kognitive Arbeit vieler Menschen. Die Vorstellung des produzierenden Menschen (homo faber) sollten wir deshalb auch nicht nur in einem rein handwerklichen Sinne verstehen, weil sie immer auch geistige und kulturelle Implikationen hat. Dabei dürfen wir allerdings nicht übersehen, dass sich der Produktionsgedanke im Kontext der Erzeugung von Gütern in arbeitsteiligen Gesellschaften immer stärker an die Produktion von materiellen Konsumwaren gebunden hat und dass eben dadurch die Vorstellung immer mehr verblasste, dass auch geistige Güter Arbeitsergebnisse gemeinsamer kultureller Analyse- und Syntheseanstrengungen sind. Seit Hegel und Marx ist der Produktionsgedanke sehr eng mit dem Arbeits- und Entfremdungsbegriff verknüpft worden, was natürlich nicht unerheblich ist, wenn man auch die Sprache als Produkt kultureller Arbeitsanstrengungen versteht. Arbeit und Sprache sind für Hegel entscheidende anthropologische Bestimmungskriterien, weil beide Phänomene dem Menschen insbesondere dazu dienen, sich aus dem Banne der Natur und der unmittelbaren Anschauungen zu lösen und dadurch aus der Existenzform eines Naturwesens in die eines Geistes- und Kulturwesens überzutreten. Für Hegel kommt das Bewusstsein bzw. der Geist erst durch die Arbeit zu sich selbst, insofern dieses Phänomen den Menschen aus seinem unmittelbaren und naiven Weltbezug herauslöst und ihn dazu bringt, die Zukunft zu antizipieren und Vorsorge für sein kommendes Leben zu treffen. Deshalb bestimmt er dann auch die Arbeit als „gehemmte Begierde.“9 Diese Bestimmung der Arbeit hat zur Folge, dass er sie eng mit dem Phänomen Entfremdung verbunden sieht, ohne die der Geist als solcher gar nicht Gestalt gewinnen könne.
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G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 153.
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„Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit“ und sich von seiner unmittelbaren Erfahrung zu lösen versucht.10 Die Erfahrung der Entfremdung kann der Geist nach Hegel nun aber nicht nur im Kontext der Arbeit machen, sondern auch im Zusammenhang mit der Sprache. „Die Sprache ist Ertötung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein“11, weil die Sprache in der Lage sei, den Menschen von der Dominanz der unmittelbaren Anschauung zu lösen. Das ermögliche es ihm, sich Alternativen zu der gegebenen Welt vorzustellen und diese eben dadurch immer auch in einer gewissen Weise zu negieren und zu transzendieren. „In der Sprache ist der Mensch produzierend: es ist die erste Äußerlichkeit, die der Mensch sich gibt durch die Sprache; es ist die erste, einfachste Form der Produktion des Daseins, zu der er kommt im Bewusstsein; was der Mensch sich vorstellt, stellt 12 er sich auch innerlich vor als gesprochen.“
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen Hegels zur Funktion der Sprache könnte man vielleicht annehmen, dass er die Sprache ebenso wie das Recht, den Staat, die Geschichte, die Kunst oder die Religion als eine Manifestationsform des objektiven bzw. des objektivierten Geistes betrachtet habe, der er eigentlich eine eigene Untersuchung hätte widmen müssen, was aber faktisch nicht geschehen ist. Bodammer hat das so erklärt, dass Hegel die Sprache im Prinzip als ein Phänomen verstanden habe, das in die Vorgeschichte des sich selbst bewussten Geistes gehöre. Deshalb habe er auch die Sprache nur im Zusammenhang mit den Manifestationsformen des objektiven Geistes thematisiert, aber nicht als eine Form des objektiven Geistes selbst. Die Sprache habe für Hegel gleichsam nur einen „Hintergrundscharakter“, insofern in ihr nur etwas Vernünftiges hinterlegt sei.13 Wie auch immer man nun die Sprache beurteilt, ob als Form oder als Vorform des objektiven bzw. des objektivierten Geistes, in jedem Fall kann man mit Hegel annehmen, dass sich in den Formen der Sprache ein Wissen angesammelt hat, das immer einen Einfluss auf die Bildung weiteren Wissens nimmt bzw. auf die Selbstentfaltung des Denkens. Insbesondere das Studium der grammatischen Formen eröffnet nach Hegel dem Menschen nämlich die große Chance, Abstraktionen bzw. die Verfahrensweise der Logik und des Denkens kennenzulernen. „Er kann durch die Grammatik hindurch den Ausdruck des Geistes überhaupt, die Logik, erkennen.“14 Deshalb ordnet Hegel dem Studium der Grammatik auch einen sehr hohen Stellenwert im allgemeinen Bildungsprozess zu. In der Beschäftigung mit ihr zeige sich sehr klar, was
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G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts ... , Werke Bd. 7, S. 344. G. W. F. Hegel, Texte zur philosophischen Propädeutik, § 159, Werke Bd. 4, S. 52. 12 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke Bd. 20, S. 52. 13 Th. Bodammer, Hegels Deutung der Sprache, 1969, S. 239. Vgl. auch S. 7 und 141 ff. 14 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke Bd. 5, S. 53. 11
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die Kategorien Arbeit und Entfremdung beinhalteten bzw. was es heiße, wenn der Geist seine eigenen Konstitutionsbedingungen aufzuklären versuche. Die Vorstellung, dass sich in den überlieferten Formen und Texten der Sprache ein Wissen konkretisiert hat, das alle weiteren Wissensbildungen beeinflusst, legt den Gedanken nahe, die Sprache als ein Vorratshaus für fertige Denkprodukte zu betrachten. Die Spannweite dieses Gedankens kann sehr groß sein, insofern die gespeicherten Denkprodukte sowohl als überholt und verstaubt angesehen werden können, aber auch als brauchbar und historisch bewährt. Auf jeden Fall verdeutlicht diese Vorstellung, dass unser Denken nie auf einer absoluten Nullstufe ohne steuernde und determinierende Vorbedingungen beginnt, sondern immer zustimmend, ablehnend, verändernd und ergänzend auf gegebene geistige Vorleistungen zurückgreift, die in der Sprache objektiviert und gespeichert worden sind. Deshalb kann man wohl auch sagen, dass man die Sprache eher mit dem Gedanken einer Schatzkammer in Verbindung bringen sollte als mit dem eines Museums für historische Fossilien.
Der Schatzkammergedanke Die Idee, dass die Sprache als eine Schatzkammer anzusehen sei, in der viele Kostbarkeiten aufbewahrt werden, hat in allen Kulturen eine lange Tradition und viele Varianten. Ohly hat gezeigt, dass insbesondere in religiösen und poetischen Denkzusammenhängen Wörter immer wieder mit Edelsteinen und Perlen analogisiert worden sind. So werde beispielsweise im indischen Denken darauf verwiesen, dass es auf Erden drei Juwelen gebe, nämlich Wasser, Reis und schöne Sprüche. In der arabischen Welt seien Gedichte als kunstvoll gereihte Wortperlen verstanden worden und der Erzählvorgang selbst als ein Perlen-Streuen.15 Die sinnbildliche Thematisierung von poetischen Worten als Perlen ist aus mehreren Gründen aufschlussreich. Zu einen ist zu beachten, dass es eine lange Denktradition gibt, die Perle als eine Vereinigung des Himmlischen mit dem Irdischen anzusehen und ihre Entstehung mit dem Einschlag eines Blitzes in Verbindung zu bringen. Zum anderen ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass die Perle nicht aus der Erde, sondern aus dem Meere stamme, das seinerseits wieder leicht mit dem Gedanken der Tiefe und der Selbsterneuerung in Verbindung gebracht werden kann. Des Weiteren ist wichtig, dass Perlen immer entdeckt werden müssen, da sie ursprünglich ja in Muscheln eingeschlossen sind, denen somit die Funktion zukommt, etwas zu bewahren, was eigentlich in einer anderen Welt beheimat ist. Diese Vorstellung hat dann auch immer wieder den Gedanken nahegelegt, Bücher als Muscheln zu verstehen, in denen nicht jedermann zugängliche Perlen eingeschlossen sind. Das
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Vgl. F. Ohly, Die Perle des Wortes, 2002, S. 19 ff., 107.
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harmoniert dann wiederum mit einem Bericht, dass ein Indianer, der zum ersten Mal gesehen hatte, wie ein Buch geöffnet und gelesen wurde, dieses als Auster bezeichnet haben soll.16 Die Tendenz, die überlieferte Sprache als Schatzkammer anzusehen, verstärkte sich, als sich im 18. Jahrhundert das Denken immer mehr historisch orientierte. Adelung hat beispielsweise ausdrücklich betont, dass die Sprache mit dem in ihr niedergelegten Wissen für den Menschen eine unverzichtbare Grundlage all seiner individuellen Denkprozesse bilde. „Sie ist das große Vorrathshaus aller seiner Kenntnisse, aus welchem er nicht allein alle Vorstellungen, welche er hat, oder gehabt hat, sich selbst wiederhohlt, (wenn er denkt), sondern auch sein jedesmahliges Bedürfniß mit andern vertauscht, die Vorstellungen, welche er bey ihnen erwecken will, hernimmt, und diejenigen, welche er von ihnen dagegen empfängt, verwahrlich beylegt.“ 17
Natürlich hat auch Herder nicht versäumt, die Sprache mit der Vorstellung einer Schatzkammer in Verbindung zu bringen. Für ihn ist die Sprache „eine Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art etwas beitrug! Eine Summe der Wirksamkeit aller menschlichen Seelen ...“18 Interessant ist nun allerdings, dass Herder sprachkritisch auch darauf aufmerksam gemacht hat, dass in dieser Schatzkammer auch durchaus negativ zu bewertende Inhalte eingelagert werden könnten bzw. echte und falsche Münzen. „So betrachte ich eine ganze Sprache als einen großen Umfang von sichtbar gewordenen Gedanken, als ein unermeßliches Land von Begriffen. Jahrhunderte und Reihen von Menschenaltern legten in dies große Behältnis ihre Schätze von Ideen, so gut oder schlecht sie geprägt sein mochten. Neue Jahrhunderte und Zeitalter prägten sie zum Teil um, wechselten damit und vermehrten sie. Jeder denkende Kopf trug seine Mitgift dazu bei, jeder Erfinder legte seine Hauptsumme von Gedanken hinein und ließ sich dieselbe durch Wucher vermehren. Ärmere liehen davon und schafften Nutzung, falsche Münzer lieferten schlecht Geld entweder zur Erstattung des Geborgten oder sich ein ewiges Andenken zu prägen, heldenmäßige Räuber wußten sich bloß durch Raub und Flammen einen Namen zu machen – und so ward nach großen Revolutionen die Sprache eine Schatzkammer, die reich und arm ist, Gutes und Schlechtes in sich fasst, gewonnen und verloren hat, Zuschub braucht und Vorschub tun kann, die aber, sie sei und habe was sie wolle, eine ungemein sehenswürdige Merkwürdigkeit bleibt.“19
Ungeachtet der Tatsache, dass jede Nation in ihrer Nationalsprache ein „eignes Vorratshaus solcher zu Zeichen gewordenen Gedanken“ hat, postuliert Herder,
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Vgl. H. Höffding, Der Begriff der Analogie, 1924, S. 38. J. Ch. Adelung, Älteste Geschichte der Deutschen, ihrer Sprache und Litteratur bis zur Völ kerwanderung, 1806/1971, S. 309. 18 J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Sprachphilosophische Schriften, 19642, S. 83. 19 J. G. Herder, a.a.O., S. 94–95. 17
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dass es eine allgemein gültige Wissenssymbolik für alle Menschen gebe, die allerdings nicht leicht zu entziffern sei, da sie eine sehr umfassende anthropologische Dimension habe. „Es gibt eine Symbolik die allen Menschen gemein ist – eine große Schatzkammer, in welcher die Kenntnisse aufbewahrt liegen, die dem ganzen Menschengeschlechte gehören. Der wahre Sprachweise, den ich aber noch nicht kenne, hat zu dieser dunklen Kammer den Schlüssel: er wird sie, wenn er kommt, entsiegeln, Licht in sie bringen, und uns ihre Schätze zeigen. Das würde die Semiotik sein, die wir jetzt bloß dem Namen nach in den Registern unserer philosophischen Encyklopädien finden, eine Entzifferung der menschlichen Seele aus ihrer Sprache.“ 20
Herders These, dass die Struktur der menschlichen Seele bzw. das menschliche Denken aus den Formen der Sprache entziffert werden könne, zwingt uns dazu, dem Formbegriff eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weil sich an ihm mitentscheidet, wie wir das Sinnbild von der Schatzkammer der Sprache zu verstehen haben. Humboldt hat nachdrücklich betont, dass man den Begriff der Form nicht auf die direkt beobachtbaren morphologischen Formen beschränken dürfe, sondern ihn eine Abstraktionsstufe höher auch auf die Kräfte ausdehnen müsse, die die Ausbildung von beobachtbaren Formen überhaupt erst ermöglichten, worauf schon mehrfach mit Hilfe der Termini forma formata und forma formans hingewiesen worden ist.21 Dieser dynamische Formbegriff dokumentiert sich dann auch in Humboldts Konzept der inneren Sprachform, zu dem er wohl durch Shaftesbury angeregt worden ist, der schon vor ihm von einer formschaffenden Kraft (forming power, inward form) hinter den direkt beobachtbaren Formen gesprochen hatte.22 Den Effekt dieses formbildenden Vermögens in der Sprache hat Humboldt dann so beschrieben: „Nicht, was in einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigner Kraft anfeuert und begeistert, entscheidet über ihre Vorzüge, oder Mängel. Ihr Massstab ist die Klarheit, Bestimmtheit und Regsamkeit der Ideen, die sie in der Nation weckt, welcher sie angehört, durch deren Geist sie gebildet ist, und auf die sie wiederum bildend zurückgewirkt hat.“ 23
Wenn man nun auch die innere Form einer Sprache, die ja logisch gesehen eine Metaform zu den beobachtbaren Formen ist, zu dem Formeninventar einer Sprache rechnet, dann gewinnt die Schatzkammervorstellung natürlich an Komplexität, weil nun auch die sprachgenerierenden Kräfte und die For-
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J. G. Herder, a.a. O., S. 95. „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen.“ W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 455. 22 Vgl. R. Schwinger, Innere Form, in: R. Schwinger / H. Nicolai, Innere Form und dichterische Phantasie, 1935, S. 1–39. W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ..., Werke Bd. 3, S. 34. 23 W. von Humboldt, Ueber das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung, Werke Bd. 3, S. 34. 21
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mungsstile in diese Schatzkammer gehören. Es genügt nun nicht mehr, die Sprache nur als Magazin von lexikalischen und grammatischen Bausteinen anzusehen. Ein solch umfassender Sprachbegriff hat dann auch eine Parallele in dem umfassenden Kulturbegriff, den Cassirer seiner Philosophie der symbolischen Formen zu Grunde gelegt hat. „Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das ‚Sein’ ist hier nirgends anders als im ‚Tun’ erfaßbar.“ 24
Die Eigenmächtigkeit der Sprache Sowohl der Produktions- als auch der Schatzkammergedanke legen im Prinzip nahe, dass der Mensch Herr und Schöpfer, aber nicht Knecht oder Marionette der Sprache ist. Gleichwohl ist zu fragen, ob die Menschen nicht auch Geschöpfe ihrer Sprache bzw. Produkte ihrer Produkte werden können. Die Schatzkammer der Sprache gliche dann einem Zauberbesen, der nicht von Zauberlehrlingen, sondern allenfalls von Zaubermeistern beherrschbar ist. Die These, dass der Mensch von seinen eigenen Erzeugnissen abhängig werden könne, lässt sich entweder in einem materialistischen Sinne oder in einem kulturhistorischen und medialen Sinne verstehen, welcher dann allerdings eher heuristisch als deterministisch orientiert ist. Aber auch aus dem letzteren Verständnis ergeben sich wiederum zwei recht unterschiedliche Wahrnehmungsweisen für Sprache. Einerseits kann man nämlich annehmen, dass der Mensch Herr seiner sprachlichen Formen ist, insofern er diese ja kraft seiner Spontaneität und Kreativität hergestellt hat bzw. für den aktuellen Gebrauch auswählt. Andererseits kann man aber auch annehmen, dass er in gewisser Weise auch immer Knecht dieser Formen werden kann, insofern sein Wahrnehmen und Denken durch diese vorstrukturiert werden kann, ohne dass er sich dessen immer zureichend bewusst wird oder werden kann. Schon lange bevor Whorf sein sprachliches Relativitätsprinzip formuliert hat, hat Nietzsche schon sehr drastisch darauf verwiesen, dass die Sprache zu einer eigenständigen Gewalt werden könne, der sich der Mensch gar nicht zu entziehen vermöge. „ ... bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen faßt und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie miteinander sich zu verständigen und zu einem Werk zu vereinigen suchen, erfaßt sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe ...“ 25
Beispielsweise legt für Nietzsche das in den indogermanischen Sprachen etablierte Satzschema von Subjekt und Prädikat nahe, bei der Versprachlichung
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E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 19644, S. 11. F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Werke Bd. 1, S. 387–388.
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von Inhalten auch dort Handlungsinstanzen bzw. erste Ursachen anzunehmen und zu benennen, wo es eigentlich nur Geschehensabläufe gebe. So würden wir etwa zu dem Vorgang des Blitzens noch zusätzlich den Blitz als Ursache des Blitzens erfinden. Dieses auch sprachlich beförderte unausrottbare Bemühen der Menschen, immer wieder Substanzen und Ursachen namhaft zu machen, obwohl eigentlich nur Vorgänge konstatiert werden könnten, führt Nietzsche dann schließlich zu folgendem Stoßseufzer. „Ich fürchte wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ...“ 26 In neuerer Zeit ist der Gedanke von der Sprache als einer eigenständigen Macht vielfältig variiert worden. Gehlen hat im Anschluss an Herder in seiner Institutionenlehre betont, dass der Mensch als weltoffenes und instinktreduziertes Wesen sich Institutionen bzw. kulturelle Führungssysteme wie etwa die Sprache habe schaffen müssen, um überleben zu können.27 Popper hat postuliert, dass alle unsere Wahrnehmungen schon „theoriegetränkt“ seien, weil sie immer durch die kulturellen Muster vorstrukturiert würden, die die Menschen im Verlauf ihrer Geschichte erarbeitet hätten.28 Landmann hat den Menschen als eine „halbvollendete Schöpfung“ bezeichnet, die sich selbst durch die Entwicklung von Kultur vollenden müsse, weshalb dann auch die Kultur als „ein nach außen gelagertes Organ des Menschen“ qualifiziert werden könne.29 Adam Schaff hat in seinem materialistisch orientierten sprachtheoretischen Denkansatz ebenfalls die Meinung vertreten, dass in der Sprache das Wissen früherer Generationen festgehalten sei. „Eben in diesem Sinne ist die Sprache gleichsam eine kondensierte Praxis, die auf diesem suggestivsten und einfachsten Weg in unsere aktuelle Erkenntnis eindringt.“30 Die Bestimmung der Sprache als kondensierte Praxis ist für den hier entwickelten Denkzusammenhang besonders interessant, weil sich unter diesen Umständen aus der Analyse geschichtlich manifestierter Sprachformen dann nicht nur historische Denkformen rekonstruieren lassen, sondern möglicherweise auch bestimmte Probleme der historischen Lebenspraxis, an denen sich die Menschen sowohl sachlich als auch sprachlich abgearbeitet haben. Diesbezüglich können dann Fachsprachen historisch möglicherweise noch aufschlussreicher sein als die natürliche Sprache mit ihrem doch recht universalen und flexiblen Funktionsspektrum. Schon zweihundert Jahre vor Schaff hat Hamann einem ganz ähnlichen Gedanken Ausdruck gegeben. Dieser ist bei ihm aber verständlicherweise nicht materialistisch orientiert, sondern eher diagnostisch und heuristisch. „In der Sprache jedes Volkes finden wir die Geschichte desselben. Da das Geschenk zu reden unter die unterscheidenden Vorzüge des Menschen gehört; so
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F. Nietzsche, Die ‚Vernunft’ in der Philosophie, Werke, Bd. 2, S. 960. A. Gehlen, der Mensch, 197812, S. 78 ff. 28 K. Popper, Objektive Erkenntnis, 19742, S. 85 ff., 178 ff. 29 M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S.178 ff. 30 A. Schaff, Sprache und Erkenntnis, 1964, S. 173. 27
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wundert mich, daß man noch nicht die Geschichte unseres Geschlechts und unserer Seele von dieser Seite her näher zu untersuchen einen Versuch gemacht hat. Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte.“ 31
3. Die Sprache und die Schrift Die Idee, die Sprache als Speicher zu verstehen, in dem sich erworbenes Wissen für eine spätere Nutzung aufbewahren lässt, tritt wohl am deutlichsten in Erscheinung, wenn wir unser sprachtheoretisches Denken am schriftlichen Sprachgebrauch bzw. an Schriftzeugnissen orientieren. Bei dieser Verwendung von Sprache können wir uns nämlich sprachliche Formen als Beobachtungsgegenstände dauerhaft fixieren und uns die Sprache in ihrer weitgehend situationsunabhängigen Darstellungsfunktion idealtypisch vor Augen führen. Außerdem eröffnen uns schriftlich überlieferte Sprachzeugnisse auch einen Blick auf das spezifische Verwendungsprofil von Sprache in früheren Zeiten. Philologie, Sprachphilosophie, Grammatikforschung und Hermeneutik gibt es im Prinzip erst, nachdem man Sprachformen für die Wahrnehmung schriftlich stabilisieren und dann in zeitgedehnten Reflexionsprozessen analysieren konnte. Natürlich treten auch in oralen Kulturen einzelne Sprachformen und Texte als Speicher für Wissensinhalte in Erscheinung, aber den Beteiligten wird diese mediale Funktion meist gar nicht bewusst, weil sie in ihrem Denken psychisch immer bei den jeweiligen Denkgegenständen selbst sind, aber nicht bei den Vermittlungsformen, über die wir uns diese geistig präsent machen. Erst nach der Verschriftlichung der Sprache haben wir eine ausreichende kontemplative Distanz zu ihr gefunden, die es uns ermöglicht, sie als Medium unseres Denkens, Wahrnehmens und Wissens zu thematisieren. Deshalb hat Spengler die Schrift auch als „das große Symbol der Ferne“ bezeichnet und ihre Nutzung als „Kennzeichen historischer Begabung“ gewertet.32 Sie verhelfe uns dazu, Denkinhalte so authentisch wie möglich zu bewahren und dadurch auch in ihrer besonderen Fremdheit erfahrbar zu machen. Nicht zufällig wird ja auch die schriftlose Zeit einer Kultur meist als deren Vorgeschichte angesehen, weil wir unseren Begriff von Geschichte meist mit der Überlieferung von Schriftzeugnissen über vergangene Ereignisse und Vorstellungen verbinden.
Abstraktions- und Akzentuierungsprozesse beim schriftlichen Sprachgebrauch Da wir den mündlichen Sprachgebrauch als relativ unmarkierte universale Grundform der Sprache ansehen können und den schriftlichen Sprachgebrauch
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J. G. Hamann, Briefwechsel, Bd. 1, 1955, S. 393. Brief an G. J. Lindner vom 9. 8. 1759. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1923/ 1963, S. 738.
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als markierte Sproßform für ganz bestimmte Aufgaben, müssen wir uns die Frage stellen, welche besonderen pragmatischen Funktionen die schriftlich verwendete Sprache im Vergleich zu der mündlich verwendeten hat. Diese Funktionen lassen sich am besten erfassen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Frage richten, welche spezifischen Abstraktions- und Akzentuierungsleistungen mit der schriftlich verwendeten Sprache jeweils verbunden sind. Zunächst ist festzuhalten, dass der schriftliche Sprachgebrauch die Komplexität von inhaltlichen Objektivierungen und kommunikativen Prozessen auf ganz entscheidende Weise reduziert, insofern nämlich dabei die gestischen, mimischen und intonatorischen Begleit- und Interpretationszeichen der sprachlichen Zeichen im engeren Sinne nicht mehr kommunikativ in Erscheinung treten. Dadurch kommt es zu einer Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Darstellungsfunktion der Sprache bzw. zu einer Emanzipation der jeweiligen Aussageinhalte von den jeweiligen Aussagevorgängen und Aussagesituationen bzw. des Gesagten vom Sagen. Da beim schriftlichen Sprachgebrauch die verwendeten Sprachmittel außerdem weitgehend aus ihrer Verschränkung mit der spezifischen räumlichen und zeitlichen Redesituation gelöst werden, bekommen die jeweils verwendeten sprachlichen Formen auf der Darstellungsebene eine hochgradige semantische Autonomie. Diese semantische Eigenständigkeit prädestiniert die schriftlich verwendete Sprache dazu, sie als ein besonders verlässliches Speicher- und Transportmedium für ganz bestimmte Informationsinhalte anzusehen. Auch schriftlich fixierte Gesetze mit wichtigen regulativen Funktionen, die ja zu unseren ältesten Schriftzeugnissen gehören, exemplifizieren diesen Tatbestand sehr deutlich (Hammurabis Gesetzgebung in Babylonien, Drakons und Solons Gesetzgebung in Athen, Zwölftafelgesetze in Rom, Magna Charta in England). Wenn man nun außerdem noch berücksichtigt, dass der schriftliche Sprachgebrauch in der Regel monologisch und nicht dialogisch orientiert ist, insofern er sich, abgesehen von persönlichen Briefen, ja an eine unbestimmte Anzahl von Adressaten in verschiedenen Räumen und Zeiten richtet, dann verstärkt sich noch die Tendenz, schriftlich fixierte Sprachformen als semantisch autonome Objektivierungs- und Mitteilungsmittel anzusehen. Schriftliche Sprachformen sollen die jeweiligen Sachen und Sachverhalte gleichsam selbst zu Wort kommen lassen und nicht auch einen individuellen Sprecher in einer bestimmten Situation. Der faktische Sprachproduzent macht sich auf diese Weise gleichsam zu einem anonymen Sprachrohr der Dinge und Sachverhalte selbst. Der Schreiber setzt deshalb bei seinem konkreten Sprachgebrauch auch kein spezifisches, sondern nur ein allgemeines Sach- und Situationswissen beim Leser voraus, wenn man einmal von fachsprachlichen Texten absieht. Beim schriftlichen Sprachgebrauch treten die begrifflichen Darstellungsfunktionen der Sprache sehr stark in den Vordergrund. Alle anderen Funktionen der Sprache treten nur in sehr abgeschwächter Form in Erscheinung. Eine Ausnahme machen allerdings ästhetische Texte, in denen in der Regel ein sehr umfassender und spielerischer Gebrauch von allen Sprachfunktionen gemacht wird.
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Die platonische Schriftkritik Die hier entwickelten Gedanken zur Besonderheit des schriftlichen Sprachgebrauchs sind eigentlich schon im Phaidros-Dialog von Platon vorgetragen worden. In ihm wird ein Mythos über die Erfindung der Schrift durch Theuth erzählt und anschließend von Sokrates und Phaidros sehr intensiv diskutiert, wobei das ganze Problemfeld sehr gut veranschaulicht und strukturiert wird.33 In diesem Mythos wird der Erfinder Theuth im Prinzip als ein Spezialist für Abstraktionen vorgestellt, insofern er nämlich zunächst Zahl, Rechnung, Messkunst und Spiele erfunden hat und dann gleichsam als Krönung seines ganzen Lebenswerkes die Buchstabenschrift. Allen Erfindungen Theuths ist gemeinsam, dass durch sie Phänomene in die Welt gesetzt werden, die abstraktiv aus natürlichen Primärerfahrungen entwickelt worden sind. Aus seinen Bemühungen entstehen jeweils neue Ordnungswelten mit einer recht großen inneren Autonomie, die dann weitreichende Konsequenzen für ihre jeweiligen Nutzer bekommen. Ganz ähnlich wie Prometheus ordnet sich auch Theuth nicht einfach in die Gegebenheiten der direkt erfahrbaren Welt ein, sondern bemüht sich, eigenständige neue Welten mit je eigenen Strukturen und Funktionen herzustellen. Seine Erfindung der Schrift preist Theuth daher auch dem ägyptischen König Thamus recht enthusiastisch als ein Mittel an, das insbesondere zur Stärkung der menschlichen Erinnerung und zur Förderung der Weisheit beitragen könne. Der Pragmatiker Thamus ist von vornherein skeptisch gegenüber Theuths Lobpreisungen eingestellt, weil er weiß, dass Erfindungen nicht immer das halten, was sie anfangs versprechen, und dass sie in der praktischen Nutzung oft unerwünschte Nebenwirkungen zeitigen. Deshalb entwickelt er dann auch die Gegenthese, dass die Erfindung der Schrift keineswegs die Erinnerung stärken werde. Sie werde vielmehr die Vergesslichkeit der Menschen fördern, weil diese im Vertrauen auf das schriftlich Fixierte ihr Gedächtnis nicht mehr übten und keine Entscheidungen mehr darüber träfen, was erinnerungswürdig sei und was nicht. Durch die schriftliche Aufzeichnung von Wissensinhalten ergebe sich das Problem des Scheinwissens, da das Erinnerungsproblem nicht in einem qualitativen, sondern nur in einem quantitativen Sinne ins Auge gefasst werde. Die Schrift verbessere nicht die inhaltliche Seite von Erinnerungen, sondern sei allenfalls ein Hilfsmittel, um den rein formalen Vorgang des Erinnerns zu unterstützen. Sokrates spinnt dann die Vorbehalte von Thamus gegen die postulierten positiven Konsequenzen der Schrifterfindung noch weiter aus und macht dabei auf die besonderen Strukturprobleme der schriftlichen Wissensobjektivierung und Wissenstradierung aufmerksam. Texte wiesen dieselben Mängel wie ge-
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Platon, Phaidros 274 c–277 a, Bd. 4, S. 54–57. Vgl. auch W. Köller, Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift. In: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 158–189.
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malte Bilder auf. Sie träten zwar als eigenständige Gegebenheiten in Erscheinung, aber sie könnten nicht auf Fragen antworten und seien deshalb auch nicht als wirkliche Dialogpartner anzusehen. Im Prinzip seien sie nur defizitäre Schattenbilder eines sehr viel komplexeren Originals. Zudem könnten Texte ohne die Kontrolle ihrer Schöpfer in der Welt herumvagabundieren und in die Hände von Leuten geraten, für sie ursprünglich gar nicht bestimmt und gedacht worden seien. Der mündliche Sprachgebrauch sei demgegenüber sehr viel wertvoller, weil er auf bestimmte Partner genauso abgestimmt werden könne wie der Samen auf das Land, auf dem er Frucht bringen solle. Die Analogisierung des mündlichen Sprachgebrauchs mit dem Ausbringen von Samen auf einem geeigneten Boden lässt sich als eine verdeckte Kampfansage gegen ein Sprachverständnis werten, in dem die Sprache primär nicht als ein Mittel der Sinnbildung angesehen wird, sondern als ein Mittel für die Fixierung, die Speicherung und den Transport von bestimmten Wissensinhalten bzw. Informationen. Gegen ein solches Sprachverständnis machen Sokrates und Platon Front, weil beide offenbar nicht dasjenige Wissen als eigentliches Wissen ansehen, das sich in der Form von bestimmten Begriffen oder Aussagen als Gegenstandswissen fixieren, abspeichern und wiederverwenden lässt, sondern vielmehr dasjenige Wissen, das als Handlungswissen beim richtigen Umgang mit den Phänomenen in der Welt zur Erscheinung kommt. Dieses Wissen kann nicht den Anspruch erheben, etwas Gegebenes direkt abzubilden, sondern nur den, etwas zugänglich und handhabbar zu machen. Vor diesem Hintergrund wird dann auch verständlich, warum Platon die Hypothese entwickelt hat, dass der Erwerb von Wissen letztlich nicht als Übernahme von Wissen zu verstehen sei, sondern eher als eine Wiedererinnerung (Anamnesis) an ein ursprüngliches, aber faktisch meist verstelltes Wissen. Wieland hat deshalb auch betont, dass im Umkreis des platonischen Denkens ein propositionales Gegenstandswissen, das in Form von Begriffen und Aussagen objektivierbar, speicherbar und übertragbar sei, von einem nichtpropositionalen Handlungswissen zu unterscheiden sei, das sich nur im Umgang mit den Dingen aufzeigen und erwerben lasse. Es ist offensichtlich, dass sich ein solches Wissen auch nicht in irgendeiner Form von Warenvorstellung veranschaulichen lässt, weil es ja den Nährboden bzw. die genetische Voraussetzung für alle Formen von gegenständlichem Sachwissen ist. Deshalb hat Wieland auch herausgestellt, dass sich Platon mit diesem Wissensverständnis ausdrücklich gegen das Wissensverständnis der Sophisten gewandt habe. „Die Käuflichkeit des sophistischen Wissens dient bei Platon nur als Indikator, der auf einen Irrtum über die Struktur des Wissens hinweist. Wer mit Wissensinhalten wie mit Handelsware umgeht, behandelt sie als objektivierbare und identifizierbare Gegenstände. Der Sophist befindet sich daher in einer ähnlichen Selbsttäuschung
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wie derjenige, der einem geschriebenen Text auf unmittelbare Weise Wissen entnehmen zu können glaubt.“ 34
Das Wissen, das im Mittelpunkt des platonischen Denkens steht und das über die Person des Sokrates veranschaulicht werden soll, lässt sich kaum positiv formulieren, weil es letztlich die Voraussetzung jedes positiv formulierbaren Wissens bildet. Dafür hat Wieland ein schönes Bild gefunden. „Das Wissen, um das es Sokrates geht, ist nicht von der Art des Wassers, das an einem Wollfaden aus einem vollen in ein leeres Gefäß fließt.“35 Sokrates wird deshalb von Platon auch nicht als derjenige dargestellt, der durch ein überlegenes enzyklopädisches Sachwissen glänzt, sondern als derjenige, der mit Sachproblemen adäquat umzugehen weiß. Dieses philosophische Wissen erzeugt sich für Platon in der intensiven Beschäftigung mit den jeweiligen Denkgegenständen gleichsam „wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele ...“ 36 Die beste sprachliche Darstellungsform, um das von ihm angestrebte philosophische Wissen präsent zu machen, ist für Platon der Dialog. Dieser ist für Platon weit mehr als ein bloßes Inszenierungsmittel für Inhalte, die sich im Prinzip auch monologisch konkretisieren und vermitteln ließen. Die Form des Dialogs kann für Platon auch in seiner schriftlichen Manifestationsweise am besten die Gefahren kompensieren, die mit jeder schriftlichen Fixierung des philosophischen Denkens zusammenhängen. Diesbezüglich lässt sich auf folgende Strukturmerkmale des dialogischen Sprachgebrauchs verweisen. In einem Dialog hat prinzipiell keine Einzelaussage eine Endgültigkeitsfarbe, da sie immer nur einen Stellenwert in einem Interaktionsprozess hat. Dadurch wird die Genese von Denkinhalten auch sehr viel besser fassbar als in einem monologischen Sprachgebrauch. Außerdem wird deutlich, dass hinter jeder Sachaussage immer auch eine bestimmte Person steht bzw. eine ganz bestimmte Perspektivierungsanstrengung für ein Phänomen oder ein Problem.
Der Einfluss der Schrift auf die Strukturierung des Denkens Nun kann man sich natürlich fragen, ob die platonische Schriftkritik, die zugleich auch immer eine Kritik des monologischen Sprachgebrauchs war, nicht etwa überpointiert ist. Zweifellos fördert die Schrift die Tendenz, die Sprache eher als ein Darstellungsmittel für die Welt zu verwenden denn als ein Handlungsmittel in der Welt. Darüber sollte man aber nicht vergessen, dass man auch gegebene Begriffe, Aussagen und Texte bzw. konventionalisierte Sprachmuster aller Art durchaus immer wieder zu Dialogpartnern machen
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W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1982, S. 65. W. Wieland, a.a.O., S. 237. 36 Platon, Siebenter Brief, 441 d–c, Werke Bd. 1, S. 317. 35
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kann. Das geschieht beispielsweise, wenn man nach den Prämissen und Implikationen dieser Muster fragt und insbesondere ein Interesse an deren Genese und Funktionen entwickelt. So etwas ist allerdings nur dann möglich, wenn man diese Gebilde nicht von vornherein als Zeichen mit einem ganz bestimmten Inhalt versteht, sondern allenfalls mit einem bestimmten Inhaltspotenzial, das sich nur dann wirklich erschließt, wenn man die richtigen Fragen an diese Gebilde stellt. Gerade weil schriftlich fixierte Texte eines bestimmten Typs sowohl in einem systematischen als auch in einem historischen Sinne eine ausgeprägte Widerständigkeit gegenüber ihren Rezipienten zu entwickeln vermögen, können sie für sie auch zu Dialogpartnern werden. So betrachtet können dann Rezipienten in der hermeneutischen Auseinandersetzung mit schriftlich fixierter Sprache nicht nur Aufschluss über Sachverhalte gewinnen, sondern auch über sich selbst bzw. über ihre oft verdeckten eigenen Denkprämissen und Denkziele. Wenn wir über die Abstraktions- und Akzentuierungsimplikationen des schriftlichen Sprachgebrauchs nachdenken, dann haben wir unser Interesse zugleich auch immer auf die Entwicklungsgeschichte und die unterschiedlichen Realisationsmöglichkeiten der Schrift zu richten. Am Anfang der Schriftgeschichte stehen die sogenannten Inhaltsschriften, bei denen mit bestimmten, meist ikonisch genutzten Zeichenträgern Informationsunsicherheiten in einem bestimmten Denkrahmen beseitigt werden können. Die jeweiligen Notationszeichen sind deshalb im Prinzip als gedächtnisunterstützende Hilfsmittel anzusehen, die nicht dazu dienen sollen, ganz bestimmte Begriffe oder Aussagen zu repräsentieren, sondern vielmehr dazu, unser Vorstellungsvermögen in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken und uns recht komplexe Sachverhalte zu vergegenwärtigen. Ohne umfassende Kontext- bzw. Situationskenntnisse sind Inhaltsschriften deshalb dann auch kaum verständlich. Erst nach und nach haben sich dann die sogenannten Wortlautschriften entwickelt, die zunächst nicht unbedingt den phonographischen, sondern zunächst nur den semantischen Wortlaut von Aussagen zu repräsentieren versuchten. Diese Wortlautschriften verfeinerten sich dann von den sogenannten Begriffsschriften, in denen die einzelnen Zeichen bzw. Wörter als Begriffsbezeichnungen konkrete graphische Repräsentationen bekommen hatten, zu den sogenannten Silben- und Buchstabenschriften, die auch den phonographischen Wortlaut von sprachlichen Äußerungen zu fixieren versuchten. Durch die letzteren Schriftformen ließ sich dann auch die Zahl der verwendeten Schriftzeichen radikal vermindern. Außerdem konnte nun auch dasselbe Inventar von Schriftzeichen für ganz unterschiedliche Sprachen nutzbar gemacht werden. Dieser historische Schriftentwicklungsprozess hat nun wichtige kognitive und anthropologische Konsequenzen gehabt, insofern vom Gebrauch unterschiedlicher Schriftformen auch unterschiedliche Impulse für die Entwicklung und Ausgestaltung bestimmter Denkformen ausgegangen sind bzw. ausgehen konnten. So ist beispielsweise seit Humboldt immer wieder betont worden, dass die Buchstabenschrift die Entfaltung des analysierenden und synthetisierenden Denkens entscheidend angeregt habe. Durch den Gebrauch dieses
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Schrifttyps sei die allgemeine Denkstrategie eingeübt worden, komplexe Sachverhalte in Einzelbestandteile zu zerlegen und aus den Einzelbestandteilen dann wieder komplexe Vorstellungsgestalten zu bilden.37 Insgesamt lässt sich sagen, dass die Nutzung des schriftlichen Sprachgebrauchs die Tendenz ausdrücklich gefördert hat, das eigene Wissen nicht mehr nur empirisch und induktiv aus persönlichen Erfahrungen abzuleiten, sondern auch aus Lesefrüchten bzw. aus der Identifizierung und Konkretisierung von Begriffsimplikationen. Dadurch konnten sich dann auch ganz neue Rationalitätsformen entwickeln bzw. ganz andere Wertschätzungen von bestimmten Rationalitätstypen.38 Das exemplifiziert die klassische Schlussfolgerungslogik auf schlagende Weise. Wenn man beispielsweise weiß, dass alle Menschen sterblich sind und dass Sokrates ein Mensch war, dann weiß man zugleich auch schon, dass er gestorben ist, ohne dass man gezwungen ist, das empirisch erkunden zu müssen.
Schriftliche Texte als zweite Erfahrungswelt Es ist sicherlich kaum zu bezweifeln, dass unser konkretes faktisches Wissen weitgehend aus der Objektivierung und Interpretation unserer Sinneserfahrungen mit Hilfe kulturspezifischer Muster resultiert, unter denen natürlich die sprachlichen Muster eine ganz dominierende Rolle spielen. Die faktische Repräsentationskraft dieser Muster ist so groß, dass wir mit ihrer Hilfe sogar eigene Vorstellungswelten erzeugen können, was sowohl Sachtexte als auch Fiktivtexte eindrucksvoll belegen. Das aus Texten und insbesondere aus schriftlich fixierten Texten bezogene Wissen konstituiert so gesehen gleichsam eine zweite Erfahrungswelt des Menschen neben dem Wissen, das aus der ersten, sinnlich fassbaren Erfahrungswelt stammt. Diesen Denkansatz haben die Psychologen Bruner und Olson aufgenommen und zu der These ausgebaut, dass insbesondere durch die Verschriftlichung der Sprache für den Menschen historisch gleichsam eine zweite Form von Praxis entstanden sei, die sie dann „Deuteropraxis“ genannt haben.39 Ihrer Meinung nach bilde sich Wissen in literalen Kulturen immer weniger durch den konkreten Umgang mit der empirischen Erfahrungswelt heraus, sondern immer mehr durch Umgang mit Textwelten. Durch die Lektüre von Büchern würden die Bezugsfelder und die Inhalte des möglichen Wissens ungeheuer ausgeweitet, aber zugleich auch immer unüberprüfbarer gemacht. Nicht selten gewinne das aus Büchern erworbene Lesewissen eine Dominanz über das
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W. von Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau, Werke Bd. 3, S. 90. 38 Vgl. zu dem Problem von Rationalitätsformen K. Gloy (Hrsg.), Rationalitätstypen, 1999. 39 J. S. Bruner / D. R. Olson, Symbole und Texte als Werkzeuge des Denkens, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 7, 1978, S. 311.
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persönlich erworbene empirische Erfahrungswissen. Als ein überzeugendes Exempel dafür lässt sich das erlesene Schulbuchwissen ansehen. Dieses hat die Möglichkeiten des Wissenserwerbs gewaltig vergrößert, aber zugleich auch die individuellen Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, das so erworbene Wissen empirisch zu prüfen, zu erhärten und zu legitimieren. Das erlesene Wissen steht immer in der Gefahr, sich dogmatisch zu versteinern, weil man in der Regel seine Entstehungsgeschichte nicht überschauen kann und weil es sich oft einer direkten empirischen Erfahrungskontrolle entzieht. Deshalb wird es dann auch leicht als Basiswissen oder gar als Wissen an sich verstanden. Ein typisches Beispiel für die Wirksamkeit des erlesenen Wissens als einer zweiten Praxiserfahrung, die faktisch zu einer ersten Praxiserfahrung wird, verkörpert sich in der Gestalt des Don Quichotte, bei dem die erlesene Welt die reale Welt auf eine fast groteske Weise dominiert. Die Wirksamkeit von schriftlich fixierten Texten als eigenständigen Erfahrungsgrößen und Wissensquellen hat mehrere Ursachen. In schriftlich fixierten Texten kommt es notwendigerweise zu einer größeren Standardisierung der Sprache und damit auch zu einer übersichtlicheren begrifflichen Strukturierung und Präzisierung des Wissens. Das erleichtert die Systematisierung des Wissens und lässt dieses verlässlicher erscheinen als das Wissen, das auf mündlichen Mitteilungen beruht. Das, was man schwarz auf weiß besitzt, kann man eben eher getrost nach Hause tragen als das, was man nur gehört hat. Das, was einmal schriftlich fixiert worden ist, lässt sich authentisch zitieren und nicht nur sinngemäß wiedergeben. Erst als es möglich war, Gedanken schriftlich zu objektivieren und zu fixieren, wurde es auch sinnvoll, von einem geistigen Eigentum zu sprechen und ein Urheberrecht zu entwickeln, da sich nun die Grenzen zwischen den eigenen und fremden Gedanken klarer ziehen ließen als vorher. In literalen Kulturen kommt es außerdem zu einer deutlicher ausgeprägten Differenzierung von individuellen Wissensbeständen als in oralen Kulturen, da nun die Menschen ihr sprachlich erzeugtes Wissen aus ganz unterschiedlichen Texten beziehen können und nicht mehr nur aus derselben mündlich tradierten Erzähltradition. Das Lesen von Büchern ist im Gegensatz zur Rezeption von mündlich vorgetragenen Mythen, Märchen und Epen eher ein individuelles als ein soziales Ereignis. Die Lektüre von unterschiedlichen Büchern führt so gesehen zu sehr unterschiedlichen Wissensbeständen bzw. zu einer sehr unterschiedlichen zweiten Lebenspraxis. Die Dominanz des erlesenen Wissens kann so groß werden, dass das individuelle Denken eher einen rezeptiven und organisatorischen als einen produktiven und kreativen Charakter bekommt. Das hat Schopenhauer zu der folgenden bissigen Bemerkung veranlasst: „Lesen ist ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens. Man lässt dabei seine Gedanken von einem Andern am Gängelbande führen.“ 40
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A. Schopenhauer, Paerga und Paralipomena II, § 260, Werke 1988, Bd. 5, S. 436.
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Texthermeneutik Bei jeder schriftlichen Fixierung von Vorstellungs- und Wissensinhalten kommt es zu einer Objektivierung dieser Inhalte in sprachlichen Formen, die Gefahr läuft, von späteren Generationen nicht mehr oder recht anders verstanden zu werden, weil sich im Laufe der Zeit sowohl die entsprechenden Denkals auch Sprachmuster inhaltlich verändert haben. Dadurch ergibt sich für spätere Textrezipienten die Aufgabe, die Fremdheit alter Texte zu überwinden, um sich die Inhalte wieder zugänglich zu machen, die ursprünglich in ihnen objektiviert und abgespeichert waren. Zur Bewältigung dieser Aufgabe hat man dann die Hermeneutik als Lehre von der Struktur und dem Verstehen sinnhaltiger Texte entwickelt. Der Sache nach gab es die Hermeneutik schon in der Antike als man beispielsweise in der Bibliothek von Alexandria die Erfahrung machte, dass man die alten schriftlich fixierten homerischen Texte in ihren Denk- und Sprachformen nicht mehr problemlos verstehen konnte. Unter dem programmatischen Oberbegriff Grammatik hat man dann Denkansätze und Verfahren entwickelt, um schwer verständliche Texte wieder verständlicher zu machen. Dem Terminus nach gibt es die Hermeneutik allerdings erst seit dem 18. Jahrhundert, als man sich bei der Rezeption alter Texte ebenfalls in einem immer höheren Maße mit dem Problem des Verständlichkeitsschwundes konfrontiert sah. Diese Entstehungsgeschichte der Hermeneutik ist insofern interessant, als das Verstehensproblem zunächst im Hinblick auf kanonisierte Texte aktuell geworden ist, denen man von vornherein einen wertvollen Inhalt bzw. eine überschießende Sinnfülle zuordnete, die es dann zu erschließen galt. Das hatte zur Folge, dass das Verstehen von Texten weitgehend als eine Rekonstruktion des ursprünglichen Textinhaltes verstanden wurde und kaum als eine kritische Würdigung von Texten aus einer retrospektiven historischen Distanz. Texte wurden dementsprechend von vornherein als Schatzkammern verstanden, deren wertvolle Schätze zugänglich zu machen waren. Das hatte zur Konsequenz, dass man im Rahmen der Hermeneutik zunächst vor allem Verfahren zu entwickeln versuchte, die dazu dienlich waren, geschichtlich bedingte Verstehensbarrieren zu überwinden, um die Sinnfülle von Texten auf verschiedenen Ebenen zu erschließen. Besonders deutlich zeigte sich diese Intention in der Bibelhermeneutik der Antike, als der Kirchenvater Origines die alexandrinischen Verfahren der Interpretation von Homertexten auch für das Bibelverständnis fruchtbar zu machen suchte und dabei die Theorie des mehrfachen Schriftsinns entwickelte. Diese Theorie wurde dann nach und nach zur Theorie des vierfachen Schriftsinns ausgearbeitet, bei der man zwischen einem buchstäblichen bzw. historischen, einem allegorischen bzw. bildlichen, einem moralischen bzw. handlungsanleitenden und einem anagogischen bzw. heilsgeschichtlichen Sinn unterschied. Vorausgesetzt wurden bei den ursprünglichen Denkansätzen der Hermeneutik immer, dass die jeweiligen Texte immer wertvolle Schätze bergen, die es eigentlich nur zu heben galt.
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Als sich im 19. Jahrhundert die Bemühungen der Hermeneutiker mehr und mehr auf Texte aller Art ausdehnten und sich dann beispielsweise auch eine juristische Hermeneutik entwickelte, da differenzierte sich das Erkenntnisinteresse der Hermeneutik natürlich immer stärker. So stellte sich beispielsweise das Problem, ob es der Hermeneutik im Sinne einer methodischen Textphilologie nur um „das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d.h. des Erkannten“ gehen solle, wie es etwa Boeckh formulierte,41 oder darüber hinaus auch um ein besseres Verständnis der in den jeweiligen Texten thematisierten Sachverhalte. Sofern man auch das letztere Ziel anstrebte, musste man notwendigerweise die Sprach- und Texthermeneutik zu einer Welthermeneutik im Sinne Heideggers ausweiten. Sprachliche Formen bzw. Textzeugnisse waren dann letztlich nur noch Möglichkeiten, um in den Zirkel der Weltauslegung einzusteigen, aber nicht mehr Schatzkammern mit einer ganz eigener Inhaltsfülle. Gadamer sah das Ziel der Hermeneutik deshalb dann auch hauptsächlich nicht mehr darin, alte Schatzkammern zu öffnen, sondern vielmehr darin, fremde und eigene Denkhorizonte ineinander zu schieben, um eben dadurch die eigenen Denkmöglichkeiten auszuweiten und universaler zu machen. Wie auch immer man nun die Aufgaben und Ziele der Hermeneutik letztlich bestimmt, auf jeden Fall kann man festzustellen, dass sie die Wahrnehmungsmöglichkeiten für den potenziellen Sinn sprachlicher Formen ungemein sensibilisiert hat. Man musste sich nun nämlich in Verstehensprozessen immer auch Rechenschaft darüber ablegen, welches Wissen sich in den beobachtbaren lexikalischen, grammatischen und textuellen Formen manifestiert hat, wie sich dieses Wissen historisch gebildet hat und wie es auf die Ausbildung neuen Wissens Einfluss nehmen kann. Unter diesen Umständen diente dann die Hermeneutik prinzipiell dem Ziel, unserer Wahrnehmung von Texten eine größere Sinnschärfe und Sinntiefe zu geben. Außerdem stellte sich in diesem Zusammenhang natürlich auch die Frage, ob zum Textinhalt nur das gehört, was sich über die Kenntnis der jeweiligen Sprachkonventionen in ihm erschließen lässt, oder auch das, was ein Text an Assoziationen auslöst bzw. was ein Leser deduktiv und induktiv aus den direkt gegebenen Informationen erschließen kann. Wenn man zu einem Textinhalt auch das rechnet, was ein Text assoziativ auslöst oder in verdeckter Weise auch noch beinhaltet, dann wird die These von der Speicherfunktion der Sprache natürlich sehr unübersichtlich, wenn nicht problematisch. Der Inhalt von Texten kann dann je nach der sprachlichen Sensibilität, der Imaginationskraft und dem Zusatzwissen der jeweiligen Rezipienten recht unterschiedlich ausfallen. Wir müssen dann mit dem Problem leben, dass die Grenzen zwischen den Informationen, die in einem Text abgespeichert sind, und den Informationen,
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A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, 18862/1966, S. 10
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die aus ihm assoziativ oder methodisch organisiert abzuleiten sind oder gar in ihn hineinprojiziert werden, nicht scharf zu ziehen ist. Auf jeden Fall kann die Hermeneutik aber dabei helfen, den Rahmen abzustecken, in dem sinnvoll davon gesprochen werden kann, dass die Sprache die Funktion eines Wissensspeichers erfüllt. Außerdem kann sie auch die Einsicht fördern, dass man nur dann brauchbare Antworten auf die Frage nach der Speicherfunktion von Sprache und Texten bekommt, wenn man diesbezüglich auch fruchtbare Fragen und Hypothesen entwickelt. Daraus folgt, dass wir das in sprachlichen Formen eingeschlossene Wissen nur dann sinnvoll für unsere aktuellen Wissensbedürfnisse assimilieren können, wenn wir uns auch selbst im Sinne von Akkommodationsprozessen geistig bewegen und nicht dem Glauben verfallen, sprachliche Zeichen und Formen seien über bloße Sprachkonventionen problemlos und erschöpfend semantisch zu dekodieren.
4. Die Sprache und das Gedächtnis Wenn wir uns mit der Leistung der Sprache beschäftigen, Wissen mit Hilfe intersubjektiv verständlicher Muster zu speichern, dann kommen wir nicht um das Problem herum, uns auch mit der Struktur und Funktion des menschlichen Gedächtnisses zu beschäftigen. Sprache und Gedächtnis sind offenbar nicht nur funktionell eng miteinander verbunden, sondern haben auch ähnliche pragmatische und anthropologische Implikationen. Deshalb hat Wittengenstein auch eine interessante rhetorische Frage gestellt: „Sind wir dem Gedächtnis nicht ebenso ausgeliefert wie einem Muster?“ 42 Zweifellos steht derjenige, der kein gutes Gedächtnis hat, in der großen Gefahr, frühere Erfahrungen in seinem aktuellen Handeln nicht zureichend nutzen zu können und deshalb vermeidbare Fehler ständig zu wiederholen. Allerdings haben wir im Hinblick auf die Wertschätzung des Gedächtnisses auch zu beachten, dass es zu einem Problem werden kann, wenn man unfähig wird, etwas vergessen zu können. Die Menge des gespeicherten Wissens kann dann entweder die eigenen Handlungsfähigkeiten lähmen oder daran hindern, im Banne des alten Wissens neue Denkwege und Denkinhalte auszubilden. Deshalb ist auch immer wieder darüber spekuliert worden, ob das Gedächtnis als Gottesgeschenk oder als Teufelswerk zu beurteilen sei.43 Bei den Bemühungen, die Struktur und Funktion des Gedächtnisses zu klären, können wir sowohl auf die Sinnbilder Bezug nehmen, die im Laufe der Kulturgeschichte zur Veranschaulichung der Gedächtnisproblematik verwen-
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L. Wittengenstein, Philosophische Untersuchungen, § 56, 1967, S. 43. Dieses Problem klingt ja nicht nur in Platons Mythos über die Erfindung der Schrift an, sondern auch in vielen anderen literarischen Erzählungen über die Krankheit des Vergessens bzw. des Behaltens. Vgl. W. Köller, Die Krankheit des Vergessens. In: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 349–389.
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det worden sind, als auch auf die Theorien, die im Rahmen des wissenschaftlichen Denkens über das Gedächtnisphänomen entwickelt worden sind. Beide Objektivierungsstrategien haben zwar unterschiedliche Ausgangsprämissen und Zielsetzungen, aber sie konvergieren doch in vielen Hinsichten.
Sinnbilder für das Gedächtnis Im Laufe der Kulturgeschichte sind viele aufschlussreiche Sinnbilder für die Veranschaulichung der Struktur und der Funktion des Gedächtnisses in Umlauf gekommen wie beispielsweise die Sinnbilder Magazin, Schwamm, Tafel oder Falte. Diese vier Bilder eröffnen recht unterschiedliche, aber gleichermaßen aufschlussreiche Wahrnehmungsperspektiven für das Gedächtnisphänomen und das Problem der Speicherung von Wissen in der Sprache. Die Magazinvorstellung44 thematisiert das Gedächtnis als einen geordneten Speicherraum für Inhalte, in dem diese als stabile eigenständige Einzelgrößen eingelagert und aus dem sie bei Bedarf auch wieder entnommen werden können. Dieses Denkmodell setzt voraus, dass den jeweiligen Gedächtnisinhalten eine klar abgrenzbare speicherbare Gestalt gegeben werden kann und ein gut auffindbarer Systemplatz im Raum des Gedächtnisses. Diese Anforderung scheint erfüllt werden zu können, wenn man die jeweiligen Inhalte sachlich klar voneinander abgrenzen, sprachlich benennen und kategorial einordnen kann. Das Magazinmodell des Gedächtnisses lässt sich deshalb auch durch das Fachvokabular einer Wissenschaft, durch Lexika oder durch die Speicherplatte eines Computers recht gut sinnbildlich veranschaulichen. Die Defizite bzw. die Problembereiche des Magazinmodells für die Veranschaulichung des Gedächtnisses zeigen sich aber, wenn wir folgende Fragen stellen: Welche Denkoperationen liegen der Ausbildung von Gedächtnisinhalten zu Grunde? Bleiben Gedächtnisinhalte im Lauf der Zeiten mit sich selbst identisch oder verändern sie sich unmerklich für die jeweiligen Menschen? Behalten Gedächtnisinhalte ihren ursprünglichen kategorialen Systemplatz oder verschiebt sich dieser durch neue Erfahrungen bzw. durch die Ausbildung neuer Gedächtnisinhalte? Welchen Grad von Komplexität dürfen Gedächtnisinhalte haben, um als Einzelinhalte und nicht als allgemeine Erfahrungen oder als Denkfähigkeiten verstanden zu werden? Können wir bestimmte Gedächtnisinhalte immer nach denselben Prozeduren auffinden? Unter welchen Bedingungen lösen sich Gedächtnisinhalte als eigenständige Größen auf oder gewinnen eine andere Gestalt? Gibt es neben dem expliziten Gedächtnis, dessen Inhalte als versprachlichte oder leicht in Sprache fixierbare Inhalte in der Regel klar fassbar sind, auch noch ein implizites Gedächtnis, dessen Inhalte man-
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Zur Magazin- und Tafelvorstellung des Gedächtnisses vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten 1976, S. 291–294.
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gels sprachlicher Repräsentationen zwar schwer fassbar, aber dennoch unterhalb der Schwelle des expliziten Bewusstseins doch sehr wirksam sind? Ist das Gedächtnis als Speicheraum für Inhalte in der Morphologie des Gehirns lokalisierbar oder müssen wir uns das Gedächtnis als ein Interaktionsphänomen zwischen unterscheidbaren Gehirnregionen bzw. Gehirnfähigkeiten vorstellen? Wenn man solche Fragen stellt, dann hat man im Prinzip schon in Zweifel gezogen, dass das Magazinmodell alle wesentlichen Struktur- und Funktionsaspekte des Gedächtnisses zureichend erfasst. So bleibt beispielsweise in diesem Modell unberücksichtigt, wie sich Gedächtnisinhalte herausbilden, welchen Einfluss Emotionen auf die Gestaltung, die Konsistenz und die Lebendigkeit von Gedächtnisinhalten ausüben, ob sich dieselben Gedächtnisinhalte unter verschiedenen sprachlichen Etikettierungen speichern und wiederfinden lassen und warum Gedächtnisinhalte aus der Kindheit offenbar stabiler und präsenter sind als solche aus späteren Lebensphasen. Das Hauptdefizit des Magazinmodells für die Veranschaulichung des Gedächtnisphänomens liegt offenbar darin, dass es im Prinzip zu räumlich, zu statisch und zu sprachbezogen im Sinne des Langue-Konzeptes konzipiert ist und dass in ihm die zeitliche Dynamik, die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Gedächtnisfaktoren und die emotionalen Implikationen des Gedächtnisses zu wenig berücksichtigt werden. Diese Aspekte der Gedächtnisphänomens treten deutlicher hervor, wenn wir nicht von Gedächtnisinhalten, sondern von Erinnerungen sprechen, weil die Idee der Wiederbelebung von alten Vorstellungsinhalten im höheren Maße auf die sinnbildenden Aktivitäten von Subjekten Bezug nimmt als die Vorstellung des bloßen Rückgriffs auf gespeicherte Denkinhalte. Wenn wir von Erinnerungen sprechen, dann betonen wir nicht nur, dass es Motive für das Erinnern geben muss, sondern auch, dass sich Stellenwert und Struktur des Erinnerten kontinuierlich verändern können. Falls wir bei der sinnbildlichen Objektivierung des Gedächtnisses nicht die Vorstellung eines Magazins, sondern die eines Schwamms heranziehen, dann tritt die Gedächtnisproblematik hinsichtlich ihrer Prämissen und Konsequenzen ganz anders in Erscheinung. So muss man beispielsweise nun beachten, dass ein Schwamm nicht feste, sondern nur flüssige Inhalte speichern kann bzw. nur solche Inhalte, die sich der Porenstruktur des Schwamms als Speichermedium anpassen können. Das hat zur Folge, dass jeder Speichervorgang mit einer gewissen Gestalttransformation der zu speichernden Inhalte verbunden ist und dass außerdem auch jede Abgabe von gespeicherten Inhalten immer einen gewissen Gestaltwandel impliziert. Wenn man sich außerdem vor Augen hält, dass Kinder Sach- und Spracherfahrungen in sich aufsaugen wie Schwämme Wasser, dann veranschaulicht das Schwammmodell sehr schön, dass das Gedächtnis auch als ein physiologisches Phänomen betrachtet werden muss, insofern es fähig ist, Inhalte an sich zu ziehen, zu filtern und bei Übersättigung auch wieder zu verlieren. Wie ein Schwamm gerät auch das Gedächtnis in die Gefahr auszutrocknen, wenn es nicht dauernd in Funktionsabläufe eingebunden wird und keine neuen Informationen zu verarbeiten hat. Wenn das Gehirn keine Informationen bekommt, die
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es mit Hilfe von Gedächtnisinhalten verarbeiten muss, dann produziert es sich in Form von Halluzinationen oft selbst solche Informationen. Die Thematisierung des Gedächtnisses als leere Wachstafel (tabula rasa), auf die sich Erfahrungs- und Wissensinhalte einschreiben lassen, hat eine lange Tradition. Dieses Sinnbild hat in der Auseinandersetzung zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus eine sehr große erkenntnistheoretische Relevanz bekommen, als man sich nämlich darüber stritt, ob es für das Denken angeborene Grundvorstellungen bzw. Ideen gebe oder ob all unser Wissen auf sinnliches Erfahrungswissen zurückzuführen sei, das sich auf der leeren Tafel des Geistes bzw. des Gedächtnisses einpräge. Während das Magazinmodell das Gedächtnis im wesentlichen als Lagerraum für Inhalte ins Auge fasst, richtet das Tafelmodell seine Hauptaufmerksamkeit darauf, in welcher Form, Prägnanz und Dauerhaftigkeit Inhalte ins Gedächtnis eingeschrieben, wenn nicht eingraviert werden können. Das Magazinmodell wirft das Problem auf, wie Inhalte systematisch im Gedächtnis eingelagert und wieder aufgefunden werden können. Dagegen wird beim Tafelmodell die Frage aktuell, unter welchen Umständen Gedächtnisinhalte ausgelöscht, durch andere überlagert oder verändert werden können. Insbesondere die Wachstafelvorstellung veranschaulicht sehr eindringlich, dass Einflüsse von außen Gedächtnisinhalte im Laufe der Zeit verändern können. Diesbezüglich kann man sich auch vergegenwärtigen, dass zum Aufbringen von Zeichen auf eine Wachstafel ursprünglich ein Griffel (stilus) benutzt worden ist, der auf der einen Seite spitz war, um Zeichen einzuritzen, und der auf der anderen Seite platt war, um Zeichen auszulöschen oder zu verändern. Das Wachstafelmodell veranschaulicht deshalb auch sehr gut, dass das Gedächtnis ein recht labiler Aufbewahrungsort für Wissen ist, insofern dieses Wissen durch die Aktivitäten der Subjekte immer wieder verändert werden kann. Eine besonders interessante Variante des Wachstafelmodells für die Veranschaulichung der Gedächtnisproblematik stellt der von Freud herangezogene sogenannte Wunderblock dar.45 Mit diesem Terminus bezeichnet er ein Aufzeichnungsmittel, bei dem eine durchsichtige Folie auf einer Wachspapierschicht aufliegt. Wenn man nun mit einem Stift Druck auf diese Folie ausübt, verbindet sich die Folie an den entsprechenden Druckstellen mit der Wachspapierschicht, so dass die so hergestellten Konfigurationen bzw. Schriftzeichen deutlich sichtbar werden. Wenn man nun die Folie und die Wachspapierschicht gegeneinander verschiebt, dann verschwindet das Aufgezeichnete wie von Geisterhand wieder. Dieser Wunderblock war für Freud insbesondere deshalb so interessant, weil er mit seiner Hilfe darauf aufmerksam machen konnte, dass seiner Meinung nach alle Gedächtnisinhalte in einer Tiefenschicht immer irgendwie erhalten bleiben, selbst wenn sie auf einer Oberflächenschicht wie-
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S. Freud, Notiz über den ‚Wunderblock’, Gesammelte Werke Bd. 14, 19765, S. 3–8.
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der verschwinden, und dass nichts vollständig verloren geht, sondern eigentlich nur überlagert, umgestaltet oder fragmentiert wird. Bezieht man die Vorstellung des Wunderblocks auf die Sprache, dann lässt sich Folgendes sagen: Alle Prozesse des Bedeutungswandels von Wörtern bzw. alle Versuche, den semantischen Inhalt von Wörtern bewusst umzugestalten, führen in der natürlichen Sprache nicht dazu, dass frühere Inhalte vollständig verschwinden, sondern eher dazu, dass sie überlagert werden. Das dokumentiert sich sehr schön darin, dass tote Metaphern durchaus wieder lebendig werden können, wenn man sie in neue Kontexte stellt oder nach ihrer historischen Genese und ihren sinnbildenden Funktionen fragt. Eine ganz besondere sinnbildliche Veranschaulichungskraft für die Gedächtnisproblematik hat auch die Vorstellung der Falte. Auf dieses Veranschaulichungsbild hat Schopenhauer in ausdrücklicher Opposition zu dem eines Behälters zurückgegriffen. Es ist ihm deswegen so aufschlussreich, weil es ähnlich wie die Vorstellung des Wunderblocks auf die innere Dynamik des Gedächtnisphänomens aufmerksam machen kann. Schopenhauer möchte das Gedächtnis nämlich nicht als ein Behältnis verstanden wissen, aus dem man dieselben Dinge herausholen kann, die man vorher hereingelegt hat, sondern vielmehr im Sinne „eines Tuchs, welches die Falten, in die es oft gelegt ist, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt.“ 46 Mit dem Denkmodell der sich selbst wiederherstellenden Falte will Schopenhauer verdeutlichen, dass sprachlich einmal objektivierte Inhalte ihre traditionelle Festigkeit dadurch gewinnen, dass sie immer wieder als dieselben erscheinen wollen. Dabei verschließt er aber keineswegs die Augen davor, dass jede aktuelle Aktivierung von Gedächtnisinhalten auch dazu führt, dass diese eine partiell andere Gestalt gewinnen können, die wiederum zukunftsprägend werden kann. Dadurch vermag er kenntlich zu machen, dass sich im Gedächtnis die Identität und der Wandel von Inhalten in einem ständigen Fließgleichgewicht halten können bzw. dass alle Gedächtnisinhalte in neuen Kontexten auch neue, tradierbare Konturen zu gewinnen vermögen. In diesem Zusammenhang ist vielleicht eine alte, traditionsorientierte Hausfrauenweisheit interessant, die auf die Sehnsucht von Tüchern nach bewährten Falten Bezug nimmt: Wenn ich soll recht lang halten, leg mich in die alten Falten. Das Sinnbild der Falte macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die erste Formgebung unsere Gedächtnisinhalte in der Regel stärker prägt als spätere. Das erklärt dann vielleicht auch, warum das erste Verständnis von Wörtern und Texten deren späteres Verständnis auf eine fast normative Weise vorprägt. Das Faltenmodell macht außerdem recht gut verständlich, warum Gedächtnisinhalte aus der frühen Jugend nicht so schell vergessen werden wie die aus späteren Zeiten, weil sie meist eine sehr viel stärkere traditionsbildende
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A. Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, § 45, Werke Bd. 3, 1988, S. 156.
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Wirkung entfalten als spätere. Deshalb bekommen sie dann auch einen sehr dominierenden systematischen Stellenwert für die einzelnen Individuen. Zu Schopenhauers Faltenmodell passt auch, dass er sein Gedächtniskonzept ausdrücklich als Erinnerungskonzept verstanden wissen wollte, das sich nicht nur an konkreten Inhalten orientiert, sondern auch an den geistigen Aktivitäten des denkenden Subjekts und an der strukturierenden Kraft seiner frühen Erfahrungen auf spätere. „Die Erinnerungen eines Alten sind daher um so deutlicher, je weiter sie zurückliegen, und werden es immer weniger, je näher sie der Gegenwart kommen; so daß, wie seine Augen, auch sein Gedächtniß fernsichtig ... geworden ist.“ 47
Gedächtnistheorien Die bisher vorgestellten Sinnbilder für das Gedächtnis machen alle direkt oder indirekt darauf aufmerksam, dass wir die Gedächtnisproblematik nicht zureichend erfassen, wenn wir uns nur mit objektivierten Gedächtnisinhalten beschäftigen und darüber die Frage nach der Genese und den pragmatischen Funktionen des Gedächtnisses vernachlässigen. Wir haben nämlich auch zu bedenken, dass das Gedächtnis ein evolutionär entstandenes Phänomen ist, das in unterschiedlichen strukturellen und funktionellen Ausprägungen bei allen Lebewesen vorkommt und das dann beim Menschen in der Symbiose mit der Sprache eine ganz besonders differenzierte Ausprägungsform gefunden hat. Die außerordentlich große und anthropologisch auch sehr bedeutsame Spannweite der Gedächtnisproblematik zeigt sich, wenn wir uns die idealtypisch vereinfachenden Oppositionspaare vergegenwärtigen, die im Laufe der Zeit für die begriffliche Erfassung dieses Phänomens entwickelt worden sind: Artgedächtnis und Individualgedächtnis, kulturelles Gedächtnis und personales Gedächtnis, semantisches Gedächtnis und episodisches Gedächtnis, begriffliches Gedächtnis und ikonisches Gedächtnis, explizites Gedächtnis und implizites Gedächtnis usw. Diese Oppositionspaare zeigen, dass wir im Hinblick auf das menschliche Gedächtnis mindestens drei unterschiedliche Typen von Gedächtnisinhalten unterscheiden können: Erstens gibt es artspezifische Gedächtnisinhalte, die sich über lange Zeit evolutionär entwickelt und in groben Mustern genetisch verankert haben, um die menschlichen Grunddispositionen für Wahrnehmungen zu erleichtern und zu konkretisieren. Zweitens gibt es kulturspezifische Gedächtnisinhalte, die sich in kulturellen Differenzierungsmustern manifestiert haben und die unsere konkreten Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorstellungen und Entscheidungen vorstrukturieren, obwohl uns das meist gar nicht direkt bewusst ist. Drittens gibt es personale Gedächtnisinhalte, die sich im Laufe der
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A. Schopenhauer, Psychologische Bemerkungen, § 351, Werke Bd. 5, 1988, S. 523.
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individuellen Lebensgeschichte herausgebildet haben und über die wir uns verhältnismäßig leicht Rechenschaft ablegen können, weil wir sie mit anderen Gedächtnisinhalten recht gut kontrastieren können. Es ist offensichtlich, dass die letzten beiden Typen von Gedächtnisinhalten die engsten Korrelationen zur Sprache aufweisen, obwohl natürlich auch das Artgedächtnis Bezüge zur Sprache besitzt. Wenn wir nämlich mit Herder und Gehlen den Menschen als ein instinktreduziertes Lebewesen verstehen, das kultureller Institutionen wie etwa der Sprache bedarf, um überleben zu können, dann wird deutlich, dass das Artgedächtnis des Menschen natürlich ganz anders strukturiert sein muss als das der Tiere. Viele Aufgaben, die Tiere durch ihr Artgedächtnis lösen können, vermögen Menschen nur durch ihr kulturelles und personales Gedächtnis zu bewältigen. Auf die Verschränkung der lern- bzw. sprachabhängigen und der lernbzw. sprachunabhängigen Dimensionen des menschlichen Gedächtnisses verweist eine Definition des Begriffs Gedächtnis von Rainer Sinz, die Markowitsch als eine kaum noch zu überbietende Definition bezeichnet hat. „Unter Gedächtnis verstehen wir die lernabhängige Speicherung ontogenetisch erworbener Informationen, die sich phylogenetischen neuronalen Strukturen selektiv artgemäß einfügt und zu beliebigen Zeitpunkten abgerufen, d.h. für ein situationsangepaßtes Verhalten verfügbar gemacht werden kann.“ 48 Diese Definition verdeutlicht, dass das Gedächtnis konstitutive Bezüge zu dem Phänomen Zeit besitzt, insofern es nämlich eine Brückenfunktion zwischen den Erfahrungen aus der Vergangenheit und den aktuellen Bewusstseinsinhalten bzw. Intentionen hat, und dass diese Brückenfunktion um so deutlicher in Erscheinung treten kann, je klarer die jeweiligen Gedächtnisinhalte sich sprachlich objektivieren lassen. Diesbezüglich kann man dann auch an eine interessante anthropologische These von Alfred Korzybsky verweise Korzybsky hat den Menschen nämlich als ein Lebewesen bestimmt, das im Gegensatz zu anderen Lebensformen die Fähigkeit zur Zeitbindung entwickelt habe. Für ihn exemplifiziert die Pflanze eine energiebindende Lebensform, insofern sie in der Lage sei, Sonnenenergie in chemische Energie umwandeln. Das Tier exemplifiziert für ihn eine raumbindende Lebensform, insofern es chemische Energie in kinetische umwandeln könne, wodurch es dann befähigt werde, sich frei im Raum zu bewegen. Der Mensch exemplifiziert für ihn eine zeitbindende Lebensform, insofern er mit Hilfe von Zeichen und insbesondere von sprachlichen Zeichen Erfahrungen begrifflich fixieren und speichern könne. Das ermögliche es ihm, hinsichtlich seiner Wahrnehmungen und Entscheidungen aus dem unmittelbaren Fluss der Zeit herauszutreten und sich ein Wissen nutzbar zu machen, das er selbst oder andere zuvor erarbeitet hätten. Aus diesem Grunde könne der Mensch nicht nur wie die
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R. Sinz, Neurobiologie und Gedächtnis, Stuttgart 1979. Zitiert nach H.- J. Markowitsch, Dem Gedächtnis auf der Spur, 2002, S. 74.
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Pflanze oder das Tier auf Reize aus der jeweils gegebenen Realität reagieren, sondern auch auf Informationen aus kulturell erarbeiteten Symbolwelten.49 Wenn man so denkt, dann verschwindet die grundsätzliche Opposition von Gegenwart und Vergangenheit bzw. zwischen gegenwärtiger Wahrnehmung und aktualisierter Erinnerung. Das, was man aktuell wahrnimmt, wird nämlich interpretiert und ergänzt durch das, was man sich mit Hilfe von Zeichen bzw. Erinnerungen präsent machen kann. Das bedeutet, dass auch Gedächtnisinhalte letztlich als plastische Größen zu betrachten sind, insofern sie nicht mechanisch als vollständige Inhalte abrufbar sind, sondern nur hinsichtlich der Aspekte, die Bezüge zu gegenwärtigen Bewusstseinsinhalten haben. Das kann natürlich auch bedeuten, dass Gedächtnisinhalte Gefahr laufen, so in Erscheinung zu treten bzw. sich so zu konkretisieren, wie es das gegenwärtige Bewusstsein gerne hätte. Davon können Richter ein Lied singen, die vergangenes Geschehen mit Hilfe von Augenzeugen später authentisch zu rekonstruieren versuchen. Diese Tatbestände verdeutlichen, dass die Analogisierung des menschlichen Gedächtnisses mit der Speicherplatte eines Computers nur einen sehr begrenzten Wert hat. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass einzelne Gedächtnisinhalte immer in umfassendere eingebettet sind, dann wird offensichtlich, dass man Gedächtnisinhalte nicht als fertige Bausteine verstehen kann, aus denen sich dann feste und große Wissensgebäude errichten lassen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen überrascht es auch nicht, dass in der modernen Gehirnforschung das Magazin- und das Wachstafelmodell des Gedächtnisses, die dem Alltagsdenken ja durchaus plausibel erscheinen, immer wieder heftig kritisiert worden sind. Durch diese Modelle werde allzu leicht die nicht haltbare Vorstellung suggeriert, dass Gedächtnisinhalte stabil seien und dass das Gedächtnis selbst einen morphologisch klar bestimmbaren Ort im Gehirn habe. Diese Modelle sensibilisierten uns nicht für die Fragen, wie Gedächtnisinhalte entstehen, wie sie sich miteinander vernetzen, wie sie sich im Lauf der Zeit verändern, wie sie durch Willensimpulse und Emotionen beeinflusst werden und wie das Artgedächtnis, das Kulturgedächtnis und das Individualgedächtnis miteinander interagieren. Solche Fragen legen nahe, die Arbeit des Gedächtnisses als Erinnerungsanstrengung zu verstehen und damit primär als Gestaltungs- und nicht als Aufbewahrungsarbeit. Erinnerungsprozesse wären dann auch eher Konstruktions- als Rekonstruktionsprozesse.50 Der Biologe Gerhard Roth hat das Gedächtnis sogar als „unser wichtigstes Sinnesorgan“ bezeichnet, was nur auf den ersten Blick paradox erscheint. Mit dieser These will er nämlich nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass das Gedächtnis im Prinzip nur ein Glied in dem Kreisprozess von „Wahrneh-
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A. Korzybsky, Science and sanity, 19535, S. 369 ff. Vgl. F. Bartlett, Remembering, 1932/1967, S. 205. „ ... remembering appears to be far more decisively an affair of construction rather than one of mere reproduction.”
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mung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Erkennen, Handeln und Bewerten“ sei.51 Er möchte klarstellen, dass das Gehirn letztlich nicht nur als ein informationsaufnehmendes, sondern auch als ein informationsschaffendes System anzusehen sei, in dem das Gedächtnis eine konstitutive Rolle spiele. Das Gedächtnis sei wie andere Sinnesorgane auch eine wichtige Kontaktstelle zwischen den jeweiligen Subjekt- und Objektsphären, weil es mitbestimme, wie die Welt für das vorstellende Bewusstsein überhaupt in Erscheinung treten könne. Das Verständnis des Gedächtnisses als Sinnesorgan macht das Magazinund Tafelmodell des Gedächtnisses nicht völlig sinnlos, aber es reduziert doch entscheidend deren heuristische Funktionen. Sehr viel leichter lässt sich dieses Verständnis des Gedächtnisses mit dem Schwamm- und Faltenmodell in Verbindung bringen, weil auch diese beiden Modelle das Gedächtnis eher in einer physiologisch und dynamisch orientierten Denkperspektive zu erfassen versuchen als in einer anatomisch und statisch orientierten. Auf die Notwendigkeit, das Gedächtnis mit Emotionen und Willensimpulsen in Verbindung zu bringen bzw. es als ein Interaktionsphänomen zu verstehen, hat schon Nietzsche aufmerksam gemacht. Das dokumentieren zwei Aussagen, in denen allerdings nur auf negativ akzentuierte Gedächtnisinhalte verwiesen wird, die natürlich eher in abwehrende als in produktive Interaktionsprozesse eingebunden sind. „Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.“52 „ »Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. »Das kann ich nicht getan haben« – 53 sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“
5. Zwerge auf den Schultern von Riesen Wenn man die anthropologischen Implikationen der Speicherfunktionen der Sprache veranschaulichen will, dann lässt sich dabei sehr gut auf ein seit dem Mittelalter überliefertes Denkbild zurückgreifen, welches beinhaltet, dass die Nachgeborenen Zwerge auf den Schultern ihrer Vorfahren seien. Dieses Vorstellungsbild lässt sich vielfältig ausdeuten. Es kann personenbezogen verstanden werden und besagt dann, dass jeder einzelne bei seinem Wissenserwerb auf dem aufbaut, was andere vorher geleistet haben. Es kann kulturbezogen verstanden werden und besagt dann, dass jeder individuelle Wissenserwerb auf einem schon vorhandenen Kulturwissen riesenhaften Ausmaßes aufbaut. Es kann fortschrittsbezogen verstanden werden und besagt dann, dass es eine kontinuierliche Wissensanhäufung gibt, die es erlaubt, die Welt immer besser
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G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 19975, S. 261 und 263. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Werke Bd. 2, S. 802. 53 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werke Bd. 2, S. 625, Nr. 68. 52
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zu übersehen und zu verstehen. In allen drei Fällen lässt sich dieses Denkbild mit der Gedächtnisproblematik in Verbindung bringen bzw. mit der Vorstellung verknüpfen, dass die Sprache als Wissensspeicher anzusehen sei.
Genese und Struktur des Denkbildes Oft hat man Isaak Newton das Bekenntnis zugeordnet, er selbst habe weiter sehen können als andere, weil er auf den Schultern von Riesen gestanden habe. Merton hat nun aber akribisch nachgewiesen, dass diese Denkfigur eine sehr viel längere Vorgeschichte hat. Er führt diesen Bescheidenheitstopos auf Bernhard von Chartres aus dem 12. Jahrhundert zurück und macht wahrscheinlich, dass es über dessen Schüler Johann von Salisbury in unterschiedlichen Akzentuierungen in die abendländische Denkgeschichte eingegangen sei.54 Die Struktur dieses Bildes veranschaulicht zunächst, dass derjenige, der bei seinem Wissenserwerb auf das Wissen seiner Vorfahren zurückgreift, auf einem höheren Wahrnehmungsniveau beginnt als diese, was ihn dann befähigt, weiter zu sehen. Das lässt sich ganz bescheiden so verstehen, dass das tradierte Vorwissen im Vergleich zum selbst erwerbbaren Wissen riesenhafte Ausmaße hat. Dabei kann dann zunächst noch offen bleiben, ob die Riesen, auf denen man steht, mit individuellen Personen, mit umfassenden Theorien oder mit der Menge des kulturell erzeugten Wissens zu identifizieren sind. In jedem Fall konkretisiert die Vorstellung von den Zwergen auf den Schultern von Riesen aber eine spannungsvolle Dialektik. Diese besteht darin, dass einerseits die Wissensprämissen der individuellen Erkenntnisbemühungen zwar als riesengroß qualifiziert werden, dass andererseits aber auch hervorgehoben wird, dass man selbst mehr wahrnehmen kann als die Riesen, auf denen man steht. Das Denkbild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen muss man allerdings nicht zwangsläufig in einem fortschrittsoptimistischen Sinne verstehen, weil es durchaus ambivalente Implikationen hat. Diese offenbaren sich, wenn man folgende Fragen stellt. Wie kommen die Zwerge auf die Schultern von Riesen und wie kommen sie von diesen wieder herunter in die faktische Welt? Können sich die Zwerge aussuchen, auf welche Riesen sie klettern wollen? Sind die Riesen feste oder variable Größen? Verwachsen die Zwerge mit den jeweiligen Riesen oder sind sie von diesen immer klar unterscheidbar? Sind die Riesen aufeinandergetürmte bzw. zusammengewachsene Zwerge? Die Interpretationsbedürftigkeit, aber auch die variable Interpretationsfähigkeit dieses Denkbildes zeigt sich sehr schön in einer Anekdote, die Merton über Siegmund Freud berichtet hat. Dieser soll sich im Hinblick auf einen unliebsamen Schüler, der von diesen Bild Gebrauch gemacht hat, um seinen eigenen Weitblick gegenüber dem des Meisters zu kennzeichnen, etwas ver-
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R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, 1989, S. 19, 152, 168, 170, 177, 223 ff.
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schnupft folgendermaßen geäußert haben: „Das mag wahr sein, aber nicht eine Laus auf dem Kopfe eines Astronomen.“ 55 Die Reaktion Freuds verdeutlicht sehr schön, dass sich der Fortschritt und der Weitblick beim Wissenserwerb nicht so einfach darstellt, wie es das Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen zunächst nahelegt. Es stellt sich in diesem Zusammenhang nämlich die Frage nach den faktischen Kontinuitäten in der Wissensbildung sowie nach den Wahrnehmungs- und Denkqualitäten derjenigen, die beanspruchen, weiter sehen zu können als diejenigen, auf denen sie bei ihrer Wissensfindung fußen. Die Verbesserung des Sehens und Wissens ist keineswegs schon durch den erhöhten örtlichen oder den späteren zeitlichen Sehepunkt des Wahrnehmenden gewährleistet, sondern ist auch durch dessen Fähigkeiten bedingt, rohe Wahrnehmungsdaten konzeptionell angemessen zu verarbeiten bzw. fruchtbare Fragen zu stellen. Bacon hat beispielsweise schon im 17. Jahrhundert in seiner Idolenlehre darauf aufmerksam gemacht, dass die Prämissen des eigenen Wissenserwerbs durchaus problematisch sein könnten. Er hat darauf verwiesen, dass es Vorurteile der Gattung, des Standpunktes, der Gesellschaft und der Bühne gebe. Die Vorurteile der Gesellschaft manifestierten sich dabei insbesondere in den Denkmustern der Sprache und die der Bühne in den gängigen philosophischen Theorien oder den dichterischen Weltdarstellungen.56 Peirce hat beklagt, dass es in der Philosophie leider keine einheitliche Terminologie gebe und dass in ihr im Gegensatz zu den Naturwissenschaften die einzelnen Forscher nicht auf den Schultern früherer Forscher stünden, um unbestreitbares Wissen kontinuierlich vermehren zu können.57 Im Gegensatz dazu hat Kuhn dann allerdings postuliert, dass es auch in den Naturwissenschaften keine kontinuierliche Wissensvermehrung gebe, sondern in Form von Paradigmenwechseln nur revolutionäre Umbrüche, in denen das jeweilige Wissen auf der Basis neuer Denkprämissen und Denkziele auf ganz andere Weise neu strukturiert werde.58 Das bedeutet dann, dass man allenfalls innerhalb eines Wissensparadigmas auf den Schultern von Riesen stehen kann und dass solche Riesen immer wieder zu Fall kommen oder schlicht nicht mehr von der nachfolgenden Generation bestiegen werden. Nietzsche hat im Einverständnis mit Schopenhauer die Meinung vertreten, dass es eigentlich keine Gelehrten-, sondern nur eine Genialenrepublik geben könne. „Ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch mutwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.“59 Dieses Diktum Nietz-
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R. K. Merton, a.a.O., S. 226. F. Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, 1830/1981, § 43, 44, S. 32 ff. 57 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 5.413. 58 Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 19762. 59 F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Werke Bd. 3, S. 356. 56
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sches zwingt uns dazu, die heuristischen Implikationen des Denkbildes von den Zwergen auf den Schultern von Riesen genauer ins Auge zu fassen, da es etwas zu einfach ist, es schlicht zu akzeptieren oder abzulehnen.
Die heuristischen Implikationen des Denkbildes Wenn man nach dem möglichen heuristischen Wert der Denkfigur von den Zwergen auf den Schultern von Riesen fragt, dann muss man zunächst feststellen, dass es primär gar nicht auf die kontinuierliche Akkumulation von Sachwissen über die Welt Bezug nimmt, sondern vielmehr auf die Prämissen des Erwerbs von Sachwissen. Die Position auf den Schultern eines Riesen gibt dem Wahrnehmenden noch kein faktisches Sachwissen von der Welt, sondern nur einen spezifischen Sehepunkt für seine Wahrnehmungen von Welt. Wer die Dinge von einem Turm, von einer höheren Warte oder von einem späteren Zeitpunkt aus betrachtet, der sieht sie nicht prinzipiell besser oder genauer, sondern zunächst nur in einer anderen Perspektive bzw. aspektuell anders. Anders sehen kann in diesem Zusammenhang zweierlei bedeuten. Einerseits kann es heißen, dass man die Dinge aus einem größeren Abstand ganzheitlicher sieht und damit nicht mehr so detailgenau wie aus einem geringeren. Andererseits kann es aber auch heißen, dass man sie aus der Vogelperspektive sieht und damit in sehr umfassenden Zusammenhängen. Aus beiden Umständen lässt sich ableiten, dass man an den jeweiligen Wahrnehmungsobjekten auch andere Sachqualitäten wahrnimmt, insofern man sie aus der Distanz eher typologisch als Repräsentanten von Mustern oder Kategorien sieht bzw. als Bestandteile eines Systems und weniger als individuelle Gegenstände, die uns als eigenständige Größen in einer bestimmten Individualität und lebensnahen Widerständigkeit gegenüber stehen. Anders ausgedrückt: Von den Schultern eines Riesen, wie auch immer sich dieser faktisch konstituiert hat, nehmen wir dann einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand eher abstrakt als Tier oder als Hund wahr und nicht konkret und individuell als Nachbars Lumpi. Die Wahrnehmung von etwas als etwas aus einer räumlichen und zeitlichen Distanz impliziert Abstraktionsvorgänge, weil man notwendigerweise von Details absehen muss und sich auf diejenigen Aspekte zu konzentrieren hat, die eine kategoriale Einordnung in Systemordnungen erleichtern oder rechtfertigen. Je größer die Distanz zwischen unserem Sehepunkt und dem jeweiligen Wahrnehmungsgegenstand ist, desto weniger faszinieren uns Details und desto leichter bekommen wir die Dinge gleichsam als Repräsentanten von platonischen Ideen bzw. von Mustern oder Begriffen in den Blick. Die Welt von den Schultern eines Riesen aus zu sehen bzw. im Rahmen von umfassenden kulturellen und sprachlichen Wahrnehmungstraditionen, ist solange kein absoluter Vorteil oder Nachteil, wie wir grundsätzlich der Auffassung sind, dass jede Erkenntnis zwischen Abstraktion und Individualisierung bzw. zwischen Typisierung und Empirie hin und her pendeln muss, um pragmatisch verlässliches und fruchtbares Wissen zu konkretisieren.
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Die distanzierte Wahrnehmung der Welt von den Schultern der überlieferten Kultur bzw. Sprache beinhaltet im Vergleich mit der sehr viel unmittelbareren Wahrnehmung der Welt aus einer faktischen und sinnlichen Nähe immer die Nutzung einer zweiten Lebenspraxis (Deuteropraxis) im Sinne von Bruner und Olson. Das kann sowohl Vorteile als auch Nachteile haben. Wer ständig unten in der empirischen Welt verharrt oder ständig auf den Schultern von Riesen, der bleibt leicht ein geistiger Zwerg, weil er sich nicht darum bemüht, seine Wahrnehmungsperspektiven auf die Welt zu variieren und sich selbst zu bewegen, um auf diese Weise möglichst viele Weltaspekte in den Blick zu bekommen. Wer darauf verzichtet, sich Riesen dienstbar zu machen, der bleibt immer Gefangener der unmittelbaren Erfahrung bzw. der empirischen Welt. Wer darauf verzichtet, von Riesen auch wieder herabzusteigen bzw. auf andere Riesen umzusteigen, der bleibt im Banne eines bestimmten Systemdenkens gefangen und übersieht leicht die Vielfalt der ihm begegnenden Phänomene. Erst durch den Aufstieg auf und den Abstieg von Riesen hat der Wahrnehmende auch die Chance, sich selbst besser kennenzulernen bzw. seine bevorzugten Erkenntnisziele und seine faktischen Erkenntnismöglichkeiten. Die programmatische These der Phänomenologie – zu den Sachen selbst – hatte deshalb auch nicht den Sinn zu postulieren, dass man sich zu bemühen habe, die Dinge an sich zu erfassen. Sie hatte vielmehr das Ziel, nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass die traditionell überlieferten Wahrnehmungsweisen für Welt es nicht nur erleichtern, die Welt zu sehen, sondern auch immer die Gefahr einschließen können, uns elementare und anthropologisch wichtige Wahrnehmungsweisen für die Welt vorzuenthalten oder zu verstellen. Auch die Phänomenologie kann den Wert des kulturellen Wissens, das sich in Kultur- und Sprachformen aller Art niedergeschlagen hat, natürlich nicht leugnen oder generell als verzerrend qualifizieren, weil dieses Wissen uns ja grundsätzlich davor bewahrt, das Rad immer wieder neu erfinden zu müssen. Aber sie hat zu Recht nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass unser kulturelles Vorwissen keinen sakrosankten Status hat und dass es nicht als eine unbezweifelbare Grundprämisse für jeden weiteren Wissenserwerb anzusehen ist, weil es Phänomene auch verstellen, verhüllen oder gar ungebührlich vereinfachen und verzerren kann. Das Denkbild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen zwingt uns dazu, sowohl die hilfreichen Funktionen des in der Sprache gespeicherten Wissens für den weiteren Wissenserwerbs zu sehen als auch seine determinierenden und einschränkenden. Es macht uns darauf aufmerksam, dass wir immer Zwerge bleiben, wenn wir die Chancen nicht variabel nutzen, die mit dem in der Sprache gespeicherten Wissen verbunden sind. Es macht uns zugleich aber auch darauf aufmerksam, dass wir ebenfalls Zwerge bleiben, wenn wir uns ganz an dieses Wissen binden. Sofern wir uneingeschränkt auf das jeweils gespeicherte kulturelle Wissen und auf einen ganz kontinuierlichen Wissensfortschritt vertrauen, können wir sehr leicht zu Läusen werden, die keineswegs mehr wahrnehmen als der geistig bewegliche Astronom, auf dessen Kopf sie sitzen.
IX
Die Sprache als Geld
Auf den ersten Blick scheint es nicht besonders fruchtbar zu sein, unsere Geldvorstellung und Gelderfahrung in Anspruch zu nehmen, um sich sinnbildlich Aufschluss über die Sprache zu verschaffen. Man könnte nämlich argwöhnen, dass dabei der Blick ganz auf die ökonomischen, quantitativen und systemtheoretischen Aspekte der Sprache eingeschränkt werde. Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass diese Sorge unberechtigt ist, weil unsere allgemeine Geldvorstellung und die daraus abgeleitete Geldmetaphorik sich keineswegs auf die merkantilen Aspekte des Geldes beschränkt, sondern das Geld im Prinzip als ein omnipräsentes Kulturphänomen versteht, das als solches strukturell und funktionell viele Analogien zur Sprache aufweist. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn wir Geld und Sprache als Zeichen-, Tausch- und Interaktionsphänomene betrachten, die das menschliche Zusammenleben auf ganz grundlegende Weise strukturieren. Deshalb sind dann auch sowohl Geld als auch Sprache als Erscheinungen von großer anthropologischer Relevanz anzusehen. Auf die Ähnlichkeit beider Phänomene hat schon Hamann im Anschluss an Überlegungen von Leibniz sehr eindringlich aufmerksam gemacht. „Das Geld und die Sprache sind zween Gegenstände, deren Untersuchung so tiefsinnig und abstract, als ihr Gebrauch allgemein ist. Beyde stehen in einer näheren Verwandschaft, als man muthmaßen sollte. Die Theorie des einen erklärt die Theorie des andern; sie scheinen daher aus gemeinschaftlichen Gründen zu fließen. Der Reichtum aller menschlichen Erkenntnis beruhet auf dem Wortwechsel.“ 1
Spätestens seit Simmels Buch zur Philosophie des Geldes von 1900 kommt man nicht mehr darum herum, das Geld nicht nur als ein merkantiles und zivilisatorisches, sondern auch als ein kulturhistorisches und anthropologisches Phänomen anzusehen. Schon in der Vorrede zu seinem Buch hat Simmel seine Denkperspektive klar gekennzeichnet: „Keine Zeile dieser Untersuchung ist nationalökonomisch gemeint.“2 Er sieht es nämlich als sein ausdrückliches Ziel an, „dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen.“ Simmel will keineswegs abstreiten, dass die Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens einen großen Erklärungswert für die Analyse der Ursachen der geistigen Kultur habe. Gleichzeitig will er aber akzeptiert wissen, dass „eben jene wirt-
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J. G. Hamann, Vermischte Anmerkungen über die Wortführung in der französischen Sprache, Schriften zur Sprache, 1967, S. 97. 2 G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, S. 11.
Zwerge Die auf den Schultern von Riesen Sprache als Geld
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schaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden.“3 Simmel möchte nachweisen, dass das Geld im Prinzip eine Ausdrucksform des relationalen Denkens sei und dass es deshalb mit Hilfe der Kategorie der Wechselwirkung analysiert und qualifiziert werden müsse. Zwar postuliert er, abgesehen von assoziativen Anregungen, kein direktes Analogieverhältnis zwischen Geld und Sprache, aber seine Überlegungen machen es doch unmittelbar plausibel, ein solches Verhältnis anzunehmen. Das gilt insbesondere dann, wenn wir die Sprache primär nicht als ein abbildendes, sondern als ein sinnbildendes Werkzeug verstehen, bzw. nicht als ein monologisches, sondern als ein genuin dialogisches Phänomen. Die anthropologische Relevanz des Geldes lässt sich nicht nur über die grundlegenden Begriffe Wechselwirkung und Zeichen erfassen, sondern auch über speziellere Begriffe wie Tausch, Wert, Vertrauen, Gemeinschaftsbildung oder Handlungsstil. Es ist offensichtlich, dass diese Begriffe auch geeignet sind, sich über die anthropologische Relevanz der Sprache zu verständigen. Die kulturgeschichtlichen, strukturellen und funktionalen Ähnlichkeiten zwischen Geld und Sprache rechtfertigen es, unsere Geldvorstellungen und Gelderfahrungen als Bildspender für den Bildempfänger Sprache ins Spiel zu bringen. Methodische Schwierigkeiten ergeben sich dabei allerdings dadurch, dass das Phänomen Geld ein fast ebenso komplexer Erfahrungsgegenstand wie das Phänomen Sprache ist und dass unsere Sprachvorstellungen in reziproker Weise auch als Bildspender für unsere Geldvorstellungen verwendbar werden. Das hat heuristisch gesehen allerdings nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile. Der Hauptnachteil besteht darin, dass sich dadurch die Grenzen zwischen dem Erklärungsmittel und dem Erklärungsgegenstand leicht verwischen können und dass man dann oft genau das findet, was man immer schon vorausgesetzt hat. Der Hauptvorteil besteht darin, dass wir in unseren Erkenntnisprozessen nicht nur auf lineare Argumentationsprozesse angewiesen sind, sondern auch in hermeneutische Reflexionsprozesse eintreten können, die wegen ihrer spiralförmigen Grundstruktur komplexen Erklärungsgegenständen meist angemessener sind als deduktive und induktive Schlussfolgerungsprozesse. Die komplexe Evolutionsgeschichte und die mehrdimensionale Funktionalität des Geldes und der Sprache bedingen, dass beide Gegebenheiten sowohl phänomenologisch als auch begrifflich schwer zu fassen sind. Systematische Querschnittsanalysen müssen immer wieder mit entwicklungsgeschichtlichen Längsschnittsanalysen verknüpft werden, da Geld und Sprache zu verschiedenen historischen Zeiten unterschiedliche Strukturmerkmale aufweisen und unterschiedliche Funktionspotenziale besitzen. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass das Geld historisch gesehen in ebenso unterschiedlichen Formen und Funktionen in Erscheinung getreten ist (Warengeld, Münzgeld, Papiergeld,
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G. Simmel, a.a.O. S. 13.
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Die Sprache als Geld
Buchgeld) wie die Sprache (gesprochene Sprache, geschriebene Sprache, natürliche Sprache, formalisierte Sprache, poetische Sprache). Im Laufe der Zeit haben sich sowohl beim Geld als auch bei der Sprache sehr unterschiedliche Zeichenformen und Zeichentypen herausgebildet, die jeweils unterschiedliche Grade an Abstraktivität aufweisen und deshalb auch in ganz unterschiedlicher Weise spontan oder weniger spontan verstehbar sind. Sowohl an Geld- als auch an Sprachzeichen lässt sich das semiotische Grundaxiom gut exemplifizieren, welches besagt, dass alle beobachtbaren Gegebenheiten im Prinzip zu Zeichenträgern werden können, denen wir eine Verweisfunktion auf etwas von ihnen Unterscheidbares zuordnen können. Deshalb gehören dann auch Gestaltwandel und Funktionsflexibilität zu den fundamentalen Charakteristika geldlicher und sprachlicher Zeichen. Außerdem ist zu beachten, dass sowohl Geld- als auch Sprachzeichen auf exemplarische Weise ein grundsätzliches zeichentheoretisches Problem offenbaren, das dem linearen Kausaldenken erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Dieses lässt sich durch die Stichwörter Mehrdeutigkeit und Selbstbezüglichkeit bezeichnen. Einerseits haben wir nämlich festzuhalten, dass Geld und Sprache hinsichtlich ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit und Materialität in die Sachwelt gehören und hinsichtlich ihrer lebenspraktischen Funktionen in die kulturelle menschliche Lebenswelt. Andererseits dürfen wir aber auch nicht übersehen, dass Geld und Sprache immer auch zur Konstitution der konkreten menschlichen Sach- und Lebenswelt beitragen, weil sie diese für die Menschen strukturieren und kognitiv fassbar machen. Logisch gesehen stehen wir deshalb vor der problematischen Situation, dass Geld und Sprache wie alle anthropologisch relevanten Zeichensysteme je nach der von uns eingenommenen Denkperspektive sowohl zur Basiswelt des Menschen als auch eine logische Stufe höher zur Metawelt dieser Basiswelt gerechnet werden können. Eine Welt ohne Geld und ohne Sprache wäre nicht um zwei Einzelphänomene ärmer, sondern wäre grundsätzlich eine ganz andere Welt für die Menschen. Solange Geld und Sprache in unserer menschlichen Lebenswelt bestimmungsgemäß funktionieren, solange nehmen wir beide als praktische Handlungsmittel in ihr wahr, aber wohl kaum als strukturstiftende Konstitutionsmittel für sie. Erst wenn diese Mittel nicht mehr bestimmungsgemäß funktionieren, treten sie als apriorische Bedingungen unserer pragmatischen Weltwahrnehmung und Weltbewältigung für uns in Erscheinung und damit auch als anthropologisch relevante Gestaltungsfaktoren. Das ist etwa der Fall, wenn wir beim Gebrauch von Geld plötzlich mit Fremdwährungen, Falschgeld, Währungszusammenbrüchen oder Kontosperrungen konfrontiert werden oder gar mit Kulturordnungen, in denen Geld als Zahlungsmittel keine Rolle spielt. Im Hinblick auf die Sprache stehen wir vor einer ähnlichen Situation, wenn wir mit Fremdsprachen, Lügen, Sprachmanipulationen oder mit dem Verlust der Sprache bzw. des Sprechvermögen konfrontiert werden. In all diesen Fällen müssen wir Geld und Sprache reflexionsthematisch als Gestaltungs- und Ordnungsmedien ins Auge fassen, weil wir beide Phänomene sachthematisch nicht mehr unmittelbar nutzen können.
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Unter diesen Bedingungen treten Geld und Sprache nicht mehr nur als gegebene Werkzeuge in Erscheinung, sondern auch als Kräfte, über die die Welt erschlossen und gestaltet werden kann. Ganz im Sinne Humboldts sind Geld und Sprache dann nicht mehr als Werkphänomene, sondern vielmehr als Tätigkeitsphänomene zu betrachten. Wir werden unter diesen Umständen dazu gezwungen, unsere Aufmerksamkeit von der unmittelbaren Erscheinungswelt abzuwenden und danach zu fragen, wie wir mit dieser umgehen bzw. umgehen können. Vordergründig wird durch solche Reflexionsschleifen der unmittelbare praktische Gebrauch von Geld und Sprache gestört, hintergründig werden wir dadurch aber für das Gestaltungspotenzial beider Phänomene sensibilisiert. Die folgenden Überlegungen sind dazu bestimmt, die Ähnlichkeiten zwischen Geld und Sprache sowohl in struktureller als auch in funktioneller Hinsicht herauszuarbeiten. Dafür wird sowohl auf recht allgemeine phänomenologische und zeichentheoretische Fragestellungen zurückgegriffen als auch auf besondere Fragestellungen, die sich durch die Stichwörter Tauschproblematik, Wertproblematik, Inflationsproblematik, Vertrauensproblematik und Sozialintegration andeuten lassen. Dieses weitgespannte Spektrum an Erkenntnisinteressen macht es erforderlich, bei vielen Nachbarwissenschaften der Sprachwissenschaft Hilfestellung und Anregungskraft zu suchen. Dadurch ergibt sich natürlich immer wieder die Gefahr, die Sprache im engeren Sinne aus den Augen zu verlieren. Aber es eröffnet sich dadurch auch immer wieder die Chance, die Sprache aus Blickwinkeln ins Auge zu fassen, die üblicherweise nicht im Operationsbereich der Sprachwissenschaft liegen.4
1. Phänomenologische Zugänge zum Geld als Bildspender Die sinnbildliche Nutzung des Bildspenders Geld lässt sich nur dann zureichend erfassen, wenn wir uns darüber verständigen können, worauf wir mit dem Wort bzw. dem Begriff Geld faktisch Bezug nehmen und welche Charakteristika wir den Phänomenen zuordnen, die wir als Geld betrachten. Das ist keineswegs leicht, weil die Sachverhalte, die wir traditionell als Geld bezeichnen, historisch in sehr unterschiedlichen Formen und Funktionen in Erscheinung getreten sind. Deshalb können einige grundsätzliche phänomenologische Überlegungen zur Geldproblematik hilfreich sein, um die zentralen von den weniger zentralen Aspekten des Geldes zu unterscheiden. Wie schon erwähnt ist die Phänomenologie grundsätzlich nicht als eine Wesenslehre, sondern als eine Erscheinungs- oder eine Methodenlehre zu verstehen, die die Frage zu beantworten versucht, wie die Dinge für die Men-
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Einer solch umfassenden Wahrnehmungsperspektive ist auch die von mir angeregte und betreute Kasseler Dissertation von Kolja Frey verpflichtet, in der die vielfältigen Analogien zwischen Geld und Sprache untersucht werden. Dieser Arbeit verdanke ich viele Hinweise und Anregungen. Vgl. K. Frey, Geld als Sinnbild für Sprache, 2009.
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schen in Erscheinung treten bzw. zur Erscheinung gebracht werden können. Daraus folgt, dass sie im Prinzip Beiträge zu einer Analyse von Lebenswelten leisten will. Phänomenologische Analysen sollen versuchen, die zufälligen von den konstitutiven Merkmalen der Dinge zu unterscheiden, um ihren jeweiligen Relevanztypus herauszuarbeiten. Dabei geht es dann nicht um eine platonische Ideenschau, sondern darum, lebensweltlich relevante Wahrnehmungsperspektiven für die jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände zu entwickeln, um eine Gegenstandserkenntnis über eine Wahrnehmungserkenntnis zu erzielen. So gesehen betreibt die Phänomenologie deshalb letztlich eine Perspektiven- und Horizontforschung, bei der man die jeweilige Objektsphäre in einen fruchtbaren Interaktionszusammenhang mit der Subjektsphäre zu bringen versucht, wobei man zugleich die perspektivische Bedingtheit aller inhaltlichen Sachwahrnehmungen aufdecken möchte. Die sogenannte phänomenologische Wesensschau ist deshalb weder als eine platonische Wesensschau noch als eine empirische Sachbeschreibung zu verstehen, sondern vielmehr als eine Verständigung darüber, wie sich gegebene Objekte für Subjekte auf sinnvolle Weise als Wahrnehmungsgegenstände konstituieren. In ihr soll deshalb auch kein endgültiges, normativ wirksames Sachwissen über die Welt erworben werden, sondern vielmehr ein lebensweltlich fruchtbares Grundwissen. Im Rahmen dieser Programmatik hat sich eine Phänomenologie des Geldes dann die Frage zu stellen, in welchen Formen, Kontexten und Funktionen Geld für uns in Erscheinung tritt, welche Variationsbreite der Geldwahrnehmung historisch und systematisch zugeordnet werden kann und welche Konsequenzen der Umgang mit Geld für die Beteiligten jeweils hat. Diese Aufgabe kann hier natürlich nicht umfassend gelöst werden, sondern allenfalls hinsichtlich derjenigen Aspekte des Geldes, die sinnbildlich für die Erschließung der Struktur und der Funktion von Sprache als wichtig angesehen werden können.
Sprachliche Zugänge zu unseren Geldvorstellungen Der Blick auf die etymologischen Wurzeln unserer Geldbezeichnungen sowie auf die Verwendung des Geldbegriffs in idiomatischen Redewendungen eröffnet eine gute Möglichkeit, Aufschluss über die Genese und die Grundstruktur unseres elementaren Geldverständnisses zu gewinnen. Dieser methodische Zugriff ist nicht nur kulturhistorisch, sondern auch sachsystematisch interessant, weil er uns vor Augen führt, in welchen Denkhorizonten unsere Geldvorstellung ihre Gestalt gewonnen hat und wie die tradierten Redeweisen über Geld vorstrukturierend auf unsere gegenwärtige Geldwahrnehmung einwirken können. Die sprachlichen Objektivierungsformen für Geld bieten so gesehen einen guten Einstieg in den hermeneutischen Zirkel unserer Geldinterpretation. Das nhd. Wort Geld als Bezeichnung für ein Tausch- bzw. Zahlungsmittel geht auf das ahd. Substantiv gelt (Opfer, Lohn, Vergeltung) zurück bzw. auf das ahd. Verb geltan (opfern, wert sein, zurückerstatten). Aus dieser historischen Wort- bzw. Begriffsgenese ergibt sich, dass das Geld zunächst wohl
Phänomenologische Zugänge zum Geld als Bildspender
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weniger als ein merkantiles oder ökonomisches Phänomen angesehen worden ist, sondern eher als ein religiöses und rechtliches, das primär in die Sphäre der ethischen und zwischenmenschlichen Verpflichtungen gehört. Das Wort Geld wurde offenbar ursprünglich nicht dazu verwendet, ein quantifizierbares Zahlungsmittel zu bezeichnen, sondern eher eine bestimmte qualitative Verpflichtung im religiösen und sozialen Raum. Erst nach und hat sich das Wort dann als Bezeichnung für insbesondere metallische Zahlungsmittel etabliert. Auch die Geldbezeichnungen im Englischen (money) und Französischen (monnaie) verweisen auf ein ähnliches Geldverständnis. Beide Bezeichnungen gehen auf das lat. Verb monere (auf etwa aufmerksam machen, erinnern) zurück bzw. auf den Tempel der Juno moneta , in dem sich die Münzstätte Roms befand. Auch hier scheint der religiöse und soziale Verpflichtungsgedanke Grundlage der Begriffsbildung gewesen zu sein. Aufschlussreich für die hier ins Auge gefasste Problematik ist auch, dass die lateinische Bezeichnung für Geld (pecunia) von der Bezeichnung für Vieh (pecus) abgeleitet worden ist. Daraus lässt sich nämlich folgern, dass Geld schon früh als eine Erscheinungsform von Vermögen verstanden worden ist und dass das Vieh als ein geeigneter Maßstab für die Quantifizierung des Vermögens angesehen wurde. Später ist dieser Maßstab dann auf andere dafür geeignete Dinge wie etwa Metall, Schmuck oder Salz übertragen worden. Die etymologischen Implikationen der Geldbezeichnungen legen die Auffassung nahe, dass das Geld zunächst weniger als ein rein quantitativ differenzierbares Zahlungsmittel für den Erwerb von Waren und Dienstleistungen betrachtet worden ist, sondern eher als ein angemessenes Sachmittel, mit dem man einerseits bestimmte religiöse oder soziale Verpflichtungen einlösen konnte, aber mit dem man andererseits auch seinen eigenen sozialen Prestigeanspruch kenntlich machen konnte. Zwar ist auch mit dem Verständnis von Geld als Opfer- und Verpflichtungsgröße der Gedanke der wertmäßigen Äquivalenz von eigentlich sehr unterschiedlichen Größen verbunden, aber weniger in einem merkantilen als in einem religiösen und sozialen Sinne. Das dokumentiert sich auch darin, dass für bestimmte sittliche Ordnungsverstöße (Mord, Ehebruch, Treuebruch) bestimmte Heilungsopfer in Form von Blutgeld, Sühnegeld oder Bußgeld zu erbringen waren, um auf diese Weise den gestörten sozialen Frieden wiederherzustellen. Solche Opfer mussten keineswegs in Form merkantiler Zahlungsmittel erbracht werden, sondern konnten auch in Form bestimmter Handlungen realisiert werden, denen intersubjektiv eine entsprechende Wertäquivalenz zugeschrieben wurde. Wenn wir nun in diesem Denkhorizont das Geld als Sinnbild für Sprache in Anspruch nehmen, dann werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Funktion sprachlicher Zeichen nicht darin erschöpft, als Stellvertreter bzw. Abbilder bestimmter konkreter Referenzobjekte zu dienen, sondern dass sie auch dafür in Anspruch genommen werden können, soziale Werte zu repräsentieren. Geld wie Sprache lassen sich dann als Objektivierungsfomen für soziale Wertvorstellungen verstehen bzw. als Organisationsformen für soziale Äquivalenz- und Beziehungsnetze.
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Zugang zu unseren elementaren Geldvorstellungen finden wir auch in unseren idiomatischen und metaphorischen Redeweisen über Geld. Diesbezüglich ist auffällig, dass in der gegenwärtigen umgangssprachlichen Idiomatik weder die alten religiös-rechtlichen noch die neuen rechnerisch-ökonomischen Geldvorstellungen eine dominierende Rolle spielen, sondern eher die beiden etwas gegenläufigen Vorstellungen von Metall und Flüssigkeit. Das ist insofern verständlich, weil dadurch einerseits unsere sinnliche Erfahrung des substanziell fassbaren Münzgeldes genutzt werden kann und andererseits unsere funktionale Erfahrung des zirkulierenden Geldes, das ähnlich wie eine Flüssigkeit seine Gestalt ständig zu ändern vermag und eben dadurch auch leicht in alle Lebensbereiche eindringen kann. In der aktuellen Geldidiomatik schlägt sich dabei offenbar vornehmlich eine Gelderfahrung und Geldinterpretation nieder, die aus einer mittleren Phase der Kulturgeschichte stammt. Die Vorstellung einer dauerhaften metallischen Substanzialität des Geldes wird hervorgerufen, wenn wir von harter Währung, schwerem Geld oder von beständigem Geld sprechen. Nicht zufällig sind dann ja auch gerade Gold, Silber und Kupfer wegen ihrer Seltenheit, ihrer Festigkeit und ihrer Korrosionsresistenz zur Münzprägung verwendet worden. Außerdem ist natürlich noch zu beachten, dass sich metallisches Geld sehr gut stückeln lässt und damit bestimmten merkantilen Funktionsanforderungen besser nachkommen kann als andere Waren, die ebenfalls als Zahlungsmittel verwendbar sind (Vieh, Früchte, Muscheln). Die metallisch orientierte Geldvorstellung schlägt auch unmittelbar durch, wenn wir im Hinblick auf Sprache sinnbildlich von goldenen Worten, klar geprägten Begriffen, harten Fachtermini usw. sprechen oder davon, dass nicht alle Aussagen auf die Goldwaage zu legen seien, dass nicht alle Äußerungen für bare Münze zu nehmen seien oder dass bestimmte Nachrichten oft in kleiner Münze unter die Leute gebracht würden. Wenn wir bei der Präzisierung unseres Geldverständnisses auf Flüssigkeitsvorstellungen zurückgreifen, dann werden dadurch Metallvorstellungen nicht prinzipiell negiert, sondern eher ergänzt, insofern auf diese Weise besonders gut auf die Wandlungsfähigkeit und die potenzielle Ubiquität des Geldes aufmerksam gemacht werden kann. Sofern wir von Geldquellen, Geldströmen, Geldregen oder flüssigem Geld sprechen, wollen wir darauf aufmerksam machen, dass das Geld seine Erscheinungsgestalt so ändern kann, dass es überall hingelangen und Einfluss nehmen kann. Deshalb hat Schopenhauer das Geld auch mit Proteus verglichen, dem Gehilfen des Meeresgottes Poseidon, der sich ständig wandeln kann und wandeln muss.5 Durch Flüssigkeitsvorstellungen wird auch unsere bildliche Vorstellung von Sprache nachhaltig geprägt: Sprachfluss, Ozean der Sprache, flüssige Rede, mitreißende Sprache usw. Solche metaphorische Redeweisen über Sprache scheinen auf den ersten Blick nicht viel mit unserer Geldmetaphorik zu tun
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Vgl. A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Werke Bd. 4, S. 344.
Phänomenologische Zugänge zum Geld als Bildspender
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zu haben. Gleichwohl ist aber wohl einzuräumen, dass sich Geld und Sprache auch deshalb so gut miteinander analogisieren lassen, weil beide so leicht mit Flüssigkeitsvorstellungen in Verbindung gebracht werden können bzw. mit der Vorstellung eines proteischen Gestalt- und Funktionswandels. Über Flüssigkeitsvorstellungen lässt sich außerdem sehr gut darauf aufmerksam machen, dass sowohl durch Geld als auch durch Sprache Werte bzw. Wissen gespeichert und in Umlauf zu bringen sind. Auf die strukturellen und funktionellen Aspekte unserer Gelderfahrungen nehmen wir direkt Bezug, wenn wir von folgenden Redewendungen Gebrauch machen: sprachliche Inflation, Papierwert von Aussagen, ungedeckte Behauptungen, Konvertibilität von Fachbegriffen usw. Bei diesen Beispielen kann man sich allerdings darüber streiten, ob es sich noch um eine lebendige Metaphorik handelt oder um eine verfestigte Idiomatik mit eigenständiger Semantik. Auf jeden Fall können wir aber geltend machen, dass Geldvorstellungen heuristisch genutzt werden, um Sprachvorstellungen zu strukturieren und zu präzisieren.
Definitionsprobleme beim Geld Das Verständnis der Phänomenologie als Horizont- und Perspektivenforschung im Dienste einer präzisen Sachwahrnehmung impliziert, dass man sich bei der phänomenologischen Beschreibung des Geldes nicht nur für dessen gegenwärtige Erscheinungs- und Funktionsweise zu interessieren hat, sondern auch für dessen Genese und Entwicklungsgeschichte. Diese historische und evolutionäre Orientierung ist gerade im Hinblick auf die Sinnbildfunktionen des Geldes wichtig, weil wir dabei auf Geldaspekte stoßen, die heute nicht mehr im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen, die aber dennoch unser allgemeines Geldverständnis kulturhistorisch geprägt haben. Methodisch ist es nicht leicht, allgemein akzeptierbare Aussagen über die Genese und die Wahrnehmungsgeschichte des Geldes zu machen, weil wir dabei immer schon von einer Arbeitsdefinition für dieses Phänomen ausgehen müssen, die meist schon normativ festlegt, was wir als Geld ansehen bzw. was wir als Vorstufen des heutigen Geldes in Betracht ziehen können und was nicht. Das heutige, volkswirtschaftlich gut legitimierbare Geldverständnis geht davon aus, dass das Geld eine Zahlungsmittel, ein Wertaufbewahrungs- bzw. Wertübertragungsmittel und ein Wertbemessungs- bzw. Rechenmittel ist.6 An dieser Bestimmung des Geldes ist wenig auszusetzen, zumal sie sich weit in die Geschichte der Geldtheorie zurückverfolgen lässt. Schon Aristoteles hat nämlich das Geld als ein kulturell konventionalisiertes Mittel zum Austausch
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Vgl. O. Issing, Einführung in die Geldtheorie, 19939, S. 1 ff.; H. J. Jarchow, Theorie und Politik des Geldes I , 199810, S. 1 ff.
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Die Sprache als Geld
und zur Bewertung von Waren bezeichnet, dem zugleich eine gemeinschaftsbildende Funktion zwischen ungleichen Personen zukomme.7 Gleichwohl erfasst diese Bestimmung des Geldes nicht alle historisch mit ihm verbindbaren Aspekte. Sie lässt nicht deutlich zur Erscheinung kommen, welche Bezüge das Geld historisch zur Religion, zur Rechtsordnung, zum Statusdenken, zur Staatsbildung und zu seiner eigenen Materialität gehabt hat oder hat. All das sind Geldaspekte, die gerade bei der Nutzung des Geldes als Bildspender eine wichtige Rolle spielen, insofern hier weniger die ökonomischen Zweckmäßigkeiten des Geldes im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sondern eher seine psychologischen und kulturellen Implikationen. So wichtig auch die strukturellen und funktionellen Aspekte des Geldes für seine Inanspruchnahme als Bildspender sind, so wenig darf man darüber die stoffliche Substanzialität des Geldes vergessen, die ja immer auch bestimmte psychologische Implikationen hat. Ähnlich wie in der Geschichte der Sprachreflexion seit dem Kratylos-Dialog die Diskussion darüber nicht zur Ruhe gekommen ist, ob die Sprache kraft Natur (physei) oder kraft Konvention (thesei) ihre Aufgaben erfüllt, so gibt es auch in der Geldtheorie einen lang andauernden Streit darüber, ob das Phänomen Geld über seinen Stoffwert oder über seinen Proklamationswert am besten zu charakterisieren ist bzw. ob Geldzeichen primär als ikonische oder als konventionelle Zeichen anzusehen sind. Knapp hat diesen konzeptionellen Streit vor fast hundert Jahren auf die Opposition von Metallismus und Nominalismus gebracht und trotz vieler stofflicher Geldformen nachdrücklich die sogenannte Chartalitätstheorie vertreten, die er auf folgende einprägsame Formel gebracht hat: „Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung.“8 Mit dieser normativen Bestimmung des Geldes lässt er dessen Evolutionsgeschichte nicht nur zwangsläufig auf das abstrakte Papiergeld als die damals vollkommenste Ausprägung des Geldes zulaufen, sondern legt auch mehr oder weniger fest, worauf man seine Aufmerksamkeit zu richten hat, wenn man nach der Vorgeschichte unseres heutigen Geldes bzw. unseres heutigen Geldverständnisses fragt. Diese Denkperspektive ist nationalökonomisch sicher zu rechtfertigen, sie hat aber kulturgeschichtlich gesehen durchaus ihre Defizite, weil sie das allgemeine Sinnverständnis des Geldes und das seiner möglichen Bildspenderfunktionen allzu sehr einengt. Für eine historisch orientierte Phänomenologie des Geldes muss das Geld nämlich auch als ikonisches und indexikalisches Zeichen thematisiert werden. Dabei kann man sich sowohl an der Materialität und Sinnlichkeit des Geldes orientieren als auch an den pragmatischen Funktionen des Geldes in ganz konkreten Lebenszusammenhängen. Gerade über dieses Zeichenverständnis des Geldes lassen sich dann vielfältige historische, systematische, pragmatische und anthropologische Analogien zwischen Geld und Sprache aufdecken.
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Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133 a ff, Philosophische Schriften, Bd. 3, S. 111 ff. G. F. Knapp, Staatliche Theorie des Geldes, 19213, S. 1.
Phänomenologische Zugänge zum Geld als Bildspender
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Wenn wir methodisch so ansetzen, dann sollten wir uns zunächst das Basisaxiom der Semiotik vergegenwärtigen, das besagt, dass faktisch alles die Funktion eines Zeichenträgers bekommen kann, was eine Repräsentationsfunktion für etwas von ihm Unterscheidbares übernehmen kann. Ebenso wie im Bereich der Sprache vielerlei Phänomene (Wortklang, Wortgestalt, Satzgestalt, grammatische Muster, Textformen usw.) als Zeichenträger in Erscheinung treten können, so können auch im Bereich des Geldes vielerlei Phänomene (Rinder, Muscheln, Salz, Zigaretten, Metallstücke, Banknoten, Zahlen an bestimmten Orten usw.) als Zeichenträger für Geld fungieren. Die Bestimmung eines Zeichens als etwas, was eine Zeichenfunktion ausübt, bzw. des Geldes als etwas, was eine Geldfunktion ausübt, ist definitionslogisch betrachtet natürlich höchst problematisch, weil dabei der Definitionsgegenstand zugleich als Definitionsmittel verwendet wird, wodurch wir in eine zirkuläre Erklärungsstruktur hineinkommen. Dagegen lässt sich nun allerdings geltend machen, dass alle Definitionen außerhalb geschlossener Ordnungssysteme einen zirkulären Charakter haben, weil sie streng genommen nicht als Klassifikationsverfahren in einem vorgegebenen System anzusehen sind, sondern als hermeneutische Annäherungsverfahren an ein unübersichtliches Erfahrungsphänomen. Im Bereich der Kulturgeschichte kommen wir mit einem deduktiven bzw. kausal-linearen Denken nicht immer weiter, weil wir uns dabei in eine Henne-Ei-Problematik verstricken können. In diesem Bereich haben wir uns daran zu gewöhnen, dass es durch die Interaktion zwischen zwei Phänomenen durchaus zu einer Koevolution beider kommen kann. Weder Geld noch Sprache sind deduktiv aus den Anforderungen eines bestimmten vorgegebenen Lebenszusammenhangs abzuleiten, weil sie beide ständig auf diesen zurückwirken und ihn eben dadurch auch neu strukturieren können. Bei der phänomenologischen Bestimmung der Kulturphänomene Geld und Sprache spielt deshalb das Konzept der Interaktion eine ganz zentrale Rolle. Beide Phänomene gewinnen für uns ihr spezifisches historisches und pragmatisches Profil erst, wenn wir sie sie in ihren Wechselwirkungsprozessen mit anderen Phänomenen und menschlichen Lebenssituationen betrachten. Dieser Interaktionszusammenhang lässt sich gut über den Begriff des Tausches konkretisieren. Alle Mittel, die in irgendeiner Form Tauschgeschäfte ermöglichen und begünstigen, lassen sich im Prinzip als Geld ansehen, sei es nun Sühnegeld, Warengeld, Konventionsgeld oder Verrechnungsgeld. Deshalb soll die Tauschmittelfunktion des Geldes auch noch in einem eigenen Kapitel näher untersucht werden. Das rechtfertigt sich außerdem auch dadurch, dass gerade die Tauschmittelfunktion des Geldes ganz offensichtlich eine ganz zentrale Rolle spielt, wenn Geld als Sinnbild für Sprache in Anspruch genommen wird.
Die Evolutionsgeschichte des Geldes Die bisherigen Überlegungen zum Phänomen Geld legen nahe, das heutige Verständnis des Geldes als merkantiles Zahlungs- und Verrechnungsmittel
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beim Austausch von Gütern oder Dienstleistungen als Ergebnis der evolutionären Spezifizierungsgeschichte eines zunächst noch sehr viel komplexeren Geldverständnisses anzusehen. Ursprünglich scheint nämlich das Geld ein sehr viel breiteres Funktionsspektrum gehabt zu haben als heute bzw. sehr viel intensiver in religiöse, ästhetische, und soziale Funktions- und Denkzusammenhänge eingebunden zu sein. Das bedeutet dann auch, dass die Vermittlungs- und Zeichenfunktionen des Geldes im Laufe der Zeit erhebliche Umorientierungen erfahren haben, was natürlich auch Auswirkungen auf seine möglichen Sinnbildfunktionen gehabt hat, die in der Gegenwart wohl weniger vielschichtig und ambivalent sind als in früheren Zeiten. In der Evolutionsgeschichte des Geldes haben sehr unterschiedliche pragmatische Funktionen eine Rolle gespielt. Diese lassen sich vorerst mit Hilfe der Stichwörter Schmuckzeichen, Rangzeichen, Opferzeichen und Wertzeichen kurz andeuten. All diese Zeichenfunktionen des Geldes bauen darauf auf, dass sinnlich fassbar Phänomene als Zeichenträger dazu verwendet werden, um gesellschaftliche Werte und soziale Verpflichtungen zu objektivieren und zu repräsentieren. Erst allmählich hat sich aus dieser Gemengelage die Hauptfunktion des Geldes entwickelt, Maßstab für Tauschprozesse zu werden, ohne dass die anderen Funktionen ganz in Vergessenheit geraten sind. Die kulturgeschichtliche Entwicklung des Geldes wie der Sprache hat zu immer abstrakteren Formen und immer spezifischeren Funktionen geführt. Dieser Weg lässt sich beim Geld als Weg von einem auch sinnlich beeindruckenden Status- und Schmuckgeld über das nützliche Warengeld, das greifbare Münzgeld und das sichtbare Papiergeld bis zu einem unsichtbaren Buchgeld bzw. virtuellen Zahlengeld beschreiben. Es ist offensichtlich, dass diese Evolutionsgeschichte des Geldes bzw. diese Dematerialisierung des Geldes, bei der nicht nur die Zeichenträger für das Zeichen Geld wechseln, sondern auch die pragmatischen Funktionen des Zeichens Geld, natürlich erhebliche Rückwirkungen darauf hat, wie Geld als Sinnbild für Sprache in Erscheinung treten kann. Die Evolutionsgeschichte des Geldes lässt sich natürlich auch noch mit Hilfe anderer Begrifflichkeiten thematisieren und akzentuieren. So ist im Verlaufe der geldtheoretischen Diskussionen auch von einem Status-, Prunk-, oder Protzgeld, von einem Waren-, Wert- oder Hortungsgeld sowie von einem Verkehrs-, Rechen- oder Funktionsgeld die Rede gewesen.9 All diese Begriffbildungen verdeutlichen sehr gut, dass es nicht ausreicht, die Geldgeschichte nur in merkantiler und ökonomischer Perspektive zu betrachten, sondern dass dabei auch kulturhistorische und sozialpsychologische Wahrnehmungsperspektiven aktiviert werden müssen. Um dem komplexen Erscheinungs- und Funktionsspektrum des Geldes gerecht zu werden, sollen deshalb zunächst einige Überlegungen zum kulturbezogenen Statusgeld, zum materialbezogenen Wertgeld und zum konventionsbezogenen Funktionsgeld entwickelt werden.
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Vgl. G. Schmölders, Psychologie des Geldes, 1982, S. 18 ff.
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Das kulturbezogene Statusgeld In allen Gesellschaften spielen Statuszeichen eine wichtige Rolle. Gegenstände, die Seltenheitswert haben bzw. durch ihr Herkunft oder sinnliche Erscheinung beeindrucken (Edelsteine, Perlen, Gold, Pelze) oder die unmittelbar als Formen des Reichtums und der Macht verständlich sind (Vieh, Sklaven, Kriegsbeute), eignen sich gut dazu, als Statuszeichen verwendet zu werden. Da es bei diesen Dingen vor allem um ihren Prestigewert geht, kann ihr konkreter Waren- oder Nutzwert durchaus gering sein. Generell gilt aber, dass die Hortung solcher Wertformen nicht der Zukunftsvorsorge oder zukünftigen Tauschambitionen dient, sondern der Repräsentation von Reichtum, Macht und Status. Deshalb ist die polemische Bezeichnung solcher Gegenstände als Prunk- oder Protzgeld auch nicht unzutreffend. Wie sehr die Überdehnung von eigentlich lebensunnötigen Dingen zu Wertgegenständen bzw. zu Erscheinungsformen von Statusgeld zum Problem werden kann, zeigt der schon erwähnte Mythos über den König Midas. Diesem wurde von Dionysos wider alle Vernunft die Bitte erfüllt, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Als sich dann auch alle von Midas berührten Speisen in Gold verwandelten, drohte er zu verhungern und zu verdursten. Deshalb musste er darum bitten, wieder von seiner lebensfeindlichen Umwandlungskraft von Sachen in Prunkwerte bzw. Prunkgeld befreit zu werden.10 Eine moderne Form, Geld als Statuszeichen zu gebrauchen, dokumentiert sich auch in einem Stereotyp aus Gangsterfilmen. Reiche Ganoven lassen sich nicht nur in dysfunktionalen Luxuslimousinen herumfahren, sondern lieben es außerdem, sich dicke Zigarren mit Banknoten anzuzünden, um zu zeigen, dass der ökonomische und merkantile Wert von Geld für sie ganz nachrangig ist. Die funktionale Umakzentuierung des Geldes von einer ökonomischen Tauschgröße zu einer sozialen Statusgröße hat eine Parallele in der funktionalen Umwandlung der Sprache von einem kognitiven und kommunikativen Werkzeug zu einem sozialen Imponier- und Statuszeichen. Das geschieht beispielsweise dann, wenn die Sprache als Mittel der sozialen Abgrenzung verwendet wird. Sei es, dass man fachsprachliche Termini zu Selbstdarstellungsoder Einschüchterungszwecken einsetzt, sei es, dass man gruppenspezifische Redeformen als Distanzsignale verwendet, sei es, dass man „Knurr-Worte“ und „Schnurr-Worte“11 gebraucht, um ein spezifisches Hierarchiegefälle herzustellen, oder sei es, dass man unangemessene sprachliche Formen ins Spiel bringt, um bestimmte Sachzusammenhänge zu verschleiern. Geld bzw. geldwertige seltene Gegenstände können natürlich auch aus einem reinen Sammlertrieb gehortet werden. Menschen können sich an der
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Vgl. R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1, 1965, S. 255.; Aristoteles, Politik 1257 b, Philosophische Schriften, 1995, Bd. 4, S. 20. 11 S. I. Hayakawa, Sprache im Denken und Handeln, o. J., S. 44.
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Menge des Geldes berauschen, obwohl sie es gar nicht ökonomisch nutzen können und wollen, wofür die Comicfigur Onkel Dagobert prototypisch steht. Dieser möchte nur in seinem Geld baden, wobei er dann allerdings auch immer Gefahr läuft, in ihm zu ertrinken. Gegen diese Form des Geldraffens, aber auch gegen die Tendenz, mit seinem Geldbesitz zu protzen, richtete sich schon die alte kynische Lebensweisheit, dass man nicht durch das reich sei, was man besitze, sondern durch das, was man mit Würde zu entbehren wisse. Aus der Wahrnehmung von Geld als Statusgeld ergeben sich für die sinnbildliche Erschließung von Sprache folgende Analogien. Sprache kann wie Geld, Gold oder andere wertvolle Dinge allein auf Grund ihrer eigentümlichen sinnlichen Stofflichkeit oder ihrer Herkunft faszinieren, was gerade ästhetische Sprachformen recht gut exemplifizieren. Mit solchen Sprachformen kann man so vielfältig spielen, dass darüber ganz in Vergessenheit geraten kann, dass die pragmatische Grundfunktion der Sprache darin besteht, als kognitives und kommunikatives Werkzeug zur praktischen Weltbewältigung verwendet zu werden. Wenn im Hinblick auf den poetischen Sprachgebrauch von einem Glasperlenspiel oder von dem Prinzip l’art pour l’art gesprochen wird, dann will man nicht zuletzt darauf aufmerksam machen, dass sich die klangliche Substanz der Sprache, die Seltenheit der verwendeten Worte oder deren Zugehörigkeit zu bestimmten Seins- und Denksphären als Eigenwerte wahrnehmen lassen. Eine solche Sprachverwendung kann dann auch in einer deutlichen Spannung zu einem rein pragmatischen Sprachverständnis stehen. Ebenso wie das Statusgeld nicht von vornherein diffamiert werden sollte, weil es keine direkten merkantilen Funktionen hat, so sollte auch die nichtinstrumentelle poetische Sprache nicht gleich pragmatisch abgewertet werden. Beide Verwendungsweisen von Geld und Sprache haben durchaus Strukturierungsfunktionen, nur liegen diese nicht auf einer direkt fassbaren praktischen Ebene, sondern vielmehr auf einer Ebene, auf der die medialen Möglichkeiten von Geld und Sprache allererst entwickelt und erkundet werden. Erst wenn es zu einem Geld- und Sprachgebrauch kommt, in dem beide Phänomene keinen Beitrag mehr zur Vermittlung der Objektsphäre und der Subjektsphäre leisten bzw. ihren genuinen Zeichencharakter verlieren, werden diese Gebrauchsformen von Geld und Sprache problematisch. Diese Gefahr besteht immer dann, wenn Geld und Sprache sich zu eigenen Welten verselbständigen und nicht mehr als Zwischen- und Vermittlungswelten in Erscheinung treten, sondern als Welten, in die man nur eintritt, um aus anderen Welten austreten zu können.
Das stoffbezogene Wertgeld Zwischen dem kulturbezogenen Statusgeld mit seinen Prestige- und Faszinationsimplikationen und dem stoffbezogenen Wertgeld mit seinen Bezügen zu Warenwerten und zu Tauschverfahren gibt es vielerlei Übergänge. Diese Sachlage zwingt uns dazu, den Gedanken des Tausches und der Wertäquivalenz zu präzisieren, um zu erfassen, warum man mit werthaltigen Dingen religiöse,
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rechtliche und soziale Verpflichtungen abgelten kann und welche praktischen Überlegungen dazu geführt haben, Geld mit dem Normgedanken in Verbindung zu bringen. Werthaltige Gegenstände wie Metalle, Felle, Werkzeuge, aber auch Opfertiere, Landbesitz und Nutzungsrechte werden von Menschen nicht nur aus Prestigegründen gesammelt und gehortet, sondern natürlich auch aus rein praktischen Gründen der Zukunftsvorsorge. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Dinge und Sachverhalte nicht nur einen merkantilen Tauschwert haben können, sondern auch einen ideellen Geltungswert, so dass sich durch ihre Weitergabe auch eine bestimmte Gesinnung zum Ausdruck bringen lässt. Mit der Weggabe von Besitztiteln kann für die Gebenden einerseits ein materieller und ideeller Verlust verbunden sein, aber andererseits auch eine identitätsbildende und soziale Wirkung, insofern sich dadurch im mitmenschlichen Raum Freundschaft, Vertrauen und Anerkennung ausbilden und signalisieren lässt. In einer rein arbeitsteiligen Gesellschaft ist ein solches soziales Wertgeld eigentlich ein Fremdkörper, weil der Tauschgedanke meist in einem rein merkantilen Sinne verstanden wird und kaum mit dem Gedanken des Ausgleichs, der Orientierung und der Heilung von Verstößen in Verbindung gebracht wird. Der Tauschgedanke kann aber auch so verstanden werden, dass die Weitergabe von Werten dazu dient, unterschiedliche Wertsysteme auszubalancieren, um zu verhindern, dass sich Teilkonflikte zu sozialen Katastrophen ausweiten. Das dokumentiert sich z. B. darin, dass in Gesellschaften, in denen die Blutrache eine Rolle spielt, bei Tötungsdelikten materielle Äquivalenzzahlungen durchaus üblich sind. Wenn man den Tauschgedanken im Rahmen des Äquivalenzgedankens versteht, dann gründet er sich allerdings nicht mehr auf individuelle bzw. subjektive Wertzuschreibungen und Güterabwägungen, sondern auf überindividuelle bzw. soziale Fixierung von Werten und Güterrelationen.12 Wenn wir nun danach fragen, inwiefern sich die Vorstellung eines stoffwerthaltigen Sachgeldes als Sinnbild für Sprache eignet, dann ergeben sich vielleicht folgende Einsichten. Wir greifen zu kurz, wenn wir Begriffe, Aussagen und Texte als semantische Einheiten ansehen, die sich direkt gegen vorgegebene Sachvorstellungen eintauschen lassen. Wir haben uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass Sprache und Welt allenfalls in einer interpretativen Äquivalenzrelation zueinander stehen, die bestimmte gesellschaftliche Differenzierungs- und Wertbildungsprozesse voraussetzt, welche dann wiederum individuelle Eintauschprozesse transzendieren. Das fachsprachlich manifestierte Denken lebt zwar weitgehend von dem Glauben, dass richtig gebildete Sprachformen auf der begrifflichen Ebene direkt mit vorgegebenen Weltformen korrespondieren und deshalb auch gegeneinander austauschbar sind, aber eine genauere Betrachtung zeigt doch,
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Vgl. C. Thomasberger / K. Voy, Geldtheorie und Geldgeschichte, in: J. G. Backhaus / H. J. Stadermann (Hrsg.), Georg Simmels Philosophie des Geldes, 2000, S. 240 ff.
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dass hier allenfalls interpretative Äquivalenzrelationen vorliegen, die sich für bestimmte pragmatische Intentionen herausgebildet und gefestigt haben. Wenn man den Wertgedanken im Kontext des Äquivalenzgedankens diskutiert, dann stellt sich die Frage, ob der Wert von Gegenständen primär aus ihrer stofflichen Materialität bzw. aus der Objektsphäre abzuleiten ist oder aus ihrer Wertschätzung durch Menschen bzw. aus der Subjektsphäre. Heute sind wir meist dazu geneigt, den Wert von Objekten aus subjektiven Wertzuweisungen herzuleiten und nicht aus ihrer materiellen Natur. Kulturhistorisch gesehen ist diese Alternative aber nicht zu allen Zeiten relevant gewesen, weil die Annahme einer Opposition von Objekt- und Subjektsphäre eine historisch relativ späte Denkform ist. Ötsch hat betont, dass kulturgeschichtlich gesehen die Objektwelt im Denken erst nach und nach dichotomisch von der Subjektwelt abgetrennt worden sei.13 Erst in diesem historischen Prozess habe sich allmählich die Vorstellung des Individuums herausgebildet, das nicht nur einfach vorgegebene Werte anerkenne, sondern selbst Wertzuweisungen vornehme. Dadurch werden mögliche Äquivalenzvorstellungen dann natürlich auf einer ganz anderen Ebene thematisiert. Konkrete Wertzuweisungen werden nun nämlich in einem hohen Maße subjektabhängig und lassen sich nicht mehr direkt auf ganz bestimmte Objektqualitäten zurückführen. Den Dingen kann nicht mehr ein natürlicher Wert zugeschrieben werden, der sich dann auch in einem bestimmten Preis niederschlägt, weil Preise jetzt weniger ontologisch, sondern eher psychologisch bzw. subjektbezogen und marktorientiert legitimiert werden. Solange man stoffwerthaltiges Geld verwendet, sei es nun Warengeld oder Münzgeld, um die Werthaltigkeit von Phänomenen zum Ausdruck zu bringen, solange denkt man über Äquivalenzrelationen von Geld und Gegenständen anders, als wenn man stoffwertloses Geld benutzt, weil jetzt der Tauschgedanke kaum noch eine sinnliche und substanzielle Dimension hat. Stoffwerthaltiges Geld hat deshalb auch ein ganz anderes Sinnbildpotenzial für Sprache als konventionsbezogenes Funktionsgeld, das sich leicht als reines Rechengeld verstehen lässt und deshalb ja auch von Knapp zu Recht mit der Denkhaltung des Nominalismus in Verbindung gebracht worden ist. Die Erfahrungen mit Gold- und Silbermünzen legen es nahe, Geldzeichen als ikonisch fundierte Wertzeichen zu verstehen. Unter diesen Voraussetzungen fällt es leicht, lexikalischen und grammatischen Zeichen ebenfalls eine natürliche Äquivalenz zu vorgegebenen Ordnungs- und Wertformen zuzuschreiben. Auf jeden Fall stützte die Erfahrung des stoffwerthaltigen Münzgeldes in der Antike und im Mittelalter die Vorstellung, dass sprachliche Formen keine subjektbedingten Denkmuster und Konstruktionen seien, sondern ontisch bedingte Ordnungsmuster mit einer natürlichen Analogie zu Seinsmustern.
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Vgl. W. Ötsch, Objekt, Subjekt und Wert, in: J. G. Backhaus / H. J. Stadermann (Hrsg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes, 2000, S. 273 ff.
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Erst im Nominalismus und in der Renaissance hat der Konstruktionsgedanke bei der Zeichenbildung an Relevanz gewonnen, was auch dem GeldSprache-Vergleich ganz neue Dimensionen eröffnete. Das exemplifiziert sich recht deutlich darin, dass Leibniz dann Wörter ziemlich selbstverständlich als „Rechenpfennige“ des Denkens bezeichnen konnte.14
Das konventionsbezogene Funktionsgeld Das Verständnis des Geldes als konventionsbezogenes Funktionsgeld bietet sicherlich die vielfältigsten Möglichkeiten, Geld und Sprache miteinander zu analogisieren, weil nun auf so wichtige Denkkategorien wie Zeichen, Tausch, Wert, Vertrauen oder Sozialität zurückgegriffen werden kann. Da diese Kategorien noch in eigenständigen Teilkapiteln thematisiert werden, soll hier zunächst nur auf solche Denkvorstellungen zurückgegriffen werden, die das funktionale Verständnis von Geld und Sprache grundlegend prägen. Zunächst ist zu beachten, dass die Erscheinungsformen des Geldes vom Warengeld über das Münz- und Papiergeld bis zum Buchgeld immer abstrakter geworden sind. Dieser Prozess lässt sich auch als ein Steigerungsprozess des Zeichencharakters von Geld beschreiben, der ein Weg von ikonischen und indexikalischen Geldzeichen zu symbolischen bzw. konventionellen gewesen ist bzw. ein Weg zur Etablierung des Geldes als sozialer Institution. Diesen Weg teilt das Geld sicherlich mit der Sprache, der neben ihrer ursprünglichen Ausdrucks- und Appellfunktion nach und nach auch eine Darstellungs- und Argumentationsfunktion zugewachsen ist, durch welche die konkreten Manifestationsformen von Sprache einerseits immer abstrakter geworden sind, aber andererseits auch immer vielfältiger und funktionsreicher. Ebenso wie wir heute die ‚Seele’ des Geldes sicherlich nicht in seiner materiellen Substanzialität (Waren, Metall) sehen, sondern in seiner Funktionalität (Tauschmittel, Rechenmittel), so sehen wir auch heute die ‚Seele’ der Sprache wohl kaum in ihrer klanglichen, morphologischen und begrifflichen Substanzialität, sondern eher in ihrer pragmatischen Funktionalität (Objektivierungs-, Strukturierungs-, Informations-, Handlungsmittel). Geld und Sprache lassen sich heute sicherlich als die wichtigsten Institutionen und Zeichensysteme ansehen, die den Menschen für Interaktionsprozesse zur Verfügung stehen. Beide sind ähnlich wie die Hand Universalwerkzeuge, da sie nicht nur direkt als Handlungswerkzeuge nutzbar sind, sondern zusätzlich auf einer Metaebene auch dazu dienen, neue Handlungswerkzeuge auszubilden. Angesichts dieser Strukturverhältnisse hat Simmel deshalb das Geld für ein ganz genuines philosophisches bzw. lebensphilosophisches Phänomen
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G. W. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, § 7, Philosophische Werke, Bd. 2, S. 674.
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gehalten, dem mehr als nur eine ökonomische Aufmerksamkeit zu schenken sei. Gerade weil das Geld eine so große Polyfunktionalität besitzt, hat es sich im allgemeinen Bewusstsein auch zu einer Macht an sich verdichtet, die wie ein Moloch alle Formen von substanzieller Individualität zerstören kann und die nach ihren Regeln alles mit allem in Verbindung zu bringen vermag. Übersehen wird bei dieser Kritik allerdings leicht, dass das Geld auch eine Chance bietet, Einzelphänomenen einen bestimmten Stellenwert in einem System von Werten zu geben und damit auch in einem ganz bestimmten Sinne Individualität und Besonderheit. Auf jeden Fall wird man feststellen können, dass das Geld durch seine Korrelationsfunktionen neue Strukturen stiften kann. Deshalb kann es dann auch als eine Ausdrucksform der menschlichen Freiheit verstanden werden, erstarrte Traditionen, Wertzuordnungen und Denksysteme aufzulösen und neue Korrelationen, Ordnungssysteme und Handlungsmöglichkeiten zu erzeugen. Diese geldbezogene Argumentation kann in hohem Maße ebenfalls auf die Sprache angewendet werden. Auch sie ist wie das Geld ein Produkt menschlicher Anstrengung und eine fundamentale soziale Institution, die eine Macht für sich werden kann, der sich niemand entziehen kann, welcher Gebrauch von ihr macht. Auch die begrifflich orientierte Sprache entindividualisiert die Dinge, insofern sie diese zu Exempeln von Kategorien macht, aber sie bietet zugleich auch die Chance, die Dinge in neue Relationszusammenhänge einzuordnen und damit aspektuell auf neue Weise kennenzulernen. Je mehr Funktionen Geld und Sprache im sozialen Raum übernehmen, desto flexibler müssen beide Phänomene ihre Erscheinungsweisen und ihre Zeichenpotenziale strukturieren und über sozial verpflichtende Regeln organisieren. Privatgeld und Privatsprachen führen sich deshalb letztlich auch selbst ad absurdum, weil Geld und Sprache prinzipiell auf intersubjektive Verstehbarkeit und auf Zirkulation angelegt sind. Das Geld in der Truhe und die Sprache im Gedächtnis sind nur solange Geld und Sprache wie sie potenziell in Interaktionsprozessen verwendet werden können. Robinson braucht kein Geld und hat deshalb auch kein Geld, selbst wenn er Geldmünzen besäße. Robinson hat auch nur in dem Sinne noch Sprache, als er diese weiterhin als Werkzeug zum Denken und zur Stabilisierung von Erinnerungen verwendet. Das ändert sich erst dann grundlegend als er sich mit Freitag konkret verständigen muss. Mit dem Begriff des Geldes und der Sprache ist im funktionalen Denken die Vorstellung der Liquidität in einem doppelten Sinne verbunden. Geld und Sprache müssen ständig umlaufen, um funktionsfähig zu bleiben. In diesen Umlaufprozessen müssen sie aber auch laufend ihre Gestalt ändern können, um ihre Funktionen unter veränderten Bedingungen so optimal wie möglich erfüllen zu können. Der Nationalökonom Wicksell hat die Funktion des Geldes in der Wirtschaft einmal mit der des Öls in einer Maschine verglichen. „Das Öl bildet
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keinen Teil der eigentlichen Maschine, ist weder treibende Kraft, noch ausführendes Werkzeug, und in einer absolut vollendeten Maschinerie würde ein Minimum an Schmiermitteln erforderlich sein.“ 15 Dieser Vergleich ist auf den ersten Blick sehr anschaulich und einleuchtend, weil er das Geld als ein Phänomen thematisiert, das ganz in seiner Vermittlungs- und Erleichterungsfunktion aufgeht und das keinen inhaltlichen Einfluss auf das nimmt, was es jeweils miteinander in Beziehung setzt. Aber dieser Vermittlungsgedanke ist dennoch etwas zu kurz gedacht, weil er von fest vorgegebenen Größen ausgeht und nicht darauf aufmerksam macht, dass diese Größen für uns vielleicht erst durch den Vermittlungsprozess selbst ihre ganz spezifische Gestalt, Charakteristik und Funktionalität bekommen. Man könnte zwar geltend machen, dass in einer Maschine erst durch die Vermittlungsfunktion des Öls die Reibungsverluste so minimiert werden, dass die einzelnen Maschinenteile sich wirklich funktional entfalten können. Gleichwohl ist dieses Bild aber immer noch recht deutlich von der Dominanz des Substanzgedankens gegenüber dem Funktionsgedanken bestimmt, weil die einzelnen Maschinenteile ja klar vorgegebene Charakteristika haben, die durch das Öl nicht funktional verändert werden können. Im Denkrahmen eines konsequent verstandenen Funktionsgedankens muss die Wirkungsweise des Geldes eigentlich noch sehr viel radikaler funktional akzentuiert werden als durch den sinnbildlichen Vergleich mit dem Öl in einer Maschine. Wenn man einmal den Schritt gemacht hat, ein Sachgut nicht gegen ein anderes auszutauschen, sondern gegen Geld, dann hat das für Tauschprozesse zur Konsequenz, dass nun der Wert aller Güter prinzipiell immer ganz unbarmherzig in Geld objektiviert bzw. umgerechnet werden kann. Ebenso wie Midas alles zu Gold macht, was er berührt, so bekommt nun alles seinen Geldwert, wenn Geld einmal als Tausch- und Verrechnungsmittel eingeführt worden ist. Das Geld wird dadurch zu einem Maßstab, mit dem alle Waren und Dienstleistungen untereinander in Beziehung gesetzt werden können bzw. zu einer Wahrnehmungs- und Denkperspektive, die festlegt, wie etwas überhaupt wertmäßig für uns in Erscheinung tritt oder treten soll. Was nicht in Geld umgerechnet werden kann, gerät unter diesen Bedingungen dann leicht in die Gefahr, als irreal, fiktiv oder randständig wahrgenommen zu werden. In diesem Zusammenhang ist vielleicht ein Bild aufschlussreich, das Humboldt zur Charakterisierung der medialen Macht der Sprache für den Menschen entwickelt hat, das aber wohl auch zur Charakterisierung der medialen Macht des Geldes herangezogen werden kann. „Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein ...“16 Ebenso wie unsere Wahrnehmung von Welt durch den Gebrauch von Sprache orga-
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K. Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie, Bd. 2, 1984, S. 4–5. W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues..., Werke, Bd. 3, S. 434.
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nisiert wird, so wird auch unsere konkrete Wahrnehmung von Welt durch den Gebrauch von Geld vorstrukturiert. Ebenso wie die Welt durch die Verwendung von Sprache für uns sprachförmig wird, so wird sie auch durch die Verwendung von Geld für uns geldförmig. Durch die Nutzung von Geld und Sprache ändert sich aber nicht nur unsere Wahrnehmung von Welt, sondern auch unser konkreter Umgang mit der Welt bzw. unser Lebensstil in der Welt.
2. Zur Semiotik des Geldes Da dem Geld zweifellos eine Repräsentationsfunktion für anderes bzw. eine Verweisungsfunktion auf anderes zugeschrieben werden kann, liegt es natürlich nahe, das Geld ebenso wie die Sprache als ein Zeichenphänomen wahrzunehmen. Allerdings stellt sich in beiden Fällen die Frage, ob man diese Phänomene zureichend erfasst, wenn man sie im Denkrahmen der klassischen Zeichendefinition betrachtet, die besagt, dass etwas für etwas anderes stehe (aliquid stat pro aliquo). Mit Hilfe dieses klassischen Stellvertretungsmodells ist nämlich die Zeichenproblematik weder beim Geld noch bei der Sprache zureichend gelöst, sondern nur in einem ersten Analyseschritt thematisiert. Es bleibt nämlich zu klären, welche Erfahrungsgegenstände beim Geld und der Sprache eine Repräsentations- bzw. Signifikantenfunktion übernehmen können und wie sie jeweils auf ihre Repräsentationsinhalte bzw. Signifikate verweisen können. Um das zu klären, ist es wohl notwendig, den Zeichenbegriff nicht nur über den Konventionsbegriff, sondern vor allem auch über den Funktionsbegriff näher ins Auge zu fassen.
Die Zeichenproblematik beim Geld Das klassische Zeichenmodell, das ein Zeichen als ein konventionsbedingtes Relationsgebilde zwischen einem Zeichenträger bzw. Signifikanten und einem Zeicheninhalt bzw. Signifikat ansieht, offenbart sowohl bei der Analyse von Geldzeichen als auch bei der von Sprachzeichen charakteristische Defizite. Diese liegen darin begründet, dass es konsequent von jeglichem Interesse an der Genese und den aktuellen kognitiven und kommunikativen Funktionen von Zeichen absieht und sich ganz auf die sozialen Konventionen konzentriert, die Zeichen jeweils zu Grunde liegen. Auf diese Weise erscheinen Zeichen als recht statische Relationsgebilde, bei denen das Interesse an der Interpretationsund Organisationskraft von Zeichen methodisch ausgeklammert wird. Dadurch wird verhindert, Zeichen als dynamische Phänomene bzw. als Sinnbildungsmittel wahrzunehmen, die sich gleichsam bei jedem Gebrauch im Rahmen bestimmter Traditionen immer wieder neu konstituieren. Diese Defizite des zweistelligen Zeichenmodells werden durch das dreistellige von Peirce weitgehend ausgeglichen. Dieses Modell thematisiert ein Zei-
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chen nämlich als ein komplexes und dynamisches Relationsgebilde, das sich aus drei Subgrößen konstituiert, die sich als Zeichenträger, Zeichenobjekt und Zeicheninterpretant benennen und qualifizieren lassen. Bei einem Zeichen ist dann als Zeichenträger diejenige Größe anzusehen, die die sinnlich fassbare Basis eines Zeichens ausmacht, als Zeichenobjekt diejenige Vorstellungsgröße, die durch die jeweilige Zeichenbildung aus dem Kontinuum der Welt herausdifferenziert wird, und als Zeicheninterpretant diejenige sehr komplexe Denkgröße, die als Denkhorizont bzw. als Denkperspektive die jeweilige Zeichenbildung kulturell oder aktuell organisiert, strukturiert und konkretisiert.17 Das dreistellige Zeichenmodell hat im Vergleich mit dem zweistelligen für die semiotische Thematisierung von Geld mindestens drei große Vorteile. Erstens lenkt es unsere Aufmerksamkeit in einer pragmatischen Denkperspektive auf das Problem, welche sinnlich wahrnehmbaren Phänomene überhaupt als Zeichenträger für Geldzeichen in Erscheinung treten können (Waren, Münzen, Banknoten, Zahlen usw.). Zweitens motiviert es uns zu der Frage, warum es überhaupt zur Entstehung von Geld bzw. Geldzeichen gekommen ist und welcher Nutzen damit jeweils verbunden ist. Drittens weckt es unser Interesse an dem Problem, welche Auswirkungen der Gebrauch von Geld für das Denken bzw. für das praktische und soziale Leben der Menschen hat. Grundsätzlich geht Peirce davon aus, dass Zeichengebilde einen unterschiedlichen Intensitätsgrad von Zeichenhaftigkeit haben können, weshalb er idealtypisch zwischen einem Ikon, Index und Symbol unterscheidet, deren Zeichenhaftigkeit kontinuierlich ansteigt. Ein Ikon (Foto, Skizze) ist wegen der Ähnlichkeit zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt hinsichtlich seiner Repräsentationsfunktion mehr oder weniger spontan verständlich. Ein Index (Rauch als Hinweis auf Feuer) ist schon schwerer zu verstehen, da dafür ein Wissen über das sachliche Bedingungsverhältnis zwischen Zeichenträger und Zeicheninhalt vorhanden sein muss. Ein Symbol ist im Prinzip am schwersten spontan verständlich, da es den höchsten Grad von Zeichenhaftigkeit bzw. von konventionalisierter bzw. konventionalisierbarer Ausdeutbarkeit besitzt. Hier repräsentiert der Zeichenträger sein Zeichenobjekt nämlich nur über habituell stabilisierte Konventionen und aktuelle kognitive und kommunikative Bedürfnisse. Das ermöglicht diesem Zeichentyp zwar einen hohen Grad an Flexibilität bei der Konkretisierung von Zeichenobjekten bzw. Sachvorstellungen, aber kann natürlich auch vielen Missverständnissen Tor und Tür öffnen. Da bei Symbolen die Zuordnung von Zeichenträgern und Zeichenobjekten keinen natürlichen Zwängen, sondern eher pragmatischen Motiven unterliegt, greift erst bei Symbolen die semiotische Basisthese in einem umfassenden Sinne, dass alles zu einem Zeichen werden kann, was Menschen als Zeichen verstehen können. Der Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Geldes vom
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Vgl. W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 33 ff.
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Warengeld bis zum Zahlengeld bestätigt recht klar die evolutionäre Abstraktionstendenz bei der Entwicklung der Repräsentationsformen von Geld. Durch diese hat sich zwar das Funktionspotenzial des Phänomens Geld ständig ausgeweitet, aber zugleich auch das spontane Verständnis der Geldzeichen erschwert bzw. das Verständnis der vielfältigen Auswirkungen des Geldes und seiner unterschiedlichen Manifestationen auf die Lebenswelt der Menschen. Das kulturbezogene Statusgeld und das stoffbezogene Wertgeld lassen sich ziemlich leicht mit den Zeichentypen Ikon und Index in Verbindung bringen, da sich hier die jeweiligen Zeichenträger über den Gedanken der Wertähnlichkeit, der Seltenheit oder der in Geldformen geronnenen Arbeit ziemlich problemlos hinsichtlich der von ihnen jeweils konstituierten Zeichenobjekte verstehen lassen. Insbesondere das Warengeld und das Münzgeld objektivieren auf leicht verständliche Weise Tauschwerte, weshalb sie sich auch als Zahlungsmittel bzw. als Ausgleichsmittel für Verpflichtungen gut eignen. Als Wertaufbewahrungsmittel eignen sich Waren insbesondere in Form von Früchten allerdings weniger gut als in Form von Metallstücken. Deshalb hat das Münzgeld dann auch schnell eine große Verbreitung gefunden, weil es sich nicht nur gut horten, sondern auch einfach transportieren und stückeln ließ. Als Zirkulationsmittel für Werte bzw. als Rechenmittel hat sich dann allerdings das Papier- und Buchgeld dem Münzgeld als deutlich überlegen erwiesen, obwohl es wiederum als Wertaufbewahrungsmittel ganz erhebliche Probleme aufwarf. Diese neue Geldform ließ sich wesentlich flexibler einsetzen als ikonische Geldformen, wenn man die jeweiligen Konventionen für ihren Gebrauch streng einhielt. Falls diese Konventionen aber nicht respektiert wurden, dann konnte es sehr schnell zu Inflationserscheinungen und zur Rückkehr von Formen des alten Warengeldes (Zigarettenwährung) kommen. Ohne die rein konventionellen bzw. stoffwertlosen Geldformen wäre eine differenzierte Arbeitsteilung bzw. ein internationaler Waren- und Kapitalverkehr heute gar nicht mehr denkbar. Milliardenwerte lassen sich leicht über Zahlen, aber nicht über Münzen transferieren. Diese abstrakten Geldformen sind allerdings als Geschöpfe von Konventionen und Rechtsordnungen in ihrer Geltungsstabilität immer höchst gefährdet. Das Problem der Steigerung der Abstraktivität von Zeichen gibt es auch in der Sprachentwicklung. Onomatopoetische Wörter (Wau-Wau, miauen) sind relativ leicht spontan zu verstehen, während die üblichen Wörter nur durch die Kenntnis von Konventionen verständlich sind. Ikonische Zeichen gibt es allerdings nicht nur auf der lexikalischen Ebene, sondern auch auf der grammatischen. Dabei kann man etwa an die Thema-Rhema-Relation in Sätzen denken, nach der zunächst diejenigen sprachlichen Sinneinheiten zu nennen sind, die Grundlage unserer Vorstellungsbildung sein sollen, und dann diejenigen, die diese Grundvorstellungen präzisieren. In diesem Zusammenhang kann man weiterhin auch auf die rhetorische Figur der Ellipse verweisen. Diese kann einerseits im Hinblick auf eine Sachverhaltsdarstellung ikonisch anzeigen, dass etwas fehlt, aber andererseits im Hinblick auf den Sprecher auch indexikalisch anzeigen, dass dieser sich in einem psychischen Ausnahmezustand befindet,
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weil er Sachverhalte nicht mehr in einer kontemplativen Distanz sprachlich durchstrukturiert zu objektivieren vermag. Generell lässt sich sagen, dass die sprachlichen Zeichen hinsichtlich ihrer sachlichen Informationsfunktion als symbolische bzw. konventionelle Zeichen einzuordnen sind, weil sie ohne Kenntnis der jeweiligen Sprachkonventionen ihre pragmatischen Funktionen nicht voll erfüllen können. Der höhere Grad von Abstraktivität bzw. Zeichenhaftigkeit sagt allerdings noch nicht unbedingt etwas über die allgemeine pragmatische Relevanz dieser Zeichen aus, sondern nur etwas über ihre spezifische Funktionalität. Ebenso wie man über Papiergeld die Geldnutzung flexibler gestalten kann als über Waren- und Münzgeld, so kann man auch über symbolische bzw. konventionelle Sprachzeichen den Sprachgebrauch flexibler gestalten als über ikonische und indexikalische Sprachzeichen. Aber ebenso wie Banknoten gegenüber Manipulationen gefährdeter sind als Goldmünzen, so sind auch symbolische Sprachzeichen gegenüber Sprachmanipulationen gefährdeter als ikonische und indexikalische.
Die Ambivalenz von Zeichen Üblicherweise gehen wir davon aus, dass Zeichen und damit auch Geld passive Werkzeuge in der Hand der Menschen sind, die Mittel für die Verwirklichung ihrer pragmatischen Zielsetzungen entwickeln und einsetzen. Wer in diesem Wirkungszusammenhang Herr und Knecht ist, scheint völlig klar zu sein. In Wirklichkeit ist das Wirkungspotenzial von Zeichen aber sehr viel ambivalenter, weil sie auch einen vorstrukturierenden Einfluss auf die Denkund Handlungsmöglichkeiten ihrer Nutzer ausüben können. So hilft uns beispielsweise das Geld nicht nur bei der Realisierung von Tauschgeschäften, sondern verführt auch dazu, die Welt durch die Brille des Geldes zu sehen und eben dadurch für uns in gewisser Weise auch geldförmig zu machen. Leisegang hat in struktureller Hinsicht diesbezüglich auf eine launige Aussage Gottfried Kellers über einen Hund verwiesen, dem man „die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält.“18 Karl Marx hat diese Dialektik bzw. diesen Kippeffekt beim Gebrauch von Medien im Hinblick auf Geld auch eindringlich thematisiert. Für ihn emanzipiert sich in einer arbeitsteiligen Tauschgesellschaft das Geld zu einer eigenen Realität, auf die dann sogar die realen Waren als Zeichen verweisen können. „Alle Waren sind vergängliches Geld; das Geld ist unvergängliche Ware. Je weiter sich die Teilung der Arbeit entwickelt, um so mehr hört das unmittelbare Produkt auf, ein Tauschmittel zu sein. Es tritt die Notwendigkeit eines allgemeinen Tauschmittels ein, d.h. eines Tauschmittels, das von der spezifischen Produktion eines jeden unabhängig ist. Im Geld ist der Wert der Sachen von ihrer Substanz ge-
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Vgl. H. Leisegang, Denkformen, 1928, S. 442.
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trennt. Das Geld ist ursprünglich der Repräsentant aller Werte; in der Praxis dreht sich die Sache um, und alle realen Produkte und Arbeiten werden die Repräsentanten des Geldes.“19
In der rein funktionalen Wahrnehmung des Geldes als Tausch- oder Verrechnungsmittel liegt für Marx letztlich auch begründet, dass das Geld sich von seinem materiellen Warenwert immer mehr lösen kann und deshalb nicht mehr in Form von geprägten Geldstücken, sondern in Form von bedruckten Papierstücken in Erscheinung zu treten vermag. Diese Preisgabe seines ikonischen und indexikalischen Charakters erleichtert es dem Geld dann sehr, die ökonomische und soziale Welt zu vergeldlichen. Hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte des Geldes kommt Marx daher zu einem sehr erhellenden Schluss: „Sein funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles.“ 20 Die von Marx konstatierte Transformation des Geldes von einem medialen Hilfsmittel beim Austausch von Gütern zu einer eigenen Realität, an der der Wert, wenn nicht die Existenzberechtigung anderer Phänomene beurteilt wird, hat weitreichende Konsequenzen. Was sich nicht an diesem Maßstab messen lässt, das existiert nicht oder nur auf marginale oder fiktive Weise. Alles Wichtige muss sich in Form von Geld objektivieren und umrechnen lassen. Diese Transformation des Geldes von einer stoffwerthaltigen Tauschware zu einem Berechnungsmaßstab für Werte schlechthin hat zur Folge, dass die faktischen Erscheinungsformen des Geldes immer abstrakter werden können und müssen, damit das Geld seine Verrechnungsfunktionen optimal erfüllen kann. Dieser Sachverhalt dokumentiert sich auf exemplarische Weise auch in der bekannten These Benjamin Franklins, dass Zeit Geld sei. Die eigentlich unfassbare Zeit wird hier zu einer Erscheinungsform des Geldes, insofern Zeitquanten als Geldquanten verstanden werden, die man je nach Bedarf gegeneinander aufrechnen kann. Arbeitszeit kann man gegen Geld eintauschen und Geld gegen Arbeitszeit. Die Zeit wird nicht mehr als eine psychische Größe wahrgenommen, die sich über die Menge und die Intensität von Erlebnissen konstituiert, sondern als eine Rechengröße für die Festlegung von Preisen. Die Transformation des stoffwerthaltigen Tauschgeldes zu einem stoffwertlosen Berechnungsgeld wird durch den Beruf des Kaufmanns nicht nur exemplifiziert, sondern auch beschleunigt. In seiner Funktion als Vermittler im Warenaustausch interessiert der Kaufmann sich letztlich nicht mehr für die Natur bzw. die Substanzialität von Waren, sondern nur noch für deren Tauschbzw. Geldwert. Waren sind ihm im Prinzip nur als Erscheinungsformen von Geld, aber nicht als Erscheinungsformen von Natur oder Kultur interessant. Das zeigt sich heute besonders deutlich in den sogenannten Warenterminge-
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K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1971, S. 67–68. K. Marx, Das Kapital, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 23, S. 123. Vgl. auch: K. Frerichs, Die Dreigliedrigkeit der Repräsentanz, in: J. Kintzelé / P. Schneider (Hrsg.), Georg Simmels ‚Philosophie des Geldes’, 1993, S. 264–276.
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schäften, bei denen der Kaufmann zu einem Spekulanten wird, für den Waren nicht als Sachgrößen, sondern nur noch als Geldgrößen in Erscheinung treten. Die Verselbständigung des Geldes von einem bloßen Hilfsmittel zur Erleichterung des Warenaustausches zu einem strukturierenden Machtfaktor im Wahrnehmen und Denken findet eine Parallele in der Sprache. Allerdings scheint diese Entwicklungstendenz auch allen anderen Zeichen bzw. Medien in mehr oder minder großer Intensität eigen zu sein. Sprachzeichen sind nicht nur dienende Werkzeuge in der Hand ihrer Nutzer, sondern können immer wieder zu eigenständigen Machtfaktoren werden, die die Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten ihrer Verwender vorstrukturieren. Solche verselbständigten Medien können dann nur noch Zaubermeister beherrschen, aber nicht Zauberlehrlinge. Abgesehen von Humboldt und Whorf hat insbesondere Nietzsche nachdrücklich auf die ambivalente Werkzeugfunktion der Sprache hingewiesen, wobei er sich allerdings mehr für die einengenden als für die hilfreichen Funktionen der Sprache für das Denken interessiert hat. Für Nietzsche hat sich in der Sprache eine „Volks-Metaphysik“ verfestigt, von der die Menschen nicht mehr loskämen. Beispielsweise lege die SubjektPrädikat-Struktur des Satzbaues in den indogermanischen Sprachen nahe, die Wahrnehmung von Prozessen nach dem Täter-Tat-Schema zu verstehen und hinter allen Vorgängen als Ursache eine intentional handelnde Instanz zu vermuten. „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ...“21 Aus diesem Umstand schließt er dann, dass die Sprache im Laufe der Zeit überall zu einer Gewalt für sich geworden sei, „welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen faßt und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie miteinander sich zu verständigen und zu einem Werk zu vereinigen suchen, erfaßt sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe ...“ 22 Wenn auf diese Weise die Sprache von einem Knecht zu einem Herrn wird und die pragmatischen Funktionen von Zeichen umkippen, dann bekommt die Sprache einen ganz anderen anthropologischen Status. Die Sekundärwelt der Sprache wird zu einer Primärwelt, an der Sacherfahrungen nicht nur gemessen und beurteilt werden, sondern möglicherweise sogar ihren Realitätscharakter nachweisen müssen. Dadurch ergibt sich die Gefahr, dass die Sprachwelt zu unserer ersten Erfahrungswelt wird und die Sachwelt zu unserer zweiten, die dann nur noch insofern für uns relevant wird, als sie sich versprachlichen lässt. Unter diesen Bedingungen kann es leicht zu einer Umkehrung der kognitiven Funktionen sprachlicher Zeichen kommen. Diese dienen dann nicht mehr als Schlüssel zur Erschließung einer widerborstigen bzw. einer verborgenen Welt, sondern als Filter, die festlegen, was von dieser Welt für uns fassbar werden kann und was nicht. Die Sprache wird nicht unseren Erfahrungen angepasst, sondern die Erfahrungen unserer Sprache. Diese strukturelle Proble-
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F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Werke Bd. 2, S. 960. F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Werke Bd. 1, S. 387–388.
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matik von Hilfsmitteln bzw. Medien ist schon in dem antiken Mythos über das Prokrustesbett thematisiert worden. Nach diesem Mythos besaß Prokrustes für Reisende immer zwei Betten als Nachtlager. Die kleinen Reisenden legte er in das große Bett und streckte sie solange, bis sie genau hineinpassten. Die großen Reisenden legte er in das kleine Bett und schnitt ihnen so viel von den Beinen ab, wie über die Bettlänge hinausragte.23 Die Verselbständigung des Mediums Sprache zu einem eigenständigen Machtfaktor in Analogie zur Verselbständigung des Mediums Geld dokumentiert sich vielleicht am klarsten in den formalisierten Fach- und Wissenschaftssprachen. Inhalte, die sich in diesen nicht objektivieren lassen oder denen in diesen kein Systemplatz zugewiesen werden kann, verfallen leicht dem Illusionsverdacht. Oft wird mehr Energie darauf verwendet, die innere Systematik der Fachsprachen zu optimieren als deren Adäquatheit für Objektivierungsprozesse zu prüfen oder deren kognitive Leistungsfähigkeit durch die Entwicklung neuer Sprachformen und Sprachverwendungsweisen zu erhöhen.
Münze und Rechenpfennig Obwohl im heutigen Geldgebrauch Münzen keine so dominierende Rolle mehr spielen wie in früheren Zeiten, prägen sie gleichwohl immer noch sehr nachhaltig unser elementares Geldverständnis. Dafür gibt es mehrere Gründe, die auch für die Analogisierung von Münzen und Wörtern einflussreich sind. Insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Substanzvorstellungen und Konventionsvorstellungen, das auch für unser Sprachverständnis von Bedeutung ist, tritt bei Münzen sehr deutlich hervor. Münzen und insbesondere Edelmetallmünzen sind sinnlich gut wahrnehmbare Erscheinungsformen von Geld. Sie haben einen substanziellen Warenwert, welcher ihren Tauschwert bzw. ihre Wertaufbewahrungsfunktion auf recht natürliche Weise vorbestimmt. Deshalb sind insbesondere Edelmetallmünzen auch immer als überregionale Zahlungsmittel verwendbar gewesen. Gleichzeitig ist aber zu berücksichtigen, dass solche Münzen als ikonische Geldzeichen immer auch symbolische bzw. konventionelle Implikationen gehabt haben, also als Mischzeichen im Sinne der Zeichentypologie von Peirce anzusehen sind. Die Funktionalität dieser Münzen resultierte nämlich nicht nur aus ihrem reinen Edelmetallgehalt, sondern auch daraus, dass sie normierte Geldstücke waren, für die der jeweilige Prägeherr oder Prägeort ein materielles Wertversprechen abgegeben hatte, auf das man zu vertrauen hatte. Dieses Wertversprechen sollte es nämlich im Prinzip überflüssig machen, das Gewicht und die Metallreinheit der jeweiligen Münzen immer wieder konkret zu überprüfen, was natürlich ihren praktischen Gebrauch sehr erschwert hätte.
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Vgl. R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1, 1965, S. 299.
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Die institutionelle Normierung von Münzen verschaffte diesen im konkreten Tausch- bzw. Zahlungsverkehr natürlich gegenüber dem Warengeld ganz erhebliche Vorteile, aber sie machte Münzen zugleich auch anfällig für Manipulationen und Fälschungen. Sie warf nämlich das Problem auf, dass der Nominalwert einer Münze ihrem Stoffwert nicht zwangsläufig entsprechen musste und dass der Tauschwert von Münzen deshalb langfristig auch nicht stabil bleiben musste. Solange niemand daran zweifelte, dass sich Nominalwert und Realwert einer Münze entsprechen, solange funktionierten Münzen als Wertzeichen natürlich problemlos, weil ihre praktischen Wertverrechnungsfunktionen im Prinzip nicht an ihren realen Stoffwert gebunden waren, sondern an die soziale Akzeptanz der Münzen als Zeichen für bestimmte Wertgrößen. Dieser Sachverhalt zeigte sich sehr klar, als aus praktischen Gründen das Münzgeld durch Zertifikate, Papiergeld oder Buchgeld ergänzt wurde. Jetzt wurde nämlich deutlich, dass man das Geld nicht nur als konkretes Tauschmittel, sondern auch als bloße Rechengröße bzw. als Rechenpfennig nutzen konnte. Das Verständnis von Wörtern als Münzen basiert nicht zuletzt darauf, dass sie als ikonisch-symbolische Mischzeichen anzusehen sind. Dabei ist nicht nur an die ikonischen Implikationen von onomatopoetischen bzw. lautmalenden Wörter zu denken, sondern auch an unser Vertrauen darauf, dass die von Wörtern repräsentierten Begriffe nicht willkürliche Ordnungskonstrukte der Menschen sind, sondern Ordnungsmuster, die in einer sachlichen Ähnlichkeitsrelation zu Realitätsstrukturen stehen. Von richtig gebildeten Begriffen nehmen wir an, dass sie nicht fiktiv sind, sondern weltförmig bzw. realitätshaltig. Nun kann man natürlich die Ansicht vertreten, dass sowohl der Glaube an die Übereinstimmung von Nominalwert und Realwert bei Münzen als auch der Glaube an die ontische Substanz von Begriffen ein Kinderglaube sei. Aber ohne diesen Kinderglauben bzw. ohne dieses faktische Geld- und Sprachvertrauen wäre der Gebrauch von Geld- und Sprachzeichen kaum vorstellbar. Zwar können wir reflexionsthematisch die Korrespondenz von Nominalwert und Realwert bei Münzen und Begriffen immer wieder in Frage stellen, aber im praktischen Gebrauch dieser Zeichenformen ist das kaum möglich. Der Glaube an die Äquivalenz beider Werte bei Münzen und Wörtern muss deshalb als eine fruchtbare Fiktion im Sinne einer immer wieder überprüfungsbedürftigen praktischen Hypothese angesehen werden. Die prinzipielle Skepsis gegen eine dauerhafte Äquivalenz von Nominalwert und Realwert bei Münzen bzw. zwischen Begriffsstrukturen und Realitätsstrukturen bei Wörtern lässt sich auf unterschiedliche Gründe zurückführen. Einerseits ist zu beachten, dass bei den Prägevorgängen von Münzen und Wörtern manipulative Aktionen durch die jeweiligen Prägeinstanzen nicht ausgeschlossen werden können. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, dass sich solche sachlichen Korrespondenzen notwendigerweise ändern müssen, wenn sich die Welt ändert, in der diese Zeichen funktionieren sollen. So muss sich z. B. die Kaufkraft von Münzen ändern, wenn sich das Angebot von Waren oder der Wert des jeweiligen Münzmetalls ändern, und der begriffliche Gehalt von Wörtern muss sich ändern, wenn sich die Bezugsgrößen der jewei-
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ligen Wörter, die begrifflichen Differenzierungsintentionen der Kommunikanten oder die Zahl der Mitglieder eines bestimmten Begriffs- bzw. Wortfeldes ändern. Mit diesen ständigen Veränderungsprozessen können sich allerdings diejenigen Theoretiker schlecht abfinden, die sowohl das Geld als auch die Sprache eher substanziell als funktionell zu legitimieren versuchen. Münzen mit einem manipulierten oder variablen ökonomischen Wert stören den Kaufmann natürlich ebenso sehr wie den Wissenschaftler Wörter mit einem manipulierten oder variablen semantischen Wert. Deshalb haben Wissenschaftler und Philosophen rationalistischer Prägung auch immer wieder versucht, Idealsprachen zu entwickeln, mit deren Zeichen man genauso regelgeleitet und exakt arbeiten möchte wie die Mathematiker mit ihren Zahlen. Insbesondere der junge Leibniz war von dem Gedanken fasziniert, nach dem Vorbild der Zerlegung großer Zahlen in ihre Primfaktoren auch in den sprachbezogenen Wissenschaften komplexe Begriffe in einfache zu zerlegen und für diese dann übersichtliche Kombinationsregeln zu entwerfen. Leibniz hat deshalb die Idee entwickelt, Wörter beim Denken nicht im Sinne von Münzen zu verwenden, mit denen für ihn allzu leicht substanzielle Warenvorstellungen korrespondierten, sondern im Sinne von Rechenpfennigen, die wie substanzlose Zahlen als ganz abstrakte Größen zu verstehen seien. Ähnlich wie man im Handel und im Spiel nicht mit tatsächlichem Geld, sondern mit bloßen Zahlen operieren könne, so müsse man auch in Denkprozessen nicht immer mit realen Sachvorstellungen arbeiten, sondern könne semantisch normierte Denkgrößen verwenden, die nur am Anfang und Ende von Denkoperationen auf die konkrete Erfahrungswelt bezogen werden müssten. „Daher braucht man oft die Wort als Ziffern, oder als Rechen-Pfennige, an statt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise zum Facit schreitet, und beym Vernunft-Schluß zur Sache selbst gelanget.“24
Der Gebrauch der Wörter „als Wechsel-Zeddel des Verstandes“ macht diese dann pragmatisch gesehen natürlich eher zu Denk- als zu Repräsentationswerkzeugen. In den Handschriften von Leibniz findet sich sogar eine Notiz, in der ausdrücklich postuliert wird, die Wörter nicht als Geld im Sinne von Münzvorstellungen, sondern im Sinne von Rechenpfennigen zu verwenden. „Die Worth sind wie rechenpfennige bei verständigen und wie geld bey unverständigen. Denn bey verständigen dienen sie vor zeichen, bey unverständigen aber gelten sie als ursachen und vernunfftsgründe.“25
Diese Aussage ist wohl als ein Hinweis darauf zu verstehen, die Wörter nicht im Sinne der damaligen Gelderfahrung als substanzielle Größen wie etwa
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G. W. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken , betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, § 7., Philosophische Werke Bd. 2, S. 674. 25 E. Bodemann (Hrsg.), Die Leibniz-Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, 1899, S.81.
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Edelmetallstücke zu verstehen, sondern vielmehr als operative Größen wie etwa Zahlen. Die Analogisierung, wenn nicht Identifizierung von Wörtern mit Rechenpfennigen ist sicherlich auch als ein Indiz für die Veränderung der Sprach- und Wissenschaftsauffassung im Zeitalter des Rationalismus zu verstehen, in dem die Mathematik mehr und mehr zu einem normativen Leitbild aller Wissenschaften geworden war.26 Rechenpfennige sind rein nominalistisch konstituierte Einheiten, die im Gegensatz zu Münzen keine direkten ikonischen Implikationen haben sollen, sondern allein dazu bestimmt sind, in Denkprozessen rein operative Funktionen zu übernehmen. In all dem dokumentiert sich allerdings ein Verständnis des Denkens, das uns heute recht einseitig erscheint. Denkprozesse werden nämlich weniger als ein sinnbildendes Verfahren verstanden, sondern eher als ein algorithmisches Verfahren, bei dem man weitgehend von konkreten Sachvorstellungen abstrahieren kann, um sich ganz auf Relationierungsprozesse zu konzentrieren. Deshalb hat sich in unserem lebenspraktischen Alltagsdenken auch die Tradition lebendig erhalten, Wörter lieber mit Münzen als mit Rechenpfennigen zu analogisieren. Die Vorstellung von Rechenpfennigen ist im Vergleich zu der von Münzen auch zu reduziert, um die vielfältigen Funktionen von Wörtern und Sprache sinnbildlich veranschaulichen zu können. Gleichwohl hat die Rede von Wörtern als Rechenpfennigen als Abwehrbild auch eine gewisse sinnbildliche Ebene. Sie verdeutlicht nämlich sehr schön, was es heißt, abstraktiv und relational zu denken und etwaige Substanzvorstellungen zu Gunsten von methodischen bzw. nominalistischen Setzungen aufzulösen. Deshalb hat wohl auch Herder die Vorstellung von Rechenpfennigen wieder aufgenommen, um zu verdeutlichen, dass mit der Vernunft bzw. mit einer begrifflich normierten Sprache die Welt nur ansatzweise, aber nicht vollständig erfasst werden kann. „Keine Sprache drückt Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet; eine demütigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unseres Verstandes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt gibt ... Unsre arme Vernunft ist also nur eine bezeichnende Rechnerin wie auch in mehreren Sprachen ihr Name sagt. Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch sein mögen? Nichts minder! Diese Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denkt. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen, mit Schällen und Ziffern: denn daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwei Sprachen auf der Erde kennt ...“ 27
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Vgl. E. Achermann, Worte und Werte, 1997, S. 61 ff. J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, 19642, S. 173–174.
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Auch Hamanns Denken ist wie das von Herder von der grundsätzlichen Skepsis geprägt, dass die Formen der Sprache die Formen der Welt symmetrisch abbilden könnten. Auch er favorisiert nicht ein substanzielles, sondern ein relationales Denken, das sowohl für systematische als auch für historische Bezüge offen ist. In diesem Zusammenhang werden dann auch ihm die Analogien zwischen Zahlen und Wörtern bzw. Münzen und Wörtern interessant. „Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen, und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.“ 28
Die Vorstellung einer Münze ist natürlich ein komplexeres Sinnbild für ein Wort als die eines Rechenpfennigs, weil sie sowohl substanzielle als auch konventionelle Implikationen hat. Die Spannung zwischen Essentialismus und Nominalismus bzw. Konventionalismus bei der Beurteilung von Münzen spielt sicherlich auch bei der Beurteilung von Wörtern bzw. Begriffen eine große Rolle. Das wird sehr deutlich, wenn wir uns näher mit der Prägeproblematik im Hinblick auf Münzen und auf Begriffe beschäftigen.
Die Prägeproblematik Als aus praktischen Gründen der Gebrauch von Warengeld immer mehr in den von Symbolgeld (Münzen, Banknoten) überging, ergab sich die Notwendigkeit, dieses Symbolgeld institutionell zu normieren, zu legitimieren und zu begrenzen, um das Vertrauen in seine Funktion als Tausch-, Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel zu sichern. Sozial legitimierten Institutionen unterschiedlicher Art wuchs die Aufgabe zu, die Herstellung und die Ausgabe von Geldzeichen zu regeln, was die staatliche Vergabe von Münzrechten und die Gründung von nationalen Notenbanken klar dokumentiert. Hinter konventionalisierten Geldzeichen musste ein Garantieversprechen stehen, um die mögliche Differenz zwischen Nominal- und Stoffwert von Geldstücken auszugleichen und diese als Geldzeichen akzeptabel und zirkulationsfähig zu machen. Das Problem der Geldprägung ist sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch zeichentheoretisch sehr aufschlussreich für die Beantwortung der Frage, wie Zeichen aller Art ihren Funktionswert bekommen, wodurch dieser gefährdet wird und wie er sich konkret ausgestalten lässt. Auch bei Sprachzeichen hat man sich zunächst immer die Frage zu stellen, wodurch die konkrete Ausbildung dieser Zeichen motiviert ist und ob sie durch ganz bestimmte Autoritäten legitimiert wird bzw. werden muss. Interessant für die Genese von Münzen ist ein Fall, auf den Simmel hingewiesen hat. Aus einer Kolonie Milets seien Bronzemünzen in Gestalt von
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J. G. Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 71.
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Fischen erhalten geblieben. Man nehme an, dass man dort ursprünglich Thunfische als Warengeld verwendet habe. Aus praktischen Gründen sei man dann dazu übergegangen, Metallstücke in Form von Thunfischen als äquivalente Tausch- bzw. Zahlungsmittel zu verwenden.29 Mögliche Differenzen zwischen dem Stoffwert von solchen Münzen und Thunfischen seien dabei dann praktisch immer solange irrelevant gewesen, wie alle Beteiligten reale Thunfische und Thunfischmünzen als wertäquivalent angesehen und verwendet hätten. Je mannigfaltiger nun die Handelswaren und je weiträumiger die Handelsbeziehungen wurden, desto mehr ergab sich natürlich die Notwendigkeit, den Wert von Einzelmünzen zu differenzieren, um sie als Zahlungsmittel flexibel einsetzen zu können. Bei der Wertsicherung der jeweiligen Münzen konnte man auf die Qualität und die Seltenheit von Edelmetallen (Gold, Silber, Kupfer) zurückgreifen oder auf die rechtliche Legitimierung von Münzen durch bestimmte soziale Institutionen, die über bestimmte Prägebilder gleichsam ein Garantieversprechen für den Wert von bestimmten Einzelmünzen abzugeben hatten. Dieses hatte sich dann insbesondere auf den Feingehalt einer Münze an einem bestimmten Edelmetall (Korn) oder auf ihr jeweiliges Normgewicht (Schrot) zu beziehen. Deshalb wurden Münzen dann auch nicht selten nach ihrer Herkunft (Lübecker Taler), nach ihrer legitimierenden Person (MariaTheresia-Taler) oder nach ihrem Gewicht (Pfund Sterlingsilber) bezeichnet. Je mehr die Münzen an Stoffwert verloren, desto wichtiger wurde das Wertversprechen bzw. die Glaubwürdigkeit der ausgebenden Instanz. Bei der Ausgabe von Banknoten hat sich dieses institutionelle Garantieversprechen in der Verpflichtung der Notenbanken dokumentiert, Geldscheine jederzeit gegen Gold umzutauschen. Dieses Versprechen hat in Deutschland bis 1914 gegolten, obwohl der Nominalwert der umlaufenden Banknoten die eingelagerten Goldvorräte bei weitem überstieg. Gleichwohl stabilisierte das eigentlich fiktive Umtauschversprechen das Vertrauen in das Papiergeld als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel. Der Ersatz von Warengeld durch Symbolgeld hat außerdem dazu beigetragen, dass sich dadurch nicht nur überregionale Wirtschaftseinheiten herausgebildet haben, sondern auch umfassende Sozial-, Staats- und Kulturgemeinschaften, die im Hinblick auf das von ihnen genutzte Geld dann auch als Vertrauensgemeinschaften anzusehen sind. Dort, wo die Prägung von Geld nicht überwacht wird bzw. wo die geldprägenden Institutionen ihre eigenen Normen nicht einhalten, kommt es dann nicht nur zur Falschmünzerei als einer spezifischen Form von Täuschung und Lüge, sondern auch zum Verfall von staatlichen Autoritäten, von Handelsgemeinschaften und Kulturen. Falschmünzerei kann den Falschmünzern ebenso wie die Lüge den Lügnern zwar kurzfristig gewisse Vorteile verschaffen, aber langfristig nur Nachteile, weil das Vertrauen in die Stabilität von gesellschaftlichen Konventionen und Institutionen dadurch weitgehend verloren geht.
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Vgl. G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, 1989, S. 160.
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Die hoheitliche Aufgabe, Münzen zu prägen, ist historisch sehr differenziert ausgestaltet worden. Beispielsweise war im kaiserlichen Rom die Prägung von Gold- und Silbermünzen dem Kaiser vorbehalten, während die Prägung von Bronzemünzen dem Senat und die Prägung von Kleinmünzen lokalen Autoritäten oblag. Dadurch ergab sich der Effekt, dass Gold- und Silbermünzen gut als überregionales Reichsgeld zu verwenden waren, während einfache Münzen oft nur regionale Verbreitung fanden. Das hat dann nicht nur merkantile, sondern auch politische Konsequenzen gehabt, weil die Kaiser ihre Münzprägung auch dazu benutzten, um über Münzbilder und Münzinschriften ihre politische Propaganda schnell über das ganze Reich zu verbreiten, insofern Münzen in der Antike zugleich auch Zeitungsfunktionen haben konnten. Beispielsweise hat Kaiser Trajan eine Münze prägen lassen, die auf der einen Seite die Inschrift aufwies Germania pacata (Germania ist befriedet) und auf der anderen Seite das Bild der personifizierten Germania, die mit einem Ölzweig auf alten Kriegsgerät sitzt. Diese Münzprägung ist politisch aus zwei Gründen besonders interessant. Einerseits wird durch sie nämlich postuliert, dass die Provinz Germania besiegt bzw. befriedet sei, was allerdings faktisch nur dann zutrifft, wenn man unter Germania nicht mehr traditionsgemäß die Region vom Rhein bis zur Elbe versteht, sondern nur die vom Rhein bis zum Limes. Andererseits wurde nahegelegt, dass sich die militärischen Aktivitäten des Kaisers nun problemlos von Germanien nach Dakien verlagern ließen.30 Vergleichbare hoheitliche und politische Implikationen wie bei der Prägung von Münzen hat es auch beim Druck von Banknoten gegeben. Staatliche Institutionen haben für sich im Prinzip das Monopol beansprucht, Geldnoten zu drucken und in Umlauf zu bringen. Die dafür eingerichteten Notenbanken haben immer wieder dafür kämpfen müssen, den Geldumlauf nach ökonomischen und nicht nach politischen Kriterien zu regulieren, um das Geld als soziale Institution stabil zu halten. Wie bei Münzen haben auch bei Banknoten, Bilder und Inschriften dazu gedient, nationale Mythen, Ereignisse, Bauwerke und Personen zu thematisieren, um dadurch das Umlaufgebiet des Geldes auch als einheitliches Staats- oder Kulturgebiet zu kennzeichnen. Bei der Herstellung von Euronoten wurde dann allerdings im Gegensatz zur Prägung von Euromünzen auf nationale Bilder verzichtet. Stattdessen hat man zu typisierenden Repräsentationen von europäischen Baustilen gegriffen, um auf diese Weise die gemeinschaftsstiftende Funktion des Geldes hervorzuheben. Die hoheitliche Ausgestaltung des Prägerechts von Münzen und Banknoten hat natürlich die Wertstabilität dieser Geldformen nicht generell sicherstellen können, sondern allenfalls ihre Akzeptabilität als Zahlungsmittel. Geldwertstabilität war nur dann gegeben, wenn sich das Warenangebot bzw. der Warenwert von Münzen nicht dramatisch veränderten und die Herstellung des
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Vgl. L. Strack, Untersuchungen zur römischen Reichsprägung im 2. Jahrhundert, Teil I, 1931, S. 67 ff.
Zur Semiotik des Geldes
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Geldes regelgemäß erfolgte. Seismografen für die Kaufkraftverschiebungen von Geldeinheiten waren früher die Geldwechsler mit ihrem Überblick über die unterschiedlichen Geldeinheiten und ihrer jeweiligen Kaufkraft, heute sind es die variablen Devisenkurse. Bei der Prägung von sprachlichen Formen bzw. von Begriffen gibt es eine weitgehende Analogie zu der von Münzen bzw. anderen Geldzeichen. Zunächst ist diesbezüglich festzuhalten, dass sich sprachliche Wert-, Begriffs-, Grammatik- und Textformen üblicherweise naturwüchsig im konkreten Sprachgebrauch herausbilden und nicht durch Setzungen konkreter Institutionen. Das hat durchaus Ähnlichkeiten mit der Herausbildung von naturwüchsigen Geldformen in praktischen Tauschgeschäften. Das, was intersubjektiv als ein Geld- bzw. als ein Sprachzeichen funktionierte, war selbstverständlich ein Geld- oder Sprachzeichen. Diese Genese von Geld- und Sprachzeichen hatte allerdings zur Folge, dass die evolutionär gewachsenen Formen in der Regel immer eine begrenzte räumliche und zeitliche Geltung hatten bzw. einen recht kontextabhängigen Gebrauchswert und dass sie sich außerdem auch nur ansatzweise als Formensysteme systematisch durchstrukturieren konnten. Mit dem überregionalen Handels- bzw. Kommunikationsverkehr wuchs dann allerdings zwangsläufig das Bedürfnis nach stabilen und genormten Geld- und Sprachzeichen. Insbesondere im schriftlichen Sprachgebrauch ergab sich die Notwendigkeit zu einer überregionalen Verkehrs- und Kultursprache, in der regionale Besonderheiten in Lexik und Grammatik keinen Platz mehr hatten. Normsetzenden Einfluss gewann in diesen Regulierungsprozessen der Sprachgebrauch von überregionalen Verwaltungskanzleien und von vorbildlichen Persönlichkeiten, wobei letztlich allerdings doch eher pragmatische Funktionalitätskriterien durchschlagend waren als institutionelle Machtkriterien. Gleichwohl ist aber festzuhalten, dass sachlich begründete oder faktische Machtstrukturen diesbezüglich eine große Rolle spielen konnten. Das exemplifizieren die sprachpflegerischen Ambitionen nationaler Sprachgesellschaften und Sprachakademien, aber auch die Sprachmanipulationen politischer und staatlicher Institutionen recht gut. Ebenso wie Münzherren und Münzorte ihren guten Ruf verspielen können, so können auch kulturelle Institutionen ihre guten Ruf als sprachliche Regulierungsinstanzen verspielen. Ähnlich wie Geldformen zu einem anerkannten Maßstab werden können, um den Stellenwert von Waren in einem System von Waren zu bestimmen, so können auch Sprachformen zu einem anerkannten Maßstab werden, um den Stellenwert von Dingen und Vorstellungen im System unserer Welterfahrungen zu qualifizieren. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass weder Geldnoch Sprachformen als absolute Maßstäbe anzusehen sind, sondern allenfalls als historisch bedingte Maßstäbe mit einer begrenzten hypothetischen Geltungs- und Erklärungskraft. Diese müssen ihre Existenzberechtigung im praktischen Gebrauch ständig nachweisen, wenn sie allgemeine Akzeptanz finden wollen. In beiden Fällen suchen wir zwar immer nach Urmaßstäben, aber diese sind nicht so leicht aufzufinden, wie das Urmeter in Paris, das allerdings auch kein natürlicher, sondern ein institutionell gesetzter Maßstab ist.
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Die Sprache als Geld
Der Maßstab für den Wert von Edelmetallmünzen war ursprünglich deren Gewicht und deren Metallreinheit. Der Maßstab für den Wert von Sprachformen lässt sich dagegen nicht so leicht ermitteln und operational handhaben. Letztlich wird er aber wohl weniger aus der begrifflichen Substanz der jeweiligen Formen abzuleiten sein, sondern eher aus deren kognitiver und kommunikativer Funktionalität und Fruchtbarkeit für bestimmte pragmatische Differenzierungs- und Informationsintentionen. Während sich die pragmatische Funktionalität von Wörtern in den formalisierten Fachsprachen recht gut mit Rechenpfennigen analogisieren lässt, weil sie ja normierte Begriffsmuster auf einer bestimmten Objektivierungsebene repräsentieren, lässt sich die pragmatische Funktionalität von Wörtern in den natürlichen Sprachen eher mit Münzen analogisieren, insofern Wörter Denkmuster repräsentieren, die mehrschichtige Inhaltsebenen haben. Geprägte Münzen haben für uns in der Regel ja nicht nur einen ökonomischen bzw. denotativen Wert, sondern immer auch einen ästhetischen, emotionalen, historischen oder konnotativen Wert. Ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit bleibt nicht ohne Einfluss auf den komplexen Inhalt, der durch sie objektiviert wird. Ihre Seltenheit ist häufig eine spezifische Ursache für eine Wertschätzung, die weit über ihren merkantilen Tauschwert hinaus gehen kann. Deshalb kann man sich auch recht gut Liebhaber von Münzen und historisch gewachsenen Sprachformen vorstellen, aber nicht so gut Liebhaber von Rechenpfennigen oder Fachtermini. Wer einen Sinn für die historisch aufgeladene mehrdimensionale Zeichenhaftigkeit von Münzen hat, der hat wohl auch einen solchen für die mehrdimensionale Zeichenhaftigkeit von Wörtern.
Sprache und Geld als Handlungsmittel Wenn wir nach der Bedeutung eines Wortes fragen, dann erwarten wir üblicherweise, dass durch ein Wort Wahrnehmungsphänomene nicht nur benannt, sondern auch begrifflich näher bestimmt werden. Dementsprechend sind Wörter abgesehen von Eigennamen auch nicht als Stellvertreter für vorgegebene individuelle Größen zu verstehen, sondern vielmehr als Stellvertreter für kognitive Muster bzw. als Begriffsnamen, über die man im konkreten Gebrauch dann allerdings auch exemplarisch auf individuelle Größen Bezug nehmen kann. Dieses im Prinzip referenzorientierte Bedeutungsverständnis ist semiotisch natürlich berechtigt, aber gleichwohl zu eng. Einerseits gerät dabei nämlich aus dem Blick, dass Wörter nicht nur vorgegebene Größen benennen, sondern auch dazu beitragen, bestimmte Vorstellungsgrößen erst intersubjektiv zu konstituieren. Das fällt bei fiktiven Größen (Einhorn, Nixe, Klabautermann) ganz besonders deutlich ins Auge, ist aber eigentlich immer der Fall, wenn wir Begriffe als sozial legitimierte Denkmuster verstehen und nicht als ontisch vorgegebene geistige Seinsgrößen. Andererseits wird dabei unterschlagen, dass im faktischen Gebrauch Wörter auch als Handlungsaufforderungen verstanden werden können bzw. dass sich ihnen bestimmte Handlungsintentionen zuord-
Zur Semiotik des Geldes
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nen lassen, was etwa Ausrufe wie Feuer oder Hilfe sehr deutlich exemplifizieren. Das rein sachreferenziell orientierte Verständnis von Wörtern dokumentiert sich deutlich, wenn wir beispielsweise auch das Wort Geld nur als Bezeichnung für ein Zahlungsmittel verstehen. Diese semantische Reduktion des Wortes Geld auf seine bloße Darstellungsfunktion für ein Tauschmittel und der Verzicht auf die Berücksichtigung weiterer Handlungsfunktionen etwa im Sinne der drei Sprachfunktionen von Bühler hat Wittgenstein sehr schön thematisiert. „Hier ist das Wort, hier ist die Bedeutung. Das Geld und die Kuh, die man dafür kaufen kann.“ 31 Die Wahrnehmung der Sprache als eines vielschichtigen Sinnbildungsmittels, dem nicht nur eine Darstellungsfunktion zugeordnet werden kann, ist uns heute ganz selbstverständlich geworden. Wie steht es nun mit der entsprechenden Wahrnehmung von Geld. Ein polyfunktionales Verständnis von Geld liegt immer dann nahe, wenn wir unser Interesse nicht auf isolierte Geldstücke richten, sondern auf deren konkreten Gebrauch. Für eine solche Sichtweise auf Sprache hat uns insbesondere die Sprechakttheorie aufmerksam gemacht. Sie hat betont, dass wir unser Erkenntnisinteresse beim Sprachgebrauch nicht nur auf den Darstellungsinhalt der jeweiligen sprachlichen Äußerung zu richten haben (propositionaler Gehalt), sondern auch auf die mit ihr verbundene Handlungsintention (illokutive Funktion), die lexikalisch meist nicht explizit thematisiert wird. Während wir uns den propositionalen Gehalt einer Äußerung durch die Frage nach ihrer Wahrheit in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken können, lässt sich ihre illokutive Funktion nur durch die Frage danach erfassen, ob sie geglückt oder missglückt ist bzw. ob sie intentional zutreffend als eine Behauptung, Warnung, Drohung usw. verstanden worden ist.32 Welche Analogien ergeben sich nun, wenn man Geld und Sprache nicht nur als Repräsentationsmittel für Sachinhalte, sondern auch als genuine Einwirkungsmittel in Interaktionsprozessen ins Auge fasst. Zunächst ist diesbezüglich natürlich festzuhalten, dass auch bei dieser Betrachtungsweise die merkantilen Wertbezüge der einzelnen Geldstücke bzw. die referenziellen Sachbezüge der einzelnen Sprachformen immer eine wichtige Rolle spielen, weil die spezifischen Handlungspotenziale der einzelnen Formen natürlich immer davon vorgeprägt werden. Gleichwohl kann man aber ganz ähnlich wie mit Hilfe von Sprache auch mit Hilfe von Geld jemanden überreden, motivieren, drohen usw. Deshalb spricht man ja auch nicht zufällig von einer Sprache des Geldes, die international verständlich sei. Allerdings muss man die diesbezüglichen Geldspiele natürlich ebenso erlernen und beherrschen wie die entsprechenden Sprachspiele.
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L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 120, 1967, S. 68. Vgl. J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, 1972, S. 34 ff., 74 ff. ; J. R. Searle, Sprechakte, 1973, S. 29 ff, 48 ff.
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Die Sprache als Geld
Unter bestimmten Bedingungen kann das Geld die Sprache sogar als Handlungswerkzeug bzw. als dominierendes Interaktionsmittel ganz verdrängen und dann sogar zur primären Basis von erfolgreichen Handlungen werden. Diesen Sachverhalt thematisiert ein Aphorismus von Nestroy sehr schön. „Das Geld ist der Punkt, den Archimedes suchte, um die Welt zu bewegen.“ 33 Aufschlussreich für die Analogisierung des Geldes und der Sprache als genuinen Handlungsmitteln ist auch eine These Luthers, in der er darauf Bezug nimmt, dass Gott mit Worten etwas bewirke und der Teufel mit Geld. „Geld ist das Wort des Satans, durch den er alles in der Welt schafft, wie Gott alles durch das wahre Wort schafft.“ 34
3. Die Tauschproblematik Pragmatisch gesehen ist sicher die Tauschmittelfunktion als Grundfunktion des Geldgebrauchs anzusehen, in deren Gefolge sich dann im Laufe der Zeit eine Reihe von spezifischen Sproßfunktionen mit immer größerer Eigenständigkeit entwickelt haben wie etwa die Maßstabsfunktion, die Abstraktionsfunktion, die Wertaufbewahrungsfunktion, die Sozialfunktion usw. Auf den ersten Blick scheint die Tauschmittelfunktion des Geldes eine rein ökonomische Funktion zu sein. Genauer betrachtet muss sie aber als eine sehr komplexe kulturelle Funktion verstanden werden, insofern das Phänomen Tausch einen genuinen Beitrag zur Konstitution der gesellschaftlichen Welt leistet und das Denken und Handeln aller Beteiligten in einem umfassenden Sinne prägt und ordnet. Der Tausch führt nämlich notwendigerweise zur Entwicklung von ethischen Normen bzw. zur Anerkennung von wechselseitigen Verpflichtungen. Gerade über den Gedanken des Tausches lässt sich auf viele Analogien zwischen Geld und Sprache aufmerksam machen. Diese kann man sich durch die folgenden Stichwörter ganz gut vergegenwärtigen: Abstraktion, Musterbildung, Relationsbildung, Vermittlung, Interaktion, Arbeitsteilung, Steuerung, Konvention usw. All diese Stichwörter exemplifizieren, dass sowohl das Geld als auch die Sprache kulturelle Institutionen sind, die unser Wahrnehmen, Denken und Handeln ganz erheblich präformieren und strukturieren. Wenn wir uns die Sprache über das Sinnbild des Geldes und den Tauschgedanken erschließen, dann dürfen wir die Grenzen dieser Analogie nicht übersehen. Beim Tausch von Waren gegen Waren bzw. von Waren gegen Geld gehen Besitzrechte von einem auf einen anderen über. Das ist beim Austausch geistiger Besitztümer, die sich in Form von Sprache objektiviert haben, nicht so der Fall. Obwohl beim Gebrauch von Sprache Denkinhalte von einer Person
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J. Nestroy, Aphorismen, Sämtliche Werke Bd. 15, 1930, S. 701, Nr. 239. Vgl. auch H. Aust, Sprachspiele des Geldes. Wirkendes Wort, 39, 1989, S. 357–371. 34 M. Luther, Tischreden, Die Werke Martin Luthers, Bd. 9, 19603, S. 254, Nr. 687.
Die Tauschproblematik
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auf eine andere übergehen können, so bleiben sie doch immer auch im Besitz der abgebenden Person. Es kommt hier in einem ganz ursprünglichen Sinne des Wortes zu einer Mitteilung bzw. Kommunikation und nicht zu einer Aufteilung bzw. Transferierung von Besitz. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass der sprachliche Austausch von Inhalten nicht vollständig dem Austausch von Gütern entspricht, insofern zunächst ja nur Zeichenträger weitergegeben werden, deren konkreter semantischer Gehalt von jedem Kommunikanten im Rahmen bestimmter Sinnbildungstraditionen erst konstituiert werden muss. Der Versuch, das pragmatische Leistungsprofil von Sprache mit Hilfe des Tauschgedankens zu thematisieren, hat eine gefestigte Tradition. Im alltäglichen Sprachgebrauch sprechen wir ganz unbefangen von Gedankenaustausch, von Wortwechsel, von bestechenden Formulierungen usw. Der von Kants Transzendentalphilosophie beeinflusste jüdische Philosoph Salomon Maimon hat im 18. Jahrhundert sogar den Begriff Gedankenkommerz geprägt und dadurch klar eine Analogie zwischen Geld- und Sprachgebrauch herausgestellt. „Ich habe schon bei einer andern Gelegenheit die Sprache als Mittel zum Gedankenkommerz unter den Menschen, mit der Münze als Mittel zum eigentlich sogenannten Kommerz verglichen ... So wie die erste Art des Kommerzes unter den Menschen natürlicher Weise der Tauschhandel war, so war auch die erste Art des Gedankenkommerzes eine Art des Tauschens von Gedanken um Gedanken.“ 35
Der Tausch ist Maimon aus zwei Gründen philosophisch wichtig. Einerseits zwinge er dazu, Maßstäbe zu entwickeln, um Worte zu ordnen und Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen. Andererseits motiviere er dazu, Dinge und Erfahrungen definitorisch zu bestimmen und klar voneinander abzugrenzen. „Die Eintheilung der Dinge in Arten und Geschlechter, und die darauf gegründete Einführung der Definitionen in den Gedankenkommerz kann füglich mit der Einführung des Geldes in den gemeinen Kommerz verglichen werden.“ 36
In diesem Zusammenhang denkt Maimon allerdings nicht konstruktivistisch im modernen Sinne. Er warnt nämlich die Philosophen ausdrücklich davor, neue Wörter in die Sprache einzuführen bzw. die Bedeutung der alten willkürlich zu ändern, weil man dabei leicht den Realitätskontakt verlieren könne. „Was aber den Sprachgebrauch anbetrift, so kann freilich der Philosoph keine Münze schlagen, oder den Werth der schon gangbaren nach Willkür verändern, d.h. er kann keine neue Worte in der Sprache einführen, auch nicht die Bedeutung der alten nach Willkür bestimmen. Er kann aber dennoch den Wechselkurs anzeigen.“ 37
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S. Maimon, Philosophisches Wörterbuch, 1791/2003, S. 9. S. Maimon, a.a.O., S. 11. 37 S. Maimon, a.a.O., S. 16. 36
Die Sprache als Geld
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Der Tausch als anthropologisches Phänomen Das Verständnis des Tausches als merkantiles und als anthropologisches Phänomen ermöglicht es uns, fundamentale Ähnlichkeiten zwischen Geld und Sprache klarer zu sehen. Der Tausch ist nämlich ähnlich wie Geld und Sprache auf eine fast paradoxe Weise auf die Gesellschaft bezogen. Einerseits setzt nämlich der Tausch Gesellschaft voraus, insofern es ihn nur gibt, wenn es Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten gibt, die sich bestimmten sozialen Regeln verpflichtet fühlen. Andererseits ist der Tausch ein entscheidender Faktor bei der Ausbildung von Gesellschaft, insofern er dazu beiträgt, dass sich die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft auf interdependente Weise miteinander vernetzen. So gesehen ist der Tausch ein genuin evolutionäres Phänomen, weil er andere elementare Formen des Besitzwechsels wie Geschenk und Raub so ergänzt, dass dadurch neue Formen sozialer Beziehungen und sozialen Zusammenlebens entstehen können. Der Tausch ist als ein genuines anthropologisches Phänomen anzusehen, weil er in dem für den Menschen konstitutiven Spannungsverhältnis von Sozialität und Individualität eine ganz zentrale Rolle spielt. Ohne die Existenz von Tauschverhältnissen wären die Phänomene Geld, Sprache, Arbeitsteilung, Handel, Recht usw. als genuine soziale Phänomene gar nicht denkbar. Der Tausch hat das Relations- und Funktionsdenken entscheidend angeregt und dazu gezwungen, eine Rangordnung von Werten zu entwickeln bzw. Opfer und Gewinn immer gegeneinander abzuwägen. Dabei ist allerdings zugleich auch zu bedenken, dass der Tausch letztlich nur dann einen Sinn hat, wenn sowohl der Gebende als auch der Nehmende einen Gewinn machen bzw. nach dem Tausch besser gestellt sind als vor dem Tausch. Simmel hat nachdrücklich betont, dass der Tausch bzw. die Organisation von Tauschgeschäften eine genuine Kulturleistung sei, bei der einerseits Welt interpretiert und andererseits soziale Interaktionen organisiert würden. Tauschgeschäfte stimulierten sowohl die Ausbildung individueller Fähigkeiten als auch die Strukturierung sozialer Interdependenzen. „Der Tausch ist nicht die Addition zweier Prozesse des Gebens und Empfangens, sondern ein neues Drittes, das entsteht, indem jeder von beiden Prozessen in absolutem Zugleich Ursache und Wirkung des andern ist.“ 38
Tauschbeziehungen sind auch die Voraussetzung dafür, dass sich Arbeit und Arbeitsteilung als Kulturphänomene entfalten können. In Tauschgeschäfte kann man nicht nur das einbringen, was man übrig hat, sondern auch das, was man für den Tausch aufbewahrt oder sogar hergestellt hat. Dadurch verstärkt sich die Tendenz, Vorsorge für die Zukunft zu treffen und differenzierte soziale Beziehungen aufzubauen, was sicher fundamentale Kulturleistungen sind.
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G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, S. 73–74.
Die Tauschproblematik
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Alle Tauschgeschäfte leben von einer dialektischen Spannung. Einerseits lassen sie sich als Formen der Entfremdung ansehen, weil dadurch die Menschen in eine Distanz zu den Dingen, zu ihren eigenen Arbeitsergebnissen und zu ihren Mitmenschen geraten. Andererseits lassen sie sich aber auch als Formen der Integration verstehen, weil auf diese Weise soziale Konventionen und Institutionen ausgebildet werden, durch die Tauschgeschäfte ermöglicht, gefördert und geordnet werden. Wer alles selbst herstellt, was er benötigt, der braucht weder den Tausch noch die Mitmenschen, aber er kann auch nicht alles genießen, was potenziell genießbar ist. Der Tausch hat nun aber nicht nur anthropologische, sondern auch ontologische Implikationen. Durch ihn verdeutlicht sich nämlich, dass die Dinge von den Menschen eigentlich nicht an sich und für sich zu betrachten sind, sondern vielmehr als Elemente von Relationsverhältnissen, in denen letztlich alles mit allem irgendwie verknüpft werden kann oder sogar muss. Deshalb kann dem Tausch auch nicht nur eine große Anregungskraft für die Ausbildung von Geld- und Sprachformen zugesprochen werden, sondern auch für die Ausbildung von immer neuen Denkformen bei der Wahrnehmung von Welt. Das bedeutet, dass Tauschgeschäfte sich nicht nur in der Welt vollziehen, sondern auch in der Lage sind, neue Wahrnehmungsformen für Welt hervorzubringen und damit zugleich auch neue Wahrnehmungswelten. Nun ist zwar prinzipiell einzuräumen, dass im Prinzip alle Formen des Denkens strukturell dadurch bestimmt sind, dass in ihnen Einzelvorstellungen auf spezifische Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden. Aber während in frühen Phasen der Kultur und der individuellen menschlichen Denkentwicklung die Verknüpfung von Einzelvorstellungen weitgehend als Nachvollzug von eigentlich vorgegebenen Beziehungen verstanden wird, betrachtet man das Denken in späteren Phasen der Kultur mehr und mehr als eine experimentelle und konstruktive Aktivität, in der hypothetisch auch neue Vorstellungen erzeugt werden können. Die Herstellung von Relationen dient dann nicht nur zur Repräsentation der Struktur vorgegebener Sachverhalte, sondern auch zum Entwurf neuer Vorstellungen und Sachverhalte bzw. zur Zukunftsvorsorge und zur Ermittlung der Konsequenzen bestimmter Handlungen. Diese Implikationen des Denkens lassen sich sehr schön am Problem der Strafmündigkeit von Kindern exemplifizieren. Die Strafmündigkeit von Kindern hat man heute sehr schematisch, aber gut operationalisierbar, auf die Vollendung des 14. Lebensjahres festgelegt. Frühere Epochen haben sich mit der Entscheidung viel schwerer getan, ab wann ein Kind wirklich die Konsequenzen seines Handelns ermessen kann, wobei nicht selten die Fähigkeit zum Umgang mit Geld eine ganz wichtige Rolle gespielt hat. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Umgang mit Geld bzw. Tauschgeschäfte mit Geld den Kindern in früheren Zeiten natürlich nicht so vertraut waren wie heute. Im Stadtrecht von Lübeck aus dem 15. Jahrhundert findet sich ein interessanter Verfahrensvorschlag, um die Fähigkeit von Kindern zum relationalen Denken zu ermitteln, die man sicherlich auch mit ihrer Strafmündigkeit in
Die Sprache als Geld
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Verbindung bringen kann. Wenn ein Kind unter 12 Jahren ein anderes beim Spielen töte, so solle man folgendermaßen vorgehen: „Der Richter soll einen Pfennig in die eine Hand und einen Apfel in die andere Hand nehmen und sie dem lebendigen Kind vorhalten. Greift es nach dem Apfel, so kann man ihm hinsichtlich der Tat sein kindliches Alter zugute halten; greift es aber nach dem Pfennig, so muß es sein Recht erleiden, wenn nicht die Ratsherren ihm Gnade erweisen wollen (falls die Verwandten des toten und des lebendigen Kindes darum bitten).“ 39
Ein ganz ähnlicher Verfahrensvorschlag findet sich in einem der Grimmschen Märchen, das nur in der ursprünglichen Sammlung zu finden ist (Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben). In diesem Märchen wird erzählt, dass fünf- und sechsjährige Kinder das Schlachten eines Schweins nachgespielt hätten, wobei derjenige Junge, der den Metzger gespielt habe, tatsächlich den Jungen, der das Schwein spielen musste, die Gurgel durchgeschnitten habe. Auch hier wird der Vorschlag gemacht, die Strafmündigkeit des Übeltäters dadurch zu ermitteln, dass er vor die Wahl gestellt wird, zwischen einem schönen roten Apfel und einem rheinischen Gulden zu wählen. „Nehme es den Apfel, so soll es ledig erkannt werden, nehme es den Gulden, so solle man es tödten. Dem wird gefolgt, das Kind aber ergreift den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig erkannt.“ 40
Diese beiden Fälle sind für das Problem des abstraktiven und relationalen Denkens aus folgenden Gründen aufschlussreich. Die Kinder die den Apfel wählen, werden als solche angesehen, die ganz im Banne ihrer unmittelbaren Situation und Eindrücke stehen. Diejenigen, die das Geld wählen, werden als solche angesehen, die in der Lage sind, sich geistig aus der unmittelbaren Situationsbindung zu lösen und sich vorzustellen, dass mit den angebotenen Geldstücken sehr vorteilhafte Tauschgeschäfte in der Zukunft zu machen sind.
Das Geld als Tauschmittel In den semiotischen Überlegungen zum Geld ist schon darauf verwiesen worden, dass im Prinzip jede tauschbare Ware als Geld bzw. als Zahlungsmittel dienen kann. Deshalb hat auch schon Aristoteles betont, dass das Geld genetisch aus dem Tausch erwachse, instrumental dem Tausch diene und final sogar Zweck des Tausches sein könne.41 Offensichtlich ist in diesem Zusam-
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W. Ebel (Hrsg.), Curiosa iuris germanici, 1968, S. 85. J. und W. Grimm, Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe in der Urfassung hrsg. von F. Panzer, 19776, S. 119–120. 41 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133 a ff, Philosophische Schriften Bd. 3, S. 111 ff. ; Politik 1257 a ff. , a.a.O., Bd. 4, S. 17 ff. 40
Die Tauschproblematik
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menhang auch, dass die Nutzung von Waren als Geld bestimmte Tauschgeschäfte sehr erschwert, weil die jeweiligen Waren verderblich, unhandlich, schlecht zu stückeln und wertmäßig nicht gut zu normieren sind. Dieses Problem exemplifiziert sich sehr schön in dem Märchen vom Hans im Glück, der für seine siebenjährigen treuen Dienste mit einem Goldklumpen entlohnt worden war. Diesen tauscht er zunächst gegen ein Pferd, dann das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen eine Schwein, das Schwein gegen eine Gans und schließlich die Gans gegen einen Schleifstein, der ihm allerdings in einen Brunnen fällt, was er aber mit Erleichterung aufnimmt, da er ihn nun nicht mehr tragen muss. Subjektiv verbucht Hans im Glück jedes der Tauschgeschäfte als einen Gewinn, weil es ihm immer gewisse Vorteile zu verschaffen scheint. Dennoch kann von einer Wertäquivalenz der getauschten Waren, deren Einzelwert sich in Geld objektivieren ließe, kaum die Rede sein. Um Tauschgeschäfte zu optimieren, wuchs gerade in arbeitsteiligen Gesellschaften deshalb das Bedürfnis nach einem allgemein akzeptierten Maßstab für die Bewertung von Waren und Dienstleistungen. Insbesondere dass Symbolgeld erwies sich dann als sehr nützlich, um sowohl den objektiven Wert von Waren im Hinblick auf die in ihnen geronnene Arbeitszeit zu bemessen als auch den subjektiven Wert von Waren im Hinblick auf ihre individuelle oder soziale Begehrtheit. So hatte natürlich eine Rüstung in Kriegszeiten einen anderen Wert als in Friedenszeiten und ein Krug Wasser in der Wüste einen anderen als an einem Brunnen. Über genormte Geldstücke ließen sich auch die Dienstleistungen von Ärzten und Schreibern natürlich zufriedenstellender abrechnen als über Rinder oder Oliven. Über die in Geldstücken objektivierte Preise ließ sich auch leichter signalisieren, welche Waren und Dienstleistungen in Zukunft angeboten werden sollten und welche nicht. Außerdem ist zu beachten, dass sich durch Tauschgeschäfte und insbesondere über Tauschgeschäfte mit Hilfe des Geldes neue Wirklichkeitswahrnehmungen und neue Wirklichkeitsebenen erschließen können. Dinge werden nach ihrem Geldwert beurteilt und Berufe entstehen, die sich auf die Herstellung begehrter Waren konzentrieren. Geldbasierte Tauschgeschäfte stimulieren deshalb das relationale Denken und fördern die Ausbildung eines bestimmten Typs von Intellektualität, der sich bemüht, auch die heterogensten Einzelphänomene miteinander in Verbindung zu bringen. Einzelphänomene werden nicht mehr nach ihrem substanziellen Wesen, sondern nach ihrem spezifischen Stellenwert in bestimmten Systemzusammenhängen qualifiziert. Ein typisches Beispiel für die Ausgestaltung des relationalen und dialektischen Denkens im Kontext des sich steigernden Geldgebrauchs ist die Gestalt des Sokrates. Einerseits polemisiert er gegen die Sophisten, die ihre Weisheiten gegen Geld verkaufen und die eher am Marktwert ihrer Aussagen interessiert sind als an ihrem Wahrheitsgehalt. Andererseits polemisiert er aber auch gegen das bloß traditionell übliche Verständnis von Begriffen und gegen schlecht begründete Meinungen. Durch seine berühmt-berüchtigten Was-istFragen will er den natürlichen ideellen Substanzwert von Begriffen in Erfahrung bringen (Tapferkeit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit usw.) und das traditio-
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nell etablierte Wertesystem neu ordnen, was ihm von den Traditionalisten dann den Vorwurf eingebracht hat, Verderber der Jugend zu sein. Obwohl Sokrates eigentlich den ideellen Substanzwert von Begriffen herauszuarbeiten versucht, ist eigentlich nicht zu übersehen, dass er die faktisch gebrauchten Begriffe weniger als monolithische Größen sieht, sondern eher als Bestandteile von Begriffssystemen und damit als relational zu bestimmende Größen. Die evolutionäre Transformation des Warengelds zum universal einsetzbaren Symbolgeld hat bemerkenswerte Implikationen. Während das Warengeld noch als Ware verbraucht werden kann, dient das Symbolgeld als Funktionsgeld nur noch dazu, den Wert von Waren für den Tauschverkehr zu qualifizieren und eben dadurch diesen zu erleichtern. Das bedeutet, dass das Symbolgeld keinen Stoffwert mehr haben muss, da es seine Existenzberechtigung im Prinzip ja daraus zieht, dass es benutzt und in Umlauf gehalten wird. Als Funktionsgeld dient das Geld letztlich nicht mehr dazu, konkrete Bedürfnisse zu befriedigen wie das Warengeld, sondern dazu, Relationen zu stiften und die Bedürfnisbefriedigung der Menschen zu organisieren. Es wird nutzlos, wenn es in Handelsprozessen nicht mehr einsetzbar ist oder wenn es nichts mehr zu tauschen gibt. Dementsprechend lässt sich das Geld als eine genuin funktionale Größe verstehen, die nur in merkantilen Tauschprozessen ihre Gestalt gewinnt und nutzlos wird, wenn es nichts mehr zu tauschen, zu kaufen oder zu verrechnen gibt. Selbst Goldstücke verlieren ihren Geldcharakter, wenn man wie Robinson lebt. So gesehen hat Geld im Gegensatz zu Waren keine Beziehung zu einem bestimmten Zweck, sondern vielmehr zu der Gesamtheit der Zwecke in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Wegen seiner universalen Funktionalität ist das Geld daher ebenso charakterlos wie die Intellektualität, weil es im Prinzip vielen Zecken dienstbar gemacht werden kann. Gerade weil Geld auch als Voraussetzung dafür angesehen werden kann, dass man im Rahmen der Arbeitsteilung vielerlei Zwecke verfolgen kann, ergibt sich ein logisches Problem. Geld lässt sich nämlich sowohl als Mittel als auch als Zweck verstehen bzw. als ein Universalwerkzeug, das nie allein einem einzelnen definierbaren Einzelzweck zuzuordnen ist. Das bedeutet, dass Geld ständig mobil bleiben muss, um seine funktionelle Natur erhalten zu können. In einer arbeitsteiligen Tauschgesellschaft findet Geld deshalb niemals seine letzte Verwendung, weil es gleichsam die Ware aller Waren ist. Auch als Kapital lässt sich Geld nicht dauerhaft, sondern allenfalls vorläufig lagern. „Es ist das einzige Gut in der Verkehrswirtschaft, das niemals den letzten Abnehmer findet, das – begrifflich – ewig umläuft! Es ist nicht selbst ‚Tauschgut’, ein Gegenstand mit eigenem verkehrswirtschaftlichem Wert, sondern es ist ein Werkzeug, ein gesellschaftliches Hilfsmittel zur Bewältigung der Preisbildung und des Warenabsatzes in der Marktwirtschaft: die ‚reine Form der Tauschbarkeit der Dinge’(Simmel).“ 42
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A. W. Cohn, Kann das Geld abgeschafft werden? 1920, S. 17.
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Durch seine universale Verwendbarkeit und liquide Natur eröffnet das Geld unabsehbar viele Handlungsoptionen bzw. Freiheiten bei der konkreten Arbeits- und Lebensgestaltung, was Simmel am Beispiel des Feudalismus sehr schön verdeutlicht hat. Sobald rechtliche und soziale Verpflichtungen (Naturalabgaben Dienstleistungen) in Form von Geld abgegolten werden können, lösen sich die personalen Bindungen zwischen Lehnsherren und Lehnsmännern auf. Der abhängige Bauer hat bei Geldzahlungen nämlich sehr viel größere Freiheiten als vorher, sein Arbeitsleben zu gestalten, seine Produktionsgüter zu bestimmen und diese gewinnbringend zu verkaufen.43 Die Geldwirtschaft bringt so gesehen nicht nur größere individuelle Entscheidungsfreiheiten, sondern fördert zudem auch noch alle Formen zweckrationalen Handelns. Da der Besitz von Geld außerdem noch ganz andere Handlungsmöglichkeiten eröffnet als der Besitz von Grundeigentum, ist es auch als ein Signum von Mobilität anzusehen. Es lässt sich im Prinzip als so etwas wie geprägte Freiheit verstehen, da es einerseits die individuellen Handlungsmöglichkeiten ausweitet, diese aber andererseits auch immer einer ganz bestimmten Zweckrationalität unterwerfen muss. Der Gebrauch von Geld erzeugt so gesehen zugleich auch neue Lebensstile, insofern die Tendenz gefördert wird, die soziale und geistige Welt in dem Sinne zu vergeldlichen, als sie nun tendenziell immer geldkompatibel wahrgenommen und strukturiert wird.44
Die Sprache als Tauschmittel Ebenso wie das Geld ist auch die Sprache als eine evolutionär entstandene kulturelle Institution anzusehen, die weitreichende Folgen für die Ausgestaltung von Lebensstilen hat. Beide Phänomene sind wegen ihrer Polyfunktionalität begrifflich schwer zu fassen und einzuordnen. Einerseits kann man nämlich die Begriffe Geld und Sprache als zusammenfassende Oberbegriffe für konkrete Geld- und Sprachausprägungen verstehen, aber andererseits auch als sehr abstrakte Kategorien, um die Strukturierungskräfte zu bezeichnen, durch die Geld und Sprache hervorgebracht werden bzw. durch die deren jeweiliger Gebrauch gesteuert wird. In bestimmten Kombinationen verwenden wir die Wörter Geld und Sprache dazu, konkrete merkantile oder informative Hilfsmittel zu bezeichnen (Er hat sein Geld verloren. Er spricht mehrere Sprachen), in anderen verwenden wir sie dazu, bestimmte Fähigkeiten zum Gebrauch dieser Hilfsmittel zu thematisieren (Er kann nicht mit Geld umgehen. Er hat die Sprache verloren.). Geld und Sprache sind einerseits Erfahrungsphänomene unter anderen, aber andererseits auch Prämissen dafür, um bestimmte Erfahrungen zu organisieren und sich in der Welt zu behaupten.
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Vgl. G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, 1989, S. 380. Vgl. G. Simmel, a.a.O., S. 380
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Beim Gebrauch der Wörter bzw. der Begriffe Geld und Sprache müssen wir uns vor Kategorienverwechslungen hüten, weil wir mit ihnen sowohl empirische Phänomene bezeichnen können als auch Konzepte für abstrakte Ordnungszusammenhänge. Das Problem einer solchen Kategorienverwechslung hat Ryle in einem aparten Beispiel verdeutlicht. Einem Ausländer, der zum ersten Mal nach Oxford gekommen war, habe man eine Reihe von Colleges, Bibliotheken, Museen und Sportplätzen gezeigt. Dennoch habe er schließlich gefragt, wo denn nun die Universität sei. Er habe nämlich nicht verstanden, dass mit dem Wort Universität nicht unbedingt ein sinnlich fassbares Gebäude bezeichnet werden müsse, sondern durchaus auch die Art und Weise benannt werden könne, in der alles, was er konkret gesehen habe, organisiert sei.45 Aufschlussreich für unser Verständnis von Sprache als Tauschmittel im Sinne von Geld ist auch, dass wir sowohl von einem Geldvermögen als auch von einem Sprachvermögen sprechen. Das ist insofern interessant, als die These, dass das Geld erst dann wirklich Geld wird, wenn es als Geld verwendet, akzeptiert und ausgegeben wird, in analoger Weise auch für Sprache gilt. Die bloße Ansammlung und Kenntnis von Sprachzeichen macht noch kein Sprachvermögen aus. Dazu muss die Fähigkeit kommen, einzelne Sprachmittel in Kognitions- und Kommunikationsprozessen sinnvoll zu verwenden. Geld und Sprache finden erst in konkreten Interaktionsprozessen zu ihrer eigentlichen Bestimmung, aber nicht in der Ansammlung von Geldformen und Sprachformen im Sinne eines toten Kapitals. Gleichwohl ist festzustellen, dass sowohl Geld- als auch Sprachformen konventionalisierte Tauschmittel sind, die auf vorgetaner Arbeit beruhen. In dem Inventar lexikalischer, grammatischer und textueller Sprachmuster repräsentieren sich die Produkte kognitiver Strukturierungsarbeit, die sich historisch als brauchbar erwiesen haben und die eben daher auch im Umlauf geblieben sind. Bei der Verwendung dieser Formen kann jeder auf die Ergebnisse der kognitiven Arbeit seiner Vorfahren zurückgreifen und muss das Rad nicht ständig neu erfinden. Ebenso wie Geldstücke über die Zeiten hinweg nicht immer denselben merkantilen Tauschwert behalten, weil sich die Rahmenbedingungen für Tauschprozesse ändern, so haben auch Sprachstücke über die Zeiten hinweg nicht einen gleichbleibenden informationellen Tausch- bzw. Mitteilungswert, weil sich sowohl die Tauschinteressen als auch die Informationsbedürfnisse der Beteiligten historisch verschieben können. Der Tauschwert von Geld- und Sprachzeichen lässt sich zwar institutionell normieren, aber solche Normierungsprozesse haben nur solange Bestand, wie sich die Interaktionsprozesse normieren lassen, die mit ihnen jeweils verbunden sind. In den formalisierten Fachsprachen lässt sich der kognitive und informative Wert von Sprachzeichen recht gut regulieren, weil die pragmatischen Funktionen dieser Sprachen überschaubar sind. Das ist bei der polyfunktionalen
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Vgl. G. Ryle, Der Begriff des Geistes, 1992, S. 14.
Die Tauschproblematik
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natürlichen Sprache nun aber gerade nicht der Fall, so dass hier der kognitive und informative Wert von bestimmten Sprachzeichen situativ, intentional und historisch ganz unterschiedlich ausfallen kann, was beispielsweise auch der ironische, der bildliche und der andeutende Sprachgebrauch sehr klar veranschaulicht. Gleichwohl ist aber festzuhalten, dass Sprachzeichen immer auch Manifestationsweisen vorab getaner Arbeit sind, die informative Tauschgeschäfte sehr erleichtern, selbst wenn man zugleich auch einräumen muss, dass sie das aktuelle Denken in einem hohen Maße determinieren können. Als kulturell entwickelte Zeichensysteme sind Geld und Sprache im faktischen Gebrauch durch eine spannungsreiche Dialektik geprägt. Durch die Nutzung des Geldes geraten die Menschen in eine gewisse Distanz zu den damit erwerbbaren Waren, weil sie nun immer deren spezifischen Geldwert zu beurteilen haben bzw. zu entscheiden haben, welche Opfer sie für deren Erwerb bringen möchten. Andererseits kommt es durch die Nutzung des Geldes aber auch immer zu einer gewissen Distanzüberwindung, insofern die Dinge nicht nur als Elemente der Außenwelt wahrgenommen werden, sondern zugleich auch als Teile der eigenen Lebens- und Wertewelt. Ähnliches gilt auch von der Sprache. Einerseits geraten auch die Sprachbenutzer in eine Distanz zur Welt, weil sie ihre individuellen Wahrnehmungsinhalte kategorial bzw. sprachlich einordnen müssen, weshalb wir ja auch von einer sprachlichen bzw. begrifflichen Objektivierung der Welt sprechen. Andererseits wird durch den Gebrauch der Sprache aber auch die Distanz der Menschen zur Welt vermindert, insofern ihnen nun die Welt nicht mehr als diffuse Außenwelt erscheint, sondern als interpretierte und strukturierte Lebenswelt. Geld und Sprache teilen miteinander die antagonistischen Tendenzen, Distanzen zu schaffen und zu überwinden bzw. Entfremdungen zu erzeugen und aufzuheben. Beide helfen dabei, dass uns die Außenwelt nicht nur als Welt an sich erscheinen muss, sondern auch als Welt für uns erscheinen kann. Das ist aber nur möglich, wenn Geld und Sprache als kulturelle Zeichensysteme angesehen werden, die auf genuine Weise auf soziale Interaktionen bzw. auf Dialoge angelegt sind. Ebenso wenig wie es ein reines Privatgeld geben kann, ebenso wenig kann es auch eine reine Privatsprache geben, weil Geld und Sprache sowohl entstehungsgeschichtlich als auch pragmatisch als Sozialphänomene zu werten sind. Beide erzwingen immer Kooperation und Gruppenbildung, obwohl sie natürlich auch die Entstehung von Antagonismen fördern. Soziale Interaktionen mittels Geld oder Sprache setzen einerseits immer Differenzen zwischen den Menschen voraus, aber andererseits auch den Willen, diese auf eine für alle akzeptable Weise zumindest partiell auszugleichen. Sie motivieren einerseits zur Arbeitsteilung, aber andererseits auch zur kooperativen Nutzung der Ergebnisse der Arbeitsteilung. Wenn der Gebrauch von Geld und Sprache einmal üblich geworden ist, dann können wir die jeweiligen Geld- und Sprachsysteme wechseln, aber wir können nicht mehr grundsätzlich aus deren Gebrauch aussteigen, weil sie zur Grundlage unseres kulturellen Lebensstils geworden sind. Die These Cassirers, dass der Mensch eher ein Zeichenwesen (animal symbolicum) als ein Vernunftwesen (animal rationale)
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Die Sprache als Geld
sei,46 gilt deshalb gleichermaßen im Hinblick auf den Gebrauch von Sprache als auch von Geld. Was tauscht man nun gegen Geldzeichen bzw. Sprachzeichen ein? Gegen Geld bzw. gegen Geldzeichen lassen sich Dinge und Dienstleistungen eintauschen, denen man einen bestimmten intersubjektiv akzeptablen Gebrauchsoder Tauschwert zuordnen kann. Gegen Sprachzeichen lassen sich Informationen und Denkperspektiven eintauschen, deren begrifflicher Gehalt auf den Ergebnissen intersubjektiv akzeptabler sprachlicher Objektivierungsarbeit beruht. Ebenso wie Geldformen nicht Stellvertreter für bestimmte Dinge sind, sondern nur Äquivalenzformen für deren sozial akzeptierten merkantilen Wert, so sind auch Sprachformen nicht Stellvertreter für konkrete Dinge, sondern nur Äquivalenzformen von sozial akzeptierten Denkmustern, mit denen auf Dinge und Sachverhalte Bezug genommen werden kann. Deshalb sind Sprachformen immer sowohl in der Welt der Objekte verwurzelt als auch in der Welt der Subjekte als sozialen Wesen. Über Geld und Sprache können nicht nur Dinge in eine Relation zueinander gebracht werden, sondern auch Menschen zu Dingen und zu anderen Menschen. Beide machen die Welt für die Menschen in variabler Weise wahrnehmbar und beeinflussbar.
Zirkulation und Wechselwirkung Funktional betrachtet sind Geld und Sprache prinzipiell auf Zirkulation ausgerichtet und nicht wie Waren auf direkte Nutznießung. Während sich Waren in der Regel über ihre materiellen Eigenschaften definieren, definieren sich Geld und Sprache eher über ihre sozialen Interaktionsfunktionen, weshalb die Materialität von Geld und Sprache auch mehr und mehr hinter ihre soziale Akzeptanz und Funktionalität zurückgetreten ist. Marx hat deshalb zu Recht betont, dass der Zirkulationsgedanke bei stoffwerthaltigem und stoffwertlosem Geld eine je unterschiedliche Rolle spielt. „Während das Gold zirkuliert, weil es einen Wert hat, hat das Papier Wert, weil es zirkuliert.“47 Wenn Geld und Sprache durch Hortung dauerhaft der Zirkulation entzogen würden, verlören sie ihren Zweck und Sinn als kulturelle Zeichensysteme für Interaktionen im sozialen Raum. Beide dürfen nie in die Hand eines letzten Benutzers kommen. Zirkulieren kann Geld und Sprache allerdings nur, wenn es zwischen den jeweiligen Tauschpartnern ein Gefälle zwischen ihrem jeweiligen Güter- bzw. Wissensbestand gibt. Der Gebrauch von Geld und Sprache dient im Prinzip dem Zweck, Differenzen auf einer bestimmten Ebene einzuebnen, was allerdings nicht ausschließt, dass sie sich gerade dadurch auf einer anderen Ebene erhöhen, weil man Tauschgeschäfte ja nur dann macht, wenn man sich davon
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E. Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 51. K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 13, S. 100.
Die Tauschproblematik
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einen individuellen Gewinn verspricht. Wo es keine ausgleichsbedürftige Differenzen gibt wie z. B. im Schlaraffenland oder bei Liebenden, da können Geld und Sprache überflüssig werden. Solange man Geld und Sprache nutzt, kommt es zu Wechselwirkungsprozessen, die weder zu einer vollkommenen Egalität noch zu einer vollkommenen Differenz zwischen den Partner führen, sondern nur zu einem labilen Fließgleichgewicht, das sich ständig erneuern muss. Einerseits resultieren Geld und Sprache aus Arbeitsteilungsprozessen, andererseits dienen Geld und Sprache aber auch dazu, die so bedingten Unterschiede wieder auszugleichen. Deshalb lassen sich beide Phänomene auch mit dem Spielgedanken in Verbindung bringen, da jedes Spiel davon lebt, in Interaktionsprozessen sowohl Differenzen zu erzeugen als auch auszubalancieren. Wenn es extrem ungleiche Partner mit unvereinbaren Handlungsintentionen gibt, dann kommt kein Geld-, Sprach- oder Spielfluss zustande, in dem alle Beteiligten ihre Kräfte entfalten können bzw. aus dem letztlich alle Gewinn ziehen. Nur wer schon ein gewisses Geld-, Sprach- und Spielvermögen hat, kann sinnvoll in Interaktionsprozesse eintreten, in denen diese Phänomene sich weiter entfalten können. Ebenso wie die Überindividualität eines Spiels aus seiner Interindividualität hervorgeht, so tun das auch Geld und Sprache. Das Streben der Menschen nach einer Vergrößerung ihres Geld- und Sprachvermögens ist letztlich wohl auch ein Streben danach, ein universal nutzbares Werkzeug in die Hand oder gar in die Gewalt zu bekommen bzw. eingeschränkte Lebensmöglichkeiten und Lebensformen irgendwie zu überwinden. Mit Geld kann man seine materielle Lebenswelt ausweiten und mit Sprache seine geistige. Mit Geld und Sprache kann man sich im Prinzip an alle wenden bzw. alles mit allem in Verbindung bringen. Die Sehnsucht nach einem größeren Geld- und Sprachvermögen in der arbeitsteiligen Lebenswelt lässt sich strukturell vielleicht auch mit der Sehnsucht nach mehr Philosophie vergleichen. Auch von ihr als Wissenschaft von den Wissenschaften wird erwartet, dass sie die Ergebnisse der arbeitsteiligen Einzelwissenschaften wieder in größeren Zusammenhängen miteinander in Beziehung setzen soll. Sie repräsentiert eine Sehnsucht danach, mit den Folgen des arbeitsteiligen Denkens fertig zu werden und deren Ergebnisse in ein fruchtbares Interaktionsverhältnis zu bringen. Dieses Streben, überall zu Hause zu sein, ist allerdings nur dann denkbar, wenn sich die Philosophie selbst dem Prozess der Arbeitsteilung so wenig wie möglich unterwirft, obwohl oder weil sie ja weitgehend gerade aus diesem hervorgegangen ist. Marx hat betont, dass sich in merkantilen Tauschprozessen letztlich alles in Geld verwandle, weil es käuflich und kaufbar werde. „Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen.“48 Ähnliches lässt sich wohl auch im Hinblick auf die Zirkulation des Wissens mit Hilfe von Sprache sagen. Auch hier muss
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K. Marx, Das Kapital, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 13, S. 145.
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Die Sprache als Geld
sich alles in Sprache verwandeln, um zirkulieren zu können. Was man nicht in sprachlichen Zeichen, welcher Art auch immer, objektivieren kann, das lässt sich intersubjektiv recht schwer vermitteln. Nur mathematische Zeichen können hier auf bestimmten Gebieten der Sprache den Rang ablaufen. Die semiotischen Transformationen von einzelnen Phänomenen in Geld oder Sprache kann man auf negative Weise als Entfremdungsprozesse verstehen, durch die Substanzerfahrungen erschwert oder gar unmöglich gemacht werden. Dazu neigte offenbar Marx als er eine Äußerung von Sismondi positiv aufnahm. „Der Handel hat den Schatten vom Körper getrennt und die Möglichkeit eingeführt, sie getrennt zu besitzen.“49 Man kann sie aber auch positiv als Kulturprozesse deuten, welche Chancen eröffnen, sich aus den Zwängen der unmittelbaren pragmatischen Weltbezüge zu befreien und eine Distanz zur Welt zu finden, die dann erst deren Interpretation ermöglicht. Wenn man geldliche und sprachliche Tausch- und Transformationsprozesse in dieser doppelten Perspektive sieht, dann kann man mit Hegel und Marx diese als beschleunigende Katalysatoren für historisch zwangsläufige Entwicklungsprozesse werten, da sie einerseits Widersprüche verdeutlichen und andererseits eben dadurch auch wieder Interaktionsprozesse auslösen, die zu etwas Neuem führen. Dieser dialektische Prozess lässt sich vielleicht im Anklang an eine Äußerung Hegels über die Selbsttötung auf folgende ambivalente Formel bringen: Man nimmt sich das Leben und gibt sich den Tod.50 Das Phänomen der Wechselwirkungen beim Gebrauch von Geld und Sprache kann letztlich als ein apriorisches oder metaphysisches Prinzip verstanden werden, das eigentlich jeden Zeichengebrauch prägt und das anthropologisch gesehen auch von ganz fundamentaler Bedeutung ist. Deshalb ist auch immer wieder postuliert worden, dass das Ich nicht ohne das Du denkbar sei. Platon hat daher sein philosophisches Denken auch nicht in Form von monologischen Abhandlungen konkretisiert, sondern in Form von Dialogen, weil er es nicht als Lehre von etwas verstanden wissen wollte, sondern als Hilfe dazu, in sinnbildende Denk- bzw. Interaktionsprozesse einzutreten. Im Theaitet lässt er daher den Fremden sagen, Denken und Reden seien letztlich identisch. „Also Denken und Reden sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, Denken genannt worden ist.“51 Vor diesem Hintergrund ist auch nicht überraschend, dass Sprachtheoretiker immer wieder betont haben, dass die sinnbildende Kraft der Sprache sich erst in dialogischen Wechselwirkungsprozessen voll entfalten könne, wenn Subjekte nicht nur Bezug auf Objekte nehmen müssten, sondern auch auf andere Subjekte. Insbesondere Humboldt hat ebenso wie Hamann darauf verwiesen, dass die dialogische Interaktion als Ursprung der Sprache anzusehen sei.
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K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1971, S. 131. Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 274. 51 Platon, Theaitet 263 e, Werke Bd. 4, S. 239. 50
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„Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren ... “ „Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache.“ 52
Als evolutionär entwickelte kulturelle Institutionen gleichen sich Geld und Sprache pragmatisch gesehen in hohem Maße. Beide können in Interaktionsprozessen konstruktive und destruktive Wirkungen entfalten. Beide sind bei ihren Vermittlungsfunktionen von Reibungsverlusten geprägt. Aber ohne den Gebrauch von Geld und Sprache gäbe es weder in der ökonomischen noch in der geistigen Welt eine erkennbare Dynamik und Entwicklung.
4. Die Wertproblematik Da das Geld sowohl genetisch als auch funktional immer eine große Rolle gespielt hat, um Dingen einen Wert zuzuordnen und um erarbeitete Werte für eine spätere Nutzung aufzubewahren, lohnt es sich, danach zu fragen, ob auch der Sprache eine ähnliche Aufgabe zugeordnet werden kann. Allerdings werden wir dabei zu berücksichtigen haben, dass der Wertbegriff im Hinblick auf Geld sicher etwas anders zu akzentuieren ist als im Hinblick auf Sprache. Bei Waren und Dienstleistungen wird üblicherweise zwischen einem Gebrauchswert, der aus der Funktionalität eines Phänomens resultiert, und einem Tauschwert, der aus seiner jeweiligen Begehrtheit resultiert, unterschieden. So hat beispielsweise die Ware Wasser einen ziemlich gleichbleibend faktischen Gebrauchswert für die Menschen, aber je nach Angebot und Nachfrage einen recht variablen Tauschwert. Im Hinblick auf Sprache lassen sich die beiden Analysebegriffe Gebrauchswert und Tauschwert nur eingeschränkt nutzen, um den Wert von sprachlichen Zeichen in menschlichen Lebenszusammenhängen zu qualifizieren. Hier hilft vielleicht der Begriff Repräsentationswert im Sinne eines Vergegenwärtigungs- und Vorstellungswertes weiter. Mit dem Begriff des Repräsentationswertes lässt sich auf die Vermittlungsfunktion von Zeichen zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre aufmerksam machen, mit der zugleich immer eine Interpretationsfunktion verbunden ist. Kulturell entwickelte Zeichen aller Art sind mit Bühler immer als geformte Mittler anzusehen, die Sachverhalte in einer bestimmten Wahrnehmungsperspektive intersubjektiv zu objektivieren versuchen und die deshalb auch einen bestimmten kognitiven und kommunikativen Wert für ihre jeweiligen Nutzer haben. Deshalb ist auch die Vorstellung von privaten Geldund Sprachzeichen schon ein Widerspruch in sich, weil die mit Zeichen ver-
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W. von Humboldt, Ueber den Dualis, Werke Bd. 3, S. 137–138 und S. 139.
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Die Sprache als Geld
bundenen Differenzierungen und Informationen von vornherein in eine Sozialsphäre gehören, in der sie eine intersubjektive Gültigkeit beanspruchen. Die Welt der Zeichen bzw. die durch Zeichen repräsentierten Inhalte oder Werte bilden eine Art Eigenwelt zwischen der Welt der gegebenen Objekte auf der einen Seite und der Welt der denkenden und handelnden Subjekte auf der anderen. Diese Zwischenwelt muss sich zwangsläufig eine interne, intersubjektiv verständliche Systemordnung geben, um ihre Funktion als soziale bzw. kulturelle Institution erfüllen zu können. Diese Zeichenwelt können wir nur adäquat erfassen, wenn wir neben objektbezogenen ontologischen und subjektbezogenen psychologischen auch systembezogene semiotische Wahrnehmungsinteressen berücksichtigen. Die von kulturellen Zeichen repräsentierten Inhalte bzw. Werte sind prinzipiell historisch wandelbare Größen. Sie sind immer in sehr komplexe Prozesse der Traditionsbildung und der Traditionsauflösung sowie der Systemfestigung und der Systemvariation eingebunden.
Werte in objekt- und substanzorientierter Sicht Die spontane Wahrnehmung und Beurteilung von Erfahrungsphänomenen ist in der Regel objekt- bzw. sachorientiert. Wir gehen davon aus, dass unsere jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände ein stabiles vorgegebenes Wesen haben, das bestimmt, wie sie begrifflich zu objektivieren und in welche Relationsgeflechte sie einzuordnen sind. Die mit ihnen verbundenen Geltungswerte werden ihnen so gesehen nicht konstruktivistisch zugewiesen, sondern vielmehr rezeptiv an ihnen abgelesen. Dieses Wertverständnis überträgt sich dann auch auf die Zeichen, mit denen wir uns diese Phänomene jeweils intersubjektiv zu repräsentieren versuchen. Ein solches Substanzdenken tritt auch bei stoffwerthaltigen Geldformen bzw. Geldzeichen sehr deutlich hervor. Die Waren und das Geld, mit dem diese erworben werden können, werden im Prinzip als wertmäßig äquivalent angesehen. Dieses Denken hat im Mittelalter ontologisch und theologisch zu der Theorie des gerechten Preises geführt. Dieser war dadurch bestimmt, dass er in Tauschgeschäften eigentlich nur dokumentiert, aber nicht über Angebot und Nachfrage auf dem Markt erzeugt wurde. Ein solches Verständnis des Preises als Wertobjektivierung mittels Geld schließt ein, dass der Preis ontologisch als eine Wertrepräsentation verstanden wird und nicht operational als eine indirekte Aufforderung, ein bestimmtes Warenangebot zu vergrößern oder zu vermindern, um auf dem Tauschmarkt den größten Gewinn zu erzielen. Für den substanzorientierten Wert- und Tauschgedanken spielt es eine große Rolle, dass die jeweiligen Tauschgüter und Tauschmittel echt sind, also faktisch genau diejenigen sind, als die sie konkret in Erscheinung treten. Waren und Geldmünzen dürfen in ihren jeweiligen Eigenschaften bzw. in ihrer Substanz nicht verfälscht sein, weil ansonsten der Wertäquivalenz von Gütern und geldlichen Wertzeichen die Grundlage entzogen wäre. Wenn Cowboys in ihre Dollarmünzen und Sportler in ihre Medaillen beißen, dann ist das wohl als
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eine symbolische Handlung zu verstehen, womit die substanzielle Wertäquivalenz von Leistung und Lohn überprüft oder veranschaulicht werden soll. Je mehr sich das Geld vom stoffwerthaltigen Substanzgeld zum stoffwertlosen Funktionsgeld gewandelt hat bzw. von einem ikonischen zu einem symbolischen bzw. konventionellen Zeichen, desto mehr ist das Geld zu einer reinen Verrechnungsgröße in marktorientierten Tauschprozessen geworden. Zugleich haben sich dadurch auch substanzorientierte Wertvorstellungen zugunsten von funktionsorientierten Guthabenvorstellungen verflüchtigt, deren Äquivalenz zu Gütern je nach Marktlage natürlich sehr wandelbar ist. Da das Geld als Verrechnungsmittel keinen Stoffwert mehr haben muss, konnten stoffwerthaltige Geldstücke dann auch problemlos durch bedruckte Papierstücke bzw. durch Zahlen auf einem Konto ersetzt werden. Erst in Inflationszeiten wurde diese Objektivierungsweise von Geld dann zu einem Problem. Wenn wir nun nach den Möglichkeiten fragen, wie sich eine vom substanziell verstandenen Wertbegriff geprägte Geldvorstellung als Sinnbild für Sprache verwenden lässt, dann ergeben sich sehr unterschiedliche Denkmöglichkeiten. Man kann dabei nämlich sowohl auf den ontologischen Status der Namen, auf die phonetische Substanz der sprachlichen Zeichenträger oder auf die kognitive Substanz der lexikalischen, grammatischen und textuellen Sprachmuster Bezug nehmen. Gemeinsam haben alle diese Denkansätze, dass sie eine natürliche Äquivalenz zwischen ontischen und sprachlichen Einheiten annehmen, durch die sowohl ein verlässlicher Weltkontakt garantiert als auch ein elementares Sprachvertrauen gerechtfertigt werden kann. Im archaischen Denken und weit darüber hinaus gehören beispielsweise Name und Person unmittelbar zusammen. Der Name wird nicht als ein künstliches Merkzeichen für eine Person verstanden, der im Prinzip auch durch eine Personennummer ersetzt werden könnte, sondern als ein genuiner Bestandteil der Person selbst bzw. als die Außenseite einer Innenseite. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass in der archaisch-mythischen Denktradition des alten Ägypten der Mensch aus drei Bestandteilen bestehen soll, nämlich aus seinem Leib, seiner Seele und seinem Namen.53 Bei den Naturvölkern gibt es im Rahmen dieses Denkens teilweise noch die Tradition, den Kindern nach der Pubertät einen neuen Namen zu geben, weil man annimmt, dass sich danach auch ihre Identität als Person verändert habe. Ein unmittelbarer Nachhall dieser Namensauffassung zeigt sich auch heute noch in dem Umstand, dass jemand sagt, dass er Hans sei, aber nicht, dass er Hans heiße. Für das archaische Denken gehören Name und Sache so eng zusammen, dass man glaubt, durch das Aussprechen des Namens könne auch die damit benannte Person oder Sache unmittelbar präsent gemacht werden. Deshalb gibt es dann auch Tabuwörter, die man nicht aussprechen darf, weil dadurch das jeweils Benannte nicht nur psychisch, sondern faktisch präsent gemacht wer-
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Vgl. E. Lerch, vom Wesen des sprachlichen Zeichens, Acta Linguistica, 1, 1939, S. 147.
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den kann (Wenn man vom Teufel spricht, dann ist er schon da.). Kinder bekommen oft die Vornamen von vorbildlichen Personen, weil man hofft, dadurch eine gewisse Wertäquivalenz zwischen beiden herstellen zu können. Dieses substanzorientierte Namensverständnis impliziert, dass derjenige, der die Namen von Personen oder Sachen kennt, zugleich auch Macht über die damit verbundenen Phänomene gewinnt, was das Märchen vom Rumpelstilzchen sehr schön illustriert. Auch die Auffassung, dass man das, was man begrifflich eingeordnet hat, zugleich sachlich beherrscht, lebt noch von der Vorstellung einer Äquivalenz von Name und Sache (Gefahr benannt, Gefahr gebannt!). Nicht zufällig wird die besondere Schöpferkraft Gottes im Alten Testament auch dadurch thematisiert, dass er in der Lage ist, allein durch das Wort etwas zu schaffen (Und Gott sprach, es werde Licht! Und es ward Licht.). In all diesen Beispielen dokumentiert sich die unausgesprochene ontologische Auffassung, dass der Eigenname und die Person, aber auch der Begriffsname und die damit bezeichnete Sache substanziell irgendwie zusammengehören und als wertäquivalent angesehen werden können. Cassirer hat diese archaisch-mythische Auffassung folgendermaßen gekennzeichnet: „Die mythische Anschauung der Sprache, die der philosophischen überall vorausgeht, ist durchgehend durch diese Indifferenz von Wort und Sache gekennzeichnet. Für sie ist im Namen jedes Dinges sein Wesen beschlossen. An das Wort und seinen Besitz knüpfen sich unmittelbar magische Wirkungen. Wer sich des Namens bemächtigt und ihn zu gebrauchen weiß, der hat damit auch die Herrschaft über den Gegenstand selbst gewonnen, - der hat sich ihn mit all seinen Kräften zu eigen gemacht.“54
Wie leicht in einem substanzorientierten Sprachverständnis Sprachformen magische Kraft zugeschrieben werden können, zeigt ein Beispiel Grasseggers. Ein biederer Mann habe seinem Arzt dafür danken wollen, dass er ihn durch ein Zauberwort geheilt habe. Er selbst sei eigentlich nur zum Sterben ins Krankenhaus gekommen, aber als der Arzt bei der Visite „moribundus“ (zum Tode bestimmt) gesagt habe, sei er alsbald gesund geworden.55 Auch in der Onomatopoesie bzw. Lautmalerei dokumentiert sich ein substanzorientiertes Sprachverständnis, insofern der Klang von Wörtern dazu benutzt wird, um den jeweils benannten Sachverhalt ikonisch präsent zu machen (Wau-Wau, Kuckuck, klirren). Bei den so gebrauchten Wörtern gibt es zwar immer erhebliche Unterschiede zwischen Wort und Sache, aber dennoch ein substanziell verstandene spezielle Ähnlichkeit, die dann dazu berechtigt, in dem einen zugleich auf ganz natürliche Weise auch das andere zu sehen. Auf eine andere Ebene von Wertäquivalenz stoßen wir, wenn wir nach dem Passungscharakter von sprachlichen Begriffsmustern und ontischen
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E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen Bd. 1, 19644, S. 56. Vgl. H. Grassegger, Sprache und Geld... in: Grazer Linguistische Monographien, 11, 1994, S. 58.
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Seinsgegebenheiten fragen. In dem Kapitel über die Sprache als Werkzeug ist ausführlich erörtert worden, warum Platon ein grundsätzliches Vertrauen darauf für denkbar gehalten hat, dass zutreffend gebildete Worte bzw. Begriffe eine natürliche Äquivalenz zu ontischen gegebenen Sachverhalten bzw. Ideen haben könnten. Deshalb lässt er Sokrates sagen: „Das Wort ist also belehrendes Werkzeug, und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes...“ 56 Die Orientierung des Verständnisses von Begriffsnamen an der Stellvertreterfunktion von Eigennamen hat auch noch eine andere nicht unwichtige Konsequenz für das Sprachvertrauen. Die bloße Existenz eines Begriffsnamens scheint immer irgendwie auch die reale Existenz der damit benannten Phänomene zu verbürgen. Umgekehrt scheint eine Sache nicht oder noch nicht richtig zu existieren, wenn sie keinen Namen hat. Dazu passt auch der sprachhistorische Befund, dass im Griechischen der Terminus onoma bei Homer und Hesiod zunächst nur im Sinne eines Eigennamens für eine Person gebraucht worden ist und erst nach und nach auch im Sinne eines Begriffsnamen.57 Von einer substanzorientierten Wertäquivalenz von Sprachformen und Weltformen lässt sich nicht nur auf der Ebene der lexikalischen, sondern auch auf der der grammatischen Muster sprechen. Im naiven Sprachverständnis gehen wir nämlich meist davon aus, dass unsere grammatischen Ordnungsmuster zugleich ontische Ordnungsmuster sind. Die grammatische Strukturierung von Sätzen nach Subjekt und Prädikat scheint der ontischen Differenz zwischen Agens und Actio zu entsprechen und die Aufgliederung komplexer Vorstellungen in Grundgöße und Attributsgröße der Differenz zwischen Substanz und Akzidenz. Den Tempusformen scheinen unterschiedliche Zeitstufen zu entsprechen, den Modusformen unterschiedliche Realitäts- bzw. Gültigkeitsformen und den Genusformen die Kategorien des Tuns und des Leidens. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass die grammatischen Ordnungsmuster eher kulturelle als ontische Ordnungsmuster repräsentieren, deren sachliche Äquivalenzansprüche durchaus diskutiert und problematisiert werden können.58 Grundsätzlich ist zu sagen, dass der Repräsentationswert der grammatischen Sprachformen ebenso wie der der lexikalischen letztlich nicht auf der Ebene einer substanziellen Äquivalenz von Sprache und Welt zu suchen ist, sondern auf einer Ebene, die die Funktionalität von sprachlichen Zeichen beim praktischen Umgang der Menschen mit der Welt betrifft. Wenn wir aber bei der Diskussion des Wertgedankens auf die Vorstellung von pragmatischen Funktionen Bezug nehmen, dann ist klar, dass wir die Wertproblematik in Bezug auf sprachliche Zeichen ebenso wie bei geldlichen Zeichen eher subjektorientiert als objektorientiert zu diskutieren haben bzw. eher pragmatisch als ontisch. Dasselbe gilt auch für textuelle Muster bzw. für Textsorten. Auch
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Platon, Kratylos 388 b–c, Werke Bd. 2, S. 131. Vgl. M. Kraus, Name und Sache, 1987, S. 27 ff. 58 Vgl. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 217 ff. 57
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diese sind eher als pragmatisch motivierte Kulturformen für die Objektivierung bestimmter Denkweisen über etwas zu verstehen denn als ontisch bedingte Naturformen der sprachlichen Darstellung von etwas Gegebenen.
Werte in subjekt- und funktionsorientierter Sicht Die evolutionäre Entwicklung des Geldes vom stoffwerthaltigen Tauschmittel zum stoffwertlosen Verrechnungsmittel für Werte macht das Geld zu einer kulturellen Institution, ohne die eine arbeitsteilige Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen nach Waren und Dienstleistungen gar nicht mehr denkbar wäre. Dieser Entwicklungsprozess zeigt auch, dass der Wert von etwas nicht allein als eine Naturgegebenheit von der Objektseite her zu bestimmen ist, sondern als eine Kultur- und Marktgegebenheit auch von der Subjektseite her ins Auge zu fassen ist. Das Geld muss so gesehen mit Knapp tatsächlich als ein Geschöpf der Rechtsordnung angesehen werden oder noch umfassender als ein Geschöpf der Kultur- und Sozialordnung, das von der Summe seiner möglichen Wirkungen und Funktionen her zu bestimmen ist. Wenn man so denkt, dann ist auch klar, dass es keine sinnvolle ahistorische Definition des Geldes geben kann und dass Marx mit seiner schon zitierten These Recht hat, dass im Laufe der Geschichte das funktionelle Dasein des Geldes sein materielles absorbiert habe.59 Ebenso wie man in einer funktional orientierten Denkperspektive den Wert eines Schiffes nicht aus seinem Holzoder Metallwert ableiten kann, so kann man auch den Wert einer Geldgröße in funktionaler Sicht nicht aus seinem möglichen Materialwert ableiten, sondern nur aus seinen Wirkungsmöglichkeiten. Diesen Tatbestand hat Marx in folgendem Bild einprägsam verdeutlicht. „Das Gold hat nicht wie Peter Schlemihl seinen Schatten verkauft, sondern kauft mit seinem Schatten.“ 60 Da Geld funktional gesehen für die Menschen Kaufkraft repräsentiert bzw. Optionen für die Inbesitznahme von etwas anderem, zwingt es immanent dazu, den Wert von Waren und Dienstleistungen auszuhandeln und durch Preise zu präzisieren. Dadurch wird dann zugleich gesellschaftlich signalisiert, was gepflegt, aufbewahrt und produziert werden soll und was nicht bzw. wie man zu handeln hat und wie nicht. So gesehen spielt also das Geld eine ganz wichtige Rolle dabei, die Realität zu interpretieren und die Naturwelt zu einer Kulturwelt zu machen. Wenn Geld verwendet wird, dann wird die Welt in gewisser Weise auch für den Menschen geldförmig, weil das Geld zu einer Wahrnehmungsbrille werden kann. Die über Geld bzw. Preise konstituierten Werte sind deshalb auch nicht ewige Werte, sondern im Prinzip veränderbare Werthypothesen, die immanent auch mit Handlungsanweisungen verknüpft sind.
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Vgl. K. Marx, Das Kapital, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 23, S. 143. K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: K. Marx / Engels, Werke, Bd. 13, S. 95.
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Dialektisch gesehen regt die Rasterung der Welt nach dem Maßstab des Geldes immanent dazu an, alternative Ordnungs- und Wertvorstellungen zu entwickeln bzw. andersartige Werthierarchien. Gerade die Wertmaßstäbe der Religion, Ethik und Ästhetik gewinnen ja oft ihr Selbstverständnis und Gewicht gerade in ihrer Opposition zu dem Wertmaßstab des Geldes. Das exemplifiziert sich sehr schön in der Reaktion des in einer Tonne lebenden Philosophen Diogenes auf ein wohl pekuniär gemeintes Angebot von Alexander dem Großen. Als dieser ihn nämlich fragte, was er ihm denn Gutes tun könne, soll er geantwortet haben, er möge ihm doch bitte aus der Sonne treten. Funktional vorgenommene Wertzuordnungen können oft mehr über die Denk- und Lebenswelt der jeweiligen Subjekte als über die Seinswelt der jeweiligen Objekte besagen. Das fällt allerdings deswegen nicht so deutlich auf, weil die entsprechenden Wertzuordnungen meist nicht individuell vorgenommen werden, sondern im Rahmen kultureller Bewertungstraditionen. Werte scheinen sich auch erst dann individuell wirklich zu festigen, wenn sie mit anderen geteilt werden bzw. wenn sie intersubjektive akzeptiert werden. Die Umwertung von Werten durch subjektive Willensentscheidungen ist nicht so einfach, wie es sich Nietzsche vorgestellt hat, insofern Werte immer Resultanten aus unterschiedlichen Intentionalitäten verkörpern. Marx hat deshalb zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass über die Wertzuordnung jedes einzelne Arbeitsprodukt zu einem hermeneutischen Problem werden kann. „Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eigenen gesellschaftlichen Produkts zu kommen, denn die Bestimmung der Gebrauchsgegenstände als Werte ist ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache.“ 61
Wie lässt sich nun Geld als Mittel, merkantile und kulturelle Werte zu objektivieren, mit der Sprache als Mittel analogisieren, semantische und kulturelle Werte zu objektivieren? Um diese Frage zu beantworten, können die realistischen und nominalistischen Denkpositionen im mittelalterlichen Universalienstreit eine wertvolle Hilfe leisten. Nicht zufällig ist ja auch in der Geldtheorie einerseits von den Begriffen des Realismus, Essentialismus oder Metallismus und andererseits von denen des Nominalismus, Konventionalismus und Chartalismus Gebrauch gemacht worden. Im mittelalterlichen Universalienstreit ging es um das Problem, ob unsere grundlegenden Denkkategorien bzw. die Grundbegriffe unserer Sprache (universalia) als Abbilder einer vorgegebenen Realität zu verstehen sind, die sich am Wesen der Dinge orientieren, oder als Konstrukte der Menschen, die sich an deren Unterscheidungs- und Ordnungsinteressen ausrichten. Für die Aufklärung der mit Geld und Sprache verbundenen Medienproblematik ergeben sich aus dem Denkrahmen des Universalienstreites folgende Interpretationshilfen.
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K. Marx, Das Kapital, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 23, S. 88.
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Das traditionelle essentialistische Wesensdenken ist sowohl im Hinblick auf das Geld als auch im Hinblick auf die Sprache der Überzeugung, dass die zu erfassenden Dinge ein bestimmtes Wesen und damit auch einen bestimmten Wert haben, der sich im Prinzip passgenau durch Geld oder Sprachzeichen erfassen und objektivieren lässt. Demgegenüber geht das nominalistische Funktionsdenken davon aus, dass den Gegenständen des Denkens kein natürliches Wesen und kein natürlicher Wert zugeschrieben werden kann, der sich über Geld- und Sprachzeichen passgenau objektivieren lässt. Man ist vielmehr der Auffassung, dass die Subjekte Geld- und Sprachzeichen verwenden, um etwas nach ihren Bedürfnissen aus dem Kontinuum der Welt herauszudifferenzieren und als Denk- bzw. als Wertgrößen für potenzielle Handlungsprozesse zu objektivieren. Bei diesem Vorgang kann dann sowohl auf unabweisbare empirische Sacherfahrungen Bezug genommen werden als auch auf ganz spezifische individuelle oder kulturelle Unterscheidungsbedürfnisse. Der nominalistische Denkansatz impliziert, dass Geldformen, Geldstückelungen und Preise ebenso wie Sprachformen, Begriffsmuster und Wortverwendungen im Prinzip als subjekt- und funktionsorientierte Konstrukte anzusehen sind, die die Menschen entwickelt haben, um erfolgreich mit den Gegebenheiten umzugehen, mit denen sie sich faktisch konfrontiert sehen. Ebenso wie man in der Geldtheorie zwischen dem jeweiligen Geldmittel, dem jeweiligen Geldwert und der jeweiligen Referenz des Geldes als Kaufmittel unterscheiden kann, so wird auch im nominalistischen Sprachdenken des Mittelalters zwischen dem jeweiligen Lautereignis (vox), dem jeweiligen Begriff (conceptus) und der jeweiligen Referenz (res) eines Sprachmittels unterschieden. In der Moderne hat Hörisch zu bedenken gegeben, dass die faktische Welt nicht anders wäre, wenn plötzlich das Geld aus ihr verschwände, und dass für die Menschen doch alles ganz anders würde, weil sie sich nicht mehr so orientieren könnten wie vorher. „Gäbe es schlagartig kein Geld mehr, so wäre alles so wie in der Stunde zuvor: kein Haus, keine Frucht, kein Gut, keine Ware, kein Seiendes (außer eben den Münzen, Scheinen, Schecks, Wechseln, Sparbüchern, Aktien etc.) würde fehlen. Und doch wäre sofort alles ganz anders. Die Welt wäre gänzlich unlesbar geworden und verschwände im Taumel einer universalen, entstrukturierenden Desorientierung.“ 62
Die These von Hörisch, dass die Welt ohne Geld unlesbar wäre, ist sicherlich eine didaktische Überspitzung. Sicher ist nur, dass die Welt bei einer Eliminierung des Geldes anders zu lesen wäre bzw. anders gelesen werden könnte. Die Sprache hat diesbezüglich eine noch viel elementarere Strukturierungsfunktion als das Geld. Beispielsweise könnten wir uns das Paradies ganz gut ohne Geld vorstellen, aber wohl kaum ohne Sprache. Gleichwohl wäre aber auch einzuräumen, dass die Sprache im Paradies zwar als praktisches Verständigungs-
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J. Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, 1998, S. 67.
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und Handlungsmittel genutzt werden könnte, aber wohl nicht dazu verwendet würde, hypothetische Spekulationen über die Struktur der Welt anzustellen. Als die Menschen damit unter dem Einfluss der Schlange begannen, wurden sie ja prompt aus dem Paradies verwiesen und mussten fortan in einer Welt der Arbeit, der Kultur, der Geschichte und damit letztlich auch des Geldes leben. In der Arbeits- und Kulturwelt wächst nicht nur die Unruhe darüber, ob das Geld vertrauenswürdig ist, sondern auch darüber, ob die Sprache es ist. Falschgeld und Lüge gehören eigentlich nicht in die ahistorische Lebenswelt des Paradieses, aber sehr wohl in die historische Lebenswelt der Kultur. In dieser Welt existieren Geld und Sprache nicht einfach wie Pflanzen und Tiere, sondern müssen entwickelt, und bewahrt werden. Außerdem müssen sie ihre Tauglichkeit ständig beweisen. Das ist nur möglich, wenn die Formen, die Strukturen und die Gebrauchsweisen des Geldes und der Sprache ständig gepflegt und reguliert werden, um deren Effektivität und Funktionalität als kulturelle Werkzeuge und Institutionen sicherzustellen.
Werte in systemorientierter Sicht Je mehr sich Geld und Sprache als kulturelle Institutionen festigen, einen desto stärkeren Druck gibt es, dass sie sich als Zeichensysteme konsequent durchstrukturieren, um für ihre Nutzer gut handhabbar zu werden. Je mehr sich ihr Funktionsspektrum ausweitet, desto mehr werden sie zu Medien, deren Substanzwert hinter ihren Funktionswert zurücktritt. Deshalb eignen sich Geld und Sprache gut dazu, um die Differenz zwischen dem Substanz- und Funktionsdenken bzw. zwischen dem Wesens- und Strukturdenken zu verdeutlichen. Auf diesen Problemzusammenhang hat, wie schon erwähnt, Hamann sehr deutlich aufmerksam gemacht. „Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen, und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.“63 Auch Humboldt hat betont, dass die sprachlichen Einzelelemente ihren Wert aus ihrem latenten und aktuellen Korrelationszusammenhang gewinnen. „Es giebt nichts Einzelnes in der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Theil eines Ganzen an.“64 So gesehen lässt sich der Funktionswert von Geldund Sprachformen nur aus ihren traditionellen und konkreten Relationszusammenhängen beschreiben, aber nicht aus ihrer substanziellen Individualität. Bei der Beurteilung von Geldformen haben wir nicht nur auf diese selbst zu schauen, sondern auch auf ihre möglichen Konkurrenzformen. Bei der Verwendung von Warengeld müssen wir etwas über die Begehrtheit und die Haltbarkeit der jeweiligen Waren wissen. Bei der Beurteilung von Münzgeld müs-
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J. G. Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, Sämtliche Werke Bd. 2, 1950, S. 71. W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium ..., Werke Bd. 3, S. 10.
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sen wir etwas über die Reinheit ihres Metalls, ihre Stückelung und ihre Umtauschbarkeit in andere Geldformen wissen. Bei der Beurteilung von Papiergeld müssen wir etwas über seine Beglaubigung und über seinen jeweiligen Kurswert wissen. Bei der Beurteilung von Wechseln, Schuldscheinen und Krediten müssen wir etwas über ihre Umtauschmöglichkeiten in Bargeld wissen. In früheren Zeiten waren die Kaufleute und insbesondere die Geldwechsler diejenigen, die ein umfassendes Wissen über den Gebrauchswert einzelner Geldstücke und Geldformen hatten. Ihre Berufe schulten sie im relationalen Denken und sensibilisierten sie dafür, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was als solche angeboten wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es deshalb auch nicht, dass de Saussure, der Stammvater der strukturellen Sprachwissenschaft und Systemlinguistik, zur Erläuterung seines Denkansatzes nicht nur auf die Ähnlichkeit der Sprache mit dem Schachspiel aufmerksam gemacht hat, sondern auch auf die mit dem Geld. Er möchte sich die Sprache als ein „System von bloßen Werten“ vergegenwärtigen und stellt der Sprachwissenschaft die zentrale Aufgabe, diesen Systemzusammenhang als soziale Tatsache in einer synchronen Denkperspektive zu analysieren. Sprachformen will er nicht substanziell und materiell von einander abgegrenzt wissen, sondern funktionell und konventionell. „In allen diesen Fällen stoßen wir also statt auf von vornherein gegebene Vorstellungen auf Werte, die sich aus dem System ergeben. Wenn jemand sagt, daß sie Begriffen entsprechen, so deutet man damit zugleich an, daß diese selbst lediglich durch Unterscheidungen bestehen, die nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu andern Gliedern des System definiert sind. Ihr bestimmtestes Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die andern nicht sind.“ 65
Das grundsätzliche Verständnis der Sprache als eines Systems von Werten, die sich auf verschiedenen Ebenen von einander abgrenzen und konkretisieren, führt de Saussure zu der Ansicht, dass die materielle Seite der Sprache und des Geldes im Vergleich zu ihrer konventionellen von sekundärer Bedeutung ist. „Die konventionellen Werte haben es alle an sich, daß sie nicht zusammenfallen mit dem greifbaren Gegenstand, der ihnen als Stütze dient. So ist es nicht das Metall eines Geldstücks, das seinen Wert bestimmt; es ist mehr oder weniger wert in der oder jener Prägung, mehr oder weniger diesseits oder jenseits einer politischen Grenze, und das gilt erst recht von dem bezeichnenden Element in der Sprache.“ 66
In diesem Denkhorizont hat de Saussure dann auch einen Bedeutungsbegriff entwickelt, der nicht auf die möglichen Referenzobjekte der Wörter Bezug nimmt, sondern auf deren semantischen Stellenwert (valeur) in einem System von Wörtern. Das hat dann für die Sprachwissenschaft den erleichternden Effekt, dass sie sich bei der Klärung von Wortbedeutungen nicht in ontologi-
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F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 19672, S.139–140. F. de Saussure, a.a.O., S. 141–142.
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sche Probleme verstrickt, insofern sie nun nicht mehr nach dem Realitätsbezug der Wörter zu fragen hat, sondern lediglich danach, welche Inhaltsvorstellungen konventionell mit ihnen verbunden sind. Ganz ähnlich muss man im Hinblick auf das Symbolgeld auch nicht danach fragen, welchen substanziellen Wertbezug es hat, sondern nur danach, welcher Zahlungswert ihm konventionell zugeordnet werden kann. Die Vorstellung, dass ein Phänomen nicht über sein Wesen, sondern über seinen Stellenwert in einem Funktionszusammenhang bzw. in einem System zu qualifizieren ist, führt im Vorstellungsrahmen des substanzorientierten Denkens zu einer gewissen Paradoxie. Man lernt nun nämlich eine Sache nicht dadurch kennen, dass man auf sie selbst schaut, sondern vielmehr dadurch, dass man auf etwas anderes schaut, nämlich auf das, was mit ihr kontrastiv, analogisch oder ergänzend in Verbindung steht. Dieser Tatbestand ist für alle schwer verständlich, die nach Wesenserkenntnis suchen, aber selbstverständlich für alle, die nach Funktionszusammenhängen suchen. In der Sprachwissenschaft hat sich der Begriff des sprachlichen Wertes bei der Bestimmung des Funktionsprofils lexikalischer und grammatischer Formen als sehr nützlich erwiesen. Sowohl in der Lexik als auch in der Grammatik hat man einzelne Formen im Kontext ihrer konventionalisierten Feldordnungen zu bestimmen versucht. Dabei ist allerdings immer zu beachten, dass die Feldordnungen von Sprach- und Geldzeichen nicht statisch sind, sondern sich wie schon Hamann betont hat, nach Zeit, Ort und Kontext ständig ändern können.67
Wertaufbewahrung und Wertzirkulation Das Verständnis des Geldes als Wertaufbewahrungsmittel dokumentiert sich am klarsten im Spargedanken. Man übt aktuell Verzicht auf Konsumgüter und sammelt das entsprechende wertäquivalente Geld, um später darüber verfügen zu können. Dabei wird natürlich damit gerechnet, dass die Kaufkraft des gesparten Geldes stabil bleibt. Realistischerweise haben wir aber immer damit zu rechnen, dass wir zwar Geldstücke bzw. Geldsummen zurücklegen können, aber nicht unbedingt die jeweils entsprechende Kaufwerte, weil sich die Kaufkraft des gesparten Geldes im Laufe der Zeit durchaus verändern kann. Bei stoffwerthaltigen Geldformen kommt es in der Regel weniger leicht zu Kaufkraftverlusten als bei stoffwertlosen Geldformen, weil erstere gegen Geldmanipulationen und Fälschungen weniger anfällig sind als letztere. Aber die gesteigerte Produktion von Tauschwaren bzw. von Edelmetallen kann auch bei stoffwerthaltigen Geldformen zu Kaufkraftverlusten führen. Grundsätzlich ist allerdings festzuhalten, dass zur optimalen Funktionalität des Geldes als eines Mittels der Wertmessung und der Wertaufbewahrung immer das Vertrauen
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Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 333 ff.
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gehört, dass am Geld selbst keine Manipulationen vorgenommen werden. Dasselbe gilt ja auch für die optimale Funktionalität einer Waage als eines Mittels zur Gewichtsmessung. Wenn wir uns nun mit dem Problem beschäftigen, ob die Sprache in ähnlicher Weise wie das Geld als Wertaufbewahrungsmittel dienlich sein kann, dann hilft vielleicht folgende Frage weiter. Unter welchen Bedingungen eignet sich die Sprache dazu, Denk- und Wissensinhalte so zu objektivieren und zu speichern, dass sie für eine spätere Nutzung zur Verfügung stehen, und unter welchen Bedingungen wird das erschwert? In diesem Zusammenhang lässt sich vorab grundsätzlich sagen, dass wir im Prinzip immer ein großes Vertrauen in die Wert- bzw. Informationsaufbewahrungsfunktion der Sprache haben, weil wir diese sonst gar nicht tradieren oder gar schriftlich fixieren würden. Die Aufbewahrungsfunktion von Werten bzw. von Kaufkraft durch Geld ist durch eine spezifische Ambivalenz geprägt, die deutlich hervortritt, wenn wir die privatwirtschaftlichen und die volkswirtschaftlichen Aspekte des Geldsparens ins Auge fassen.68 Privatwirtschaftlich ist das Sparen als Konsumverzicht und Kaufkraftaufbewahrung sinnvoll, insofern dadurch Geld aus dem Umlauf gezogen und knapper wird, was positive Auswirkungen auf die Stabilität von Preisen für Waren hat. Umgekehrt ist volkswirtschaftlich nun aber auch zu bedenken, dass das Geld, das im Sparstrumpf verschwindet, seine Funktion als Tausch- und Verrechnungsmittel im Handelsverkehr nicht mehr erfüllen kann. Geld das nicht verwendet wird, verliert seinen Wert. Deshalb ist das Sparen volkswirtschaftlich nur dann sinnvoll, wenn das Geld nicht ganz aus dem Umlauf gezogen wird, sondern über die Einlage bei einer Bank bzw. über die Vergabe als Kredit gleich wieder Eingang in den Tauschverkehr findet. Insbesondere das Symbolgeld muss als eine Art Bezugsschein verstanden werden, das seinen Wert verliert, wenn es nicht eingelöst wird. Dabei ist zu bedenken, dass nicht mehr Geld bzw. mehr Bezugsscheine in Umlauf kommen dürfen, als Werte durch Konsumverzicht erspart oder durch Wertschöpfung mittels Arbeit erzeugt werden. Dieses Problem lässt sich sehr schön durch folgende Frage erhellen: Warum haben die Erfinder des Geldes eigentlich so wenig von dieser nützlichen Sache produziert? Diese hypothetische Frage verdeutlicht, dass Geld und insbesondere Symbolgeld keine Konsumware ist, sondern ein Berechnungs- und Verrechnungsmittel für den Wert von Waren und Dienstleistungen bzw. eine Steuerungsmittel für Wertschöpfungsprozesse. Welche Einsichten ergeben sich nun, wenn wir das Geld als Aufbewahrungsmittel für ökonomische und die Sprache als Aufbewahrungsmittel für semantische Werte analogisieren? Um diesen Problemkomplex zu strukturieren, lassen sich Einzelfragen folgender Art stellen: Welche Rolle spielt die Erfahrung mit Dingen und die Präsenz von Dingen, wenn man ihren Wert geldlich oder sprachlich zu objektivieren versucht? Kann man mit Geldsum-
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Vgl. K. Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie, Bd. 2, 1922/1984, S. 7 ff.
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men und mit sprachlichen Inhalten handeln, ohne konkrete Erfahrungen mit den Phänomenen zu haben, die sie im Sinne einer Wertäquivalenz repräsentieren sollen? Gibt es auch bei sprachlichen Zeichen eine ähnliche Spannung zwischen Stoffwert und Funktionswert wie bei geldlichen Zeichen? Spielt in der Sprache das Phänomen der Zirkulation eine vergleichbar wichtige Rolle wie beim Geld? Was haben Geld- und Sprachvermögen gemeinsam? Ein extremes Beispiel dafür, dass zwischen Sprachformen und Sprachinhalten eine Wertäquivalenz angenommen wird, sind wohl die Tabu- und Zauberworte im magischen Sprachgebrauch. Wort und Sache treten hier als verschieden Aspekte der gleichen Sache in Erscheinung und haben demzufolge auch denselben ontischen und pragmatischen Wert. Ein Nachhall dieser magischen Sprachauffassung dokumentiert sich noch heute darin, dass manche Menschen vor bestimmten Wörtern denselben Ekel empfinden wie vor den damit benannten Sachen. Diesbezüglich lässt sich außerdem auf die durchsichtigen Wörter verweisen, die Begriffsbildungen bezeichnen, die durch die Determinationsstrukturen in den jeweiligen Wortbildungen schon irgendwie definiert werden (der Allmächtige, der Erlöser, die Baumwurzel). Ebenso wie es bei Geldmünzen und Banknoten eine große Rolle für den faktischen Wert der jeweiligen Geldstücke spielt, wer sie geprägt hat bzw. wer für sie bürgt, so spielt es für den kognitiven und kommunikativen Wert von Begriffen auch eine große Rolle, wer sie geprägt hat bzw. wer für sie in die Verantwortung genommen werden kann. Das kann eine Person mit großer Autorität an Sachwissen sein, eine bestimmte Denkschule oder Wissenschaft, eine sozial anerkannte Institution oder auch eine gefestigte kulturelle Tradition. Nicht selten wird dem ursprünglichen Begriffsgehalt eines Wortes auch eine größere Wertqualität zugesprochen als den später mit ihm verbundenen Begriffsinhalten bzw. Denkmustern, da man glaubt, dass die ursprünglichen Wortbedeutungen eine größere Wahrheitsnähe im Sinne einer größere Abbildungsnähe verbürgen. Von diesem Glauben haben die frühen Etymologen gelebt, aber auch ein Philosoph wie Heidegger, der z. B. immer wieder postuliert hat, dass die ursprüngliche Bedeutung von Wörtern eigentlich einen lebensweltlich höheren Wert und Rang hätte als spätere Bedeutungen. In diesem Zusammenhang kann auch darauf verwiesen werden, dass insbesondere das positivistische Wissenschaftsverständnis davon ausgeht, dass die wissenschaftliche Begriffsbildungen einen größeren Wert hätten als die in den natürlichen Sprachen, weil sie Realitätsstrukturen besser und genauer erfassten, und dass ihnen eben deshalb auch ein größeres Vertrauen zu schenken sei. Bei dieser Argumentation wird aber oft übersehen, dass wissenschaftlichen Begriffsbildungen nur im Rahmen von ganz bestimmten und oft eindimensionalen Erkenntnisinteressen ein größerer Wert zugeordnet werden kann, aber nicht im Rahmen von mehrschichtigen Wahrnehmungs- und Objektivierungsinteressen, wie sie in natürlichen Lebenssituationen aktuell sind. Generell lässt sich sagen, dass Begriffsbildungen aller Art keinen Ewigkeitswert beanspruchen können, weil sie immer spezifisch bedingte historische Funktionen zu erfüllen haben. Ebenso wie der merkantile Wert von Geldstü-
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cken eher einen dynamischen als einen statischen Charakter hat, so kann man das auch für den pragmatischen Wert von Sprachformen postulieren. Deshalb sind sprachliche Zeichenträger auch nicht als Etiketten für ewige Ideen anzusehen, sondern als Etiketten für bestimmte Sinnbildungsprozesse, die allgemeine und langfristige oder spezielle und kurzfristige Zielsetzungen haben. Aus diesem Grunde sollte das Geld- und Sprachvermögen auch nicht als eine substanzielle statische Größe angesehen werden, sondern vielmehr als eine funktionelle dynamische Größe bzw. als eine Kraft, mit Gegebenheiten in der Welt auf fruchtbare Weise pragmatisch umzugehen. Wir sprechen zwar von einem Geldschatz und einem Wortschatz, aber beide sind als Schätze wertlos, wenn sie nur passiv vorhanden sind, aber nicht aktiv genutzt werden. Deshalb hat Humboldt auch sehr nachdrücklich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Sprache letztlich nicht als ein Werk (Ergon) anzusehen sei, sondern vielmehr als eine Tätigkeit (Energeia) bzw. als das Vermögen, „den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.“ 69 Die These, dass das Geld erst in einem umfassenden funktionalen Sinne zu Geld wird, wenn es sich vom stoffwerthaltigen Substanzgeld zum stoffwertlosen Symbolgeld fortentwickelt hat, lässt sich auch auf die Sprache übertragen. Solange wir die Sprache als reines Abbildungsinstrument und als bloßen Wissensspeicher ansehen und nicht als Mittel der Wissensbildung und Wissenszirkulation, solange haben wir ein verkürztes Sprachverständnis. Sprachinhalte lassen sich ebenso wie Geldwerte nicht dauerhaft horten, sondern müssen ihre Nützlichkeit im konkreten Gebrauch ständig beweisen. Natürlich hat sich in bestimmten Sprachformen immer auch ein bestimmtes Wissen konkretisiert, aber dieses lässt sich nicht über alle Zeiten hinweg in identischer Funktionalität als vorgetane Arbeit in einem mechanischen, sondern nur in einem heuristischen Sinne nutzen. Der Wertaufbewahrungsgedanke wird für unser Geld- und Sprachverständnis nur dann fruchtbar, wenn er mit dem Zirkulationsgedanken verbunden wird, da sich nur im faktischen Gebrauch von Geld und Sprache zeigt, welche vielfältige Zwecke man mit beiden verfolgen und realisieren kann. Ein dynamisches Sprachverständnis hat es bei denjenigen Sprachtheoretikern immer schon gegeben, die nicht den monologischen, sondern den dialogischen Sprachgebrauch zum Bezugspunkt ihrer Überlegungen gemacht haben. In allen Formen der Sprachwissenschaft, in denen diese als eine reine Systemwissenschaft verstanden wird, ist das aber in der Regel nicht gegeben. Das dokumentiert sich sehr deutlich in de Saussures methodologischer Konstruktion der Sprachwissenschaft als einer rein synchronen Sprachwissenschaft, die nur sprachliche Konventionen als soziale Tatsachen zu erfassen und dann gleichsam wie Dinge zu objektivieren habe.
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W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues..., Werke, Bd. 3, S. 418
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Eine dialogisch orientierte Sprachwissenschaft kann sprachliche Formen weder als reine Abbildungsformen noch als reine Konventionsformen verstehen, sondern nur als heuristische Sinnbildungsformen in Interaktionsprozessen, die ständig semantischen Variationsprozessen unterliegen. Das veranschaulicht der metaphorische Sprachgebrauch exemplarisch. Deshalb hat ja auch Hamann betont, dass der Reichtum aller menschlichen Erkenntnis auf dem Wortwechsel beruhe, dass man sich die Sprache für seine kognitiven und kommunikativen Intentionen immer wieder neu herrichten müsse und dass man sie nicht bloß als Inventar vorgefertigter Bausteine ansehen dürfe. „Ein Kopf, der auf seine eigenen Kosten denkt, wird immer Eingriffe in die Sprache thun.“70 Die drastische Festellung von Marx über die Genese des Geldes aus der Warenzirkulation lässt sich wohl auch auf den Ursprung der Sprache aus der Gedankenzirkulation übertragen. „Die Zirkulation schwitzt beständig Geld aus.“71 Auch Simmels Funktionsbestimmung des Geldes als einer genuinen sozialen Institution trifft sicherlich auch auf die Sprache zu. „Die Bedeutung des Geldes liegt darin, dass es fortgegeben wird; sobald es ruht, ist es nicht mehr Geld seinem spezifischen Wert und Bedeutung nach. Die Wirkung, die es unter Umständen im ruhenden Zustand ausübt, besteht in einer Antizipation seiner Weiterbewegung. Es ist nichts als der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in kontinuierlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Fürsichseins.“ 72
Die Bestimmung des Geldes als eines universalen Relationierungsmittels ist sicherlich auch auf die Sprache zu beziehen. Wo es nichts mehr zu relationieren gibt, da haben Geld und Sprache ihren Lebensraum und ihre Existenzberechtigung verloren. Beide Phänomene lassen sich als Retorten verstehen, in die viele Erfahrungen, Werte, Erkenntnisinteressen und Handlungsdispositionen einfließen, damit sich schließlich brauchbare und intersubjektiv verständliche Objektivierungs- und Vermittlungsgrößen herauskristallisieren können. Münzen bzw. Wörter als sinnlich gut fassbare Erscheinungsformen von Geld bzw. Sprache sind von einer eigentümlichen Dialektik geprägt, insofern sie sich durch Gebrauch und Zirkulation sowohl abnutzen als auch anreichern können. Sie nutzen sich ab, weil ihre spezifischen Ausprägungs- und Differenzierungsleistungen im Lauf der Zeit immer weniger deutlich wahrnehmbar werden bzw. als immer selbstverständlicher oder gar als trivial angesehen werden. Sie reichern sich aber auch an, weil ihre häufige und vielfältige Verwendung ihren jeweiligen Wirkungsraum ausweiten und sie damit zu immer unverzichtbareren Mitteln unserer Weltorientierung und unserer Handlungsorganisation machen.
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J. G. Hamann, Versuch über eine akademische Frage, Schriften zur Sprache, 1967, S. 94. K. Marx, Das Kapital, in K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 23, S. 127. 72 G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, S. 714. 71
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Der mit Geld und Sprache verbundene Zirkulations- und Intersubjektivitätsgedanke hat außerdem noch andere wichtige Implikationen. Geld und Sprache sind nicht nur Mittel in der Verfügungsgewalt der handelnden Individuen, sondern auch eigenständigen Kräfte, die die Individuen zwingen können, ihr Denken und Handeln in ganz bestimmter Weise zu konkretisieren. Diese Eigenmächtigkeit und Widerständigkeit der Sprache kann insofern positive Konsequenzen haben, als unsere Gedanken oft erst dann für uns selbst eine klare Gestalt bekommen, wenn wir sie auch für andere in eine verständliche sprachliche Form gebracht haben. Allerdings schließt diese Eigenständigkeit der Sprache für Merleau-Ponty dann auch ein, dass die jeweils verwendeten Sprachformen die Kraft haben, uns von unseren eigenen Gedanken wegzuziehen oder Risse in unserem eigenen privaten Universum entstehen zu lassen, durch welche dann wieder andere Gedanken in dieses eindringen können.73
5. Die Inflationsproblematik Das Problem der Inflation wird beim Geld immer dann aktuell, wenn sich herausstellt, dass die jeweiligen Geldstücke bzw. Geldzeichen nicht mehr den eigentlich zu erwartenden Kaufwert haben, und in der Sprache immer dann, wenn sich herausstellt, dass die jeweiligen Sprachzeichen nicht mehr die eigentlich zu erwartenden Differenzierungs- bzw. Informationsaufgaben erfüllen. Unter welchen Bedingungen kommt es nun zu so einem solchen Wertverlust bzw. zu einer solchen Funktionsminderung bei Geld- und Sprachzeichen? Wie unterscheidet sich nun der Wertverlust bei Geldformen von dem bei Sprachformen?
Das Inflationsproblem beim Geld Das Problem des Kaufkraftverlustes stellt sich beim Edelmetallgeld etwas anders dar als beim Papier- bzw. Symbolgeld, da das Edelmetallgeld, abgesehen von Manipulationen bei der Metallreinheit und dem Metallgewicht von Münzen, immer eine gewisse Warendeckung hat und deshalb nicht so leicht vermehrbar ist wie beispielsweise Banknoten. Deshalb galt lange Zeit das Papiergeld auch nicht als Bargeld, sondern als Kreditgeld der ausgebenden Institution, die deshalb auch ausdrücklich versprechen musste, es insbesondere gegen Gold wieder einzutauschen. Beim Papiergeld stellte sich deshalb von Anfang an ganz nachdrücklich das Problem, wie man seine Menge begrenzen konnte, damit nicht mehr Geld in Umlauf kam, als tatsächlich Eintauschmöglichkeiten gegen Waren und Dienstleistungen zur Verfügung standen.
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Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 1984, S. 126.
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Leverkus hat die inflationäre Geldvermehrung mit dem Gebrauch von Rauschgift verglichen. Am Anfang wirke sie belebend auf die Wirtschaft und den Handelsverkehr und rege vielfältige Aktivitäten an. Dann aber würden immer höhere Dosen für die gleichen Effekte notwendig, was schließlich zu einer völligen Zerstörung des ganzen Organismus führe.74 Er ist der Auffassung, dass die Geldmenge nicht unbedingt durch Goldreserven gedeckt sein müsse, aber er warnt eindringlich davor, der jeweiligen Regierung die Festlegung der Geldmenge zu überlassen, weil das zu einer unkontrollierbaren Selbstbedienung einlade. „Bekanntlich könnte man ebenso gut einen Hund wochenlang unbewacht in eine Metzgerei einsperren und von ihm erwarten, daß er täglich nur ein Würstchen frißt.“ 75 Im Prinzip muss man die Ausgabe von Kreditgeld bzw. die Geldmenge so vorsichtig handhaben, wie Dädalus im Gegensatz zu Ikarus seine Flügel gehandhabt hat, um seine jeweiligen Ziele zu erreichen. In der Französischen Revolution hatte man beispielsweise Assignaten auf die enteigneten Güter des Königs und das zurückgelassene Vermögen der Emigranten ausgegeben, um die Wirtschaft und den Tauschverkehr anzuregen. Man konnte dann aber der Versuchung nicht widerstehen, Assignaten weit über dieses Deckungsvermögen hinaus in Umlauf zu bringen. Das hatte dann zur Folge, dass der Realwert der Assignaten von 90% im Jahre 1791 auf 20% im Jahre 1794 sank und dass schließlich 1797 alle Assignaten für wertlos erklärt wurden. Dieser Wertverlust konnte auch nicht dadurch aufgehalten werden, dass man alle zu Feinden der Revolution erklärte und mit der Guillotine bedrohte, die die Annahme von Assignaten verweigerten.76 Auch Goethe hat das Phänomen der Gelderzeugung fasziniert, das ja immer eng mit der Nutzung von Symbolgeld verbunden ist. Das Problem der Geldschöpfung hat er im Faust II einerseits mit der Alchemie in Verbindung gebracht, insofern diese ja auch anstrebt, aus relativ wertlosen Substanzen Gold herzustellen, und andererseits mit der Ausgabe von Geldnoten als Formen der Geldschöpfung. So lässt er beispielsweise den Kanzler und Mephisto folgenden Plan entwickeln. Es sollten Geldnoten ausgegeben werden, die wertmäßig durch die im Boden vergrabenen Schätze gedeckt sein sollten, deren Besitzer nicht mehr zu ermitteln seien und die infolgedessen rechtlich in den Besitz des Kaisers fielen. Notfalls sollte man den Staat darauf verpflichten, die vergrabenen Schätze zu heben und die darauf ausgestellten Noten dann in Gold umzutauschen. Da Banknoten im täglichen Zahlungsverkehr aber sehr viel leichter zu handhaben wären als Gold, würde wohl niemand auf die Idee kommen, die tatsächliche Hebung der vergrabenen Schätze zu verlangen. Bei
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E. Leverkus, Freier Tausch und fauler Zauber, 1990, S. 21 f. E. Leverkus, a. a. O., S. 207. 76 Vgl. H. Harlandt, Das Geld von gestern, heute und morgen, 1996, S. 82 ff. 75
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Bedarf könnte man auch die Nichtannahme der mit der Unterschrift des Kaisers versehenen Banknoten als eine Art Majestätsbeleidigung ahnden.77 Die Erzeugung von Geld in Form von Symbolgeld mittels theoretischer Konstruktion statt durch wertschöpfende Arbeit war für Goethe eine faszinierende Denkmöglichkeit. Nach Auskunft Eckermanns war das für Goethe sogar ein Problem, das er eng mit allen Denk- und Handlungsweisen verknüpft sah, für die er die literarische Gestalt des Mephisto konzipiert habe.78 Das stoffwertlose Symbolgeld hat eine immanente Tendenz, von einem technischen Hilfsmittel in der Versorgungs- und Handelswirtschaft zu einem Antriebsmittel in der Erwerbs- und Expansionswirtschaft zu werden, in der Kredite für zukünftige, aber faktisch noch gar nicht erarbeitete Werte vergeben werden. Dadurch gerät das Symbolgeld immer in die Gefahr, Werte zu repräsentieren, die nicht aus Arbeit und Konsumverzicht entstanden sind, sondern vielmehr aus Theorie und Spekulation. Diese Werte können sich dann natürlich durchaus als Scheinwerte erweisen. Der Wert von Geld, in welcher Form auch immer, lässt sich nur dann stabil halten, wenn es prinzipiell knapp ist und sich nicht beliebig vermehren lässt. Ebenso wie nicht mehr Essensgutscheine ausgegeben werden dürfen, als Essensportionen vorhanden sind, so darf auch nicht mehr Geld in Umlauf kommen, als wertäquivalente Waren und Dienstleistungen zur Verfügung stehen. Wenn die Geldmenge das Bruttosozialprodukt übersteigt, kommt es automatisch zu Inflationserscheinungen, weil die Preise für Waren und Dienstleistungen steigen und der angegebene Nominalwert des Geldes nicht mehr seinem ursprünglichen Kauf- bzw. Realwert entspricht.
Das Inflationsproblem in der Sprache Wenn wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Inflationsproblematik beim Geld danach fragen, ob es ähnliche Erscheinungen auch in der Sprache gibt, dann lässt sich unser Interesse auf folgende Problemaspekte konzentrieren. Wir können danach fragen, wodurch der semantische Wert von sprachlichen Zeichen gedeckt ist, wie diese Wertdeckung zustande kommt und wie sie möglicherweise manipuliert werden kann. Bezüglich dieser Problematik haben wir dann mit bestimmten Analogien zwischen Geld und Sprache zu rechnen, aber natürlich auch mit beträchtlichen Unterschieden. Grundsätzlich ist zunächst der folgende schon erwähnte Unterschied bei der Verwendung von Geld und Sprache zu beachten. Geldstücke, die ich gegen etwas anderes eintausche, gehen von meinem Besitz in den eines anderen über.
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J. W. von Goethe, Faust II, V 4923 ff., 6055 ff., Werke Bd. 3, S. 154 ff., 187 ff. Vgl. auch: H. Ch. Binswanger, Geld und Magie, 20052, S. 24 ff. 78 Vgl. J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, 27. 12. 1829, 1994, S. 394.
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Sprachstücke, die ich im Kommunikationsverkehr verwende, gehen nicht in gleicher Weise in den Besitz eines anderen über, da sie im Prinzip den anderen nur dazu anregen, sich ähnliche Vorstellungen über einen Sachverhalt zu machen, wie ich sie mir selbst gemacht habe. Mit sprachlichen Einheiten werden also nicht in demselben Sinne Werte übertragen wie mit geldlichen. Zwar lässt sich durch sprachliche Mitteilungen der Wissenstand eines Partners steigern, aber nicht so, dass sich dabei zugleich der Wissensstand des jeweiligen Sprechers mindert, sondern nur so, dass ein anderer anregt wird, sein Wissen so zu organisieren und weiter zu entwickeln, dass es in den jeweils thematisierten Bereichen weitgehend dem des Sprechers entspricht. Diese Differenz zwischen dem Geld und der Sprache tritt natürlich bei stoffwerthaltigem Gelde sehr deutlich zu Tage und verwischt sich beim Gebrauch von stoffwertlosem Symbolgeld. Bei letzteren Geldformen ist der Besitzwechsel sinnlich nicht mehr so gut wahrnehmbar und ist zugleich immer mit dem hohen Vertrauen verbunden, dass Werte auch faktisch von einem zum anderen übergehen und nicht nur in der Vorstellung. Sprachliche Zeicheninhalte wechseln dagegen nicht wie Waren ihre Besitzer, sondern werden so übergeben, dass sie sich dabei für den Geber nicht vermindern. Bezeichnenderweise sprechen wir deshalb ja auch von sprachlichen Mitteilungen. Sowohl der Gebrauch von geldlichen als auch von sprachlichen Zeichen basiert auf dem Vertrauen des Empfängers auf die Wahrhaftigkeit des Gebers. Vom Kaufmann wird erwartet, dass seine Waren und sein Geld echt sind bzw. den jeweiligen Erwartungsnormen entsprechen. Von einem Sprecher wird erwartet, dass seine Aussagen zutreffen und er sprachliche Zeichen verwendet, deren Inhalt den jeweiligen Konventionen entspricht bzw. auch durch entsprechende Sacherfahrungen gedeckt ist. Das heißt konkret, dass ein Sprecher keine wahrheitswidrigen Aussagen zu Täuschungszwecken machen darf und dass er keine sprachlichen Zeichen verwenden sollte, die einen rein fiktiven oder spekulativen Charakter haben, was natürlich nicht immer leicht zu beurteilen ist. Ein Gebrauch sprachlicher Zeichen mit fiktiver Referenz ist nur dann zulässig, wenn das metainformativ auf irgendeine Weise zureichend signalisiert wird, weshalb man ja auch den ästhetischen, fiktionalen, metaphorischen und ironischen Sprachgebrauch vom üblichen zu unterscheiden versucht. Natürlich kann ein Sprecher nicht immer zureichend beurteilen, ob der semantische Gehalt seiner Sprachzeichen eine zureichende Sach- und Erfahrungsdeckung aufweist. Diesbezüglich muss er auf ein überindividuelles kulturelles Sprachvertrauen setzen, das davon geprägt ist, dass sich in evolutionären sprachlichen Selektionsprozessen nur solche Sprachzeichen auf Dauer erhalten haben, die zur Welt passen wie ein Schlüssel zum Schloss. Ein so motiviertes Sprachvertrauen lässt sich im Hinblick auf die natürliche Umgangssprache weitgehend rechtfertigen, aber weniger leicht im Hinblick auf die formalisierten Fachsprachen. Hier können durchaus Begriffsbildungen vorliegen, die nicht von der praktischen Lebenserfahrung der Menschen her zu rechtfertigen sind, sondern allenfalls durch ihren Passungscharakter zu bestimmten Theorien, Modellen oder Hypothesen, die mit der faktischen Lebenswelt der Men-
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schen nur mittelbar etwas zu tun haben. Das Problem der Erfahrungsdeckung des semantischen Gehalts von Sprachzeichen stellt sich deshalb in formalisierten Sprachen anders dar als in natürlichen Sprachen, weil beide Ausprägungen von Sprache auf ganz unterschiedliche Erkenntnisinteressen, Erfahrungsmöglichkeiten und Differenzierungsintentionen bezogen sind. Die Begriffsbildungen in den formalisierten Sprachen stehen hinsichtlich der Bedürfnisse des alltäglichen Sprachgebrauchs immer in der Gefahr, ihre Deckung durch die allgemeine Lebenserfahrung der Menschen zu verlieren und nur noch Gültigkeit im Rahmen bestimmter Denkmodelle zu finden. Fachsprachliche Begriffsbildungen verlieren so gesehen sehr schnell ihre allgemeine kognitive Kaufkraft und werden zu einer Art Sondergeld, das nur in bestimmten kulturellen Regionen oder von bestimmten Personen akzeptiert bzw. in Zahlung genommen wird. Außerdem besteht bei Begriffsbildungen in den formalisierten Sprachen immer die Gefahr, dass sich das Begriffsinventar so vermehrt, dass damit nur noch marginale Teilaspekte von komplexen Phänomenen erfasst werden, aber diese nicht mehr in ihrer umfassenden Ganzheitlichkeit. Das kann bedeuten, dass man gleichsam vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Bei dieser methodischen Gemachtheit von sprachlichen Zeichen wird dann natürlich das Problem der Falschmünzerei schnell aktuell. Ebenso wie der merkantile Wert von Geldformen einen Rückhalt im Sozialprodukt einer Arbeitsgesellschaft haben muss, so muss auch der geistige Wert von Sprachformen in natürlichen Sprachen einen Rückhalt in den allgemeinen Welterfahrungen und Differenzierungsinteressen der Menschen haben. Deshalb sind die Moden von fachwissenschaftlichen und auch von ideologienahen Begriffsbildungen durchaus mit Inflationsvorstellungen in Verbindung zu bringen, insofern diese oft keinen dauerhaften pragmatischen Wert haben, sondern nur bestimmten Gruppen- oder Funktionsinteressen dienen. Letztlich muss das fachsprachliche Vokabular immer in das der natürlichen Sprache übersetzbar sein, wenn es einen allgemeinen kulturellen Wert beansprucht. Der Gebrauch manipulierter Geld- und Sprachformen kann den jeweiligen Verwendern kurzfristig bestimmte Vorteile bringen, aber keineswegs langfristig. Falschgeld und Lügen bzw. erfahrungsferne Begriffe haben immer kurze Beine. Ein täuschender Geld- und Sprachgebrauch desavouiert langfristig nicht nur diejenigen, die ihn praktizieren, sondern auch Geld und Sprache als Medien und als Zeichensysteme, weil beide unter Betrugs- oder Inflationsverdacht geraten, wenn ihre Nominalwerte keinen fassbaren Realwert mehr besitzen. Die Diskrepanz zwischen dem Nominalwert und dem Realwert von sprachlichen Zeichen ist nun allerdings nicht generell als ein Negativum zu beurteilen, weil diese Spannung irgendwie zur inneren Dynamik der Sprache als universales Sinnbildungsmittel gehört, was insbesondere der metaphorische Sprachgebrauch ja sehr klar dokumentiert. Dieser verdeutlicht, dass wir bei sprachlichen Mitteilungen einem Partner nicht einen festen Informationsbetrag in Analogie zu einem festen Geldbetrag übermitteln, sondern ihn vielmehr dazu anregen, seine eigenen Sinnbildungskräfte in einer bestimmten Richtung zu aktivieren. Dadurch tragen dann alle Kommunikationspartner dazu bei, die
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Sprache immer wieder zu erneuern bzw. den faktischen Informationswert von sprachlichen Zeichen immer wieder im Hinblick auf gegebene Konventionen und Intentionen neu auszubalancieren. Tieck hat diese Spannung und Dynamik des metaphorischen Sprechens auf sehr aparte Weise thematisiert und dabei auf eine ironische Weise mit dem Phänomen der Lüge in Verbindung gebracht. „ 'Der Morgen erwacht'. Es giebt keinen Morgen; wie kann er schlafen? Es ist ja nichts als die Stunde, wenn die Sonne aufgeht. Verflucht! Die Sonne geht ja nicht auf; auch das ist ja schon Unsinn und Poesie. O dürft' ich nur einmal über die Sprache her, und sie so recht säubern und ausfegen! O verdammt! Ausfegen! Man kann in dieser lügenden Welt es nicht lassen, Unsinn zu sprechen!“ 79
Wenn man im metaphorischen Sprachgebrauch Wörter in ganz unübliche Kontexte und Geschichten verstrickt und eben dadurch eine Diskrepanz zwischen ihrem konventionellen semantischen Nominalwert einerseits und ihrem faktischen semantischen Realwert andererseits herstellt, so hat das ambivalente Konsequenzen. Einerseits sinkt ihr semantischer Wert im Sinne eines präzisen Informationswertes, weshalb Metaphern in formalisierten Fachsprachen auch nicht gut gelitten sind. Andererseits steigert sich ihr semantischer Wert im Sinne eines kreativen Sinnbildungswertes, weil dadurch neue Sichtweisen auf altbekannte Phänomene eröffnet werden können bzw. diese in neuen Kontexten wahrnehmbar werden. Dadurch lässt sich dann auch kenntlich machen, wie man in der Sprache von endlichen Mitteln durchaus einen unendlichen Gebrauch machen kann. Diesbezüglich haben dann Geldzeichen und Sprachzeichen sicherlich ein etwas anderes pragmatisches Profil bzw. ein etwas anderen pragmatischen Wert. Allerdings dürfen wir in diesem Zusammenhang auch nicht übersehen, dass eine unkontrollierte Ausweitung des Gebrauchs von Wörtern auf immer neue Anwendungsfelder auch einen inflatorischen Effekt bzw. einen semantischen Wertverlust beinhalten kann. Das exemplifizieren Modewörter wie kreativ, kritisch, modern, emanzipatorisch usw. sehr deutlich, die durch einen ausufernden Gebrauch zu Worthülsen geworden sind, die sich mit allen möglichen Vorstellungsinhalten füllen lassen. Durch diesen inflatorischen Gebrauch haben sie an semantischer Differenzierungsschärfe verloren und sind zu Zeichen eines bestimmten emotionalen Stallgeruchs bzw. Jargons geworden, die uns eher etwas über die Gruppenzugehörigkeit und Befindlichkeit der jeweiligen Verwender mitteilen als über die Besonderheit eines Sachverhalts. Ein typisches Beispiel dafür, wie sich die semantische Differenzierungsschärfe eines Wortes durch seinen ausufernden Gebrauch historisch ändern kann, ist das Wort Frau. In diesem Zusammenhang muss man allerdings nicht unbedingt von einer semantischen Abwertung des Wortes sprechen, sondern kann durchaus auch eine semantische Umwertung in Betracht ziehen.
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L. Tieck, Die Gemälde, Schriften Bd. 17, 1852, S. 84.
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Im mhd. Sprachgebrauch diente das Wort wîp ursprünglich dazu, ein menschliches Wesen weiblichen Geschlechts zu bezeichnen, während das Wort frouwe dazu verwendet wurde, eine sozial hochgestellte Person bzw. eine Herrin zu bezeichnen. Als aus Höflichkeitsgründen in sozialen Galanteriespielen das Wort frouwe auch dazu genutzt wurde, nicht-adlige weibliche Wesen anzureden, kam es allmählich zu einer semantischen Umwertung des Wortes, weil es nun nicht mehr dazu diente, die soziale Rolle einer weiblichen Person zu bezeichnen, sondern lediglich ihr Geschlecht. Diese semantische Transformation des Wortes frouwe von einer Sozialbezeichnung zu einer bloßen Geschlechtsbezeichnung führte nun aus verständlichen Gründen dazu, dass das alte Wort wîp nun nicht mehr als Geschlechtsbezeichnung verwendet wurde, sondern als Geschlechtsbezeichnung in einem meist abwertenden Sinne. Um weibliches Wesen mit sozial gehobenen Status zu benennen, bürgerte sich daher allmählich das Wort Dame ein, das aus dem Französischen übernommen wurde und etymologisch auf das lat. Wort domina (Herrin) zurückgeht.80 Eine solche semantische Werttransformation eines Zeichens durch die inflatorische Ausweitung seines Gebrauchs lässt sich im Denkrahmen eines substanziell orientierten Zeichenverständnis schlecht erklären, aber recht gut in dem eines funktionell orientierten. Ebenso wie man für Geldscheine im Rahmen neuer Gebrauchskonventionen im Gegensatz zu Edelmetallmünzen relativ leicht einen neuen Kaufwert festlegen kann, so lässt sich auch für Wörter über neue Gebrauchstendenzen oder gar durch neue normative Definitionen relativ leicht ein neuer semantischer Wert ausbilden. Das exemplifizieren sehr gut tote Metaphern und Sprachregulierungen im politischen Sprachgebrauch. In den formalisierten Fachsprachen werden oft Wörter verwendet, die in der Umgangssprache einen verhältnismäßig vagen Begriffsinhalt bzw. Informationswert haben, weil sie in ganz unterschiedlichen Kontexten verwendet werden können. In den Fachsprachen sind solche Wörter aber zum Teil begrifflich scharf definiert und in ihrem faktischen Gebrauch meist streng reglementiert. So hat beispielsweise in der Fachsprache der Physik im Gegensatz zur natürlichen Sprache das Wort Kraft einen ganz präzisen semantischen Stellen- bzw. Informationswert. Ähnliches gilt für das Wort Mord in der juristischen Fachsprache, dessen Verwendungsweise hier kraft Definition sehr viel eingeschränkter ist als in der natürlichen Umgangssprache. Das kann in Kommunikationsprozessen dann leicht zu Irritationen führen, wenn man beispielsweise nicht weiß, ob das Wort Mörder umgangssprachlich oder fachsprachlich in einem juristischen Sinne verstanden werden soll. Das hat sich etwa sehr deutlich im Zusammenhang mit einer vor Gericht verhandelten politischen Kampfparole gezeigt, die folgenden Wortlaut hatte: Soldaten sind Mörder. Die präzisen und situationsunabhängigen semantischen Werte fachsprachlicher Termini haben pragmatisch gesehen nun allerdings nicht nur positive,
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Vgl. R. Keller, Sprachwandel, 1990, S. 103 ff.
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sondern durchaus auch problematische Implikationen. Einerseits fördern sie die Ausbildung von exakten Denkweisen, exakten Schlussfolgerungsprozessen und exakten Informationsübermittlungen und damit natürlich insgesamt das systematische Denken. Andererseits haben wir aber auch zu beachten, dass die semantische Schärfe von Begriffen keineswegs ein Wert an sich ist, weil diese Schärfe oft nur ein theoretisches Konstrukt ist, das von unseren faktischen Erfahrungen nicht immer gedeckt ist und das der aspektuellen Vielschichtigkeit der Phänomene auch nicht immer zureichend gerecht wird. Begriffe können theoretisch übersichtlich und scharf definiert werden, aber das stellt keineswegs sicher, dass sie auch einen belastbaren Realitätsbezug haben und nicht nur einen übersichtlichen oder gar fiktiven Theorie- oder Hypothesenbezug. Scharf definierte Begriffe lassen sich gut als Rechenpfennige verwenden, aber sie stellen nicht von vornherein sicher, lebensweltlich relevanten Differenzierungen Ausdruck zu geben bzw. einen belastbaren Realitätskontakt herzustellen. Ihr Realitätsbezug kann sich wie der von Assignaten und Papiergeld leicht verflüchtigen oder gar in Nichts auflösen. Pragmatisch brauchbare Begriffe dürfen nicht nur systemorientiert definiert und gerechtfertigt werden, sie müssen sich wie gutes Geld auch langfristig im intersubjektiven Austauschverkehr praktisch bewähren. Die bloße Existenz von Geldstücken oder Sprachformen garantiert keineswegs, dass sie einen verlässlichen merkantilen oder semantischen Wert haben bzw. dass man ihnen blind vertrauen kann. Herder hat deshalb feinsinnig darauf verwiesen, dass der Glaube an Zeichen bzw. das Vertrauen in Zeichen uns keineswegs von dem ständigen Bemühen entbinden könne, deren jeweilige Sachdeckung ständig zu prüfen bzw. unser Streben nach umfassenden empirischen Sacherfahrungen zu ersetzen. „Da lernen wir eine ganze Reihe von Bezeichnungen aus Büchern, statt sie aus und mit den Dingen selbst, die jene bezeichnen sollen, zu erfinden: wir wissen Wörter und glauben die Sachen zu wissen, die sie bedeuten: wir umarmen den Schatten statt des Körpers, der den Schatten wirft.“ 81
Je abstrakter unsere Denkstrukturen werden und je mehr sich das Denken von der unmittelbar relevanten Lebenswelt der Menschen entfernt, desto mehr stören substanzielle Geld- und Sprachauffassungen und desto schwieriger wird es, die Wert- und Sachdeckung von Geld- und Sprachzeichen zu beurteilen. Bezeichnend für diese Tendenz ist, dass in bestimmten Tausch- oder Mitteilungssituationen Bargeld bzw. Begriffe der natürlichen Umgangssprache schon nicht mehr angenommen werden, weil beide nicht abstrakt genug sind. Beide sind offenbar wegen ihrer inhaltlichen Mehrschichtigkeit bzw. ihrer kognitiven und informativen Komplexität zu sperrig, um sie in semantisch reduzierten und formalisierten Funktions- und Denkzusammenhängen problemlos handhaben zu können.
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J. G. Herder, Kritische Wälder, Viertes Wäldchen, Sämmtliche Werke Bd. 4, 1878, S. 58.
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6. Die Vertrauensproblematik Die Wahrnehmungsweise von Geld und Sprache als soziale und kulturelle Institutionen schließt ein, dass beide Phänomene sich nur dann fruchtbar entfalten können, wenn man ihnen als solchen auch vertraut. Dieses Vertrauen kann sich dabei nicht nur auf die Geld- und Sprachzeichen selbst beziehen, sondern auch auf diejenigen, die uns diese anbieten. Falschgeld und irreführende Sprachformen verfallen ebenso der sozialen Ächtung wie Geldfälscher und Sprachmanipulierer bzw. Lügner, sofern man diese denn als solche auch entlarven kann. Je mehr das Geld und die Sprache ihren ikonischen Charakter bzw. ihre erfahrungsbasierte substanzielle Legitimation verlieren und sich nur noch durch ihre Funktionalität und Konventionalität rechtfertigen können, desto mehr wächst die Notwendigkeit, Vertrauen in die jeweiligen Geld- und Sprachsymbole zu setzen. Wir wissen im Prinzip zwar, dass dieser Glaube seine Tücken hat, aber ohne ihn brächen Geld und Sprache als soziale Institutionen zusammen, was die inflatorische und lügenhafte Nutzung von Geld und Sprache ja sehr klar veranschaulicht. Je mehr sich das Geld vom stoffwerthaltigen Warengeld zum stoffwertlosen Symbolgeld gewandelt hat bzw. die Sprache vom erfahrungsgedeckten Repräsentationsmittel von Welt zu einem hypothetischen Interpretationsmittel für Welt, desto mehr ist das Vertrauensproblem in den Fokus der Geld- und Sprachreflexion getreten. Dadurch hat sich unser natürliches und spontanes Geld- und Sprachvertrauen zwar nicht aufgelöst, aber es ist doch mehr und mehr als ein zentrales Kulturproblem wahrgenommen worden. Das lässt sich in einer historischen und in einer systematischen Denkperspektive gut zeigen.
Historische Aspekte des Geld- und Sprachvertrauens Auf exemplarische Weise exemplifiziert sich die Vertrauensproblematik beim Geld im Übergang vom materiellen Wertgeld zum konventionalisierten Symbol- und Funktionsgeld in einer Aufschrift, die eine maltesische Münze aus dem 16. Jahrhundert trägt: non aes sed fides (nicht auf das Metall kommt es an, sondern auf den Glauben/das Vertrauen). Diesen Leitspruch hat der Großmeister des Johanniterordens La Valette formuliert, als er beim Wiederaufbau Maltas nach der türkischen Belagerung 1566 kupfernes Notgeld prägen ließ, um das erstorbene Wirtschaftsleben wieder in Gang zu bringen und um gleichzeitig zu zeigen, dass das Geld nicht selbst wertvoll sein müsse, um seine Verrechnungsfunktionen im Wirtschaftskreislauf erfüllen zu können.82 Simmel hat auf diesen Leitspruch Bezug genommen, um zu verdeutlichen, dass das stoffwertlose Funktions- und Symbolgeld immer auf das Vertrauen in
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Vgl. E. Leverkus, Freier Tausch und fauler Zauber, 1990, S. 71 ff.
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die ausgebende Instanz beruhe und deshalb im Prinzip als Kreditgeld zu verstehen sei. Der Glaube an das Symbolgeld sei für die Wirtschaft und den Handel genauso konstitutiv wie der Glaube der Landwirtschaft daran, dass das ausgesäte Korn Frucht bringe.83 Die These, dass das stoffwertlose Symbolgeld im Prinzip als Kreditgeld zu verstehen sei, lässt sich auch durch die Vorgeschichte des Banknoten- und des Buchgeldes in der Lombardei und in England stützen. Beispielsweise hatte es sich in London im 17. Jahrhundert eingebürgert, wertvolles Gold nicht zu Hause zu lagern, sondern bei vertrauenswürdigen Goldschmieden mit sicheren Verwahrungsmöglichkeiten. Über solche Einlagen wurden dann Depotgutscheine ausgestellt, was schon bald dazu führte, diese auch als Zahlungsmittel im Geschäftsverkehr einzusetzen. Vertrauenswürdige Goldschmiede wuchsen auf diese Weise allmählich in die Rolle von Bankiers hinein. Das verstärkte sich noch dadurch, dass die Goldschmiede sich angewöhnten, das bei ihnen deponiert Gold zwischenzeitlich als Zahlungsmittel auszuleihen, da es erfahrungsgemäß nicht ständig von den ursprünglichen Besitzern gegen die jeweiligen Gutscheine eingelöst wurde, sondern von diesen nur als eine Wertdeckung für das von ihnen verwendete Papier- bzw. Ersatzgeld angesehen wurde. Solche Praktiken führten 1661/62 zur Gründung der ersten staatlichen Zentralbank in Stockholm, deren Banknoten durch Silber gedeckt waren. 1694 wurde dann die Bank von England gegründet, die als private Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 1,2 Millionen Pfund Sterlingsilber ausgestattet war und die dann auch Banknoten im entsprechenden Wert ausgab.84 Der Wert solcher Banknoten blieb solange als Zahlungsmittel stabil, wie das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der jeweiligen Emittenten stabil blieb bzw. der Glaube daran, dass diese keine ungedeckten Banknoten ausgeben würden. Das Recht zur Ausgabe von Geldnoten wurde deshalb immer mehr als ein hoheitliches Recht angesehen, weil man wusste, dass diesbezügliche Manipulationen ein ganzes Gemeinwesen in Verruf bringen konnten. In Demokratien, in denen ebenso wie in Diktaturen die große Gefahr besteht, Wohltaten über eine bloße Geldvermehrung zu finanzieren, hat man sich deshalb schon bald darum bemüht, unabhängige Notenbanken zu etablieren, die die umlaufende Geldmenge nach bestimmten Kriterien zu kontrollieren hatten. Ähnlich wie sich das Vertrauen auf Geld historisch gesehen zunächst auf den Stoffwert der jeweiligen Geldstücke gründete und dann auf die Institutionen, die diese in Umlauf brachten bzw. für deren Wertdeckung gerade zu stehen hatten, so haben sich auch die Grundlagen für das Vertrauen in die Sprache historisch verlagert. Zunächst hat man der Sprache bzw. dem Wert ihrer einzelnen Formen vertraut, weil man sie gleichsam als Naturphänomene bzw. als Werke Gottes betrachtete und nicht als Kulturphänomene bzw. als Werke
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Vgl. G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, S. 215 ff. Vgl. H. Harlandt, Das Geld von gestern, heute und morgen, 1996, S. 171 ff.
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der Menschen. Man vertraute darauf, dass Sprach- und Realitätsformen in einer natürlichen Symmetrie zueinander stünden und sich deshalb wechselseitig vertreten könnten. Dieses natürliche Sprachvertrauen, das auch heute noch das Sprachverständnis von Kindern prägt, löste sich auf, als man mehr und mehr die Erfahrung machte, dass die einzelnen Sprachen sich nicht nur dadurch von einander unterscheiden, dass sie unterschiedliche Bezeichnungen für dieselben Begriffsmuster bzw. Dinge haben, sondern vor allem auch dadurch, dass sie durch ganz unterschiedliche Begriffsmuster und Organisationsprinzipien geprägt werden. Mehr und mehr musste man erkennen, dass die Sprecher anderer Sprachen nicht als Barbaren bzw. Plapperer abzutun waren, sondern vielmehr als Menschen mit anders strukturierten sprachlichen Zeichensystemen ernst zu nehmen waren. In der Antike trat das theoretische Bewusstsein und Wissen davon, dass die einzelnen Sprachen eigenständige kognitive und kommunikative Ordnungssysteme seien und dass man nicht einfach am Leitfaden der Sprache entlang philosophieren könne, sehr deutlich in hellenistischer Zeit ins Bewusstsein. Zum einen trat in dieser Zeit die Differenz zwischen der griechischen Verkehrssprache (koine) und dem klassischen Griechisch immer deutlicher hervor, was natürlich Diskussion darüber auslöste, welche Sprachformen adäquater und wertvoller seien. Zum anderen wurde in dieser Zeit die Kultur und Philosophie meist von Personen getragen, die ursprünglich semitische Muttersprachen hatten und die deshalb das Griechische als eine Kultursprache mit ganz spezifischen Vorzügen und Nachteilen wahrnehmen konnten. Deshalb gewann der Grundgedanke mehr und mehr an Bedeutung, dass das Formeninventar einer Sprache und insbesondere das der Grammatik nicht an den Leitbegriffen der Analogie, der Symmetrie und der natürlich gegebenen Korrespondenz zur Wirklichkeit zu diskutieren sei, sondern an den Leitbegriffen der Anomalie, der Setzung und der Gewohnheit.85 Im mittelalterlichen Nominalismus verschärfte sich die in der Spätantike aufgekeimte Sprachskepsis. Man postulierte, dass Begriffsbildungen nicht als Ausdrucksformen des Seins (modi essendi) anzusehen seien, sondern als Ausdrucksformen kognitiver Ordnungsanstrengungen des Menschen (intentiones animae) bzw. als Manifestationsweisen des Denkens (modi intelligendi). Obwohl man einräumte, dass Begriffe eine Basis in der Realität zu haben hätten (fundamentum in re), so stellte sich dem Denken dennoch die Aufgabe, ihre ontische Vertrauenswürdigkeit bzw. ihren kognitiven Wert immer wieder neu zu prüfen und zu legitimieren. Ganz ausdrücklich haben die Nominalisten darauf verwiesen, dass Wörter die Wirklichkeit nicht direkt erfassen könnten, sondern nur über die mediale Hilfe bestimmter sprachlich fundierter Begriffskonstrukte (voces significant res mediantibus conceptibus). Von der Annahme einer ganz natürlichen ontischen Äquivalenz und Symmetrie zwischen sprach-
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Vgl. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 145.
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lichen Zeichen und realen Dingen kann deshalb bei den Nominalisten keine Rede sein.86 In der Neuzeit ist die Spannung zwischen Sprachformen und Realitätsformen insbesondere durch Humboldts Begriff der inneren Sprachform und durch Whorfs Begriff des sprachlichen Relativitätsprinzips wieder thematisiert worden. Beide schließen nicht aus, dass sprachliche Formen brauchbare Mittel der Weltbewältigung sind, aber sie negieren, dass die Sprache die Welt auf der Ebene der Zeichen abbilde im Sinne von verdopple. Ebenso wie Geld den Wert einer Ware nicht an sich objektivieren kann, sondern nur ein Hilfsmittel ist, intersubjektiv mit Waren umzugehen, so ist für beide auch die Sprache kein Mittel, die Welt an sich abzubilden, sondern nur eines, mit ihr auf intersubjektiv akzeptable Weise fertig zu werden.
Systematische Aspekte des Geld- und Sprachvertrauens Solange man ein Medium wie das Geld oder die Sprache faktisch nutzt, solange kann man es kaum metareflexiv problematisieren. Das wird erst möglich, wenn man es auf Grund von historischen und systematischen Sachkenntnissen aus einer gewissen theoretischen Distanz zu betrachten vermag. Nur dann wird auch verständlich, warum das Vertrauen auf die Funktionalität eines Mediums sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen kann. Beispielsweise haben Söldner zu allen Zeiten stoffwerthaltiges Geld in Form von Goldmünzen bevorzugt, weil sie dessen Wert am besten einschätzen konnten und weil diese Geldform für sie ein echtes Weltgeld war. Dagegen haben Kaufleute eher das stoffwertlose Buchgeld geschätzt, weil es ihnen bei ihren Geschäften eine größere Beweglichkeit gab und weil es für sie eben deshalb ein echtes Weltgeld war. Bei Naturvölkern wird oft das Münzgeld als Tauschmittel nicht akzeptiert, weil man es im Unterschied zu Ess- oder Gebrauchswaren nicht unmittelbar nutzen konnte und weil für sie das Geld als ein Wertverrechnungsmittel keine große Bedeutsamkeit hatte. Die vielfältigen Einbettungsmöglichkeiten von Geld in Wissens-, Glaubens-, Situations-, Funktions- und Intentionszusammenhänge zwingen uns dazu, das Problem des Vertrauens beim Geld aspektuell zu differenzieren, weil jede Erscheinungs- und Nutzungsform des Geldes diesbezüglich andere Rahmenbedingungen setzt. Ähnliches gilt auch von der Sprache bzw. von allen universal nutzbaren Zeichensystemen. Alle funktionieren in sehr variablen Bedingungsverhältnissen von Sach-, Situations- und Zeichenwissen. Das dokumentiert sich sehr schön in einem afrikanischen Sprichwort, das Frankel im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Kreditwürdigkeit von Personen
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Vgl. W. von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, 1994, S. 70 ff. ; G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, 1992, S. 331 ff.
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in Geldgeschäften zitiert: „Ich kann nicht verstehen, was Du sagst, denn ich sehe, was Du bist.“ 87 Bei der Nutzung der Sprache im alltäglichen dialogischen Gebrauch gründet sich unser Vertrauen auf Sprache auf andere Prämissen und Zielsetzungen als bei ihrem fachwissenschaftlichen und monologischen Gebrauch. Beim alltäglichen Sprachgebrauch geht es nicht nur um die Darstellungsfunktionen der Sprache, sondern auch um ihre Appell- und Ausdrucksfunktionen. Selbst im Rahmen der Darstellungsfunktionen soll nicht die Welt an sich objektiviert werden, sondern die Welt für uns. Das bedingt, dass über die Sprache nicht nur eine Relation zu der Welt der Dinge aufgebaut werden muss, sondern auch eine zu der Welt der Subjekte und der von ihnen verfolgten Wahrnehmungsund Handlungsziele. Ein Vertrauen in die Sprache ergibt sich nur dann, wenn sie kategorial sehr unterschiedlichen Funktionen zugleich gerecht werden kann und keine Funktion zugunsten einer anderen von vornherein desavouiert. Deshalb ist auch eine wissenschaftliche Fachsprache zum Scheitern verurteilt, wenn mit ihr beispielsweise eine Liebeserklärung gemacht werden müsste. Die variable Polyfunktionalität des natürlichen Sprachgebrauchs bedingt nun allerdings auch, dass Wörter sich durch einen inflationären Gebrauch als Modewörter sehr schnell abnutzen. Sie müssen sich deshalb semantisch ständig erneuern bzw. häuten, wenn sie komplexen Sinn objektivieren und vermitteln wollen. Sprachliche Formen können in diesem Sprachgebrauch nicht sinnvoll als inhaltlich normierte Zahlungs- bzw. Informationsmittel in Erscheinung treten. Deshalb gehört der metaphorische Sprachgebrauch auch zu den genuinen Erscheinungsformen des natürlichen Sprechens und ist nicht als eine poetische oder rhetorische Sonderform der Sprachnutzung abzutun. Demgegenüber gründet sich der deskriptive wissenschaftliche Sprachgebrauch auf ganz andere Voraussetzungen und Zielsetzungen. Mit ihm ist der Anspruch verbunden, mit Hilfe begrifflich normierter sprachlicher Zeichen ein rein deskriptives mentales Abbild der Welt bzw. bestimmter Weltausschnitte zu objektivieren. In ihm genießen deshalb diejenigen sprachlichen Formen volles Vertrauen, die diese Aufgabe optimal erfüllen oder zu erfüllen scheinen. Sprachformen, die darüber hinaus auch emotionale, ethische oder ästhetische Wert- und Sinnakzente zu setzen versuchen bzw. die soziale, historische und appellative Implikationen haben, genießen dagegen keine große Wertschätzung, weil sie schnell unter einen Ideologie-, Manipulations- oder Trivialitätsverdacht fallen. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch soll sich unser Wahrnehmungsinteresse ganz auf die jeweils thematisierten Sachverhalte richten, während es sich beim natürlichen Sprachgebrauch gar nicht umgehen lässt, dass sich unser Wahrnehmungsinteresse sowohl auf Sachverhalte selbst richtet als auch auf deren Bedeutsamkeit für die Menschen als auch auf die sprachlichen Mittel, mit denen sie für die Beteiligten jeweils objektiviert werden.
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H. S. Frankel, Philosophie und Psychologie des Geldes, 1979, S. 75.
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Natürlich ist nun auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch eine medial sensibilisierte Nutzung der Sprache möglich. Diese ist sogar geboten, wenn die jeweiligen Wissenschaften an die Grenzen ihrer Aussagemöglichkeiten geraten und sachthematische Überlegungen mit wissenschafts- und erkenntnistheoretischen verbinden müssen. Gardt hat gezeigt, dass das Sprachvertrauen im Rahmen der wissenschaftlichen Sprachnutzung ganz unterschiedliche Erscheinungsformen haben kann, je nachdem ob sich das wissenschaftliche Denken primär an der Hermeneutik, der Pragmatik, der Sprachkritik oder am konstruktivistischen Denken orientiert. All diese wissenschaftstheoretischen Denkansätze haben nämlich ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob bzw. inwieweit man der Sprache als Objektivierungsmittel für Sachverhalte bzw. als intersubjektives Mitteilungsmittel für Sachverhalte vertrauen darf.88 Das Ziel der Wissenschaftssprachen, Begriffe zu entwickeln, die rein deskriptive Funktionen haben, die nach klaren Kriterien gebildet sind und die keine unzulässigen Beimischungen besitzen, ist natürlich gut zu rechtfertigen. Es wirft aber zugleich das Problem auf, ob solche Begriffe in einem umfassenden Sinne pragmatisch wirklich brauchbar sind. Oft zeigt sich nämlich, dass Legierungen nicht nur bei Münzen, sondern auch bei Begriffen deren Belastbarkeit und Verwendbarkeit im Rahmen unterschiedlicher Gebrauchsanforderungen erhöhen können, und zwar insbesondere dann, wenn Geld- und Sprachformen nicht nur zur Repräsentation von Werten dienen, sondern auch als Zahlungs- bzw. als Informationsmittel in Interaktionsprozessen. Das Vertrauen in Geld und Sprache hat prinzipiell ambivalente Implikationen. Einerseits treten Geld und Sprache immer als nivellierende Kräfte in Erscheinung, die Singularitäten oder individuelle Sachverhalte zerstören oder zumindest relativieren, weil sie dazu führen, diese nur noch in den Rastern des Geldes oder der Sprache wahrzunehmen. Andererseits sind das Geld und die Sprache wie auch die Kunst Kräfte, die Einfluss darauf nehmen, in welchen Perspektiven wir die Welt sehen bzw. sehen können, und die außerdem dazu führen, neue Kulturformen zu entwickeln, um die Welt auf variable Weise aspektuell wahrzunehmen. Formzerstörung und Formbildung gehören deshalb auf genuine Weise zum Funktionsspektrum des Geldes und der Sprache und prägen deshalb auch unsere Möglichkeiten, beiden Phänomenen mit Vertrauen oder mit Misstrauen zu begegnen. Ein generelles Misstrauen gegenüber der Sprache ist ebenso ungerechtfertigt wie ein generelles Vertrauen. Das verdeutlicht sich sehr schön in einem Bonmot des Sprachkritikers Mauthner über den Sprachkritiker Nietzsche. „Sein Mißtrauen gegen die Sprache ist unbegrenzt; aber nur solange es nicht s e i n e Sprache ist.“ 89 Wie leicht man dialektisch gesehen aus Nachteilen
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Vgl. A. Gardt, Sprachvertrauen. Die notwendige Illusion der ‚richtigen Bezeichnung’ in der Wissenschaftssprache, in: H. E. Wiegand (Hrsg.), Sprache und Sprachen in den Wissenschaften, 1999, S. 462–486. 89 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, S. 366.
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Vorteile machen kann bzw. den Gegenwind auch dazu nutzen kann, um voran zu kommen, hat Schopenhauer auf aparte Weise thematisiert. Sein Diktum, über die Möglichkeit der Steigerung unserer Sensibilität für Geld lässt sich sicherlich auch auf die Steigerung unserer Sensibilität für Sprache übertragen. „Kein Geld ist vorteilhafter angewandt, als das, um welches wir uns haben prellen lassen: denn wir haben dafür unmittelbar Klugheit eingehandelt.“ 90
7. Die sozialintegrativen Funktionen von Geld und Sprache In vielen utopischen Gesellschaftsentwürfen ist der Hoffnung Ausdruck gegeben worden, dass dermaleinst der Staat absterben und das Geld überflüssig werden könnte, weil man glaubte, beide Phänomene gehörten nicht zu den konstitutiven Faktoren sozialer Ordnungen. Gegen dieses Verständnis von Staat und Geld als Fremdkörpern in idealen sozialen Ordnungssystemen spricht allerdings, dass sich Staat und Geld historisch auf evolutionäre Weise entwickelt und erhalten haben. Das legt die Auffassung nahe, dass beide offenbar eine nicht einfach aufhebbare Regulationsfunktion für das menschliche Zusammenleben haben, da durch sie offenbar komplexe Interaktionsprozesse zwischen den Menschen erst sinnvoll organisiert werden können. Das Problem besteht so gesehen dann nicht darin, Staat und Geld zum Wohle der Menschen abzuschaffen, sondern vielmehr darin, beide Phänomene so zu strukturieren und zu gebrauchen, dass sie ihre hilfreichen sozialen Funktionen unter wechselnden Rahmenbedingungen so optimal wie möglich erfüllen können. Die sich verstärkende positive Wertung des Geldes für die Lebensfähigkeit komplexer soziale Verbände zeigt sich auch darin, dass man schon bald nach der Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey im Jahre 1628 eine Analogie zwischen den lebenserhaltenden Funktionen des Blutkreislaufs und den gesellschaftserhaltenden Funktionen des Geldkreislaufs gesehen hat. Ebenso wie der Blutkreislauf das Zusammenwirken von einzelnen Körperorganen sicherstelle, so könne auch der Geldkreislauf im Rahmen der Arbeitsteilung gewährleisten, dass die Mitglieder sozialer Verbände sinnvoll miteinander interagierten und stabile, aber dennoch flexible Lebensgemeinschaften bildeten Hörisch hat darauf aufmerksam gemacht, dass schon Hobbes im Leviathan die Funktion des Geldes im Staate mit der Vorstellung des Blutkreislaufs in Verbindung gebracht habe. Auch Goethe habe in seinem Tagebuch das italienische Sprichwort notiert, dass das Geld das zweite Blut des Menschen sei. Bezeichnend sei weiter, dass Dracula vom wirklichen Blut nicht lassen könne, weil er vom kalten Blut des Geldes genug habe. Deshalb gebe es von Dracula als dem Verächter alles Sekundären auch kein Spiegelbild.91
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A. Schopenhauer, Paränesen und Maximen, Nr. 43, Werke Bd. 4, S. 457. Vgl. J. Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, 1998, S. 342.
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Im Gegensatz zu den Spekulationen über die soziale Funktion des Geldes ist hinsichtlich der Sprache der Gedanke nie wirklich aktuell gewesen, dass sie möglicherweise ein Fremdkörper im Leben der Menschen sei und unter bestimmten Bedingungen absterben könne. Allenfalls hat man sich in mittelalterlichen Engelsspekulationen vorstellen können, dass die Engel als reine Geisteswesen keine Lautsprache haben müssten, weil sie sich schon durch die bloße Koordinierung ihrer Gedanken miteinander verständigen könnten. Die Sprache ist kulturgeschichtlich eigentlich immer als ein konstitutiver Faktor der menschlichen Existenzweise bzw. des menschlichen Zusammenlebens angesehen worden. Ein geldloses menschliches Zusammenleben hat man sich in utopischen Kulturentwürfen immer wieder gut vorstellen können, aber nicht ein sprachloses. Nur in menschlichen Extremsituationen wie etwa der Liebe, der Wut und des Hasses scheint die Verbalsprache funktionslos werden zu können. Da wir uns heute in einer konsequent arbeitsteiligen Gesellschaft ein menschliches Zusammenleben ohne Geld nicht mehr gut denken können, lohnt es sich, etwas genauer zu untersuchen, inwieweit dem Geld und der Sprache als kulturellen Institutionen eine grundlegende anthropologische Funktion zugeschrieben werden kann und inwieweit beide gerade deshalb auch wechselseitig als Sinnbilder für einander in Erscheinung treten können.
Die gesellschaftliche Funktion des Geldes Es ist heute sicherlich unstrittig, dass das Geld für die Ausgestaltung von Wechselbeziehungen unter den Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft eine fundamentale Rolle spielt. Einheitliche Geldwährungen erleichtern nicht nur merkantile Beziehungen, sondern fördern auch soziale Korrelations- und Integrationsprozesse. Stabiles Geld bzw. das Vertrauen auf stabiles Geld fördert das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen aller Art. Regionale Geldund Sprachformen tragen oft zur Identitätsbildung von Teilgruppen bei, aber sind letztlich doch Hindernisse für weiträumige Interaktionsprozesse zwischen den Menschen, weil mit ihnen auch hohe Reibungsverluste verbunden sind. Die Einführung der Euro-Währung sollte deshalb ja nicht nur die ökonomische Einheit Europas fördern, sondern auch seine kulturelle Identität festigen. Der sozialintegrative Funktionsanspruch des Geldes hat sich von vornherein auch immer darin dokumentiert, dass auf Geldstücken nicht nur deren jeweiliger Nominalwert verzeichnet worden ist, sondern darüber hinaus auch Herrscher, Wappen, Hoheitszeichen, Kulturgüter oder kulturell wichtige Persönlichkeiten abgebildet wurden. Über das Geld und seine spezifischen Erscheinungsformen wurde einerseits immer eine gewisse Distanz zur realen Warenwelt aufgebaut, aber andererseits zugleich auch immer eine soziale Nähe zwischen den jeweiligen Tauschpartnern, weil beim Gebrauch des Geldes natürlich immer auch die Modalitäten des Austausches von Waren und Dienstleistungen zu regeln waren. Wer dasselbe Geld verwendete, der gehörte zu derselben Interaktionsgruppe bzw. etwas pathetischer formuliert zu dersel-
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ben Schicksalsgemeinschaft, was gerade das Problem der Inflation immer wieder eindrucksvoll vor Augen führt. Adam Müller, der Hauptvertreter der romantischen Schule der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert und Kritiker der individualistisch-liberalen Wirtschaftslehre von Adam Smith, hat das Geld nicht nur als ökonomisches Funktionsmittel, sondern ausdrücklich auch als gesellschaftliches Konstitutionsmittel angesehen und ihm eben deshalb auch eine hohe anthropologische Relevanz zugeordnet. Für ihn ist das Geld geradezu so etwas wie eine Manifestationsweise der Gesellschaft. „Der Mensch bedarf dessen, was das Geld repräsentiert, der Gesellschaft nämlich oder der Abwesenden, des Beistandes der Menschheit, in jedem Augenblicke seines Lebens und bei jedem Geschäfte so notwendig wie der Luft. Das Geld oder die Gesellschaft ist ein Universalsalz, welches allen, allen Besitztümern des Lebens beigefügt werden muß und ohne welches sie alle, alle völlig unschmackhaft, ungenießbar, und unbrauchbar sind.“ 92
Der Mensch wird von Müller als ein genuin gesellschaftliches Wesen verstanden, welches einer regulierenden Kraft von außen bedürfe, um sich voll entfalten zu können. „Diese allgegenwärtige Kraft, juristisch ausgedrückt, heißt Souverän oder Rechtsidee; ökonomisch ausgedrückt heißt sie Geld.“93 Je mehr die Kräfte des Menschen durch Arbeitsteilung auseinander träten, desto stärker müsse der Staat das Band werden, das die Menschen zusammenhalte. Zu den ganz wesentlichen Funktionen des Staates gehöre dabei die Sicherung eines geordneten Geldwesens. „ ... das Verlangen nach dem Gelde ist ein bloßer unvollkommener Repräsentant des höheren Verlangens nach Vereinigung, nach dem Staate ... Daher habe ich an einem andern Orte gezeigt, wie das Geld eigentlich nichts anders sei als die Eigenschaft der Geselligkeit, welche in größerem oder geringerem Grade allen Dingen innewohne, und daß unter den Sachen, besonders die edeln Metalle, unter den Personen aber noch in viel vollkommenerer Gestalt der wahre Staatsmann diese Eigenschaft an sich trage.“ 94
In dieser Denkperspektive sind für Müller Staatspapiere bzw. Papiergeld keineswegs nur Substitute des Metallgeldes, sondern bei verantwortlichem Gebrauch durchaus als höher entwickelte Formen des Geldes zu werten, weil sie die staatliche und gesellschaftliche Zusammengehörigkeit der Menschen in einem stärkeren Ausmaße förderten als die alten Geldformen. Das Papiergeld basiere in höherem Maße als das Metallgeld auf einem gesellschaftlichen Vertrauen und ermögliche es, dass eine erheblich größere Zahl von Tauschpartnern in rechtlich geregelte Beziehungen zu einander treten könnte. Deshalb ist
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A. Müller, Elemente der Staatskunst, 1936, S. 250. A. Müller, a.a.O., S. 260. 94 A. Müller, Versuche einer neuen Theorie des Geldes (1816), in: Nationalökonomische Schriften, 1983, S. 150–151 93
Die sozialintegrativen Funktionen von Geld und Sprache
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für ihn die jeweilige Form des Geldes auch ein Gradmesser für den Stand der Vergesellschaftung des Menschen. Als gesellschaftliche Institutionen sind für Müller weder das Geld noch der Staat noch die Sprache punktuelle Erfindungen, sondern ein Gemeinschaftswerk aller und damit ein Indiz für den Grad ihrer Zusammengehörigkeit. Sowohl das Münzgeld als auch das Papiergeld lebten von ihren gesellschaftlichen Beglaubigungsformeln, die letztlich alles Geld als idealisches Geld auswiesen. „Münzen heißt den schwankenden Wert der edlen Metalle befestigen; was könnte ihn befestigen als eine Sache von einem höheren, festeren Werte: dieses ist das Gesetz ... Sobald es also eine Münze gibt, muß es einen Münzpreis geben; gibt es einen Münzpreis, so ist das Wesentliche des Papiergeldes schon vorhanden; Alleinherrschaft des Metalls, wenn es je eine solche gegeben, ist zu Ende; das andere Element des Geldes ist da, welches die Widersacher des Papiergeldes nur als einen Sklaven des Metalls zu begreifen wissen. Schon durch die Münze geht eine wirkliche Transsubstantiation des Goldstücks in den Leib des Staates vor sich ...“ 95
Die Korrelation des Geldes mit dem religiösen Transsubstantiationsgedanken mag uns heute sehr überhöht erscheinen. Gleichwohl sollten wir aber nicht vergessen, dass sich für uns im Kontext von Geldvorstellungen oft fast mythische Übergangsvorstellungen einstellen. Das exemplifiziert sich nicht nur in dem Glauben, dass man sich mit Geld nahezu alles kaufen könne, sondern auch in den gängigen Bildern auf Geldscheinen. Wohl nicht ganz zufällig finden wir auf den Euroscheinen Fenster, Tore und Brücken als ikonische Zeichen für das Phänomen des Übergangs von einer Sphäre in eine andere Sphäre Ein recht anderes Bild von der gesellschaftlichen Funktion des Geldes als Adam Müller haben Karl Marx und Friedrich Engels dreißig Jahre später in ihrem Kommunistischen Manifest entwickelt. Hier wird die Bourgeoisie als Vorreiterin und Nutznießerin des Geldwesens als eine Teilgruppe der Gesellschaft gegeißelt, die mit Hilfe des Geldes natürlich gewachsene soziale Ordnungszusammenhänge zerstört oder grausam vereinfacht habe. „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt ... Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung’... Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt ... Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“ 96
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A. Müller. Versuche einer neuen Theorie des Geldes, a.a.O., S. 193. K. Marx / Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, 196729, S. 45–46.
Die Sprache als Geld
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Die gemeinschaftsbildende Funktion des Geldes und der Sprache Die Vorstellung, dass die Sprache nicht nur eine gesellschafts-, sondern auch eine gemeinschaftsbildende Funktion habe und zur Bildung von Nationen beitrage, ist ein alter Topos der Sprachreflexion.97 Die Vorstellung, dass das Geld dieselbe Funktion haben könnte und nicht nur eine polarisierende Funktion im Rahmen von Klassenkämpfen, wie beispielsweise Marx und Engels es primär sahen, ist dagegen eine Auffassung, die in ziemlich singulärer Weise am Anfang des 19. Jahrhunderts von Adam Müller entwickelt worden ist. Müllers Glaube an die sozialintegrativen Funktionen des Geldes trägt aus heutiger Sicht ausgesprochen sozialromantische Züge. Gleichwohl ist dieser Glaube aber dennoch sehr aufschlussreich, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern Geld als Sinnbild für Sprache in Erscheinung treten kann. In Rahmen seines Denkansatzes weist Müller nämlich insbesondere darauf hin, dass sowohl das Geld als auch die Sprache Repräsentanten eines angesammelten Kapitals seien, dass beide den Prozess der Arbeitsteilung förderten, dass man beiden zu vertrauen habe, dass beide zirkulieren müssten und dass beide bei der Ausbildung von Verkehrs- und Kommunikationsgemeinschaften wechselseitig positiv aufeinander einwirkten. „Es gibt zwei große Gemeingüter der Menschen, welche alle Verbindungen und Trennungen unter den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen und anzuordnen dienen: das eine dieser Gemeingüter ist mehr ein geistiges, die Sprache, das andere ein mehr physisches, das Geld. Daß ich Geld ein Gemeingut der Menschen nenne, darf nicht mehr befremden, nachdem ich hinreichend bewiesen habe, daß es nur insofern Geld zu nennen ist, als es lebhaft zirkuliert, also vielmehr der Gesellschaft überhaupt als dem einzelnen unmittelbar dient. - Nach Maßgabe der Lokalität eines bestimmten Landes und des Charakters einer bestimmten Nation werden sich diese beiden Auseinandersetzungs- und zugleich auch Verbindungsinstrumente eigentümlich ausprägen. So lange dieses Gepräge nicht ausgelöscht ist, so lange kann man von einer einzelnen Nation nicht sagen, daß sie überwunden oder hoffnungslos unterjocht sei. In dieser Landessprache und in diesem Landesgelde vornehmlich stellt sich das Kapital einer Nation dar: ihr Kapital an Erfahrungen, Ideen und Lebensweisheit wird aufbewahrt und bewirtschaftet vermittels der Sprache; ihr Waren- und Sachkapital wird konserviert und in Bewegung gesetzt vermittels des Geldes.“ 98
Im seinen romantischen Denkrahmen scheut Müller sich nicht, Geld und Sprache bzw. Ökonomie und Kultur in einen umfassenden Theoriezusammenhang zu integrieren und sie nicht als polare Welten einander gegenüberzustellen. Das hat dann natürlich zur Konsequenz, Geld auch als kulturelles und Sprache auch als ökonomisches Phänomen zu betrachten, weil beide von Müller als Ausdrucksformen des Reichtums und der Kooperation angesehen werden.
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Vgl. A. Gardt (Hrsg.), Nation und Sprache, 2000. A. Müller, Elemente der Staatskunst, 1936, S. 310–311.
Die sozialintegrativen Funktionen von Geld und Sprache
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„Ich brauche nicht erst als Beispiel irgendein unkultiviertes Land zu zitieren, um zu zeigen, welchen großen, nicht zu berechnenden Anteil die Gelenkigkeit und Bestimmtheit der Sprache an dem Gedeihen des Nationalreichtums hat und daß die Sprachmünze ein ebenso politisch wichtiges Objekt ist wie die Geldmünze. Das Erfahrungskapital, welches im Feldbau und in der Stadtwirtschaft vermittelst der Sprache angewendet, mitgeteilt und in Bewegung gesetzt wird, ist ebenso mächtig, vielleicht noch mächtiger als das Warenkapital, zu dessen unendlicher Mobilisierung das Geld vonöten ist. Das Kapital von Nationalweisheit, welches sich in dem unendlichen Verkehre der zeitlichen Operationen des Ackerbaues und der örtlichen Funktionen der Stadtwirtschaft entwickelt, ist ebenso wichtig, ja wichtiger als das Kapital von physischer Nationalkraft, welches dieser Verkehr zurückläßt. Die Ahnung von dem unendlichen Einflusse eines solchen unsichtbaren Kapitals hat in den neuesten Staaten neben der Verwaltungsstelle des physischen Kapitals, neben dem Finanzdepartement, fast allenthalben Departements und Direktionen des öffentlichen Unterrichts und der sogenannten Volksaufklärung herbeigeführt ... Demnach lassen Sie uns folgendes festsetzen. In dem unendlichen Verkehr des Menschen mit der Natur oder in der Wechselwirkung zwischen dem Grund und Boden und der Arbeit erzeugt sich und häuft sich ein doppeltes Kapital: ein geistiges Erfahrungskapital, welches durch Sprache, Rede und Schrift realisiert und in Bewegung gesetzt; und eine physisches Warenkapital, welches durch Metallgeld, Kredit und Handel mobilisiert wird ... Demzufolge können die oft erwähnten drei Elemente des Nationalreichtums auch als vier auf folgende Art ausgedrückt werden: Land, Arbeit, physisches Kapital in Geld, geistiges Kapital in Rede, Wissenschaft und Schrift.“ 99
Der Hauptgrund dafür, dass Geld und Sprache eine sozialintegrative bzw. gemeinschaftsbildende Funktion haben, sieht Müller darin, dass mit ihrer Hilfe nicht einfach Güter oder Informationen ausgetauscht werden, sondern dass ihr Gebrauch es notwendig macht, Konventionen und Werte zu entwickeln und intersubjektiv zu respektieren. Deshalb hat für ihn sowohl das Geld als auch die Sprache etwas Idealisches an sich, weil durch beide Phänomene Werte und Wertmaßstäbe konkretisiert würden. Müller spricht daher auch ganz ungeniert von „Wortgeld“, worunter er keineswegs nur Kreditgeld, sondern auch Sprachgeld versteht. Wenn nämlich jeder eine Sache nur für sich selbst bewerten und kategorisieren wollte, dann käme weder Austausch noch Kommunikation noch ein lebendiges Gemeinwesen zustande. Aus diesem Grunde kann es für Müller letztlich auch weder ein ökonomisches noch ein kognitives Privateigentum in einem ganz individuellen Sinne geben.100 Geld und Sprache wurzeln für Müller beide in der Vergangenheit, werden beide in der Gegenwart verwendet und greifen beide in die Zukunft aus. Aus diesem Grunde bilden für ihn diejenigen, die Geld und Sprache verwenden, nicht nur eine Austauschgesellschaft für Waren und Informationen, sondern
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A. Müller, a.a.O. S.311–313. Vgl. A. Müller, Versuch einer neuen Theorie des Geldes, 1816, in: Nationalökonomische Schriften, 1983, S. 181 ff.
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Die Sprache als Geld
auch eine Lebensgemeinschaft im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft, in der Vergangenheit und Zukunft ständig ineinandergreifen. Der Gebrauch von Geld und Sprache ist für ihn gleichbedeutend mit der Transzendierung individueller Lebenswelten und mit dem Eintritt in umfassende soziale Lebenswelten. Deshalb sind für ihn beide Phänomene auch keine unveränderlichen, sondern variable Größen, in denen die jeweils vorhandenen Traditionen in einem Fließgleichgewicht miteinander gebracht werden müssen, wobei diese natürlich immer zugleich bewahrt und umgestaltet werden. Wenn wir von einer gemeinschaftsbildenden Funktion des Geldes und der Sprache reden, dann dürfen wir nicht nur an das in ihnen gespeicherte ökonomische oder kognitive Kapital denken, sondern auch an die menschlichen Fertigkeiten, mit diesem Kapital sinnvoll umgehen zu können. Das in Geld und Sprache gespeicherte Sach- und Gegenstandswissen nützt nichts, wenn es kein Handlungswissen für den Umgang mit diesem gibt. Wer dieses Handlungswissen nicht hat, gehört nicht zu der Gruppe bzw. Gemeinschaft, die sich über gemeinsames Geld und über gemeinsame Sprache konstituiert. Beim Gebrauch von Geld müssen wir wissen, wie wir mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Geld vom Warengeld über das Symbolgeld bis zum Buch- und Kreditkartengeld umzugehen haben. Wir müssen wissen, wann man etwas mit Geld bezahlt und wann man etwas besser mit anderen Äquivalenzwerten ausgleicht, wann man Trinkgeld zu geben hat und wann dieses als eine Beleidigung verstanden werden kann, wann man über Preise zu schweigen hat und wann nicht. Die vielfältigen Umgangsweisen mit Geld lassen sich kaum normativ konkretisieren, da sie Resultanten aus Traditionen, Erfahrungen, Situationen und Intentionen sind. Wer über dieses Wissen nicht verfügt, der weist sich als jemand aus, der nicht zu einer bestimmten Werte- und Lebensgemeinschaft gehört bzw. zu einer bestimmten sozialen Gruppe, die sich über bestimmte Verhaltensweisen von anderen abgrenzen will. Der Neureiche, der in einer traditionsfremden Weise sein Geld ausgibt, wird von einem Altreichen schon aus diesem Grunde nicht als seinesgleichen anerkannt. Es ist nun sehr viel schwieriger, verlässliche Aussagen über die gemeinschaftsbildende Funktion eines bestimmten Umgangs mit Sprache zu machen als solche über einen bestimmten Umgang mit Geld. Das liegt vor allem daran, dass die natürliche Sprache ein noch komplexeres Handlungsinstrument als Geld ist und dass sie zu Recht als das Werkzeug aller Werkzeuge angesehen werden kann, weil es ähnlich wie die Hand dazu dienlich ist, andere Werkzeuge herzustellen. Wenn wir nun etwas mehr über die gruppen- bzw. gemeinschaftsbildenden Funktionen der Sprache erkunden wollen, dann hilft der Stilbegriff vielleicht etwas weiter. Das lässt sich sowohl an den wissenschaftlichen, ideologischen und religiösen Sprachverwendungsweisen zeigen als auch den spezifischen Jargons von Alters-, Berufs und Sozialgruppen. Zum sprachlichen Stilwissen gehört ein Wissen darüber, wann man reden sollte und wann man zu schweigen hat, welche Auswahl man situativ aus dem Repertoire lexikalischer, grammatischer und textueller Formen zu treffen hat, wann ein begrifflicher und wann ein bildlicher Sprachgebrauch angemessen
Die sozialintegrativen Funktionen von Geld und Sprache
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ist, wann emotional akzentuierte Redeweisen zulässig sind und wann nicht usw. Die Stilformen beim Gebrauch der Sprache haben nicht immer etwas mit dem konkreten Sachgehalt von Aussagen zu tun, aber immer etwas mit dem Stellenwert von Mitteilungen in einem komplexen intersubjektiv nachvollziehbaren Vorstellungszusammenhang. Sie geben uns nämlich Hinweise darauf, in welchen Denkperspektiven ein Hörer Sachinformationen aufnehmen und verwerten soll. Deshalb sagen uns Stilformen auch immer etwas über die Gruppenzughörigkeit eines Sprechers und über seine jeweiligen Mitteilungsziele.101 In der Sprechakttheorie hat man, wie schon erwähnt, versucht, klar zwischen zwei unterschiedlichen semantischen Ebenen einer sprachlichen Äußerung zu unterscheiden, nämlich zwischen der Ebene ihres Sachinhalts (propositionaler Gehalt) und der Ebene ihrer Handlungsintention (illokutive Funktion). Die letztere Ebene lässt sich dann kategorial nach unterschiedlichen Handlungstypen ausdifferenzieren (Behaupten, Erzählen, Warnen, usw.), was sich allerdings insofern als ziemlich problematisch erweisen kann, als sich diese idealtypisch unterscheidbaren Handlungsfunktionen auch überlagern können. Gleichwohl gilt, dass die Sensibilität für die mit sprachlichen Aussagen verbundenen Sprechakte bzw. Handlungsfunktionen eine Vorbedingung dafür ist, zu einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft zu gehören. Das verdeutlicht sich exemplarisch beim Spracherwerb von Kindern und Ausländern, weil diese oft noch kein ausdrückliches oder intuitives Wissen davon haben, wie und wann man bestimmte sprachliche Formen verwenden kann oder darf. Unter diesen Umständen ist es sicherlich auch kein Zufall, dass Searle, der Protagonist der Sprechakttheorie, ganz ausdrücklich in einer ganz anderen Denkperspektive als Adam Müller darauf verwiesen hat, dass der Gebrauch von Geld- und Sprachformen pragmatisch viele Ähnlichkeiten zueinander aufweise. Geld und Sprache sind für Searle nämlich institutionellen Wirklichkeiten, die man erst nach und nach zu beherrschen lerne.102 Wer diese institutionellen Wirklichkeiten nicht zureichend kennt, nicht Ernst nimmt oder gegen ihre Regularitäten verstößt, dem drohen nicht nur kommunikative Missverständnisse, sondern auch die Gefahren der sozialen Isolation. Geld und Sprache bzw. Geld- und Sprachgebrauch haben so gesehen beide dann eine kommunikations- und damit auch kulturstiftende soziale Wirkung. Die sozialintegrative Wirkung des Geldes dokumentiert sich auch im Kreditgedanken als Vertrauensgedanken, der eng mit der Evolutionsgeschichte des Geldes verbunden ist. Das exemplifiziert sehr schön eine volkswirtschaftliche These. Diese besagt, dass der Anspruch auf ein Pferd einen noch nicht beritten macht, aber der Anspruch auf Kredit durchaus schon zahlungsfähig.
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Vgl. W. Köller, Stil und Grammatik, in: Fix ,U. / Gardt, A. / Knape, J. (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik, 2. Halbband, 2009, S.1210–1230. 102 Vgl. J. R. Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft, 2001, S.151 ff.
X
Die Sprache als Spiegel
Für das gegenwärtige sprachtheoretische Denken scheint der Spiegel kein besonders attraktives Sinnbild für Sprache zu sein, sondern eher ein historisch überholtes, für das wir allenfalls noch antiquarisches Interesse aufzubringen haben. Für diese Einschätzung sprechen insbesondere zwei Umstände. Zum einen ist in der Erkenntnistheorie die sogenannte Widerspiegelungstheorie bzw. die Auffassung, dass sich gleichsam auf der Ebene der sprachlichen Zeichen und Aussagen ein realitätsgesättigtes Spiegelbild der Welt herstellen lasse, ziemlich in Verruf geraten bzw. als naiv abqualifiziert worden. Zum andern scheint der Spiegel ein sehr schematisch wirksames kognitives Objektivierungsmittel zu sein, weil Spiegelbilder ihre jeweiligen Objekte nach festen optischen Gesetzen abbilden und deshalb schwerlich mit dem Interpretationsund Gestaltungsgedanken in Verbindung gebracht werden können, die beide eine zunehmende Relevanz in der Sprachtheorie bekommen haben. Diese Sicht auf die möglichen Sinnbildfunktionen des Spiegels für die Sprache wird aber weder der Funktionalität des Spiegels in optischen Abbildungs- bzw. Repräsentationsprozessen gerecht noch dem heuristischen Potenzial des Spiegels als Bildspender für den Bildempfänger Sprache. Das Problem der optischen bzw. sprachlichen Spiegelung der Welt ist viel komplexer als es diese erste grobe Skizzierung der Spiegelproblematik nahelegt. Wir haben uns nämlich zu fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von einer Widerspiegelung der Welt im Denken oder in der Sprache sprechen und welche Rolle neben den jeweiligen Objekten die wahrnehmenden Subjekte in solchen Prozessen spielen. Zweifellos hat der Spiegel immer etwas mit dem Phänomen des Nachmachens zu tun, aber sicherlich auch mit dem Problem der Umgestaltung, was Jean Paul sehr schön ironisch thematisiert hat. „ Der Mensch wird von vier Dingen nachgemacht, vom Echo, Schatten, Affen und Spiegel.“ 1 Um neben den ganz offensichtlichen optischen Reflexionsmöglichkeiten des Spiegels auch noch die weniger offensichtlichen Transformations- und Gestaltungsfunktionen des Spiegels zu erfassen, ist es hilfreich, sich zunächst auf phänomenologische Weise die besonderen Struktur- und Funktionsmerkmale des Spiegels zu vergegenwärtigen. Nur dann lassen sich die möglichen Analogien zwischen Spiegel und Sprache herausarbeiten und klären, was gemeint sein kann, wenn wir von Spiegelbildern, Widerspiegelungen, lebendigen Spiegeln, Spiegelmagie usw. sprechen. Die phänomenologischen Überlegun-
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J. Paul, Levana § 138, Werke Bd. 10, S. 844.
Zur Phänomenologie des Spiegels
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gen zur Spiegelproblematik sind natürlich nicht dazu bestimmt, auf erschöpfende Weise die Spiegelstrukturen und Spiegelfunktionen herauszuarbeiten, sondern lediglich dazu, das Phänomen Spiegel hinsichtlich derjenigen Aspekte zu erfassen, die erhellende Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Phänomen Sprache aufweisen und die uns helfen, über bestimmte Analogie- und Differenzrelationen das komplexe Phänomen Sprache besser zu verstehen. Die sehr reichhaltige Literatur zu den kulturgeschichtlichen Dimensionen der Spiegelproblematik kann deshalb nicht vollständig berücksichtigt werden.2
1. Zur Phänomenologie des Spiegels Alle phänomenologischen Aussagen zum Spiegel haben zu beachten, dass dieser auf eine konstitutive Weise mit dem menschlichen Sehsinn verbunden ist. Das ist im Hinblick auf die hier verfolgten Ziele keine triviale Feststellung, da wir gerade bei der Analyse von kognitiven Prozessen ständig metaphorisch Bezug auf den Sehsinn nehmen. Immer wieder hat man gerade die Augen als besonders vertrauenswürdige Sinnesorgane angesehen, um einen verlässlichen Weltkontakt herzustellen. Seit der Antike ist der Vorgang des Sehens ständig mit dem des Erkennens analogisiert worden. Das ist insbesondere dadurch motiviert, dass das Sehen im Gegensatz zum Tasten, Riechen und Schmecken das wahrnehmende Subjekt nicht unmittelbar mit der Welt der Objekte verquickt und dass das Sehen im Gegensatz zum Hören seine Aufmerksamkeit sehr viel selektiver auf bestimmte Objekte bzw. Objektaspekte konzentrieren kann. Das Sehen bietet die Chance, eine gewisse Distanz zu den Objekten zu gewinnen, was wiederum ihre ganzheitliche Wahrnehmung erleichtert. Der Sehsinn ermöglicht wie kein anderer Wahrnehmungssinn, eine variable Fernnähe zu den jeweiligen Wahrnehmungsobjekten herzustellen. Diese Besonderheit des Sehsinns ist für die Sprachproblematik nicht unerheblich, weil die über den Spiegel laufenden indirekten Wahrnehmungsprozesse von Welt ebenfalls nicht nur als rein passive Rezeptionsprozesse von Subjekten zu verstehen sind, sondern durchaus auch als aktive Gestaltungsprozesse. Der Spiegel kann so gesehen als ein Hilfsmittel der Wahrnehmung angesehen werden, das die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Augen auf ganz besondere Weise ausweitet. Ebenso wie die Lupe und das Fernrohr lässt sich der Spiegel sogar als eine hilfreiche und ergänzende Prothese des Auges verstehen, welche die natürliche räumliche Begrenztheit des menschlichen Sehsinns kompensiert, ohne dabei seine konstitutiven Grundmerkmale (Intentionalität, Selektivität, Distanzierung, Ganzheitlichkeit) zu schwächen.
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Vgl. dazu: G. F. Hartlaub, Der Zauber des Spiegels, 1951; W. Gilde, Gespiegelte Welt, 1979; J. Baltrušaitis, Der Spiegel 1989; E. Peez, Die Macht der Spiegel. 1990; R. Haubl, „ Unter lauter Spiegelbildern ...“, 1991; K. W. Kopanski, Der männliche Blick in den Spiegel, 1989.
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Die Sprache als Spiegel
Im Rahmen dieser Denkvoraussetzungen soll in den folgenden Überlegungen nun versucht werden, den Spiegel als ein Vermittlungsinstrument mit ganz besonderen Funktionen phänomenologisch näher zu beschreiben, nämlich als physisches Strukturgebilde, als pragmatisch vielfältig nutzbares Funktionsgebilde, als Medium von Wahrnehmungsprozessen und als Werkzeug der Kognition. Bei diesen vier Zugriffen wird vorerst darauf verzichtet, die Spiegelproblematik ausführlich mit der Sprachproblematik zu verknüpfen, um das Potenzial des Spiegels als Bildspender so umfassend wie möglich zu erschließen.
Der Spiegel als Strukturgebilde Optische Spiegel können in vielerlei Gestalt in Erscheinung treten: als eine spiegelnde Wasseroberfläche, als ein poliertes Metallstück, als eine metallhinterlegte Glasscheibe, als eine spiegelnde Fensterscheibe usw. An die Existenz und die Funktion von Spiegeln haben wir uns im Verlaufe der Kulturgeschichte so gewöhnt, dass wir Spiegel heute gar nicht mehr als außergewöhnliche oder gar magische Phänomene wahrnehmen, die uns Zugang zu normalerweise nicht wahrnehmbaren Welten oder Weltausschnitten verschaffen. Für das historische Verständnis der Spiegelmetaphorik ist deshalb zu beachten, dass Spiegel lange Zeit kostbare Prunkstücke waren und dass mit ihnen keineswegs immer optimale Widerspiegelungseffekte erzielt werden konnten. Erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert war es möglich, metallhinterlegte plane Glasspiegel herzustellen, die relativ unverzerrte und ungetrübte Spiegelbilder erzeugen konnten. Die heute verwendeten aluminiumbeschichteten Glasplatten erreichen dabei eine kaum noch zu überbietende Spiegelungsqualität, die es manchmal schwer machen kann, klar zwischen der Wahrnehmung von realen und von abgespiegelten Gegenständen zu unterscheiden. Neben den planen Spiegeln gibt es natürlich auch noch konvexe Spiegel mit einem verkleinernden und konkave Spiegel mit einem vergrößernden Abspiegelungseffekt sowie allerlei andere Spiegelformen mit unterschiedlich strukturierten Spiegelungs- bzw. Verzerrungseffekten. Bei solchen Spiegeln unterliegen wir nicht so schnell der Illusion, ein Spiegelbild für eine abgespiegelte Realität zu halten, bzw. dem Glauben, die Widerspiegelung von etwas als eine Art Realitätsverdopplung anzusehen. Solche Spezialspiegel legen es von vornherein nahe, den Spiegel als ein Werkzeug zur Realisierung ganz bestimmter Wahrnehmungsziele anzusehen. Gleichwohl besitzen alle Spiegelformen eine gewisse magische Aura, weil wir mit ihrer Hilfe unsere übliche Wahrnehmung von Welt transzendieren und Dinge zu sehen bekommen, die wir sonst gar nicht oder nicht so sehen können. Wegen ihrer glatten Oberfläche besitzen Spiegel im Gegensatz zu anderen ebenen Flächen die Besonderheit, als Projektionsflächen dienlich zu sein, die einfallende Lichtstrahlen nicht diffus reflektieren, sondern entsprechend von optischen Gesetzen auf eine ganz geordnete Weise. Raue, unpolierte oder beschlagene Spiegeloberflächen eignen sich deshalb nicht optimal für Wider-
Zur Phänomenologie des Spiegels
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spiegelungsprozesse. Perfekte Spiegel erzeugen beim Betrachter dagegen immer die Illusion, dass die Gegenstände und Gegenstandskonstellationen, die sich faktisch vor dem Spiegel befinden, gleichsam in dem von dem jeweiligen Spiegel eröffneten Sehraum noch einmal in Erscheinung treten bzw. sich auf eine magische Weise gleichsam verdoppeln. Nur wenn jemand einen Spiegel im realen Raum klar als einen solchen identifizieren kann, hat er die Chance, eindeutig zwischen dem abgespiegelten Original und dem jeweiligen Bild des Originals im Spiegel zu unterscheiden bzw. zwischen dem real gegebenen Raum und dem virtuellen Raum im Spiegel. Als physisches Gebilde ist der Spiegel immer ein Ding unter Dingen. Phänomenologisch gesehen ist er primär aber nicht als Was-Ding, sondern vielmehr als Wozu-Ding interessant. Deshalb fassen wir ja auch so unterschiedliche Dinge von der glatten Wasseroberfläche bis zu beschichteten Glasplatten unter dem Begriff Spiegel zusammen, ganz zu schweigen davon, dass wir oft auch die Natur, Kultur, Vernunft, Geschichte oder Sprache als Spiegel bezeichnen. Das rechtfertigt sich nur, wenn wir einen Spiegel nicht nur als ein Struktur-, sondern auch als ein Funktionsgebilde ansehen und im Prinzip alles als Spiegel werten, was dazu geeignet ist, das Bild von etwas anderem aufscheinen zu lassen. Deshalb ist der Spiegel phänomenologisch auch weniger als Substanz-, sondern eher als Relationsphänomen interessant, was die Spiegelproblematik dann auch zu einer Medien- und Zeichenproblematik macht. Wenn man einen Spiegel als ein physisches Strukturphänomen mit relationsstiftenden und interpretativen Funktionen wahrnimmt, dann ergibt sich für seine Inanspruchnahme als Bildspender natürlich ein weites Feld. Nicht nur metallbeschichtete Glasplatten, sondern auch Baustile, Staatsformen, Sitten oder Sprachformen lassen sich dann als Phänomene verstehen, die auch noch etwas anderes als sich selbst ikonisch zur Erscheinung bringen können bzw. die sich von uns als Projektionsflächen für etwas anderes nutzen lassen. Auch wenn der Spiegel die Phänomenologie hauptsächlich als ein funktionales Phänomen interessiert, so ist doch immer auch zu berücksichtigen, dass seine physische Beschaffenheit und Struktur einen konstitutiven Einfluss auf seine jeweiligen Abbildungs- und Objektivierungsleistungen hat. Das gilt dann natürlich auch für alle Phänomene, die man sinnbildlich als einen Spiegel betrachtet wie etwa die menschliche Vernunft. Deshalb hat der Biologe Konrad Lorenz auch darauf aufmerksam gemacht, dass man die rein biologischen Prämissen der menschlichen Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten als apriorische Faktoren ernst nehmen müsse, weil sie eine fundamentale erkenntnistheoretische Bedeutsamkeit hätten, was viele Erkenntnistheoretiker oft übersähen. „Auch heute noch blickt der Realist nur nach außen und ist sich nicht bewußt, ein Spiegel zu sein. Auch heute noch blickt der Idealist nur in den Spiegel und kehrt der realen Außenwelt den Rücken zu. Die Blickrichtung beider verhindert zu sehen, daß der Spiegel eine nicht spiegelnde Rückseite hat, eine Seite, die ihn in eine Reihe mit den realen Dingen stellt, die er spiegelt: Der physiologische Apparat,
Die Sprache als Spiegel
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dessen Leistung im Erkennen der wirklichen Welt besteht, ist nicht weniger wirklich als sie.“ 3
Diese Ausführungen von Lorenz illustrieren sehr schön, dass Spiegel strukturtheoretisch betrachtet keine neutralen Objektivierungsmittel für die Welt sind, sondern solche, bei denen die jeweilige Spiegelstruktur einen konstitutiven Einfluss auf die jeweiligen Objektivierungsergebnisse nimmt, seien es nun physische Spiegel im Reiche der Optik oder sinnbildlich zu verstehende Spiegel im Reiche der Kognition. Ohne genaue Kenntnisse der jeweiligen Beschaffenheit, Herkunft und Aufgaben von Spiegeln lassen sich keine belastbaren Aussagen über die von ihnen konstituierten Spiegelbilder machen. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat die Denkposition von Lorenz zustimmend zur Kenntnis genommen und sie gleichzeitig auf erhellende Weise auf einer noch fundamentaleren Ebene gerechtfertigt. Man müsse nämlich bedenken, „daß auch das Bild, das die Naturwissenschaft von der Rückseite des Spiegels entwirft, ein Bild im Spiegel ist. Die Biologie des Subjekts wird von Subjekten gemacht und steht unter allen Bedingungen ihrer Subjektivität.“ 4 Im Rahmen dieser Überlegungen zu den erkenntnistheoretischen Implikationen des Spiegels wird deutlich, dass Spiegel aller Art Menschen in selbstbezügliche Denkprozesse hineinziehen können und eben deshalb auch eine genuine Ähnlichkeit mit der Sprache haben. Die Frage nach den Objektivierungsleistungen von Spiegelbildern ist ebenso wie die nach den entsprechenden Leistungen von Sprachformen ohne die Beschäftigung mit der Genese von Spiegelbildern und Sprachformen nicht befriedigend zu beantworten. Diese Frage impliziert außerdem immer das Problem, mit Hilfe welcher anderen Spiegel- und Sprachformen wir diese Leistungen beurteilen wollen und können. Dadurch treten wir dann sowohl bei der Analyse von optischen Spiegelleistungen als auch bei der von kognitiven Sprachleistungen in unendliche Reflexionsprozesse ein, die man eigentlich nur methodisch, aber nicht faktisch beenden kann. Die Rückseite bzw. die Konstitutionsbedingungen von Spiegeln müssen wir ebenso wie die von Sprache spiegeln. Jedes der dabei entwickelten Spiegelbilder bedarf zu seiner interpretativen Qualifizierung wiederum anderer Spiegelbilder, seien es nun begriffliche, bildliche oder narrative. Logiker empfinden diese Situation in der Regel als höchst problematisch, weil dadurch Erkenntnisprozesse eigentlich nie abschließbar sind, sondern immer weitergeführt werden können oder gar müssen. Hermeneutiker und Semiotiker empfinden dagegen diese Situation als normal, weil sie zeigt, dass alle Denkprozesse eigentlich immer ineinandergreifende Analyse- und Syntheseprozesse sind, die letztlich zu pragmatisch orientierten Gestaltwahrnehmungen führen, denen immer wieder eine andere Form gegeben werden kann.
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K. Lorenz. Die Rückseite des Spiegels, 1977, S. 33. C. F. von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 18844, S. 187.
Zur Phänomenologie des Spiegels
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Der Spiegel als Funktionsgebilde Funktional betrachtet wird ein möglicher Spiegel erst dann ein wirklicher Spiegel, wenn er für Subjekte Spiegelbilder wahrnehmbar macht, seien es nun optische oder geistige. Ähnlich wie Zeichen konstituieren sich auch Spiegel erst dadurch, dass sie auf etwas anderes übergreifen, was nicht zu ihrer empirischen Gegenständlichkeit selbst gehört, aber dennoch mit dieser verbunden ist. Da das Verhältnis der Spiegelbilder zu ihren Originalen noch gesondert erörtert werden soll, konzentrieren sich die nun folgenden Überlegungen darauf, den Spiegel als ein Phänomen zu erfassen, durch das sich sehr unterschiedliche Faktoren in einen Interaktionzusammenhang miteinander bringen lassen. Den Spiegel können wir uns als relationsstiftendes Funktionsgebilde dadurch gut vorstellbar machen, dass wir danach fragen, wie wir über ihn reden, da uns die Antwort auf diese Frage Aufschluss über unser elementares Spiegelverständnis gibt. Diesbezüglich ist nun auffällig, dass wir das Substantiv Spiegel, das eigentlich ja eine Bezeichnung für ein lebloses physisches Objekt zu sein scheint, faktisch oft so verwenden, als ob es eine lebendige handlungsfähige Größe bezeichnet, die als Agens von Prozessen in Erscheinung treten kann: Der Spiegel sagt die Wahrheit. Der Spiegel zeigt uns, was sich hinter uns befindet. Der Spiegel vermehrt unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Solche Redeweisen lassen sich zwar als metaphorisch kennzeichnen, aber sie sind uns inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir Spiegel ebenso wie Sprachen als Größen verstehen, denen eine besondere Kraft eigen ist bzw. von denen sogar Handlungsimpulse auszugehen scheinen. Wenn wir Spiegel befragen, wenn Spiegel uns Antworten geben und wenn uns Spiegel etwas sichtbar machen, was wir auf andere Weise nicht erfahren können, dann werden Spiegel für uns zu Dialogpartnern. Diese Wahrnehmungsweise von Spiegeln dokumentiert sich exemplarisch im Märchen vom Schneewittchen, in dem die böse Stiefmutter einen Spiegel hinsichtlich ihrer eigenen Schönheit befragt und dann von diesem erwartete und unerwartete Antworten bekommt. Auch die Verwendung des Verbs spiegeln zeigt sehr schön, wie wir im Alltag über den Spiegel denken. Hier ist zunächst auffällig, dass das Verb spiegeln in einer anderen Relation zum Spiegel steht als das Verb malen zum Maler. Der Spiegel ist zwar ganz ähnlich wie der Maler eine Ursache dafür, dass für uns ein Bild von etwas anderem entsteht, aber ein Spiegel erzeugt sein Bild anders als ein Maler. Das Bild des Spiegels scheint seinen Gegenstand wahrheitsgetreu nach optischen Gesetzmäßigkeiten abzubilden, während wir beim Bild eines Malers eher annehmen, dass dieser seinen abzubildenden Gegenstand interpretierend objektiviert, wenn nicht sogar fiktiv erzeugt. Das Bild des Spiegels ist außerdem sowohl an die Präsenz des Gegenstandes als auch an die des Spiegels gebunden. Das Bild eines Malers bleibt dagegen existent, selbst wenn sein Gegenstand faktisch nie existiert hat oder sein Erzeuger längst entschwunden ist. Wenn wir das Verb spiegeln aktivisch und transitiv verwenden, dann kennzeichnen wir den Spiegel indirekt als eine Größe, die die Entstehung von
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Die Sprache als Spiegel
Spiegelbildern zu verursachen und zu steuern vermag, und den abgespiegelten Gegenstand als eine Größe, die diesem Prozess passiv unterworfen ist (Der Spiegel spiegelt das Gesicht.). Wenn wir das Verb spiegeln passivisch und intransitiv verwenden, dann tritt der Spiegel als eine Größe hervor, die lediglich den Ort oder das Instrument des Spiegelungsgeschehens auf fakultative Weise thematisiert (Das Gesicht wird vom Spiegel gespiegelt.). Wenn wir das Verb spiegeln reflexiv verwenden, dann erscheint der Spiegel als eine Größe, der kaum eigene Aktivitäten zugeordnet werden (Das Gesicht spiegelt sich im Spiegel.). In der passivischen und reflexiven Verwendungsweise des Verbs wird der Spiegel als ein Phänomen gesehen, das eigentlich nichts anderes machen kann als etwas anderes abzuspiegeln. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich deshalb nicht auf den Spiegel selbst, sondern auf das, was er abspiegelt. Auf der Basis dieses sprachlichen Vorverständnisses der Funktionsmöglichkeiten des Spiegels hat sich eine funktional orientierte Phänomenologie des Spiegels darum zu bemühen, wie sich mit Hilfe von Spiegeln unsere Wahrnehmung von Welt konzentrieren, akzentuieren und ausweiten lässt. Spiegel bieten uns nämlich die große Chance, unsere jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände in anderen als den üblichen Relationszusammenhängen kennenzulernen. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum der Spiegel kulturgeschichtlich ein solches Faszinosum geworden ist und nicht nur als Sinnbild für Sprache in Anspruch genommen worden ist, sondern auch als Sinnbild für Klugheit (Spiegel der Vernunft) für Phantasie (Spiegel der Literatur), für Normen (Sittenspiegel, Rechtsspiegel) oder für Satire (Eulenspiegeleien). Durch die Nutzung von Spiegeln können wir die inhaltlichen Beschränkungen unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten zwar nicht aufheben, aber doch in vielfältiger Weise so variieren, dass wir von der Welt mehr als üblicherweise wahrnehmen. Alle Überlegungen zum Spiegel als Funktionsgebilde laufen letztlich darauf hinaus, den Spiegel nicht nur hinsichtlich seiner Widerspiegelungsfunktion für vorgegebene Gegenstände zu sehen, sondern auch als ein heuristisches Werkzeug, mit dem die Objektsphäre auf fruchtbare Weise mit der Subjektsphäre in Beziehung gesetzt werden kann. Da Spiegel die perspektivische Erfassung der Welt durch Subjekte ausweitet und ausdifferenziert, leistet er nicht nur einen optischen, sondern zugleich auch immer einen kognitiven Beitrag zur Wahrnehmung von Welt, weil er unseren einzelnen Wahrnehmungsinhalten einen ganz spezifischen Stellenwert in unserer Gesamtwahrnehmung von komplexen Zusammenhängen zuordnen muss.
Der Spiegel als Medium Die bisherigen Überlegungen zum Spiegel als Struktur- und Funktionsgebilde waren im Grunde Vorüberlegungen zur Charakterisierung des Spiegels als Medium. Wenn wir ein Medium als etwas verstehen, das es den Subjekten erleichtert, die Welt der Objekte sensorisch zu erfassen und kognitiv zu verstehen, das aber zugleich auch immer die konkrete Wahrnehmung von Einzelob-
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jekten präformiert, dann ist der Spiegel sicherlich als ein Medium bzw. als ein Hilfsmittel der Wahrnehmung anzusehen. Die Spannweite der Erscheinungsweisen von Medien ist im Prinzip sehr groß. Sie reicht nämlich von unserem Leib und seinen Sinnesorganen (Leibapriori) bis zu unserer Kultur und den von ihr entwickelten Wahrnehmungsstrategien und Zeichen (Kulturapriori). All diese natürlichen und kulturellen Medien prägen unsere Wahrnehmungsfähigkeiten und Wahrnehmungsinhalte, ohne dass uns das immer bewusst wird. Der Spiegel ist ein Hilfsmittel unserer Wahrnehmung, weil er die normalen Wahrnehmungsmöglichkeiten der Augen auf eine ganz spezifische Weise ausweitet, ergänzt und akzentuiert. Mit Hilfe des Spiegels können wir nämlich nicht nur das sehen, was außerhalb des natürlichen Sehfeldes unserer frontal angeordneten Augen liegt, sondern auch das, was unsere natürlichen Augen eigentlich gar nicht sehen können, nämlich sich selbst und das Gesicht, zu dem sie gehören. Streiten kann man sich nun allerdings darüber, ob der Spiegel nur ein technisches Medium ist, das die Wahrnehmungsmöglichkeiten unseres natürlichen Sehsinns quantitativ ausweitet, oder ob er als ein kulturelles Medium anzusehen ist, das eine eigene Entwicklungsgeschichte hat und das auch qualitativ dazu beiträgt, die kulturelle Existenzweise des Menschen auf bestimmte Weise zu organisieren. Möglicherweise können wir den Spiegel sogar als einen eigenen Medientyp betrachten, der irgendwie zwischen den natürlich gegebenen und den kulturell entwickelten Medien einzuordnen ist, da er deutlicher als andere Medien sowohl zur physischen als auch zur kulturellen Welt gehört und unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht nur auf der optischen, sondern auch auf der kognitiven Ebene ausweitet und strukturiert. Einerseits lässt sich mit Hilfe von Spiegeln unsere Wahrnehmung von Welt analytisch organisieren, insofern wir diese selektiv auf ganz bestimmte Welt- und Dingaspekte konzentrieren können. Andererseits lässt sie sich mit Hilfe von Spiegeln aber auch synthetisch organisieren, insofern wir nun etwas miteinander in Beziehung setzen können, was normalerweise getrennten Wahrnehmungswelten zugeordnet wird. Außerdem haben wir zu beachten, dass Spiegel Mittel sind, die es den wahrnehmenden Menschen ermöglichen, eine Wahrnehmungsdistanz zu ihren jeweiligen Wahrnehmungsgegenständen herzustellen und sich durch deren unmittelbare reale Präsenz nicht mehr psychisch überwältigen zu lassen. Dadurch bekommen Spiegel dann auch eine Schutzfunktion für die Menschen. Thales wäre wohl kaum in den Brunnen gefallen, wenn er die Sterne im Stehen indirekt im Spiegel des Brunnenwassers beobachtet hätte und nicht beim Gehen direkt am Himmel. Die mediale Schutzfunktion des Spiegels ist sinnbildlich sehr eindrucksvoll im Mythos von Medusa und Perseus thematisiert worden. Medusa war durch ihre Schlangenhaare und riesigen Zähne so hässlich und furchterregend, dass alle bei ihrem Anblick vor Angst versteinerten. Athene gab deshalb ihrem Schützling Perseus den Rat, Medusa nicht direkt anzusehen, sondern nur indirekt über ihr Spiegelbild auf seinem blankpolierten Schild. Diese Wahrnehmungsstrategie bewahrte Perseus dann vor der Versteinerung und ermöglichte es ihm, Medusa den Kopf abzuschlagen. Allerdings führte ihm dabei Athene
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auch hilfreich die Hand, weil die vermittelte Wahrnehmung der Medusa im Spiegel des Schildes Perseus seine konkreten Kampfhandlungen natürlich ziemlich erschwerten.5 Dieser Mythos über die hilfreichen Funktionen des Spiegels im Kampf der Menschen gegen die Ungeheuerlichkeiten in der Welt lässt sich verhältnismäßig leicht auch als ein Mythos über die Hilfe der Sprache bzw. der Begriffe im Kampf gegen die Unübersichtlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten in der Welt verstehen. Dann hat man sich allerdings auch zu fragen, wer oder was dann den Part der hilfreichen Athene spielen kann. Die Distanzierungsfunktion des Spiegels kann nun allerdings nicht nur schützen, sondern auch verwirren, weil Spiegelbilder die natürliche Welterfahrung aufheben bzw. verfremden. Dabei ist nicht nur an die sogenannte RechtsLinks-Vertauschung in Spiegelbildern zu denken, sondern auch daran, dass wir in einem Spiegel unsere eigenen optischen Wahrnehmungsorgane, unser eigenes Gesicht und unsere eigenen Körperbewegungen sehen können, also etwas, was wir sonst weder sehen können noch kognitiv bewältigen müssen. Unter diesen Umständen lernen wir dann, uns selbst gleichsam mit den Augen eines anderen zu sehen und uns auf diese Weise dann auch irgendwie von uns selbst zu distanzieren. Kleist hat diese Problematik, die ja zugleich auch immer als eine Identitätsproblematik zu verstehen ist, eindringlich in seinem Aufsatz über das Marionettentheater entfaltet.6 In diesem Aufsatz wird von einem Jüngling berichtet, der sich im Spiegel zufällig in einer Körperhaltung sieht, die an die berühmte antike Skulptur des Dornausziehers erinnert. Als der Jüngling nun versucht, seine ursprüngliche anmutige Körperhaltung ganz bewusst wieder einzunehmen, scheitert er. Von Stund an verliert er sogar bei all seinen Bewegungen seine frühere natürliche Grazie und Anmut, weil er diese nun bewusst zu erzeugen versucht. Kleist Überlegungen zu dieser Sachlage sind für unsere Denkzusammenhänge aus zwei Gründen besonders interessant. Zum einen zeigen sie, dass die optischen Wahrnehmungsprozesse des Menschen eine natürliche Tendenz haben, in geistige Reflexionsprozesse überzugehen, da insbesondere Spiegelbilder immer hinsichtlich ihrer Genese, ihrer Funktion und ihres Realitätsgehaltes eingeordnet werden müssen. Zum anderen zeigen sie, dass Reflexionsprozesse aller Art eigentlich unabschließbar sind, weil jedes Ergebnis ein vorläufiges Ergebnis ist, das sich mit anderen Mitteln erneut reflektieren lässt und eben daher auch keine endgültige Gestalt gewinnt. Kleist entwickelt in seinem Aufsatz deshalb die Hypothese, dass es eine ungebrochene Bewegungsgrazie nur bei der Marionette geben könne, die gar kein Bewusstsein habe, oder bei Gott, der über ein unendliches Bewusstsein verfüge, aber nicht bei den Menschen, die ihr individuelles Bewusstsein als ein spiegelndes, interpretierendes und handlungssteuerndes Medium nutzten. Das
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Vgl. R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1, 1965, S. 216. Vgl. H. von Kleist, Über das Marionettentheater, Sämtliche Werke Bd. 2, 19622, S. 342 ff.
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menschliche Reflexionsbewusstsein bringt Kleist deshalb auch mit dem Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis in Verbindung. Dieser Vorgang habe die Menschen zwar aus dem Paradies eines unmittelbaren und unreflektierten Lebens vertrieben, aber möglicherweise bestehe in Form eines nicht begrenzten oder gar unendlichen Reflexionsbewusstseins die Chance, wieder von hinten in das Paradies hineinzukommen. Die sehr komplexe pragmatische Funktion des Spiegels, einzelne Wahrnehmungsgegenstände aus ihren natürlichen Kontexten herauszulösen, sie als medial vermittelte Wahrnehmungsinhalte kenntlich zu machen und uns in kaum abschließbare Reflexions- bzw. Interpretationsprozesse zu verwickeln, teilt der Spiegel mit der Sprache. Ebenso wie es ein unmittelbares Sehen von etwas gibt, so gibt es auch ein unmittelbares Sprechen von etwas, bei dem die jeweiligen Sprachinhalte für die Kommunikanten eine fraglose Identität und Gültigkeit besitzen. Aber ebenso wie es ein medial sensibilisiertes und reflektiertes Sehen von etwas gibt, bei dem die Strukturierungsfunktionen der jeweiligen Objektivierungsmittel (Auge, Spiegel, Brille) mitberücksichtigt werden, so gibt es auch einen medial sensibilisiertes und reflektiertes Sprechen von etwas, bei dem der Einfluss der jeweils genutzten Sprachmittel auf die Konstitution von Vorstellungsinhalten mitbedacht wird. In beiden Fällen schützen die faktisch genutzten Objektivierungsmedien vor der Übermacht der aktuellen Wahrnehmungsgegenstände, aber sie können zugleich auch zu psychischen Belastungen werden, weil sich Realitätsannahmen nun als perspektivisch erzeugte Vorstellungen mit spezifisch reduzierten Geltungsansprüchen erweisen. Etwas indirekt mit Hilfe eines Spiegels bzw. mit Hilfe der Sprache wahrzunehmen, ist etwas anderes, als etwas direkt über seine Sinnesorgane zu erfassen. Oft ist es leichter, mit Hilfe von artifiziellen Wahrnehmungs- und Objektivierungsmedien mit der Tücke von Objekten fertig zu werden, aber die Tücke der Objekte kann sich auch grenzenlos vermehren, wenn wir durch die jeweiligen Wahrnehmungsmedien in faktisch nicht abschließbare Reflexionsprozesse hineingezogen werden. Gleichwohl ist festzuhalten, dass wir mit Hilfe von Spiegeln und Sprache Erfahrungen machen können, die uns unsere natürlichen sinnlichen Wahrnehmungsmittel nicht ermöglichen. Die immanente Tendenz von optischen Reflexionsprozessen, in kognitive überzugehen, bei denen man auch ein Wissen über die Genese und die Funktion von Vorstellungsinhalten erwirbt, ist ein Grund dafür, dass Reflexion und Sprache immer wieder als sehr eng zusammengehörig verstanden worden sind. So hat beispielsweise Herder in seinen Überlegungen zum Ursprung der Sprache nachdrücklich darauf verwiesen, dass die Reduktion der Instinkte beim Menschen im Vergleich zu den Tieren zu einer folgenreichen medialen Besonnenheit geführt habe, „und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden.“7 Besonnenheit und Sprache gehören für Her-
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J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, 19642, S. 23.
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der deshalb eng zusammen, weil beide die Voraussetzung dafür sind, aus dem Ozean bloßer Empfindungen herauskommen zu können und die bloße Wahrnehmung bzw. Reflexion von etwas zu einer kategorialen Wahrnehmung bzw. Reflexion über etwas zu erweitern. Dadurch kann dann die sinnliche Reizwahrnehmung zu einer kategorialen bzw. semiotischen Erfahrung werden, in der etwas als etwas in einer ganz bestimmten Denkperspektive erfasst wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Terminus bzw. der Begriff Spekulation etymologisch eng mit der Vorstellung eines Spiegels verknüpft ist (lat. speculum = Spiegel, specula = Beobachtungsstelle, speculari = spähen, aus der Ferne beobachten). Der Begriff der Spekulation hat heute meist einen etwas negativen Klang, weil mit ihm oft der Prozess der Ausbildung von realitätsfernen Hypothesen bezeichnet wird. Ursprünglich wurde dieser Begriff aber ähnlich wie der griechische Begriff theoria (Schau) sehr positiv verstanden. Im Mittelalter wurde mit dem Begriff der Spekulation die Betrachtung des Transzendenten bezeichnet, also dessen, was der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung nicht zugänglich ist, wohl aber dem Glauben und der Vernunft. Für Kant war eine Erkenntnis dann spekulativ, wenn sie nicht auf direkter Erfahrung beruhte, sondern auf theoretischen Erwägungen bzw. auf Vernunftschlüssen. Im deutschen Idealismus war derjenige ein spekulativer Geist, der sich nicht der Herrschaft der alltäglichen praktischen Erfahrung unterwarf, sondern der dialektisch zu denken vermochte und eben deswegen zu Erkenntnissen gelangen konnte, die jenseits der empirischen Erfahrung lagen, was dann auch die Unterscheidung zwischen Verstandesdenken und Vernunftdenken motiviert hat. Im angelsächsischen Denken wurde dagegen das metaphysische Denken oft als speculative philosophy bezeichnet und nicht selten als realitätsfern und dogmatisch gewertet, weil es nur einen sehr gebrochenen Bezug zur faktischen Realität habe. Aus all dem ergibt sich, dass der Spiegel kulturgeschichtlich als ein sehr ambivalentes Medium angesehen worden ist, das einerseits etwas wahrnehmbar macht, was direkter Wahrnehmung nicht zugänglich ist, das aber andererseits unsere Wahrnehmungsinhalte auch vorprägen kann und eben deshalb auch zu einem einseitigen Dogmatismus zu führen vermag, der sich jeder empirischen Kontrolle zu entziehen versucht. Die Fähigkeit des Spiegels und der Sprache, einerseits neue Wahrnehmungsperspektiven zu eröffnen und andererseits die Gewissheiten der unmittelbaren Wahrnehmungen zu relativieren bzw. Wahrnehmungsinhalte als Produkte von spezifisch organisierten Spiegelungsprozessen zu verstehen, hat die Romantik zugleich fasziniert und deprimiert. In Anspielung auf den Mythos von Prometheus, der den Menschen das göttliche Feuer gebracht hatte und den Zeus deshalb an eine Säule fesseln ließ, wo ihm ein gieriger Geier täglich seine ständig nachwachsende Leber wegfraß,8 hat
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Vgl. R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1, 1965, S. 128.
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Clemens von Brentano dann Folgendes erklärt: „Der Geier der Reflexion zernagt euer ewig wiederkehrendes Herz.“ 9
Spiegel und Kognition Die Wahrnehmung des Spiegels als eines Mediums, das uns dazu anregt, optische Spiegelungs- mit kognitiven Objektivierungsprozessen zu analogisieren bzw. in solche überzuleiten, macht den Spiegel nicht nur als Sinnbild für Sprache interessant, sondern auch als Sinnbild für andere Phänomene wie etwa die Vernunft, die Geschichte, die Kultur, die Sitten, die Rechtsordnung usw. Immer wieder sind solche Phänomene als Spiegel betrachtet worden, in denen sich etwas spiegelt, was von diesen Phänomenen selbst zu unterscheiden ist. Wenn einmal der Gedanke gefasst worden ist, diese Phänomene als Spiegel zu verstehen, in denen sich etwas von ihnen Unterscheidbares spiegelt, dann entsteht ein Sog, alle möglichen Erfahrungs- und Denkgegenstände als Spiegel für etwas anderes wahrzunehmen bzw. sie nur noch als Projektionsflächen für anderes, aber nicht mehr als selbständige Phänomene zu betrachten. Diese Gefahr ist auch dadurch mitbedingt, dass der Spiegel ebenso wie die Sprache im konkreten Gebrauch als eigenständiges Erfahrungsphänomen ganz hinter seine mediale Funktion zurücktritt, etwas anderes für Menschen zu vergegenwärtigen. Als eigene Größen und Kräfte treten Spiegel und Sprache für uns nur dann in Erscheinung, wenn sie nicht mehr erwartungsgemäß funktionieren. Von ihnen wird in der Regel erwartet, dass sie uns etwas anderes zeigen, ohne sich dabei selbst zu zeigen. Erst wenn ein Spiegel etwas nicht mehr perfekt abspiegelt, macht er uns auf sich selbst und seine Repräsentationsfunktion aufmerksam und provoziert zu der Frage, ob diese Repräsentationsfunktion nur eine bloße Widerspiegelungsfunktion von etwas ist oder auch eine Interpretations- oder gar eine Konstruktionsfunktion für etwas. Das gängige Spiegelverständnis abstrahiert weitgehend von den interpretativen Vermittlungs- und Strukturierungsfunktionen des Spiegels bzw. von seinen möglichen kognitiven Funktionen und konzentriert das Interesse ganz auf seine reflektorischen Funktionen im Rahmen von optischen Gesetzmäßigkeiten. Dem Spiegel scheint es völlig gleichgültig zu sein, was er spiegelt und für wen er es spiegelt. Dieses Spiegelverständnis ist sicherlich nicht falsch, aber es vernachlässigt doch den Umstand, dass ein Spiegel eine gespiegelte Sache nicht an sich widerspiegelt, sondern immer nur ganz bestimmte Wahrnehmungsmöglichkeiten von ihr für Menschen in ganz bestimmten räumlichen Wahrnehmungspositionen. Spiegelbilder von etwas sind nicht mit dem Original zu verwechseln, das sie abzuspiegeln versuchen, da mit ihnen immer bestimmte heuristische und hermeneutische Implikationen und Intentionen ver-
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Cl. von Brentano, Godwi, 2. Teil, Werke Bd. 2, 19803, S. 218.
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bunden sind bzw. Menschen, für die der Spiegel etwas abspiegelt. Zudem ist zu beachten, dass eine vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche oder ein gekrümmter bzw. ein beschlagener Spiegel uns die jeweils abgespiegelten Dinge natürlich ganz anders zugänglich machen als ein technisch perfekter Spiegel. Nikolaus von Kues hat die kognitiven Funktionen und Implikationen von Spiegelbildern insbesondere für theologische Überlegungen herausgearbeitet. Ebenso wie ein Gesicht sich in unterschiedlichen Spiegeln unterschiedlich spiegeln könne, so könne sich auch Gott in vielerlei Weise in seinen Schöpfungswerken für die Menschen spiegeln. Im Kontext seiner Grundüberzeugung, dass unsere Erkenntnis immer über die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten Gestalt gewinne, hat er die Vorstellung eines lebendigen Spiegels (vivum speculum) entwickelt, dessen variable Eigenstruktur Einfluss darauf nehme, wie uns Inhalte konkret zugänglich werden könnten. Das hat er durch das Bild eines polierten Löffels exemplifiziert, der sich als Spiegel auf ganz unterschiedliche Weise verwenden lasse. Sein Griff könne als planer Spiegel dienen und seine gewölbten Teile als konkave bzw. konvexe Spiegel.10 Die Leistung von Spiegeln, seien sie nun optischer oder nicht-optischer Natur, besteht deshalb für ihn darin, dass sie Originale nicht so widerspiegeln, wie sie an sich sind, sondern immer gemäß der Besonderheiten der jeweiligen Spiegel. Das beinhaltet wiederum, dass es in Spiegelungsprozessen immer zu bestimmten medialen Transformationen, wenn nicht Nachschöpfungen kommt. Die Vorstellung von lebendigen bzw. aktiven Spiegeln ist kulturgeschichtlich insbesondere dann immer recht kontrovers diskutiert worden, wenn man Vernunft und Sprache als Spiegel für die Abspiegelung der faktisch gegebenen Welt verstanden hat. Einerseits hat man diesbezüglich immer wieder betont, dass Vernunft und Sprache keine besonders zuverlässigen Spiegel für die Widerspiegelung der Welt seien und dass man folglich alles daran setzen müsse, deren Leistungskraft durch die Präzisierung von Denkgesetzen und von Begriffen zu verbessern, um beide als Erkenntnismittel sinnvoll nutzen zu können. Andererseits hat man aber auch immer wieder darauf verwiesen, dass die Besonderheiten und Variationsmöglichkeiten von Spiegeln und Sprache die Chance bieten könnten, die Welt polyperspektivisch zu sehen und sie dementsprechend für sich und andere auf sehr vielfältige Weise zu objektivieren. Francis Bacon hat in seiner Lehre von den Idolen bzw. Vorurteilen schon im 17. Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Sinne und unsere etablierten Denkmuster durchaus zu verzerrten und inadäquaten Weltwahrnehmungen führen könnten. „Es ist eine falsche Annahme: unsre Sinne seien der Maßstab der Dinge. Vielmehr sind alle Wahrnehmungen, sowol sinnliche als geistige, der Beschaffenheit des Beobachters, nicht dem Weltall analog; und der menschliche Verstand gleicht ei-
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Nikolaus von Kues, Der Laie über den Geist, Kap. 5, Philosophisch-theologische Werke Bd. 2, 2002, S. 41 ff.
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nem unebnen Spiegel zur Auffassung der Gegenstände, welcher ihrem Wesen das 11 seinige beimischt und so jenes verdreht und verfälscht.“
In neuerer Zeit hat Rorty gegen die traditionelle Auffassung Stellung genommen, Bewusstsein und Sprache könnten als Spiegel für die adäquate Abspiegelung der Realität verstanden werden und die Philosophie hätte die zentrale Aufgabe, diese Spiegel zu prüfen und zu verbessern, um zu wahren Erkenntnissen über die Welt zu kommen. Die Vorstellung vom Geist und der Sprache als möglichen und verlässlichen Spiegeln für die Wahrnehmung der Natur will er dekonstruieren.12 Stattdessen favorisiert er die Vorstellung von einem sinnbildenden Philosophen, der in seinem Denken nicht vorgegebene Wesenheiten abzuspiegeln versucht, sondern der sich vielmehr auf lebendige Dialoge mit den Dingen einlässt bzw. auf deren phantasievolle Beschreibung. Diese Denkposition hat dann auch bei ihm zu einer neuen philosophischen Wertschätzung der Literatur und des Erzählens geführt. Wenn man bei optischen und anderen Spiegeln nicht erwartet, von ihnen ein perfektes Abbild der Welt geliefert zu bekommen, sondern nur, dass sie uns die Welt auf eine pragmatisch relevante Weise zugänglich machen, dann entspannt sich die Diskussion über das kognitive Leistungspotenzial von Spiegeln ganz erheblich. Jetzt geht es nämlich nicht mehr darum, ob die Welt richtig oder falsch bzw. adäquat oder verzerrt abgespiegelt wird, sondern vielmehr darum, was sich von ihr über einen bestimmten Spiegel erschließen lässt und was nicht. In diesem Denkansatz gibt es keinen medienfreien Blick von nirgendwo auf die Welt, sondern nur unterschiedliche Spiegelungsverfahren als unterschiedliche Perspektivierungs- und Objektivierungsverfahren. Unter diesen Umständen ist dann auch die Frage nach der Besonderheit und der Individualität einer Spiegelung interessanter als die nach ihrer Allgemeingültigkeit oder Wahrheit in einem korrespondenztheoretischen Sinne. Dadurch verknüpft sich dann natürlich auch die Spiegelproblematik sehr eng mit der Subjektivitätsproblematik. Im Gegensatz dazu hat Locke im Rahmen seines empirisch orientierten Denkansatzes dem Verstand bei der Wahrnehmung von einfachen Ideen eine relativ passive und rezeptive Rolle zugeordnet. Der Verstand könne die einfachen Ideen bzw. Vorstellungen ebenso wenig abweisen „wie ein Spiegel die Bilder oder Ideen abweisen, verändern oder auslöschen kann, die durch vor ihm aufgestellte Objekte auf seiner Fläche hervorgerufen werden.“13 In der Monadenlehre von Leibniz verändert sich diese einfache mediale Interpretation des Verstandes und des Denkens dann allerdings entscheidend. Jede einfache Substanz bzw. Monade ist für Leibniz „ein lebender, immerwährender Spiegel des Universums“, der eine variable perspektivierende Erschlie-
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F. Bacon, Neues Organon der Wissenschaften § 41, 1830/1981, S. 32. Vgl. R. Rorty, Der Spiegel der Natur, 1887, S. 22, 422. 13 J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. 1, Kap. 25, 19763, S. 126. 12
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ßungsfunktion für die Welt hat.14 Diese Funktionsbeschreibung des Spiegels durch Leibniz zielt darauf ab, diesen als ein Medium zu verstehen, das uns die Objektwelt von einem spezifischen individuellen Sehepunkt her zugänglich macht. Das Spiegelungsergebnis lebendiger Spiegel von einem bestimmten Gegenstand kann deshalb durchaus unterschiedlich sein, aber ihn dennoch adäquat erspiegeln, wenn auch hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte. Die Denkfigur des Spiegels spielt auch in Cassirers Konzept der symbolischen Formen eine sehr wichtig Rolle, wenn auch zunächst eher im Sinne eines kontrastiven Gegenmodells zu seinem eigenen Konzept. Cassirer geht davon aus, dass grundsätzlich keine mediale Objektivierungsform von Welt diese an sich erfassen könne, auch die theoretische Erkenntnis nicht. „Denn auch sie vermag niemals das schlichte Wesen der Dinge einfach abzuspiegeln, sondern sie muß dieses Wesen in ‚Begriffe’ fassen.“15 Wenn man nun aber den Spiegel nicht als ein Mittel ansieht, Phänomene auf einer anderen Wahrnehmungsebene zu verdoppeln, sondern sie hermeneutisch zu erschließen, dann ergibt sich ein etwas anderes Bild der Problemlage. Unter diesen Umständen kann der Spiegel nämlich funktional sogar als eine Art symbolische Form angesehen werden, was insbesondere dann naheliegt, wenn man auch die Natur, die Geschichte oder Kultur als spezifische Manifestationsformen von Spiegeln betrachtet. Zwar hat Cassirer zunächst nur den Mythos, die Kunst, die Religion, die Wissenschaft und die Sprache als symbolische Formen in Betracht gezogen, aber später hat er durchaus erwogen, den Umfang dieses Begriffs auszuweiten und auch andere Phänomene wie etwa die Mathematik oder die Wirtschaft ebenfalls als symbolische Formen zu betrachten. Das ist durchaus konsequent, wenn man rein funktional alles als symbolische Form ansieht, was eine Vermittlungsfunktion hat bzw. was als Medium in Anspruch genommen werden kann. Diese Ausweitung des Begriffs der symbolischen Form auf alles, was potenziell eine Zeichenfunktion erfüllen kann, macht diesen zwar recht unscharf, aber sie sensibilisiert uns zugleich auch für die Wahrnehmung der sehr vielfältigen medialen Funktionen von symbolischen Formen. Sofern wir den Spiegel primär nicht als Abbildungs-, sondern als Erschließungsmittel ansehen, dann erfüllen die von ihm vermittelten Spiegelbilder im hohen Maße die Anforderungen, die Cassirer an die Erkenntnisleistung von symbolischen Formen gestellt hat. Für diese postuliert er nämlich, dass sie nicht zur Nachahmung, sondern zur Erfassung der Wirklichkeit dienten. „Die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge: diese Frage muß jetzt verstummen. Denn sichtbar ist für den Geist nur, was sich ihm in einer bestimmten
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G. W. Leibniz Monadologie § 56, Philosophische Werke Bd. 2, 1996, S. 613. Vgl. auch R. Konersmann. Lebendige Spiegel, 1991, S. 116 ff. 15 E. Cassirer, Wesen und Wirken des Symbolbegriffs, 1976, S. 78.
Spiegelbilder
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Gestaltung darbietet; jede bestimmte Seinsgestalt aber entspringt erst einer bestimmten Art und Weise des Sehens in einer ideellen Form und Sinngebung.“16
Da für Cassirer die Struktur und Logik der Sachen nicht von der Struktur und Logik ihrer Wahrnehmungs- und Objektivierungsweisen zu trennen ist und da er die symbolischen Formen als Formen der Sichtbarmachung von Wirklichkeit bzw. als Formen des Tuns versteht, spricht viel dafür, den Spiegel als Erkenntnismedium und damit funktional auch irgendwie als eine symbolische Form zu qualifizieren. Spiegel sind dann allerdings nicht nur als rein physische Strukturgebilde ins Auge zu fassen, sondern darüber hinaus als heuristisch nutzbare Struktur- und Funktionsgebilde, die dazu bestimmt sind, den Wahrnehmungssubjekten Spiegelbilder von der Welt zu liefern, damit sie mit dieser besser fertig werden können. Das bedeutet, dass sich eine Phänomenologie des Spiegels als eines operativ verwendbaren Zeichen- und Kulturphänomens insbesondere darauf zu konzentrieren hat, welche Struktur und Funktion Spiegelbilder haben und was diese zur Interpretation von Welt beitragen können.
2. Spiegelbilder Auf den ersten Blick scheint es nicht sehr plausibel zu sein, Spiegel bzw. die von ihnen erzeugten Spiegelbilder als Medien zu verstehen, die hermeneutische Leistungen bei unserer Wahrnehmung von Welt erbringen können. Die optischen Reflexionsgesetze und die Vorstellung der Widerspiegelung legen die Auffassung nahe, perfekte Spiegel könnten eine authentische Abbildung von Welt liefern. Guten Spiegeln scheint man vertrauen zu können, weil ihre Spiegelbilder der gegebenen Welt anscheinend nichts hinzufügen und nichts wegnehmen, sondern sie im Sinne einer nackten Wahrheit nur widerspiegeln. Wenn man genauer hinsieht, dann hat diese Vorstellung von Spiegeln und Spiegelbildern aber durchaus ihre Schwächen. Diese zeigen sich insbesondere dann, wenn man sein Interesse nicht nur auf die optischen Reflexionsmöglichkeiten von Spiegeln konzentriert, sondern auch ihre pragmatischen Funktionen bei der Welterschließung berücksichtigt. Solange wir Spiegel nur als Mittel für die Widerspiegelung vorgegebener Objekte sehen und nicht auch als Werkzeuge, um in bestimmter Weise mit der gegebenen Welt umzugehen, verfehlen wir sowohl ihr optisches als auch ihr pragmatisches Funktionspotenzial. Die Fähigkeit des Menschen, Spiegel zu nutzen, ist im Prinzip wohl zu seiner grundsätzlichen Fähigkeit zu rechnen, Zeichen zu entwickeln und zweckdienlich zu verwenden. Wenn wir mit Cassirer den Menschen als animal symbolicum verstehen, dann wäre der Gebrauch von Spiegeln letztlich sogar als ein Akt der kulturellen Selbstherstellung des Menschen zu verstehen, der anthropologisch verständlich macht, warum Spiegel auf Menschen eine so große
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E. Cassirer, a. a. O. , S. 79.
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Faszination ausüben und warum man sie so gerne als Sinnbilder für etwas anderes nutzt. Die anthropologischen Implikationen des Gebrauchs von Spiegeln sollen hier mit Hilfe von Überlegungen aufgeklärt werden, die durch die Stichwörter Symmetrie, Unmittelbarkeit, Virtualität und Zeichenhaftigkeit akzentuiert werden können. Diese Stichwörter ermöglichen es recht gut, die Spannung zwischen Direktheit und Indirektheit zu kennzeichnen, die sowohl die pragmatische Funktionalität von Spiegeln als auch die von Sprache prägt.
Die Symmetrie bei Spiegelbildern Von einer Symmetrie sprechen wir immer dann, wenn sich zwei Teile eines Ganzen auf beiden Seiten einer gedachten Mittellinie entsprechen (geometrische Figuren, Flügel von Gebäuden, Körperhälften). Zur Bestimmung von Symmetrien wird oft auch von spiegelbildlicher Gleichheit gesprochen. Dennoch ist aber festzuhalten, dass der Begriff der Symmetrie nicht auf die Verdopplung von Einzelphänomenen verweist, sondern nur auf einen hohen Grad an Ähnlichkeit zwischen ihnen. So passt z.B. der linke Schuh nicht an den rechten Fuß und die linke Hand lässt sich nicht an den rechten Arm transplantieren. Gesichter, deren Hälften völlig symmetrisch sind, wirken recht fade. Bei natürlich gegebenen oder entstandenen Symmetrien ergibt sich eigentlich erst durch die spezifischen Abweichungen von einer idealen Symmetrie ein Interesse an diesem Phänomen, da sich nun die Frage stellt, was sich an zwei Phänomenen entspricht und was nicht. Deshalb ist auch im Hinblick auf Spiegelbilder die Frage immer ganz zentral, wo die die Ähnlichkeiten und wo die Differenzen zwischen den abgespiegelten Originalen und ihren jeweiligen Spiegelbildern liegen und ob mentale Widerspiegelungen in Erkenntnisprozessen zu so etwas wie der Repräsentation einer nackten Wahrheit führen. Die Vorstellung und Hoffnung, dass Spiegelbilder eine gegebene Realität perfekt abbilden könnten, gründet sich nicht nur auf die ikonische Relation zwischen Spiegelbild und abgespiegeltem Original, sondern auch noch auf weitere Umstände. Zum ersten kann sich in einem Spiegelbild nur das zeigen, was tatsächlich in der Welt existiert. Spiegelbilder von fiktiven Entitäten wie etwa Einhörnern oder Zentauren gibt es nicht, wohl aber Bilder von diesen. Zum zweiten sind Spiegelbilder recht natürliche und neutrale Repräsentationsformen. Sie basieren auf optischen Reflexionsgesetzen und nicht wie gemalte Bilder auf dem Gestaltungswillen eines bestimmten Subjekts. Sie wollen nicht Verborgenes aufdecken, sondern nur Offensichtliches zeigen. Sie haben eine kausal erzeugte Ähnlichkeit mit ihren jeweiligen Originalen und keine interpretativ gesuchte oder gestaltete Ähnlichkeit. Zum dritten wollen Spiegelbilder unsere Aufmerksamkeit nicht durch die Hervorhebung von spezifischen Besonderheiten auf ganz bestimmte Einzelaspekte von Phänomenen fokussieren. Sie konzentrieren sich vielmehr ganz auf das optisch sichtbare Sein von Dingen und nicht auf die Wahrnehmung des Seins von Dingen durch bestimmte Subjekte mit spezifischen Erkenntnisinteressen.
Spiegelbilder
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Aus alldem ergibt sich, dass Spiegelbilder ein besonderer Typ von Bildern sind. Sie repräsentieren nämlich Bilder, die auf der gesetzmäßigen Reflexion der Erscheinungsformen von Dingen auf einer spiegelnden Fläche beruhen. Sie können nur das repräsentieren, was oberflächenstrukturell sichtbar ist, aber nicht das, was vorstellbar oder tiefenstrukturell vielleicht erschließbar ist. Während gestaltete bzw. gemalte Bilder gegen den Fluss und die verändernden Funktionen der Zeit anzukämpfen versuchen und Typisches oder gar Wesenhaftes darstellen möchten, integrieren sich Spiegelbilder in den Fluss der Zeit und wollen nichts darstellen, was den Fluss der Zeit transzendiert. Dieser Tatbestand lässt sich kontrastiv sehr gut durch einen Ausspruch Picassos illustrieren. Nach Goodman soll er auf die Kritik, dass sein Porträt von Gertrude Stein dieser gar nicht ähnlich sehe, geantwortet haben: „Macht nichts! Es wird.“ 17 Die optischen Gesetze, die die Struktur von Spiegelbildern prägen, geben uns Hinweise auf deren Stärken und Schwächen. Sie garantieren zwar, dass uns Spiegelbilder authentische Bilder der visuellen Erscheinungsformen von Originalen liefern. Sie machen aber zugleich auch deutlich, dass uns Spiegelbilder in der Regel keine großen Hilfen bieten, etwas von den Tiefenschichten des jeweils Abgebildeten zu erfassen. Diesbezüglich gibt es dann auch erhebliche Unterschiede zwischen den optischen und den sprachlichen Abbildungen von Originalen. Mit Hilfe der Sprache können Originale nur über die Brücke bzw. mit Hilfe von begrifflichen Mustern abgebildet bzw. repräsentiert werden. Das bedingt, dass Originale zugleich auch immer begrifflich eingeordnet werden müssen und dass jedes sprachliche Abbildungsergebnis uns nicht nur etwas über das Erscheinungsbild eines Originals sagt, sondern auch etwas über dessen Tiefenstrukturen und über das besondere Interesse eines Subjekts an ihnen. So macht es beispielsweise einen erheblichen kognitiven Unterschied, ob man dasselbe Wahrnehmungsphänomen Säugetier, Pferd oder Trakehner nennt. Ein Spiegelbild ist im Prinzip nur in der Lage, uns das optische Erscheinungsbild eines individuellen Originals zu zeigen, während die gemalte oder die sprachliche Repräsentation eines Originals uns auch immer etwas über das begriffliche oder historische Interesse von Menschen an diesem mitteilen will. Die Fähigkeit von optischen Spiegeln, einen authentischen Seheindruck zu repräsentieren und damit irgendwie zu suggerieren, dass wir es mit dem Ding selbst zu tun hätten und nicht mit einem Zeichen von ihm, hat insbesondere die Kunsttheoretiker fasziniert, in deren Denken das Prinzip der Nachahmung bzw. der Mimesis eine größere Rolle gespielt hat als das der Interpretation. Die Theoretiker der Zentralperspektive haben deshalb immer wieder postuliert, dass die Maler nach dem Vorbild des Spiegelbildes auf ihren Bildern nur das zur Erscheinung bringen dürften, was einem faktisch möglichen Seheindruck entspreche. So hat Leonardo da Vinci ausdrücklich gefordert, dass sich der Maler normativ an der Struktur von Spiegelbildern orientieren solle.
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Zitiert nach H. Goodman, Sprachen der Kunst, 1973, S. 44.
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„Willst du sehen, ob dein Bild im ganzen mit der Sache Übereinstimmung habe, die du nach der Natur gemacht hast, so nimm einen Spiegel, laß darin den lebendigen Gegenstand sich spiegeln, vergleiche den abgespiegelten Gegenstand mit deinem Gemälde und schau gut nach, ob das Objekt des einen und das andere Abbild miteinander in Übereinstimmung sind ... Man muß den Spiegel zum Meister nehmen, das heißt den ebenen Spiegel, weil auf seiner Oberfläche die Dinge mit einem Bild in vielen Teilen Ähnlichkeit besitzen.“18
Spiegelbilder sind für die Verfechter der zentralperspektivischen Malerei deshalb so wichtig und interessant, weil sie unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf einzelne Objekte richten, sondern immer auch auf deren Einbettung in eine ganz bestimmte Konstellation von Objekten in einem Wahrnehmungsraum im Sinne eines Systemraums. Die Implikationen des Postulats von Leonardo da Vinci werden einem erst dann wirklich klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es durchaus Maler gibt, die sich dieser Forderung verweigert haben. Sie möchten nämlich Bilder nicht als Abbilder möglicher konkreter Seheindrücke verstanden wissen, sondern eher als Bemühungen, an ihren jeweiligen Darstellungsgegenständen etwas Verdecktes wahrnehmbar zu machen, was zwar nicht unmittelbar ins Auge fällt, was aber dennoch irgendwie zu ihnen gehört. Beispielsweise veranschaulichen sowohl die Bilder der altägyptischen Malerei und der Moderne sehr gut, dass man Bilder von Gegenständen machen kann, die überhaupt nicht bestimmten Seheindrücken von ihnen entsprechen und die Einzeldinge keineswegs in zentralperspektivisch strukturierte Systemräume einordnen möchten, sondern allenfalls in Kontexte, die wir als Aggregaträume kennzeichnen können. Dadurch treten die Einzeldinge sehr viel deutlicher als autonome Größen hervor, weil sie nicht mehr als Relata eines Systems wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Phänomene mit einem eigenständigen Gewicht bzw. mit einer eigenständigen Bedeutsamkeit, auf die wir uns immer wieder neu einzustellen haben. Wenn beispielsweise Picasso denselben Gegenstand auf einem Bild in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven objektiviert, dann wendet er sich konsequent gegen den Anspruch, gemalte Bilder als Objektivierungen von möglichen Seheindrücken zu verstehen oder gar als Abbilder von vorgegebenen Realitäten.19 Im Hinblick auf die Fähigkeit des Spiegels, konkrete Seheindrücke von Dingen oder Ereignissen symmetrisch abzuspiegeln, ist es auch nicht überraschend, dass immer wieder gefordert worden ist, dass sich auch die Geschichtsschreibung normativ an der Abbildungsleistung von Spiegeln orientieren solle. Zum Beispiel hat schon der antike Geschichtsschreiber Lukian postuliert, dass sich die Geschichtsschreibung klar von der Lobrede oder der Dichtung abzugrenzen habe. Der Geschichtsschreiber müsse in seiner Aufnahmebereitschaft einem guten und ein Bild klar zurückwerfenden Spiegel gleichen.
————— 18 19
Leonardo da Vinci , Der Denker, Forscher und Poet, 1904, S. 149. Vgl. W. Köller. Perspektivität und Sprache, 2004, S. 53 ff.
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„Wenn dann einer der Zuhörer glaubt, das Erzählte mit eigenen Augen deutlich vor sich zu sehen und daraufhin die Schilderung lobt – ja, dann hat der Autor etwas Vollendetes geleistet und das Werk trägt unserem Phidias der Geschichtsschreibung verdientes Lob ein“ 20
Die Symmetrie eines Spiegelbildes zu seinem Original hat auch wichtige zeitliche Implikationen. Im Gegensatz zu einem Siegelbild oder Foto kann das Spiegelbild nichts dauerhaft fixieren. Das macht Spiegelbilder zeitlich zwar sehr anpassungsfähig, aber gleichzeitig auch sehr vergänglich. Da Spiegelbilder keine dauerhafte Existenz besitzen, können sie auch keine ontische Selbstständigkeit gegenüber ihrem jeweiligen Original gewinnen und damit auch keine eigenständige Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte ausbilden. Deshalb ist natürlich auch noch zu diskutieren, ob bzw. inwieweit Spiegelbilder überhaupt als Zeichen anzusehen sind. Diese Diskussion ist allerdings erst dann sinnvoll, wenn wir schon Überlegungen zur Unmittelbarkeit und Virtualität von Spiegelbildern angestellt haben. Im Rahmen der Symmetrieproblematik ist bei Spiegelbildern natürlich auch zu diskutieren, warum es bei ihnen anscheinend zu einer Rechts-LinksVertauschung kommt, aber nicht zu einer Oben-Unten-Vertauschung. Diesbezüglich ist zunächst festzuhalten, dass in Spiegelbildern nicht auf eine magische Weise rechts und links miteinander vertauscht werden, obwohl es auf den ersten Blick so erscheint. Wenn das nämlich so wäre, dann würde die Authentizität von Spiegelbildern natürlich ganz erheblich in Frage gestellt werden und damit zugleich auch die Vorstellung, sie würden die Realität widerspiegeln. Wenn ein Mensch vor einem Spiegel steht, dann reflektiert dieser ganz natürlich den Kopf oben, die Füße unten, den rechten Arm auf der rechten Seite und den linken Arm auf der linken Seite. Im Gegensatz dazu kommt es bei einem Projektionsbild, das durch eine Linse gelaufen ist, zu einer wirklichen Vertauschung von oben und unten sowie von rechts und links. Ein Spiegelbild bildet eine Person genauso authentisch ab wie ein Löschpapier eine feuchte Tintenschrift. Dennoch kommt es bei diesen Abbildungsverfahren zu einer spezifischen Transformation, weshalb wir ja auch von Spiegelbildern und Spiegelschrift sprechen. Welche Umstände sind dafür nun maßgeblich. Wenn ich vor einem Spiegel stehe und den linken Arm hebe, so erscheint es mir tatsächlich so, als ob die Person im Spiegelbild den rechten Arm hebt. Das Merkwürdige ist allerdings, dass die Person im Spiegelbild gerade an diesem rechten Arm ihre Uhr trägt, während ich selbst sie doch am linken Arm trage. Bin ich also die Figur, die ich im Spiegelbild sehe und die mich aus dem Spiegel anblickt? Wie unterscheide ich mich von meinem eigenen Spiegelbild? Jede Person, die in einen Spiegel schaut, hat ein klares intrinsisches bzw. inneres Wissen darüber, was ihr rechter und was ihr linker Arm ist. Beim Blick auf das eigene Spiegelbild harmoniert dieses intrinsische Wissen der Person
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Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll, 1965, Kap. 51, S. 155–157.
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Die Sprache als Spiegel
von sich selbst aber nicht mit den extrinsischen Wahrnehmungsinhalten von der Person, die im Spiegel zu sehen ist. Deshalb entsteht die Vorstellung, dass es beim Spiegelbild zu einer Vertauschung von rechts und links komme, obwohl der Spiegel ganz korrekt den rechten Arm auf der rechten Seite und den linken Arm auf der linken Seite abspiegelt. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes für die wahrnehmende Person eine andere Struktur hat als die Wahrnehmung einer anderen Person, weil ihr intrinsisches Wissen von sich selbst nicht mit ihren extrinsischen Wahrnehmungseindrücken von sich selbst im Spiegel harmoniert. Aus diesen Beobachtungen bei der Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes lassen sich nun etwas allgemeinere Erkenntnisse ableiten, die nicht nur die Wahrnehmung des eigenen Spiegelbilds betreffen, sondern auch die Wahrnehmung von Spiegelbildern generell bzw. von Bildern und Zeichen, die den Anspruch erheben, als Abbilder von Originalen verstanden zu werden. Damit rückt dann nicht nur die Transformationsleistung von Spiegelbildern in den Fokus unserer Aufmerksamkeit, sondern auch die von Zeichen ähnlichen Typs. Das Original und das Spiegelbild bzw. das spiegelbildliche Repräsentationsbild eines Originals müssen trotz aller Ähnlichkeiten immer als zwei eigenständige Größen aufgefasst werden, die nie identisch sind und die auch nie identisch werden dürfen, wenn das Spiegelbild seine Zeichenfunktion nicht verlieren soll. Jeder Betrachter von Spiegelbildern steht vor der grundsätzlichen Aufgabe, den konkreten spiegelbildlichen Eindruck von etwas mit seinen eigenen Erfahrungsinhalten von den jeweils widergespiegelten Phänomenen in Beziehung zu setzen und danach zu fragen, wie sich die jeweiligen Originale von ihren Spiegelbildern oder von anderen Repräsentationsweisen der Originale unterscheiden. Diese Frage offenbart, dass wir unsere aktuellen Wahrnehmungsinhalte von Dingen und Sachverhalten immer auf ganz bestimmte räumliche und kognitive Sehepunkte zu beziehen haben, die sich durch unsere jeweiligen Raumpositionen und durch unser jeweiliges Vorwissen konstituieren. Diese perspektivische Gebundenheit aller Wahrnehmungsverfahren und Wahrnehmungsinhalte lässt sich folgendermaßen näher erläutern. Wenn ich z. B. eine Figur zwischen mich und einen Spiegel stelle, dann sehe ich diese Figur im Spiegel nicht von hinten, wie ich sie in der realen Welt sehe, sondern von vorn, also so wie der Spiegel sie sieht. Diese Transformationsleistung des Spiegels bzw. diese Eigenständigkeit des Spiegelbildes hat René Magritte auf paradoxe Weise in einem Bild mit dem Titel – Reproduktion verboten – thematisiert. Auf diesem Bild sehen wir einen jungen Mann von hinten, der vor einem Spiegel steht. In dem Spiegelbild dieses Mannes sehen wir diesen aber nicht erwartungsgemäß von vorn, sondern ebenfalls von hinten, also genau so, wie wir ihn faktisch sehen, aber nicht so, wie der Spiegel ihn sieht. Diese Wahrnehmungssituation empfinden wir zunächst als paradox, weil Magritte in seinem Bild die mediale Transformationsleistung des Spiegels auf unerwartete Weise negiert und eben dadurch bewusst macht. Der Spiegel verdoppelt auf diese Weise unseren natürlichen Seheindruck statt ihn zu ergänzen.
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Dadurch wird indirekt sehr einprägsam verdeutlicht, dass die Funktion von Spiegelbildern nicht darin besteht, unsere üblichen Seheindrücke zu wiederholen bzw. zu verdoppeln, sondern zu erweitern, was natürlich den Symmetriegedanken bei Spiegelbildern in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Die pragmatische Ergänzungsfunktion von Spiegelbildern bei der Wahrnehmung von Welt kommt bei den Rückspiegeln in Autos sehr klar zur Erscheinung. Diese spiegeln eine gegebene Welt zuverlässig ab, die zwar aktuell nicht im natürlichen Sehfeld des Autofahrers liegt, die aber dennoch sehr wichtig für dessen Handlungsentscheidungen ist. Diesen Spiegelbildern geht es nicht um die Abbildung von Welt als Welt, sondern um die Erschließung von Wissen über die Welt für ein sinnvolles Handeln in der Welt bzw. um die Ergänzung von natürlichen, aber eingeschränkten Wahrnehmungsperspektiven. Wenn wir nun im Denkrahmen des Symmetriegedankens nach den möglichen Sinnbildfunktionen des Spiegels für die Sprache fragen, dann werden wir auf folgende Tatbestände aufmerksam. Die Sprache kann im Prinzip sowohl hinsichtlich ihres Verständnisses als System kognitiver Ordnungsmuster (Langue-Aspekt) als auch hinsichtlich ihres Verständnisses als Textgebilde von konkreten Aussageformen (Parole-Aspekt) eine Repräsentationsfunktion für vorgegebene Größen und Sachverhalte haben. Dabei ist allerdings einschränkend zu beachten, dass die Abbildungs- oder gar die Widerspiegelungsfunktion sprachlicher Formen zunächst nur die Repräsentation konventionalisierter kognitiver Denkmuster beinhaltet bzw. die Repräsentation von Erfahrungswelt in einer bestimmten Wahrnehmungsperspektive. Die Frage, ob diese Denkmuster vorgegebene Seinsmuster oder gar platonische Ideen abbilden bzw. ob Aussagen tatsächliche Sachverhalte abbilden oder nur gedachte oder vorgestellte, muss allerdings offen bleiben. In beiden Fällen zeigt sich, dass von einer möglichen Abbildungsfunktion der Sprache nur dann gesprochen werden kann, wenn dabei zugleich auch die pragmatischen und perspektivischen Implikationen der jeweiligen Abbildungsintentionen mitbedacht werden, was ja im Prinzip auch von den Widerspiegelungsleistungen des Spiegels gilt. Sprachliche Abspiegelungen dürfen in beiden Fällen nicht als Verdoppelung von Originalen auf einer anderen Ebene verstanden werden, sondern vielmehr als Hypothesen, für die eine gewisse pragmatisch orientierte und legitimierte Symmetrie zu den jeweiligen Originalen postuliert wird. Da die Widerspiegelungsproblematik noch in einem eigenständigen Kapitel erörtert werden soll, ist hier im Kontext des Symmetriegedankens nur festzuhalten, dass es weder beim Spiegel noch bei der Sprache um die Widerspiegelung von Objekten an sich geht, sondern allenfalls um die Widerspiegelung von Objekten für bestimmte Wahrnehmungssubjekte im Rahmen von bestimmten Wahrnehmungssituationen, Wahrnehmungsintentionen und Handlungsprozessen. Sowohl optische als auch sprachliche Widerspiegelungen haben für die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte pragmatisch gesehen keine Verdopplungs-, sondern vielmehr Entsprechungs- und Ergänzungsfunktionen. Ebenso wie wir das Spiegelbild eines Originals nur dann als ein solches identifizieren und qualifizieren können, wenn wir auch noch andere Erfahrungsmöglichkeiten
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Die Sprache als Spiegel
von dem Original haben, so können wir auch sprachliche Repräsentationen von etwas nur dann richtig verstehen, wenn wir auch noch andere Erfahrungs- und Wissensmöglichkeiten von dem haben, was jeweils sprachlich objektiviert wird. Bilder aller Art können deshalb Originale nicht ersetzen, sondern nur den Umgang mit ihnen erleichtern und verbessern.
Die Unmittelbarkeit von Spiegelbildern Aus der optischen Reflexionsfähigkeit von Spiegeln wird meist gefolgert, dass Spiegelbilder auf zuverlässige Weise gegebene Realitäten bzw. genauer die Erscheinungsformen und Seheindrücke von gegebenen Realitäten widerspiegeln. Eine solche Feststellung provoziert natürlich die Nachfrage, was wir uns denn unter einer Realität vorzustellen haben und ob Realitäten überhaupt mittels Spiegeln, Bildern oder Sprachformen abgebildet werden können. Ist die Realität das, was wir sinnlich und insbesondere optisch als konkrete Erscheinungsphänomene unmittelbar wahrnehmen können, oder das, was in Gestalt von Begriffen und Mustern bzw. platonischen Ideen hinter den sinnlich direkt beobachtbaren Phänomenen liegt? Die letztere Annahme implizierte dann, dass alle sinnlich wahrnehmbaren Einzelphänomene nur mehr oder weniger gute Exemplifikationen der eigentlichen Realität wären, die dann im Prinzip nur in Gestalt von Kategorien oder Gesetzen existierte. Dann wäre nicht die sinnlich wahrnehmbare Natur als eigentliche Realität anzusehen, sondern eher die Naturgesetze, die Grundlage der Existenz bestimmter Naturphänomene sind. Die Frage ist weiterhin, ob unsere etablierten Ideen, Begriffe und Gesetze von der Natur zutreffend sind bzw. nach welchen Maßstäben wir ihre Adäquatheit oder Verbesserungsfähigkeit überprüfen können. Wenn wir davon sprechen, dass Spiegelbilder die Realität bzw. Teile von ihr widerspiegeln, dann haben wir uns eigentlich schon entschieden, die sichtbare Erscheinungswelt als Realität anzusehen und Begriffe und Gesetze als mehr oder weniger brauchbare oder zutreffende Konzepte zur Differenzierung und Strukturierung der Erscheinungswelt in Bezug auf bestimmte pragmatische Bedürfnisse. Gerade die Unmittelbarkeit und der sinnliche Detailreichtum von Spiegelbildern legte es dann nahe, diese als Repräsentationen von Realität aufzufassen bzw. als Repräsentationen der Erscheinungswelt, die als Wirklichkeit unmittelbar auf das Leben der Menschen einwirkt. Der Umstand, dass Spiegelbilder immer nur individuelle Einzelphänomene und Einzelkonstellationen von Phänomenen der Erscheinungswelt repräsentieren können, aber nicht abstrakte Ordnungsmuster und Ordnungsstrukturen, aus denen diese Einzelphänomene möglicherweise hervorgehen, lässt sich durch folgendes Beispiel verdeutlichen. Dieses zeigt zugleich auch, dass die Repräsentationen von etwas durch den Spiegel oder durch die Sprache sich trotz aller Ähnlichkeiten strukturell doch erheblich voneinander unterscheiden. Wenn wir einen konkreten roten Apfel vor uns haben, so kann uns ein Spiegel diesen recht gut in seiner individuellen optischen Gestalt widerspiegeln, wenn
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auch nicht hinsichtlich seiner anderen sinnlich fassbaren Aspekte. Der sprachliche Begriff Apfel vermag das dagegen nicht, weil er sich als abstrahierendes Denkmuster referenziell immer auch auf gelbe oder grüne Äpfel beziehen kann. Optische und sprachliche Repräsentationen von Welt sind deshalb anderen Realitäts- bzw. Wirklichkeitsebenen zuzuordnen. Eigennamen lassen sich recht leicht als sprachliche Spiegelbilder individueller Personen verstehen, weil sie gleichsam als deren Stellvertreter auf einer anderen Wahrnehmungsebene fungieren. Begriffsnamen sind dagegen nicht in diesem Sinne zu verstehen, weil ihre Repräsentationsfunktionen sehr viel deutlicher durch Abstraktionen geprägt sind. Auch sprachliche Aussagen über Gegebenheiten sind von vornherein abstraktiver als die entsprechenden optischen Repräsentationen in Form von Bildern oder Spiegelbildern. Dennoch wird man nicht generell sagen können, dass sie keinerlei Wirklichkeit repräsentieren oder abbilden könnten, wenn man seinen Wirklichkeitsbegriff nicht von vornherein direkt an die Vorstellung von rein sinnlichen Einzelerfahrungen bindet. Jede sprachliche Abbildung von etwas setzt beim Rezipienten immer ein erhebliches Maß an Einbildungskraft und Erfahrung voraus, weil sich sonst kein konkretes Vorstellungsbild von etwas ergeben kann. Bei Begriffen, die sich auf sinnlich fassbare empirische Phänomene beziehen (Stein, Apfel; Löwe), gibt es in der Regel keinen großen Streit über ihren Realitätsbezug bzw. ihre mögliche Abbildungsfunktion für Wirklichkeit. Bei abstrakten Begriffen (Gerechtigkeit, Demokratie, Schönheit) sieht dass schon anders aus, weil hier bei der Vorstellungsbildung neben rein deskriptiven Kriterien auch normative wirksam werden. Ähnliches gilt auch für Wörter, die sowohl als Eigennamen als auch als Begriffsnamen verstanden werden können (Gott, Teufel) und bei denen immer wieder darüber gestritten worden ist, ob sie fiktive oder existierende Größen bezeichnen. Fiktionale literarische Texte erzeugen bei ihren Rezipienten kraft Einbildungskraft zweifellos konkrete Vorstellungsbilder. Es stellt sich aber natürlich die Frage, ob bzw. wie weit diese Vorstellungsbilder als Abbildungen oder gar Widerspiegelungen empirisch fassbarer historischer Gegebenheiten verstanden werden können. Es ist nämlich zu bedenken, dass sich in fiktionalen Texten durchaus abstrakte Ordnungsstrukturen der Welt objektivieren lassen, die denen von historischen Epochen oder von typischen menschlichen Beziehungen entsprechen, und dass so gesehen fiktionale Texte tiefenstrukturell deshalb auch als Abbildungen von faktischen Gegebenheiten betrachtet werden können. Selbst bestimmte literarische Gattungen sind als Spiegelbilder bestimmter historischer Gesellschaftsverfassungen angesehen worden. So hat beispielsweise Georg Lukács das Epos strukturell als eine Art Spiegelbild der aristokratischen und den Roman als eine Art Spiegelbild der bürgerlichen Welt verstanden.21
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G. Lukács, Theorie des Romans, 1965.
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Die Sprache als Spiegel
Die Virtualität von Spiegelbildern Obwohl sich im Spiegelbild das gespiegelte Original als Erscheinungsbild zu verdoppeln scheint, ist das Abgebildete natürlich nicht faktisch, sondern nur virtuell da. Damit teilt der Spiegel funktional gesehen eine Eigenschaft des Bewusstseins, in dem das Vorgestellte zwar faktisch wirksam, aber dennoch ebenfalls nur virtuell da ist. Im Spiegelbild ist das Abgespiegelte in seiner vollen optischen Anschaulichkeit vorhanden, aber nicht in seiner vollen Körperlichkeit, da wir zu ihm beispielsweise keinen taktilen Kontakt aufnehmen können. Im Spiegelbild eröffnet sich uns ein eigener virtueller Raum, der den realen Raum spannungsvoll ergänzt. Diese Virtualität von Spiegelbildern bildet zweifellos auch die Basis ihrer besonderen geistigen Faszination.22 Im Gegensatz zum Gemälde hat das Spiegelbild keine vergleichbare materielle Dimension. Es kann sich deshalb auch nicht von seinem jeweiligen Bezugsobjekt emanzipieren und als eigenständige Realität eine eigenständige Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte entwickeln. Im Gegensatz zu Gemälden haben Spiegelbilder auch nicht ihr eigenes integriertes Beleuchtungslicht für einzelne Gegenstände. Den virtuellen Charakter perfekter Spiegelbilder können wir in der Regel erst dann erkennen, wenn wir zugleich mit dem Spiegelbild auch den Spiegel und eventuell auch die jeweils abgespiegelten Objekte wahrnehmen. Die Virtualität des Spiegelbildes dokumentiert sich insbesondere darin, dass es uns einen Raum und Dinge dort wahrnehmen lässt, wo es diesen Raum und diese Dinge faktisch gar nicht gibt. Die spezifische Besonderheit des Spiegelbildes besteht darin, die Faktizität eines Raumes und die Körperlichkeit der Dinge aufzuheben, ohne uns daran zu hindern, beides als spezifische Wirklichkeiten wahrzunehmen und handelnd darauf zu reagieren. Obwohl Spiegelbilder eine abgeleitete rein virtuelle Existenz haben, besitzen sie dennoch die Fähigkeit, in anderen Spiegeln neue Spiegelbilder von sich selbst zu erzeugen. Dadurch unterscheiden sich Spiegelbilder von Schattenbildern, die keine neuen Schattenbilder werfen können. Spiegelbilder haben einen Bezug zur empirischen Welt, aber sie sind im Gegensatz zu Schattenbildern nicht in demselben Sinne Teile dieser Welt. Teil der empirischen Welt ist nicht das Spiegelbild, sondern nur der Spiegel. Die Kategorie der Virtualität kann uns helfen, bestimmte positive und negative Analogien zwischen Spiegel und Sprache bzw. zwischen optisch erzeugten Spiegelbildern und sprachlich erzeugten Vorstellungsbildern herauszuarbeiten. Ebenso wie wir mit Hilfe eines Spiegels unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Einzelteile oder Einzelaspekte von Welt richten können, so können wir das auch mit Hilfe der Sprache. Auf sprachliche Objektivierungen von etwas können wir genauso reagieren wie auf Spiegelbilder. Wenn jemand Feuer ruft oder wir in einem Spiegel ein Feuer sehen, dann reagieren wir an-
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Vgl. H. U. Asemissen, Zur Philosophie des Bildes, Neue Rundschau, 81, 1970, S. 525 ff.
Spiegelbilder
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ders, als wenn wir auf einem Gemälde ein Feuer sehen oder wenn in einem Text von einem Feuer die Rede ist, weil die Wahrnehmungen von Feuer jeweils ganz unterschiedlichen Kontexten bzw. Zeitebenen zugeordnet werden. Das Spiegelbild eines Feuers ist ebenso wie der entsprechende faktische sprachliche Ausruf direkt auf ein existierendes Feuer in einer aktuellen Wahrnehmungssituation bezogen, während ein gemaltes Feuer oder ein erzähltes Feuer diese unmittelbaren Weltbezüge nicht haben. In Gemälden und in Erzählungen kann auf ein Feuer Bezug genommen werden, das irgendwann einmal existiert hat oder das nur in der Einbildungskraft existiert. Da wir uns mit Hilfe der Sprache alle möglichen Vorstellungsinhalte intersubjektiv repräsentieren können, weiten sich durch die Nutzung sprachlicher Zeichen natürlich unsere Möglichkeiten zur Vorstellungsbildung gewaltig aus. Daraus ergibt sich dann allerdings auch das Problem, ob sprachlich erzeugte Vorstellungen eine faktische Referenz haben (Teufel, Hölle, Schlaraffenland). Ein solches Problem ergibt sich bei Spiegelbildern nicht. Sprachliche Objektivierungen von Welt repräsentieren deshalb auch einen anderen Typ von Virtualität als spiegelbildliche. Die sprachlich erzeugte virtuelle Welt kann sich zu einer völlig fiktiven Welt verselbstständigen, die die Dominanz der empirischen Welt relativieren oder sogar aufheben kann. Ein typisches Beispiel dafür ist die virtuelle Vorstellungswelt, die sich Don Quichotte aus der Lektüre von Büchern aufgebaut hat und die dazu führt, dass er die empirische Welt ganz anders wahrnimmt als der bodenständige Sancho Pansa, der seinen Sinnen und seinen konkreten Erfahrungen mehr vertraut als erlesenen Vorstellungen.
Die Zeichenproblematik bei Spiegelbildern Es ist ein heftig umstrittenes Problem, ob man Spiegelbilder kategorial als Zeichen verstehen kann oder nicht. Falls Spiegelbilder nicht als Zeichen zu werten sind, dann wird es auch zu einem Problem, ob der Spiegel auf fruchtbare Weise als Sinnbild für Sprache anzusehen ist. Unabhängig davon, für welche Position wir uns diesbezüglich entscheiden, so gewinnen wir bei der Diskussion dieser Problematik doch wichtige Einsichten über die Struktur von Spiegelbildern und sprachlichen Zeichen. Der Semiotiker Eco gehört zu denjenigen, die nachdrücklich dafür plädiert haben, Spiegelbilder nicht als Zeichen zu werten, obwohl er einräumt, dass Spiegelbilder in Zeichenprozessen eine wichtige Rolle spielen könnten. „Spiegelbilder sind keine Zeichen, und Zeichen sind keine Spiegelbilder. Dennoch kann es Fälle geben, in denen Spiegel benutzt werden, um Prozesse zu erzeugen, die sich als semiosische definieren lassen.“ 23
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U. Eco, Über Spiegel und andere Phänomene, 1988, S. 47.
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Die Sprache als Spiegel
Für die These, dass Spiegelbilder keine Zeichen sind, lassen sich im Kontext der bisherigen Überlegungen folgende Argumente ins Feld führen. Diese müssen allerdings auf ihre Durchschlagskraft geprüft werden, weil Spiegelbilder als ganz besondere Typen von Zeichen anzusehen sind, die bestimmte Analogien und Differenzen zu anderen Erscheinungsweisen von Zeichen aufweisen. 1.
2.
3.
Spiegelbilder setzen die synchrone Präsenz des jeweils Abgespiegelten voraus. Sie haben keine ontische Selbstständigkeit im Verlaufe der Zeit und verschwinden, wenn sich das Abgespiegelte nicht mehr vor dem Spiegel befindet. Von Spiegelbildern gibt es anders als von anderen Zeichen keine kulturelle Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte. Spiegelbilder gehen nicht aus abstraktiven und intentionalen Objektivierungsprozessen hervor, sondern registrieren nur die Lichtstrahlen, die von abspiegelbaren Objekten auf eine Spiegelfläche geworfen werden. Sie haben keine vereinfachenden, akzentuierenden und erfahrungsspeichernden Funktionen, die im Prinzip zumindest allen kulturell entwickelten und verwendeten Zeichen zukommen. Spiegelbilder sind unsensibel für den Unterschied zwischen Einzelobjekt und Objekttypus. Sie verdanken ihre Existenz einem optischen Echo bzw. Naturgesetzen und keiner geistigen menschlichen Ordnungsanstrengung. Deshalb sind sie auch nur in einem sehr eingeschränkten Sinne interpretierbar und verwendbar. Interpretierbar sind allenfalls die in Spiegelbildern aufscheinenden Dinge und die Einbettung von Spiegelbildern in komplexe Zeichen und Zeichenzusammenhänge wie etwa Gemälden.
Für die Klassifizierung von Spiegelbildern als Zeichen lassen sich nun allerdings auch gewichtige Argumente ins Feld führen. Dabei kann man insbesondere auf die semiotische Basisthese von Peirce Bezug nehmen, dass sich prinzipiell alles als Zeichen klassifizieren lässt, was man funktional und pragmatisch als Zeichen verwenden und interpretieren kann, wobei sich allerdings der Grad der Zeichenhaftigkeit einzelner Zeichenphänomene durchaus nach ihrer Intensität stufen lässt. So gesehen lassen sich dann folgende Gesichtspunkte geltend machen, um Spiegelbilder als Zeichen zu verstehen. 1.
2.
Alles, was eine Verweisungsfunktion auf etwas anderes hat und uns dieses andere in einer gewissen kognitiven Distanz auch vergegenwärtigt, besitzt Zeichencharakter. Dabei ist dann zweitrangig, ob diese Verweisungsfunktion kraft Natur oder kraft Kultur erfolgt, ob sie also indexikalisch, ikonisch oder symbolisch bzw. konventionell in Erscheinung tritt. Intentional erzeugten und motivierten Symbolen mit hoher Abstraktivität kann unter diesen Umständen dann natürlich ein höherer Grad von Zeichenhaftigkeit zugeordnet werden als eher gesetzlich oder sinnlich bedingten Indices und Ikons, denen dann sicherlich die Spiegelbilder zuzurechnen sind. In Spiegelbildern sind die repräsentierten Objekte ebenso wie in sprachlichen Zeichen nur virtuell enthalten, wenngleich Spiegelbilder nur auf individuelle Gegebenheiten aufmerksam machen und sprachliche Zeichen auf
Spiegelbilder
3.
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begriffliche Muster, über die dann allerdings auch individuelle Gegebenheiten vorstellbar werden können. Ebenso wie andere Zeichen motivieren auch Spiegelbilder dazu, zwischen einem Dingbewusstsein und einem Zeichenbewusstsein zu unterscheiden bzw. zwischen einem Sein und einem Objektiviert-Sein. Sowohl bei Spiegelbildern als auch bei Zeichen können wir nach der jeweiligen Genese fragen und über diese dann auch ihr jeweiliges Funktionspotenzial näher bestimmen. Beide lassen sich als Medien verstehen, über die sich Menschen etwas zugänglich machen, was ihnen sonst nicht oder nicht so leicht zugänglich ist. In beiden Fällen hat die konkrete Struktur von Medien Einfluss darauf, wie man etwas wahrnehmen kann bzw. wie Objekte durch ihre mediale Vergegenwärtigung transformiert und akzentuiert werden. Sowohl Spiegelbilder als auch Zeichen machen uns Sachverhalte nicht an sich, sondern nur perspektivisch hinsichtlich bestimmter Aspekte zugänglich. Wegen ihrer Selektions- und Akzentuierungsleistung haben Spiegelbilder eine ähnliche anthropologische Relevanz wie andere Zeichen auch, insofern sie den Menschen dabei helfen, ihre Lebenswelt pragmatisch differenziert zu bewältigen. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass wir den Terminus Reflexion sowohl dazu benutzen, die Struktur optischer als auch kognitiver Wahrnehmungsprozesse zu charakterisieren, weil beide Prozesse in hohem Maße indirekte Erfahrungen ermöglichen. Etwas im Spiegel zu sehen, ist etwas anderes, als etwas direkt zu sehen. Etwas mit Hilfe der Sprache kennenzulernen, ist etwas anderes, als es direkt zu erfahren. Wahrnehmungsbilder, die der Spiegel oder die Sprache von etwas erzeugen, sind Bilder des Spiegels oder der Sprache, aber nicht die Sachen selbst.
Auf eine ganz andere Ebene der Zeichennatur von Spiegelbildern und Sprachzeichen stoßen wir, wenn wir Spiegel und Sprache nicht als Hilfsmittel für die Erfassung der empirischen Welt betrachten, sondern als Projektionsflächen, auf denen Subjekte ihre individuellen Wahrnehmungsintentionen und Sinnbildungsziele konkretisieren können. Subjekte können nämlich Spiegel so benutzen, dass sie genau das in ihnen sehen können, was sie faktisch sehen wollen. Deshalb lassen sich auch die konkreten Spiegelbilder als Indices für die geistige Verfassung und die Wahrnehmungsinteressen von Wahrnehmungssubjekten betrachten und nicht nur als Hinweise auf die Existenz bestimmter Objekte. In ganz ähnlicher Weise lassen sich auch sprachliche Zeichenträger als Projektionsflächen für bestimmte Objektivierungs- und Sinnbildungsziele von Subjekten betrachten und sprachliche Inhalte als Indices für deren Wahrnehmungsinteressen. Spiegelbilder und sprachliche Objektivierungsformen dienen so gesehen dann sowohl zur Repräsentation der Außenwelt von Subjekten als auch zur Repräsentation von deren Innenwelt. Das Verständnis des Spiegels als Projektionsfläche für subjektbedingte Objektivierungs- und Gestaltungsziele ist deshalb nicht unerheblich für dessen Verständnis als Sinnbild für Sprache. Humboldt hat das sehr schön zum Ausdruck gebracht.
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„Ob, was den Menschen innerlich und äusserlich bewegt, in die Sprache übergeht, hängt von der Lebendigkeit seines Sprachsinnes ab, mit welcher er die Sprache zum Spiegel seiner Welt macht.“ 24
So betrachtet sind dann die historisch entwickelten und stabilisierten Sprachformen nicht nur Spiegel für die Wahrnehmung von Welt, sondern auch Spiegel für die historische Verfasstheit des menschlichen Denkens und dessen jeweilige Wahrnehmungsziele. Wenn man Sprache, Geschichte, Kultur oder Wissenschaft in diesem doppelten Sinne als einen Spiegel betrachtet und verwendet, dann kann man auch sagen, dass die Menschen sich bei der Nutzung dieser Spiegel in einem gewissen Sinne auch immer mit sich selbst unterhalten. Dieser hermeneutische Zirkel mag die Abbildtheoretiker unter den Zeichentheoretikern schrecken, da sie dadurch die Objektorientierung des Denkens gefährdet sehen. Die Zeichentheoretiker, die sich hermeneutisch orientieren, schreckt diese Situation dagegen weniger, da für sie alle Erkenntnisprozesse und Erkenntnisinhalte notwendigerweise sowohl eine objekt- als auch eine subjektbezogene Dimension haben. Wer einen Spiegel nur als optisches Werkzeug sieht, der versteht Spiegelbilder leicht als Widerspiegelungen von Objekten. Wer den Spiegel auch als heuristisches Werkzeug sieht, der versteht Spiegelbilder sowohl als Abspiegelungsformen von Objekten als auch von Subjekten, weil er Spiegel und Spiegelbilder aller Art nicht nur mit einem Gegenstandsbewusstsein, sondern immer auch mit einem Reflexionsbewusstsein in Verbindung zu bringen hat.
3. Die Widerspiegelungsproblematik Das weltabbildende Prestige von Spiegelbildern beruht ja insbesondere darauf, dass Spiegelbilder auf der Basis von optischen Reflexionsgesetzen nur das abbilden, was real existiert bzw. was sich faktisch vor dem Spiegel befindet. Zwar hat man immer eingeräumt, dass Spiegelbilder die gegebene Welt nicht perfekt widerspiegeln, da Spiegel ja nicht perfekt sind, aber diese Einsicht hat meist nur zu dem Bestreben geführt, Spiegel hinsichtlich ihrer Reflexionsleistung zu verbessern, aber nicht dazu, die Besonderheiten oder gar die prinzipiellen Schwächen dieses Objektivierungsmediums zu thematisieren. Wenn wir dem Spiegelbild zubilligen, die Welt widerzuspiegeln, dann haben wir prinzipiell zu beachten, dass ein Spiegel natürlich nur die mit den Augen erfassbare Welt abspiegeln kann, aber natürlich nicht die Welten, die wir mit unseren anderen körperlichen Sinnen oder gar mit unserem Geist erfassen können. Der Realismus von Spiegelbildern ist sicherlich nicht zu leugnen, aber er betrifft nur eine Ebene unserer möglichen Welterfahrung und blendet alle anderen auf ganz natürliche Weise methodisch aus. Es bleibt nämlich
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W. von Humboldt, Ueber den Dualis, Werke Bd. 3, 19633, S. 140
Die Widerspiegelungsproblematik
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unbeachtet, dass unsere Wahrnehmungsgegenstände nicht einfach da sind und nur darauf warten, widergespiegelt zu werden, und dass die Wahrnehmungsinteressen von Subjekten immer mitbedingen, was aus dem Kontinuum der Welt als spezifischer Wahrnehmungsgegenstand hervortritt oder hervortreten soll. Gerade weil ein Spiegelbild im Gegensatz zu einem Gemälde kein menschliches Erzeugnis ist, konnte es leicht als eine unmittelbare Kopie eines Originals verstanden werden bzw. als ein optisches Echo von etwas Realem. Dieser Umstand hat das Verständnis des Spiegels als Sinnbild für Sprache nachhaltig geprägt, aber gleichzeitig auch verhindert, dass danach gefragt wurde, welchen Einfluss die Eigenstruktur des Spiegels auf die von ihm erzeugten Spiegelbilder hat. Deshalb ist es auch notwendig, sich etwas genauer Rechenschaft über die ontologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen des Widerspiegelungsgedanken abzulegen und danach zu fragen, wie weit man Spiegel und Sprache hinsichtlich ihrer Objektivierungsfunktionen miteinander analogisieren kann. Das impliziert dann auch die Folgefrage, ob bzw. wie man die Sprache hinsichtlich ihrer möglichen Abbildungs- oder gar Widerspiegelungsfunktionen ebenso wie einen Spiegel optimieren kann. Erst dann lässt sich abschätzen, inwieweit bzw. unter welchen Prämissen es sinnvoll sein kann, von einer Widerspiegelungsfunktion der Sprache zu sprechen.
Die ontologischen Aspekte des Widerspiegelungsgedankens Wenn man annimmt, dass etwas durch etwas anderes widergespiegelt werden kann, dann setzt man immer schon voraus, dass zwischen dem Widerspiegelnden und dem Widergespiegelten keine grundsätzliche ontische Differenz besteht, sondern vielmehr eine gewisse Verwandtschaft oder gar Ähnlichkeit. Bei realen Spiegeln kann man diesbezüglich darauf verweisen, dass sowohl der Spiegel als auch das Abgespiegelte zur materiellen, optisch wahrnehmbaren Welt gehören und gleichermaßen bestimmten Naturgesetzen unterliegen. Problematischer wird dieser Denkansatz allerdings, wenn wir die Sprache als Spiegel betrachten, weil die ontische Differenz zwischen einem solchen Spiegel und dem Abgespiegelten sehr viel größer ist, obgleich man bei lautmalerischen bzw. ikonischen Sprachzeichen durchaus auch von einer gewissen ontischen Ähnlichkeit sprechen könnte. Hinsichtlich der begrifflichen bzw. konventionellen Sprachzeichen haben Realismus, Materialismus, Idealismus, Marxismus und Pragmatismus sehr unterschiedliche Konzepte entwickelt, um den Passungscharakter von Sprache und Welt zu thematisieren und die Sprache als mögliches Abbildungs- oder gar Widerspiegelungsmedium zu würdigen. Im Alltagsdenken und im philosophischen Realismus wird meist davon ausgegangen, dass die Einheiten der Sprache und die der Welt in einer symmetrischen Relation zueinander stünden und dass sich dementsprechend die Welt auch mit sprachlichen Mitteln zutreffend objektivieren lasse. Was in der Welt unterschieden sei bzw. unterschieden werden könne, dass lasse sich auch in der Sprache unterscheiden. Deshalb könne man sprachlichen Mustern und
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Aussagen vertrauen, solange kein täuschender Gebrauch von ihnen gemacht werde. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, nach der Aussagen genau dann als wahr gelten, wenn sie existierende Sachverhalte repräsentieren, lebt ebenfalls von dem Grundvertrauen auf die Abbildungskraft der Sprache. Für das realistische Denken gibt es zwischen der Welt und der sprachlichen Abbildung der Welt natürlich Unterschiede, aber keine unüberbrückbare Kluft, da beide nicht als inkongruente Phänomene angesehen werden. Im materialistischen Denken wird sogar die Überzeugung vertreten, dass sich der Geist aus der Materie entwickelt habe und ihr schon deshalb nicht absolut getrennt gegenüberstehen könne. Diese entstehungsgeschichtliche Herkunft des Geistes ermögliche es diesem dann nicht nur, die Welt richtig zu erfassen, sondern auch, sie zutreffend sprachlich widerzuspiegeln. Für das materialistische Denken ist natürlich nicht jede sprachliche Objektivierung eine zutreffende Widerspiegelung, weil sie durchaus ideologisch verzerrt sein kann. Sprachliche Widerspiegelungen werden dabei nicht als quasifotografische Abbildungen verstanden, aber doch als vertrauenswürdige symmetrische Entsprechungen. Offen bleibt bei diesem Denkansatz gleichwohl, an welchem Maßstab sich die Qualität einer Widerspiegelung beurteilen lässt und welche Kriterien und Prüfungsverfahren dafür in Frage kommen können. Sehr viel problematischer als im realistischen und materialistischen Denken wird es im Rahmen des idealistischen Denkens von einer sprachlichen Widerspiegelung der Realität zu sprechen, weil hier der Welt des Geistes und des Denkens eine ontische Priorität gegenüber der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren zugeschrieben wird. Die sinnliche Erscheinungswelt wird nicht als die eigentliche Welt verstanden, sondern eher als eine sinnliche Exemplifikation der eigentlichen Welt, die nur geistig wahrnehmbar sei. Diese Grundüberzeugung hat Platon dann zu der Hypothese angeregt, dass die Welt der immateriellen Ideen die eigentliche Welt sei und die Welt der sinnlich fassbaren Phänomene eine abgeleitete Welt, die nur auf die eigentliche hinweise. Unter diesen Denkprämissen dreht sich das Widerspiegelungsverhältnis gleichsam um. Die kognitiven Muster spiegeln nämlich die eigentliche Welt nicht mehr oder weniger gut wider, sondern die Erscheinungsformen der sinnlich fassbaren Welt exemplifizieren vielmehr die allein geistig wahrnehmbare Ideenwelt nur mehr oder weniger gut. Plotin hat diesen Denkansatz dann in seinem Emanationskonzept noch dahingehend akzentuiert, dass er die sinnliche Erscheinungswelt als einen Ausfluss der Ideenwelt ansieht. So betrachtet müsste dann die sinnliche Erfahrungswelt als ein Hinweis- oder Spiegelbild für die nicht direkt fassbare Ideenwelt als Original verstanden werden. Der neuzeitliche Idealismus hat konstruktivistische Züge, da angenommen wird, dass die Denkmuster der Subjekte bestimmen, was als Welt wahrgenommen wird bzw. welche Struktur der Welt zugeordnet wird. Das impliziert, dass der Spiegel der Sprache nicht unbedingt das objektiviert, was ist, sondern eher das, was er gemäß seiner eigenen Struktur objektivieren kann. Das bedeutet wiederum, dass der sprachliche Spiegel immer wieder kreativ neu herzurichten ist, wenn man mit ihm mehr als nur das traditionell Übliche sehen will.
Die Widerspiegelungsproblematik
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Der Widerspiegelungsgedanke im marxistischen und pragmatischen Denken Eine ganz zentrale Rolle spielt der Widerspiegelungsgedanke im marxistischen Denken. In diesem wird einerseits von den Grundüberzeugungen des realistischen und materialistischen Denkens ausgegangen, insofern dem Denken und Sprechen eine abbildende Grundfunktion zugeschrieben wird. In ihm werden andererseits aber auch idealistische Überlegungen berücksichtigt, da die Widerspiegelung der Welt im Denken und Sprechen in die Dynamik von dialektischen Prozessen eingeordnet wird, in denen die Ordnungsanstrengungen von Subjekten in bestimmten historischen Situationen eine wichtige Rolle spielen. Während das vulgäre marxistische Denken oft recht naiv davon ausgeht, dass die Subjekte die Welt in ihrem Denken und Sprechen direkt widerspiegeln könnten, sehen dialektisch orientierte marxistische Theoretiker das Problem differenzierter. Sie versuchen die Widerspiegelungsproblematik im Rahmen von Überlegungen zu bewältigen, in denen das Verhältnis von Ursache und Wirkung in psychischen Akten, die Frage nach der historischen Genese von Vorstellungen und die Ordnungsanstrengungen von Subjekten bei der Konstitution von konkreten Erkenntnisinhalten eine wesentliche Rolle spielen. So hat beispielsweise Adam Schaff betont, dass die sogenannte Widerspiegelungstheorie im Prinzip ebenso alt sei wie das korrespondenztheoretische Verständnis von Wahrheit. Eine richtig konzipierte Widerspiegelungstheorie habe davon auszugehen, dass es eine vom menschlichen Denken unabhängige Wirklichkeit gebe, aus der alle konkreten Vorstellungsinhalte letztlich hervorgingen bzw. zu verankern seien. Gleichwohl könne man aber die vorgegebene Wirklichkeit durchaus von der widergespiegelten Wirklichkeit unterscheiden, da das sprachlich Widergespiegelte notwendigerweise bestimmte subjektive und historische Implikationen habe. Deshalb solle man im Rahmen des Widerspiegelungskonzeptes auch besser mit den Erläuterungsbegriffen der Ähnlichkeit und der Entsprechung arbeiten als mit denen der Identität und der Gleichheit. Unangebracht sei ein naiver Realismus bzw. ein quasimechanisches Verständnis der Widerspiegelung, das die historischen, prozessualen und subjektiven Implikationen von Erkenntnisakten unberücksichtigt lasse. Außerdem habe man zu berücksichtigen, dass sich im marxistischen Denken der Begriff der Widerspiegelung als ein Kampfbegriff gegen den subjektiven Idealismus und den Agnostizismus herausgebildet habe, um deutlich herauszustellen, dass es eine objektiv vorhandene und für Subjekte erkennbare Wirklichkeit bzw. Realität gebe.25 Schaff verweist in seinen Überlegungen zur Widerspiegelungstheorie ausdrücklich auf die erste Feuerbachthese von Marx, die hervorhebe, dass in Erkenntnisprozessen sowohl die Objektseite als auch die Subjektseite zu berücksichtigen sei und dass Erkenntnis nicht als eine rein passive Spiegelreflexion verstanden werden dürfe.
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Vgl. A. Schaff, Sprache und Erkenntnis, 1964, S. 149–156.
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„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.“ 26
Aus der ersten Feuerbachthese von Marx folgt für Schaff, dass die Art der Erfassung der objektiv gegebenen Wirklichkeit durch den Menschen „nicht nur von dem So-Sein der W i r k l i c h k e i t, sondern auch vom So-sein des erkennenden M e n s c h e n abhängt.“ 27 Ganz ähnlich wie Schaff hat auch Vološinov argumentiert und dabei eine höchst aufschlussreiche zeichentheoretische Konsequenz gezogen. „Das Sein, das sich im Zeichen spiegelt, wird dort nicht einfach widergespiegelt, sondern gebrochen.“ Zeichen haben für ihn immer ideologische Implikationen, weil sie selbstverständlich bestimmten gesellschaftlichen Interessen dienten. „Die Klasse fällt nicht mit der Zeichengemeinschaft zusammen, d.h. mit einer Gemeinschaft, welche für die ideologische Kommunikation die gleichen Zeichen benutzt. Denn auch die verschiedenen Klassen benutzen ein und dieselbe Sprache. Infolgedessen überschneiden sich in jedem ideologischen Zeichen unterschiedlich orientierte Akzente. Das Zeichen wird zur Arena des Klassenkampfes. Diese gesellschaftliche Multiakzentuierung des Zeichens ist einer seiner wichtigsten Faktoren. Genau gesehen ist das Zeichen nur dank der Überschneidung der Akzente lebendig, flexibel und entwicklungsfähig. Ein Zeichen, das aus der Spannung des sozialen Kampfes ausgesondert wird und sich sozusagen außerhalb des Klassenkampfes befindet, muß notwendigerweise verkümmern, zur Allegorie degenerieren und zum Objekt nicht eines lebendigen Verständnisses, sondern der Philologie werden.“ 28 Die differenzierten Formen des marxistischen Denkens haben das Problem der Widerspiegelung mit dem Phänomen der Dialektik in Zusammenhang gebracht, weil man der Meinung war, dass die Dialektik das innere Ziel habe, die Objektwelt auf fruchtbare Weise mit der Subjektwelt zu verbinden und dabei die übergeordnete Einheit von Gegensätzen zu denken. Ebenso wie der Spiegel nur dann Spiegel sei, wenn er etwas Vorgegebenes widerspiegele, so glaubt man, dass auch das Bewusstsein nur dann wirkliches Bewusstsein sei, wenn es Bewusstsein von etwas anderem sei bzw. als Spiegel der realen Welt diene. Im Kontext seines ausgeprägt dialektischen marxistischen Denkens möchte Holz den Begriff der Widerspiegelung deshalb auch nicht als programmatischen Titel für alle Formen der geistigen Aneignung von Welt verstanden wissen, sondern nur als Titel für die philosophische Aneignung von Welt. Diese Form der Weltaneignung ist für ihn dadurch geprägt, dass es in ihr nicht nur um die Aneignung von Welt an sich gehe, sondern zugleich auch immer
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K. Marx, Die Frühschriften, 1971, S. 339. A. Schaff, Sprache und Erkenntnis, 1964, S. 162. 28 V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, 1975, S. 71–72. 27
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um ein Verständnis der Formen, in denen man sich Welt überhaupt aneignen könne. Dem philosophischen Denken gehe es nämlich nicht nur um ein Sachwissen, sondern auch um die Genese dieses Sachwissens und damit um ein Reflexionswissen. „Philosophie ist Spiegeldenken – nicht nur Denken als Widerspiegelung (das ist jedes Denken), sondern Denken der Widerspiegelung, also Denken des Denkens, Reflexion der Reflexion, Widerspiegelung der Widerspiegelung.“ 29
Die pragmatischen Denkansätze zur Widerspiegelungsproblematik akzentuieren noch stärker als die marxistischen die handlungstheoretischen Implikationen dieses Konzeptes. Man stellt insbesondere heraus, dass sich die Menschen in ihren handelnden Auseinandersetzungen mit ihrer physischen, sozialen und kulturellen Welt auf evolutionäre Weise Objektivierungs- und Ordnungsmuster entworfen hätten, die sich nur dann historisch erhielten, wenn sie sich auch in konkreten Handlungsprozessen dauerhaft bewährten. Das könnten sie nur, wenn sie keine willkürlichen Konstrukte seien, sondern den gegebenen Welten und den menschlichen Lebenszielen auch irgendwie entsprächen. Das bedeutet, dass für das pragmatisch orientierte Denken sprachliche Formen nicht die Welt an sich widerspiegeln, sondern allenfalls die für den handelnden Menschen relevante Welt. Daraus lässt sich folgern, dass alle Formen sprachlicher Objektivierungen aus Selektions- und Akzentuierungsprozessen hervorgehen, die pragmatisch motiviert sind. Die Inhalte sprachlicher Zeichen haben für dieses Denken deshalb auch nie einen Endgültigkeitscharakter, da sie prinzipiell verbesserungsfähig sind und sich außerdem dem Wandel ihrer Bezugbereiche und dem Wandel der Differenzierungsbedürfnisse der Menschen anzupassen haben. Für das pragmatische Denken kann es deshalb weder eine gesetzmäßige noch eine statische Widerspiegelung der Welt durch sprachliche Formen geben, sondern allenfalls eine intentionale und eine dynamische.
Die erkenntnistheoretischen Aspekte des Widerspiegelungsgedankens In allen vorgestellten Denkkonzepten lässt sich der Widerspiegelungsgedanke erkenntnis- und sprachtheoretisch nicht direkt am optischen Widerspiegelungsgedanken orientieren, sondern nur auf eine analogische oder metaphorische Weise, weil die postulierten Widerspiegelungsleistungen auf ganz unterschiedliche Ebenen zu beziehen sind. Deshalb tritt in ihnen auch die Funktion des Spiegels als Sinnbild für Sprache ganz unterschiedlich in Erscheinung. Die Spanne reicht dabei von dem Glauben an eine passgenaue direkte Abbildungsleistung des Spiegels und der Sprache bis zu der Annahme, dass Spiegel und Sprache nur heuristisch zu nutzende Abbildungsleistungen hinsichtlich ganz
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H. H. Holz, Weltentwurf und Reflexion, 2005, S. 356. Vgl. auch S. 351 und 502.
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bestimmter Realitätsaspekte erbringen können, bzw. von einem natürlichen Sprachvertrauen bis zu einer prinzipiell skeptischen Nutzung der Sprache. Außerdem darf natürlich nicht vergessen werden, dass der Widerspiegelungsgedanke sprachtheoretisch nur dann aktuell ist, wenn man sein Erkenntnisinteresse auf die Darstellungsfunktion der Sprache und den monologischen Sprachgebrauch konzentriert. Er wird ziemlich gegenstandslos bzw. muss ganz anders verstanden werden, wenn man seine Aufmerksamkeit auch auf die Ausdrucks-, Appell- und Argumentationsfunktion der Sprache bzw. den dialogischen Sprachgebrauch richtet, in dem die Darstellungsfunktion nur eine unter anderen Funktionen ist. In einem dialogischen bzw. in einem stilsensiblen monologischen Sprachgebrauch sollen uns sprachliche Formen nämlich nicht nur etwas über die Welt der Objekte mitteilen, sondern auch immer etwas über die Welt der Subjekte und deren Umgang mit der Welt der Objekte. Wenn man den Widerspiegelungsgedanken auch für den dialogischen Sprachgebrauch fruchtbar zu machen versucht, dann kann man auf das Konzept des lebendigen Spiegels zurückgreifen, das Nikolaus von Kues und Leibniz ins Spiel gebracht haben. Sprachliche Abspiegelungen geben uns dann sowohl Aufschluss über die Welt der Objekte als auch über die Welt der Subjekte als auch über die Welt der Medien, mit denen sich Subjekte ihre Objekte für Denk- und Handlungsprozesse zu erschließen versuchen. Die Sprache tritt dann für uns als ein Phänomen in Erscheinung, in dem sich nicht nur Einzelaspekte der Welt spiegeln, sondern auch die Bemühungen der Subjekte, sich die Welt für bestimmte Handlungsintentionen medial zu erschließen.
Die Herrichtung der Sprache als Spiegel Selbst wenn man sein Erkenntnisinteresse an der Sprache auf ihre Darstellungsfunktion reduziert und ihre expressiven, appellativen, argumentativen, dialogischen und poetischen Funktionen ausblendet, dann stellt sich immer noch die grundsätzliche Frage, ob das Formeninventar der Sprache mit dem der Welt kongruent ist und ob sich mit sprachlichen Formen gegebene Phänomene problemlos abspiegeln lassen. Während die traditionell akzeptierte Korrespondenztheorie der Wahrheit von der Denkprämisse geprägt ist, dass sich in Form von richtigen Begriffen und Aussagen dasjenige problemlos objektivieren lasse, was tatsächlich der Fall ist, geht beispielsweise die Konsensustheorie der Wahrheit von ganz anderen Denkvoraussetzungen aus. Sie glaubt, dass nur solche sprachlichen Formen und Sätze als wahr angesehen werden könnten, die man nach einer eingehenden herrschaftsfreien Prüfung konsensual als zutreffend und wichtig qualifizieren könne, was unsere Wahrheitsvorstellung dann ganz gegen das übliche Verständnis auch irgendwie abstufbar macht. Da man in frühen Phasen der Kulturentwicklung und in Epochen mit reduzierter Kenntnis anderer Sprachen immer ein großes Sprachvertrauen gehabt hat, lag es in ihnen natürlich recht nahe, sprachliche Unterscheidungen auch immer als ontische anzusehen. Deshalb hatte man auch keine Scheu, Ontologie
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am Leitfaden der Sprache zu betreiben. Das änderte sich in der Spätantike und im Spätmittelalter als Volkssprachen den beiden Kultursprachen Griechisch und Latein direkt oder indirekt Konkurrenz machten und die Idee einer wissenschaftlichen Idealsprache mehr und mehr Gestalt gewann, was schon in dem Kapitel über die Sprache als Weg ausführlich thematisiert worden ist.30 Im 20. Jahrhundert haben der frühe Wittgenstein und der frühe Carnap die Idee einer weltabbildenden Wissenschaftssprache wiederzubeleben versucht, für die der Widerspiegelungsgedanke natürlich eine ganz konstitutive Funktion hat. Beide gingen dabei von normativen Setzungen aus, die uns heute weder wissenschaftstheoretisch noch sprachtheoretisch unmittelbar plausibel erscheinen, sondern allenfalls im Rahmen eines sehr abstraktiven methodischen Denkens, das kaum Bezüge zum Alltagsdenken und zur natürlichen Sprache aufweist. So hat beispielsweise der frühe Wittgenstein betont, dass wir uns in Form von Sätzen Bilder von Tatsachen machten. Diese Bilder seien als Modelle der Wirklichkeit zu verstehen, bei denen die Elemente des Bildes den Elementen in der Wirklichkeit entsprächen bzw. diese verträten.31 Auf der Basis dieser Setzungen kommt Wittgenstein dann zu der folgenden sprachtheoretischen These: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.“ „Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.“32 Diese Thesen sind für unseren Problemzusammenhang deswegen so wichtig, weil der frühe Wittgenstein daraus die Überzeugung abgeleitet hat, dass in wissenschaftlichen Sätzen die Wirklichkeit nicht beschreibend dargestellt, sondern vielmehr strukturanalog widergespiegelt werde. „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm.“33 Der von Wittgenstein entwickelte Gedanke, dass über die Vertretung von Gegenständen durch Zeichen und über die Spiegelung von Seinsstrukturen durch Satzstrukturen Realität direkt repräsentiert werden könne, hat bei Elementarsätzen mit einer einfachen Subjekt-Prädikat-Struktur (Der Hund beisst den Briefträger) noch eine gewisse Plausibilität. Aber schon bei komplexen Sätzen mit Attributen und Adverbialen oder gar bei Satzgefügen, bei den Einzelaussagen durch bestimmte Konjunktionen auf metainformative Weise miteinander verknüpft werden, wird die Auffassung höchst problematisch, dass sprachliche Ordnungsstrukturen ontische symmetrisch widerspiegeln könnten. Die attributive syntaktische Kombination grünes Blatt spiegelt ontisch nicht etwas Grünes und ein Blatt wider, sondern allenfalls eine Gesamtvorstellung, die wir im Denken nachträglich analytisch in bestimmte Komponenten zerlegen können aber nicht zerlegen müssen. Für die Vorstellung grünes Blatt
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Vgl. auch W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 250 ff. Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosphicus, 2,1; 2.13; 2.131; 3.22, S. 16; 22. 32 L. Wittgenstein a. a. O. , 4 .01; 4. 0312, S. 33; 37. 33 L. Wittgenstein a. a. O. , 4.121, S. 43. 31
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könnte man sicherlich auch einen einzelnen Begriff bzw. ein einzelnes sprachliches Zeichen ausbilden. Für grammatische Zeichen von Konjunktionen über Tempuszeichen bis zu Kasuszeichen lassen sich schwerlich korrespondierende Gegenstände in der Welt finden, es sei denn, man rechnet auch Relationen und Instruktionen zu den Gegenständen. Grammatische Zeichen spiegeln wohl kaum Elemente in der Welt wider, sondern allenfalls kulturelle Denkmuster bzw. individuelle Denkoperationen, die in Handlungsprozessen irgendwie auf die Welt bzw. auf den Umgang mit ihr zu passen scheinen. Gerade an grammatischen Zeichen als Relations- und Instruktionszeichen lässt sich gut demonstrieren, dass der Widerspiegelungsgedanke im Sinne einer direkten Abspiegelung von Realitäten nur eine sehr begrenzte heuristische Funktion hat bzw. die pragmatischen Funktionen der Sprache nur sehr eingeschränkt erfasst. Die Idee einer weltabbildenden wissenschaftlichen Idealsprache hat auch den jungen Carnap fasziniert. Er sah es zunächst als möglich an, die natürliche Sprache durch reinigende Eingriffe von außen so umzugestalten, dass dadurch eine Wissenschaftssprache entstehen könne, mit der sich die faktisch gegebene Welt verlässlich abbilden bzw. widerspiegeln lasse. Der Vorteil einer solchen Wissenschaftssprache bestand für ihn darin, dass Denkfehler sofort als Sprachfehler identifizierbar seien und deshalb recht leicht vermieden werden könnten. Er sah es sogar als möglich an, durch eine solche Sprachpflege den alten positivistischen Traum zu verwirklichen, unser Wissen von all seinen religiösen und metaphysischen Einfärbungen und Verzerrungen zu befreien und ein positives d.h. sachadäquates Wissen zu erreichen und sprachlich zu objektivieren. Bei der Realisierung dieses Vorhabens war das erste Bemühen Carnaps darauf ausgerichtet, die Sprache von allen Scheinbegriffe zu reinigen. Deren Besonderheit sah er darin, dass sie nichts Existierendes widerspiegeln, sondern nur illusionären metaphysischen Konzepten Ausdruck geben. Die Ausmerzung solcher Scheinbegriffe sollte die Bildung von Scheinsätzen von vornherein unmöglich machen, die für Carnap keinerlei existierende Realität sprachlich objektivieren, sondern nur metaphysische Ideologien. Unter die Scheinbegriffe fallen für ihn alle Begriffs- bzw. Wortbildungen, die keine fassbare empirische Referenz haben wie z. B. babig und Babigkeit , aber auch Gott, das Absolute, das Unbedingte, das Ich, das Nichts usw. Solche Wörter haben für Carnap in wissenschaftlichen Sätzen, die existierende Sachverhalte zu repräsentieren haben, aber nicht individuelle Lebensgefühle, keinerlei Platz. „Die (Schein-) Sätze der Metaphysik dienen nicht zur Darstellung von Sachverhalten, weder von bestehenden (dann wären es wahre Sätze) noch von nichtbestehenden (dann wären es wenigstens falsche Sätze): sie dienen zum Ausdruck des Lebensgefühls.“ 34
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R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2, 1931, S. 238.
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Polemisch attackiert Carnap deshalb auch einen Sprachgebrauch, in dem die Wortartzugehörigkeiten und die syntaktische Verknüpfungsregeln von sprachlichen Zeichen willkürlich verändert werden, weil dadurch der Realitätsbezug der Sprache leichtfertig aufgelöst werde. Das Paradebeispiel für metaphysische Scheinsätze dieses Typs ist ihm Heideggers Satz: „Das Nichts selbst nichtet.“35 Eine Hauptaufgabe der Philosophie sieht Carnap darin, Scheinsatze als nichtssagende Sätze zu identifizieren und Regeln für einen realitätsabbildenden Sprachgebrauch zu entwickeln. Das zeigt sehr klar, dass für ihn nicht die heuristischen Erschließungs-, sondern die abbildenden Widerspiegelungsfunktionen der Sprache im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Herrichtung der Sprache für rein abbildende Aufgaben impliziert natürlich einen ganz anderen Sprachgebrauch und eine ganz andere Sprachpflege als ihre Herrichtung für heuristische Sinnbildungs- und pragmatische Einwirkungsfunktionen.
Das Widerspiegelungskonzept und die Sprache Unser alltägliches und wissenschaftliches Vertrauen in die Fähigkeit der Sprache, Welt adäquat zu repräsentieren, sowie die Vorstellung, dass die Bausteine der Sprache mit denen der Welt direkt korrespondieren, hat natürlich Sprachkritik und Sprachpflege nie ausgeschlossen, um die konkrete Leistungsfähigkeit der Sprache zu verbessern. Immer wieder hat man eingeräumt, dass sprachliche ebenso wie optische Spiegelungen eine gegebene Realität verzerrt oder verdunkelt wiedergeben könnten, aber an der potenziellen Abbildungsbzw. Widerspiegelungsfähigkeit der Sprache hat man selten so gezweifelt, dass man sich zum Schweigen entschlossen hätte. Selbst die Mystiker, die einen generellen Zweifel daran hatten, ob sich mit der gegebenen Sprache ihre individuellen religiösen Erlebnisse objektivieren ließen bzw. ob sich mit der alltäglich genutzten Sprache überhaupt sinnvoll über Gott sprechen lasse, haben von der Sprache in metaphorischen und paradoxen Redweisen in einer Weise Gebrauch gemacht, die man als beredtes Schweigen bezeichnen könnte. Das Spiegelmodell für die Qualifizierung der Leistungsfähigkeit der Sprache wurde erst dann theoretisch wirklich fragwürdig, als man sich zwei sehr grundsätzliche Fragen stellte: Ist die Realität das, was wir mit unseren körperlichen Sinnen erfassen können, oder das, was an abstrakten Ordnungen hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt steht und was sich nur geistig erfassen lässt? Sollen sich die sprachlichen Objektivierungsprozesse nur auf die Repräsentation der Objektsphäre beziehen oder sollen sie auch auf die Subjektsphäre bzw. auf die Interaktionen zwischen beiden Sphären Bezug nehmen? Die erste Frage hat dazu geführt, dass seit der Renaissance ernsthaft in Betracht gezogen wurde, dass als Widerspiegelungsmedium für die Welt keines-
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R. Carnap, a.a.O., S. 229.
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wegs nur die Sprache der Wörter, sondern vor allem die Sprache der Mathematik in Betracht zu ziehen sei. Die zweite Frage hat zu der These geführt, dass die Welt sich nicht nur auf eine, sondern auf sehr unterschiedliche Weisen über Zeichen und Sprache repräsentieren bzw. abbilden lasse, insofern sich die Subjekte natürlich für sehr unterschiedliche Aspekte von ihr interessieren könnten. Cassirers Konzept der symbolischen Formen dokumentiert sehr klar, dass für die Sprache nicht das Modell des gesetzmäßig wirksamen optischen Spiegels als fruchtbar angesehen wurde, sondern eher das Modell des lebendigen Spiegels, das in Repräsentationsprozessen nicht nur den zu erfassenden Objekten eine konstitutive Rolle einräumt, sondern auch den objektivierenden Medien und Subjekten. Die Vorstellung eines lebendigen Spiegels verdeutlicht, dass Spiegel und Sprache in Wahrnehmungsprozessen eine wichtige Rolle als transzendentale Strukturierungsfaktoren spielen können, weil beide recht unbemerkt Einfluss auf die Strukturierung unserer faktischen Wahrnehmungsprozesse und Wahrnehmungsinhalte nehmen. Etymologisch liegt es außerdem nahe, denjenigen, der einen Spiegel als Wahrnehmungsmedium benutzt, als einen Ausspäher bzw. als einen Spekulanten mit ganz bestimmten Wahrnehmungsinteressen zu bezeichnen. Wenn wir die Sprache als einen lebendigen Spiegel betrachten, dann können wir annehmen, dass sie uns hilft, sowohl etwas über die Welt auszuspähen als auch über die Menschen und Kulturen, die die Sprache historisch hervorgebracht haben bzw. die sie in spezifischer Weise nutzen. Ein typisches Beispiel dafür, dass wir über die Sprache sowohl etwas über die Welt als auch über die Menschen in Erfahrung bringen können, ist das Phänomen Stil, worauf am Ende des folgenden Unterkapitels noch näher eingegangen werden wird. Deshalb kann hier vorerst der Hinweis genügen, dass das Phänomen Stil nicht nur als eine Art Spiegelbild einer individuellen Person verstanden werden kann, sondern auch als Spiegelbild einer Kulturepoche, einer Textgattung bzw. einer Sprache oder Sprachfamilie. Gerade über den Stilbegriff lässt sich verdeutlichen, dass Sprache auf verschiedenen Ebenen etwas spiegeln kann, was außerhalb ihrer selbst liegt. Indem wir auf die Sprache und ihre besonderen Verwendungsweisen schauen und fruchtbare Fragen an sie stellen, können wir sie nämlich zum Spiegel für vielerlei machen.
4. Die anthropologischen Aspekte der Spiegelproblematik Wenn wir nach den anthropologischen Aspekten des Spiegels fragen, dann wird uns dieser primär als ein Kulturphänomen interessant, das einerseits von Menschen entwickelt worden ist, das andererseits aber auch in Rückprägungsprozessen auf diejenigen zurückwirkt, die es hervorgebracht haben und eben deshalb glauben, Macht über es zu besitzen. Ebenso wie der Mensch sowohl Herr und Knecht seiner Werkzeuge ist, so ist er auch Herr und Knecht seiner Spiegel in ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Kulturgeschichtlich haben
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Spiegel aller Art vor allem deswegen eine so große Faszination auf die Menschen ausgeübt, weil sie deren natürliches individuelles Blickfeld außerordentlich ausgeweitet haben und ihnen etwas sichtbar machten, was ihnen sonst gar nicht oder nicht so gut wahrnehmbar war. Dadurch wurde dann nicht nur das relationale Denken angeregt, sondern zugleich auch die Möglichkeit eröffnet, dass die Menschen ihre eigene Gestalt und ihre eigenen Aktivitäten gleichsam von außen bzw. wie mit den Augen eines anderen betrachten konnten. Die Selbstbeobachtung der Menschen in physischer und geistiger Hinsicht durch optische und kulturelle Spiegel hat allerdings in der Regel eine retrospektiven und keinen prospektiven Charakter. Die Menschen können in ihren Spiegeln sehen, was hinter ihnen liegt bzw. was sie bisher erzeugt haben, sie können in ihnen aber im Prinzip nicht sehen, was vor ihnen liegt bzw. was sie potenziell noch leisten können. Sie dienen der Vergewisserung von etwas Gegebenem, aber nicht der Erzeugung von etwas Neuem wie viele andere kulturelle Werkzeuge. Selbst wenn Spiegel mit Weissagungen in Verbindung gebracht werden, dann sind die Inhalte dieser Weissagungen nur für den Sehenden neu, aber im Prinzip immer schon beschlossene oder abgeschlossene Inhalte, welche die Spiegel nur offenbaren. Allenfalls können Spiegel mit der Zukunft in Verbindung gebracht werden, wenn wir an so etwas wie Rechtsspiegel oder Fürstenspiegel denken, die Normen für ein richtiges Verhalten in der Zukunft fixieren bzw. ein ideales Herrscherbild entwerfen. Die Frage danach, welche anthropologischen Implikationen generell mit dem Gebrauch von Spiegeln verbunden sind und welche Analogien sich diesbezüglich zur Sprache ergeben, kann hier natürlich nicht umfassend und abschließend beantwortet werden. Deshalb soll exemplarisch auf folgende Problembereiche eingegangen werden: Welche Funktionen können Spiegel in Prozessen der Welt- und Selbstwahrnehmung ausüben? Weshalb gibt es nicht nur eine Spiegelfaszination, sondern auch eine Spiegelscheu? Wie lässt sich mit Hilfe unserer Spiegelerfahrungen die Struktur von Reflexionsprozessen erläutern? Warum gibt es eine unstillbare Neigung, Natur- und Kulturphänomene als Spiegel für die ikonische Wahrnehmung von etwas anderem zu nutzen? Inwiefern lassen sich Spiegel und Sprache als Erkenntnismittel betrachten?
Der Spiegel in der menschlichen Welt- und Selbstwahrnehmung Optische Spiegel, in welcher Erscheinungsform auch immer, sind die einzigen direkten Hilfsmittel der Menschen, ihre eigenen Gesichter sowie ihre eigenen Augen als Organe des Sehens wahrzunehmen. Diese Funktion von Spiegeln, das menschliche Erkenntnisinteresse auf die eigenen Wahrnehmungsmittel lenken zu können, hat schon früh das mythische und philosophische Denken fasziniert. Gerade weil Spiegel die große Chance boten, die Weltwahrnehmung auch auf die Selbstwahrnehmung auszuweiten, konnten sie zu genuinen Gegenständen des erkenntnistheoretischen Denkens gemacht werden. Je mehr die optischen Widerspiegelungsleistungen von Spiegeln technisch perfektioniert
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wurden bzw. je weniger man auf ihre mediale Transformationsleistung durch Trübungs- oder Verzerrungserscheinungen aufmerksam wurde, desto mehr erwies es sich als notwendig, die mit Spiegeln verbundene Erweiterung der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten erkenntnistheoretisch zu qualifizieren und zwischen der Realität selbst und dem Bild bzw. der Illusion von Realität zu unterscheiden. Gerade wenn der Mensch auf Spiegelbilder schaut, stellt sich ihm das Problem, was denn als Realität zu gelten hat, inwieweit Realitätserfahrungen von ihren jeweiligen medialen Vermittlungen abhängig sind und was zur Objektwelt und was zur Subjekt- bzw. Kulturwelt gehört. Gerade wenn der Mensch sein eigenes Spiegelbild betrachtet, drängt sich ihm die Frage auf, ob er sich selbst sieht oder ob er sich selbst wie einen anderen sieht. Weiterhin stellt sich das generelle Problem, ob die Identität einer bestimmten Person eine fest vorgegebene Größe ist, die man nur richtig wahrzunehmen hat, oder eine dynamische Größe, die sich in der Organisation von Wahrnehmungsprozessen bzw. intentionalen Handlungen immer wieder neu konstituieren muss. Der wohl berühmteste Mythos über das Problem der Selbstwahrnehmung des Menschen im Spiegel ist sicherlich der antike Narzissos-Mythos, der aufschlussreich mit dem Echo-Mythos verknüpft ist. In ihm wird erzählt, dass der schöne Knabe Narzissos gleichermaßen von Männern wie von Mädchen begehrt wurde, dass er aber alle verschmähte und zu niemandem ein partnerschaftliches dialogisches Verhältnis aufbauen konnte. Auch die Nymphe Echo wies er ab, die von Hera mit dem Verlust der Sprache bestraft worden war, weil Echo sie einmal davon abgehalten hatte, das Treiben von Zeus mit anderen Nymphen zu beobachten. Wegen dieser Strafe konnte Echo nichts mehr selbst sagen, sondern nur noch die letzten Worte und Sätze anderer wiederholen, wodurch sie gleichsam zu einem akustischen Spiegel für andere wurde. Als nun einmal Narzissos sein eigenes Spiegelbild im stillen Wasser einer Quelle sah, verliebte er sich in dieses Spiegelbild, ohne allerdings die so gesehene Person wirklich berühren zu können. Faktisch verliebte er sich allerdings nicht in sich selbst, sondern nur in das Bild, das er im spiegelnden Wasser von sich selbst erzeugt hatte. Er verzehrte sich in seiner unerfüllbaren Liebe und starb schließlich, wobei Echo seine Wehklagen ständig wiederholte, ohne dadurch aber einen Kontakt zu Narzissos aufbauen zu können.36 Eine interessante Variante dieses Mythos hat Pausanias im 2. nachchristlichen Jahrhundert überliefert. Er hält es für einfältig, dass derjenige, der von Liebe ergriffen worden sei, einen wirklichen Menschen nicht von seinem Spiegelbild unterscheiden könne. Deshalb verweist er auf eine Mythosvariante, in der das darin enthaltene Problem psychologisiert wird. Danach hatte Narzissos eine Zwillingsschwester, die er sehr liebte. Nach deren Tod besuchte er die
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Vgl. Ovid, Metamorphosen, 3. Buch, 1994, S. 147 ff. ; R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1 , 1965, S. 249 ff.
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spiegelnde Quelle immer wieder, weil er sich dort einbilden konnte, in seinem eigenen Spiegelbild die Gestalt seiner Schwester zu sehen.37 Der Narzissos-Mythos macht uns auf folgende auch sprachtheoretisch sehr interessante Problemlage aufmerksam. Spiegelbilder haben keine eigenständige, sondern nur eine abgeleitete Existenz, deren pragmatischer Stellenwert der Interpretation bedarf. Trotz ihrer Unselbständigkeit können sie einen wichtigen Beitrag zur realen Selbst- und Weltwahrnehmung leisten, wenn sie nicht als eigenständige Realitäten, sondern als Zeichen für diese wahrgenommen werden. Spiegelbilder sind Phänomene von virtueller Realität, die weder selbstständig handeln noch Widerstand leisten können. Da sie keine eigenständige Identität und Selbstständigkeit haben, fallen sie allerdings auch als echte Dialogpartner aus. Narzissos kann sein Spiegelbild im Wasser nicht berühren, ohne es zu zerstören. Er kann auch von ihm nicht faktisch berührt werden, weil es ja eine Ableitung seiner selbst ist. Deshalb können sowohl die Spiegelbilder von einem selbst als auch die Spiegelbilder von anderen Personen nicht die Rolle von wirklichen Dialogpartner übernehmen, an deren Andersartigkeit man sich auch selbst besser kennenlernen kann. Sie wiederholen ja nur etwas von einem Original und können sich ohne die Mitgegenwart dieses Originals nicht entfalten und Gestalt gewinnen. So gesehen ermöglichen die eigenen Spiegelbilder zwar einen Blick auf sich selbst, aber keine wirkliche Erkenntnis von sich selbst, sofern man annimmt, dass das eigene Selbst aus Handlungsprozessen hervorgeht und auch aus der Überwindung von Widerständen resultiert. Spiegelbilder sind gleichsam optische Echos von einem selbst, aber nicht Größen, die durch ihre Ähnlichkeit und Differenz mit einem selbst etwas zur eigenen Entfaltung beitragen können. Das exemplifiziert die Nymphe Echo sehr schön, der Hera die personale Identität genommen hat, insofern sie nur noch als defizitäres akustisches Ebenbild eines anderen Menschen in Erscheinung treten kann, aber nicht als ein wirklicher Gesprächspartner bzw. als eine reale Person. Eine etwas andere Einschätzung der Funktion von Spiegelbildern bei der Welt- und Selbsterkenntnis ergibt sich nun allerdings, wenn wir Spiegelbilder als ikonische Zeichen wahrnehmen, die uns einen relativ natürlichen Zugang zu etwas verschaffen, das uns sonst gar nicht oder nicht so gut sichtbar ist. Wenn wir Spiegelbilder nicht als faktische Realitäten verstehen, sondern in Rahmen eines metareflexiven Begleitbewusstseins als ikonische Zeichen von Realitäten, dann können wir Spiegelbildern eine semiotisch zu qualifizierende Erkenntnisfunktion sowohl für die Objektwahrnehmung als auch für die Selbstwahrnehmung zuschreiben. Das verdeutlicht der Perseus-Mythos sehr schön, insofern Perseus im Spiegel seines Schildes Medusa sehen und gegen sie kämpfen kann, ohne von ihrem direkten Anblick aber versteinert und damit als handelnder Mensch zerstört zu werden.
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Vgl. Pausanias, Reisen in Griechenland, Buch 9; 31,7. Bd. 3, 1986/89, S. 180.
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So gesehen lassen sich Spiegelbilder dann doch in einem ganz spezifischen Sinn als mögliche Dialogpartner verstehen. Wenn man sich nämlich bemüht herauszufinden, welche Genese Spiegelbilder haben bzw. welche Funktionen und Implikationen mit ihnen verbunden sind, dann lernt man im Kontakt mit ihnen sowohl etwas über die Welt als auch über seine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und damit auch über sich selbst. Die Möglichkeit der semiotischen Nutzung von Spiegeln und Spiegelbildern als virtuellen Dialogpartnern kommt auch in dem satirischen Vorschlag zum Ausdruck, bei Lageweile solle man sich vor den Spiegel setzen, um Gesellschaft zu haben. Oscar Wilde hat den Narzissos-Mythos sogar dahingehend umgedeutet, dass er dem spiegelnden Teich das folgende Bekenntnis zuordnete: „Doch ich liebte Narcissus, weil ich, während er an meinem Ufer lag und zu mir herabblickte, im Spiegel seiner Augen stets meine eigene Schönheit gespiegelt sah.“38 Die im Narzissos-Mythos thematisierte Spiegelproblematik ist sprachtheoretisch in mehrfacher Hinsicht interessant, weil mit ihm sinnbildlich auf die Genese, die Funktionen und die Gefahren der Sprache hingewiesen wird. Dabei wird zugleich indirekt auf die Frage aufmerksam gemacht, ob die Beschäftigung mit der Sprache auch ein Beitrag zur Selbstwahrnehmung oder gar zur Selbstkonstitution des Menschen als Kulturwesen zu leisten vermag. Entstehungsgeschichtlich betrachtet sind sprachlichen Formen, seien es nun konventionell etablierte oder aktuell konstituierte Gebilde, keine eigenständigen ontischen Formen, sondern ebenso wie Spiegelbilder abgeleitete Funktionsformen. Wenn der Mensch auf sie schaut oder sie verwendet, dann konfrontiert er sich im Grunde mit seinen eigenen Produkten und interagiert so in einem gewissen Sinne immer mit sich selbst bzw. mit seiner Gattung oder seiner Kultur. Daraus kann die Gefahr resultieren, dass er die in den sprachlichen Formen gespiegelte Welt für die reale Welt hält und nicht für das sprachlich gespiegelte Bild einer realen oder vorgestellten Welt. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn der sprachlich objektivierten Welt ein höherer Realitätscharakter zugeschrieben wird als der empirisch erfahrbaren Welt. Allerdings muss in diesem Zusammenhang auch eingeräumt werden, dass die in sprachlichen Formen gespiegelte Welt als Ergebnis kultureller Arbeit doch eine gewisse Eigenständigkeit und Widerständigkeit zu gewinnen vermag, an der sich der wahrnehmende Interpret genauso abmühen kann wie an der empirisch vorfindbaren Welt. Daraus kann sich ergeben, dass sprachliche Formen dann doch den Status von Dialogpartnern bekommen, die durchaus antworten, wenn man die richtigen Fragen an sie stellt, und die das Selbstverständnis des Fragenden tatsächlich prägen können, weil dieser sich ja zustimmend oder ablehnend auf sie beziehen kann. Solche Situationen können insbesondere dann eintreten, wenn man sich mit Sprachformen konfrontiert sieht, die man aus historischen oder referenziellen Gründen nicht mehr spontan ver-
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O. Wilde, Der Schüler, Werke in 5 Bänden, 2004, Bd. 2, S. 316.
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steht und auf die man sich dann wie auf einen eigenständigen oder gar widerspenstigen Dialogpartner einstellen muss. Die möglichen dialogischen Implikationen der Relation zwischen Sprache und Mensch hat Lichtenberg in einem Aphorismus über die Lektüre von Büchern sehr schön sinnbildlich thematisiert. „Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen.“39 Er hat außerdem darauf aufmerksam gemacht, dass Bücher nicht nur als Brillen zu verstehen seien, durch die man auf andere und anderes sehen könne, sondern auch als Spiegel, die einem auch Selbstwahrnehmungen ermöglichten. „Ich übergebe auch dieses Büchelgen als einen Spiegel um hinein nach euch und nicht als eine Lorgnette um dadurch und nach andern zu sehen.“ 40 Die Gefahr, dass die Welt im Spiegel der Sprache inadäquat, verzerrt oder verkürzt wahrgenommen wird, ist immer dann gegeben, wenn man keine Sensibilität für die Differenz zwischen der tatsächlichen und der sprachlich objektivierten Welt entwickelt. Diesen Gefahren sind nicht nur der ideologische, sondern auch der alltägliche und der wissenschaftliche Sprachgebrauch ausgesetzt. Das dokumentiert sich sehr schön in der Einsicht Palmströms: „Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein k a n n , was nicht sein d a r f .“ 41 Alle Objektivierungen von Welt durch Zeichen laufen Gefahr, die Rolle eines Prokrustesbettes zu übernehmen bzw. alles für inexistent oder marginal zu halten, was von ihnen nicht erfasst wird oder erfasst werden kann. Das bedeutet, dass man sprachliche Formen erst dann richtig verstehen kann, wenn man mehr kennt als die Konventionen, die ihnen zugrunde liegen, und wenn man mehr kennt als nur die Objektivierungsleistungen der Sprache Als Spiegel der Welt unterliegt die Sprache einer strukturellen Ambivalenz. Einerseits ist dieser Spiegel ein Hilfsmittel, mit dem sich die Menschen die Welt in bestimmten Perspektiven objektivieren können, um besser mit ihr fertig zu werden. Andererseits kann dieser Spiegel aber auch als eine Projektionsfläche dienen, auf die die Menschen ihre Hypothesen, Wünsche und Hoffungen projizieren und die ihnen dann genau das widerspiegelt, was sie im Prinzip immer schon erwartet haben. Die Definierbarkeit von sprachlichen Begriffen und die semantische Eindeutigkeit von Aussagen im Spiegel der Sprache stellen niemals sicher, dass das in diesem Spiegel Repräsentierte sachgerecht objektiviert worden ist. Das hat das pragmatische Denken dann zu der Überzeugung geführt, dass die Wahrheit von sprachlichen Objektivierungen nicht allein im Rahmen von Korrespondenzrelationen, sondern letztlich nur im Rahmen von Fruchtbarkeitsüberlegungen qualifiziert werden könne. Sehr zur Verwunderung von Hamann und Herder hat Kant nur die Vernunft, aber nicht die Sprache als eine entscheidende transzendentale Voraus-
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, 2005, S. 394, E 215. G. Ch. Lichtenberg, a.a.O., S. 327, D 617. 41 Ch. Morgenstern, Die unmögliche Tatsache, Jubiläumsausgabe B.1, S. 136. 40
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setzung für die Konkretisierung von Erkenntnisinhalten thematisiert. Gleichwohl darf aber nicht vergessen werden, dass auch Kant klar darauf aufmerksam gemacht hat, dass Denkinhalte nicht vollständig von den Denkprozessen abgelöst werden dürften, in denen sie Gestalt gewönnen, bzw. dass man sich metareflexiv immer bewusst machen müsse, dass es gedachte Inhalte seien. „Das: I c h d e n k e muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n.“ 42 Die pragmatische Funktion des Spiegels, die übliche Welt- und Selbstwahrnehmung des Menschen zu ergänzen und auszuweiten, ist wohl auch ein Motiv dafür gewesen, immer wieder gemalte Spiegel bzw. Spiegelbilder in Gemälde zu integrieren. Einerseits werden in solchen Gemälden Menschen gezeigt, die aus Eitelkeit oder aus Selbstzweifel in Spiegel schauen. Andererseits werden in ihnen Spiegel aber auch dazu benutzt, um in diese etwas hineinzumalen, was nicht direkt zu dem Wahrnehmungsraum gehört, den das Bild eigentlich visuell repräsentieren soll und kann. Dadurch wird der Systemraum gesprengt, den das Bild im Prinzip objektiviert, weil wir auf diesem Weg etwas zu sehen bekommen, was sich eigentlich gar nicht in dem Wahrnehmungsraum befindet, den uns das Bild optisch vor Augen führen soll. Durch diese Verwirbelung von Wahrnehmungsmöglichkeiten wird der Betrachter dann indirekt dazu gezwungen, sich Rechenschaft über seine eigenen Wahrnehmungsprämissen und Wahrnehmungsperspektiven bei der Erfassung von Dingen und Räumen abzulegen. Die Integration von gemalten Spiegeln in Gemälde kann man unterschiedlich ausdeuten. Man kann sie als eine Krise der Repräsentation verstehen, weil die natürlichen Wahrnehmungsperspektiven als zu eng oder zu einseitig angesehen werden. Man kann sie aber auch als einen erkenntnistheoretischen Hinweis darauf verstehen, dass wir Gegenstände immer perspektivisch sehen und dass umfassende Wahrnehmungen deshalb immer danach streben sollten, diese Einschränkung durch ergänzende Sichtweisen zu überwinden. Das wohl berühmteste Beispiel für die Integration von Spiegeln bzw. Spiegelbildern in ein Gemälde ist wohl das Bild – Las Meninas – von Velázquez, das lebhafte semiotische Debatten ausgelöst hat. Diese kreisen alle um das Problem, wie Welt mittels Zeichen repräsentiert werden kann und welche Mittel es gibt, die natürliche perspektivische Beschränkung unserer Welt- und Raumwahrnehmung zu mildern.43 Die Integration von Spiegeln in Gemälde ist strukturell sicherlich mit der Integration von Metareflexionen in Texte bzw. mit der Nutzung des Wechsels von Perspektiven in Erzählvorgängen zu ver-
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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132, Werke Bd. 3, S. 136. Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, 1974, S.31 ff. G. Schönrich, Zeichenhandeln, 1990, S. 46 ff. ; St. Cochetti, Metapher und Konvention: Das Beispiel „Las Meninas“ von Velázquez, Zeitschrift für Semiotik, 16, 1964, S. 343–356. S. Searle, Las Meninas and the parodoxes of pictorial representation, in: W.J. Mitchell (ed), The language of images, 1980, S. 247–258. K. Rehkämper, Searle, Foucault und Las Meninas, in: K. Sachs-Hombach / K. Rehkämper (Hrsg.), Bildgrammatik, 1999, S. 217–226.
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gleichen, weil uns auch dadurch etwas zugänglich gemacht wird, was wir in unseren üblichen Wahrnehmungsvorgängen von etwas nicht erfassen können.
Spiegelscheu und Spiegelfaszination Das breite Funktionsspektrum von Spiegeln macht verständlich, warum Spiegel psychisch sowohl die Haltung der Scheu als auch die der Faszination erzeugen können. Ähnliches gilt sicher auch von der Sprache, wenn wir etwa an die Wirkungen von Tabuwörtern oder von künstlerischen Sprachformen denken. Der Spiegel und die Sprache werden offenbar immer als Phänomene des Übergangs verstanden, die sowohl Angst als auch Neugier auslösen können. Die Spiegelscheu dokumentiert sich beispielsweise darin, dass in Klöstern oft die Nutzung von Spiegeln verboten war, dass man in Sterbezimmern die Spiegel mit Tüchern verhängte und dass es untersagt war, Leichen im Spiegel zu betrachten. All das sind wohl Hinweise darauf, dass man vermeiden wollte, durch die Nutzung von Spiegeln bestimmten Realitäten ihre unmittelbare Bedeutungsschwere zu nehmen bzw. diese mit Hilfe von Spiegeln zu relativieren oder gar ästhetisch zu transformieren. Aufschlussreich ist weiterhin, dass man Spiegel auch immer wieder mit der Sphäre des Teuflischen in Verbindung gebracht hat. So berichtet beispielsweise E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung – Die Abenteuer der Sylvesternacht –, dass Erasmus Spikker seiner teuflischen Geliebten Guilietta sein Spiegelbild überantwortet habe und eben dadurch auch aus der bürgerlichen Welt seiner Familie gefallen sei. Aus seinem verzweifelten Plan, sich mit Peter Schlemihl zu verbinden, der seinen Schatten verkauft hatte, wird dann allerdings nichts. Auch Graf Dracula wird uns als jemand präsentiert, der eigentlich in eine andere Welt gehört, da es von ihm kein Spiegelbild gibt. Auf der anderen Seite hat der Spiegel die Menschen aber auch immer wieder fasziniert, weil er als Mittel verstanden wurde, uns etwas üblicherweise nicht Wahrnehmbares zugänglich zu machen, sei es nun das eigene Gesicht oder sei es eine ganz andere Welt. Im Märchen vom Schneewittchen befragt die böse Stiefmutter den Spiegel, wer die Schönste im ganzen Land sei, weil dieser mehr wahrnehmen kann als sie selbst. Lewis Carroll lässt Alice durch einen Spiegel das Wunderland betreten, um dort ganz neue Erfahrungen machen zu können. In vielen Varianten ist der Spiegel als Sinnbild für die Erweiterung der empirischen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen thematisiert worden bzw. als Sinnbild für die Welt des Geistes und der Zeichen, mit denen man nicht nur etwas abbildet, sondern auch etwas erschafft. Dass Menschen an Spiegeln und Spiegelbildern auch leiden können, hat der Faszination von Spiegeln keinen Abbruch getan, sondern diese eher noch verstärkt. Da sich mit Spiegeln sehr leicht das Motiv der Grenzüberschreitung verbinden lässt, ist es auch kein Wunder, dass Spiegel nicht nur mit der Vorstellung von Klugheit und Weisheit verbunden worden sind, sondern auch mit der von Hochmut und Eitelkeit. Die Faszination, die von dieser Ambivalenz des
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Spiegels ausgeht hat Rilke so zusammengefasst: „SPIEGEL : noch nie hat man wissend beschrieben / was ihr in eurem Wesen seid.“ 44 Grabes hat die Attraktion des Spiegels in der Literatur und in der Kulturgeschichte auf vier Grundfunktionen zurückgeführt. Spiegel bildeten ab, was sei (faktisches Spiegelbild), sie zeigten, was sein oder nicht sein solle (exemplarisches Spiegelbild), sie verwiesen auf das, was sein werde (prognostisches Spiegelbild), und sie thematisierten das, was nur in der Phantasie existiere (phantastisches Spiegelbild).45 Kulturgeschichtlich gesehen hat die Sprache eine ebenso vielfältige and ambivalente Faszination auf die Menschen ausgeübt wie der Spiegel. Die Spannweite reicht von der Verzweiflung an der kognitiven und kommunikativen Leistungskraft der Sprache über das Spiel mit metaphorischen und paradoxen Sprachverwendungsmöglichkeiten bis zu dem Enthusiasmus, mit der Sprache die Welt kognitiv widerspiegeln zu können bzw. beschränkte Wahrnehmungsmöglichkeiten ausweiten. Während frühe Kulturepochen in der Regel von einem großen Sprachvertrauen bestimmt werden, sind späte eher von einer großen Sprachskepsis geprägt. Das aufklärerische Denken glaubt im Prinzip an die Abbildungskraft und die Verbesserungsfähigkeit der Sprache. Das kulturgesättigte Denken neigt eher dazu, mit der Sprache manieristisch zu spielen oder an ihr zu verzweifeln. Aber auch die sprachsensiblen Klagen der Sprachpessimisten zeigen, dass die Sprache ihnen eigentlich ein Faszinosum ist, welches sie immer wieder in ihren Bann zieht, und dass sie der Sprache faktisch immer mehr zutrauen, als sie ihr theoretisch zugestehen. Die wortgewaltigen Klagen über die Mängel der Sprache dementieren sich deshalb auch immer irgendwie selbst. Über den Begriff der Reflexion lassen sich die Phänomene Spiegel und Sprache eng miteinander verknüpfen. Während ein optischer Spiegel allerdings nur faktisch sichtbare bzw. existente Dinge in seinem Spiegelbild zu repräsentieren vermag, kann ein sprachlicher Spiegel auch Dinge repräsentieren, die unsinnlicher Art sind, oder Dinge, die zu fiktiven Welten gehören. Deshalb erweist es sich als notwendig, den Begriff der Reflexion im Hinblick auf den Spiegel und die Sprache noch etwas genauer zu untersuchen.
Die Struktur von Reflexionsprozessen Für alle Reflexionsprozesse ist konstitutiv, dass in ihnen Relationen hergestellt werden und dass sie eben deshalb als Strukturierungs- und Sinnbildungsprozesse mit ganz grundlegenden anthropologischen Implikationen anzusehen sind. Daher ist es auch kein Zufall, dass wir den Terminus Reflexion sowohl
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R. M. Rilke Die Sonette an Orpheus III, Werke, Bd. 1, 1966, S. 508. H. Grabes, Speculum, Mirror und Looking–Glas. 1973, S. 39.
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zur Bezeichnung von optischen Widerspiegelungsprozessen als auch zur Bezeichnung von kognitiven Sinnbildungsprozessen verwenden. In beiden Fällen kann mit diesem Begriff nämlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass Wahrnehmungsinhalte immer eine bestimmte Genese und Funktion haben und dass das jeweilige Wissen deshalb nicht nur als bloßes Sachwissen hinzunehmen ist, sondern dass es auch durch ein Wissen des Wissens bzw. durch ein Metawissen ergänzt werden kann und muss. In diesem Zusammenhang ist dann auch bezeichnend, dass im deutschen Idealismus der Begriff der Spekulation immer sehr eng mit dem der Reflexion verbunden worden ist, insofern man das spekulative Vernunftdenken als ein umfassendes theoretisches Denken von dem praktischen und auf Erfahrung gegründeten Verstandesdenken abzusetzen versucht hat. Spekulativ denkt im Idealismus nur derjenige, der sich weder der Handfestigkeit einer sinnlichen Wahrnehmung noch der eines gegebenen Dogmatismus überlässt, sondern nur derjenige, der immer auch nach den Konstitutionsbedingungen von Erfahrungen und Wissen fragt. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sah man im spekulativen Denken ein realitätsfernes Denken, das keine Legitimation durch Erfahrungen suchte und das eben deshalb auch nicht mit dem Anspruch in Verbindung zu bringen war, im Denken die reale Welt zu spiegeln. Als Relationierungsprozesse stehen Reflexionsprozesse eigentlich unter dem generellen Postulat, die Objektsphäre auf fruchtbare Weise mit der Subjektsphäre in Verbindung zu bringen. Diese Struktur impliziert, dass Reflexionsprozesse immer eine gewisse Fortsetzungstendenz haben. Das dokumentiert sich im optischen Bereich dadurch, dass die jeweils wahrnehmende Person die eigene Position bzw. die Position des verwendeten Objektivierungsspiegels ändern kann und eben dadurch dann auch mehr bzw. anderes zu sehen bekommt. Das dokumentiert sich im geistigen Bereich dadurch, dass man andere Denkprämissen und andere Denkverfahren wählt und dass man eben dadurch dann auch zu anderen Denkergebnissen kommt. Außerdem besteht in beiden Fällen die Möglichkeit, Reflexionsverfahren durch den Einsatz anderer Reflexionsmittel selbst zum Gegenstand neuer Reflexionen zu machen, sodass es dann zu einer Reflexion der Reflexion kommt. Das bedeutet, dass Reflexionsprozesse sich eigentlich ständig fortzeugen können und deshalb dann meist eher aus methodischen als aus inhaltlichen Gründen abgebrochen werden. Ebenso wie sich sagen lässt, dass nicht das Auge sieht, sondern der Mensch mit Hilfe seiner Augen, so lässt sich auch sagen, dass eigentlich nicht der Spiegel Spiegelbilder erzeugt, sondern der wahrnehmende Mensch mit Hilfe von Spiegeln. Er muss nämlich den Spiegel und sich selbst in eine bestimmte Position zu den jeweils abzuspiegelnden Sachverhalten bringen, bevor für ihn ein konkretes Spiegelbild entsteht. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam zu machen, dass die Qualität des jeweiligen Spiegels darüber entscheidet, welche Qualität die jeweiligen Spiegelbilder haben. Ein planer Spiegel liefert natürlich andere Spiegelbilder als ein gewölbter oder ein getrübter. Die Gestalt und die Qualität von Reflexionsinhalten sind so gesehen sowohl von den Objekten als auch von den Reflexionsmitteln als
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auch von der Position des wahrnehmenden Subjekts abhängig. Alle Arten von Reflexionsprozessen haben mediale Implikationen, die bestimmen, wie Subjekte mit Objekten in Verbindung miteinander kommen können und wie sich beide Bereiche eben dadurch dann auch als eigene Sphären konstituieren. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass der Spiegel sich als ein genuines Sinnbild für Sprache verstehen lässt, weil optische Reflexionsprozesse ohne Spiegel ebenso undenkbar sind wie kognitive Reflexionsprozesse ohne Sprache bzw. ohne Zeichen. Mit Hilfe von Spiegeln und Sprache können sich Subjekte so von der Welt distanzieren, dass sie diese methodisch kontrolliert und strukturiert wahrnehmen können. Die medial bedingten Wahrnehmungsformen des Menschen wären deshalb kategorial von denen Gottes zu unterscheiden, da dieser zumindest im Denkrahmen des Allmächtigkeitskonzeptes weder Spiegel noch Sprache braucht, um umfassend wahrnehmen zu können. Spiegel und Sprache lassen sich als Phänomene verstehen, die nicht nur konstitutiv zur Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins beitragen, weil beide eine Reflexion der Reflexion ermöglichen, sondern die auch zur Entwicklung des Menschen als Kulturwesen beitragen, weil beide eine immanente Tendenz haben, ständig neue Erscheinungsformen dieser Medien auszubilden und zu nutzen. Die dafür maßgebliche Grundprämisse hat Faust auf die folgende Formel gebracht: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ 46 Der Reflexionsgedanke untergräbt wegen seiner medialen, interpretativen und prozessualen Implikationen nachhaltig die Vorstellung einer subjektfreien Gegenstandserkenntnis. Objektivierungsmedien wie Spiegel und Sprache können defizitär und veränderungsbedürftig sein, aber auf sie kann in differenzierten Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozessen nicht verzichtet werden. Die Spannung zwischen den Originalen und den optisch oder geistig hergestellten Bildern von ihnen bleibt unaufhebbar und muss als eine fruchtbare Provokation verstanden werden, welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse nie zu einem definiten Ende kommen lässt. Das zeigt sich insbesondere darin, dass jede konkrete Spiegelung von etwas in einer bestimmten Reflexionsperspektive (intentio recta) sich auf einer höheren Wahrnehmungsstufe im Sinne einer Reflexion der Reflexion (intentio obliqua) wieder auf ihre Prämissen und ihren pragmatischen Funktionen hin reflektieren und qualifizieren lässt.
Der Spiegel als Erkenntnismittel Die Frage nach der Erkenntnisfunktion des Spiegels impliziert die Frage, inwieweit optische Spiegel und Spiegelbilder als Modelle für andere Objektivierungsmedien verstanden werden können, wobei natürlich vor allem an die Sprache zu denken ist. Das liegt insbesondere deshalb nahe, weil wir die Ver-
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J. W. von Goethe, Faust I, V. 4727, Werke Bd. 3, S. 149.
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ben sehen und wahrnehmen sowohl in einem optischen als auch in einem kognitiven Sinne verwenden können und weil seit der Antike der Sehsinn in einem höheren Maße als andere Sinne immer auch als ein Erkenntnissinn verstanden worden ist. Nicht zufällig stammen deshalb auch viele unserer erkenntnistheoretischen Analysebegriffe aus der Sphäre des Sehsinns: Aspekt, Perspektive, Sehepunkt, Einsicht, Durchsicht, Übersicht, Anschauung, Kontemplation usw. Die Menge der Phänomene, denen kulturgeschichtlich eine Spiegelungsfunktion für die Objektivierung von etwas anderem zugeschrieben wurde, ist sehr groß und heterogen, weil man dabei auf ganz unterschiedliche Spiegelungsziele Bezug nehmen kann. So sind beispielsweise die sehr unterschiedlichen Phänomene Natur, Kultur, Geschichte, Staat, Recht, Kleidung, Stil usw. immer wieder als Spiegel betrachtet worden, in denen zugleich noch etwas anderes zur Erscheinung kommen kann, das uns sonst schwer zugänglich ist. Im europäischen Kulturkreis hat man insbesondere über Gott Aufschluss im Spiegel der Natur und der Geschichte gesucht und über den Menschen im Spiegel seiner Geschichte, seiner Kunstwerke und seiner sozialen Institutionen wie etwa seiner Rechtsordnungen, Sitten oder Sprachen. Viele Philosophen haben die menschliche Vernunft für einen nicht mehr überbietbaren Spiegel zur Abbildung der Welt im Denken angesehen und ihre Bemühungen darauf konzentriert, die Abspiegelungskraft der Vernunft zu optimieren, was sowohl die Optimierung von Denkverfahren als auch die von Denk- bzw. Sprachmitteln einschließen konnte. Hegels Anstrengungen zur Entwicklung des dialektischen Denkens exemplifizieren das sehr schön. „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung.“ 47 Wenn wir vom Spiegel der Vernunft oder der Sprache sprechen, mit denen wir uns die Welt widerspiegeln können, dann dürfen wir darüber nicht vergessen, dass wir die Welt auch als Projektionsfläche betrachten können, auf der wir unsere Vernunft und Sprache abspiegeln können, insofern wir in der Welt leicht oder nur genau das sehen, was mit unserer Vernunft und Sprache kompatibel ist. Auf diese Umkehrung von Spiegelungsrichtungen hat Lichtenberg sehr feinsinnig aufmerksam gemacht. „Anstatt daß sich die Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere Vernunft spiegele sich in der Welt. Wir können nicht anders, wir müssen Ordnung und weise Regierung in der Welt erkennen, dieses folgt aber aus der Einrichtung unserer Denkkraft.“ 48
Wenn wir auf diese Weise Vernunft und Sprache nicht nur als Mittel ansehen, um uns die Welt abzuspiegeln, sondern umgekehrt die Welt auch als Mittel betrachten, in dem sich die Struktur unseres Denken abspiegeln kann, dann liegt der Grundgedanke des deutschen Idealismus nicht mehr fern, dass die wahrgenommene Welt letztlich eine Konstitut, wenn nicht ein Konstrukt des
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G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, S. 23. G. Ch. Lichtenberg. Sudelbücher I, 2005, S. 797, J 1021.
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wahrnehmenden Subjekts ist. Diese Denkfigur hat Novalis in einem Distichon formuliert, als er die Suche des Menschen nach einem unverschleierten Wissen bzw. nach der unverstellten Wahrheit folgendermaßen charakterisierte: „Einem gelang es – er hob den Schleyer der Göttin zu Saïs – Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – Sich selbst.“ 49 Üblicherweise gehen wir davon aus, dass wir als wahrnehmende Menschen einen Blick auf Bilder und Spiegelbilder werfen. Deshalb kommt uns die These ziemlich merkwürdig vor, dass es so etwas wie einen Blick aus dem Bilde auf uns geben könne. Aus der Erfahrung, dass auf zweidimensionalen Bildern dargestellte Personen den Betrachter immer anblicken unabhängig davon, wo dieser faktisch gerade vor dem Bild steht, hat Nikolaus von Kues die interessante Denkfigur vom Blick aus dem Bilde entwickelt, auf die schon in dem Kapitel über die Leistung von Bildern hingewiesen worden ist. Durch dieses Denkmodell will er nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass Gott kein Wahrnehmungsgegenstand unter anderen ist, sondern vielmehr eine Größe, die uns immer ansieht und dadurch auch dialogisch herausfordert, selbst wenn wir glauben, ihn anzusehen bzw. ihn unserem Blick unterwerfen zu können.50 Auch Rilke hat diese Denkfigur in seinem Sonett – Archaïscher Torso Apollos – verwendet, um den spannungsvollen und unberechenbaren dialektischen Zusammenhang von Objekt und Subjekt in Wahrnehmungsprozessen zu kennzeichnen: „ ...denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ 51 Die brisanteste Fassung hat die These, dass das Bewusstsein nicht der Spiegel der Welt ist, sondern eine Projektionsfläche, auf der sich das Subjekt seine Vorstellungen und Wünsche abspiegelt, wohl im Rahmen der Religionsund Gotteskritik von Feuerbach gefunden. Für ihn ist der Mensch nicht eine Spiegelbild Gottes, sondern Gott ein Spiegelbild menschlicher Vorstellungen und Wünsche. Da der Mensch für alles Ursachen suche, werde Gott für ihn dann zu einer ersten Ursache: „ ...denn dieser Gott oder göttlicher Geist, aus dem der menschliche abgeleitet werden soll, ist nichts Anderes, als eben diese vom Leibe und allen leiblichen Organen in Gedanken abgezogene als ständiges Wesen gedachte und vorgestellte Thätigkeit.“52 Im Gegensatz zur religionskritischen Interpretation des Spiegels als mögliche Projektionsfläche für menschliche Denkformen und Denkinhalte steht natürlich die religiöse Interpretation des Spiegels als eines Hilfsmittelsmittels, mit dem man sich über die geschaffene bzw. beobachtbare Welt einen vorläufigen Zugang zum Transzendenten bzw. zu Gott verschaffen könne. Das
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Novalis, Werke Bd. 1, 1999, S. 234. Vgl. A. Neumeyer, Der Blick aus dem Bilde, 1964. 51 R. M. Rilke, Werke Bd. 1, 1966, S. 313. 52 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 17. Vorl., Sämtliche Werke 19602, Bd. 8, S. 194. Vgl. auch R. Haubl, „ Unter lauter Spiegelbildern ...“, 1961, S. 235. 50
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exemplifiziert sehr klar eine Aussage von Paulus. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ (1. Korinther, 13, 12) 53
Sprache und Stil als Spiegel für die Erkenntnis von Welt und Mensch Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Spiegel als Erkenntnismittel wird auch nachvollziehbar, warum uns die Sprache in ihren Formen nicht nur etwas über die Welt spiegeln kann, sondern auch etwas über diejenigen, die die Sprache entwickelt haben und konkret verwenden. Das Problem ist nur, wie wir den besten Zugang zu den Spiegelleistungen der Sprache finden. Dazu eignet sich der Form- und Stilbegriff recht gut. Beide können darauf aufmerksam machen, dass es sich bei den Spiegelfunktionen der Sprache nicht um die sprachliche Verdopplungen vorgegebener Sachverhalte handelt, sondern vielmehr um die aspektuelle Erschließung von Sachverhalten in ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektiven. Cassirer hat für seine symbolischen Formen geltend gemacht, dass sie je eigene Stile der Welterschließung seien. Dasselbe kann man natürlich auch für das Formenrepertoire der einzelnen Sprachen postulieren. Die verschiedenen sprachlichen Spiegelungen der Welt stellen nicht die Einheit der Welt in Frage, sondern offenbaren vielmehr ihren großen Reichtum an Aspekten und Zugängen. Wissen über die Welt lässt sich nicht nur im praktischen Umgang mit der Welt erwerben, sondern auch im Studium von Sprachen, insofern wir dabei die Vielfalt von Möglichkeiten kennenlernen, Welt mittels Zeichen zu spiegeln bzw. zu objektivieren und sie eben dadurch dann auch aspektuell umfassender kennenzulernen. Dabei haben wir dann allerdings von der regulativen Prämisse auszugehen, dass sich in den Sprachen in evolutionären Siebungsprozessen nur solche Formen erhalten haben, die nicht willkürlich konstruiert worden sind, sondern nur diejenigen, die sich bei der pragmatischen Bewältigung der Welt als nützlich erwiesen haben. Deshalb hat Humboldt auch betont, dass der letzte Zweck der Untersuchung von Sprachen nicht darin liege, die Verschiedenheit von Sprachen als eine Verschiedenheit „von Schällen und Zeichen“ zu verstehen, sondern als „eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.“54 Bezeichnenderweise favorisiert Humboldt deshalb auch einen dynamischen Formbegriff, der unter Formen sinnbildende Verfahrensweisen versteht. Humboldts Begriff innere Form lässt sich demzufolge als die besondere Spiegelungsstrategie verstehen, in der
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Vgl. J. Behm, Das Bildwort vom Spiegel, 1. Korinther 13.12, in: Reinhold–Seeberg– Festschrift, 1929, S. 315–342. 54 W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium ..., Werke Bd. 3, 19693, S. 20.
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eine bestimmte Sprache die Welt zu erschließen versucht. „Nicht, was in einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigner, innerer Kraft anfeuert und begeistert, entscheidet über ihre Vorzüge und Mängel.“55 Im Rahmen des Form- und Stilgedankens lässt sich die Spiegelfunktion der Sprache auch sehr gut auf die Subjektsphäre beziehen und ausdifferenzieren. Dabei braucht man dann nicht nur an den Individualstil zu denken, sondern kann durchaus auch den Epochenstil und den Werkstil in seine Überlegungen einbeziehen, weil wir in all diesen Fällen etwas über die Denkziele und Denkverfahren der Menschen erfahren, die diese Stilformen ausgebildet haben und nutzen. Gerade weil der Stilbegriff uns dazu anregt, sowohl auf die Sachverhalte zu schauen, die sprachlich objektiviert werden sollen, als auch auf die Art und Weise, wie Menschen diese jeweils perspektivisch ins Auge fassen, kann er fruchtbar gemacht werden, um die Spiegelfunktion der Sprache sowohl auf die Objektsphäre als auch auf die Subjektsphäre zu beziehen.56 Exemplarisch lässt sich die spannungsvolle Objekt- und Subjektorientierung des Stilbegriffs an dem berühmten Topos thematisieren, den Buffon 1753 bei seiner Antrittsvorlesung vor der Académie Française in die Welt gesetzt hat: „Die Dinge befinden sich außerhalb des Menschen der Stil ist der Mensch selbst.“ (Les choses sont hors de l’homme, le style est l’homme même).57 Dieses Diktum kann in der romantischen Denktradition des 19. Jahrhunderts leicht als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass die jeweilige Sprachverwendungsweise eines Menschen als ein Spiegel zu betrachten sei, in dem sich dessen subjektives Denken bzw. dessen Subjektivität oder gar Genialität spiegele. Müller hat nun aber einleuchtend nachgewiesen, dass diese Aussage Buffons im Kontext des normativ orientierten Denkens der Aufklärung ursprünglich ganz anders gemeint war und erst in der Rezeptionsgeschichte als Aussage über den Individualstil eines Menschen verstanden worden ist. Ursprünglich wollte Buffon mit seiner These nur postulieren, dass die sachadäquate sprachliche Darstellung bzw. Spiegelung der objektiv gegebenen Welt eine genuine Aufgabe des Menschen als eines rationalen und gebildeten Wesens sei. Dabei wollte er zugleich auch betonen, dass sich alle verwendeten Sprachformen normativ an einem umfassenden Sachwissen und an logischgrammatischen Ordnungsprinzipien zu orientieren hätten und nicht an subjektiven Darstellungsintentionen. Guter Stil habe aus gutem Denken zu resultieren. Der konkrete Stil ist so gesehen dann auch kein Spiegelbild des Menschen in einem individuellen, sondern allenfalls in einem gattungsspezifischen Sinne.
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W. von Humboldt, Ueber das Entstehen der grammatischen Formen...,Werke Bd. 3, 19693, S.34. 56 Vgl. W. Köller, Stil und Grammatik, in: U. Fix / A. Gardt, / J. Knape (Hrsg.) Rhetorik und Stilistik, 2. Halbband, 2009, S. 1210–1230. 57 Vgl. W. Müller, Topik des Stilbegriffs, 1981, S. 41. H. Weinrich. Wie zivilisiert ist der Teufel, 2007, S.136–144.
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Deshalb kann man Buffons Stilbegriff auch nicht mit dem Geniebegriff in Verbindung bringen, sondern viel eher mit dem Normbegriff, der im Rationalismus ganz transhistorisch verstanden wurde. Gleichwohl deutet sich in Buffons Stilverständnis aber auch an, die Sprache nicht nur als Spiegel der Welt zu sehen, sondern auch als Spiegel des Menschen in einem gattungsspezifischen Sinne. Im 19. Jahrhundert ist das Stilverständnis dann mehr und mehr aus der primären Orientierung an der Objektsphäre und der Logik gelöst und immer mehr der Subjektsphäre und dem individuellen Gestaltungswillen zugeordnet worden. Immer mehr wurde der Stil als Spiegel bzw. als Spiegelbild einer individuellen Person bzw. einer individuellen Nation verstanden. Diese anthropologische und kulturhistorische Umorientierung des Stilbegriffs verdeutlicht eine Äußerung Schopenhauers sehr schön. „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher, als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen ... Die Sprache, in welcher man schreibt, ist die Nationalphysiognomie.“58
Die Spannung zwischen dem erkenntnistheoretischen Verständnis des Stils als Spiegelbild von Welt und dem psychologischen Verständnis des Stils als Spiegelbild des Subjekts hat Heyse sehr klar erkannt. Deshalb hat er versucht, den an der Objektsphäre orientierten Stil klar von dem an der Subjektsphäre orientierten zu unterscheiden. Das mag faktisch zwar etwas unrealistisch sein, weil beide Stilausprägungen sich nicht scharf von einander trennen lassen, insofern die wahrgenommene Welt ja immer eine von individuellen Menschen wahrgenommene Welt ist. Aber dieser Versuch exemplifiziert doch sehr gut, dass Sprache und Stil in zwei unterschiedlichen, aber letztlich doch komplementären Perspektiven als Spiegel wahrgenommen werden können. „Wenn also vom subjectiven Stil das Wort gilt: der Stil ist der Mensch; so kann man von dem objectiven Stil mit noch größerem Rechte sagen: der Stil ist die Sache selbst.“59
Aufschlussreich für die Wahrnehmung von Individualität im Spiegel der jeweils praktizierten Sprache ist auch eine Äußerung Lichtenbergs. Im Anschluss an den platonischen Dialog Charmides, in dem Sokrates sich weniger für die schöne äußere Gestalt von Charmides interessiert, sondern eher für dessen Seele bzw. für dessen Geist, formuliert Lichtenberg ein paradoxes Bonmot: „Rede, sagte Sokrates zu Charmides, damit ich dich sehe ...“ 60
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A. Schopenhauer, Über Schriftstellerei und Stil, Werke Bd. 5, 1988, S. 455. K. W. L. Heyse, System der Sprachwissenschaft, 1856/1973, S. 257. 60 G. Ch. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd. 2 , 1983, S. 96. Vgl. auch Platon, Charmides, 154 b ff., Werke Bd. 1, S. 129 ff. 59
XI
Die Sprache als Fenster
Wenn wir uns die Sprache sinnbildlich über den Bildspender Fenster erschließen, dann greifen wir auf ganz andere optische Erfahrungen zurück als beim Bildspender Spiegel. Während uns der Spiegel etwas sichtbar macht, was nicht im natürlichen Blickfeld unserer frontal angeordneten Augen liegt, macht uns das Fenster etwas sichtbar, was eigentlich in diesem Blickfeld liegt, was aber durch Wände faktisch verstellt sein kann. Spiegel ermöglichen Rückblicke, während Fenster Durchblicke und Ausblicke gewähren. Daher sind Fenster auch als Grenzphänomene zwischen einer Innen- und einer Außenwelt der menschlichen Lebenswelt zu verstehen. Im Gegensatz zu Türen laden Fenster aber nicht dazu ein, eine Außenwelt oder eine Innenwelt zu betreten, sondern dazu, diese aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Deshalb haben Fenster auch eine größere Nähe zu Kontemplations- als zu Aktionsprozessen. Bei einer rein funktionalen Betrachtung fällt es leicht, den Begriff des Fensters sinnbildlich auf alle Phänomene auszuweiten, die uns Durchblicke und Ausblicke auf andere Räume ermöglichen bzw. auf etwas, was unserer aktuellen Wahrnehmung aus bestimmten Gründen nicht zugänglich ist. Das bedeutet, dass wir rein funktional gesehen auch Lupen, Mikroskope und Fernrohre sowie Sinnesorgane und Sprachen als Fenster betrachten können. Durch all diese Mittel können wir uns nämlich etwas zugänglich machen, was wir ansonsten nicht oder nicht so gut wahrnehmen können. Unter unseren Sinnesorganen haben insbesondere die Augen eine wichtige Fensterfunktion bei der Wahrnehmung von Welt, weil sie uns nicht nur selbst einen optischen Zugang zur Welt eröffnen, sondern auch die Voraussetzung dafür sind, optische Instrumente aller Art als ganz spezifische Wahrnehmungsfenster zu nutzen. Fenster sind als Sinnbilder vor allem deshalb so aufschlussreich, weil man sie exemplarisch für alle artifiziellen kulturellen Formen näher untersuchen kann, die pragmatisch als Wahrnehmungsmedien in Erscheinung treten können. Unter diesen Umständen fallen dann zwar unsere Sinnesorgane etwas aus dem Verständnis als Wahrnehmungsfenster heraus, weil sie sicherlich eher als Naturphänomene denn als Kulturphänomene einzuordnen sind. Allerdings lassen sie sich wieder in das hier leitende Erkenntnisinteresse für Medien integrieren, wenn wir sie als Evolutionsprodukte verstehen, deren Grundfunktion darin besteht, den Menschen einen bestimmten Kontakt zu ihrer Außenwelt zu verschaffen, wobei ihr Gebrauch durchaus kulturell erlernt werden muss. Um das sinnbildliche Potenzial von Fenstern für das Verständnis von Sprache herauszuarbeiten, soll im Folgenden auf vier Problembereiche näher eingegangen werden. Zunächst werden Überlegungen entwickelt, die sich auf
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die Ähnlichkeit von Fenster- und Sprachfunktionen beziehen. Dann soll sich die Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, die Wahrnehmungsfunktionen von Augen und Sprache miteinander zu vergleichen. Auf der Basis dieser Überlegungen ergeben sich dann Chancen, insbesondere das Mikroskop und das Fernrohr als spezielle Hilfsmittel des Auges auf ihre möglichen Sinnbildfunktionen für die Sprache näher zu untersuchen. Schließlich soll dann noch näher auf die Lichtproblematik eingegangen werden, die wichtige Bezüge zur Fenster- und Sprachproblematik besitzt. Zu beachten ist auch, dass alle Arten von konkreten Fenstern hinsichtlich des Lichts eine Doppelfunktion haben. Einerseits sollen sie nämlich einen Blick auf die durch Licht erhellte Außenwelt ermöglichen. Andererseits sollen sie aber auch Licht in eine Innenwelt hereinlassen, um diese für die Menschen besser sichtbar zu machen. Eine ähnliche Doppelfunktion wird man auch für die Sprache in Anspruch nehmen können.
1. Fensterfunktionen und Sprachfunktionen An der Hauptaufgabe von Fenstern, optisch zwischen einer Innenwelt und einer Außenwelt zu vermitteln, lässt sich sicherlich nicht zweifeln. Aufklärungs- und diskussionswürdig ist allerdings, durch welche Rahmenbedingungen diese Vermittlungsfunktion geprägt wird bzw. welche Analogien sich diesbezüglich zwischen Fenstern und Sprache ergeben. Eine phänomenologische Analyse unserer konkreten Fenstererfahrungen ist nicht leicht, weil wir im Rahmen des natürlichen Sprachgebrauchs unsere realen Fenstervorstellungen kaum noch von unseren sinnbildlichen abgrenzen können und weil wir das Wort bzw. den Begriff Fenster in sehr unterschiedlichen Kontexten verwenden. Gleichwohl müssen wir versuchen, unsere elementaren empirischen Fenstervorstellungen von unseren abgeleiteten metaphorischen abzugrenzen, um das ursprüngliche sinnbildliche Potenzial des Bildspenders Fenster für die Erschließung des Phänomens Sprache zu erfassen. Deshalb wird sich das Hauptinteresse darauf richten, die Genese, die Struktur und die Funktion von Hausfenstern mit der Genese, der Struktur und Funktion von Sprachfenstern zu vergleichen. Im Anschluss daran soll sich die Aufmerksamkeit dann auf die Funktion von Fenstern konzentrieren, sowohl Ausblicke als auch Einblicke in andere Räume zu gewähren, weil gerade diese Nutzung von Fenstern sich sehr gut mit Wahrnehmungsprozessen unterschiedlicher Art analogisieren lässt.
Die Grundfunktionen von Fenstern und Sprache Als Kulturphänomene haben Fenster im Verlaufe der Kulturgeschichte unterschiedliche reale Ausprägungsformen und unterschiedliche pragmatische Verwendungsformen gefunden und damit natürlich auch unterschiedliche Wertun-
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Die Sprache als Fenster
gen. Bei der phänomenologischen Beschreibung von Fenstern haben wir deshalb nicht nur auf das physische Erscheinungsbild von Fenstern Bezug zu nehmen, sondern auch auf ihre unterschiedlichen kulturellen Implikationen und pragmatischen Funktionen. Etymologisch leitet sich das dt. Wort Fenster von dem lat. Wort fenestra ab. Dieses bezeichnete eine Aussparung im Mauerwerk von Häusern, durch die einerseits Licht und frische Luft in ein Gebäude gelangen konnte und andererseits verbrauchte Luft oder Rauch hinaus. Außerdem ermöglichten Fenster einen Blick der Hausbewohner nach außen und einen begrenzten Blick von Außenstehenden in das Innere von Häusern. Fenster wurden so zu Schnittstellen zwischen einer Außenwelt und einer Innenwelt, die sowohl kontemplative Ausblicke als auch Einblicke ermöglichten, aber nicht wie Türen indirekt dazu aufforderten, die jeweils anderen Räume auch faktisch zu betreten. In späteren Zeiten wurden dann Glasscheiben in die Öffnungen des Mauerwerks eingesetzt, die Schutz vor unangenehmen Witterungseinflüssen boten ohne den Lichteinfall und die Blickmöglichkeiten wesentlich einzuschränken. Durch die Erfindung von zu öffnenden Fenstern wurde es den Hausbewohnern dann möglich, selbst zu regulieren, in welchem Maße Luft, Gerüche und Geräusche von außen nach innen und von innen nach außen gelangen konnten. Außerdem ist zu beachten, dass im römischen Hausbau Fenster in den Außenmauern nur für die Obergeschosse vorgesehen waren, aber nicht für die Untergeschosse, da Einblicke von Fremden in das Hausinnere unerwünscht waren. Die Herkunft unserer Fenstervorstellung aus der römischen Bau- und Zivilisationsgeschichte ist nicht ohne Belang, weil dadurch ein bestimmter Assoziationsrahmen für unser Fensterverständnis vorgegeben ist. Das wird deutlich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Fensterbenennungen richten. Im Gotischen gibt es beispielsweise für das Fenster die Bezeichnung auga-dauro (Augentor) und im Englischen die Bezeichnung window (Windauge). Diese beiden Fensterbenennungen verbinden die Fenstervorstellung ursprünglich sehr direkt mit unserer Augenvorstellung. Die Verknüpfung der Fenstervorstellung mit dem Wind ist außerdem insofern interessant, als es in vielen Kulturen die Sitte gab, beim Tode von Menschen die Fenster zu öffnen, um die Bewegungsmöglichkeiten der Seele nicht zu behindern. Das erklärt dann vielleicht auch, warum man Fenster auch als Flugloch der Seele verstanden hat.1 Die pragmatische Funktion, Innenräume von Außenräumen abzugrenzen, aber auch zwischen beiden zu vermitteln, teilen Fenster sicher mit der Sprache. Ebenso wie sich das Fenster im Sinne einer biologische Zellmembran verstehen lässt, die Osmoseprozesse zwischen einem Außen und einem Innen ermöglicht, so lässt sich auch die Sprache als eine Membran zwischen Individuen und Welt bzw. zwischen einzelnen Individuen verstehen, die einerseits vor
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Vgl. J. Daiber, Fenster-Metaphorik, in: W. Erhart (Hrsg.) Grenzen der Germanistik, 2004, S. 398.
Fensterfunktionen und Sprachfunktionen
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etwas abschirmt, aber andererseits auch etwas durchlässt. Fenster wie Sprache ermöglichen es, dass unterschiedliche Welten miteinander in Kontakt treten können, ohne sich dabei als eigenständige Welten aufgeben zu müssen. Bezeichnenderweise ist sowohl das Fenster als auch die Sprache immer wieder mit der Seele bzw. mit dem Geist in Verbindung gebracht worden, da beide als Durchgangsstelle für die Seele bzw. den Geist verstanden worden sind. Deshalb glaubte man auch, Fenster und Sprache so gestalten zu müssen, dass sie Räume sowohl voneinander abtrennen als auch miteinander verbinden können. Dem Geist billigte man zwar einerseits einen geschützten Raum zu, aber andererseits sollte er auch wehen, wo er wollte, weshalb er dann auch weder hinter Mauern noch in der Sprache eingesperrt werden durfte. Daher ist es immer wieder als eine zentrale kulturelle Aufgabe angesehen worden, Fenster und Sprache dynamisch auf variable Weise den unterschiedlichen pragmatischen Bedürfnissen der Menschen und Kulturen anzupassen und sie nicht nur als Wahrnehmungswege, sondern zudem auch als Schießscharten zu nutzen.
Fenster und Sprache als Mittel des Ausblicks Bei der These, dass Fenster dazu dienen, zwischen Innen- und Außenwelten zu vermitteln, darf man keineswegs vergessen, dass sie natürlich auch immer dazu gedient haben, beide Welten voneinander abzugrenzen und dadurch als eigenständige Räume zu konstituieren. Fenster sollen die Abgrenzungsfunktionen von Mauern nicht aufheben, sondern nur mildern, und zwar zu anderen Zwecken als Türen. Während Türen dazu bestimmt sind, Menschen einen körperlichen Ausoder Eingang in andere Welten zu ermöglichen bzw. Wege für die Beine zu eröffnen, sind Fenster eher dazu bestimmt, Menschen einen optischen Ausoder Einblick in andere Welten zu ermöglichen bzw. Wege für die Augen zu eröffnen und Möglichkeiten für das kontemplative Erkennen. Wer über das Fenster nicht optisch und geistig, sondern körperlich und faktisch in eine andere Welt kommt, der hat einen falschen Gebrauch vom Fenster gemacht. Wer nicht in einen Innenraum gehört, dem weist man die Tür. Wer sich verhasst macht, den wirft man aus dem Fenster (Prager Fenstersturz). Wer glaubt, nicht mehr in demselben Raum mit anderen leben zu können, der springt aus dem Fenster. Wer fliehen oder stehlen will, der steigt durch das Fenster aus oder ein, da niemand damit rechnet, dass man so etwas tut. Fenster verlieren ihre Funktion kaum, wenn man sie vergittert, Türen aber sehr wohl. Merkwürdigerweise können Fenster auch so konzipiert werden, dass sie nur Licht von einem Außenraum in einen geschlossenen Innenraum leiten, aber keinen Durchblick oder Ausblick nach außen gewähren. Eine solche Funktion haben beispielsweise Kirchenfenster, die als farbige Fenster entweder nur ein bestimmtes Licht spenden wollen oder die nur Fensterbilder in einem Licht von außen erstrahlen lassen sollen. Damit können sie den Menschen in der Kirche signalisieren, dass das entscheidende Licht aus einem anderen
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Die Sprache als Fenster
Raum kommt, der als solcher für sie allerdings nicht sichtbar, sondern nur imaginierbar ist. Solche Fenster markieren dann Grenzen, die weder körperlich noch optisch überwunden werden können, sondern allenfalls geistig. Zwischen der Struktur und Funktion von Kirchenfenstern und der Struktur und Funktion der Sprache in der Mystik gibt es gewisse Analogien. Die bildhaften, paradoxen oder negierenden Sprachformen der Mystik dienen nicht dazu, eine konkrete Außenwelt wahrnehmbar zu machen, sondern vielmehr dazu, auf eine Welt aufmerksam zu machen, die sich den üblichen optischen und begrifflichen Wahrnehmungsweisen entzieht bzw. die sich allenfalls auf indirekte Weise imaginieren lässt. Die Sprache repräsentiert für die Mystiker eine für Menschen nicht überschreitbare Grenze. Sie ermöglicht zwar genau wie ein Kirchenfenster keinen faktischen Durchblick auf einen anderen Raum, aber sie lässt durchaus einen ‚Lichteinfall’ aus einer anderen Welt zu, durch den dann wiederum der Innenraum der Menschen anders als gewöhnlich in Erscheinung tritt. So gesehen gewährleistet die Sprache der Mystik daher auch keinen Ausblick in eine empirisch fassbare Welt wie etwa die übliche Sprache, aber sehr wohl einen Kontakt zu einer anderen Welt, die sich dann allerdings nur indirekt durch ihr allgemeines Erhellungslicht bemerkbar macht. Die üblichen durchsichtigen Fenster haben eine ambivalente Abgrenzungsfunktion für die einzelnen Menschen. Einerseits veranschaulichen sie klar, dass die Wahrnehmungssubjekte in bestimmter Hinsicht von der Außenwelt ausgeschlossen sind, weil sie nur einen optischen Kontakt zu dieser aufnehmen können. Die einzelnen Individuen können diese Außenwelt zwar betrachten und über sie theoretisieren, aber sie können nicht in ihr handeln. Sie leistet ihnen in Arbeitsprozessen keinen direkten Widerstand, sondern allenfalls einen kognitiven bei begrifflichen Zuordnungs- und Interpretationsprozessen. Deshalb kann die Außenwelt für die Fenstergucker auch leicht einen fiktiven Charakter bekommen. Der Blick aus dem Fenster und der Blick auf den Fernsehschirm ähneln sich deshalb darin, dass sie den wahrnehmenden Subjekten eine kontemplative Einstellung bzw. Handlungsrolle auferlegen. Andererseits können durchsichtige Fenster aber auch veranschaulichen, dass es für Subjekte geschützte Innenräume geben kann, in denen sie sich einrichten können, ohne mehr als optisch von der Außenwelt betroffen zu werden. Das Fenster wird dann zu einem Garanten für einen geschützten Innenraum, aus dem der Außenraum rein kontemplativ wahrgenommen werden kann. E.T.A. Hoffmann hat in seiner Erzählung – Des Vetters Eckfenster – eindrucksvoll beschrieben, wie der Platz hinter dem Fenster mit dem Blick auf das lebendige Marktgeschehen vor dem Fenster einem an einen Rollstuhl gefesselten Mann sowohl Trost spenden als auch Sehnsucht erzeugen kann.2 In ganz ähnlicher Weise hat auch der Film – Das Fenster zum Hof (Rear Window) – von Alfred Hitchcock die Situation der Menschen vor bzw. hinter
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E. T. A. Hoffmann, Des Vetters Eckfenster, Gesammelte Werke Bd. 8, 1994, S. 441–471.
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dem Fenster thematisiert. Der Pressefotograf Jeff sitzt mit seinem eingegipsten Bein im Rollstuhl vor einem Fenster und beobachtet mit einem Fernglas aus Langeweile das bunte Leben in den Innenräumen des gegenüberliegenden Hauses. Dabei wird er ungewollt Zuschauer von Vorgängen, die er als Verbrechen deutet. Er animiert daher seine Freundin, durch einen Besuch in dieser anderen Welt stellvertretend für ihn Beweise für seine Verbrechenshypothese zu entdecken. Von seinem Zuschauerplatz am Fenster muss er dann aber aus der Ferne hilflos zusehen, wie sie gerade dabei selbst in größte Gefahr gerät. Ebenso wie das Fenster lässt sich auch die Sprache als ein Phänomen verstehen, das einerseits die Subjektsphäre und die Objektsphäre voneinander trennt, aber andererseits doch auch wieder so zueinander in Beziehung setzt, dass beide eben dadurch ihre spezifische Differenz und Identität gewinnen. Der Blick auf die Welt durch ein Fenster bzw. durch die Sprache ermöglicht es dem wahrnehmenden Subjekt, eine Distanz zur Welt einzunehmen, die ihm eine kontemplative Grundhaltung bzw. ein Theoretisieren gestattet. Die räumliche Ausrichtung des Fensters und die Position des Subjekts vor dem Fenster legen dabei fest, in welchem Blickwinkel es die Welt sehen kann bzw. was ihm von dieser sichtbar werden kann und was nicht. Auf ganz ähnliche Weise bestimmt die Eigenart der jeweils verwendeten Sprache, in welcher konkreten kognitiven Strukturierung ein Subjekt die Welt spontan wahrnimmt. Dabei ist dann allerdings zu beachten, dass sich eine Sprache im Prozess ihres konkreten Gebrauchs leichter neuen Wahrnehmungsbedürfnissen anpassen lässt als ein Fenster. Die Nutzung eines bestimmten Fensters oder einer spezifischen Sprache beeinflusst aber nicht nur, was man von der Welt erfasst, sondern kann auch nahelegen, sich eher rezeptiv als aktionsbereit auf diese einzustellen. Der kontemplative Blick auf die Welt durch ein Fenster bzw. durch eine vorstrukturierende Sprache ist immer wieder mit dem Phänomen der Melancholie in Verbindung gebracht worden oder zumindest mit dem einer handlungslähmenden Reflexionssituation. Das ist insbesondere dann geschehen, wenn man eine absolute bzw. perspektivisch uneingeschränkte Gesamtwahrnehmung angestrebt hat und sich mit der Vorstrukturierung seiner Wahrnehmungen durch die Zugangsmedien Fenster oder Sprache nicht abfinden wollte. Diese Tendenz zur Melancholie verflüchtigte sich aber meist, wenn man den Blick auf die Welt durch das Fenster bzw. die Sprache auch als Chance begriff, die Welt methodisch organisiert und aspektuell konzentriert zu erfassen. Wenn man grundsätzlich akzeptiert, dass Fenster und Sprache der Weltwahrnehmung immer perspektivische Grenzen setzen, aber eben dadurch auch die Objektsphäre klar von der Subjektsphäre abgrenzen, dann sind beide Phänomene von hoher anthropologischer Relevanz. Das gilt insbesondere dann, wenn man der Auffassung ist, dass Subjekte ihre Identität nicht einfach haben, sondern diese in Sinnbildungs- und Handlungsanstrengungen erst ausbilden müssen. Die Nutzung von Fenstern und Sprache wären dann genuine Verfahren zur Selbstpositionierung des Menschen in der Welt. Als problematische Medien für den Weltkontakt wären Fenster und Sprache nur dann zu werten, wenn man den Gebrauch von Fenstern bzw. von Sprache nicht mehr variieren
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Die Sprache als Fenster
könnte. Die räumliche und geistige Beweglichkeit von Wahrnehmungssubjekten und die Veränderbarkeit von Wahrnehmungsmitteln ist sicherlich eine konstitutive Voraussetzung dafür, dass man von seinen jeweiligen Wahrnehmungsformen unterstützt und nicht unbarmherzig eingeschränkt wird.
Fenster und Sprache als Mittel des Einblicks Obwohl wir Fenster üblicherweise als Mittel verstehen, aus einem Innenraum in einen Außenraum zu sehen, sind sie im Prinzip natürlich auch dazu dienlich, aus einem Außenraum in einen Innenraum zu blicken, was insbesondere Schaufenster exemplifizieren. Der Blick von außen nach innen ist dabei in der Regel ein Blick aus der Naturwelt in die Kulturwelt. Schaufenster haben sich nämlich ursprünglich aus lichtspendenden Fenstern für die Vorräume von Warenlagern entwickelt, die zugleich auch als Ausstellungsräume genutzt wurden. Im Laufe der Zeit wurden diese Fenster dann aber immer mehr zu Einblicksfenster für die Wahrnehmung einer spezifisch arrangierten Welt von Waren, die sich auch durch eigene Lichtquellen beleuchten ließ. Das Glas des Schaufensters trennt die Warenwelt von der üblichen Lebenswelt der Menschen, aber es macht diese Grenze optisch durchlässig und ermöglicht Passanten, vor dem Schaufenster stehen zu bleiben und zu imaginieren, von einzelnen Ausstellungsstücken potenziell Besitz ergreifen zu können. Auf diese Weise bleibt das jeweils Gesehene den jeweils Wahrnehmenden dann zugleich nah und fern bzw. real und fiktiv, was dann auch durch die Verwendung von Schaufensterpuppen gut zum Ausdruck kommt. Die Verwendung von Spiegeln in Schaufenstern kann den Betrachtern außerdem suggerieren, dass auch sie selbst irgendwie zu dieser Welt hinter dem Schaufensterglas gehören könnten. Die mögliche Funktion eines Fensters, neben dem Ausblick auch einen Einblick zu ermöglichen, wird bei privaten Hausfenstern meist nicht angestrebt, weshalb man sie außer in Holland auch gern mit Gardinen verhängt. Allerdings wurde die Abschirmung des Blicks von außen nach innen keineswegs immer intendiert. Mittelalterliche Fensterordnungen bezeugen, dass die Möglichkeit, über Fenster Einblick in das Innere eines Hauses zu bekommen auch als Hinweis auf die Ehrbarkeit eines Hauses verstanden werden konnte. Während die Besitzer von Tavernen nämlich dazu angehalten wurden, ihre Fenster zu vermauern, wurde es Kaufleuten gestattet, neue Fensteröffnungen in ihre Häuser zu brechen, um die Ehrbarkeit des Hauses jedermann sichtbar zu machen.3 Wenn heute Bank- und Bürogebäude ihre Glasfenster mit Spiegelungseffekten versehen, die Ausblicke, aber keine Einblicke ermöglichen, dann wird die soziale Funktion von Fenstern offenbar ganz anders verstanden.
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Vgl. A. von Müller, Der Politiker am Fenster, in: G. Boehm (Hrsg.), Homo pictor, 2001, S. 323.
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Die potenzielle Funktion von Fenstern, nicht nur einen Blick auf die natürliche Außenwelt zu ermöglichen, sondern auch auf eine von Menschen arrangierte Welt, zeigt sich auch darin, dass Fernsehschirme anfangs als Fenster zur Welt bezeichnet wurden und dass heute eine Firma ihre Computerprogramme, die als Schnittstellen zwischen der Menschenwelt und der Computerwelt dienen, Fenster (windows) genannt hat. Sowohl das Fernsehen als auch der Computer eröffnen nämlich Wahrnehmungsräume, bei denen man sich darüber streiten kann, ob es faktische Außenräume sind oder von Menschen gestaltete Innenräume. Dementsprechend hat man dann auch das Surfen im Internet als ein Fensterln ohne konkrete Fenster und Bezugsräume bezeichnet. Die Funktionsmöglichkeit von Fenstern, sowohl Ausblicke in Außenräume als auch Einblicke in Innenräume zu gestatten, hat eine Parallele in den Funktionsmöglichkeiten der Sprache. Auch sprachliche Formen können uns je nach Fragestellung sowohl dazu dienen, eine Außenwelt sichtbar zu machen, als auch dazu, uns Einblicke in die Erkenntnisinteressen und den Gestaltungswillen von Kulturen und Menschen zu gewähren. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn wir nach dem Stil einer Sprache oder einer Person fragen und sprachliche Formen nicht nur als repräsentierenden Zeichen für Dinge oder Sachverhalte betrachten, sondern auch als ikonische oder indexikalische Zeichen für spezifische Denkstile von Personen und Epochen. Wenn wir danach fragen, warum es z. B. im Chinesischen keine Kasusformen bzw. keine Tempus- Genus- und Modusformen gibt, dann wollen wir dadurch Einblick in die innere Form dieser Sprache gewinnen bzw. in den Denkstil, dem diese Sprache Ausdruck gibt. Wenn wir danach fragen, warum ein Sprecher in seinem Gebrauch von Sprache parataktische oder hypotaktisch strukturierte Aussagen bevorzugt bzw. aktivische oder passivische Redeweisen, dann wollen wir dadurch Einblick in den individuellen Denkstil gewinnen, den dieser Sprecher innerhalb des Denkstils einer Sprache bevorzugt. Da wir die Sprache üblicherweise als ein Ausblicksfenster bzw. als ein Objektivierungsmedium für Welt ansehen, bedarf es einer Umorientierung unseres Wahrnehmungsinteresses, wenn wir sie auch als ein Einblicksfenster in den Denkstil von Kulturen und Menschen wahrnehmen wollen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang sicher auch einzuräumen, dass die Wahrnehmung von Sprache als ein Einblicksfenster in andere Denkwelten uns über unser Sprachgefühl immer schon irgendwie präsent ist, selbst wenn wir glauben, sie faktisch nur als ein Ausblicksfester auf die Sachwelt zu nutzen.
Das Fenster als vorbildliches Wahrnehmungsmedium Im Laufe der Kulturgeschichte ist das Fenster immer wieder als ein sehr vorbildliches Wahrnehmungsmedium thematisiert worden. Fenster genossen offenbar insbesondere deswegen ein hohe kulturelle Wertschätzung, weil durch sie Wohnhöhlen zu Wohnungen werden konnten, in denen es ein natürliches Licht gab bzw. den Menschen angepasste Temperatur- und Luftverhältnisse.
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Teure Glasfenster dienten vielen sogar dazu, ihren Reichtum zu demonstrieren. Das hatte dann beispielsweise zur Folge, dass in England von 1696 bis 1851 die Grundsteuer nicht nach der Fläche des jeweiligen Grundbesitzes erhoben wurde, sondern nach der Anzahl der jeweils vorhandenen Hausfenster.4 Im philosophischen Denken ist das Vorstellungsbild des Fensters immer wieder benutzt worden, wenn man Aussagen über die Herkunft des menschlichen Wissens zu machen versuchte. Für Locke ist beispielsweise der Verstand eine leere Tafel (tabula rasa), der seine Inhalte nur aus empirischen Sinneswahrnehmungen (sensations) und aus einfachen Geistesoperationen (reflexions) empfange. Nur auf diesem Wege können für Locke Erkenntnisse in den Verstand gelangen. „Sie allein sind, soviel ich sehen kann, die Fenster, durch die das Licht in diesen d u n k l e n R a u m eingelassen wird.“5 Gegen die These von Locke, dass unser Wissen letztlich nur auf unsere sinnlichen Erfahrungen und deren elementare Verarbeitung zurückgingen, hat Leibniz dann allerdings die alte Vorstellung von den angeborenen Ideen erneuert und postuliert, dass die Monaden als Grundsubstanzen eigentlich fensterlos seien, da sie im Prinzip schon alles relevanten Wissen in sich hätten. „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten könnte.“6 In der Renaissance hat das Fenster eine ganz wichtige Rolle in den Überlegungen zur zentralperspektivischen Malerei gespielt. Alberti hat z.B. gefordert, dass der Maler sich bei seiner Bildgestaltung an faktischen Sehbildern orientieren solle. Ein Bild sei so zu gestalten, dass es in seinem Rahmen genau das zeige, was man durch ein offenstehendes Fenster (fenestra aperta) sehen könne.7 Der Blick durch das Fenster wird Alberti gleichsam zu einer Garantie dafür, dass etwas so dargestellt wird, wie es nach dem Konzept der Sehpyramide von einem bestimmten Sehepunkt her dem Sehenden faktisch erscheint. Der Blick durch das Fenster gibt demnach normativ vor, wie etwas zentralperspektivisch bzw. im Sinne eines natürlichen Seheindrucks zu malen ist. Ebenso wie man den Blick durch ein Fenster als normatives Vorbild für die Gestaltung von Bildern verstehen kann, so kann man auch den Blick durch ein bewährtes Textmuster auf bestimmte Sachverhalte als normatives Vorbild für die Gestaltung von konkreten Texten ansehen, weil dadurch die jeweiligen Objektivierungs- und Verstehensprozesse sehr erleichtert werden. Selbst wenn man einräumt, dass sich in Texten kein so stringent organisierter Systemraum herstellen lässt wie in zentralperspektivisch gestalteten Bildern, so wird man doch feststellen können, dass methodisch organisierte Texte die Wahrnehmung von Sachverhalten sehr erleichtern. Die normative Bindung von Texten an
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Vgl. A. Friedberg, Gerahmte Visualität: Das virtuelle Fenster, in: Der Sinn der Sinne, 1998, S. 435. 5 J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. 1, Buch 2, Kap. 11,17, 19762, S. 185. 6 G. W. Leibniz, Monadologie § 35, 7, Philosophische Werke Bd. 2, S. 603. 7 Vgl. L. B. Alberti, Della Pittura, Über die Malkunst § 19, 2002, S. 93.
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bewährte Textmuster schließt dabei natürlich nicht aus, dass die jeweiligen Textmuster als Wahrnehmungsfenster variiert werden können, wenn man neue Sicht- und Objektivierungsweisen auf Sachverhalte erproben will. Die Notwendigkeit, in Wahrnehmungsprozessen alle Einzelelemente in einen bestimmten Wahrnehmungsrahmen einzuordnen, zeigt sich nicht nur bei der Gestaltung und Rezeption von konkreten Texten, sondern auch bei der Systemorganisation von grammatischen und lexikalischen Zeichen. Jede intersubjektiv funktionierende Sprache muss sich ihr Inventar von Zeichen feldmäßig gliedern, damit jedes einzelne Zeichen einen spezifischen informativen Stellenwert im Verbund konkurrierender Zeichen bekommen kann. Deshalb lässt sich die Semantik von sprachlichen Zeichen auch nicht ohne Ähnlichkeits- und Oppositionsbezüge zu benachbarten Zeichen bestimmen. Allerdings ist nun sicherlich einzuräumen, dass es stringent geordnete Zeichenfelder nur in formalisierten Fachsprachen gibt. Im Bereich der natürlichen Sprachen ist diesbezüglich eher mit flexiblen Ordnungsstrukturen bzw. mit Aggregaträumen als mit stringent durchorganisierten Systemräumen zu rechnen, weil die pragmatischen Funktionen natürlicher Sprachen so vielfältig sind, dass es bei jedem Gebrauch dieser Sprachen zu einer Variation von tradierten Ordnungskonventionen kommen kann. Der metaphorische Sprachgebrauch exemplifiziert das sehr deutlich. Ebenso wie sich in der Malerei das zentralperspektivische Malen nicht generell durchgesetzt hat, so hat sich auch im natürlichen Sprachgebrauch die Bindung an feste Konventionen nicht generell durchgesetzt. Das wäre auch gar nicht wünschenswert, weil wir beim Gebrauch der natürlichen Sprache zwar konventionalisierte Wahrnehmungsfenster brauchen, aber keine, die uns nur eine einzige Perspektive auf die Welt eröffnen. Die semantische Variationsfähigkeit der Zeichen in den natürlichen Sprachen dokumentiert sehr klar, dass diese als Manifestationen von kulturell entwickelten Wahrnehmungsfenstern beurteilt werden können, deren perspektivierende Wahrnehmungssteuerung geschichtlichen Veränderungsprozessen unterliegt und auch unterliegen muss. Die Sprache bleibt als Sinnbildungsmittel nur dann lebendig, wenn ihre Verwender die Freiheit haben, die einzelnen Formen als Wahrnehmungsfenster so zu gestalten und umzugestalten bzw. ihre Positionen beim Blick durch diese Fenster so zu variieren, dass dadurch ihre aktuellen Wahrnehmungsinteressen erfüllt werden können. Das Sinnbild des Fensters gestattet es auch, den für den Gebrauch von lebendigen Sprachen konstitutiven Wechselwirkungsprozess von sach- und reflexionsthematischen Denkanstrengungen in den Fokus unserer Aufmerksamkeit zu rücken. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass das Sinnbild des Fensters nicht nur für die Charakterisierung der Geisteswissenschaften, sondern auch für die der Naturwissenschaften wichtig geworden ist. Der Historiograph der Geschichte der Naturwissenschaften, Ernst Peter Fischer, hat ausdrücklich betont, dass die Funktion der Naturwissenschaften in Erkenntnisprozessen nicht im Sinne eines Spiegels verstanden werden sollte, sondern eher im Sinne eines Fensters, weil auch sie nicht die Aufgäbe hätten, Abbilder von etwas herzustellen, sondern Durchblicke auf etwas. Bezeichnenderweise nimmt er
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dabei auf Rilkes Testament von 1921 Bezug, wo dieser der Dichtkunst eben diese Funktionsrolle zugeordnet habe.8 Zwar ist in Rilkes Testament nicht direkt von der Dichtkunst die Rede, die Fenster und nicht Spiegel sein solle, sondern von der Kunst schlechthin, aber das schwächt den Wert dieser These nicht, weil die Kunst von Rilke grundsätzlich als eine „Leidenschaft zum Ganzen“ verstanden wird. Aufschlussreich ist jedenfalls, dass man über die Fenstervorstellung die Zielsetzungen von Kunst, von Wissenschaft und von Sprache durchaus parallelisieren kann. Wörtlich lautet die Passage in Rilkes Testament folgendermaßen: „aber ich sehnte mich, sie zu durchdringen! Daß sie mir Fenster sei in den erweiterten Weltraum des Daseins ...(nicht Spiegel).“ 9
2. Auge, Fenster und Sprache Im Laufe der Kulturgeschichte sind die Augen immer wieder mit Fenstern verglichen worden, weil ihnen die Fähigkeit zugesprochen wurde, sowohl Ausblicke in die Welt zu ermöglichen als auch Einblicke in die Innenwelt der Menschen, die mit ihrer Hilfe in die Außenwelt blicken. Die Analogisierung von Augen und Sprache liegt nahe, wenn man bedenkt, dass beide Phänomene den Subjekten dabei helfen, Kontakt mit ihren jeweiligen Wahrnehmungsobjekten aufzunehmen, wobei diese in konkreten Wahrnehmungsprozessen durchaus vergessen können, dass ihnen dabei ihre jeweiligen Medien eine konstitutive Hilfe bieten. Das ist meist erst in reflexionsthematischen Wahrnehmungsakten im Anschluss an sachthematische möglich. Diese Struktur hat Wittgenstein prägnant gekennzeichnet. „Und nichts a m G e s i c h t s f e l d läßt darauf schließen, daß es von einem Auge gesehen wird.“ 10 Um das sinnbildliche Potenzial des Bildspenders Auge für das Verständnis des Bildempfängers Sprache abschätzen zu können, empfiehlt es sich, vorab einige Überlegungen zur Genese und Struktur des Sehsinns anzustellen sowie zur kulturgeschichtlichen Wertung dieses Sinns. Das erleichtert es dann, die Stärken und Schwächen dieser Analogisierung zu beurteilen.
Genese und Struktur des Sehsinns Die Augen haben sich als Wahrnehmungssinn evolutionär aus lichtempfindlichen Hautzellen entwickelt. In Gestalt von Linsen- und Facettenaugen bzw. von Frontal- und Lateralaugen haben sich dann evolutionär ganz unterschiedliche Funktionsformen von Augen ausgebildet. Diese Entstehungsgeschichte
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E. P. Fischer, Die andere Bildung, 2001, S. 9, 17, 438. R. M. Rilke, Das Testament, 1974, S. 96. 10 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosphicus, 5.633, 19685, S. 91. 9
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von Augen ist im Kontext der hier entwickelten Fragestellungen keineswegs ohne Belang. Einerseits schirmt nämlich die Haut einen einzelnen Organismus ähnlich wie eine Wand von seiner jeweiligen Umwelt ab, aber andererseits muss dieser Organismus auch Vorsorge dafür treffen, dass er sich trotz dieser Abschirmung in seiner jeweiligen Umwelt orientieren und mit dieser in Interaktion treten kann. Für diejenigen Organismen, die sich im Raum bewegen können und die zu intentionalen Handlungen fähig sind, spielt der Sehsinn eine ganz besonders wichtige Rolle. Während der Tast-, Geschmacks- und Riechsinn recht unmittelbare Kontakte zur Außenwelt herstellen können, sind der Hör- und Sehsinn ausgesprochene Distanzsinne. Insbesondere der Sehsinn ermöglicht einem Organismus nämlich sehr weitreichende und variable Kontakte und Vernetzungen mit seiner Umwelt und eben dadurch dann auch ein sehr differenziertes Handeln. Deshalb hat Jonas dem Sehsinn in anthropologischer Hinsicht auch eine besondere Nobilität zugesprochen.11 Der Sehsinn, der die Abschirmungswand der Haut durchlässig macht, ist für den Menschen ein ganz besonderes Fenster zur Welt, weil sich die Augen auch unabhängig vom Körper selbst bewegen können und eben dadurch ihre Wahrnehmungsperspektiven noch zusätzlich zu variieren vermögen. Außerdem lassen sich die Augen nach Bedarf öffnen und schließen und in ihrer Sehschärfe auf nahe und ferne Wahrnehmungsobjekte einstellen. Im Vergleich dazu sind die selektierenden und konzentrierenden Möglichkeiten des Hörsinns sehr viel eingeschränkter und pauschaler. Das Auge kann seine Wahrnehmungsinhalte aktiv suchen, während das Ohr passiv auf sie warten muss. Deshalb kann dem Sehsinn auch ein gewisses Aggressionspotenzial zugeschrieben werden. Wir können unseren Blick nämlich auf etwas werfen, mit ihm jemanden durchbohren oder mit seiner Hilfe jemanden durchschauen. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, dass die Position der Augen den Bedürfnissen der jeweiligen Lebewesen evolutionär angepasst worden sind. Lebewesen, die vor Gefahren fliehen müssen, haben Lateralaugen ausgebildet (Pferde, Hasen, Meisen), die ihnen nahezu eine Rundumsicht ermöglichen. Lebewesen, die Beute machen müssen und die eben deswegen notwendigerweise auf ein zielgerichtetes Handeln und ein konzentriertes Wahrnehmen eingestellt sind (Menschen, Katzen, Eulen), haben Frontalaugen ausgebildet. Wenn die spezifischen Fensterfunktionen der menschlichen Frontalaugen faktisch nicht genutzt werden, dann sprechen wir bezeichnenderweise auch davon, dass jemand etwas aus den Augen verloren hat oder dass jemandem für die Wahrnehmung bestimmter Phänomene die Augen fehlen. Wichtig für das Funktionsprofil des Sehsinns ist auch, dass er im Gegensatz zum Hörsinn nicht in einem so hohen Maße dem Fluss der Zeit bzw. der
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Vgl. H. Jonas, Der Adel des Sehens, in: R. Konersmann (Hrsg.), Kritik des Sehens, 19992, S. 247–271
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Sukzession von Reizen unterworfen ist. Mit ihm kann man auch solche Phänomene erfassen, die eine relativ dauerhafte Strukturgestalt haben, zu der man eine kontemplative bzw. theoretische Einstellung einnehmen kann, weil die gegebenen Reize nicht ständig durch neue verdrängt werden. Dabei schließt die Fähigkeit zur Dauerwahrnehmung die Wahrnehmung von Verlaufsgestalten aber keineswegs aus bzw. die Wahrnehmung einer Dauer im Wechsel. Der Sehsinn ist im Gegensatz zum Tastsinn ein ausgesprochener Fernsinn, der einerseits Entfernungen überbrücken, aber andererseits auch vergegenwärtigen kann. Eben deswegen vermag er, Objekte für Menschen in eine Fernnähe zu bringen. Dadurch ermöglicht er Formen der Einverleibung von Welt, die sich auf charakteristische Weise von den Möglichkeiten anderer Sinne unterscheiden. Zu beachten ist dabei allerdings, dass Augen und Fenster ihre Erschließungsfunktionen nur dann erfüllen können, wenn es auch Licht gibt.
Kulturhistorische Wertungen der Augen Im Laufe der Kulturgeschichte ist das optische Sehen immer wieder mit dem geistigen Sehen analogisiert bzw. das geistige Sehen als eine Fortsetzung des optischen verstanden worden. Ganz selbstverständlich hat man deshalb auch von körperlichen und geistigen Augen gesprochen. Im Mythos kann der blinde Seher Teiresias zwar nicht mehr mit seinen körperlichen Augen sehen, aber durchaus mit seinen geistigen. Schon die Vorsokratiker haben auf bezeichnende Weise über den Sehsinn nachgedacht. Beispielsweise hat Empedokles darüber spekuliert, ob aus den Augen Lichtstrahlen austreten, durch die dann die jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände für uns sichtbar werden. Im Gegensatz dazu haben Demokrit und Leukipp die Augen als passive Rezeptionsorgane angesehen. Sie seien dazu bestimmt, die Bildchen aufzunehmen, die sich laufend von den Gegenständen ablösten, weshalb die Augen für beide auch einen recht direkten Kontakt zur Welt ermöglichen.12 In beiden Annahmen werden Augen als Fenster verstanden, durch die entweder Licht aus einer Innenwelt in die Außenwelt vordringt oder durch die Bilder aus der Außenwelt in die Innenwelt eindringen. Zuweilen sind Seh- und Sonnenstrahlen auch als verschiedene Formen des Lichts verstanden worden, insofern Sonnenstrahlen dazu dienten, Objekte in der Ferne anzuleuchten, und Augenstrahlen dazu, Objekte in der Nähe zu erhellen. Wenn man in dieser Weise denkt, dann bekommt die Rede vom Licht der Vernunft, in dem man die Welt zu sehen habe, oder die Rede von der empirischen Sacherfahrung, die in unseren Verstand eindringe, einen sehr konkreten Sinn. Augen lassen sich dann auf recht anschauliche Weise als Fenster verste-
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Vgl. W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, S. 230 ff., 306 f. ; A. E. Haas, Antike Lichttheorien, Archiv für die Geschichte der Philosophie 20, 1907, S. 354 ff., 362.
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hen, durch die entweder ein Wahrnehmungslicht von innen nach außen gelangt oder durch die Sacherfahrungen von außen nach innen vordringen. In beiden Verständnisweisen werden Augen als Medien verstanden, durch die zwei unterschiedliche Welten miteinander in Beziehung treten können. Deshalb hat dann auch das Auge schon im Mittelalter eine große Rolle als Sinnbild für das Phänomen der Vermittlung gespielt.13 Sowohl das idealistische Denken, das dem Geist bzw. der Subjektseite bei der Wissensbildung eine Priorität zuordnet, als auch das realistische bzw. empirische Denken, das der menschlichen Sinneserfahrung eine Priorität zuordnet, können deshalb das Phänomen Fenster als ein ikonisches Zeichen für das Phänomen Vermittlung verwenden. Wenn man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nun das Auge als Sinnbild für Sprache in Anspruch nimmt, dann lässt sich dadurch sehr gut auf eine doppelte Funktion der Sprache in Wahrnehmungsprozessen bzw. in Wissensbildungsprozessen aufmerksam machen. Einerseits ist klar, dass derjenige, der einen differenzierten Sprachschatz besitzt, zugleich über leistungsfähigere Augen bzw. Fenster bei der Weltwahrnehmung verfügt als derjenige, der nur einen reduzierten Sprachschatz besitzt. Wenn ein Botaniker durch Feld und Wald geht, dann sieht er sicherlich mehr Unterscheidbares als ein Laie, obwohl er faktisch mit denselben optischen Reizen konfrontiert wird, da er Wahrnehmungen nach vielfältigeren Mustern differenzieren und einordnen kann. Fachleute und Laien haben im Prinzip dieselbe Objektsphäre vor sich, aber dennoch sehen sie diese jeweils unterschiedlich, weil ihre Sprachen ihnen unterschiedliche Augen bzw. Fenster für Wahrnehmungsprozesse zur Verfügung stellen. Andererseits ist nun aber auch offensichtlich, dass alle Menschenaugen im Vergleich zu Adler- oder Insektenaugen eine ähnliche Sehkraft bzw. Fensterfunktion für die Wahrnehmung und Verarbeitung von optischen Reizen haben und dass alle Menschen deshalb im Prinzip auch dasselbe sehen können. Deshalb sollte auch die besondere Fensterfunktion von einzelnen Sprachen nicht überbewertet werden. Zu bedenken ist weiterhin, dass wir insbesondere unter zeitlichem Druck immer unter der Herrschaft und der vorstrukturierenden Kraft derjenigen sprachlichen Wahrnehmungsfenster stehen, an die wir traditionell gewöhnt sind. Nur in Situationen kontemplativer Muße sind wir in der Regel disponiert, uns für andere Perspektiven auf die Welt zu interessieren. In einem ganz anderen Denkrahmen als die Vorsokratiker hat dann Herder den Sehsinn und die Fensterfunktion der Augen thematisiert. Gerade weil die Augen ihre jeweiligen Objekte in ziemlich großer Distanz wahrnähmen, erklärt er den Sehsinn für den kältesten aller Wahrnehmungssinne. Für ihn haben deshalb insbesondere die Philosophen eine besondere Vorliebe für diesen Wahrnehmungssinn entwickelt, weil er einen relativ emotionsfreien Kontakt zur Welt gewährleiste und den jeweils Wahrnehmenden nicht allzu sehr in die Welt seiner Wahrnehmungsgegenstände verwickle. Für Herder steht der Seh-
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Vgl. G. Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde., 1985.
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sinn als Distanzsinn in einem klaren Kontrast zum Hörsinn als Nahsinn, da der Schall „der große Verkündiger und Erreger der Leidenschaften“ sei.14 „Das Auge ist, wenn man will der kälteste, der äußerlichste und oberflächlichste Sinn unter allen; er ist aber auch der schnellste, der umfaßendste, der helleste Sinn; er umschreibt, theilt, bezirkt und übt die Meßkunst für alle seine Brüder.“ 15
Aus Herders Denkansatz ergibt sich die Chance, den Sehsinn als ein Medium zu verstehen, das eine große Analogie zu den formalisierten Fachsprachen aufweist und eine reduzierte Analogie zu der natürlichen Umgangssprache mit ihren hohen emotionalen Implikationen. Der Sehsinn teilt mit den formalisierten Sprachen die immanente Tendenz, die jeweiligen Bezugsobjekte aus großer Distanz zu betrachten und die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte nicht unmittelbar mit ihren Wahrnehmungsobjekten in Kontakt zu bringen. Außerdem lässt sich auch darauf verweisen, dass die geschriebene Sprache einen sehr natürlichen Bezug zum Sehsinn hat, während die gesprochene eher einen solchen zum Hörsinn besitzt. Vielleicht lässt sich die geschriebene Sprache sogar als ein Sehfester und die gesprochene Sprache als ein Hörfenster verstehen, weil beide unsere Aufmerksamkeit unterschiedlich perspektivieren. Eine andere interessante Charakterisierung des Sehsinns in Opposition zum Hörsinn stammt von Jacob Grimm. „Das auge ist ein herr, das ohr ein knecht, jenes schaut um, wohin es will, dieses nimmt auf, was ihm zugeführt wird.“ 16 Grimms Thesen zum besonderen Funktionsprofil von Auge und Ohr sind interessant, weil sie auf die spezifischen anthropologischen Implikationen unserer Sinne Bezug nehmen. Diesbezüglich ist aufschlussreich, dass bei Wort- und Begriffsbildungen der Sehsinn immer wieder mit aktiven Dispositionen der Menschen verknüpft worden ist bzw. mit deren Fähigkeit zur Eigenbewegung in Raum (wahrnehmen, erfahren, erfassen), während der Hörsinn eher mit passiven Dispositionen korreliert worden ist (gehorchen, hörig). Wenn man im Denkhorizont von Jacob Grimm das Auge oder die Sprache als Fenster zur Welt betrachtet, dann wird man sein Interesse insbesondere auf die Eigendynamik beider Phänomene richten. Wie das Auge im Gegensatz zum Ohr nicht darauf wartet, etwas zugeführt zu bekommen, sondern sich vielmehr öffnet und seinen Blick umherschweifen lassen kann, um die Welt zu erfassen, so auch die Sprache, die unablässig darum bemüht ist, nichts einfach hinzunehmen, sondern es vielmehr einzuordnen bzw. zu kategorisieren. Solange die Sprache lebendig ist, strebt sie danach, etwas auf den Begriff zu bringen. Wie der Spieltrieb hat die lebendige Sprache eine immanente Tendenz, alle Traditions- und Erfahrungsmauern wenn nicht einzureißen, so doch durchlässig zu machen bzw. mit Fenstern zu versehen und damit in ihren Funktionen
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J. G. Herder, Kalligone, Herders Sämmtliche Werke, Bd. 22, S. 64. J. G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, a.a.O. Bd. 18, S. 27. Vgl. auch Bd. 4, S. 77. 16 J. Grimm, Rede auf Wilhelm Grimm, Rede über das Alter, 1963, S. 58. 15
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zu verändern. Dagegen hat eine erstarrte Sprache eher eine Tendenz, Wahrnehmungsfenster einfach zu nutzen und als selbstverständlich und unabänderlich hinzunehmen.
Die Sinnbildfunktionen des Auges für die Sprache Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen zur Genese und Struktur des Sehsinns lässt sich dem Auge sicherlich nicht nur eine Fensterfunktion für die Wahrnehmung, sondern auch eine Sinnbildfunktion für die Sprache zuschreiben. Das liegt insbesondere dann nahe, wenn wir mit Popper nicht nur das faktische Leben als eine Form des Problemlösens ansehen, sondern auch die faktische Nutzung von Augen und Sprache. Sowohl das Auge als auch die Sprache haben ihren genuinen Funktionsplatz in Wechselwirkungsprozessen. Mit den Augen und mit der Sprache kann man etwas medial so wahrnehmen, dass man darauf dann vorausschauend und geplant reagieren kann. Augen und Sprache konzentrieren sich im normalen Gebrauch ganz auf die von ihnen wahrzunehmenden Gegenstände, aber durch die Verwendung von Spiegeln und von metasprachlichen sprachtheoretischen Begriffen können sich beide durchaus selbst zu Wahrnehmungsgegenständen machen. Ebenso wie im Gespräch der eine die Augen des anderen sucht, um über oder durch sie Einblicke in dessen Psyche und Denkverfassung zu gewinnen, so kann im Gespräch der eine auch seine Aufmerksamkeit auf die vom anderen verwendeten Sprachformen richten, um durch sie Einblicke in dessen Psyche und Denkverfassung zu bekommen. Ebenso wie jemand versuchen kann, dem Blick des anderen in seine eigenen Augen auszuweichen, so kann er auch durch den Gebrauch einer formelhaften Sprache versuchen, der individuellen Wahrnehmung durch einen anderen zu entgehen. Ebenso wie man durch standardisierte Sehweisen der spezifischen Eigenwelt der Dinge ausweichen kann, so kann man das auch durch standardisierte Redeweisen über sie. Gesunde Augen können sich in Wahrnehmungsprozessen durch ihre Fähigkeit zu Eigenbewegungen an die unterschiedlichen Positionen ihrer Objekte im Raum anpassen bzw. ihre Pupillen auf die unterschiedlichen Lichtverhältnisse in Wahrnehmungssituationen einstellen. Ähnliches gilt auch für die lebendige natürliche Sprache, die sich durch die Verwendung und Veränderung von bestimmten lexikalischen, grammatischen und textuellen Formen auf bestimmte Partner, Objekte, Situationen, Erkenntnisinteressen und Wirkungsintentionen abstimmen lässt. Der fachsprachliche, der emotionale, der ästhetische oder der lügenhafte Gebrauch von Sprache exemplifiziert das jeweils sehr deutlich. Auch die geschichtlichen Veränderungen der Sprache legen von dieser Akkommodationsfähigkeit der Sprache ein klares Zeugnis ab. Die Augen der verschiedenen Lebewesen haben entsprechend der Struktur und Physiologie ihrer Rezeptorzellen eine unterschiedliche Aufnahmefähigkeit für optische Reize und damit natürlich auch eine unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeit für Welt. Im Prinzip reagieren die Rezeptorzellen der Augen
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auch nicht auf Dauerreize gleichen Typs, sondern auf den Reizwechsel. Dauerreize führen keineswegs zu einer Wahrnehmungsintensivierung, sondern eher zu einer Wahrnehmungsermüdung. Ganz ähnliches gilt sicher auch für die Sprache. Ein stereotyper und formelhafter Sprachgebrauch ermüdet und führt eben deshalb auch zu Wahrnehmungsverlusten, während ein innovativer, spielerischer und abwechslungsreicher Sprachgebrauch, der bestimmte Grenzen nicht überschreitet, die jeweiligen Wahrnehmungsprozesse intensiviert. Der bildliche und der ironische Sprachgebrauch exemplifizieren das sehr klar. Von zentraler Bedeutsamkeit für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Augen und Sprache ist auch, dass beide erst dann eine differenzierte Wahrnehmung ermöglichen, wenn man schon Hypothesen darüber machen kann, was jeweils wahrgenommen werden soll oder wie das Wahrgenommene von den eigenen Wahrnehmungserwartungen abweicht. Augen und Sprache dienen pragmatisch gesehen vor allem dazu, Informationsunsicherheiten im Rahmen von bestimmten Vorerwartungen zu beseitigen. Ebenso wie ein Arzt auf einem Röntgenbild mehr und anderes wahrnehmen kann als ein Laie, so kann auch ein geschulter Hermeneutiker in einem Text mehr und anderes wahrnehmen als ein Laie. Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass man Sprache nur dann versteht, wenn man mehr als Sprache versteht bzw. wenn man ein umfassendes Weltwissen aktivieren kann. Nur unter diesen Bedingungen unterliegt man beispielsweise nicht der Gefahr, bei Komposita die Determinationsleistung eines Bestimmungswortes für ein Grundwort immer nach demselben Schema festzulegen (Schweineschnitzel, Zigeunerschnitzel, Paprikaschnitzel). Sowohl mit den Augen als auch mit der Sprache nimmt man in der Regel von der Welt immer nur das wahr, was man irgendwie schon weiß oder für möglich hält. Das unschuldige Auge gibt es ebenso wenig wie die unschuldige oder neutrale Sprache. Konkrete Wahrnehmungsinhalte konstituieren sich immer sowohl aus dem, was man sieht oder gesagt bekommt, als auch aus dem, was man weiß oder erwartet. Die Augen des Körpers, der Denkmuster und der Sprache sind allerdings letztlich immer Augen des Leibes, weil sie dessen Wahrnehmungs- und Differenzierungsbedürfnissen sowohl in einem empirischen als auch in einem geistigen Sinne dienen. Deshalb sind körperliche und sprachliche Augen auch immer hungrige Augen.
3. Mikroskop und Fernrohr als Fenster Die Menschen haben die begrenzte Wahrnehmungskraft ihrer körperlichen Augen immer wieder zu verbessern und zu ergänzen versucht, weshalb sie nicht nur Brillen und Lupen erfunden haben, sondern auch Mikroskope und Fernrohre. Gerade weil die beiden letzteren Erfindungen dazu dienen, etwas zu erschließen, was man normalerweise nicht sehen kann, lassen sie sich gleichsam auch als abstrakte Wappentiere der Wissenschaften verstehen.
Mikroskop und Fernrohr als Fenster
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Das besondere Funktionsprofil von Mikroskopen und Fernrohren berechtigt zu der Frage, ob bzw. inwieweit sie als besondere Fensterformen auch als Sinnbild für Sprache in Anspruch genommen werden können. Diese Wahrnehmungsweise rechtfertigt sich insbesondere dadurch, dass die Funktion der Sprache ja nicht nur darin besteht, die sinnlich direkt wahrnehmbare Welt intersubjektiv verständlich zu objektivieren, sondern auch darin, Welten sichtbar zu machen, die mit unseren körperlichen Augen nicht direkt wahrnehmbar sind. Ebenso wie mit Mikroskopen und Fernrohren kann man auch mit bestimmten sprachlichen Formen die sinnlich wahrnehmbare Welt transzendieren, ohne dabei gleich annehmen zu müssen, dadurch in unwirkliche bzw. fiktive Welten zu gelangen. Mikroskope und Fernrohre sind Fenster zu Welten, die zwar nicht direkt im Wahrnehmungsbereich unserer körperlichen Augen liegen, die sich aber gleichwohl über diese Hilfsmittel in deren Operationsbereich bringen lassen. Vielleicht können wir beide ebenso wie die Sprache als kulturell entwickelte Augen verstehen, die auf genuine Weise zum Menschen gehören, wenn man die Kultur als zweite Natur des Menschen ansieht. Mit unseren körperlichen Augen erschließen wir uns den Mesokosmos, der im alltäglichen Leben unmittelbar für uns wichtig ist. Mit dem Mikroskop erschließen wir uns den Mikrokosmos, auf dem unser Mesokosmos aufbaut, und mit dem Fernrohr den Makrokosmos, in dem unser Mesokosmos eingebettet ist. In Analogie dazu lässt sich vielleicht sagen, dass wir uns mit unserer natürlichen Sprache die Alltagswelt erschließen, mit der wir pragmatisch immer fertig werden müssen, und dass wir uns mit unseren Sondersprachen die Welten zugänglich machen, die vor oder hinter dieser natürlichen Lebenswelt liegen, dieser aber ihren spezifischen Stellenwert in der Gesamtwelt geben.
Das Mikroskop Das Mikroskop ist ein Hilfsmittel der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit, das es erlaubt, Objekte zu sehen, die so klein sind, dass sie sich der Erfassung durch das menschliche Auge entziehen. Neben dem traditionellen Lichtmikroskop gibt es heute auch noch verschiedene Typen von Elektronen- und Rastersondenmikroskopen. Während sich normale Lichtmikroskope in ihren Auflösefähigkeiten im Rahmen der Möglichkeiten bewegen, die Lichtwellen zulassen, bewegen sich die anderen Mikroskoptypen im Rahmen der Möglichkeiten, die elektromagnetische Wellen mit sehr viel kleineren Frequenzen zulassen. Lichtmikroskope liefern uns Wahrnehmungsbilder, die das menschliche Auge immer noch als Bilder von konkreten Objekten identifizieren kann. Dagegen liefern uns die anderen Typen von Mikroskopen nur Daten, die erst über bestimmte Transformationen so umgestaltet werden müssen, dass daraus optisch wahrnehmbare Bilder für unsere natürlichen Augen entstehen. Bei Elektronen- und Rastersondenmikroskopen spielt im Gegensatz zu Lichtmikroskopen das für das menschliche Auge wahrnehmbare Licht bei der Wahrnehmung von Objekten keine konstitutive Rolle mehr. Deshalb wird es
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auch problematisch, diese Mikroskope in einem herkömmlichen Sinne als Fenster zur Welt anzusehen, da unsere traditionelle Fenstervorstellung sehr eng mit unserer Erfahrung von normalem Licht verbunden ist. Die Sondertypen von Mikroskopen vermitteln uns dagegen Aspekte des Mikrokosmos, die mit unseren üblichen Seherfahrungen nicht mehr viel gemeinsam haben. Im Gegensatz dazu bleiben die Lichtmikroskope im Rahmen unserer normalen lichtabhängigen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Sie weiten die Wahrnehmungs- und Differenzierungsmöglichkeiten des menschlichen Auges zwar gewaltig aus, aber im Prinzip fungieren sie dennoch nur als Vergrößerungsgeräte oder Lupen. Die Nutzung der anderen Mikroskoptypen ist dagegen als ein spezielles Verfahren zur Datenbeschaffung anzusehen, aus denen für das menschliche Auge keine Wahrnehmungsbilder entstehen, die mit denen vergleichbar wären, die der Blick durch ein normales Fenster ermöglicht. Die Lichtmikroskope geben uns die Chance, Einblick in die Innenräume von Phänomenen zu gewinnen, die wir im Prinzip noch als Bestandteile unserer normalen Außenwelt betrachten können. Elektronen- und Rastersondenmikroskope verdeutlichen uns dagegen, dass das, was ein Lichtmikroskop als Innenraum präsentiert, immer noch ein Außenraum ist, der wiederum andere Innenräume hat. Die von diesen Mikroskopen erschlossenen Innenräume sind aber nicht mehr menschenförmig, weil sie nicht mehr dem entsprechen, was wir mit unseren natürlichen eigentlich Augen sehen können, sondern nur dem, was wir uns über artifizielle Augen bzw. Fenster fassbar machen können. Als Sinnbild für Sprache bietet sich deshalb zunächst nur das Lichtmikroskop an, weil es als unmittelbares Hilfsmittel des menschlichen Auges dienlich ist und uns wie die natürliche Sprache noch menschenförmige Wahrnehmungsinhalte liefert, die allerdings die von Brillen und Lupen deutlich ausweiten. Das Lichtmikroskop lässt sich insbesondere dann als Sinnbild für Sprache in Anspruch nehmen, wenn es um Wahrnehmungsinhalte geht, die uns zwar nicht direkt zugänglich sind, die aber dennoch zu der für den Menschen unmittelbar relevanten Lebenswelt gehören. Es ist nun sicherlich einzuräumen, dass die Erweiterung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten von Welt durch das Mikroskop und durch die Sprache auf ganz verschiedenen Ebenen liegt. Aber gleichwohl ermöglichen beide Medien Sichtweisen auf die Welt, bei der eine unbekannte Tiefenstruktur hinter einer bekannten Oberflächenstruktur wahrnehmbar wird. Während uns das Mikroskop Sachverhalte zugänglich macht, die jenseits der optischen Auflösungskraft der menschlichen Augen liegen, kann uns die Sprache einerseits etwas zugänglich machen, was nicht in demselben Raum und in derselben Zeit des Wahrnehmenden liegt, und andererseits auch etwas, was prinzipiell jenseits aller sinnlichen menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten liegt, weil es die abstrakten Strukturen der Welt betrifft. Frege hat das Verhältnis der von ihm angestrebten Begriffsschrift, die er als „Formelsprache des reinen Denkens“ verstanden wissen wollte, zur polyfunktionalen natürlichen Sprache sinnbildlich mit Hinweisen auf die unterschiedliche Leistungskraft des Mikroskops und des natürlichen Auges in Wahrnehmungsprozessen prägnant erläutert.
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„Das Verhältnis meiner Begriffsschrift zur Sprache des Lebens glaube ich am deutlichsten machen zu können, wenn ich es mit dem des Mikroskops zum Auge vergleiche. Das Letztere hat durch den Umfang seiner Anwendbarkeit, durch die Beweglichkeit, mit der es sich den verschiedensten Umständen anzuschmiegen weiss, eine grosse Ueberlegenheit vor dem Mikroskop. Als optischer Apparat betrachtet, zeigt es freilich viele Unvollkommenheiten, die nur in Folge seiner innigen Verbindung mit dem geistigen Leben gewöhnlich unbeachtet bleiben. Sobald aber wissenschaftliche Zwecke grosse Anforderungen an die Schärfe von Unterscheidungen stellen, zeigt sich das Auge als ungenügend. Das Mikroskop hingegen ist gerade solchen Zwecken auf das vollkommenste angepasst, aber eben dadurch für alle andern unbrauchbar. So ist diese Begriffsschrift ein für bestimmte wissenschaftliche Zwecke ersonnenes Hilfsmittel, das man nicht deswegen verurteilen darf, weil es für andere nichts taugt.“ 17
Das Fernrohr Im Gegensatz zum Mikroskop ist das Fernrohr ein Fenster zum Makrokosmos, das den Menschen etwas sichtbar macht, was ihnen normalerweise nicht oder nicht so sichtbar ist. Ähnlich wie beim Mikroskop gibt es auch beim Fernrohr eine technische Entwicklung von optischen Teleskopen, die im Rahmen von Lichtwellen funktionieren, zu Teleskopen, die mit anderen elektromagnetischen Wellen arbeiten wie etwa Röntgenteleskope, Infrarotteleskope oder Radioteleskope. Letztere können deshalb auch etwas objektivieren, was den menschlichen Augen prinzipiell nicht sichtbar ist und was auf spezifische Weise transformiert werden muss, damit es für unsere Augen erfassbar wird. Wenn wir vom Fernrohr als Sinnbild Gebrauch machen wollen, dann müssen wir auch hier auf ihre optischen Erscheinungsformen Bezug nehmen, weil diese ebenso wie optische Mikroskope menschenförmige Wahrnehmungsbilder von der Welt liefern und keine transformationsbedürftige Daten. Als Sinnbild für Sprache ist das Fernrohr insbesondere im Hinblick auf folgende Aspekte bzw. Funktionsanalogien interessant. Das Fernrohr wie die Sprache können dazu dienen, Distanzen zu überbrücken und ferne Räume bzw. Sachverhalte in fernen Räumen in unser konkretes Wahrnehmungsfeld zu bringen. Dabei kann es sich dann sowohl um die Überbrückung von räumlichen als auch von zeitlichen Distanzen handeln. Fernrohre können uns nämlich sogar Sterne sichtbar machen, die möglicherweise faktisch schon erloschen sein können, deren Licht aber noch im Weltraum unterwegs ist. Auch Sprache
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G. Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, 1879 / 1964, S. XI. Wenn Frege die Wirkungsweise des Elektronenmikroskops schon gekannt hätte, dann hätte er bei seiner Argumentation wahrscheinlich auch auf dieses zurückgegriffen, weil es die spezifische Transformationsleistung des wissenschaftlichen Denkens bzw. der Begriffsschrift bei der Objektivierung von Welt noch deutlicher zum Ausdruck bringt als das optische Lichtmikroskop.
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kann uns etwas vorstellbar machen, was in frühere, spätere oder fiktive Zeiten und Räume gehört. Auf jeden Fall zwingen uns sowohl Fernrohre als auch Mikroskope dazu, unsere üblichen Wahrnehmungsweisen von Welt zu relativieren und diese in anderen Perspektiven bzw. hinsichtlich anderer Aspekte ins Auge zu fassen. Dabei kann man sich dann darüber streiten, ob die optischen und sprachlichen Fernrohre andere Welten an die Betrachter heranholen oder diese nur in andere Welten versetzen. Auf jeden Fall können Fernrohre und Sprache neue Fenster für die Weltwahrnehmung eröffnen. Ebenso wie das Mikroskop zeigt uns auch das Fernrohr eine Welt, die wir kontemplativ zu betrachten haben und in der wir nicht unmittelbar handeln können, weil wir nicht in ihr stehen, sondern sie nur über ein artifizielles Medium als Betrachtungsobjekt vermittelt bekommen. Sehr eindrucksvoll hat Heinz Piontek in einem Gedicht die Metapher als ein Fernrohr bestimmt. Diese poetische Gleichsetzung lässt sich sicher auch als eine generelle Analogisierung von Sprache und Fernrohr verstehen, da man Metaphern durchaus als Intensivformen von Sprache werten kann. Das ist insbesondere dann zu rechtfertigen, wenn man Sprache eher als Sinnbildungsdenn als Abbildungswerkzeug begreift. Unter diesen Umständen lassen sich Metaphern dann freilich nicht mehr als ornamentale Sonderformen der Sprache verstehen, sondern eher als genuine Grundformen, die im Sinne Humboldts dazu dienen, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen bzw. von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch zu machen.
Glasklar Die Metapher ist ein Fernrohr. Sie bewaffnet das Auge. Erfasst. Vergrößert. Verschärft. Deutlich nahe Kommt uns die Wahrheit. Scheinbar.18
Über das Sinnbild Fernrohr veranschaulicht Piontek sehr schön die Funktion der Metapher und wohl auch der Sprache, Wahrnehmungsperspektiven auszubilden und unsere Aufmerksamkeit so zu lenken, dass uns etwas sichtbar wird, was uns sonst gar nicht oder nicht so wahrnehmbar werden kann. Da Fernrohre
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H. Piontek, Werkauswahl in 2 Bänden, Bd. 1, 1990, S. 89.
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die natürlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Auges erweitern und konzentrieren, machen sie ebenso wie Metaphern auf indirekte Weise darauf aufmerksam, dass all unsere Wahrnehmungen mediale Implikationen haben bzw. Blicke durch mehr oder weniger natürliche oder artifizielle Fenster sind. Da sowohl das Fernrohr als auch die Metapher die Reichweite unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten entscheidend vergrößert, wird davon gesprochen, dass die Metapher das Auge bzw. unsere Wahrnehmungsfähigkeit bewaffnet und damit dann offenbar auch den Herrschaftsanspruch der Wahrnehmungssubjekte ausweitet. Das legt nahe, Metapher und Fernrohr als genuine Erkenntnismittel anzusehen oder sogar als Königswege zur Wahrheit. Beide scheinen die Chance zu bieten, aus der Höhle unserer üblichen Sinneswahrnehmungen herauszukommen und etwas so zu sehen, wie es wirklich ist, und nicht so, wie es sich unseren körperlichen Sinnen und üblichen sprachlichen Wahrnehmungsweisen darbietet. Aber diese Annäherung an die Wahrheit wird am Ende dann doch als scheinbar qualifiziert, weil wir auch in der metaphorischen Wahrnehmung die Dinge nicht medienfrei an sich erfassen, sondern nur mit Hilfe eines anders akzentuierten Objektivierungsmittels. Durch den Titel – Glasklar – legt Piontek zunächst nahe, die Metapher mit der Vorstellung des Blicks durch eine Glasscheibe bzw. eines Fensters in Verbindung zu bringen. Aber durch den Schluss des Gedichts wird dann doch darauf aufmerksam gemacht, dass man durch eine Metapher der Wahrheit zwar auf glasklare Weise näher kommt, aber letztlich doch nur scheinbar. Durch die qualifizierende Einrahmung seiner Überlegungen zur Metapher durch die Wörter glasklar und scheinbar macht Piontek deutlich, dass die klare Durchsicht auf etwas noch nicht die wahre Kenntnis von etwas gewährleistet, sondern allenfalls den Kontakt mit etwas. Daraus lässt sich vielleicht folgern, dass die wahre Kenntnis von etwas nicht nur aus reinen Kontemplationsprozessen erwächst, sondern auch durch den handelnden Umgang mit etwas, bzw. dass das Sehen von etwas mit Hilfe unterschiedlicher Medien nicht den faktischen Umgang mit etwas ersetzen kann. Die prinzipielle Relativierung aller optischen und sprachlichen Wahrnehmungsformen sollte uns aber keineswegs hindern, Fernrohre und Sprache als Wahrnehmungsfenster optimal zu gestalten und zu pflegen bzw. vor Verzerrungen und Verschmutzungen zu schützen. In seinen Bemühungen das Phänomen Metapher über das Phänomen Fernrohr sinnbildlich zu erschließen steht Piontek in einer langen Tradition, die sich schon bald nach der Erfindung des Fernrohrs ausgebildet hatte. So hat z. B. schon der Barockdichter Harsdörffer die Funktion von Gleichnissen mit der von Fernrohren analogisiert. Beide könnten uns zwar bestimmte Gewissheiten vermitteln, gäben uns aber auch Anlass, weitere Forschungen anzustellen. „Dahero haben sich so manche bunte Gleichnisse mit unserer Rede verbunden / und sich zu Dolmetschern unserer Unwissenheit gemacht / daß wir das Unbekante mit dem Namen seines Gleichen zu nennen pflegen; sie sind die Merk- und Denkzettul / welche alles leichter unsern Sinnen fürtragen und einbilden; Sie sind die Fernegläser und hellscheinende Christall / vermittelst welcher wir alles eigentlicher ansehen; Sie sind gleich einer geringen Lampen / durch welche man köstliche
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Perlein und Edelgesteine finden kan / ja / sie bringen den Verständigen eine unfehlbare Gewißheit / und den Unverständigen geben sie Anlaß zu fernerer Erforschung.“ 19
In der Kulturgeschichte gibt es neben der Lobpreisung des Fernrohrs auch immer wieder Vorbehalte gegen diese Erfindung, weil durch sie gleichsam das natürliche Sehen und Weltverhalten des Menschen durcheinander gebracht werde. So lässt z. B. Goethe seinen Wilhelm Meister gegenüber einem Astronomen Skepsis darüber äußern, ob es wirklich vorteilhaft sei, sich mit Hilfe eines Fernrohrs die Gestirne über jedes natürliche Maß näher zu rücken. „Ich begreife recht gut, daß es euch Himmelskundigen die größte Freude gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen, wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben sie mir, es auszusprechen: Ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unseren Sinnen zur Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; ... Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist.“ 20
Wenn man diese Skepsis gegen die Wirkungsweise von Fernrohren und Brillen auch auf spezifisch zugerichtete sprachliche Wahrnehmungsmittel bezieht, dann geraten wiederum alle Formen formalisierter Sprachen in den Blick. Mit Goethe könnte man dann sagen, dass diese im Gegensatz zu den natürlichen Sprachen zwar unsere spezifische Neugier in ganz bestimmten Hinsichten befriedigen, dass sie uns aber letztlich die Welt nicht auf eine menschenförmige Weise zugänglich machen. Formalisierte Sprachen sind wie Fernrohre und Mikroskope für ganz bestimmte Wahrnehmungszwecke konzipiert und leisten diesbezüglich sicherlich Hervorragendes. Aber eben durch diese Spezialisierung verlieren sie im Vergleich mit der natürlichen Sprache bzw. den natürlichen Augen auch an anthropologischer Relevanz, weil sie die polyfunktionale Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen schwächen und seine Wahrnehmungsmöglichkeiten perspektivisch sehr einschränken. Für die selektive Konzentration unserer Wahrnehmung würde dann im Sinne Goethes ein hoher, vielleicht allzu hoher Preis gezahlt, weil das genaue Hinsehen auf etwas immer mit einem Absehen von etwas verbunden ist. Die Wissenschaften sind im Kontext ihrer methodisch orientierten Welterfassung bereit, diesen Preis zu zahlen, aber ob das generell für die Weltwahrnehmung durch das Fenster einer wissenschaftlichen Sprache von Vorteil ist, wäre dann noch eine andere Frage.
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G. Ph. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächsspiele III Teil, 1968, S. 357–358. J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre , Goethes Werke Bd. 8, S. 120–121.
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4. Licht und Sprache Jede Wahrnehmung von etwas braucht nicht nur einen Wahrnehmungsrahmen, sondern auch ein Wahrnehmungslicht, damit wir konkrete Wahrnehmungsobjekte als solche identifizieren können. Dabei ist natürlich nicht nur an ein physikalisch fassbares optisches Erhellungslicht zu denken, sondern auch an ein geistiges Erhellungslicht. Die Relevanz eines solchen Erhellungslichts für unsere optischen und geistigen Wahrnehmungsprozesse dokumentiert sich sehr deutlich in den idiomatisch verfestigten Redeweisen, mit denen wir uns Wahrnehmungsprozesse aller Art sprachlich objektivieren: Licht der Vernunft, einleuchtende Argumentation, Beleuchtung eines Problems, Aufklärung von Sachverhalten, Gedankenblitze, sonnenklare Beweise, dunkle Rede, zwielichtige Aussagen, Verdunklungsgefahr usw. Da man die Sprache selbst immer wieder direkt oder indirekt als Lichtspender verstanden hat, ist es sinnvoll, sich Rechenschaft darüber abzulegen, inwiefern wir unsere alltäglichen Lichterfahrungen im Kontext unserer Fenstererfahrungen dazu nutzen können, um die Funktion von Sprache in Wahrnehmungsprozessen näher zu beschreiben. Dabei können wir auf sehr reichhaltige kulturgeschichtliche Spekulationen über das Licht Bezug nehmen, die sich nicht selten zu einer Metaphysik des Lichts verdichtet haben.21 Außerdem erweist es sich in diesem Zusammenhang auch als hilfreich, der Thematisierung und Behandlung von Licht in der Malerei Aufmerksamkeit zu schenken.
Die kulturgeschichtliche Wahrnehmung des Lichts Seit alters her ist das Licht als Sinnbild des Lebens und des Heils verstanden worden und die Finsternis als Sinnbild des Todes und der Verworrenheit. Schon lange bevor man ein Wissen über die Funktion des Lichts bei der Fotosynthese hatte, hat man die Sonne als Lebensspender und als Wärmequelle verehrt und dabei von den versengenden und verdorrenden Funktionsmöglichkeiten des Sonnenlichts weitgehend abstrahiert. In Platons Höhlengleichnis spendet das künstliche Höhlenfeuer ein Licht, durch das man nur die Schatten der Dinge wahrnehmen kann, während das natürliche Sonnenlicht der Garant dafür ist, dass man die Welt so sehen kann, wie sie wirklich ist. Was das Sonnenlicht im Rahmen von optischen Wahrnehmungsprozessen leistet, das leistet für Platon dann die Idee des Guten im Rahmen von geistigen. Einerseits hat die Wertschätzung des Lichts einem dualistischen Denken Vorschub geleistet, insofern der Kampf des Lichts und des Guten gegen die
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Vgl. A. E. Haas, Antike Lichttheorien, Archiv für die Geschichte der Philosophie 20, 1907, S. 345–386. R. Bultmann, Zur Geschichte der Lichtsymbolik, Philologus 97, 1948, S. 1–36. H. Blumenberg, Licht als Metapher für Wahrheit, Studium Generale 10, 1957, S. 432–447.
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Mächte der Finsternis und des Bösen als konstitutiv für die Struktur der Welt angesehen wurde. Andererseits hat diese Wertschätzung aber auch ein emanatives Denken befördert, insofern das Licht mit der Vorstellung einer Quelle verbunden wurde, aus der ständig neues Licht herausstrahlt, das die Finsternis zwar erhellt, das dann aber auch schwächer und schwächer wird, je weiter es in die Welt vor- und eindringt. Im emanativen Denken wird deshalb das Licht auch weniger als Gegenprinzip oder als Gegenspieler der Finsternis verstanden, sondern eher als ein Phänomen, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, die Finsternis zu durchdringen und damit zumindest partiell aufzuheben. Im biblischen Denken ist Gott Schöpfer und damit auch Ursprung des Lichts. Das Licht ist die Kraft, die die Finsternis und das Chaos beseitigt, weshalb es dann auch leicht als Sinnbild des Heils verstanden werden konnte. Für Augustin ist das geistige Streben deshalb ganz auf Erleuchtung (illuminatio) gerichtet. Für die Mystiker ist Gott sogar in einem so hohen Maße Licht, dass es in Gotteserfahrungen zu einer Blendung kommt, die allem Irdischen seine sichtbare Relevanz nimmt. Durch das göttliche Licht soll sich das menschliche Denken dann so entwickeln, dass es selbst zu einem Licht wird, in dem man mehr wahrnehmen kann als das, was die körperlichen Augen sehen können. Die Vorstellung, dass Gott die erste und ursprüngliche Lichtquelle sei, gibt der Lichtsymbolik einen ganz spezifischen Akzent, insofern den Menschen dadurch nämlich aufgetragen wird, die Welt nicht nur im Sonnenlicht zu sehen, sondern auch im spirituellen Gotteslicht. Das bedeutet, dass nicht alle die reale Welt auf gleiche Weise sehen, weil das Licht nicht nur als eine allgegenwärtige Helligkeit verstanden wird, sondern auch als ein gerichteter Lichtstrahl, der die Welt auf ganz besondere Weise sichtbar macht. Im Bereich des philosophischen Denkens ist die Lichtvorstellung oft dazu genutzt worden, das methodische Denken sinnbildlich zu veranschaulichen. Die Vernunft wurde immer wieder als eine natürliche Lichtquelle (lumen naturalis) verstanden, um die Welt adäquat wahrzunehmen und um aus den dunklen Höhlen von bloßen Denkgewohnheiten herauszukommen. Dafür ist Bacons Idolenlehre ein eindrucksvolles Zeugnis. Insbesondere der Aufklärung ist es dann ganz selbstverständlich, vom Licht der Vernunft zu sprechen, sei es nun ein Licht aus der Vernunft oder ein Licht für die Vernunft.
Das Licht in der Malerei Wenn man Überlegungen zur Sinnbildfunktion des Lichts für die Sprache anstellt, dann ist es hilfreich, auch einen Blick auf die Funktion und auf die Gestaltung des Lichts in der Malerei zu werfen. Typisch für die Malerei in frühen Kulturepochen ist es, dass weder von der Zentralperspektive Gebrauch gemacht wird noch davon, Lichtquellen oder Lichtstrahlen als Gestaltungsfaktoren in die Bilder zu integrieren. Die dargestellten Dinge haben ihre je eigene Natur- bzw. Lokalfarbe, die ganz unbeeinflusst von einer bestimmten Lichtquelle bzw. von einem lokalisierbaren Beleuchtungslicht ist. Das Licht ist als
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ein allgemeines Erhellungslicht auf eine ganz abstrakte Weise präsent und kann weder nach seiner Herkunft noch im Hinblick auf seine schattenbildende Kraft als ein ganz bestimmtes Wahrnehmungslicht identifiziert werden. Es stammt weder aus einer identifizierbaren Quelle noch lenkt es unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Dinge oder Sachverhalte. Es ist als erhellendes Licht einfach da. Diese gestalterische Umgangsweise mit Licht bedeutet, dass die Dinge auf dem Bild für die Wahrnehmenden in ihrem gleichbleibenden Sein in Erscheinung treten und nicht als spezifisch beleuchtete oder gar interpretierte Dinge. Weder das Licht noch die Farbe wird in Anspruch genommen, um auf Bildern die Illusion der Raumtiefe zu erzeugen. Das, was in der Kunstwissenschaft als Licht- oder als Farbperspektive bezeichnet wird und was neben der zentralperspektivischen Gestaltungsweise auch dazu dient, die Dinge bzw. die Konstellation von Dingen von einem ganz bestimmten Sehepunkt aus darzustellen und alle Einzelphänomene in einem ganz bestimmten Systemraum zu verorten, gibt es noch nicht. Alle Dinge erscheinen als eigenständige Größen in einem Aggregatraum, in dem sie eher additiv und selbstständig als konstruktiv und abhängig voneinander in Erscheinung treten. Im Zusammenhang mit der ottonischen Malerei des Mittelalters spricht Wolfgang Schöne sogar davon, dass sich die dargestellten Dinge durch ein „Eigenlicht“ auszeichneten, das dann im Sinne eines „Sendelichts“ vom abgebildeten Gegenstand auf den Betrachter ausstrahle. Diese These trifft sicherlich auch für die Ikonenmalerei zu. Im Gegensatz dazu gebe es bei den Bildern in der Renaissance dann ein „Beleuchtungslicht“, das im Sinne eines „Zeigelichts“ die Dinge von einem ganz bestimmten Ort her erhelle. Während im malerischen Konzept des Eigenlichts die jeweiligen Farben als eigenständige Lokalfarben in Erscheinung träten, würden sie im Konzept des Beleuchtungslichts eher als eine Funktion der jeweiligen Lichtquelle verstanden.22 Diese neue Darstellungstechnik in der Renaissance impliziert, dass sowohl das Licht als auch die Farbe nicht mehr als natürlich gegebene Phänomene verstanden werden, sondern als zweckdienliche Mittel bzw. Zeichen, die methodisch für die Realisierung von bestimmten Darstellungs- bzw. Interpretationsabsichten eingesetzt werden. Licht und Farbe gehören so gesehen nicht mehr zur Natur der Dinge selbst, sondern werden zu Mitteln, mit denen der Maler die Dinge auf eine ganz bestimmte Weise in Erscheinung treten lassen kann und will. Die jeweilige Dingwahrnehmung wird auf diese Weise nicht nur zu einer Funktion des Sehepunktes in einem zentralperspektivischen Sinne, sondern auch zu einer Funktion der jeweiligen Lichtquelle und der jeweiligen Lichtart, da beide Faktoren bestimmen, mit welcher Schattenbildung und in welcher Farbqualität die Dinge zur Erscheinung kommen. Da das Licht als Zeigelicht verstanden wird,
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W. Schöne, Über das Licht in der Malerei, 1954, S. 12 ff., 82.
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bekommt es auf diese Weise gleichsam auch die Funktion eines Zeigefensters, das uns einzelne Wahrnehmungsinhalte in einer ganz spezifischen Wahrnehmungsperspektive ins Blickfeld bringt bzw. in einem ganz bestimmten Wahrnehmungsrahmen. Als Zeigelicht ist das Licht nicht nur ein bloßes Erhellungslicht, sondern immer auch ein bestimmtes Interpretationslicht, das die Dinge einer ganz bestimmten Darstellungs- bzw. Wahrnehmungsperspektive unterwirft. Nun darf allerdings auch nicht vergessen werden, dass die perspektivierende Gestaltungsfunktion des Lichts in Bildern noch eine weitere Konsequenz hat, die in einem fast gegenläufigen Sinne verstanden werden kann, insofern man auf diese Weise natürlich auch die Individualität der einzelnen Dinge hervorheben kann. Während das unpositionierte Erhellungslicht in Bildern alle Bemühungen unterstützt, den allgemeinen Typus oder das überzeitliche Wesen der Dinge hervorzuheben bzw. ihre begrifflich fassbare Substanz, fördert das spezifisch positionierte Zeigelicht alle Bemühungen, den besonderen Stellenwert oder die spezifische Rollenfunktion der Dinge in einer Konstellation von Dingen herauszustellen. Es hilft dabei, eine konkrete individuelle Wahrnehmungssituation zu konstituieren und nicht eine ahistorische Erkenntnissituation, in der gleichsam mit Hilfe eines abstrakten allgemeinen Erhellungslichts ein Blick von nirgendwo auf die jeweiligen Dinge gerichtet wird. Nur dort, wo es in Bildern ein spezifisches Zeigelicht gibt und nicht nur ein abstraktes Erhellungslicht, entsteht auch eine spezifische Schattenbildung und Dingindividualität. Deshalb ist im neuzeitlichen Denken die Existenz eines Schattens auch nicht nur als ein Hinweis auf eine bestimmte Lichtquelle verstanden worden, sondern immer auch als ein Garant für die besondere Individualität oder gar Realität von Dingen. Das exemplifiziert die Geschichte von Peter Schlemihl und seinem verkauften Schatten sehr deutlich. Wenn in einem Bild mehrere Lichtquellen bzw. Zeigelichte vorhanden sind, dann ergibt sich in ihm natürlich auch eine spezifische Systemspannung. Diese ist vergleichbar mit der Systemspannung, die dann entsteht, wenn derselbe Gegenstand bzw. dieselbe Konstellation von Dingen perspektivisch nicht von einem, sondern von mehreren Sehepunkten her dargestellt wird. Das ist merkwürdigerweise sowohl in der altägyptischen Malerei als auch bei Picasso der Fall. Leonardo da Vinci hat bei seinen Überlegungen zur Malerei und Perspektive ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass ein Gemälde im Gegensatz zu einer Statue sein eigenes Licht und seine eigene Schattenbildung habe. Deshalb lasse sich in den Werken der Malerei im Gegensatz zu denen der Bildhauerei auch sehr viel leichter eine eigenständige besondere Welt konstituieren. Während eine Skulptur für den Betrachter je nach seinem eigenen Standort bzw. Sehepunkt und je nach den aktuellen Lichtverhältnissen als konkretes Erscheinungsbild immer ganz anders in Erscheinung treten könne, gebe es für das in einem Gemälde Dargestellte immer ein gleichbleibendes
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Erscheinungsbild, wenn es ein zureichendes allgemeines Wahrnehmungslicht gebe.23
Die Sprache als Zeigelicht Ebenso wie sich das Licht als eine konstitutive Grundbedingung für das biologische Leben verstehen lässt, so lässt sich auch die Sprache als eine konstitutive Grundbedingung für das geistige Leben verstehen. Ebenso wie ein Übermaß an Licht das biologische Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag, so kann auch ein Übermaß an Versprachlichung bzw. eine zu einseitige Nutzung der Sprache das geistige Leben gefährden oder negativ beeinflussen. Worin besteht nun die produktive, aber auch zerstörerische Wirkung der Sprache? Wie präformieren Licht und Sprache unsere Wahrnehmungen? Cassirer hat postuliert, dass die Sprache wie auch andere symbolische Formen eine besondere Art des Sehens sei, die „ihre eigene Lichtquelle in sich birgt.“24 Wenn man diese These ernst nimmt, dann muss man auch anerkennen, dass die Sprache nicht nur als ein allgemeines Erhellungslicht für die Welt anzusehen ist, sondern darüber hinaus auch als ein spezifisches Zeigelicht, mit dem sich die jeweiligen Sprachverwender ihre Wahrnehmungsobjekte auf ganz besondere Weise beleuchten bzw. wahrnehmbar machen können. Humboldt hat daher auch die Auffassung vertreten, dass „die Sprache der grosse Uebergangspunkt von der Subjectivität zur Objectivität“ sei.25 Wie lässt sich nun begründen, dass die Sprache sowohl als allgemeines Erhellungslicht als auch als spezifisches Zeigelicht bei der Wahrnehmung von Welt dienen kann? Zunächst kann man in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass der menschliche neurologische Apparat als eine Art dauerhaftes Erhellungslicht für Wahrnehmungsprozesse anzusehen ist, der sich beispielsweise von dem anderer Lebewesen deutlich unterscheidet. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder, die nicht beizeiten an den Gebrauch von Sprache bzw. etwas allgemeiner formuliert an den Gebrauch von intersubjektiv verständlichen Zeichen gewöhnt werden, immer auch irreversibel in ihren kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt werden, weil sich ihre Neuronen nicht zureichend für differenzierte geistige Prozesse synaptisch vernetzen. Ohne einen differenzierten Spracherwerb bzw. Zeichenerwerb in den ersten Lebensjahren wird ein differenziertes und flexibles Wahrnehmen und Denken unmöglich, was die Erfahrungen mit den sogenannten Wolfskindern schlagend beweisen.26
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Vgl. Leonardo da Vinci, Der Denker, Forscher und Poet, 1904, S. 134. E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 19765, S. 81–82. 25 W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium ..., Werke Bd. 3, S.18. 26 Vgl. dazu W. Köller, Das Sprachexperiment von Psammetichos, in: W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 134 ff. 24
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Weiterhin ist festzuhalten, dass das Inventar von konventionalisierten lexikalischen, grammatischen und textuellen Sprachmustern als eine Schatztruhe vorgetaner Erkenntnisarbeit zu werten ist bzw. als ein Potenzial von Zeigelicht, das dafür verwendet werden kann, bestimmte Phänomene bzw. bestimmte Aspekte von Phänomenen in Wahrnehmungsprozessen zu erhellen und damit wahrnehmbar zu machen. Jede Einzelsprache hat andere Formen solcher Zeigelichter entwickelt. Wenn wir sprachliche Formen verwenden, dann binden wir unsere Wahrnehmung zunächst einmal an den Lichtkegel, der mit ihnen traditionell verbunden ist. Wenn eine Sprache wie etwa das Schwedische lexikalisch nicht zwischen Blume und Blüte unterscheidet und nur mit dem Einheitsbegriff blomma arbeitet, dann wird dieser Objektbereich in einem anderen Zeigelicht wahrgenommen als in Sprachen, die diese Unterscheidungen in ihrem Vokabular konventionell verfestigt haben. Entsprechendes gilt für die vielfältigen Bezeichnungen für Kamele bei Wüstenbewohnern und für die vielfältigen Bezeichnungen für Schnee bei Eskimos und Schifahrern. Das spezifische Wahrnehmungslicht, das mit konventionalisierten einzelnen Sprachformen verbunden ist, ist nicht nur als ein Zeigelicht für Oberflächenstrukturen zu verstehen, sondern durchaus auch als ein Zeigelicht für Tiefenstrukturen und ist insofern dann auch vergleichbar mit der Funktion von Röntgenstrahlen. Unsere abstrakten Begriffe Mut, Gerechtigkeit, oder Schönheit repräsentieren ein Zeigelicht, das als Erkenntnislicht zu verstehen ist, um verdeckte Ähnlichkeiten zwischen empirisch sehr unterschiedlichen Phänomenen zu erfassen. Ob das Zeigelicht von abstrakten Begriffen dann wirklich ein Erkenntnislicht ist oder möglicherweise nur ein Illusions-, Ideologie- oder Verwirrungslicht, ist dann allerdings noch eine ganz andere Frage. Das Verständnis von sprachlichen Formen als Manifestationsweisen eines Zeigelichts braucht nicht nur auf den Langue-Aspekt der Sprache beschränkt zu werden, sondern lässt sich auch auf den Parole-Aspekt ausweiten. Konkrete Texte lassen sich dann durchaus als Bilder verstehen, in die eigene Lichtquellen integriert sind, welche das jeweils Thematisierte nicht nur in einem ganz spezifischen Beleuchtungs- bzw. Zeigelicht erscheinen lassen, sondern mit denen auch noch sehr spezifische Schatten- und Reliefbildungen erzeugt werden können. Das wird z. B. deutlich, wenn wir Interesse an dem individuellen Stil eines Autors entwickeln. Bühler hat deswegen im Anschluss an Leonardo da Vincis Überlegungen zu der Lichtautonomie von Gemälden auf die semantische Autonomie von Sätzen in Opposition zu der Kontextbedürftigkeit von einzelnen Wörtern verwiesen.27 Aus der von ihm postulierten Analogie lassen sich für die hier diskutierte Problematik folgende Überlegungen ableiten. Einzelne Wörter lassen sich in unterschiedlichen Äußerungssituationen und in unterschiedlichen syntaktischen Einbindungen aspektuell bzw. semantisch ebenso unterschiedlich wahrnehmen wie einzelne Skulpturen in unter-
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Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 371.
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schiedlichen Räumen und Beleuchtungssituationen. In Sätzen bekommen dagegen einzelne Wörter nicht nur spezifische Satzgliedrollen zugewiesen, sondern auch ganz bestimmte Sinnbildungsrollen. Wie ein Maler in seinen Gemälden einzelne Dinge in einem bestimmten Zeigelicht erscheinen lassen kann, so kann auch ein Sprecher in seiner Rede die einzelnen Wörter in einer ganz bestimmten syntaktischen Sinnbildungsfunktion erscheinen lassen. Ebenso wie wir für die Wahrnehmung von Dingen in einem Gemälde ein allgemeines Erhellungslicht benötigen und darüber hinaus meist auch noch ein bestimmtes bildimmanentes Zeigelicht, so benötigen wir auch für die Wahrnehmung von Einzelinhalten in einem Satz ein allgemeines und ein satz- bzw. äußerungsspezifisches Sprachverständnis. Eine einzelne Skulptur kann in unterschiedlichen Blickwinkeln und in unterschiedlichen Beleuchtungen für den jeweiligen Betrachter als eine je andere in Erscheinung treten, obwohl sie doch faktisch immer mit sich selbst identisch bleibt. Ebenso kann ein Wort der natürlichen Sprache in unterschiedlichen situativen und sprachlichen Zusammenhängen ein je unterschiedliches semantisches Sinnprofil bekommen, obwohl es als Lautgestalt doch immer mit sich selbst identisch bleibt. So kann beispielsweise das Wort Pferd, ganz isoliert betrachtet, als eine Bezeichnung für einen allgemeinen Begriff, für eine bestimmte Tierart oder für ein individuelles Lebewesen verstanden werden. In Sätzen bekommt es dagegen immer ein ganz spezifisches semantische Relief bzw. einen ganz bestimmten referenziellen Bezug (Jede Sprache hat eine andere Bezeichnung für das Pferd. Das Pferd ist ein Säugetier. Dieses Pferd heißt Halla.). Die These, dass es in Sätzen und Texten ein immanentes sprachliches Beleuchtungs- bzw. Zeigelicht gibt, trifft insbesondere auf schriftlich fixierte Texte zu, in denen nach Wygotski alles „bis zu Ende gesagt werden“ muss.28 Solche Texte sind deshalb auch relativ unabhängig von einer zusätzlichen äußeren Beleuchtung durch Situation, Gestik und Mimik. Das zeigt, dass das Problem der sprachlichen Beleuchtung auch noch auf eine andere Ebene der sprachlichen Textbildung bezogen werden kann. Wenn wir außerdem in Betracht ziehen, dass jede sprachliche Äußerung im Prinzip auch als eine sprachliche Handlung bzw. als ein Sprechakt zu bewerten ist, durch den ein sprachlich objektivierter Sachverhalt beispielsweise als eine Existenzbehauptung, als eine Warnung, als eine Voraussage, als eine Vermutung usw. qualifiziert werden kann, dann lassen sich solche Sprechakte auch als Erscheinungsformen eines sprachlichen Zeigelichts verstehen. Durch dieses Zeigelicht kann dann insbesondere auf die pragmatische Funktion einer Sachaussage aufmerksam gemacht werden. Wenn wir dieses Zeigelicht einer Äußerung nicht oder anders wahrnehmen, dann gelingt die jeweilige Sprechhandlung nicht, weil wir dann etwas in einer Weise wahrnehmen, wie es der Sprecher nicht wahrgenommen haben wollte.
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L.S. Wygotski, Denken und Sprechen 19712, S. 228.
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Ein solches Zeigelicht kann sich explizit in Form von metasprachlichen Aussagen konkretisieren. In der Regel ergibt es sich aber aus der spezifischen Nutzung bestimmter sprachlicher oder nicht-sprachlicher Zeichen. Beispielsweise kann es sich in Form von paraverbalen Intonationszeichen konkretisieren, die Äußerungen metainformativ als Sachaussagen, als Fragen oder als Ausrufe qualifizieren. Es kann sich Form von Tempuszeichen bemerkbar machen, die Äußerungen als Erzählungen (Präteritum) als Behauptungen (Perfekt) oder als Voraussagen (Futur) kennzeichnen. Es kann in Form von Moduszeichen in Erscheinung treten, die Äußerungen als vermittelte Reden oder als Hypothesen (Konjunktiv) bestimmen. Es kann sich in Form von Modalwörtern (vermutlich, hoffentlich) konkretisieren, die verdeckten Kommentaren des Sprechers zu seinen Aussagen Ausdruck geben, oder in Form von Abtönungspartikeln (doch, wohl, bloß), die verdeutlichen, dass Aussagen die Funktion von Behauptungen, Vermutungen oder Erläuterungen haben. All diese sprachlichen bzw. stilistischen Mittel sind dazu bestimmt, sprachlich objektivierte Vorstellungsinhalte so zu beleuchten, dass man neben ihrem sachlichen Inhalt auch noch ihre spezifische pragmatische Funktion bzw. ihren semantischen Sinn in der jeweiligen Äußerungssituation erfassen kann. Ebenso wie in Gemälden die integrierten Lichtquellen dazu bestimmt sind, den spezifischen Stellenwert von Gegenständen in einer bestimmten Konstellation von Gegenständen zu kennzeichnen, so sind auch solche metainformativen Zeichen dazu bestimmt, den spezifischen Stellenwert von begrifflichen Basisinformationen in einer komplexen Sinngestalt zu qualifizieren.29 Georg Wezel hat schon im 18. Jahrhundert festgestellt, dass im Deutschen insbesondere in der dialogischen Sprachverwendung im Gegensatz zum Französischen sehr viel mehr Gebrauch davon gemacht wird, Sachverhalte durch die Verwendung von bestimmten Abtönungspartikeln in ein spezifisches Wahrnehmungs- bzw. Zeigelicht zu setzen. Die Disqualifizierung von Modalpartikeln als Läuse im Pelz der Sprache, die in der normativen Stilistik vielfach anzutreffen ist, liegt ihm daher ganz fern. „All diese und andere Pinseldrücke des Gedankens, wenn ich sie so nennen darf, giebt der Franzose in der Deklamation klar durch den Ton an: mit Worten kan er nicht die mindeste Schattirung des Gedankens ausdrücken, und Lesern unter uns, die das nicht gewohnt sind, kommt der französische Dialog meistens etwas kahl vor, weil sie immer die Ideen nur gerade hin gesagt finden, ohne die geringste Anzeige, mit welchem Ton man die Worte deklamiren soll. Die kleinen Wörterchen, am gehörigen Orte gebraucht, sind eine großer Vorzug der teutschen Sprache: man erinnere sich nur, wie viel Schattirungen wir dem Ausdruck allein durch ‚ja’ geben können.“30
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Das Problem des sprachlichen Beleuchtungs- bzw. Zeigelichts lässt sich auch als Perspektivierungsproblem analysieren. Vgl. dazu W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 309 ff. 30 J. C. Wezel, Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen. Kritische Schriften, Bd. 3, 1781/1995, S. 260.
XII Die Sprache als Spiel Die Thematisierung der Sprache als Spiel relativiert in manchen Hinsichten den Erklärungsanspruch von einigen der bisher thematisierten Sinnbilder. Mit dem Sinnbild des Spiels wird insbesondere der Geltungsanspruch derjenigen Sinnbilder für Sprache eingeschränkt, die das Phänomen Sprache primär mit der Vorstellung der Repräsentation und Speicherung eines vorgegebenen Wissens in Verbindung bringen bzw. mit allen Arten von Seh- und Erkenntnisvorgängen, die dazu dienen sollen, Tatbestände aus der Außenwelt als faktisch verfügbares Wissen in die Innenwelt des Menschen zu bringen. Der Spielgedanke macht stattdessen darauf aufmerksam, dass die Sprache nicht nur mit dem Begriff der Wahrnehmung und des Wissens in Verbindung zu bringen ist, sondern auch mit dem des Könnens und des Gestaltens. Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhang sogar die These rechtfertigen, dass das, was wir Wissen nennen, seine eigentliche Form erst dann findet, wenn es auch in Handlungen fruchtbar gemacht wird und damit dann als Teilaspekt eines bestimmten Könnens in Erscheinung tritt. Das Sinnbild des Spiels eignet sich weniger gut dazu, die Sprache in einer kontemplativen Wahrnehmungshaltung als einen fest vorgegebenen Sachbereich kognitiv zu erfassen, sondern eher dazu, dieses Phänomen über einen sinnvollen Gebrauch bzw. über konkrete Prozesse des kognitiven und kommunikativen Handelns kennenzulernen. Das Sinnbild des Spiels hat den großen Vorteil, dass die Sprache weniger als ein Abbildungs- oder Erkenntnismedium in den Mittelpunkt unseres Interesses rückt, sondern eher als ein Sozialphänomen, über das wir uns vor allem die Handlungsimplikationen unserer Wissensbildung und unseres Wissens verständlich machen können. Dadurch wird uns die Sprache als ein Phänomen fassbar, über das wir einerseits unser individuelles Gestaltungsvermögen kennenlernen können, insofern sie uns dazu auffordert, unsere Erfahrungen zu strukturieren und umzustrukturieren, und über das wir andererseits auch in soziale Verbände hineinwachsen können, insofern sie uns dazu anregt, in intersubjektiv verständliche Sinnbildungsprozesse einzutreten und in diesen mitzuspielen. Dadurch tritt die Sprache recht deutlich als eine fundamentale Grundlage sozialer Existenz und Interaktion in Erscheinung. Unter diesen Umständen hat man dann das Erlernen einer Sprache auch nicht nur als einen Prozess des Erlernens und Anwendens von Zeichen und Regeln im sozialen Raum zu verstehen, sondern darüber hinaus immer auch als einen Prozess der Ausbildung und Variation von Zeichen und Regeln. Wenn man in dieser Weise versucht, sich die Sprache über den dialogischen Sprachgebrauch zu objektivieren bzw. über den sinnvollen Gebrauch von
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sprachlichen Zeichen in Interaktionsprozessen mit anderen Menschen und mit der Welt, dann wird sie uns auf eine Weise sichtbar, die sich recht deutlich von der unterscheidet, die uns insbesondere die Sinnbilder Speicher, Spiegel oder Fenster eröffnen. Gleichwohl ist aber zu beachten, dass auch diese Sinnbilder gewisse Handlungsimplikationen haben, da sie ja durchaus Bestandteile von menschlichen Handlungsprozessen sein können. Mit Interaktionsvorstellungen hat sich die traditionelle Sprachtheorie meist schwer getan, da sie die Sprache eher mit dem Repräsentations- als mit dem Handlungsgedanken in Verbindung bringen möchte. Viel leichter haben sich diesbezüglich pragmatisch orientierte Sprachtheorien getan oder gar der faktische Sprachgebrauch selbst. In diesem hat man nämlich die Phänomene Spiel und Sprache immer wieder ganz selbstverständlich miteinander in Verbindung gebracht. Das dokumentieren schon die die gängigen Komposita Sprachspiel, Wortspiel oder Hörspiel, die man heute wohl kaum noch als Metaphern, sondern eher als Begriffe zu verstehen hat. Gleichwohl wird man nicht leugnen können, dass die Phänomene Sprache und Spiel recht unterschiedliche Phänomene sind, die trotz bestimmter Ähnlichkeiten auch erhebliche Unterschiede zueinander aufweisen. Aber gerade aus dieser spannungsreichen Ähnlichkeit und Differenz ergibt sich die Chance, beide Phänomene wechselseitig als Sinnbilder füreinander in Anspruch zu nehmen, insofern sie uns dabei helfen können, unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Einzelaspekte von ihnen zu konzentrieren. Die Erschließung der Sprache mit Hilfe unserer Spielvorstellungen und Spielerfahrungen ist allerdings mindestens drei recht unterschiedlichen Gefährdungen ausgesetzt. Zum Ersten besteht die Gefahr, dass wir über dem Interesse an den Ähnlichkeiten zwischen beiden Phänomenen die Differenzen zwischen ihnen vergessen, weil wir unser Erkenntnisinteresse ganz ähnlich wie bei der Nutzung anderer Sinnbilder oft eher kategorial oder identifikatorisch als heuristisch akzentuieren. Zum Zweiten besteht die Gefahr, dass wir das Spiel anthropologisch nicht ernst genug nehmen und es als eine Erscheinung aus der Kinderwelt betrachten, die in der Erwachsenenwelt nur ein randständiges Existenzrecht hat. Zum Dritten besteht die Gefahr, dass wir uns in unserem Denken nur von einem einzigen Spielkonzept leiten lassen und dabei dann die funktionale Mehrdimensionalität des Spielens aus den Augen verlieren. Um diesen Gefährdungen zu begegnen und um die heuristische Kraft des Spielgedankens nicht zu verkürzen, werden die folgenden Überlegungen folgendermaßen strukturiert. Zunächst soll in drei Kapiteln auf die Grundlagen unseres Verständnisses von Spielen, auf die elementaren Strukturaspekte von Spielen sowie auf die anthropologischen Implikationen von Spielen näher eingegangen werden. Dann soll das Sprachspielkonzept Wittgensteins näher betrachtet werden, in dem ja die Phänomene Sprache und Spiel direkt miteinander verknüpft worden sind. Schließlich soll nach den konkreten Erscheinungsformen von Sprachspielen gefragt werden, wobei dann auch exemplarisch auf einzelne Sprachspielformen näher eingegangen werden wird. Insgesamt kann man sich vielleicht bei der Wertschätzung von Spielen an folgender
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These Nietzsches orientieren: „Ich kenne keine andre Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das S p i e l.“ 1
1. Die Grundlagen unseres Spielverständnisses Das Spiel ist sicherlich ein sehr komplexes mehrdimensionales Phänomen von großer anthropologischer Relevanz, das kaum auf einen übersichtlichen und konsistenten Begriff zu bringen ist. Deshalb spricht viel für die These Wittgensteins, dass die verschiedenen Spielformen keinen gemeinsamen Wesenskern mit stabilen konstitutiven Merkmalen haben, sondern eher eine variable Familienähnlichkeit, die darin besteht, dass nicht alle Familienmitglieder dieselben Merkmale besitzen, dass sie aber über eine bestimmte Menge von sich kreuzenden und übergreifenden Merkmalen alle miteinander verbunden sind.2 Für die Wahrnehmung der verschiedenen Aspekte der Familienähnlichkeit unter Spielen kann die Phänomenologie gute Dienste leisten. Allerdings ist diese dann wie schon erwähnt nicht als Seinslehre, sondern als Methodenlehre zu verstehen, die sich vor allem dafür interessiert, in welchem Wahrnehmungsrahmen bestimmte Phänomene für uns konkret in Erscheinung treten. Bei einer Phänomenologie des Spiels geht es deshalb primär auch nicht darum, einen allgemein akzeptablen Begriff des Spiels zu entwickeln, sondern eher darum, fruchtbare Wahrnehmungsperspektiven für Spiele zu entwickeln und die spezifischen Bezüge von Spielen zur menschlichen Lebenswelt zu klären. Wenn wir auf diese Weise eine Gegenstandserkenntnis von Spielen über die Wahrnehmungserkenntnis von ihnen anstreben, dann kommt es darauf an, sowohl die zentralen als auch die peripheren Strukturmerkmale von Spielen zu erfassen, um sich auf diese Weise ein Typuswissen von Spielen zu erarbeiten. Deshalb haben wir dann auch danach zu fragen, in welchem praktischen und theoretischen Rahmen wir überhaupt Erfahrungen von Spielen machen können. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es nützlich, danach zu fragen, wie wir über das Spielen reden, auf welchen Fundamenten es beruht und welche Entwicklungsgeschichte es gehabt hat. Die Antworten auf diese Fragen können uns dabei helfen, die entscheidenden Analogien zwischen dem Spielen und dem Sprechen bzw. zwischen Spiel und Sprache in den Blick zu bekommen.
Die sprachlichen Objektivierungsweisen des Spielphänomens Die Antwort auf die Frage danach, wie wir uns das Phänomen Spiel sprachlich objektivieren bzw. wie wir über das Spielen reden, gibt uns erste Hinweise
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F. Nietzsche, Ecce Homo, Werke, Bd. 2, S. 1097. Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 66, 67, 1967, S. 48.
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darauf, wie dieses Phänomen mit der menschlichen Lebenswelt vernetzt ist. Unsere Wörter und Aussagen über diesen Gegenstandsbereich erzählen uns immer auch kleine Geschichten über die Ursprünge des Spielens und über die Kontexte, in denen wir Spiele erleben. Dabei wird dann schnell klar, dass wir unseren Spielbegriff bzw. unsere Spielvorstellung kaum aus einer platonischen Idee des Spiels ableiten können, sondern eher aus dem Wunsch, die vielfältigen Möglichkeiten des Spielens idealtypisch zu ordnen. Sicher ist einzuräumen, dass bei der Klärung unserer Spielvorstellung die Frage, wie wir über das Spielen reden, nicht von so elementarer Relevanz ist wie die Frage danach, was wir tun, wenn wir spielen, insofern jede sprachliche Objektivierung von Spielphänomenen schon eine kulturelle Interpretation des Spielgeschehens beinhaltet. Dennoch ist dieser Ansatz fruchtbar, um anthropologisch wichtige Aspekte der Spielproblematik in den Blick zu bekommen. Die etymologische Herkunft des Wortes Spiel ist unbekannt. Es lässt sich aber nachweisen, dass das Substantiv Spiel ursprünglich so viel wie Tanz und Bewegung bedeutet hat und das Verb spielen so viel wie hin und herbewegen. Dieser Tatbestand zeigt, dass ursprünglich die Vorstellung der Dynamik konstitutiv für den Spielgedanken gewesen ist, sei des die Dynamik von Hin und Her, von Anziehung und Abstoßung oder von Gestaltbildung und Gestaltwandel. Das bedeutet, dass die Vorstellung von Strukturierungsprozessen offenbar immer ganz zentral für das Verständnis des Spielgedankens gewesen ist. Die große Offenheit unserer Spielvorstellung bzw. die Akzentuierung der Eigendynamik des Spielgeschehens zeigt sich auch darin, dass wir das Verb spielen weitgehend als intransitives Vorgangsverb verwenden ganz ähnlich wie die Verben leuchten, strömen oder fliegen. Selbst wenn wir das Verb spielen mit einem Präpositionalobjekt verbinden (Das Kind spielt mit dem Ball. Der Wind spielt mit den Blättern.) oder mit einer adverbialen Bestimmung (Das Kind spielt auf der Wiese/mit Hingabe.) bleiben verlaufsorientierte Vorgangsvorstellungen dominanter als zielgerichtete Handlungsvorstellungen. Intransitive Spielvorstellungen kommen indirekt auch in den nichtprädikativen syntaktischen Korrelationen des Spielbegriffs zum Ausdruck (Das Spiel der Wellen; Wasserspiele; Spielzeug). Wenn wir das Spielgeschehen als ein intransitives Vorgangsphänomen wahrnehmen und nicht als ein transitives Handlungsphänomen, das auf die Hervorbringung oder die Veränderung von Gegenständen ausgerichtet ist, dann tritt auch der Gedanke in den Hintergrund, dass Spiele unbedingt ein Regelwerk benötigten, dass Spiele einem bestimmten Zweck zu dienen hätten oder dass Subjekte Spiele planvoll gestalten müssten. Daraus lässt sich dann auch folgern, dass man den Sinn eines Spiels keineswegs aus Zwecken ableiten muss, die außerhalb seiner Verlaufsgestalt selbst liegen. Offenbar bekommt das Spielen in unserem elementaren Verständnis seinen Wert eher aus dem mit ihm verbundenen Strukturierungsgeschehen und aus seiner Eigendynamik als aus seinem konkreten Ergebnis. Das schließt bestimmte Zielorientierungen sowie Funktions- und Sinnbezüge des Spiels nach außen nicht aus, gibt diesen aber nicht unbedingt einen konstitutiven Stellenwert.
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Wenn man das Spiel in dieser Perspektive sieht, dann verselbständigt sich das Spielgeschehen zu einem fast autonomen Vorgang, bei dem die Frage nach dem spielbestimmenden Handlungssubjekt fast überflüssig wird oder zumindest zweitrangig. Ebenso wie der Wind weht und der Blitz blitzt, so spielt sich auch das Spiel möglicherweise immer irgendwie selbst. So betrachtet machen die Spieler dann nicht unbedingt das Spiel, sondern das Spiel macht möglicherweise erst die Spieler. „Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zu Darstellung.“ 3 Die fast mythische Vorstellung, dass das Spiel eine eigene Größe sei, die die Menschen als Spieler in ihre Dienste nimmt, wird durch den transitiven Gebrauch des Verbs spielen etwas variiert (Der Stürmer spielt den Ball ins Tor. Er spielt den Narren.). Der transitive Gebrauch des Verbs repräsentiert eine kulturelle Entwicklung, die zeigt, dass man den Vorgang des Spielens immer stärker bestimmten Zielen und Regularitäten unterworfen hat. Das führte dann nicht nur dazu, dass verschiedene Spieltypen entstanden sind (Kampfspiele, Gesellschaftsspiele, Unterhaltungsspiele), sondern auch dazu, dass den Spielern unterschiedliche Funktionsrollen zugewachsen sind, die wiederum durch bestimmte Handlungsbindungen und Handlungsfreiheiten bestimmt waren. Dadurch konnten Spieler in einem bestimmten Rahmen dann auch zu Subjekten des jeweiligen Spielgeschehens werden, die nicht nur an bestimmten Spielvorgängen teilnehmen, sondern diese auch intentional gestalten. Obwohl sich in dieser Entwicklung zeigt, dass Kausalketten eine immer größere Bedeutung für das Spielgeschehen bekommen haben, ist das Phänomen Zufall auch weiterhin ein ganz wesentlicher Faktor des Spielens geblieben, ohne den Spielvorgänge ihren immanenten Reiz verlieren. Spieler können im Rahmen eines bestimmten Regelwerks zweckorientiert handeln, aber das heißt nicht, dass sie die Herren der Spielwelt sind. Sie müssen sich beim Spielen der Tücke der Objekte und des Widerstands von Partnern stellen und erproben, wie sie ihre Aktivitäten im Rahmen des jeweiligen Regelwerks optimal organisieren können. Den Spielern werden durch die jeweiligen Regeln Grenzen gesetzt, aber sie werden dadurch zugleich auch dazu angeregt, die jeweils eröffneten Spielräume kreativ zu nutzen. Einerseits müssen sie sich in die Welt des Spiels einlassen und werden dann auch von dieser Spielwelt getragen, aber andererseits müssen sie dieser Welt auch eine konkrete Gestalt geben und sie über die Realisierung von bestimmten Spielzügen zu beherrschen versuchen. Auf jeden Fall kommt es immer zu einer Involvierung des Spielers ins Spiel, sei es nun in einem eher passiven oder eher aktiven Sinne. Das Verhältnis von Spiel und Spielern gleicht in vielen Hinsichten dem von Sprache und Sprechern. Auch das Verb sprechen können wir sowohl intransitiv (Er spricht frei.) als auch transitiv (Er spricht ein Gebet.) gebrauchen. Auch die Sprache können wir als eine Größe verstehen, die ihre Sprecher in
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H.- G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 19652, S. 98.
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Dienst nimmt oder die von ihren Sprechern in Dienst genommen wird. Ebenso wie die Struktur des Spiels einen Spieler tragen und zu von ihm ungeahnten Leistungen führen kann, so kann auch die Struktur der Sprache einen Sprecher inspirieren und zu etwas tragen, was er zunächst gar nicht intendiert hat. Kleist hat dieses Strukturverhältnis in einem Aufsatz eindrucksvoll dargestellt. „Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.“4 Ebenso wie sich das Spielen kulturhistorisch von einem relativ ungebundenen Strukturierungs- zu einem geregelten sozialen Interaktionsgeschehen fortentwickelt hat, so auch das Sprechen. Deshalb haben dann auch die Begriffe Spiel und Sprache als abstrakte zusammenfassende Begriffe für die Struktur von Spiel- und Sprechvorgängen einen so vielschichtigen Sinn. Wie nachhaltig Spielvorstellungen in die Begriffsbildungsprozesse unserer Sprache eingedrungen sind, dokumentiert sich in unseren Kompositabildungen, in denen der Spielbegriff sowohl als Grund- als auch als Bestimmungsbegriff in Erscheinung treten kann. Wenn er als Grundbegriff verwendet wird, dann kann er auf vielfältige Weise durch Bestimmungsbegriffe ausdifferenziert werden, die sich auf sehr unterschiedliche Spielfunktionen (Kampfspiel, Lustspiel), Spielmittel (Kartenspiel, Wortspiel) oder Spielwertungen (Falschspiel, Glücksspiel) beziehen können. Wenn der Spielbegriff als Bestimmungsbegriff verwendet wird, dann kann er zur attributiven Präzisierung von unterschiedlichen Sachverhalten eingesetzt werden (Spielzeug, Spielhölle, Spielbein). Aufschlussreich für die Bandbreite des Phänomens Spiel ist auch das Vokabular, mit dem in den einzelnen Sprachen dieser Gegenstandsbereich begrifflich aufgegliedert wird. Im Lateinischen kann das Substantiv ludus beispielsweise Spiel, Scherz, Spaß, Wettkampf, Schauspiel, Kinderspiel oder gar Schule bedeuten und das Verb ludere so viel wie spielen, tanzen, scherzen oder körperliche Übungen betreiben. Im Deutschen erfasst das Wort Spiel das ganze Spektrum von Spielvorgängen von freien Strukturierungsspielen mit Bauklötzen oder Gedanken bis zu Wettkampfspielen mit einem festen Regelwerk, das allerdings auch immer Gestaltungs- und Überraschungsmöglichkeiten Raum geben muss. Im Französischen wird das Phänomen Spiel mit dem Wort jeu bezeichnet, das etymologisch auf das lateinische Wort iocus zurückgeht, welches so viel wie Scherz oder Witz bedeutet. Es hat ein ähnlich weites Anwendungsfeld wie das deutsche Wort Spiel, obwohl es bei Spielen vielleicht das Überraschungsmoment stärker hervorhebt als das Bewegungselement. Im Englischen werden offene Strukturierungsspiele mit einer vielschichtigen Dynamik als plays und geregelte Wettkampfspiele als games bezeichnet. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass die spielerischen Aktivitäten in einem play ganz anders organisiert sind als in einem game ist wohl auch, dass das engli-
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H. von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 19622, S. 322.
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sche Verb to play stammverwandt mit dem deutschen Verb pflegen ist, das ursprünglich so viel bedeutete wie sich einsetzen für oder sorgen für.5 Die Opposition von play und game, die sich im Schwedischen auch in der Opposition von lek und spel wiederfindet, hat im Deutschen keine lexikalische Entsprechung, was Vor- und Nachteile hat. Das deutsche Wort Spiel bezeichnet einen Begriff, der das ganze Spektrum des Spielens vom freien Gestalten und dem kreativen Umgang mit Widerständen bis zum zielgerichteten Handeln im Rahmen von Regelwerken umfasst. Dieser Tatbestand ist wichtig, wenn man z. B. an Wittgensteins einflussreichen Terminus Sprachspiel denkt, der im Englischen mit dem Terminus language game wiedergegeben wird. Während im Deutschen das spontane Verständnis des Wortes Sprachspiel vom freien Experimentieren mit Sprachformen bis zur geregelten Verwendung von Sprache in bestimmten Kommunikationssituationen und Textsorten reicht, ist im Englischen die Bedeutung des Terminus language game sehr viel deutlicher auf eine geregelte situations- oder textsortenspezifische Sprachverwendung hin orientiert. Deshalb wird im Englischen der deutsche Terminus Wortspiel dann auch mit play of/upon words wiedergegeben. Im Schwedischen wird er mit ordlek übersetzt, während der Wittgensteinsche Terminus Sprachspiel in Analogie zum Englischen mit språkspel wiedergegeben wird, einer Wortbildung, die der schwedischen Umgangssprache ganz fremd ist. Da das französische Wort jeu eine ähnlich Bandbreite wie das deutsche Wort Spiel hat, kann im Französischen der Terminus Sprachspiel dagegen problemlos mit jeu de langage übersetzt werden, ohne dass man dabei auf die sprachwissenschaftliche Differenzierung von langue und parole Rücksicht nehmen muss. Wie leicht wir im Deutschen das Spielgeschehen als eine von den Intentionen der Akteure fast losgelöste eigene Welt verstehen können, dokumentiert sich auch in den idiomatischen Wendungen, in denen das Wort Spiel auftaucht (ins Spiel finden, das Spiel verderben, aus dem Spiel lassen, seine Hand im Spiel haben usw.). Selbst wenn man die Spieler als Spielakteure betrachtet, wird in solchen Redewendungen das Spiel doch weitgehend als ein eigenes Universum verstanden, in das sich die Spieler integrieren müssen und in dem sie als Mitspieler wirken. Auf jeden Fall haben die Spieler in dieser Sicht ein Spiel nicht so in der Hand wie sie ihre Waffen und Werkzeuge in der Hand haben, weil sie sich beim Spielen auf vielerlei einstellen müssen (Spielmittel, Spielsituation, Mit- und Gegenspieler, Spielregeln, Spielstrategien usw.). Allerdings sind Spiele nicht nur als Mächte zu verstehen, die die Handlungsmöglichkeiten der Spieler einschränken, sondern auch als Freiräume, welche deren Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten ausweiten und inspirieren können. Wer in ein Spiel eintritt, wird zweifellos von diesem Spiel bestimmt, obwohl er gleichzeitig natürlich auch den Verlauf des jeweiligen Spiels bestimmt. Diese dialektischen Bezüge des Menschen zum Spiel machen
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Vgl. J. Huizinga, Homo ludens, 1972, S. 44.
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nicht zuletzt den Reiz von Spielen aus und ermöglichen es, Spiele als Modelle des Lebens zu verstehen. Wenn man nun danach fragt, inwiefern sich unsere generellen Vorstellungen von Spielen bzw. unsere spezifischen Vorstellungen von einzelnen Spieltypen dazu eignen, als Sinnbilder für Sprache in Anspruch genommen zu werden, dann lässt sich auf Folgendes aufmerksam machen. Ebenso wie sich unser Begriff des Spiels abstraktiv aus den Ähnlichkeiten der verschiedenen Formen des Spielens und den dabei wirksamen Faktoren abgeleitet hat, so hat sich auch unser Begriff der Sprache abstraktiv aus den Ähnlichkeiten des Gebrauchs verbaler Zeichen entwickelt. Wenn wir nun allerdings den Begriff des Spiels bzw. der Sprache allein aus den Regularitäten beim Spielen und Sprechen ableiten und dabei methodisch von den jeweiligen Rahmenbedingungen des Spielens, von der Spontaneität der Beteiligten und vom Zufall absehen, dann treten Spiele und Sprache aspektuell nur sehr verkürzt für uns in Erscheinung. Ein durch und durch geregeltes Spiel und eine durch und durch geregelte Sprache können für die Realisierung bestimmter Zwecke sehr effektiv sein, aber dennoch stellt sich die Frage, ob beide Phänomene unter diesen Bedingungen noch als grundlegende anthropologische Phänomene anzusehen sind. Es besteht dann nämlich die Gefahr, sowohl deren Naturwüchsigkeit und Komplexität aus den Augen zu verlieren als auch deren pragmatische Polyfunktionalität. In ein Spiel oder in den Gebrauch einer Sprache kann man nicht als jemand eintreten, der sich vollständig bestimmten Konventionen unterwirft, sondern immer nur als jemand, der sich bewusst dem Widerstand von Sachen, Gegenspielern und Regeln stellt bzw. der mit diesen Faktoren nicht nur operativ, sondern auch kreativ und spontan umzugehen weiß. Wie jedes Spiel eines Spielraumes bedarf, in dem es sich entfalten kann, so bedarf auch jede Sprache eines Gestaltungsraumes, in dem sie sich als intersubjektiv verständliches Sinnbildungsmittel bewähren kann. Wie es in einem lebendigen Spiel ein Anspielen, Zuspielen, Mitspielen und Vorspielen gibt, so gibt es auch in jedem lebendigen Sprachgebrauch ein Ansprechen, Zusprechen, Mitsprechen und Vorsprechen, dessen Formen und Funktionen durch Regeln nicht vollständig determiniert sind und determiniert werden dürfen. In beiden Bereichen haben Regelwerke nur dann einen Sinn, wenn sie Spielräume nicht nur abgrenzen, sondern auch eröffnen, weil sie ansonsten lebendige Interaktionsprozesse unmöglich machen oder sie zu bloßen Reiz- Reaktionsprozessen degenerieren lassen. Weder im Spiel noch in der Sprache dürfen sich Führung durch Regeln und Freiheit im Gebrauch von Regeln ausschließen. Vielmehr gehört die Gegenläufigkeit dieser Tendenzen zu den konstitutiven Grundlagen eines jeden lebendigen Spielens und Sprechens.
Die anthropologischen Fundamente des Spielens und Sprechens Die Frage nach den anthropologischen Fundamenten des Spielens lässt sich nur beantworten, wenn man seinen Spielbegriff nicht vorzeitig allzu sehr ein-
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engt. Ein sehr weiter Spielbegriff, der sehr unterschiedliche menschliche Aktivitäten umfasst, lenkt unsere Aufmerksamkeit natürlich auf andere Tatbestände als ein sehr eng gefasster. So ist es z. B. nicht unerheblich, ob wir das freie Spiel mit Steinen bzw. Bauklötzen oder das regelgeleitete Schachspiel als prototypisch für das Phänomen Spiel ansehen, weil je nach Wahl die Vorstellung der Spielorganisation eine ganz unterschiedliche Struktur bekommt. Dennoch ist es aber wichtig, danach zu fragen, ob es Kriterien gibt, die für alle Spieltypen oder Spielaktivitäten als wesentlich anzusehen sind. Die Frage nach den elementaren oder gar konstitutiven Merkmalen von Spielen darf sich nicht nur auf die direkt beobachtbaren Merkmale von Spielen beziehen wie etwa Spielziel, Spielmittel, Spielregeln oder Spielteilnehmer, sondern muss außerdem auch nicht direkt beobachtbare Antriebskräfte und Funktionen von Spielen ins Auge fassen. Diese sollen hier vorerst im Mittelpunkt des Interesses stehen. Dabei soll sich die Hauptaufmerksamkeit insbesondere auf die Frage nach den biologischen, psychologischen und sozialen Antriebskräften zum Spielen richten, weil sich dadurch Hinweise auf die kulturelle Genese und die kulturellen Entwicklungstendenzen von Spielen gewinnen lassen. Biologisch und physiologisch gesehen ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass alle Spiele aus einem Kraftüberschuss entstünden. Insbesondere Herbert Spencer hat schon 1855 ganz nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass alle Spiele im Prinzip aus einem „Überschuß an Kraft“ (surplus of vigour) resultierten, womit er sowohl körperliche als auch geistige Kräfte meinte.6 Dieser Denkansatz baut auf der Grundüberzeugung auf, dass Tiere wie Menschen motorische, sensorische und kognitive Kräfte besitzen, die weit über das hinausgehen, was für ihre unmittelbare Weltbewältigung eigentlich nötig ist. Diese überschüssigen Kräfte dringen natürlich auf Entladung und finden dann im Spiel ihr geeignetes und sozial akzeptiertes Aktionsfeld. Insbesondere im Jugendalter ist sowohl den Tieren als auch den Menschen die natürliche Tendenz zugeschrieben worden, nicht nur gegebene Schwierigkeiten zu bewältigen, sondern diese sogar zu erzeugen, um ihre motorischen, sensorischen und kognitiven Kräfte zu erproben und zu entfalten. Typische Beispiele dafür wären bei Kindern etwa das Hüpfen auf einem Bein, das Malen von Gegenständen oder das Ausdenken von Geschichten. Dementsprechend kann man dann auch die Freude an der Überwindung von Schwierigkeiten, die Integration von Gegenständen in die eigene Macht- und Handlungssphäre und die Assimilation von Dingen und Strukturen an die eigenen Handlungsmöglichkeiten als typische Beispiele für die Verwurzelung des Spielens in einem Kraftüberschuss unterschiedlicher Art ansehen bzw. als einen generellen Ausdruck von mentaler Jugendlichkeit und Schaffenskraft.
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H. Spencer, The principles of psychology, zitiert nach H. Scheuerl, Das Spiel, Bd. 2, Theorien des Spiels, 199111, S. 56.
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Aus diesen biologischen und physiologischen Fundamenten von Spielaktivitäten resultieren dann bestimmte psychologische Konsequenzen. Die Bewältigung von Schwierigkeiten und die Entfaltung von Assimilations- und Akkommodationskräften führen zu einer Spielfreude, die zu Fortsetzungs- und Wiederholungsprozessen anregt. Anstrengende Aktivitäten und der ständige Wechsel von Anspannung und Erschlaffung werden deshalb beim Spielen nicht als belastend, sondern eher als lustvoll empfunden. Gerade weil Anstrengungen im Spiel sich im Prinzip nur spielinternen und nicht spielexternen Zwecken unterordnen und sich Freiheitsräume mit einer eigenen Zeitstruktur zu sichern versuchen, brauchen sie auch keine Motivation von außen, sondern tragen sich vielmehr selbst. Deshalb hat der Psychologe Heckhausen in Bezug auf Spiele auch von „Aktivitätszirkeln“ gesprochen.7 Der Begriff des Aktivitätszirkels erklärt sehr gut, warum sich Spiele ständig fortzeugen können, eine innere Unendlichkeit besitzen und in der Regel nur durch äußere Eingriffe oder wegen faktischer Ermüdung beendet werden. Außerdem erklärt er, warum Spiele nicht nur mit der Kategorie der Freiheit in Verbindung zu bringen sind, sondern auch mit der des Rausches und der Sucht. Die Spielwelt kann so gesehen zu einer eigenen Welt werden, in der man sich nach Bedingungen bewegen kann, die sich erheblich von denen unterscheiden, denen man in der alltäglichen Welt unterworfen ist. Deshalb wird die Spielwelt subjektiv ja auch als eine ausgesprochene Freiheitswelt erlebt. Im Denkrahmen des Aktivitätszirkels lässt sich die innere Dynamik von Spielen deshalb auch eher mit Bewegungs- und Vorgangskategorien beschreiben als mit Handlungskategorien in einem streng zielorientierten Sinn. Die Aktivitäten in Spielen und insbesondere in Kampfspielen sind natürlich nicht intentionsfrei, aber sie werden ursprünglich nicht spielexternen Zwecken und Zielen unterworfen, die bestimmte Spielabläufe dann von außen regulieren oder gar diktieren. Das zeigt sich deutlich darin, dass echte Wettkampfspiele sich nur dann manipulieren lassen, wenn die Spieler sich von spielexternen Instanzen bestechen lassen und damit als wirkliche Spieler ausfallen. Die prinzipielle und sich selbst erneuernde Zirkelstruktur des Spielens erzeugt natürlich auch immer neue Spielvarianten. Deshalb hat Novalis das Spiel auch mit dem Begriff des Experiments und des Zufalls in Verbindung gebracht. „Spielen ist experimentiren mit dem Zufall.“ 8 Zu den wesentlichen Merkmalen der meisten Spiele gehören auch ihre sozialen Implikationen. Da Menschen soziale Lebewesen sind, haben all ihre Spiele eine natürliche Tendenz, dialogische Strukturen zu entwickeln bzw. bei Aktionen auch mit Gegenaktionen zu rechnen. Vielleicht lassen sich sogar Individualspiele der Kinder mit konkreten Gegenständen als soziale Aktivitä-
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H. Heckhausen, Entwurf einer Psychologie des Spielens, in: H. Heckhausen / C. F. Graumann, Pädagogische Psychologie, Reader zum Funk-Kolleg, Bd. 1, 1980, S. 157. 8 Novalis, Fragmente und Studien I, Nr. 141, Werke, Bd. 2, S. 771.
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ten verstehen, insofern die realen Dinge als Spielpartner mit eigenen Kräften, Widerständigkeiten und Intentionen verstanden werden, auf die man sich einzustellen hat. Ein Hinweis darauf wäre die Tendenz zur Personifizierung von Dingen bzw. ihre Bewertung als gute oder böse Dinge. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass für Kinder Gegenstände als Spielgegenstände nur dann attraktiv sind, wenn sie den eigenen Handlungsintentionen Widerstand leisten und dadurch die Chance bieten, ihre eigenen Kräfte an ihnen zu erproben. Die Verwurzelung des Spielens in einem physiologischen Kräfteüberschuss und in psychologischen Aktivitätszirkeln wird ergänzt durch die Verwurzelung von Spielen in der Sozialsphäre. Dafür spricht, dass Kinder ihre jeweiligen Spielgegenstände als Spielpartner verstehen, und dass Spiele eine natürliche Tendenz haben, zu Spielen im gesellschaftlichen Raum zu werden. In jedem Fall haben Spiele tendenziell eine soziale Integrationskraft, insofern sie gerne gemeinschaftlich gespielt werden wollen und sozialer Konventionen bedürfen, die in ihnen bestätigt oder variiert werden, was nicht zuletzt Wortund Sprachspiele immer wieder eindrucksvoll exemplifizieren. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu den physiologischen, psychologischen und sozialen Wurzeln von Spielen und Spielbedürfnissen wird auch verständlich, warum das Spielen trotz aller harten Anstrengungen sich subjektiv auch immer als eine Form der Erholung ansehen lässt. Gerade wenn Menschen durch ihre Berufstätigkeiten oder Lebensumstände in verfestigte Lebens- und Tätigkeitsformen geraten, die ihre körperlichen und geistigen Bewegungsmöglichkeiten einschränken, erfüllt das Spielen eine wichtige Kompensationsfunktion und kann als faktische Erholung von eindimensionalen Aktivitäts- und Lebensformen angesehen werden. Das Spielen bekommt daher in arbeitsteiligen Gesellschaften wichtige anthropologische Ausgleichsfunktionen, was der Ausspruch eines badischen Beamten über seine Tätigkeit sehr gut exemplifiziert: „Man wird täglich dummer und brauchbarer!“ 9 Die Funktion des Spielens für die Entfaltung und Einübung von motorischen, sensorischen und geistigem Fertigkeiten sowie seine Ausgleichsfunktion für einseitige Belastungen macht auch verständlich, warum das Spielen vornehmlich der Jugendphase von Lebewesen zugeordnet wird bzw. warum man es als ein Indiz für ein jugendliches Denken und Verhalten verstanden hat. Als Experimentieren mit körperlichen und geistigen Kräften kommt es beim Spielen primär nicht auf die erreichten Ergebnisse selbst an wie beispielsweise beim Arbeiten, sondern auf die Erfahrung und Schulung von eigenen Fähigkeiten. Der Lohn des Spiels besteht nur vordergründig in dem jeweils erzielten Ergebnis, hintergründig besteht er im Genuss des Vollzugs des Spielgeschehens selbst. Bühler hat deswegen im Hinblick auf Spiele und insbesondere auf Sprech- und Sprachspiele zu Recht von einer „Funktionslust“ gesprochen.10
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Zitiert nach H. Groos, Die Spiele der Menschen, 1899 / 1973, S. 511. K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 136, 347.
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Diese Funktionslust kann sich bei Glücksspielen so steigern, dass rauschähnliche Zustände entstehen, aus denen sich die einzelnen Menschen kaum noch befreien können und in denen sie oft bis zur Selbstzerstörung weiterspielen.
Die Entwicklungsgeschichte des Spielens Die physiologischen, psychologischen, sozialen und kognitiven Fundamente des Spielens machen verständlich, warum es eine natürliche Tendenz hat, sich auf evolutionäre Weise auszudifferenzieren. Das hat dann natürlich auch erhebliche Auswirkungen darauf, wie sich Spielvorstellungen sinnbildlich nutzen lassen. Gerade wenn man davon ausgeht, dass sich das Spielen von einem spontanen und weitgehend intransitiven Bewegungsphänomen zu einem intentionalen und transitiven Handlungsphänomen fortentwickeln kann, so lässt sich für die Entwicklungsgeschichte des Spielens folgende Tendenz feststellen. Am Anfang der Entwicklung des Spielens bzw. von Spielen stehen sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht relativ regelfreie Strukturierungsspiele im individuellen Raum, die sich dann mehr und mehr zu regelgeleiteten Wettkampfspielen im sozialen Raum entwickeln, ohne dass die jeweils früheren Spielformen völlig verschwinden. Die Qualifizierung von Strukturierungsspielen als relativ regelfrei heißt nicht, dass sie ordnungslos sind, sondern nur, dass es in den Frühformen des Spielens keine Spielregeln gibt, die die jeweiligen Spielabläufe stringent determinieren und den jeweiligen Spielmöglichkeiten enge Grenzen setzen. Die Unterscheidung zwischen regelarmen Strukturierungsspielen und regelgeleiteten Wettkampfspielen soll nur typologisch die Spannweite kennzeichnen, in welcher der historische Ausdifferenzierungsprozess von Spielformen anzusiedeln ist. Prototypisch lässt sich diesbezüglich auf das Spiel mit Steinen bzw. Bauklötzen auf der einen Seite und auf das Spiel mit Schachfiguren auf der anderen Seite verweisen. In den frühen Phasen der Kindheit und Kultur stehen relativ einfache Strukturierungsspiele im Mittelpunkt der menschlichen Spielaktivitäten. In Spielen wird erprobt, wie man mit den Dingen und den eigenen Gestaltungskräften umgehen kann. Bewegungs-, Gedulds- und Gestaltungsspiele sind typische Realisationsweisen von solchen elementaren Strukturierungsspielen. Im Hin-und-Her dieser Spiele bzw. bei der Erfahrung von Impuls und Gegenimpuls oder von Zufall und Notwendigkeit lernen die jeweiligen Spieler die Dinge und die möglichen Korrelationen unter den Dingen kennen und damit auch die menschlichen Umgangsmöglichkeiten mit ihnen. Für solche Strukturierungsspiele ist neben dem Phänomen der Wiederholung und des Zufalls auch das des Experimentierens konstitutiv. Der Zufall zeigt die Grenzen und die Chancen von zielorientierten Handlungsmöglichkeiten auf und provoziert dazu, neue Handlungsformen zu entwickeln. Spiele dieses Typs bedürfen keiner von außen gesetzter Regeln, weil sie dazu dienen, Grenzen erfahrbar zu machen und Grenzen zu überschreiten, um Handlungsformen zu erproben bzw. durch selbst entwickelte Regeln zu optimieren. Das
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Spiel mit dem Zufall kann dabei soweit gehen, dass dabei auch immer wieder der Schreck oder die Gefahr gesucht wird, weil man dabei Grenzerfahrungen machen kann, die dann wiederum neue Aktivitätszirkel auslösen können. Je mehr sich das Spielen in die soziale Sphäre ausweitet und je mehr Mitspieler in das Spielgeschehen integriert werden, desto mehr entwickeln sich Spiele zu strategisch organisierten Wettkampfspielen, die klarer Regeln bedürfen. Das ist nicht so zu verstehen, dass die Regeln dem eigentlichen Spielgeschehen diktatorisch von außen auferlegt werden und es dadurch dann auch knechten, sondern vielmehr so, dass sich Spielregeln evolutionär ausbilden, weil sie das koordinierte und interaktive Handeln im sozialen Raum strukturieren und erleichtern. Solange man sich beim Spielen nur mit der Widerständigkeit und der Eigenart von Dingen auseinanderzusetzen hat, solange bedarf es eigentlich keiner Spielregeln. Diese werden erst dann notwendig, wenn man mit anderen Spielern als Gegnern oder Partnern kooperieren muss, damit sich die einzelnen Spielaktivitäten nicht chaotisch paralysieren. Beim Spielen im sozialen Raum ist der Regelproblematik deshalb eine ganz besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weil Regeln nicht nur zu notwendigen Bedingungen des Spielens werden, sondern zugleich auch festlegen, welche Bewegungsfreiheiten, Funktionalitäten und Anregungskräfte mit dem Spielen verbunden sein können.
Basisanalogien zwischen Spiel und Sprache Wenn man die Begriffe Spiel und Sprache als abstrakte Ordnungskategorien versteht, die bestimmte Gemeinsamkeiten hinter direkt beobachtbaren Aktivitäten beim Spielen und Sprechen erfassen sollen, dann muss man diese Begriffe nicht unbedingt im Sinne platonischer Ideen werten. Man kann sehr viel bescheidener ansetzen und beide Begriffe als pragmatisch motivierte menschliche Ordnungsmuster verstehen, die nur dazu bestimmt sind, die Komplexität von Spiel- und Sprechvorgängen so zu reduzieren, dass wir dabei entscheidende Ähnlichkeiten zwischen ihnen sehen. Diese Typologisierungen erlauben es dann auch, die Entwicklungsgeschichte des Spielens und Sprechens und die daraus resultierenden Ordnungsstrukturen sinnvoll miteinander zu vergleichen. Die Fähigkeit zum Spielen und Sprechen ist den Menschen sicherlich angeboren bzw. genetisch so verankert, dass es diesbezüglich einen Kräfteüberschuss gibt, der im Laufe der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklungsgeschichte der Menschen kanalisiert und strukturiert werden muss. Biologisch gesehen sind die einzelnen Spiel- und Sprechaktivitäten sicher Prägungsphänomene. Sie sind im Detail nicht genetisch kodiert, sondern nur als Gestaltungsfelder genetisch angelegt. Ihre konkreten kulturellen Realisationsformen müssen erst durch nachgeburtliche äußere Reizeinflüsse ausgeprägt werden. Es kann als gesicherte Tatsache gelten, dass Menschen alle denkbaren Spiele und Sprachen erlernen können, wenn sie Gelegenheit haben, diese kennenzulernen und in sie hineinzuwachsen.
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Gesichert ist ferner, dass man konkrete Spiele und Sprachen besonders gut in der vorpubertären Lebensphase erlernen kann. Die Verminderung von motorischen, sensorischen, kognitiven und sprachlichen Außenreizen und die Einschränkung von entsprechenden Betätigungsmöglichkeiten führen insbesondere auf frühen Entwicklungsstufen des Menschen zu irreversiblen Schädigungen von menschlichen Potenzialen, weil sich die neuronalen Netzwerke, die die biologische Basis dieser Fähigkeiten bilden, nicht zureichend ausbilden können. Die Möglichkeit zum spielerischen Experimentieren mit körperlichen, geistigen und sprachlichen Kräften ist so gesehen eine konstitutive Prämisse für die Entfaltung und Konkretisierung von angeborenen Dispositionen. Das dokumentiert sich sehr klar im Hinblick auf Erfahrungen, die man unter dem Begriff des Hospitalismus zusammengefasst hat. Mit dem Terminus Hospitalismus werden heute die physischen, psychischen und geistigen Schädigungen von Kindern bezeichnet, die im Rahmen eines sehr eingeschränkten Angebots von Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten, von emotionalen Zuwendungen sowie von Zeichen- bzw. Sprachreizen aufgewachsen sind. Diese Problematik hat insbesondere seit der Aufklärung im Hinblick auf den Spracherwerb unter den Stichwörtern wilde Kinder oder Wolfskinder ein großes Interesse gefunden. Anfangs wurde dabei sogar diskutiert, ob diese körperlich, geistig und sprachlich zum Teil extrem geschädigten Kinder überhaupt der Klasse der Menschen zugeordnet werden könnten, wenn man beispielsweise von der Prämisse ausgeht, dass man den Menschen als vernünftiges Lebewesen (animal rationale) normativ vom Tier zu unterscheiden hat. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass solche extrem vernachlässigten Kinder wie etwa Victor von Aveyron, Peter von Hameln, Kaspar Hauser oder die Mädchen von Midnapore, die teilweise sogar allein in der Wildnis aufgewachsen waren, später in ihren körperlichen, geistigen und sprachlichen Fähigkeiten trotz aller Bemühungen nicht mehr auf den Stand von normal aufgewachsenen Kindern gebracht werden konnten. Eine Ausnahme scheint nur Helen Keller zu bilden, die allerdings erst im Alter von 18 Monaten durch eine Infektion blind und taubstumm geworden war. Davor hatte sie einen ganz normalen Welt- und Sprachkontakt gehabt. Im Alter von sieben Jahren lernte sie dann die taktile Taubstummensprache und die Brailleschrift für Blinde und baute die damit verbundenen Möglichkeiten zum Gebrauch von Zeichen so perfekt aus, dass sie schließlich Schriftstellerin werden konnte. All das war aber offenbar nur deshalb möglich, weil sie bereits in ihren ersten Lebensmonaten vielfältige Zeichenreize verarbeiten musste und konnte, so dass sich dadurch bei ihr schon die grundlegenden neuronalen Netze ausgebildet haben, die ihr dann später eine sehr differenzierte Zeichenverarbeitung und Zeichennutzung in kognitiven Prozessen ermöglichten.11
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Vgl. A. Schmitt, Helen Keller und die Sprache, 1954. W. Köller, Das Sprachexperiment von Psammetichos, in : Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 121–141.
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Die von Spencer vertretene These, dass das Spielen biologisch aus einem Kraftüberschuss resultiere, lässt sich sicherlich auch auf das Sprechen übertragen. Die genetisch angelegte Sprachfähigkeit des Menschen kann dann als ein ziemlich unerschöpfliches Energiepotenzial zur Bildung lautlicher, lexikalischer, grammatischer und textueller Formen verstanden werden, welches sicherstellt, dass die Sprache im Sinne Humboldts eine Kraft ist, durch die von endlichen sprachlichen Mitteln letztlich ein unendlicher Gebrauch gemacht werden kann. Dieser Kraftüberschuss zeigt sich nach Jakobson nicht nur auf der semantischen, sondern auch schon auf der lautlichen Ebene der Sprache. Bei seinen Untersuchungen zu den lautlichen Aspekten des Spracherwerbs ist Jakobson zu dem Ergebnis gekommen, dass Kinder in der sogenannten Lallperiode vor dem eigentlichen muttersprachlichen Spracherwerb spielerisch schon alle Laute (Phone) zu artikulieren versuchten, die der menschliche Stimmapparat überhaupt produzieren könne.12 Diese Phase des Lauterwerbs werde dann durch eine Phase abgelöst, in der nur noch solche Laute artikuliert würden, die einem systematischen Stellenwert in dem Lautsystem der jeweiligen Muttersprache hätten (Phoneme). Das bedeutet, dass im Verlaufe des muttersprachlichen Spracherwerbs eine immer größere Konzentration auf den Zeichenwert von einzelnen Lauten erfolgt bzw. auf die kommunikative Funktion von Sprachlauten und dass sich dadurch dann auch das spielerische Interesse an der rein physischen Artikulation von Lauten vermindert. Nach Jakobson werden bei diesem Prozess zunächst diejenigen Phoneme klar von einander differenziert, die in einen großen artikulatorischen Kontrast zueinander stehen und deshalb in allen Sprachen eine große Rolle spielen, und zuletzt diejenigen Phoneme, die diesbezüglich eine weniger große Rolle spielen, wie etwa die Unterscheidung der Liquida r und l, die im Chinesischen beispielsweise keine bedeutungsunterscheidende Phonemfunktion haben. Die zuletzt erworbenen Phoneme gehen seiner Meinung nach bei aphasischen Sprachstörungen dann auch am frühesten und häufigsten wieder verloren.13 Der sprachliche Kraftüberschuss beim Spracherwerb dokumentiert sich natürlich auch noch auf den anderen Ebenen der Sprache. Kinder haben während ihrer Spracherwerbsprozesse einen großen Spaß an Wortverdrehungen, Worterfindungen und ungewöhnlichen Wortkombinationen, was sie auch sehr empfänglich für alle Formen der konkreten Poesie macht. Das Experimentieren mit Sprache ist bei Kindern allerdings kein Ausdruck des Protestes gegen verfestigte sprachliche Ordnungssysteme und Regelwerke, sondern vielmehr ein Verfahren, mit den Grenzen konventioneller sprachlicher Regeln zu spielen und sich dadurch diese Grenzen auch fassbar zu machen. Gleichwohl können dabei neue Sprachformen entstehen, die neben den poetisch entstandenen dann auch in den allgemeinen Sprachschatz übergehen können, wenn sie pragmati-
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Vgl. R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, 19722, S. 20 ff. Vgl. R. Jakobson, a.a.O., S. 81.
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sche Bedürfnisse erfüllen oder Lücken im konventionalisierten Sprachsystem ausfüllen. Die unorthodoxen Redeweisen von Kindern werden von Erwachsenen oft als metaphorische Regelverstöße wahrgenommen. Für die Kinder selbst sind sie aber meist ganz natürliche und naheliegende sprachliche Sinnbildungsverfahren, die nur zufällig nicht den üblichen Konventionen entsprechen, die die Kinder ja auch noch nicht so genau kennen wie die Erwachsenen. In dem Spiel mit sprachlichen Formen, das die Kinder subjektiv meist gar nicht als ein Spiel ansehen, wird ihnen nach und nach klar, wo sie sich sprachlichen Spielregeln unbedingt anpassen müssen und wo sie diese kreativ fortentwickeln können, wenn sie die Sprache als ein umfassendes Mittel der Sinnkonstitution und Sinnzirkulation nutzen wollen. Weder der poetische noch der rhetorische noch der argumentative Sprachgebrauch sind ohne die Respektierung von Sprachregeln möglich. Aber ohne die spielerische Variation dieser Regeln wären sie auch nicht denkbar, weil nur auf diese Weise neuen Denkformen sprachlicher Ausdruck gegeben werden kann bzw. die Aufmerksamkeit von Sprachrezipienten zu erregen ist. Die pragmatische Wirksamkeit des Gebrauchs von Sprache beruht nämlich nicht nur auf der Mitteilung relevanter Inhalte, sondern auch auf dem neuartigen Gebrauch von altbekannten Sprachformen. Durch diesen wird ein Hörer nämlich nicht nur zum passiven Empfänger von Informationen, sondern zugleich auch zu einem Mitspieler in komplexen Sinnbildungsprozessen, weil ihm nicht nur eine bloße Dekodierungskompetenz abverlangt wird, sondern auch eine kreative kombinatorische Phantasie.
2. Die Strukturaspekte von Spielen An die Überlegungen zu den allgemeinen Grundlagen unseres Spielverständnisses müssen sich solche zu den Strukturaspekten von Spielen im engeren Sinne anschließen, um die möglichen Sinnbildfunktionen von Spielvorstellungen konkretisieren zu können. Das soll nun im Rahmen der vier folgenden Fragestellungen geschehen: In welchen Kontrastrelationen steht das Spiel zur Arbeit? Welche Freiheitsräume und Grenzen benötigen Spiele? Welche Funktionen haben Regeln für die Konstitution von Spielen? Wie lassen sich Spiele typologisch ordnen? Mit diesen Fragen lässt sich sicherlich nicht die ganze Strukturproblematik von Spielen erfassen. Dennoch sind sie aber hilfreich, um die möglichen Sinnbildfunktionen des Spiels für die Sprache zu konkretisieren.
Spiel und Arbeit Die Wahrnehmungspsychologie hat uns mit ihrem Denkkonzept von Figur und Grund darauf aufmerksam gemacht, dass die jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände für uns nicht nur durch ihre Eigenmerkmale Gestalt gewinnen, sondern auch durch ihre Kontrastrelationen zu ihren jeweiligen Wahrnehmungs-
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hintergründen bzw. zu benachbarten Phänomenen. Deshalb bietet sich an, das Phänomen Spiel mit dem Phänomen Arbeit kontrastiv zu vergleichen, weil beide zwar immer wieder als Gegensätze verstanden worden sind, aber sicherlich auch einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Auf diese lässt sich mit Hilfe der Stichwörter Zweck, Ernst und Lernen recht gut aufmerksam machen. Mit dem Begriff Arbeit fassen wir heute meist alle menschlichen Aktivitätsformen zusammen, die dazu dienen, eine vorgefundene Realität im Hinblick auf bestimmte menschliche Bedürfnisse oder Zielsetzungen planvoll umzugestalten. Deshalb ist mit dem Begriff der Arbeit in der Regel immer auch die Vorstellung eines Zwecks verbunden sowie die der Mühsal bei der Verwirklichung von konkreten Absichten. Ursprünglich hat man nur körperliche Anstrengungen als Arbeit angesehen, dann sind aber immer mehr auch geistige Anstrengungen dem Begriff der Arbeit zugeordnet worden. Während in der Antike die körperliche Arbeit keine besondere gesellschaftliche Wertschätzung genoss, änderte sich das in der Neuzeit erheblich, weil nun nicht mehr die Kontemplation, sondern die Beherrschung und Veränderung der Welt für besonders erstrebenswert gehalten wurde, und weil der Mensch primär nicht als Weltbetrachter, sondern als Weltgestalter (homo faber) verstanden wurde. Das bedeutete, dass nunmehr die Arbeit als ein sehr positives Phänomen gewertet wurde, weil sie ja dazu diente, die Menschen von den Zwängen der Natur zu befreien, ihre Lebenswelt nach ihren Bedürfnissen zu formen und ihren Reichtum zu vermehren. Dadurch veränderte sich der Arbeitsbegriff von einem sozialen Unterscheidungs- zu einem sozialen Wertbegriff, der alle Formen von Erwerbs- und Gestaltungsaktivitäten umfasste. Ein deutliches Zeichen für die veränderte Wertschätzung der Arbeit ist beispielsweise, dass Friedrich Engels die Arbeit nicht nur zur Quelle allen Reichtums erklärte, sondern sogar zum entscheidenden Faktor der Menschwerdung selbst. „Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in einem gewissen Sinne sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.“14 Diese anthropologische Aufwertung der Arbeit ist für unseren Zusammenhang wichtig, weil dadurch die Sprache als konstitutives Bestimmungsmerkmal des Menschen etwas in den Hintergrund getreten ist, insofern dadurch die Sprache vornehmlich als eine Konsequenz von Arbeitsteilungsprozessen und den damit verbundenen Kommunikationsnotwendigkeiten wahrgenommen wurde. Die mit dem Arbeitsbegriff verbundene Vorstellung von Mühsal sowie von Zwecken jenseits des Arbeitsvorganges selbst hat diesen nach und nach zu einem natürlichen Oppositionsbegriff zum Spielbegriff gemacht. Im Rahmen dieser Opposition wurde die Spielwelt in der Regel dann als eine eigene Welt
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F. Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in : K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 444. Zur kulturgeschichtlichen Entwicklung und Relevanz des Arbeitsbegriffs vgl. F. Hermanns, Arbeit. Zur Semantik eines kulturellen Schlüsselwortes, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19, 1993, S. 43–62.
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in der Realwelt verstanden, die von der unmittelbaren Zweckrationalität der Arbeitswelt nicht direkt betroffen wird. Wenn wir nun aber annehmen, dass sowohl das Spielen als auch das Arbeiten genuine Aktivitätsformen des Menschen darstellen, dann ist der Spielbegriff nicht nur als Oppositions-, sondern auch als Ergänzungsbegriff zum Arbeitsbegriff zu verstehen, insofern beide als anthropologische Grundbegriffe zu werten sind. Das bedeutet, dass man beim Verständnis beider Begriffe nicht nur auf Kontrast- sondern auch auf Ähnlichkeitsrelationen zueinander zu achten hat, was natürlich für das sinnbildliche Verständnis von Spielen ganz erhebliche Konsequenzen beinhaltet. Für das Verständnis der inneren Struktur von Arbeitsprozessen ist sicherlich der Begriff des Zwecks von ganz fundamentaler Bedeutsamkeit, weil über diesen alle Handlungsaktivitäten danach bewertet werden können, welchen Beitrag sie zur Realisierung eines Endzieles leisten. Alles, was in Arbeitsprozessen einer solchen Zweckorientierung nicht dienlich ist, hat keinen Sinn und keinen Wert, weil alle Aktivitäten immer im Hinblick auf ihr Ergebnis und nicht im Hinblick auf ihren Verlauf beurteilt werden. Wenn man nun aber Aktivitäten final und teleologisch ins Auge fasst, dann muss man sie zwangsläufig auch ganz anders beurteilen, als wenn man sie prozessual betrachtet. Gegen die Hochstilisierung des Zweckbegriffs zu einem allgemeinen metaphysischen Ordnungs- und Wertbegriff und gegen die besondere Hochschätzung des zweckrationalen Handelns und Denkens hat insbesondere Nietzsche Front gemacht. Er hat betont, dass es „Notwendigkeit“, „Ursächlichkeit“ und „Zweckmäßigkeit“ in der Realität eigentlich gar nicht gebe und dass diese Begriffe eher als nützliche „Scheinbarkeiten“ anzusehen seien, wenn man sich theoretische Vorstellungen von der Welt mache.15 Was wir als Ursachen ansähen, das sei oft nur „ein Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgendwie, irgendwozu verbraucht zu werden“ oder „ein kleiner Zufall“, der etwas auslöse, was sich beispielsweise besonders gut am Verhältnis von Streichholz und Pulvertonne exemplifiziere.16 Auch Darwin hat in seinem Evolutionskonzept das teleologische Zweckund Kausaldenken erheblich relativiert. Für ihn spielt in Entwicklungs- bzw. Evolutionsprozessen stattdessen die Vorstellung der zufälligen Variation bzw. der Mutation eine entscheidende Rolle. Das hat Manfred Eigen und Ruthild Winkler wiederum dazu angeregt, darüber nachzudenken, wie man sich über den Spielgedanken dem Verständnis von Strukturverhältnissen in der Natur nähern könne. Deshalb haben sie dann auch die Hypothese entwickelt, dass sich nicht nur das Spiel, sondern auch die Natur dadurch konstituierten, dass in beiden Zufall und Regel in einem konstitutiven Wirkungszusammenhang stünden, der dann dazu beitrage, dass immer neue Strukturen entstehen könnten.17
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F. Nietzsche, Nachlaß aus den achtziger Jahren, Werke, Bd. 3, S. 682. F, Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 360, Werke, Bd. 2, S. 233. 17 M. Eigen / R. Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, 19844. 16
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Natürlich spielt in der Welt der Spiele auch der Zweckgedanke eine wichtige Rolle, allerdings beschränkt er sich hier auf die Spielwelt selbst. Wenn beim Spielen Zwecke verfolgt werden, die außerhalb der Spielwelt selbst liegen (Gewinn von Geld, öffentlicher Ruhm, Demütigung von Gegnern), dann führt das schnell zu einer Degenerierung von Spielen oder dazu, dass sie als Bestandteile der normalen Arbeitswelt in Erscheinung treten. Alle Spiele haben natürlich bestimmte Zielsetzungen (Beherrschung von Dingen, Kräften, Gegnern), aber diese Ziele und Zwecke müssen spielinterne Ziele und Zwecke bleiben, wenn durch sie die Spielwelt als Spielwelt nicht gefährdet werden soll. Das schließt aber natürlich nicht aus, dass durch das Spielen indirekt auch Zwecke befördert werden können, die eigentlich außerhalb der Spielwelt selbst liegen und die man deshalb auch als unbeabsichtigte, aber durchaus willkommene Nebenprodukte des Spielens ansehen kann (Entfaltung von körperlichen und geistigen Kräften, Steigerung der Lebensfreude, Verbesserung von Kooperationskompetenzen, Einübung in regelgeleitetes Handeln usw.). Im Hinblick auf diese Implikationen des Spielens ist die Grenze zwischen Spiel und Arbeit dann sicher als eine fließende Grenze anzusehen. Die Welt des Spielens hat wie die des Arbeitens ihre eigene Ernsthaftigkeit. In beiden menschlichen Aktivitätsformen ist Konzentration vonnöten, die es verbietet, seine Handlungen gleichsam nebenher zu betreiben. Spielmittel muss man ebenso umsichtig einsetzen wie Arbeitsmittel. Wer ein Spiel nicht ernst nimmt, wird von seinen Mitspielern stärker geächtet als derjenige, der im Spiel Fehler macht oder gegen Regeln verstößt. Wer sich nicht ganz auf das Spiel oder seine Arbeit konzentriert, der gefährdet die innere Kohärenz von Spiel- und Arbeitswelten. Über den Zweckgedanken lassen sich auch Überschneidungen zwischen dem Spiel und den Phänomenen Arbeit und Sprache sichtbar machen. Die Sprache kann sowohl auf der Betrachtungsebene des Sprachsystems als auch auf der der Sprachverwendung durchaus mit dem Zweckgedanken in Verbindung gebracht werden, da die Existenz und der Gebrauch konventionalisierter Sprachformen auf irgendeine Weise immer pragmatisch motiviert sind. Die Wahl von bestimmten Sprachformen für bestimmte Objektivierungs- Mitteilungs- und Steuerungsinteressen kann auf einem expliziten Wissen über ihre jeweiligen Funktionsmöglichkeiten basieren oder auf einem intuitiven Sprachgefühl als einer Manifestationsweise eines impliziten Sprachwissens. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass Humboldt bei seinen Bemühungen um eine Definition der Sprache immer wieder auf den Gedanken der zielgerichteten Tätigkeit bzw. Arbeit zurückgegriffen hat. „Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.“18
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W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues..., Werke, Bd. 3, S. 418
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Humboldt hat keine scharfen Grenzen zwischen den Phänomenen Arbeit, Spiel und Sprache gezogen, weil er in allen drei Erscheinungen eine mehr oder weniger ausgeprägte Realisationsform des Experimentierens sah. Gerade weil der Mensch beim Sprechen seiner Meinung nach nicht nur zweckdienlichen Gebrauch von vorhandenen Mitteln macht, sondern sich diese oft erst zweckdienlich herrichten muss, sind für ihn der Arbeits-, Spiel-, Sprach- und Kreativitätsbegriff auch eng miteinander verknüpft. Das lässt sich am Beispiel des Lernens sehr gut veranschaulichen. So hat z. B. Guyer betont, dass das Lernen zwischen den Aktivitätsformen des Arbeitens und Spielens anzusiedeln sei. Mit der Arbeit habe das Lernen das Merkmal übergreifender zweckrationaler methodischer Anstrengung gemeinsam, wobei allerdings zu berücksichtigen sei, dass es in Arbeitsprozessen primär um eine Veränderung der Dinge in der Außenwelt gehe und in Lernprozessen eher um eine Veränderung des lernenden Individuums. Das Lernen unterscheide sich vom Arbeiten aber dadurch, dass es keinen so planmäßigen Verlauf nehme und dass in ihm die Kategorien der Möglichkeit, der Suche und der Sinnstiftung immer eine große Bedeutsamkeit hätten. Vom Spielen unterscheide sich das Lernen dadurch, dass es nach finalen Ordnungen mit faktischer Lebensrelevanz suche, womit es natürlich über den Genuss der eigenen Prozessualität hinausgehe. Gemeinsam hätten das Spielen und das Lernen, dass beide einen stimulierenden Widerstand brauchten, um sich wirklich entfalten zu können. Dieser dürfe beim Spielen allerdings nicht den Härtecharakter haben, der beim Arbeiten in Erscheinung trete, sofern das Arbeiten subjektiv nicht auch als eine spezifische Form des Spielens empfunden würde.19 Guyers Überlegungen laufen darauf hinaus, dass sich das Lernen am besten dann entfalte, wenn es in den jeweiligen Lernprozessen eine Balance zwischen der strengen Zielorientierung von Arbeitsprozessen auf der einen Seite und den großen Freiheitsräumen von Spielprozessen auf der anderen Seite gebe. So gesehen ist das Lernen immer dann sehr erfolgreich, wenn es in ihm zu einem fruchtbaren Wechselspiel zwischen Analyse- und Syntheseprozessen kommt bzw. zwischen Abstraktions- und Konkretisierungsprozessen. Beim Lernen muss man Experimentieren können, ohne dabei übergreifende Zielorientierungen zu vergessen. Deshalb hat man ja auch den Begriff spielerisches Lernen geprägt, um kenntlich zu machen, dass Lernprozesse sich selbst desavouieren, wenn sie zu bloßen Arbeits- oder Aneignungsprozessen werden. In diesem Denkrahmen wird nun auch gut verständlich, warum Spiel und Sprache sowohl offensichtliche als auch verdeckter Ähnlichkeiten zueinander aufweisen. Spracherwerbsprozesse, die als reine Übernahmeprozesse verstanden werden, und Sprachgebrauchsprozesse, die als reine Informationsvermittlungsprozesse empfunden werden, schöpfen das komplexe Funktionspotenzial von Sprache nicht aus, weil die Sprache dabei nur instrumentell als ein Infor-
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Vgl. W. Guyer, Wie wir lernen. 19675.
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mationsmedium in Erscheinung tritt und nicht auch als Medium für experimentelle, gestalterische und heuristische Denkprozesse. Wenn wir die Sprache nur als Mittel der Informationsfixierung und Informationsübermittlung sehen und nicht auch als Medium des Denkens und der Sinnbildung, dann verfehlen wir sicherlich ihr universales pragmatisches Funktionsspektrum.
Spielräume Wenn wir im Kontext von Spielen von Freiheit sprechen, dann stellt sich schnell der Begriff Spielraum ein. Das erklärt sich wohl dadurch, dass wir uns Freiheit eigentlich nur dann vorstellen können, wenn wir zugleich auch an schützende Grenzen und an freie Bewegungsmöglichkeiten innerhalb dieser Grenzen denken. Deshalb eignet sich der Begriff des Spielraumes auch gut, um die Dialektik von Gebundenheit und Ungebundenheit im Freiheitsbegriff zu veranschaulichen. Spielräume benötigen nicht nur die beweglichen Teile in Maschinen, sondern auch die handelnden Menschen in Konventionsordnungen aller Art von Rechts- über Markt- bis zu Sprachordnungen. Das Vertrackte an Spielräumen ist nun allerdings, dass man sie nur dann genauer bestimmen kann, wenn man die Funktionsaufgaben der jeweiligen Gesamtordnungen und die speziellen Funktionsmöglichkeiten der beweglichen Teile in ihnen kennt. Ein solches Wissen ist bei Maschinen natürlich leichter erwerbbar und beschreibbar als bei Sprachen. Gerade wenn man annimmt, dass es zum Funktionspotenzial von Sprachen gehört, dass ihre Konventionen immer auch dazu verlocken sollen, sie zu überschreiten, um sich Neuland zu erobern, wird es schwer, Aussagen über sprachliche Spielräume zu machen. Dabei ist auch zu bedenken, dass es zur Dialektik aller Grenzen gehört, dass jede Grenzüberschreitung neue Grenzen sichtbar macht und dass es erfahrbare Spielräume ohne Grenzen eigentlich nicht gibt. Wenn man Spielräume als Entfaltungsräume für Aktivitäten versteht, dann lassen sich vielleicht drei Grundformen von Spielräumen idealtypisch unterscheiden, nämlich Aggregaträume, Systemräume und Strukturräume. Aggregaträume wie zum Beispiel Lagerräume weisen sehr große Spielräume auf, um einzelnen Waren einen bestimmten Einzelplatz zuzuweisen bzw. neu zuzuweisen. Je größer allerdings die Menge der unterscheidbaren Waren wird, desto mehr engen sich die Spielräume für deren sinnvolle Einlagerung und deren faktische Auffindbarkeit ein. Systemräume wie zum Beispiel Maschinen haben dagegen von vorn herein sehr geringe Spielräume für die Platzierung von Einzelelementen, weil deren Zusammenspiel genau geregelt ist. Strukturräume wie zum Beispiel Sitten-, Markt- und Sprachordnungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die in ihnen beheimateten Elemente und deren Zusammenspiel ständig abwandeln können und müssen, um ihre Funktionen auch unter veränderten Rahmenbedingungen erfüllen zu können. Strukturräume sind deshalb durch ein kompliziertes Zusammenspiel von Konstanzund Variationstendenzen bzw. von Respektierungs- und Transzendierungsten-
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denzen im Hinblick auf Grenzen gekennzeichnet, weil sie für die Erfüllung ihre Funktionsaufgaben prinzipiell elastische Ordnungen benötigen. Schon die Begriffsbildung Spielraum verrät, dass wir uns Spiele ohne Spielräume kaum vorstellen können. Das beginnt schon damit, dass ein Spiel innerhalb des allgemeinen Lebensraumes des Menschen einen eigenen Handlungsraum mit eigener Zeitstruktur beansprucht und dass sich in diesem Spielraum wieder neue Spielräume für individuelle Aktivitäten eröffnen müssen. Spiele, die keinen Raum für kreative Handlungen und Überraschungen bieten, verdienen ihren Namen nicht. Dadurch unterscheiden sich Spiele auch von Ritualen, die zwar auch eigene Ordnungswelten bilden, die aber strengen Konventionen ohne große Spielräume unterworfen sind. Da Spiele gesellschaftlich als folgenloser angesehen werden als Rituale, sind sie auch potenziell nicht so bedrohlich wie Rituale, wenn sie nicht ordnungsgemäß realisiert werden.20 Zu den Freiheiten in bestimmten Spielräumen können im Prinzip auch Opferhandlungen im Dienste übergeordneter Zielsetzungen gehören. Diesbezüglich kann man an das Bauernopfer im Schachspiel oder an die Ich-Opferung des Hofnarrens im höfischen Zeremoniell denken. Der Hofnarr erklärt sich selbst für verrückt oder wird von anderen für verrückt erklärt, damit er Wahrheiten aussprechen kann, die im Hofsystem eigentlich nicht ausgesprochen werden dürfen, weil sie dessen hierarchische Ordnungsstrukturen in Frage stellen. Dadurch bekommt der Hofnarr nicht nur eine gesellschaftliche Ventilfunktion, sondern indirekt auch eine Erneuerungsfunktion, weil er evolutionäre Umstrukturierungsprozesse einleiten bzw. Entscheidungsprozesse indirekt beeinflussen kann. Auch der Karneval, in dem etablierte soziale Konventionen partiell aufgehoben werden, hat sicherlich die Funktion, Lebensspielräume zeitweise zu vergrößern. Sicherlich muss auch der Kunst die anthropologische Funktion zugebilligt werden, die Denk- und Handlungsspielräume der Menschen zumindest im Rahmen ihrer Einbildungskraft zu erweitern. Der Umstand, dass Spielräume als Freiheitsräume verstanden werden können, ist auch dafür maßgeblich, dass das Spielen auch dann noch als freudvoll erlebt wird, wenn mit ihm höchste Konzentration und Anstrengung verbunden ist. Im Spiel werden nämlich Gestaltungsprozesse möglich, die es im alltäglichen Leben oft gar nicht gibt. Selbst sehr rigide Spielregeln können unter diesen Umständen eher als hilfreich denn als belastend empfunden werden, zumal man sich ihnen beim Eintritt in die Spielwelt ja freiwillig unterwirft und sich ihnen durch den Austritt aus dieser Welt auch wieder entziehen kann. Die Wertschätzung von Spielräumen als Gestaltungsräumen hat dazu angeregt, nicht nur Lernprozesse als Spielprozesse zu organisieren, sondern auch dazu, die Arbeitsprozesse den Spielprozessen anzunähern, um diesen dadurch den Charakter von Mühsal und Entfremdung etwas zu nehmen. Diese Bemühungen haben weiterhin dazu geführt, die strenge Zweckrationalität von Ar-
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Vgl. G. Runkel, Das Spiel in der Gesellschaft, 2003, S. 62 ff.
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beitsvorgängen in der Fließbandarbeit wieder rückgängig zu machen, um durch umfassendere Gestaltungsaufgaben die Arbeitsfreude zu erhöhen und damit letztlich auch die Arbeitsproduktivität. Es ist nun ziemlich offensichtlich, dass auch die Sprache bestimmter Spielräume bedarf. Diese Spielräume werden geringer ausfallen, wenn die Sprache sehr zweckrational als Informationssprache für definierte Ziele eingesetzt wird. Sie werden größer ausfallen müssen, wenn die Sprache für vielschichtige und innovative Sinnbildungsprozesse eingesetzt wird, was etwa im ästhetischen Sprachgebrauch der Fall ist. Gerade wenn man die Sprache als ein Verfahren ansieht, von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch zu machen, dann sind die großen Spielräume beim Gebrauch der natürlichen Sprache nicht als Defizite oder Probleme zu werten, sondern als Voraussetzung dafür, diese als universal verwendbares Zeichensystem flexibel und lebendig zu halten, was der metaphorische Sprachgebrauch ja schlagend verdeutlicht. Ebenso wie der Mangel an körperlichen Bewegungsspielräumen den Gefangenen in Platons Höhle reduzierte Weltwahrnehmungen und verengte Denkweisen auferlegt, so führt auch der Mangel an sprachlichen Bewegungsspielräumen zu reduzierten Weltwahrnehmungen und verengten Denkweisen. Insbesondere bildliche und ironische Sprachverwendungsweisen beanspruchen große Handlungsspielräume beim Gebrauch der Sprache. Das bezahlen sie zweifellos mit einer Reduktion ihrer informativen Präzision und mit der Schwierigkeit, aus gegebenen Informationen auf stringente Weise schlussfolgernd weitere Informationen abzuleiten. Gleichzeitig gewinnen sie durch die beanspruchten und genutzten Spielräume aber nicht nur eine große semantische Flexibilität, um sich Veränderungen in ihren Bezugsfeldern anzupassen, sondern auch an Vermögen, um ihre Aussagen auf individuelle Weise vielfältig zu perspektivieren, zu akzentuieren und zu schattieren.
Spielregeln Oft wird der Begriff der Regel als Oppositionsbegriff zu dem der Freiheit verstanden, weil Regeln beispielsweise die Handhabungsmöglichkeiten der Sprache ziemlich einzuschränken scheinen. Gerade an Spielräumen und Spielregeln lässt sich aber gut zeigen, dass die Phänomene Regel und Freiheit einander bedingende Phänomene sind, die sich erst wechselseitig Gestalt geben. Das gilt jedenfalls zumindest im Hinblick auf Spielregeln solange, wie diese nicht rigoros bestimmen, was konkret geschehen muss, sondern nur bedingen, was möglicherweise geschehen kann. Die Notwendigkeit von Konventionen und Regeln zeigt sich vor allem beim Gebrauch von Zeichen, weil diese von den jeweiligen Adressaten ja erst verstanden werden müssen, bevor die von ihnen vermittelten Inhalte wirksam werden können. Vielleicht lassen sich sogar Naturgesetze in einem gewissen Sinne aspektuell als soziale Regeln verstehen, insofern sie ganz speziellen menschlichen Wahrnehmungsbedürfnissen an der Natur Ausdruck geben und andere abschatten.
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Im Prinzip gibt es keine gemeinsamen Begriffe ohne methodisch geregelte Wahrnehmungsinteressen und Wahrnehmungsverfahren. Der Hang von Kindern nach benennenden Wörtern bzw. nach der kognitiven Einordnung von Einzelerfahrungen in sozial akzeptierte Erfahrungsmuster ist dafür ein ganz typisches Beispiel. Kinder haben einen Hunger nach gemeinsamen Sprachmustern bzw. Kategorisierungen, weil sie sich nur auf diese Weise in gemeinsame Sach-, Sozial- und Sprachräume integrieren können. Obwohl wir Regeln im sozialen Raum üblicherweise als bloße soziale Konventionen verstehen, sollten wir uns immer bewusst sein, dass diese nur in speziellen Fällen direkt vereinbart bzw. durch Personen oder Institutionen explizit gesetzt worden sind wie z. B. Verkehrsregeln. Die elementaren Regeln für das menschliche Zusammenleben hat es lange vor jeder expliziten Formulierung in einer Erscheinungsform gegeben, die sich am besten als Gefühl für die Zulässigkeit und Nicht-Zulässigkeit von bestimmten Handlungsformen beschreiben lässt. Diese Wissensform ist nicht angeboren, sondern bildet sich meist vorbewusst als Resultante von Erfahrungen in Lebensprozessen heraus. Die Wissensinhalte dieses Gefühls werden respektiert, weil sie die Reibungsverluste in sozialen Interaktionsprozessen minimieren. Gerade Sitten- und Sprachregeln exemplifizieren diese Wissensform besonders gut. Wie schon im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Sinnbildfunktion des Geldes für die Sprache erwähnt worden ist, hat Adam Smith die spontane Ausbildung von Regeln für die Ordnung des Marktgeschehens mit der sehr wirksamen Metapher unsichtbare Hand (invisible hand) beschrieben. Mit dieser Metapher nimmt er nicht Bezug auf irgendeine numinose göttliche Instanz, die von außen Regeln setzt oder regelnd eingreift. Vielmehr bezeichnet er damit die immanente Resultante in einem Marktgeschehen, die zu einem sinnvollen Ausgleich von einander widerstrebenden Einzelinteressen führt und die langfristig auf ausgleichende Weise ein für alle vorteilhaftes Verhalten in ökonomischen und sittlichen Handlungsprozessen erzwingt bzw. gewährleistet. Solche letztlich für alle vorteilhaften Verhaltensregeln für Handlungen müssen sich seiner Meinung nach evolutionär herausbilden, weil ohne sie ein koordiniertes Handeln in sozialen Räumen gar nicht denkbar ist. So gesehen ist dann festzuhalten, dass Regeln den einzelnen Spielen eigentlich nicht von außen auferlegt werden müssen, sondern sich mehr oder weniger von selbst konstituieren, weil sie die Voraussetzungen dafür sind, dass sich überhaupt Spiele bzw. Spielwelten herausbilden. Spiele ohne Spielregeln gibt es im sozialen Raum nicht. Allerdings können diese je nach Spieltyp mehr oder minder rigide ausfallen und das konkrete Handeln der jeweiligen Spieler stärker oder weniger stark vorherbestimmen. Im Prinzip spielt man immer mit Hilfe von Regeln und nicht trotz Regeln oder gar gegen Regeln. Spielregeln, die das Handeln der Spieler allerdings vollständig determinieren und die deren Gestaltungswillen gar keine Spielräume mehr geben, sind für Spiele eigentlich kontraproduktiv, weil sie verhindern, dass in Spielen immer wieder eine Balance zwischen Zufall und Notwendigkeit hergestellt wird, aus der dann neue Spielgestalten und Spielstrukturen entstehen können. Wo alles erlaubt oder wo
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alles geregelt ist, da gibt es kein Spiel bzw. keine eigenen Spielwelten. Spielregeln haben zwar die Aufgabe, Spielaktivitäten zu organisieren, aber nicht Spielzüge im Detail vorzuschreiben. Erst aus der Spannung zwischen Freiheit und Regel bzw. zwischen Zufall und Notwendigkeit werden Spiele geboren und in dieser Spannung werden sie auch genossen. Da Spielregeln in mehr oder minder großem Maße die Welt des Spiels erst konstituieren und dabei auch unterschiedliche Typen von Spielen hervorbringen, ist während des Spielens keine Skepsis gegen die jeweiligen Spielregeln möglich. Beim Spielen kann man die Grenzen von Regeln erproben, aber man darf diese nicht grundsätzlich in Frage stellen. Regelverletzer und Falschspieler verfallen deshalb auch nicht derselben Missachtung wie Spielverderber, weil erstere durch ihr Verhalten indirekt die Notwendigkeit von Regeln bestätigen, während letztere diese ja grundsätzlich in Frage zu stellen versuchen. Der Prozess der spontanen Erzeugung und Nutzung von Regeln in Spielprozessen lässt sich bei Kinderspielen gut beobachten. Die Freude der Kinder am Spiel und an der Übernahme von bestimmten Spielrollen ist immer auch eine Freude an der Konstitution und Beherrschung von Regeln in Interaktionsprozessen. Deshalb sind dann auch nicht nur Regelbildungen, sondern auch Regelbefolgungen als Realisationsformen von Gestaltungsaktivitäten zu verstehen. Mead hat daher in seiner Sozialpsychologie das Phänomen der Rollenübernahme in Spielen als einen Beitrag zur Ausbildung der Ich-Identität des Menschen verstanden. Im geschützten Raum von Spielwelten lasse sich am besten erproben, wie man Probleme im sozialen Leben meistern könne.21 Die Entstehung und die Funktion von Spielregeln hat eine große Ähnlichkeit mit der Entstehung und Funktion von Sprachregeln. Auch diese sind von keiner Instanz diktatorisch gesetzt, sondern haben sich in verbalen kommunikativen Prozessen auf evolutionäre Weise gleichsam von selbst herausgebildet und konventionell verfestigt, da sie Verständigungsprozesse nicht nur erleichtert, sondern im Prinzip erst ermöglicht haben. Sprachregeln sind Menschenwerk, obwohl sie im Prinzip von Menschen weder explizit geplant noch vereinbart worden sind. Lange bevor die Grammatiker insbesondere für den schriftlichen Sprachgebrauch sozial verbindliche Sprachregeln formuliert haben, hat es solche natürlich schon für das Sprechen gegeben. Das komplexe Regelwerk der Sprache, das wir über unser Sprachgefühl als einer Manifestationsform unseres impliziten Wissens über Sprache intuitiv recht gut beherrschen, versucht die Sprachwissenschaft dann explizit zu formulieren. Das gelingt ihr aber immer nur in groben Zügen, weil dieses Regelwerk sehr vielschichtig ist, wegen seiner evolutionären Entwicklungsgeschichte viele logische Ungereimtheiten aufweist und sich außerdem in ständigen Umbruchsprozessen befindet. Deshalb setzen sich normativ gesetzte Regeln in der natürli-
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Vgl. G. Mead, Spiele und Spielen als Beiträge zur Genese des Ich, in: H. Scheuerl, Das Spiel, Bd. 2, Theorien des Spiels 199111, S. 112 ff.
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chen Sprache wegen der vielfältigen Funktionen dieses Sprachtyps auch nur dann durch, wenn sie wirklich pragmatischen Bedürfnissen entsprechen. Die Differenz zwischen evolutionär gewachsenen und konstruktiv entworfenen kulturellen Regelsystemen hat Hayek idealtypisch auf die Begriffe Kosmos und Taxis gebracht. Mit dem Terminus Kosmos bezeichnet er kulturelle Fundamentalordnungen mit einem mehrschichtigen Struktur- und Funktionsprofil, die zwar auf menschliche Ordnungsanstrengungen zurückgingen, die aber nicht als intentional angestrebte Ordnungsleistungen anzusehen seien. Sie seien ungeplant entstanden und könnten von niemandem vollständig durchschaut werden, was allerdings nicht ausschließe, dass man sie intuitiv recht gut handhaben könne.22 Zu den Ordnungs- und Regelsystemen dieses Typs gehören sicherlich alle Regeln von natürlich gewachsenen Spielen und Sprachen, die man sinnvoll nutzen kann, ohne die dabei verwendeten Regeln immer explizit formulieren zu können. Dagegen kann man zu den Ordnungs- und Regelsystemen des Typs Taxis sicherlich alle formalisierten Sprachen rechnen, die man durch eine direkte Unterweisung gelernt hat und die man auch nur dann sinnvoll handhaben kann, wenn man sich auch explizit Rechenschaft über ihre jeweiligen Ordnungsstrukturen und Funktionen abzulegen vermag. Natürlich gibt es sowohl im nicht-sprachlichen als auch im sprachlichen Bereich Ordnungssysteme, die als Mischsysteme dieser beiden Grundtypen angesehen werden können. Beispielsweise gründet sich das Regelwissen von überregionalen Hoch- bzw. Schriftsprachen nicht nur auf ein intuitiv erworbenes Sprachwissen aus Kommunikationsprozessen, sondern auch auf ein Sprachwissen aus einem Sprachunterricht. Dennoch wird man sich aber auch hier bei der Beurteilung des Stilwertes bestimmter sprachlicher Formen nicht nur auf sein explizites Sprachwissen in Gestalt der Kenntnis von Sprachregeln verlassen können, sondern immer auch auf sein intuitives Sprachgefühl.
Spieltypologie Im Laufe der Kulturgeschichte ist es zu einer fast unüberschaubaren Ausdifferenzierung von Spielformen gekommen. Deshalb ist der Versuch hilfreich, die Vielfalt von Spielmöglichkeiten idealtypisch auf bestimmte Grundformen hin zu vereinfachen. Im Hinblick auf die möglichen Sinnbildfunktionen von Spielen für Sprache ist dabei zu beachten, dass eine vergleichbare idealtypische Vereinfachung von Sprachverwendungsformen nicht möglich ist, weil jede natürliche Sprache immer ein sehr großes Spektrum von Grundfunktionen erfüllen muss. Deshalb lassen sich Spieltypen auch nicht direkt mit Sprachtypen analogisieren, sondern nur mit bestimmten Sprachverwendungstypen.
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Vgl. F. A. von Hayek, Freiburger Studien, 1969, S. 206 ff. F. A. von Hayek, Recht Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, Regeln und Ordnung, 1980, S. 57. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 116 ff.
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Die überzeugendste Typisierung der Vielfalt von Spielen (Bewegungsspiele, Geduldspiele, Gestaltungsspiele, Phantasiespiele, Kampfspiele usw.) nach bestimmten Grundfunktionen und Ordnungsprinzipien stammt wohl von Callois.23 Er hat die Vielfalt von Spielen auf die Grundtypen Agon (Wettkampfspiel), Alea (Glücksspiel), Mimikry (Verkleidungsspiel) und Ilinx (Rauschspiel) reduziert. Für Callois können sich diese vier Typen in ihren faktischen Realisationen überschneiden, was aber für ihn nichts an der Tatsache ändert, dass diese vier Grundtypen von Spielen mit vier unterschiedlichen menschlichen Grundbedürfnissen beim Spielen korrespondieren. Das Wettkampfspiel (Agon) zielt nach Callois darauf ab, in Einzel- oder Mannschaftswettkämpfen seine Kräfte zu entfalten und diese dann an denen anderer zu messen. Die einzelnen Erscheinungsformen von Kraft können dabei faktisch sehr unterschiedlich sein (Schnelligkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit, Einfallsreichtum, Strategie, Gedächtnis usw.), weshalb dieser Spieltyp auch von körperlichen Sportwettkämpfen bis zu geistigen Schachwettkämpfen bzw. vom Einsatz von Muskelkräften bis zu dem von Verstandeskräften reichen kann. Das für diesen Spieltyp wirksame Rivalitätsprinzip setzt voraus, dass für die jeweiligen Wettkämpfe dieselben Rahmenbedingungen gelten, dass alle Mitspieler ein bestimmtes Regelwerk respektieren, dass sie eine große Anstrengungsbereitschaft, Beharrlichkeit sowie einen klaren Willen zum Sieg zeigen und dass sie zugleich immer auch zur Fairness und zur Respektierung von Gegnern bereit sind. Primär müssen sich die Spieler bei diesem Spieltyp auf sich selbst verlassen und nicht auf das Glück. Die konkrete Ausgestaltung von Wettkampfspielen ist deshalb auch als eine ausgesprochene Kulturleistung anzusehen bzw. als ein Einübungsverfahren in kulturelle Regelsysteme. Im Bereich des sprachlichen Handelns gibt es für diesen Typ des Spielens gewisse Teilanalogien. Der rhetorische und argumentative Sprachgebrauch hat sicherlich agonale Strukturen, was seine Herkunft aus dem Redewettkampf vor Gericht oder vor der Volksversammlung verdeutlicht. Die in solchen Redewettkämpfen verwendeten sprachlichen Mittel und Strategien sind ursprünglich nicht am grünen Tisch der Theoretiker entworfen worden, sondern haben sich in faktischen Redewettkämpfen evolutionär konkretisiert, was ihre nachträgliche Systematisierung und Objektivierung in Regeln natürlich nicht ausschließt. Ebenso wie Wettkampfspiele in der Gefahr stehen, in reale Kämpfe umzuschlagen, so unterliegen natürlich auch rhetorische Wettkämpfe der Gefahr, zu verbalen Verletzungskämpfen zu degenerieren. Im Gegensatz zu Wettkampfspielen basieren Glücksspiele (Alea) auf Faktoren, die weitgehend unabhängig von den jeweiligen Spielern sind (Würfelspiel). Bei diesem Spieltyp geht es für die Spieler primär darum, mit dem Zufall zu spielen bzw. mit diesem fertig zu werden. Der einzelne Spieler kann bei diesem Spieltyp eigentlich nur einen hohen oder weniger hohen Einsatz wa-
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Vgl. R. Callois, Die Spiele und die Menschen, 1960, S. 18 ff.
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gen, da es primär nicht so sehr auf seine individuellen Fähigkeiten und Leistungen ankommt, sondern eher auf seinen Wagemut. Auf jeden Fall gibt es bei diesem Typ von Spiel keine Ergebnisgerechtigkeit in Proportion zu dem Leistungseinsatz des Spielers. Während sich ein Spieler im Wettkampfspiel auf sich und seine Mitspieler verlassen muss, kann er sich im Glücksspiel nur auf das Glück verlassen oder auf vage Zeichen und Anzeichen. Allerdings haben Glücksspiele nicht zuletzt deshalb eine so große Faszination, weil die Menschen in diesen in sehr viel höherem Maße individuellen Anstrengungen und Disziplinanforderungen entfliehen können als in Wettkampfspielen. Deshalb weisen sie auch einen sehr viel geringeren Grad von Analogien zur normalen Lebenswelt auf als Wettkampfspiele im Sinne von Durchsetzungsspielen. Aus eben diesem Grunde lassen sich Glücksspiele auch nicht so gut wie Wettkampfspiele als Sinnbilder für Sprache in Anspruch nehmen, weil der Kitzel des reinen Zufalls beim Gebrauch der Sprache keine so große Rolle spielt. Allenfalls nimmt man bei bestimmten Wortspielen auf diesen Kitzel Bezug, um zu bestimmten Denkinhalten zu kommen, zu denen man unter den Bedingungen des üblichen Sprachgebrauchs kaum kommen könnte. Über sprachliche Glücksspiele dieser Art zur Erkenntnisgewinnung hat sich Swift lustig gemacht, als er Gulliver an die Akademie von Lagado kommen lässt, wo namhafte Wissenschaftler an einem bahnbrechenden Forschungsprojekt arbeiten. Hier hat man nämlich eine Maschine aufgestellt, die nach dem Zufallsprinzip alle möglichen Wortkombinationen einer Sprache herstellen kann. All diese experimentell erzeugten Wortkombinationen zeichnet man dann in der Hoffnung auf, dass dadurch im Prinzip alle denkbaren Sätze einer Sprache erfasst werden könnten und damit natürlich auch alle denkbaren Sachaussagen über die Welt bzw. alles mögliche Wissen. Aufwendige empirische Forschungsprojekte aller Art würden sich auf diese Weise nach Meinung der Akademiemitglieder durch die Nutzung dieser Maschine zur Erzeugung von Wissen nach dem Zufallsprinzip dann schlicht erübrigen.24 Die Verkleidungsspiele- bzw. Anpassungsspiele (Mimikry) konzentrieren sich darauf, Spiele als Räume der Phantasie und der Fiktion auszugestalten. Dabei geht es nicht immer darum, in einer eigenen Welt mit seinen Fähigkeiten und dem Zufall zu spielen, sondern auch darum, sich in andere Lebensrollen hineinzuversetzen und etwas zu spielen, was man selbst nicht ist oder sein kann. Diese Zielsetzung reicht von der Lust an der perfekten Täuschung bis zur kreativen Ausgestaltung von möglichen Lebensrollen. Sowohl der Hochstapler als auch der Schauspieler sind prototypische Vertreter dieser Spielform, insofern beide einen Hang zur Maske haben bzw. zum Ausprobieren von Lebensformen, die ihnen normalerweise verwehrt sind. Dieser Spieltyp lässt sich über Regeln nicht sinnvoll strukturieren, weil er auf einer Metaebene mit kon-
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J. Swift, Gullivers Reisen, 1975, S.259 ff. Vgl. auch W. Köller, Die Erkenntnismaschine von Lagado, in: Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 250–284.
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ventionellen Verhaltensregeln spielt. Das heißt aber nicht, dass es in diesem Typ von Spiel keine Regeln gäbe. Die Basisregel dieses Typs besteht nämlich darin, die Spielwelt so zu gestalten, dass die Zuschauer davon so fasziniert sind, dass auch sie auf diese Weise indirekt zu Mitspielern werden. Die Möglichkeiten, das Verkleidungsspiel als Sinnbild für Sprache zu nutzen, sind recht vielfältig. Im Prinzip lässt sich beispielsweise die ganze fiktionale Literatur als ein solches Illusionsspiel betrachten, da sie einen Als-obCharakter besitzt. Fiktive sprachliche Objektivierungen von Welt haben keinen referenziellen Bezug zu einer empirisch gegebenen Welt, aber durchaus strukturelle Analogien zur realen Welt, insofern sie ikonische Zeichen bzw. Modelle für Problemkonstellationen, Entscheidungssituationen, Entwicklungsprozesse usw. objektivieren können. Auch der bildliche und der ironische Sprachgebrauch lässt sich sicherlich in gewissem Maße als ein solches, allerdings durchsichtiges Verkleidungsspiel verstehen. In der klassischen Rhetorik ist deshalb die Metapher ja auch ausdrücklich als eine ornamentale Sprachform verstanden worden und die Ironie als ein Verstellungsspiel, das mit dem Gedanken eines gespielten Kleintuns in Verbindung gebracht worden ist.25 Diese Sichtweise auf die pragmatischen Funktionen des metaphorischen und ironischen Sprachgebrauchs wird heute zwar nicht mehr von allen geteilt, weil man diesen nicht mehr als eine Ersatzform für einen eigentlichen Sprachgebrauch ansieht, sondern eher als eine Ausdrucksform für eine ganz eigenständige Sinnbildungsstrategie bzw. Sachverhaltsdarstellung. Aber selbst wenn man den metaphorischen und ironischen Sprachgebrauch als ein Verkleidungsspiel ansieht, so kann man ihn dennoch als ein Einkleidungsspiel betrachten, das Sinnbildungsprozesse ermöglicht, die auf andere Weise nicht oder nicht so prägnant realisiert werden können. Dann wäre die Mimikryvorstellung weniger als eine Verkleidungs- und Verfremdungsstrategie zu beurteilen, sondern eher als eine Erscheinungsform von Wandlungs- und Anpassungsfähigkeiten. Als eine Variante sprachlicher Mimikryspiele ist sicherlich auch das Reanimierungsspiel mit sogenannten toten Metaphern anzusehen. Viele Redewendungen, die ursprünglich metaphorisch zu verstehen waren, haben sich im Laufe der Zeit zu ganz normalen Redeweisen gewandelt, weil sich die Semantik von bestimmten Wörtern entsprechend dem neuartigen Gebrauch auf neue Weise begrifflich verfestigt hat (Der Strom fließt. Es regnet Bindfäden.) Wenn nun diese Redewendungen in Kontexte eingebettet werden, die es nahelegen, einzelne Wörter in ihrem ursprünglichen Sinne zu verstehen, dann lässt sich wohl auch von sprachlichen Verwandlungsspielen sprechen (Es regnet Bindfäden, sammle sie bitte ein!). Insbesondere Till Eulenspiegel ist ein Meister solcher Verwandlungsspiele, denn ein großer Teil seiner Eulenspiegeleien besteht darin, Wörter wieder beim Wort zu nehmen und ihr inzwischen konventionalisiertes neues semantisches Profil einfach nicht zu beachten.
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Vgl. H. Weinrich, Linguistik der Lüge, 19704. S 59 ff.
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Als Rauschspiele (gr. Ilinx = Wasserstrudel) fasst Callois alle Spiele zusammen, die zu einer rauschartigen Entladung von Kräften führen, bei der bestimmte Aktivitäten tranceartig bis zur völligen Erschöpfung fortgeführt werden wie etwa beim Tanzen oder beim Schifahren. Dieser Spieltyp braucht kein Regelwerk und keine konkreten Handlungsintentionalitäten, weil er auf der Funktionslust bei den jeweiligen Tätigkeiten beruht. Als Sinnbild für Sprache lässt sich dieser Typ von Spiel nur sehr begrenzt nutzen. Allenfalls kann man in diesem Zusammenhang auf den Plapperdrang von Kindern verweisen oder auf kindliche Reim- und Verdrehungsspiele. Alle diese Spiele haben eine immanente Fortsetzungstendenz, die aus einem sprachlichen Kraftüberschuss resultiert bzw. aus einer Funktionslust beim Gebrauch von Sprache.
3. Die anthropologische Aspekte von Spielen Die typologische Ordnung von Spielen durch Callois ist natürlich nur eine von vielen Ordnungsmöglichkeiten. Wenn man sein Interesse an Spielen kulturell und anthropologisch orientiert, dann ergeben sich noch andere Möglichkeiten für die Wahrnehmung von Strukturmerkmalen bei Spielen. Unter diesen Umständen lassen sich dann natürlich auch andere Sinnbildfunktionen von Spielen für Sprache geltend machen, weil der Spielgedanke meist sehr viel unmittelbarer auf konkrete menschliche Handlungsmöglichkeiten bezogen wird als bei dem ausgesprochen typologisch orientierten Denkansatz von Callois. So hat beispielsweise Scheuerl sechs Strukturmerkmale von Spielen unterschieden, die in allen Spieltheorien mehr oder weniger stark als konstitutive Spielmerkmale hervorgehoben würden, nämlich Freiheit, innere Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit.26 Diese sechs Strukturmerkmale von Spielen dienen Scheuerl dazu, das Spielphänomen nicht so sehr über die Begriffe der Tätigkeit und der Intentionalität ins Auge zu fassen, sondern eher über den Begriff der Bewegung. Der Bewegungsbegriff hat für Scheuerl eine große anthropologische Relevanz, weil er sich auf eine motorische und auf eine geistige Ebene beziehen lässt und weil mit ihm außerdem verdeutlicht werden kann, dass das Spiel nicht nur in der Hand der Menschen liegt, sondern die Menschen auch in der Hand des Spiels. Im Rahmen dieser anthropologisch orientierten Denkperspektive sollen in den folgenden Überlegungen drei Fragestellungen in den Mittelpunkt des Interesses gestellt werden. Zum Ersten soll der Frage Aufmerksamkeit geschenkt werden, warum sich das Spiel und die Sprache als genuine Kulturphänomene betrachten lassen. Dabei könnte man auch in Erwägung ziehen, ob sich der Begriff Spiel nicht als ein Oberbegriff verwenden lässt, unter den dann die Begriffe Sprache und Kunst als Unterbegriffe fallen. Zum Zweiten soll disku-
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Vgl. H. Scheuerl, Das Spiel, Bd. 1, 199011, S. 67–102.
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tiert werden, inwiefern das Spiel und die Sprache bzw. das Spielen und das Sprechen als konstitutive Faktoren für die Selbstherstellung des Menschen angesehen werden können. Zum Dritten soll der Frage Aufmerksamkeit geschenkt werden, welche sozialintegrativen Funktionen sich sowohl dem Spiel als auch der Sprache zuordnen lassen. Das Interesse an diesen drei anthropologischen Dimensionen des Spiels und der Sprache ist natürlich immer auch ein Interesse an der Frage, warum sich im Laufe der Zeit so verschiedene Typen des Spielens und Sprechens herausgebildet haben und warum Menschen den Freiheitsraum des Spiels brauchen. Offenbar können sie nämlich nicht ständig Handlungsentscheidungen mit großen faktischen Konsequenzen aushalten bzw. den Zwang, einen Rubikon zu überschreiten oder nicht zu überschreiten.
Das Spiel als Kulturphänomen Am nachdrücklichsten und einfußreichsten hat wohl Huizinga die These vertreten, dass das Spiel ein genuines und konstitutives Kulturphänomen sei. Für ihn stellt sich das Spiel nicht nur als ein Phänomen in der Kultur dar, sondern als ein Phänomen, das im Prinzip als Grundlage aller Kultur anzusehen ist. Alle großen und ursprünglichen Betätigungen im menschlichen Zusammenleben und insbesondere die Sprache seien „bereits vom Spiel durchwoben.“27 Diese These rechtfertigt sich für Huizinga vor allem deswegen, weil die Dialektik von regelgebundenem und regeltranszendierendem Handeln, die alle Kulturformen grundlegend präge, im Spiel einen exemplarischen Ausdruck finde. Huizinga möchte alle Kulturformen letztlich als Spielformen verstanden wissen, insofern sich im Spiel immer die Notwendigkeit ergebe, Konventionen und Innovationen auszubalancieren. Deshalb versteht er den Menschen primär auch als ein spielendes Wesen (homo ludens) und nicht als ein geistiges Wesen (homo sapiens) oder als ein herstellendes Wesen (homo faber). Aus ähnlichen Überlegungen hat auch Buytendijk die Fähigkeit zum Spielen als genuine Manifestation von Jugendlichkeit, Flexibilität und Regenerationsfähigkeit verstanden, und zwar sowohl auf der Ebene der Motorik als auch auf der der Geistigkeit. Die Spielfähigkeit reduziere sich beim Menschen mit zunehmendem Alter, wenn sich in der Not des Lebens das Handeln immer zweckrationaler gestalte und gestalten müsse. Der Aufbau von festen Regelsystemen führe zur Versteifung von Strukturen, die das Handeln zwar effektiver machten, aber zugleich auch die Spielräume für innovatives und gestaltendes Handeln entscheidend reduzierten. Wenn Handlungsprozesse und Handlungsergebnisse berechenbar würden und das Moment des Zufalls aus ihnen verschwände, dann verlören sie ihren potenziellen Spielcharakter und ihre tieferen anthropologischen Dimensionen, weil nun ein Individuum im Prozess
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J. Huizinga, Homo ludens, Vom Ursprung der Kultur im Spiel, 1956, S. 12.
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Die Sprache als Spiel
des Handelns nicht mehr wachsen könne. „Spielen ist also nicht nur, daß einer mit etwas spielt, sondern auch, daß etwas mit dem Spieler spielt.“28 Die These, dass sich die Menschen beim Spielen fortentwickelten, wenn nicht sogar andere würden, bedarf noch einer anthropologischen Fundierung. Dabei ist dann auch plausibel zu machen, dass das Spielen zwar eine relativ zweckfreie menschliche Aktivität im Hinblick auf unmittelbare Lebensnotwendigkeiten ist, aber keineswegs ein zweckfreies Geschehen in einem umfassenden anthropologischen Sinne. In diesem Zusammenhang kann man dann auch wieder auf den von Herder konzipierten und von Gehlen weiterentwickelten Gedanken zurückgreifen, dass der Mensch hinsichtlich seiner biologischen Instinktausstattung im Vergleich mit den Tieren ein Mängelwesen sei und dass er eben deshalb kultureller Institutionen wie etwa der Sprache oder der Sitten bedürfe, um leben und überleben zu können.29 Den von Herder und Gehlen thematisierten Tatbestand muss man nun nicht unbedingt über den Begriff des Mängelwesens negativ deuten, man kann ihn über den Begriff des Kulturwesens auch positiv verstehen. Diesen Weg, der eigentlich auch der Herders war, ist beispielsweise Landmann gegangen. Er möchte auf eine fast paradoxe Weise den Menschen sowohl als Schöpfer als auch als Geschöpf der Kultur verstanden wissen bzw. als eine „halbvollendete Schöpfung“, die sich erst selbst vollenden müsse.30 Für ihn ist die Kultur gleichsam ein nach außen verlagertes Organ, das die einzelnen Menschen mit ihren jeweiligen Kulturgenossen teilten und das eine weitaus größere morphologische und funktionale Plastizität besitze als ihre spezifischen biologischen Organe. Deshalb könne die Kultur auch als Prämisse menschlichen Lebens angesehen werden. „Kultur ist nicht Zierde, nicht Nacherwerb, sondern Bedingung der menschlichen Existenzform.“ 31 Wenn man nun das Spielen als Nährboden der Kultur und Spielformen als genuine Kulturformen versteht, dann ist klar, dass sich das Spiel in einer anthropologischen Denkperspektive sehr gut als ein Sinnbild für Sprache betrachten lässt. Spiel und Sprache sind geisterzeugt und geisterzeugend. Beide Phänomene entwickeln sich kulturell durch die Erzeugung und Variation von Ordnungsstrukturen. Kulturelle Umbrüche stellen sich in beiden Bereichen als Umbrüche von Regelsystemen dar. Menschliche Freiheiten repräsentieren sich in beiden Bereichen als Entwicklung, Variation und Nutzung von Handlungsformen in bestimmten abgrenzbaren Räumen. Der Verzicht auf Regeln ist dann ebenso kulturzerstörend wie die Verabsolutierung von Regeln. Spiel und Sprache gewinnen ihren anthropologischen Wert durch das kreative Zusammen-
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F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels, 1933, S, 117. Vgl. J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, 19642, S. 18. A. Gehlen, Der Mensch, 197812, S. 82 ff. 30 M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 16 ff. 31 M. Landmann, Fundamental-Anthropologie, 19842, S. 53. 29
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spiel von Konventionalität und Kreativität, von Regelbindung und Gestaltungsfreiheit sowie von Sozialität und Individualität. Mit rein zweckrationalen Überlegungen lässt sich das sinnbildliche Potenzial des Spiels für die Sprache nicht zureichend erfassen. Wenn man Spielaktivitäten nur in der Perspektive von spielexternen Zielsetzungen sieht, wie etwa der Ausbildung motorischer, sensorischer und geistiger Fertigkeiten, der Schulung eines disziplinierten regelgerechten Verhaltens, der Abreaktion von überschießenden Kräften oder der therapeutischen Ablenkung von Problemen, dann verfehlt man nicht nur das umfassende anthropologische Potenzial von Spielen, sondern auch viele ihrer sinnbildlichen Funktionsmöglichkeiten. Ähnliches gilt auch für die Sprache. Wenn man sie nur als Hilfsmittel für die Benennung von vorgegebenen Begriffen oder für die Übermittlung von Informationen sieht und darüber ihre spielerischen Gestaltungsimplikationen in Sinnbildungsprozessen übersieht, dann bekommt man ein sehr reduziertes Vorstellungsbild von ihren Möglichkeiten. Ebenso wie man das Phänomen Wasser verkürzt wahrnimmt, wenn man es nur als Hilfsmittel zum Waschen sieht, so nimmt man auch das Phänomen Sprache verkürzt wahr, wenn man es nur als Hilfsmittel für die Übermittlung von Informationen ins Auge fasst.
Die kulturelle Selbsterzeugung des Menschen im Spiel Die These Landmanns, dass der Mensch sowohl Schöpfer als auch Geschöpf der Kultur sei, lässt sich auf die ziemlich materialistische These zuspitzen, dass der Mensch Produkt seiner Produkte sei. In dieser Zuspitzung tritt dann der Gedanke sehr klar hervor, dass der Mensch kulturhistorisch gesehen vielleicht gar kein ahistorisch vorgegebenes Wesen hat, sondern sich vielmehr erst selbst durch seine Handlungen bzw. durch den Umgang mit den von ihm selbst hergestellten Dingen und Lebensformen auf variantenreiche Weise geschichtlich erzeugen kann oder gar muss. Wenn man das Spiel nicht nur als ein Phänomen in der Kultur, sondern darüber hinaus sogar als Nährboden und Grundlage der Kultur ansieht, dann greift das Verständnis von Spielen als bloßen Einübungsformen von Kräften und kulturellen Verhaltensweisen ganz offensichtlich zu kurz. Wir müssen dann nämlich auch nach dem Beitrag des Spiels bei der kulturhistorischen Selbsterzeugung des Menschen fragen. In dieser Denkperspektive rückt das Spiel auf ganz natürliche Weise in eine große Nähe zur Sprache und zur Kunst, die sich dann alle drei in ihrer kulturellen Funktion wechselseitig erhellen. Die anthropologische Verwandtschaft aller drei Phänomene beruht dabei nicht zuletzt darauf, dass alle drei ganz genuine Zeichenphänomene sind. Insofern lässt sich dann auch das Verständnis des Menschen als homo ludens bei Huizinga recht leicht mit dem Ver-
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Die Sprache als Spiel
ständnis des Menschen als animal symbolicum bei Cassirer verbinden.32 Den spielerischen Gebrauch von Zeichen könnte man dann auch als eine Form des Zeichengebrauchs betrachten, der anthropologisch gesehen den gleichen Wert beanspruchen kann wie der zweckrationale informative Zeichengebrauch. Eine solche Parallelisierung von Spiel, Kunst und Sprache hat eine lange Tradition in anthropologischen Überlegungen, die bereits in Schillers diesbezüglichen Reflexionen einen Höhepunkt gefunden haben. Die fruchtbaren Auswirkungen des Spielens auf die Entwicklung des Menschen hat schon John Locke in seinen Überlegungen zur Erziehung und zur Semiotik thematisiert. Er hat gefordert, dass Kinder nicht nur sehr verschiedenartige Spielsachen nutzen sollten, sondern auch sehr einfache, weil dadurch ihre Phantasietätigkeit entscheidend angeregt werde. Kinder sollten keine fertigen Spielsachen aus den Läden bekommen, sondern dazu motiviert werden, einfache Dinge wie etwa Steine zu Spielsachen zu machen. Dann kämen sie nämlich im eigentlichen Sinne zum Spielen bzw. zum spielerischen Gestalten und würden dazu angehalten, die Dinge nicht von vorn herein monofunktional nur in einer einzigen Wahrnehmungsperspektive wahrzunehmen.33 Der Gedanke von Locke, dass das Spielen seine anthropologische Funktion erst dann voll erfüllen könne, wenn die Mittel des Spiels nicht normativ vorgegeben würden, sondern erst im Spielvorgang selbst mit Hilfe der menschlichen Einbildungskraft konkrete Gestalt gewönnen, ist für die Analogisierung von Spiel, Kunst und Sprache sicherlich von ganz zentraler Bedeutung. Gegenstände und Wörter dürfen so gesehen nämlich in Spielvorgängen nicht nur einfach benutzt werden, sondern sie müssen dabei zu Sinngestalten bzw. zu Zeichen gemacht werden, die einem bestimmten Gestaltungswillen Ausdruck geben. Das bedeutet, dass der Eintritt in ein Spiel immer als ein Eintritt in eine Als-ob-Struktur zu verstehen ist, durch die die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten sensibilisiert und ausgeweitet werden. Das hat auch für Locke wichtig Implikationen für Unterrichtsprozesse, da diese sich für ihn keineswegs auf die bloße Übermittlung von Informationen konzentrieren dürfen. Sehr intensiv hat sich Schiller mit dem Problem der kulturellen Selbsterzeugung des Menschen im Spiel bzw. in der Kunst auseinandergesetzt. In seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen hat er betont, dass der Mensch in seinem Leben durch zwei gegenläufige Energien bzw. Triebe bestimmt werde, die er immer wieder neu ausbalancieren müsse.34 Der sogenannte Stofftrieb richte den Menschen auf die direkte Anteilnahme an der Welt und auf die Fülle des Lebens aus. Der sogenannte Formtrieb bestimme ihn dagegen dazu, die Vielfalt des Erfahrbaren in übersichtliche Formen zu brin-
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Vgl. E. Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 51, 70. Vgl. J. Locke, Rechtfertigung für das Nutzlose, in H. Scheuerl (Hrsg.), Das Spiel, Bd. 2 , Spieltheorien, 199111, S. 16–20. 34 Vgl. F. von Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, insbesondere Brief 11, 13, 14 und 15. Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 20, S. 309–412. 33
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gen bzw. den Reichtum des sinnlich Erfassbaren geistig zu strukturieren. Dementsprechend wolle der Stofftrieb empfangen und der Formtrieb gestalten. Im faktischen Leben ließen sich beide Triebe kaum miteinander versöhnen, obwohl die Vernunft immer fordere, beide Triebe miteinander zu verbinden. Eine mögliche Versöhnung von Stoff- und Formtrieb gibt es für Schiller eigentlich nur im Reiche der Kunst bzw. in Form von Aktivitäten, die er als Spieltrieb zusammenfasst. Im Spieltrieb könnten sich die beiden Grundtriebe durchdringen und lebende Gestalten erzeugen bzw. Schönheit. Das bedeutet, dass sich der Mensch für Schiller erst im Reiche der Kunst als der höchsten Manifestationsform des Spiels wirklich ganz entfalte bzw. zu dem werden könne, worauf er eigentlich angelegt sei. „Denn, um es auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ 35
Die These Schillers, dass die Versöhnung von Stofftrieb und Formtrieb nur im Reiche der Kunst bzw. des Spiels möglich sei, lässt sich sicher so verstehen, dass das auch beim spielerischen Sprachgebrauch möglich ist. Bei diesem wird die Sprache nämlich nicht nur zweckrational zur Übermittlung von Informationen genutzt, sondern experimentell so, dass alle menschlichen Gestaltungskräfte dadurch angeregt werden. Der spielerische Sprachgebrauch würde so gesehen dann zu einer wesentlichen Bedingung der Ausbildung menschlicher Identität werden. In ihm wäre es dann nicht nur möglich, leichter, sondern auch besser zu denken, weil dieser Sprachgebrauch menschenförmiger wäre als der rein zweckrationale und informationsgenaue begriffliche Sprachgebrauch, der die Menschen immer auf schon vorgebahnten Wegen hält. Aus ähnlichen Überlegungen heraus hat auch Jean Paul das Spiel als „erste Poesie des Menschen“ bezeichnet und seinen Wert so beschrieben: „Folglich bildet das Spiel alle Kräfte, ohne e i n e r eine siegende Richtung anzuweisen.“ 36
Die dialogische Struktur von Spielen Obwohl die verschiedenen Spielformen von Strukturierungs- bis zu Wettkampfspielen, von Individual- bis zu Gemeinschaftsspielen, von motorischen bis zu geistigen Spielen sehr unterschiedliche Realisationsformen aufweisen, wird man sagen können, dass alle Spiele durch eine dialogische Grundstruktur geprägt werden, wodurch sie dann auch immer einen unmittelbaren sozialen Wert bekommen. In jedem Spiel hat man sich mit widerständigen Kräften auseinanderzusetzen, seien es nun Widerstände und Eigenarten von Dingen,
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F. von Schiller, a.a.O., 15. Brief, S. 359. J. Paul, Levana oder Erziehungslehre, § 49, Werke, Bd. 9, 1975, S. 306.
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Die Sprache als Spiel
von Ordnungsstrukturen oder von anderen Menschen. Beim Spielen lernt man, nicht nur sachadäquat mit Gegenkräften umzugehen bzw. mit ihnen zu kooperieren, sondern kann auch die Chance zu nutzen, über vielfältig strukturierte Interaktionsanforderungen sein eigenes Potenzial an Kräften und Strebungen auszubilden und damit natürlich auch seine eigene Identität. Der Vorgang der Einverleibung von anderem (Assimilation) bzw. der Anpassung an anderes (Akkommodation), der für das biologische Leben eine fundamentale Bedeutsamkeit hat, wird beim Spielen auf einer geistigen Ebene fortgesetzt. So gesehen sind Spiele und Dialoge eng miteinander verwandt. Beide Phänomene gründen sich auf die Aktivitäten von Subjekten, ohne vollständig in deren Hand zu geraten, weil sie als Interaktionsprozesse immer wieder auf ihre jeweiligen Akteure zurückwirken. Deshalb haben Spiele und Dialoge auch eine so fundamentale Funktion für die Ausbildung der menschlichen Individualität und Sozialität. Über Spiele und Sprache vernetzen sich Individuen nicht nur mit der Welt und mit anderen Individuen, sondern auch mit sich selbst. Der Tatbestand, dass Spiele und Sprache dazu dienlich sind, Systeme und Strukturen interaktiv zu koordinieren, hat dazu geführt, dass Spieltheorien in den Natur- und Geisteswissenschaften eine zunehmende Relevanz bekommen haben. Während die klassischen Naturwissenschaften lineare Kausalstrukturen und die klassischen Sozialwissenschaften faktische Entscheidungen und Handlungspläne in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt haben, richtet man in diesen Wissenschaften heute sehr viel mehr Aufmerksamkeit darauf, Analyseverfahren zu entwickeln, bei denen Wechselwirkungsprobleme im Zentrum des Interesses stehen. Das hat zu Folge, dass zunehmend nicht feste Systeme, sondern eher variable Strukturen als Grundlage von Ordnungszusammenhängen angesehen werden und dass man deshalb auch das modelltheoretische Denken entsprechend umzustrukturieren hat. Die Ausdifferenzierung von Spielen aller Art ist immer mit der Ausdifferenzierung ihrer dialogischen bzw. interaktiven Strukturen verbunden. Dabei ist dann zu berücksichtigen, dass ein Handeln ohne Regeln die Handlungsbeteiligten überfordern bzw. zu chaotischen Zuständen führen würde und dass ein Handeln nach allzu rigiden Regeln alle Handlungs- und Gestaltungsspielräume unfruchtbar einengen würde. Derjenige, der alles weiß, und derjenige, der Entscheidungen nur nach festen Regeln und Gewohnheiten trifft, ist auf je unterschiedliche Weise ein Spielverderber, weil keiner von beiden die Chancen wirklich zu nutzen weiß, die sich durch die dialogische Grundstruktur von Spielen eröffnen. Gerade wenn man das Spielen als eine Form des Experimentierens versteht, dann braucht es notwendigerweise die dialektische Spannung des Dialogs zwischen gegenläufigen, aber auch kooperierenden Kräften. Die Ähnlichkeit zwischen Spiel und Sprache hat Humboldt nicht direkt thematisiert, aber indirekt doch dadurch, dass er immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, dass man das Phänomen Sprache nicht vom monologischen, sondern vielmehr vom dialogischen Sprachgebrauch her ins Auge zu fassen habe. Wenn er davon spricht, dass die Sprache nicht als Werk, sondern als Tätigkeit anzusehen sei, dass sich ihre Definition genetisch an ihrer Funkti-
Der Sprachspielgedanke von Wittgenstein
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onalität zu orientieren habe und dass sie das bildende Organ des Gedanken sei, dann wird deutlich, dass der dialogische Gebrauch der Sprache mit seinen vielfältigen Rückkopplungsmöglichkeiten und Spielimplikationen im Mittelpunkt seines sprachtheoretischen und anthropologischen Denkens gestanden hat. „Denn der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat.“37 Wenn das dialogische Prinzip das grundlegende Organisations- und Funktionsprinzip der Sprache ist, dann hat das natürlich auch Rückwirkungen auf die historisch gewachsene Systemstruktur der Sprache bzw. auf unser theoretisches Interesse an der Sprache. Wichtig dürfen uns unter diesen Umständen nun nämlich nicht nur diejenigen Sprachformen seien, die tendenziell eine Objektivierungs- bzw. Repräsentationsfunktion für gegebene Sachverhalte haben, sondern vor allem auch diejenigen, die dazu dienlich sind, sprachliche Interaktionsprozesse aller Art als dialogische Prozesse zu organisieren. Hier wäre insbesondere an grammatische Zeichen im engeren Sinne zu denken, die uns wie etwa die Kasus-, Tempus-, Modus- und Genuszeichen Hinweise auf die sinnbildenden Rollen von lexikalischen Zeichen geben, aber auch an Modalpartikeln, die als Indikatoren für Sprechakte verwendet werden oder an Modalwörter, mit denen Sprecher ihre eigenen Aussagen unauffällig kommentieren. Ohne solche metainformativen Zeichen ist ein dialogisch und spielerisch orientierter Sprachgebrauch gar nicht denkbar. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Funktionen von solchen metainformativen Sprachzeichen im mündlichen Sprachgebrauch zum Teil auch durch prosodische, gestische oder mimische Zeichenformen übernommen werden können.
4. Der Sprachspielgedanke von Wittgenstein „Steckt uns da nicht die Analogie der Sprache mit dem Spiel ein Licht auf?“38 Diese bescheidene Frage Wittgensteins kann heute wohl nur noch als eine rhetorische Frage verstanden werden, nachdem sein Begriff des Sprachspiels inzwischen zu einem Mode- wenn nicht Basisbegriff der Sprachtheorie geworden ist. Obwohl Wittgensteins Terminus Sprachspiel eher eine programmatische Leitvorstellung für das sprachtheoretische Denken bezeichnet als einen klar definierten Begriff, hat das seine Wirksamkeit nicht geschwächt, sondern eher gestärkt, da sich die Vorstellung des Sprachspiels sehr gut dazu eignete, zur Projektionsfläche für vielerlei sprachtheoretische Ambitionen zu werden. Im Folgenden soll versucht werden, in drei Perspektiven verständlich zu machen, warum die Sprache als eine besondere Erscheinungsform von Spielen
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W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 377. 38 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 83, 1967, S. 57.
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Die Sprache als Spiel
verstanden werden kann. Erstens soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, wie sich über den Begriff Gebrauch Spiel- und Sprachmittel funktional gut analogisieren lassen. Zweitens soll diskutiert werden, wie sich mit Hilfe des Begriffs Lebensform Ähnlichkeiten zwischen der Sprache und dem Spiel herausarbeiten lassen. Drittens soll geprüft werden, wie sich über den schon thematisierten Begriff Regel auf fundamentale Ähnlichkeiten zwischen der Sprache und dem Spiel aufmerksam machen lässt. Dabei hat man dann allerdings den Regelbegriff dialektisch zu verstehen und zu akzeptieren, dass einerseits die Sprecher die Sprache und die Spieler das Spiel in der Hand haben, aber andererseits auch die Sprache die Sprecher und das Spiel die Spieler.
Die Sprache als Sprachgebrauch Die methodische Grundentscheidung, das Phänomen Sprache nicht mit Hilfe des Abbildungs-, Repräsentations- oder Systemgedankens zu konzeptualisieren, sondern mit Hilfe des Gebrauchsgedankens hat sehr weitreichende sprachtheoretische Implikationen und Konsequenzen. Bei diesem neuen Denkansatz geht man nämlich nicht nur von ganz anderen Denkprämissen aus, sondern richtet sein Erkenntnisinteresse auch auf ganz andere Ziele. Diese Umorientierung des sprachtheoretischen Denkens kommt bei Wittgenstein recht gut in der Neuorientierung seines Bedeutungsbegriffs zum Ausdruck. Im Tractatus hatte Wittgenstein noch einen referenztheoretisch orientierten Bedeutungsbegriff favorisiert, insofern er Wörtern eine Stellvertreterfunktion für Dinge und Sätzen eine solche für Sachverhalte zugeschrieben hatte. „Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.“39 Im dem späteren Neuansatz seines semantischen Denkens hat er dann einen handlungstheoretisch bzw. pragmatisch orientierten Bedeutungsbegriff favorisiert. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“40 Diese Umorientierung des semantischen Denkens rückt dann auch den Intentionsbegriff sehr nachhaltig in den Mittelpunkt seines sprachtheoretischen Interesses. „Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt, so bricht damit ihre ganze Funktion zusammen.“ 41 Wittgensteins pragmatische Orientierung in der zweiten Phase seines sprachphilosophischen Denkens ist allerdings nicht so neuartig oder gar revolutionär, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag und zuweilen auch ausgegeben wird. Sie begegnet uns schon in der antiken Rhetorik und im mittelalterlichen Nominalismus. Insbesondere die Nominalisten hatten schon die sehr konstruktivistisch anmutende Auffassung vertreten, dass Wörter bzw. Begriffe
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L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4. 0312, 19685, S. 37. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43, 1967, S. 35. 41 L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 2, S. 63. 40
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keine ontisch vorgegebenen Seinsdinge repräsentierten, sondern vielmehr dazu dienten, bestimmten menschlichen Erkenntnis- und Differenzierungsinteressen sprachlichen Ausdruck zu geben. Auch Peirce ist in seiner Semiotik davon ausgegangen, dass Zeichen nicht als Stellvertreter für vorgegebene Objekte anzusehen seien, sondern vielmehr als heuristische und operative Mittel der Vorstellungsbildung im Prozess der Sinnkonstitution und Sinnzirkulation. Das bedeutet, dass in all diesen pragmatischen Denkansätzen sprachliche Zeichen vornehmlich als Hilfsmittel angesehen werden, um kognitive Unklarheiten bei der Wahrnehmung der Welt zu beseitigen und um Einfluss auf die Vorstellungsbildung von Kommunikationspartnern zu nehmen. In einer noch radikaleren Weise als Wittgenstein hatte schon Mauthner den Gedanken entwickelt, das Phänomen Sprache methodisch über den Gedanken des Sprachgebrauchs zu erschließen, worauf schon in dem Kapitel über den Werkzeugcharakter der Sprache hingewiesen worden ist. Dabei ist die Sprache für Mauthner allerdings kein Gebrauchsgegenstand, der sich wie ein Werkzeug durch ständige Nutzung verschlechtert oder gar verbraucht. Allenfalls würden sich einzelne Wörter im Gebrauch verschleißen oder entwerten, aber nicht die Sprache insgesamt, weil diese gerade erst durch ihre operative Nutzung ihre spezifische Gestalt gewinne. „Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs, auch kein Werkzeug, sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch. Da ist es doch kein Wunder mehr, wenn der Gebrauch mit dem Gebrauche sich steigert.“ 42
Die Idee, die Sprache über den Gebrauchsgedanken zu erschließen, hat bei Wittgenstein zwei Ebenen, die einen je unterschiedlichen Bezug zum Sprachspielgedanken haben. Einerseits sieht er nämlich den Gebrauchsgedanken mit dem Regelgedanken verknüpft. Auf dieser Verständnisebene wird ihm dann insbesondere das Schachspiel zu einem aufschlussreichen Sinnbild für Sprache. Andererseits sieht er den Gebrauchsgedanken mit dem Intentionsgedanken verknüpft. Auf dieser Verständnisebene wird ihm dann insbesondere die Frage nach den Freiheitsspielräumen in sprachlichen Regelsystemen wichtig bzw. die Frage danach, wie Regeln sich ausbilden und verändern lassen, damit die Sprache bzw. das Sprechen zu einer zentralen Lebensform werden kann. Das Schachspiel ist immer wieder als Sinnbild für Sprache in Anspruch genommen worden. De Saussure hat es verwendet, um zu verdeutlichen, was in der Sprache eine äußere und was eine innere Relevanz hat und wie das Systemkonzept hinter dem Schachspiel auch auf die Sprache bezogen werden kann. Äußerlich am Schachspiel sei beispielsweise, dass es aus Persien komme und dass seine Figuren aus bestimmten Materialien gefertigt seien. Innerlich an ihm sei, dass die Zahl seiner Figuren und deren Bewegungsmöglichkeiten streng festgelegt seien. Eingriffe in die inneren Merkmale des Schachspiels
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F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1910/1982, S. 24.
Die Sprache als Spiel
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seien Eingriffe in seinen genuinen Systemcharakter und könnten deshalb mit Eingriffen in das grammatische Ordnungssystem einer Sprache verglichen werden. „Wenn ich aber die Zahl der Figuren verringere oder vergrößere, so greift das tief in die Grammatik des Spiels ein.“ 43 Wittgenstein nimmt das Schachspiel in Anspruch, um sowohl das Regelals auch das Bedeutungsproblem zu veranschaulichen. Für ihn sind Benennungen von Schachfiguren und von Dingen zwar keine bedeutungskonstitutiven oder gar sinnbildenden Akte, aber durchaus wichtige Vorbereitungshandlungen dafür. „Das Benennen ist eine Vorbereitung zur Beschreibung. Das Benennen ist noch kein Zug im Sprachspiel, – so wenig, wie das Aufstellen einer Schachfigur ein Zug im Schachspiel. Man kann sagen: Mit dem Benennen eines Dings ist noch nichts getan. Es hat auch keinen Namen, außer im Spiel. Das war es auch, was Frege damit meinte: ein Wort habe nur im Satzzusammenhang Bedeutung.“ 44
Die Bedeutung bzw. Funktion eines Zeichens, sei es nun eine Schachfigur oder ein Wort ergibt sich für Wittgenstein aus den konventionalisierten Spielregeln, die seinen Gebrauch bestimmen. „ »Ich kann das Wort ‚gelb’ anwenden«, dem ist analog: »ich kann mit dem König im Schachspiel ziehe«.“ 45 Während sich de Saussure im Rahmen seines Systemdenkens primär für die konventionalisierten statischen Strukturaspekte des Schachspiels interessiert, schenkt Wittengenstein eher den Aktionsmöglichkeiten der Schachfiguren und damit den dynamischen Aspekten des Schachspiels seine Aufmerksamkeit. De Saussure geht bei seiner Analogisierung von Schachspiel und Sprache allerdings nicht auf das Problem ein, ob die Gebrauchsregeln für Sprachformen wirklich so rigide wie die Gebrauchsregeln für Schachfiguren sind und welche Chancen Spieler und Sprecher haben, diese Regeln zu variieren oder gar zu ändern. Das würde nämlich den Geltungsanspruch seines Langue-Konzeptes ganz erheblich gefährden. Wittgenstein sieht zwar im Gegensatz zu de Saussure die innere Dynamik beim Gebrauch sprachlicher Formen, aber dennoch macht er dieses Phänomen nicht zu einem Gesichtspunkt, um ausdrücklich auf die Differenz der Gebrauchsregeln für Sprachformen und Schachfiguren aufmerksam zu machen. Nur sein Hinweis darauf, dass der Gebrauch von Sprachformen nicht allein über den Regel- oder Konventionsbegriff zu beschreiben sei, sondern insbesondere auch den Intentionsbegriff zu berücksichtigen habe, macht auf die mögliche Differenz von Sprachspielen und Schachspielen aufmerksam. Diese Differenz verdeutlicht sich auch, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Wittgenstein die Sprache ausdrücklich nicht als Systemordnung, sondern vielmehr als Lebensform zu thematisieren versucht.
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F. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, 19672, S. 27. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 49, 1967, S. 39. Vgl. auch § 108, S. 66. 45 L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Bd. 4, S. 49. 44
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Die Sprache als Lebensform Die Grundüberzeugung des späten Wittgenstein, dass sich das Nachdenken über Sprache nicht abbildungs- und systemtheoretisch zu orientieren habe, sondern vielmehr handlungstheoretisch, zwingt dazu, mit einem weitgespannten dynamischen Strukturbegriff zu arbeiten, der die komplexen pragmatischen Funktionen von Sprache in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt und nicht ihre synchrone Systemordnung auf einer bestimmten historischen Stufe. Das macht dann auch verständlich, warum er das Phänomen Sprache nicht nur mit Hilfe des Sprachspielgedankens zu veranschaulichen sucht, sondern auch mit Hilfe des Konzepts der Lebensform. „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“ „Das Wort »Sprachspiel« soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder einer Lebensform.“ 46
Die Wahrnehmung der Sprache als Lebensform macht die Systemaspekte der Sprache nur insofern wichtig, als diese helfen, die Lebensrelevanz und den Intersubjektivitätscharakter der Sprache besser zu verstehen. In diesem Zusammenhang wird Wittgenstein deshalb dann auch der schon erwähnte Begriff der Familienähnlichkeit so interessant, weil dieser einerseits dazu dienlich ist, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Realisationsformen von Sprachspielen zu thematisieren, aber andererseits auch dazu verwendbar ist, die Gemeinsamkeiten zwischen Sprachspielen als Lebensformen hervorzuheben. „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort »Familienähnlichkeiten«; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die >Spiele< bilden eine Familie.“47
Das Sinnbild der Familienähnlichkeit zwischen Spielen bzw. Sprachspielen erläutert Wittgenstein durch die Vorstellung eines Fadens, der einen inneren Zusammenhang habe, obwohl er nicht immer aus einer durchgehenden Faser bestehe. „Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.“ 48 Ein Merkmal, das alle Sprachspiele als Lebensformen im Sinne einer Familienähnlichkeit zusammenhält, ist wohl ihre Regelgebundenheit, die sicherstellt, dass Sprachen intersubjektiv verständlich sind. Dabei ist sowohl an explizit formulierbare Regeln zu denken als auch an sprachliche Handlungsge-
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L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 19, 1967, S. 20 und § 23, S. 24. L. Wittgenstein, a.a.O., § 67, S. 48 f. 48 L. Wittgenstein, a.a.O., § 67, S. 49. 47
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Die Sprache als Spiel
pflogenheiten, die sich in einem Gefühl für zulässige Verwendungsweisen von einzelnen Sprachformen in bestimmten Sprachspielen manifestieren. Lebensformen, seien es nun Sitten oder Sprachspiele, haben sich erfolgreich über ein gefühlsmäßig präsentes Handlungswissen organisiert, lange bevor es diesbezüglich explizit formulierte Regeln gegeben hat. Deshalb ist ja auch schon betont worden, dass Regeln den jeweiligen Spielen und Sprachspielen nicht von außen aufgezwungen werden, sondern dass sie eine unabdingbare Voraussetzungen für deren Existenz sind. Die Unterscheidung von konstitutiven Regeln, die ein Spiel erst erschaffen, und organisierenden Regeln, die konkret praktizierte Verhaltensweisen in einem Spiel betreffen, ist deshalb eine sehr polarisierende und typisierende Unterscheidung, die bei der faktischen Funktionsbeschreibung von Spielregeln nicht allzu weit führt. Über den Begriff der Regel lässt sich ganz gut verdeutlichen, dass Spiele und Sprachspiele als soziale Handlungsgepflogenheiten verstanden werden können bzw. als Ausdrucksformen eines gemeinsamen Wissens darüber, was mit einzelnen Handlungen bezweckt werden soll oder kann. Ebenso wenig wie es rein private Lebensformen gibt, ebenso wenig gibt es auch rein private Sprachspiele. Alle Lebens- und Sprachformen sind auf Sozialität, Dialogizität und Interaktivität angelegt. Selbst wenn man als Einsiedler lebt oder wenn man sich eine ganz individuelle eigene Sprache entwickelt, so gewinnen auch diese Lebens- und Sprachformen erst als Kontrastformen zu den üblichen Lebensund Sprachformen ihr spezifisches Profil. Spielräume aller Art eröffnen sich eigentlich nicht im Kampf gegen sozial akzeptierte Regularitäten, sondern allenfalls im Kampf um die konkrete Ausgestaltung und die spezifischen Regulationsfunktionen von Handlungsgepflogenheiten im sozialen Raum.
Die Exaktheit von Sprachregeln Der Grad der Exaktheit von Spiel- und Sprachregeln ist durch die Funktionen des jeweiligen Spielens und Sprechens bedingt. Wettkampfmäßiges Spielen und argumentatives Sprechen brauchen naturgemäß präzisere Regeln als freies Spielen und experimentierendes Sprechen. Der wissenschaftliche und der poetische Sprachgebrauch exemplifizieren sehr klar, dass beide zu jeweils ganz unterschiedlichen Sprachspielen bzw. Lebensformen gehören, weil sie ganz unterschiedliche Interaktionsräume eröffnen sollen. Beim Spielen und Sprechen sind natürlich diejenigen Regeln sehr viel strikter zu konzipieren und zu befolgen, die eine konstitutive Ordnungsfunktion für den jeweiligen Handlungstyp haben, als diejenigen, die nur das strategische oder taktische Verhalten der jeweiligen Spieler und Sprecher strukturieren. So sind beispielsweise im Sprachgebrauch syntaktischen Bauregeln konsequenter zu befolgen als lexikalische Kombinationsregeln. Für Kinder sind Spiele exemplarische Lebensformen, weil diese es ihnen auf eine unspektakuläre Weise ermöglichen, in unterschiedlich ausgeprägte Regelwerke hineinzuwachsen und diese zu praktizieren. Deshalb ist das Spie-
Der Sprachspielgedanke von Wittgenstein
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len für sie nicht nur eine Lebensform unter anderen, sondern eine ganz zentrale Lebensform, die ein sehr breites Spektrum von Einübungsformen in soziale Regelwerke aufweist. Wenn sich Kinder dem Spielen überantworten, dann weichen sie so gesehen auch nicht dem Leben aus, sondern treten vielmehr erst in einem umfassenden Sinne in dieses ein. Im Kontext seines Sprachspielgedankens handhabt Wittgenstein den Regelbegriff sehr flexibel, weil er ihm natürlich einen großen Umfang bzw. Anwendungsbereich geben muss. Das dokumentiert sich auch in der folgenden rhetorischen Frage: „Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den j e n e Regel behebt – und so fort?“ 49 Die logische Stufung von Regeln bzw. die Existenz von Metaregeln für den Gebrauch von Regeln ist Wittgenstein ebenso selbstverständlich wie die Existenz eines metasprachlichen Sprachgebrauchs, bei dem die Sprache nicht auf die außersprachliche Welt, sondern auf sich selbst bezogen wird. Da Kontexteinbindungen und intentionale Zielsetzungen auf genuine Weise zu Sprachspielen gehören, ist für Wittgenstein klar, dass isolierte sprachliche Zeichen ihre Lebendigkeit verlieren und erst im konkreten Gebrauch und in Wechselbeziehungen zu anderen Zeichen ihre Vitalität bekommen. „Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist der Gebrauch sein Atem?“ 50
In diesem Denkrahmen ist die Exaktheit von Spiel- und Sprachregeln für Wittgenstein kein absoluter Wert und ihre Unexaktheit kein genereller Mangel, weil beide Phänomene aus den Zwecken resultieren, denen das Sprachspiel jeweils dient. Die Vagheit von sprachlichen Formen und Regeln kann deshalb für ihn durchaus einen Fruchtbarkeitsaspekt haben, weil beide dadurch auch eine größere Polyfunktionalität bekommen können. Die Exaktheit von Formen und Regeln kann dementsprechend auch zu einer Erstarrung der Sprache führen, weil eben dadurch die Lebendigkeit des Denkens gelähmt oder in vorgefertigte Bahnen gelenkt wird. Das schließt allerdings nicht aus, dass sich für spezielle Sprachspiele auch spezielle Regularitäten ausbilden bzw. vorhandene variabel umgestaltet werden. Die ambivalente Beurteilung exakter Formen kommt auch in einem Diktum Wittgensteins zum Ausdruck, mit dem er auf die Produktivität von Spielräumen bzw. von großzügigen Regeln aufmerksam machen will. „Zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist eine Mittel, um ihn wieder einzuschläfern.“51 Zu den etwas verdeckten Implikationen des Verständnisses von Sprache und Sprachspielen als Lebensformen gehört auch, dass in diesem Denkrahmen
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L. Wittgenstein, a.a.O., § 84, S. 57. L. Wittgenstein, a.a.O., § 432, S. 159. 51 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, S. 457. 50
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der Wahrheitsbegriff nicht korrespondenztheoretisch, sondern pragmatisch konzipiert werden muss. Das bedeutet, dass nicht die Abbildungskraft sprachlicher Aussagen zum Kriterium für ihre Wahrheit gemacht werden kann, sondern eher ihre Fruchtbarkeit in Erkenntnis- und Handlungsprozessen. Das ist auch konsequent, wenn man Sprachspiele als Lebensformen ansieht, die natürlich immer vielschichtige Funktionen haben können. Probleme und Verständnisschwierigkeiten entstehen für Wittgenstein beim Gebrauch der Sprache eigentlich erst dann, wenn die jeweils intendierten Zwecke nicht erfüllt werden bzw. wenn man sprachliche Formen nicht im Interaktionszusammenhang mit der jeweiligen Situation, mit den intendierten Zielen und mit den benachbarten und konkurrierenden anderen sprachlichen Formen wahrnimmt. „Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.“ „Die Verwirrungen, die uns beschäftigen, entstehen gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet.“52 Dabei ist dann allerdings zu beachten, dass die isolierte kontemplative Betrachtung von Sprache oder einzelnen Sprachformen wiederum ein bestimmtes Sprachspiel sein kann, eben das Sprachspiel der sprachtheoretischen Reflexion bzw. der Philosophie.
5. Die Erscheinungsformen von Sprachspielen Die Wahrnehmung von Sprache im Kontext des Sprachspielgedankens hat Konsequenzen, die nicht alle sofort ins Auge fallen, die aber in den bisherigen Überlegungen immer wieder angedeutet worden sind. Erstens müssen alle Aussagen über die natürliche Sprache als verfehlt gelten, die von ihrer pragmatischen Polyfunktionalität abstrahieren und die in der Vagheit ihrer Muster und Regeln nur eine Schwäche, aber nicht auch eine mögliche Stärke sehen. Zweitens ist zu beachten, dass alle Sprachspiele eine hermeneutische Dimension haben, weil wir uns mit den Denk- und Handlungsgepflogenheiten vertraut machen müssen, durch die sie jeweils erzeugt und strukturiert werden. Drittens sind Regelabweichungen nicht nur negativ zu beurteilen, da sie uns indirekt auch auf die vorstrukturierende Macht sprachlicher Ordnungen aufmerksam machen. Viertens wird deutlich, dass in sprachtheoretischen Überlegungen die Gesichtspunkte des Dialogs und der Interaktion mindestens ebenso wichtig sind wie die der Regel und der Konvention. Insbesondere verhindert der Sprachspielgedanke, dass wir uns auf abstraktive Weise eine verdinglichende Systemvorstellung von der natürlichen Sprache im Sinne des Langue-Konzepts von de Saussure machen. Er gewährleistet es, Sprache als ein Mittel der Sinnkonstitution und Sinnzirkulation wahrnehmen bzw. als eine Lebensform von fundamentaler anthropologischer Relevanz. Gerade das Sinnbild Spiel ermöglicht es uns, die Sprache als eine Tätigkeits-
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L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 38, 1967, S. 33 und § 132, S. 71.
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form (Energeia) im Sinne Humboldts zu verstehen. Eine solche Thematisierung von Sprache ist zwar in Analyseprozessen methodisch nicht leicht zu handhaben, aber sie ist inhaltlich sicherlich vielschichtiger und anregender als ihre Wahrnehmung und Objektivierung als Werk oder als System. In diesem Zusammenhang sollte man sich auch vergegenwärtigen, dass es nicht bloß eine methodische Entscheidung ist, die Sprache als Spiel zu verstehen. Wir haben nämlich prinzipiell zu berücksichtigen, dass wir uns immer schon in einem ganz bestimmten Sprachspiel befinden, wenn wir die Sprache als Spiel ins Auge fassen. „Das Sprachspiel hat seinen Ursprung nicht in der Überlegung. Die Überlegung ist ein Teil des Sprachspiels. 53 Und der Begriff ist deshalb im Sprachspiel zu Hause.“
Die Notwendigkeit und Möglichkeit, Sprachspiele logisch zu stufen bzw. ein Sprachspiel durch ein anderes zu interpretieren, macht uns auf die innere Unendlichkeit der Sprache bzw. unseres Zeichengebrauchs aufmerksam, durch die alle sprachlichen Grenzen, Regeln und Formen ihren absoluten Geltungsanspruch verlieren, weil sie sich eigentlich nur noch methodisch und pragmatisch rechtfertigen lassen. Um das zu verdeutlichen, soll in diesem Kapitel deshalb an konkreten lexikalischen, grammatischen, stilistischen und textuellen Beispielen erläutert werden, was es heißt und welche Konsequenzen es hat, die Sprache als Sprachspiel bzw. als Lebensform zu verstehen.
Wörter und Begriffe Wittgensteins These, dass der Begriff im Sprachspiel zu Hause sei, ist sicher nicht so zu verstehen, dass in einem Sprachspiel vorgegebene Begriffe so verwendet werden wie vorgegebene Figuren in einem Schachspiel, sondern eher so, dass Begriffe genetisch aus bestimmten Sprachspielen hervorgehen und erst in diesen ihre konkrete Gestalt bzw. ihre aktuellen kognitiven Ordnungsfunktionen bekommen. Begriffe sind für ihn nicht Repräsentanten ewiger platonischer Ideen, sondern vielmehr zweckfunktionale heuristische Denkmuster, die die Aufgabe haben, die Vielfalt von Eindrücken, Erfahrungen und Vorstellungen nach Mustern zu ordnen. Dementsprechend sind Begriffe auch als Menschen- bzw. Kulturwerk anzusehen, die in Erkenntnisprozessen keinen endgültigen, sondern immer nur einen vorläufigen Status bekommen können. Wenn das in Begriffen manifestierte Wissen nicht verholzen soll, müssen Begriffe in Sprachspielen immer wieder neuen Differenzierungs- und Mitteilungsintentionen angepasst werden. Deshalb sind gerade Begriffe in den natürlichen Sprachen auch nicht nur als sprach- und kulturspezifische Denkmuster
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L. Wittgenstein, Zettel 391, Werkausgabe, Bd. 8, S. 363.
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zu verstehen, sondern immer auch als sprachspielspezifische, weil sie ihre Gestalt und ihre Funktion in unterschiedlichen Gebrauchs- und Lebenszusammenhängen historisch und situativ immer wieder ändern können. In den formalisierten Wissenschaftssprachen werden die zentralen Begriffe zwar normativ definiert, um ihre kognitive Klarheit und informative Präzision für den Gebrauch in Schlussfolgerungsprozessen sicherzustellen, aber gerade das dokumentiert ja deutlich, dass Begriffe einen sprachspielspezifischen Ursprung haben. Der sogenannte Paradigmenwechsel in den Wissenschaften ist daher im Grunde auch so etwas wie eine Neuorganisation der überkommenen Begriffssysteme für neue wissenschaftliche Sprachspiele. Begriffe bleiben deshalb sowohl in den Wissenschaftssprachen als auch in den natürlichen Sprachen nur solange stabil, wie die Funktionen der jeweiligen Sprachspiele stabil bleiben, in denen sie verwendet werden. Der historische und kontextuelle Bedeutungswandel von Wörtern dokumentiert das recht deutlich. Außerdem ist festzuhalten, dass jedes konsequent strukturelle Denken prinzipiell mit der Variabilität von Begriffen in der jeweiligen Gebrauchssituation rechnen kann und muss. Die fundamentale Grundprämisse dieser Denkweise besteht nämlich darin, dass den jeweiligen Gegenständen des Denkens kein festes Wesen zugebilligt wird, sondern nur ein großer Reichtum von Einzelaspekten, aus denen sich in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven dann für die Menschen jeweils ganz unterschiedliche Erscheinungsgestalten konkretisieren können. Deshalb sind Begriffe für das konsequent strukturelle Denken auch immer recht variable Größen bzw. Relata in Relationen, die nur solange stabil bleiben, wie die Relationsgeflechte stabil bleiben, in denen sie jeweils eingebettet sind. Der Tatbestand, dass beim Gebrauch der Sprache die gleichen Wörter verwendet werden, impliziert keineswegs, dass durch diese auch immer dieselben Begriffe bzw. dieselben Vorstellungen aufgerufen werden oder aufgerufen werden sollen. Der Phänomenologe Schapp hat deshalb sehr nachdrücklich die Auffassung vertreten, dass wir die Semantik von Wörtern am besten verstehen könnten, wenn wir wüssten, in welche Geschichten sie jeweils verstrickt seien bzw. verstrickt werden könnten. Sowohl Dinge als auch Menschen lernten wir am besten über die Geschichten kennen, in denen sie verstrickt gewesen seien oder in die sie sich verstricken ließen. Dasselbe gilt sicherlich auch für die kognitive Differenzierungskraft von Begriffen bzw. für die Semantik von Wörtern. Geschichten sind deshalb für Schapp die primären Tatbestände, aus denen für uns erst allmählich einzelne Menschen und Dinge als solche heraustreten würden. Das schließt für ihn zwar nicht von vornherein aus, Wörter als Repräsentanten von ontisch vorgegebenen Ordnungsmustern oder von konventionellen Setzungen zu betrachten, aber es legt diesen Gedanken nicht besonders nahe. Schapp möchte die einzelnen Wörter im Prinzip als Überschriften für Geschichten verstehen und ihnen nur deshalb eine ähnliche Semantik bzw. Begrifflichkeit in verschiedenen Gebrauchssituationen zubilligen, weil die Geschichten einander ähnlich sind, in denen sie jeweils vorkommen oder vorkommen können. Je mehr Geschichten man kenne, in die die einzelnen Wörter
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verstrickt seien, desto aspektreicher und vielschichtiger würden deshalb auch ihre Bedeutungsprofile und Bedeutungspotenziale für uns.54 Gerade metaphorische Redeweisen exemplifizieren sehr schön, dass der konkrete Sinn von einzelnen Wörtern aus den Geschichten bzw. Sprachspielen abgeleitet werden muss, in denen sie konkret eingebunden sind, und dass es außerdem naheliegt, sie in immer neue Geschichten zu verstricken. Gerade bei der Bildung von Metaphern experimentieren wir immer mit der Reichweite von tradierten Denkmustern und Ähnlichkeitsvorstellungen. Metaphern sind nur dann verständlich, wenn wir uns einerseits darauf einstellen, dass Sprecher und Sprache gleichsam in einer konkreten Sinnbildungsarbeit begriffen sind, und wenn wir andererseits auch subjektiv bereit sind, andere Erfahrungs- und Lebensräume zu betreten. Der metaphorische und der sinnbildliche Sprachgebrauch zeigt klar, dass das Verstehen von Sprache nicht allein auf der Kenntnis von Sprachkonventionen beruht, sondern auch auf der Kenntnis von Welt und der Fähigkeit zum sprachlichen Experimentieren. Wittgenstein hat das im Hinblick auf einen zu erweiternden Logikbegriff so formuliert: „Zur Verständigung durch Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen. Dies scheint die Logik aufzuheben; hebt sie aber nicht auf.“55
In ganz ähnlicher Weise wie Schapp und Wittgenstein hat auch der Biologe Lenneberg darauf verwiesen, dass Wörter in der natürlichen Sprache nicht auf feste und definierbare Begriffe verweisen, sondern auf im Prinzip unabschließbare Begriffsbildungsprozesse. Das bedeutet dann auch, dass das Bedeutungsproblem nicht in einem statisch, sondern in einem dynamisch orientierten Denkrahmen mit spielerischen Implikationen zu diskutieren ist. „Die Aufgabe kognitiver Organisation erreicht nie ein Ende und ist niemals vollendet, »um später gebraucht zu werden«. Wörter sind nicht die Namen für früher einmal abgeschlossene und eingelagerte Begriffe; sie sind die Namen für einen Kategorisierungsprozeß oder einer Familie solcher Prozesse. Aufgrund der dynamischen Natur des zugrunde liegenden Prozesses können die Referenten von Wörtern so leicht wechseln, lassen sich Bedeutungen erweitern und sind Kategorien immer offen. Wörter bezeichnen (etikettieren) die Prozesse des kognitiven Umgangs einer Art mit ihrer Umwelt.“ 56
Auf ein dynamisches Verständnis der Semantik von Wörtern treffen wir auch in der psychologisch inspirierten Prototypensemantik.57 Diese möchte das Problem der Wortbedeutung nicht über die Definition der Begriffe lösen, mit
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Vgl. W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 19762. W. Schapp, Philosophie der Geschichten, 19822. 1 55 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 242, 1967, S. 113–114. 56 E. Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 1972, S. 407. 57 Vg. G. Kleiber, Prototypensemantik, 19982.
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denen Wörter konventionell fest verbunden zu sein scheinen, sondern über die Beschreibung der Referenzobjekte, die Wörter über die Brücke der von ihnen bezeichneten Begriffsmuster idealtypisch ins Bewusstsein rufen. So gesehen wird etwa die Bedeutung bzw. der Sinn des Wortes Vogel in Mitteleuropa dann eher durch eine Amsel oder einen Spatzen exemplifiziert als durch einen Strauß oder einen Pinguin. Das bedeutet, dass Wörter der natürlichen Sprache im Prinzip unscharfe Mengen von Objekten repräsentieren, die lediglich eine gewisse Familienähnlichkeit zueinander aufweisen. In dieser Denkperspektive muss man dann einräumen, dass es eigentlich nur Wortspiele geben kann, aber streng genommen keine Begriffsspiele. Mit Begriffen können wir schlecht spielen, weil sie als konventionell eingeschliffene oder als explizit konstruierte und methodisch motivierte Denkmuster anzusehen sind. Mit Wörtern lässt sich dagegen recht gut spielen, weil sie in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen und in unterschiedlichen syntaktischen Korrelationen mit anderen Wörtern auch unterschiedliche Begriffe bzw. Denkmuster repräsentieren können. Anders ausgedrückt: Wörter mit einer festen Begriffsbindung brauchen wir, wenn wir mit Hilfe von Sprache ein bestimmtes Wissen fixieren und mit ihr argumentieren wollen. Wörter mit einer flexiblen Begriffsbindung brauchen wir, wenn wir mit Sprache auf etwas anspielen möchten oder uns in ersten Schritten etwas intersubjektiv erschließen wollen. Eine Sprache, in der Wörter als Repräsentanten von festen Begriffsbausteinen wirksam sind, lässt sich in allen Situationen gut verwenden, die sich als sprachliche Arbeitsprozesse mit einer klaren Zweckbestimmungen betrachten lassen. Eine Sprache, in der Wörter als Repräsentanten von flexiblen Begriffsbildungsprozessen wirksam sind, lässt sich in allen Situationen gut verwenden, die sich als sprachliche Sinnbildungs-, Experimentier- oder Spielprozesse bestimmen lassen.
Grammatische und stilistische Sprachformen Durch den schulischen Grammatikunterricht haben wir uns an eine Vorstellung von Grammatik gewöhnt, bei der der Regelbegriff einen sehr viel größeres Gewicht hat als der Spielbegriff und bei der kaum intendiert wird, den Regelbegriff aus dem Spielbegriff abzuleiten. Eine Chance, den Grammatikbegriff mit dem Spielbegriff in Verbindung zu bringen, ergibt sich aber dann, wenn wir im Rahmen des Interesses an den Funktionen grammatischer Formen auch nach ihrer Genese fragen sowie nach ihren spezifischen Kontrast- und Ergänzungsaspekten zu lexikalischen Formen. In dieser Sichtweise lässt sich das Problem der Grammatik nämlich primär als ein Zeichenproblem begreifen. Grammatische Regeln können dann aus Überlegungen zu den pragmatischen Funktionen grammatischer Zeichen abgeleitet werden, was es sehr erleichtert, die Grammatik mit dem Spielgedanken in Verbindung zu bringen. Bei der semiotischen Wahrnehmungsweise der Grammatik können wir auf eine zeichentheoretische Basisunterscheidung von Lambert aus dem 18. Jahr-
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hundert zurückgreifen, in der dieser darauf aufmerksam gemacht hat, dass alle komplexen Zeichensysteme von der Mathematik bis zur Sprache grundsätzlich zwei unterschiedliche Klassen von Zeichen benötigten, nämlich Zeichen für „Größen“ und Zeichen für „Operationen“.58 Ganz ähnlich hat auch Humboldt argumentiert, als er betonte, dass das Denken zwei unterschiedliche Typen von Wörtern benötige, nämlich solche „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen.“59 Die Unterscheidung beider zwischen Zeichen, die organisiert werden, und Zeichen, die organisieren, lässt sich im Hinblick auf die Sprache terminologisch auch als Opposition zwischen autosemantischen lexikalischen Nennzeichen und synsemantischen grammatischen Organisationszeichen bestimmen. Wenn wir in einem Text alle autosemantischen Nennzeichen tilgen, dann ist klar, dass wir uns keine konkreten Vorstellungen mehr machen können, weil wir nur noch über grammatische Organisations- und Interpretationsinformationen verfügen, ohne zu wissen, worauf diese sich konkret beziehen. Wenn wir dagegen in einem Text alle synsemantischen Organisationszeichen tilgen, dann verfügen wir über ein Konglomerat inhaltlicher Einzelvorstellungen, ohne aber zu wissen, in welchen konkreten Korrelationen diese miteinander stehen bzw. stehen sollen. Auf Grund unserer Kenntnis der Welt können wir zwar Spekulationen über den möglichen Zusammenhang dieser Einzelvorstellungen anstellen, aber zu einer intersubjektiv klaren und konsistenten Vorstellungsbildung wird es unter diesen Umständen schwerlich kommen. Die unterschiedliche pragmatische Funktionalität von lexikalischen Nennzeichen und grammatischen Organisationszeichen macht auch plausibel, warum lexikalische Zeichen in der Sprache immer als eine offene Klasse von Zeichen in Erscheinung treten, da es für die Menschen natürlich immer wieder neue Differenzierungsinteressen und neue Benennungsgegenstände gibt, und warum grammatische Zeichen sich als eine relativ geschlossene Klasse von Zeichen konstituieren. Die Klasse der grammatischen Zeichen kann sich historisch nach Zahl und Funktion nur sehr langsam ändern, weil ansonsten die Verfahren zur Bildung und zum Verständnis komplexer sprachlicher Formen wie etwa Sätzen und Texten ganz unübersichtlich würden. Aus ganz ähnlichen Überlegungen hat Weinrich insbesondere für die Bedürfnisse der Textlinguistik das Programm einer Instruktionslinguistik für lexikalische und grammatische Zeichen entwickelt. Lexikalische Zeichen vermittelten uns Instruktionen darüber, welche Referenzobjekte wir uns vorzustellen hätten, und grammatische Zeichen Instruktionen darüber, wie wir die Verstehensprozesse von lexikalischen Zeichen zu organisieren hätten, um aus Einzelvorstellungen komplexe Sinngestalten erzeugen zu können. Deshalb
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J. H. Lambert, Neues Organon, 1764/1990, Bd. 2, S. 489, § 54. W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 438–439
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versteht er grammatische Zeichen auch als implizite Imperative bzw. als „Orientierungssignale“ im Sinne von Verkehrszeichen, die ein Sprecher regelmäßig setzen müsse, damit sich ein Hörer in der Menge der angebotenen lexikalischen Zeichen nicht verirre und damit er die kognitive und kommunikative Qualität von Äußerungen auch richtig einschätzen könne.60 Diese kurze Skizze hat vielleicht verdeutlicht, dass in den faktischen Korrelationsmöglichkeiten von lexikalischen Nennzeichen und grammatischen Organisationszeichen bzw. in der Korrelation von lexikalischen Basisinformationen und grammatischen Metainformationen ein hohes Spielpotenzial liegt. Die Synthese kategorial unterschiedlicher semantischer Teilinformationen zu intersubjektiv verständlichen Sinngestalten setzt sowohl die Kenntnis bestimmter sprachlicher Konventionen voraus als auch einen bestimmten Vorrat an gemeinsamen Welt- und Lebenserfahrungen als auch die Disposition und die Fähigkeit zur Transzendierung und Veränderung bestimmter sprachlicher Normen. Diesbezüglich lässt sich dann idealtypisch zwischen zwei Teilmustern bei sprachlichen Regelbildungen unterscheiden, nämlich zwischen einer recht festen grammatischen Normenbildung auf der einen Seite und einer recht variablen stilistischen Normenbildung auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung hat allerdings eher einen heuristischen als einen deskriptiven Wert, da sie primär dabei hilft, bestimmte Ordnungstypen und Ordnungstendenzen bei der Bildung und Nutzung sprachlicher Normen und Regeln zu erfassen. Gemeinsam haben grammatische und stilistische Normen bei die Bildung von komplexen Zeichengestalten aus einfachen, dass sie dabei helfen, den pragmatischen Stellenwert von Grundinformationen metainformativ auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Weise zu kennzeichnen. Stil- und Grammatikmuster sind aber nicht nur funktional eng miteinander verwandt, sondern auch genetisch, da sinnvolle Stilmuster eines individuellen Sprachgebrauchs sich zu Stilmustern eines epochalen Sprachgebrauchs und schließlich zu grammatischen Mustern eines allgemeinen Sprachgebrauchs entwickeln können. Spitzer hat deshalb betont, dass sprachlichen Neuerungen zwar von einem schöpferischen Einzelnen ausgingen, dass sie sich aber allmählich zu allgemeingültigen grammatischen Mustern verfestigen könnten, wenn sie sich als nützlich erwiesen. „Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene Stilistik.“61 An vier unterschiedlichen Beispielen soll nun exemplarisch erläutert werden, wie sich im konkreten Sprachgebrauch bzw. in konkreten Sprachspielen durch bestimmte sprachliche Experimente neue stilistische und grammatische Sprachmuster herausbilden können. Diese vier sprachlichen Experimentierfelder lassen sich durch die Stichwörter metaphorischer Sprachgebrauch, attribu-
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Vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 73 ff. H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache 1993, S. 18. 61 L. Spitzer, Stilstudien Bd. 2. 19612, S. 517. Zum Zusammenhang von Stil und Grammatik vgl. auch W. Köller, Stil und Grammatik, in: U. Fix / A. Gardt / J. Knape (Hrsg.) , Rhetorik und Stilistik, 2. Halbband, 2009, S. 1210–1230.
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tive Präzisierung, konjunktionale Verkettung und Tempusgebrauch bezeichnen. In allen vier Bereichen zeigt sich wie eng Stilistik und Grammatik sowie Sprachspiele und Lebensformen zusammengehören.
Beispiele für stilistische und grammatische Sprachspiele Der metaphorische Sprachgebrauch ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm normalerweise nicht gegen syntaktische Regeln im engeren Sinne verstoßen wird, sondern gegen Gewohnheiten und Normen, die die semantische Kombinierbarkeit von Begriffen bzw. lexikalischen Zeichen regulieren. Das bedeutet, dass Metaphern Unmögliches behaupten, wenn man die an ihnen beteiligten Wörter konventionell bzw. wortwörtlich versteht. Deshalb hat Weinrich Metaphern auch als widersprüchliche Prädikationen und Strub als kalkulierte Absurdidäten bezeichnet (Die Kinder verschlingen die Geschichten. Der Modergeruch des Untergangs; blumenkeusch).62 Verständlich wird uns eine Metapher, weil wir auf Grund unseres Weltwissens die in dem jeweiligen metaphorischen Sprachspiel verwendeten Wörter semantisch so uminterpretieren, dass sich ein intersubjektiv nachvollziehbarer Gesamtsinn für den ganzen Ausdruck ergibt. Durch den wiederholten Gebrauch eines metaphorischen Sprachspiels können die beteiligten Wörter bzw. der Gesamtausdruck eine neue konventionalisierte Bedeutung bekommen, weshalb man dann ja auch von toten Metaphern spricht (Die Erinnerung verblasst. Grüner Junge; Gehirnwäsche). Wenn wir den Gebrauch von Attributen als spezielle stilistische und grammatische Sprachspiele ansehen, dann lassen sich folgende Überlegungen anstellen. In jedem konkreten Gebrauch der Sprache ergibt sich die Notwendigkeit, konventionell vorgegebene grobe Begriffsmuster für die aktuellen Denk- und Mitteilungsintentionen zu präzisieren. Diesbezüglich können wir dann einen recht allgemeinen Begriff durch einen spezielleren ersetzen (Pferd – Rappe) oder durch ein Attribut präzisieren (schwarzes Pferd). Die Nutzung von Attributen ist ein sehr sprachökonomisches Verfahren, weil dadurch das Vokabular einer Sprache überschaubar gehalten werden kann. Attribute können sowohl eine deskriptive Präzisierungs- als auch eine wertende Qualifizierungsfunktion bekommen. Insbesondere beim Gebrauch von wertenden Attributen ergibt sich für einen Sprecher die Chance, Sachverhalte nicht nur auf neutrale Weise sprachlich zu objektivieren, sondern in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive auch zu beurteilen (ein abscheulicher Text). Durch die Nutzung von Attributen in ihren recht vielfältigen sprachlichen Erscheinungsformen (Bestimmungswörter von Komposita, Adjektivattribute, Genitivattribute, Präpositionalattribute, Attributsätze) können deshalb Sprach-
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Vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S.308, 319. Ch. Strub, Kalkulierte Absurditäten, 1991. W. Köller, Semiotik und Metapher, 1975, S.117 ff. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 591 ff.
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spiele entstehen, in denen auf variable Weise die Objektsphäre mit der Subjektsphäre verknüpft wird. Bestimmte sprachliche Mitteilungsformen wie etwa Beschreibungen kommen ohne deskriptive Attribute nicht aus und andere wie etwa Kommentare nicht ohne wertende. Bezeichnend für die Sprachspielimplikationen des Attributgebrauchs sind auch ihre synthetisierenden und analysierende Sinnbildungspotenziale. Wenn ein Attribut als Bestimmungswort eines Kompositums oder als Adjektivattribut vor das zu präzisierende Bezugselement gesetzt wird, dann verschmilzt es mit diesem leicht zu einer eigenständigen Vorstellungsgröße (Raubtier, fleischfressendes Tier). Wenn ein Attribut als Genitivattribut, Präpositionalattribut oder als Attributsatz hinter das jeweilige Bezugselement gesetzt wird, dann wird uns indirekt nahegelegt, uns die jeweils benannten Phänomene als Einzelsachverhalte vorzustellen, die nur für die aktuelle Mitteilungsintention in eine bestimmte Determinationsrelation zueinander zu bringen sind (das Tier der Steppe; das Tier aus der Steppe; das Tier, das in der Steppe lebt). Bestimmte Textsorten bzw. Sprachspiele (Lyrik) neigen im Hinblick auf ihre besonderen Sinnbildungsfunktionen zu einem synthetisierenden Attributgebrauch, während andere (Argumentationstexte) einen analysierenden bevorzugen. Bestimmte Sprachen wie etwa das Deutsche haben eine ausgesprochene Neigung zum Gebrauch von synthetisierenden Kompositabildungen und prädeterminierenden Adjektivattributen, während andere Sprachen wie etwa das Französische postdeterminierende analysierende Attribute aller Art favorisieren. Eine sehr wichtige Funktion für die Konstitution bestimmter Sprachspiele haben auch Konjunktionen.63 Diese gehören syntaktisch gesehen zu keiner der Aussagen, die sie jeweils verbinden. Sie sind sprachlogisch gesehen vielmehr als verkürzte Aussagen bzw. Behauptungen über den inhaltlichen Zusammenhang zwischen zwei Aussagen zu verstehen, was ihnen sprachstrukturell gesehen eine metainformative Sinnbildungsfunktion gibt. Dabei lässt sich dann darüber streiten, ob der durch Konjunktionen postulierte inhaltliche Zusammenhang tatsächlich vorliegt oder ob es sich dabei nur um eine interpretative Hypothese des jeweiligen Sprechers handelt, die auch anders ausfallen könnte. Nun gibt es Sprachspiele bzw. Textsorten, die im Prinzip weitgehend ohne den Gebrauch von Konjunktionen auskommen und bei denen Sätze meist nur additiv gereiht werden. Das heißt nun allerdings nicht, dass wir auch im Verstehensprozess selbst nur eine additive Reihung von Einzeltatsachen annehmen. Aus unserer Kenntnis der Welt und unseren Annahmen über die jeweiligen Mitteilungsintentionen eines Sprechers unterstellen wir immer bestimmte kausale, modale, intentionale oder zeitliche Relationen zwischen den jeweiligen Einzelaussagen, selbst wenn diese sprachlich nicht explizit benannt und qualifiziert worden sind. Wir können es nämlich psychologisch gar nicht ertragen, in einer Welt zu leben, in der alles nur additiv nebeneinander existiert und
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Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 501–525.
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in keiner konstruktiven Relation zueinander steht. Wenn also beim Gebrauch der Sprache keine relationsqualifizierenden bzw. metainformativen Konjunktionen verwendet werden, dann entwickeln wir spontan heuristische Hypothesen über den inhaltlichen Zusammenhang zwischen zwei Einzelsachverhalten. Bestimmte Sprachspiele (Gedichte, Kurzgeschichten) leben weitgehend davon, dass sie auf die konjunktionale Verkettung ihrer Einzelaussagen verzichten, um die Imaginationskraft der Rezipienten dazu anzuregen, sich bestimmte inhaltliche Relationen zwischen ihnen vorzustellen. Sie wollen sprachlich keine durchstrukturierten Systemräume objektivieren, sondern eher vielschichtige Assoziationsräume. Deshalb regen sie auch eher unser bildliches als unser begriffliches Denken an. Dagegen wären alle argumentativen Sprachspiele defizitär, wenn sie auf eine konjunktionale Verkettung ihrer Einzelaussagen verzichteten, da sie dann ihre informative Präzision verlören. Dennoch ist es aber sicher nicht zulässig, parataktisch und hypotaktisch organisierte Sprachspiele hinsichtlich ihrer geistigen Qualität gegeneinander auszuspielen. Sie können nämlich sehr verschiedenen sprachlichen Sinnbildungs- und Objektivierungsstrategien verpflichtet sein bzw. mit recht unterschiedlichen Denk- und Lebensformen verbunden sein. Der Verzicht auf den Gebrauch von Konjunktionen ist daher zunächst eher als ein Hinweis auf einen bestimmten Denkstil zu werten und erst unter bestimmten Umständen auch als ein Hinweis auf ein defizitäres Differenzierungs- und Denkvermögen. Ganz besonders deutlich zeigt sich die sprachspielkonstitutive Funktion von Konjunktionen bei Kausalkonjunktionen im engeren Sinne (weil, da) und im weiteren Sinne, die konsekutive (so dass), finale (damit), konzessive (obwohl) oder konditionale (wenn) Bedingungsverhältnisse thematisieren. Nach Hume und Kant können wir Kausalkonjunktionen im engeren und weiteren Sinne heute nicht mehr naiv als unmittelbare sprachliche Repräsentationsformen von Seinsrelationen ansehen, sondern nur als Ausdrucksformen von menschlichen Denkkategorien, mit denen wir bestimmten Denkbedürfnissen bei der Erfassung von Seinsrelationen Ausdruck geben. Das schließt natürlich nicht aus, dass die Existenz bestimmter Typen von Kausalkonjunktionen in den verschiednen Sprachen bzw. ihr konkreter Gebrauch bei der sprachlichen Objektivierung von Sachverhalten einen starken Rückhalt in faktischen oder in allgemein angenommenen Seinsstrukturen haben kann. Im Prinzip sollten wir aber Konjunktionen und insbesondere Kausalkonjunktionen als pragmatische Differenzierungskategorien betrachten, die bestimmten menschlichen Denkbedürfnissen bei der Auseinandersetzung mit der Welt Ausdruck geben. Die Sprachspielrelevanz von Konjunktionen dokumentiert sich deutlich, wenn wir auf einen Gebrauch dieser metainformativen grammatischen Zeichen stoßen, der unseren ontologischen Standardvorstellungen von der Welt bzw. unseren üblichen Denk- und Sprachkonventionen nicht entspricht. Dann haben wir uns nämlich zu fragen, ob hier ein grammatischer Fehler, ein Denkfehler bzw. ein Wissensdefizit vorliegt oder ob wir es mit einer ungewöhnlichen Sinnbildungsstrategie zu tun haben, die wiederum mit einer bestimmten Denkund Lebensform verknüpft ist. Das mag die ungewöhnliche konjunktionale
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Verknüpfung von zwei Einzelaussagen in dem folgenden Satz exemplifizieren: Eis ist spezifisch leichter als Wasser, damit es auf dem Wasser schwimmt. Diese finale Verkettung von zwei Einzelaussagen wird man im Rahmen unseres heutigen naturwissenschaftlichen Denkens für inakzeptabel, wenn nicht absurd halten. Im Rahmen eines religiösen Denkens bzw. bei Annahme eines durchdachten Schöpfungsplanes wäre eine solche konjunktionale Verkettung aber wohl weniger anstößig. Mit ihr könnte man dann nämlich auf den Umstand Bezug nehmen, dass eine solche finale Zuordnung von Einzeltatbeständen sachlich sehr sinnvoll ist, weil ansonsten Eis nämlich nicht auf dem Wasser schwimmen könnte, sondern auf den Boden von Gewässern absackte und dadurch Fischen und anderen Organismen ihren Lebensraum nähme. Als typische Mittel, bestimmte Sprachspiele zu profilieren, können sicher auch die verschiedenen Tempusformen angesehen werden. Das mag diejenigen überraschen, die Tempusformen als sprachliche Abbildungsformen für Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit ansehen oder als Abbildungsformen von Zeitrelationen zwischen einem bestimmten Sprechzeitpunkt und den zu objektivierenden Ereignissen auf der chronologischen Zeitachse. Erst wenn man Tempusformen als Interpretationsformen für das nicht direkt fassbare Phänomen Zeit ansieht bzw. als Mittel, den psychischen und pragmatischen Stellenwert von Ereignissen und Vorstellungen für das menschliche Leben zu kennzeichnen, wird plausibel, warum Tempusformen wichtige Beiträge zur Konstitution von Sprachspielen und Textsorten leisten können. Das zeigt sich, wenn wir uns näher mit Genese und Gebrauch von Tempusformen beschäftigen. Unser heutiges Verständnis von Zeit ist maßgeblich durch die Erfindung von Uhren geprägt, seien es nun Sonnen-, Wasser-, Analog- oder Digitaluhren, weil uns all diese Uhren ein quantifizierbares chronometrisches Zeitverständnis nahelegen. Uhren messen aber nicht nur die Zeit, sondern sie definieren sie zugleich auch, weil sie festlegen, wie wir Zeit erfahren und uns begrifflich verfügbar machen. Die Erfahrung von Zeit vor der umfassenden Nutzung von Uhren war für die Menschen anders perspektiviert und strukturiert und deshalb auch inhaltlich anders akzentuiert. Zeit wurde in Form von bestimmten erlebbaren Zeitgestalten bzw. in Form von ganz bestimmten Erlebnisinhalten wahrgenommen (Jugend und Alter, Sommer und Winter, Festtage und Arbeitstage, gute Zeiten und schlechte Zeiten usw.) Unter diesen Umständen tritt die Zeit nicht als eine eigenständige substanzielle Größe in Erscheinung, sondern vielmehr als eine akzidenzielle Größe an anderen Größen bzw. als eine spezifische Erfahrungsweise von bestimmten Erlebnissen. Wenn wir die Zeit in dieser Weise als Derivat des subjektiven Erlebens von Sachverhalten und Prozessen verstehen, dann gewinnen wir einen ganz anderen Blick auf die Sinnbildungsfunktionen von Tempusformen in Sprachspielen. Es wird offensichtlich, dass unser Verständnis der Funktion von Tempusformen zu kurz greift, wenn wir diese nur im Denkrahmen des Zeitstufenkonzeptes von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft begreifen und nur nach den chronologischen Relationen zwischen dem jeweiligen Sprechzeitpunkt und der Position der thematisierten Ereignisse auf der chronologischen Zeitachse
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fragen. Wir müssen dann grundsätzlich damit rechnen, dass nicht nur die alten, sondern auch die später entwickelten Tempusformen nicht allein dem modernen chronometrisch orientierten Zeitverständnis Ausdruck zu geben versuchen, sondern auch einem älteren psychologisch orientierten. Dieses ist dann vor allem daran interessiert, den pragmatischen Stellenwert von Ereignissen für das menschliche Leben zu qualifizieren, wobei dann durchaus auch die aktionale Akzentuierung des Geschehens (Verlauf, Abschluss) interessieren kann. Wenn wir Tempusformen in dieser Perspektive betrachten, dann wird schnell klar, dass sie einen wichtigen Beitrag zur Konstitution bestimmter Sprachspiele leisten können, insofern sie uns metainformativ instruieren, wie wir das jeweils Ausgesagte in umfassendere Denkzusammenhänge einzuordnen haben. Die rein chronologische Orientierungsfunktion von Tempusformen wäre dann als eine kulturgeschichtlich relativ spät entwickelte Funktion zu verstehen, die sich nach und nach auf viel elementarere und eher psychologisch zu verstehende Basisfunktionen aufgelagert hat. Grundsätzlich haben wir damit zu rechnen, dass Tempusformen uns indirekt immer dazu auffordern, das jeweils Mitgeteilte in einer ganz bestimmten psychischen Rezeptionsperspektive wahrzunehmen. Diese kann dadurch geprägt sein, dass wir uns etwas ganzheitlich oder aspektuell vorstellen sollen, dass wir etwas in psychischer Nähe oder Distanz wahrnehmen sollen, dass wir auf den Verlauf oder den Abschluss von Prozessen zu achten haben oder dass wir die jeweiligen Aussagen zugleich auch als Sprechakte des Behauptens, Erzählens, Voraussagens, Imaginierens, Strukturierens usw. verstehen sollen. Sehr klar hat sich Weinrich dafür ausgesprochen, den grammatischen Tempusanalysen nicht ein chronologisch orientiertes Zeitstufenkonzept, sondern ein psychologisch orientiertes Zeiterlebniskonzept zugrunde zu legen. Deshalb lassen sich seine Aussagen zu den kognitiven und kommunikativen Funktionen von Tempusformen auch leicht als Aussagen zu den Funktionen dieser Formen bei der Konkretisierung von bestimmten Sprachspielen verstehen. Das dokumentiert sich deutlich darin, dass er zwei große Tempusgruppen bildet, die mit Einschluss der Modusformen dazu dienen sollen, Aussageinhalte metainformativ als erzählte oder als besprochene Welt zu kennzeichnen.64 Das Grundtempus der erzählten Welt ist für Weinrich das Präteritum mit den Ergänzungsformen Plusquamperfekt sowie den beiden Konjunktiv- bzw. Konditionalformen. Diese grammatischen Formen signalisieren für ihn, dass wir die jeweiligen Aussageinhalte in einer psychischen Distanz bzw. in einer Atmosphäre der Entspanntheit rezipieren dürfen. Auf die jeweils sprachlich objektivierten Inhalte müssten wir nicht direkt reagieren, da wir sie kontemplativ und ganzheitlich wahrzunehmen hätten. Deshalb seien diese Verbformen auch dazu prädestiniert, das Sprachspiel des Erzählens zu konstituieren.
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Vgl. H. Weinrich, Besprochene und erzählte Welt, 20016. Vgl. auch W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 421–444.
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Dagegen ist für ihn das Grundtempus der besprochenen Welt das Präsens mit den Ergänzungsformen Perfekt, Futur I und Futur II. Durch diese Verbformen werde signalisiert, die jeweiligen Aussageinhalte in psychischer Gespanntheit und in unmittelbarer Reaktionsbereitschaft zu rezipieren. Dementsprechend können sich durch diese Formen auch Sprachspiele ausbilden, in denen die Sprechakte des Behauptens und Ankündigens eine wichtige Rolle spielen, weshalb sie dann natürlich in Dialogen wichtig werden. Während den einzelnen Tempusformen bei einem rein chronologischen Tempusverständnis kein hoher Stilwert zugesprochen werden kann, weil ihre Wahl gleichsam immer durch sprachexterne Gegebenheiten vordeterminiert wird, kann ihnen bei einem psychologischen Verständnis ein sehr hoher Stilwert zugewiesen werden, weil sie dabei helfen, ganz unterschiedliche Sprachspiele zu konkretisieren. Das dokumentiert sich sehr schön in einer Aussage von Günter Grass über seinen Tempusgebrauch. Er hat nämlich betont, dass er Tempusformen nicht nach strengen Regeln verwende, sondern danach, „welches Klima ich schaffen will, auch innerhalb einer ganzen Periode.“ 65 Zu den grammatischen und stilistischen Formen, die ebenfalls erheblich zur Konstitution bestimmter Sprachspiele beitragen, sind sicherlich auch die Modusformen als Zitier-, Vermittlungs- und Hypothesesignale und die Modalpartikeln als Indikatoren für bestimmte Sprechakte anzusehen. Eine sehr wichtige Rolle für die Konstitution von Sprachspielen spielen außerdem auch die unterschiedlichen Negationsformen der Sprache, weil diese dabei helfen, sich schwer fassbare Sachverhalte über Ausschlussverfahren anzunähern (via negationis). Dieses Verfahren hat in der Mystik eine große Rolle gespielt und ist auch heute noch unverzichtbar, wenn man in den Wissenschaften Phänomene sprachlich objektivieren möchte, für die es noch keine konventionalisierten sprachlichen Darstellungsformen gibt.
Fachtexte und Wortspieltexte Das Konzept des Sprachspiels tritt in seinem vollen Umfang natürlich erst auf der Ebene von Texten in Erscheinung. Gerade wenn wir Texte als Gewebe von sprachlichen Zeichen mit je unterschiedlichen Sinnbildungsfunktionen verstehen, wird deutlich, welch vielschichtige kognitive und kommunikative Relevanz Sprachspiele haben können. Insbesondere Erzähltexte sind wohl als sehr umfassende Sprachspiele anzusehen und in Gestalt von Mythen und Epen wohl auch als sehr alte und universal wirksame. Sie repräsentieren pragmatisch gesehen einen sehr komplexen Sprachspieltypus, aus dem im Laufe der Zeit unterschiedliche Sprachspielformen mit ganz spezifischen pragmatischen Funktionen als Sprossformen herausgewachsen sind wie etwa ästhetische,
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Zitiert nach P. A. Bloch, Der Schriftsteller und sein Verhältnis zur Sprache, 1971, S. 167.
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religiöse, historiographische, juristische, naturwissenschaftliche, belehrende und unterhaltende Textsorten. Wenn wir heute von Texten sprechen, dann denken wir in Regel allerdings wohl eher an Fachtexte als an umfangreiche Erzähltexte, weil letztere als Sprachspiele viel zu komplex und eben dadurch auch etwas zu unübersichtlich sind. Fachtexte repräsentieren für uns gleichsam prototypisch den Begriff des Textes, was dann auch dazu geführt hat, alle anderen Textformen meist als Abweichungen von dieser Textform zu verstehen. Das rechtfertigt es, exemplarische Überlegungen zum Sprachspielcharakter von Textsorten bei dem Texttyp Fachtext zu beginnen und ihn kontrastiv mit dem antipodischen Texttyp Wortspieltext zu vergleichen, zu dem insbesondere Aphorismen sowie metaphorische und ironische Redeweisen gerechnet werden können. Im Anschluss daran soll sich dann die Aufmerksamkeit ganz akzentuiert auf Erzähltexte richten, weil insbesondere literarische Erzähltexte als universale Sprachspiele sehr viele andere Sprachspielformen in sich integrieren können. Das Sprachspiel Fachtext ist dadurch charakterisiert, dass es in der Regel mit stabilen konventionalisierten Begriffen arbeitet, dass in ihm handlungsmäßig gesehen in der Regel nur feststellende Äußerungen vorkommen und dass alle Sätze auf sinnvolle Weise mit der Wahrheitsfrage konfrontiert werden können. Der pragmatische Sinn dieses Sprachspieltyps besteht darin, dass mittels Sprache gegebene Sachverhalte objektiviert werden und dass aus den gegebenen expliziten Aussagen nach den Prinzipien der der klassischen zweiwertigen Logik noch weitere implizite Aussagen abgeleitet werden können, die sich dann auch argumentativ verwerten lassen. Das in Fachtexten konkretisierte Sprachspiel konzentriert sich in seinen sprachlichen Objektivierungsanstrengungen ganz auf Inhalte, die der Objektsphäre zuzurechnen sind. Von allen Inhalten, die Bezüge zur Subjektsphäre haben könnten, versucht es zu abstrahieren. Der jeweilige Sprachproduzent soll im Prinzip ganz hinter dem vom ihm Ausgesagten verschwinden und lediglich als ein anonymes Sprachrohr bzw. als ein getreuer Spiegel für vorgegebene Sachverhalte in Erscheinung treten. Er hat sich demzufolge auch aller direkten und indirekten persönlichen Kommentare zu dem von ihm Ausgesagten zu enthalten. Deshalb sollte auch das von ihm jeweils verwendete Vokabular keine wertenden oder emotionalen Implikationen haben, die Hinweise auf ganz persönliche Sichtweisen geben könnten. Die normative und rein deskriptiv orientierte Stilistik hat daher auch untersagt, in Sprachspielen dieses Typs sprechaktqualifizierende Modalpartikeln (eben, doch, ja, sogar) zu verwenden und hat diese dann sogar als „Läuse in dem Pelz unserer Sprache“ denunziert.66 In milderen Urteilen sind die Modalpartikeln dann als Würzwörter oder Farbwörter bezeichnet worden, die eigentlich nicht in Fachtexte gehörten, obwohl man immer wieder einräumen musste,
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L. Reiners, Stilkunst, 1943/1976, S. 340.
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dass sie die inhaltliche Rezeption solcher Texte erleichtern, insofern sie indirekt die Prämissen und die Ziele der jeweiligen Aussagen kenntlich machen und damit dann auch deren pragmatischen Stellenwert. Verpönt ist insbesondere in wissenschaftlichen Fachtexten auch die Verwendung des Personalpronomens ich, da der jeweilige Sprachproduzent ja selbst ganz hinter dem Sachgehalt seiner Aussagen zurücktreten soll bzw. sich als individuelle sinnstiftende Person eigentlich ganz auszulöschen hat. Aus dem gleichen Grund gibt es in solchen Texten dann auch eine ausgesprochene Neigung zu passivischen Aussageformen, weil diese nicht die Träger und Verursacher von Handlungsprozessen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, sondern vielmehr deren Ergebnisse. Wer die Konstitutions- und Taburegeln fachsprachlicher Texte nicht respektiert, der verfällt leicht dem Verdacht, solche Sprachspiele nicht zu beherrschen und deren Zielsetzungen nicht gerecht werden zu können. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass im angelsächsischen Kulturraum diese Strukturanforderungen an Fachtexte längst nicht so konventionalisiert sind wie in Kontinentaleuropa. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Texte nicht nur wegen ihrer internen sprachlichen Struktur als bestimmte Sprachspiele wahrgenommen werden, sondern auch wegen ihrer medialen Realisation. Als im Radio die ersten Hörspiele gesendet wurden, waren die Hörer nicht darauf eingestellt, in diesem Medium auch fiktionale Texte vermittelt zu bekommen. Das hat dann beispielsweise dazu geführt, dass eine Panik ausbrach, als 1938 das Hörspiel Krieg der Welten von Orson Wells ausgestrahlt wurde, in dem von einer Invasion der Marsbewohner auf die Erde die Rede war. Wenn man das Sprachspiel Fachtext richtig verstehen bzw. mitspielen will, dann ist auch zu beachten, dass man die pragmatische Funktion der Ausprägungsformen dieses Texttyps richtig einschätzen muss, die nicht in allen Fällen bloße Feststellungen sind. Beispielsweise bilden Verfassungstexte nicht deskriptiv die Verfasstheit einer Gesellschaft ab, obwohl in ihnen formal rein deskriptive Aussagen gemacht werden (Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich.). Sie formulieren vielmehr in Form von konstatierenden Aussagesätzen Normen, nach denen sich die jeweilige Gesellschaft organisieren soll. Aussagesätze sind deshalb in Sprachspiel Verfassungstext sprechaktmäßig als Postulate und nicht als Sachbehauptungen oder Beschreibungen zu verstehen. Während sich bei fachtextlichen Sprachspielen die Aufmerksamkeit ganz auf die Darstellungsfunktion der Sprache konzentriert, kann sie in anderen Textformen ganz auf ihre Ausdrucksfunktion gelenkt werden (Flüche, Schimpfreden) oder auf ihre Appellfunktion (Werbetexte, Agitationstexte). Etwas Besonderes sind im Kontext des Sprachspielgedankens nun Textformen, bei denen auf artifizielle Weise Sachinformationen und Reflexionsinformationen ineinander verflochten werden. Diese Textformen bzw. Sprachspiele sollen hier als Wortspieltexte klassifiziert werden, weil in ihnen die Sprache direkt oder indirekt immer auch als Sinnbildungsmedium thematisiert wird. Zu den Wortspieltexten in diesem Sinne lassen sich z. B. Witze, Rätsel und Aphorismen rechnen sowie metaphorische, paradoxe oder ironische Re-
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deweisen. All diese besonderen Sprachspiele leben davon, dass Wörter und Aussagen nicht wie üblich zu verstehen sind, sondern vielmehr auf neuartige Weise, wodurch die sie dann oft auch ganz neue referenzielle Sachbezüge bekommen können. Auf diese Weise werden wir durch Wortspieltexte dann indirekt auch auf die mediale Funktion der Sprache aufmerksam gemacht bzw. auf ihre mehrschichtigen und variablen Sinnbildungsfunktionen. Das lässt sich sehr gut am Beispiel von Aphorismen und Paradoxien verdeutlichen. Gerade Aphorismen exemplifizieren sehr klar die gestaltpsychologische Basisthese, dass das Ganze in der Wahrnehmung vor den Einzelteilen existiert und dass die jeweiligen Wahrnehmungsteile ihre spezifische Charakteristik erst durch das Relationsgeflecht bekommen, in dem sie von uns erfasst werden. Ebenso wie nach Wittgenstein ein Stab erst in einem bestimmten Gebrauch zu einem Hebel wird, so gewinnt auch hier ein Wort erst in einem bestimmten Gebrauch seine konkrete Bedeutung, kognitive Differenzierungskraft und außersprachliche Referenz. Als spezielle Sprachspiele sind Aphorismen pragmatisch dazu bestimmt, unsere Sprach- und Sachvorstellungen teilweise auf den Kopf zu stellen, unsere gängigen Denkperspektiven zu verwirbeln und unseren konventionellen Sprachgebrauch zu verändern, um neue Einsichten zu gewinnen oder sprachlich pointiert zum Ausdruck zu bringen. Lichtenberg hat deshalb den Aphorismus als ein besonderes sprachliches Erkenntnisspiel beschrieben. Man müsse „die Dinge vorsätzlich zusammenbringen. Man muß mit Ideen experimentieren.“ 67 Dieses Verständnis von Aphorismen mag eine alte schon erwähnte kynische Lebensmaxime exemplifizieren: Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß. In diesem Aphorismus wird auf aparte Weise mit dem semantischen Potenzial des Wortes reich gespielt. Im ersten Teil wird von dem Wort auf übliche Weise Gebrauch gemacht, insofern es dazu benutzt wird, einen großen Besitz von Gütern vorstellbar zu machen. Zwar wir durch die Verwendung des Negationsmorphems nicht schon in Frage gestellt, ob eine solche Wortbedeutung, Wortverwendung und Sachinterpretation zulässig ist, aber ein ganz anderes Verständnis des Adjektivs reich wird erst im zweiten Teil des Aphorismus entwickelt. Hier wird nämlich auf ziemlich paradoxe Weise postuliert, dass Reichtum nicht aus dem Besitz von Gütern resultiere, sondern vielmehr aus dem Verzicht oder sogar aus der Verachtung von Gütern. Der Verzicht auf Güter bzw. die Armut an Gütern wird nun sogar zum Kriterium von Reichtum erklärt. Für ein solches Verständnis des Wortes reich lässt sich dann auf die Gestalt des Diogenes verweisen, der seinen Becher weggeworfen haben soll, als er einen Jungen mit Hilfe seiner hohlen Hand habe trinken sehen. Noch stärker als der aphoristische fordert uns der paradoxe Sprachgebrauch dazu auf, metareflexiv unsere traditionellen Denk- und Sprachkon-
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G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II, 2005, K. 308, S. 454.
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ventionen in Frage zu stellen.68 Solche Paradoxien reichen von widersprüchlichen Wortkombinationen (turmhohe Begründungen, eingefleischter Vegetarier) über widersprüchliche und unerwartete Aussagen (Leben heißt Sterben. Das Medium ist die Botschaft.) und selbstbezügliche Aussagen (Alle Verallgemeinerungen sind falsch. Ich lüge jetzt.) bis zur Thematisierung und Problematisierung von Allmächtigkeitsvorstellungen (Ist Gott so allmächtig, dass er einen Stein machen kann, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht aufheben kann? Kann Gott einen Pfannkuchen ohne Rand backen?). Mildere Formen paradoxer Sprachspiele wie etwa Metaphern lassen sich durch eine spontane semantische Uminterpretation einzelner Wörter beherrschbar machen. Härtere Formen lassen sich dagegen auf diese Weise nicht ganz entschärfen, weil in ihnen Grundprämissen unseres alltäglichen Denkens wie etwa die zweiwertige Logik von wahr und falsch in Frage gestellt werden bzw. das Verbot, Aussagen zu machen, die sich referenziell zugleich auf anderes und auf sich selbst beziehen. Novalis hat deshalb auch geltend gemacht, dass sich Paradoxien letztlich weder auflösen noch entschärfen ließen, weil sie dazu bestimmt seien, unser Denken prinzipiell zu beunruhigen und in Fluss zu halten. „Paradoxen beschämen immer – daher sie auch so verschrieen sind.“ 69 Paradoxien (gr. para-doxa = neben dem Wissen) leben davon, dass sie einerseits Wissen, Grenzen, Regeln und Konventionen voraussetzen, aber dass sie andererseits auch bestrebt sind, all diese Phänomene grundsätzlich in Frage zu stellen. Sie zwingen uns, vertraute Denkformen und Sprachspiele aufzugeben, um dadurch auch Gegenstandsbereichen gerecht werden zu können, die mit den üblichen Versprachlichungsverfahren nicht bewältigt werden können. Deshalb überrascht es auch nicht, dass wir insbesondere im religiösen Sprachgebrauch immer wieder auf Sprachformen treffen, die wir nach unseren üblichen Sprachverwendungsmaßstäben als paradox bezeichnen müssen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn wie soll eine Sprache, die für die pragmatische Bewältigung der physischen, sozialen und kulturellen Welt entwickelt worden ist, auf eine Welt passen, die jenseits dieser Welt liegt und möglicherweise Ursache oder Basis dieser Welt ist. In religiösen Sprachspielen sind paradoxe Redeweisen deshalb so attraktiv, weil sie eine Alternative zum Schweigen darstellen. Man verwendet die konventionelle Sprache, aber man verwendet sie so, dass dadurch zugleich signalisiert wird, dass sich das jeweils Gemeinte mit den üblichen sprachlichen Mitteln nicht wirklich erfassen, sondern allenfalls andeuten lässt. Deshalb ist es auch müßig, die paradoxen Redeweisen in übliche umformulieren zu wollen, weil man dadurch ihre spezifische Intentionalität und Funktionalität als eigenständige Sprachspiele verfehlt oder gar zerstört, die darauf ausgerichtet ist, etwas Unsagbares anzudeuten, aber nicht auszusagen.
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Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S.790–813. Novalis. Teplitzer Fragmente 59. Werke Bd. 2, S. 395.
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So gesehen lässt sich deshalb feststellen, dass Paradoxien pragmatisch gesehen keine Negationen von Sinn sind, sondern vielmehr Versuche, die Sprache so zu gebrauchen, dass wir ihren üblichen Prämissen und Konventionen nicht vollständig verfallen. Sie zwingen uns zum Verzicht darauf, alle Denkgegenstände denselben sprachlichen Objektivierungsverfahren zu unterwerfen, und geben der Hoffnung Ausdruck, etwas in den Blick zu bekommen, was man im Rahmen der üblichen Sprachspiele weder suchen noch erfassen kann. Sie problematisieren die Leistungsfähigkeit des üblichen Sprachgebrauchs und insbesondere der begrifflich strukturierten Sprachspiele, ohne diese vollständig verwerfen oder ersetzen zu wollen. Deshalb lassen sich paradoxe Redeweisen auch als Formen der Selbstkorrektur des Denkens und Sprechens verstehen, die es verhindern, dass Denkformen und Sprachformen verholzen und erstarren. Vordergründig treten Paradoxien als sprachlogische Probleme oder gar als sprachliche Fehlleistungen in Erscheinung, hintergründig müssen sie aber als semiotische und hermeneutische Sprachspiele verstanden werden, die unsere Denkmittel und Denkverfahren lebendig halten und auf diese Weise dann auch zur ständigen Selbsterneuerung unseres Denkens und Sprechens beitragen.
Erzähltexte Unter allen Sprachspielen ist das Erzählen wohl als die komplexeste Sprachspielform anzusehen, weil sie kultur- und literaturhistorisch sehr unterschiedliche Ausprägungsformen gefunden hat und außerdem andere Sprachspielformen recht mühelos in sich aufnehmen bzw. miteinander verbinden kann. Auf den ersten Blick scheint das Erzählen eigentlich nichts anderes zu sein als die sprachliche Repräsentation von empirisch beobachtbaren oder fiktiv vorgestellten Prozessen. Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass das Erzählen ein ganz bestimmter sprachlicher Gestaltungsvorgang ist bzw. ein ganz besonderer Stil der Objektivierung von Erfahrungen und Vorstellungen. Insbesondere das literarische Erzählen haben wir als eine Sprachspielform anzusehen, in der sehr komplexe Netzwerke von Beziehungen hergestellt werden, die rational und begrifflich kaum vollständig aufzudecken sind und die oft nur über das Sprachgefühl erfasst werden können. Beim Erzählen kann der jeweilige Erzähler zu einer Instanz werden, die sich keineswegs nur darin erschöpft, Sprachrohr für Sachinformationen über ein konkretes Geschehen zu sein. An dem Sprachspiel des Erzählens kann man natürlich aktiv und passiv teilnehmen, ohne explizite Kenntnisse über das Erzählen als eine bestimmte sprachliche Gestaltungsform zu besitzen. Aber unser intuitives Wissen über das Erzählen lässt sich natürlich durchaus begrifflich so präzisieren, dass die alltäglichen, historischen oder literarischen Erzählvorgänge sehr viel prägnanter für uns in Erscheinung treten bzw. von uns gestaltet werden können als ohne dieses Wissen. Insbesondere das literarische Erzählen mit seinem sehr breiten Funktionsspektrum von Möglichkeiten kann deshalb exemplarisch für das Sprachspiel des Erzählens näher ins Auge gefasst werden.
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Im literarischen Erzählen wird besonders gut fassbar, dass im Deutschen das Präteritum die konstitutive Tempusform des Erzählens ist. Hier dient diese Tempusform primär keineswegs dazu, das jeweils Erzählte der Zeitstufe der Vergangenheit zuzuordnen, da beispielsweise das Präteritum auch in Zukunftsromanen verwendet wird. Es hat im literarischen Erzählen vielmehr die Grundfunktion, uns psychisch auf eine bestimmte Rezeptionsweise für das jeweils Berichtete einzustimmen. Es signalisiert uns metainformativ, dass wir das Mitgeteilte auf distanzierte und kontemplative Weise ganzheitlich wahrnehmen sollen und dass wir uns nicht auf unmittelbare Reaktionsanforderungen einzustellen haben. Wenn im Erzählvorgang vom Präteritum ins Präsens gewechselt wird, dann ist das als eine Instruktion zu verstehen, psychisch nicht mehr die Haltung eines entspannten Beobachters einzunehmen, sondern sich selbst unmittelbar in die jeweilige Situation einzuordnen, um das auf einen Höhepunkt zusteuernde Geschehen unmittelbar teilnehmend mitzuerleben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch verständlich, warum es ganz ungewöhnlich wäre, in Romanen oder narrativen Geschichtsdarstellungen durchgängig das Präsens statt des Präteritums zu verwenden. Dadurch würde nämlich eine Wahrnehmungsdisposition erzeugt, die psychisch auf Dauer kaum durchzuhalten ist. Außerdem würde dann auch die Möglichkeit entfallen, durch den Wechsel von Präteritum und Präsens, Erzählvorgängen ein dramatisches Relief zu geben und auf grammatische Weise allgemeine Hintergrundsinformationen von aktuellen Vordergrundsinformationen abzusetzen. Der Wechsel vom Präteritum zum Präsens gestattet es außerdem gut, in das literarische und historische Erzählen zeitunabhängige allgemeine Weisheiten, kommentierende Aphorismen oder analysierende Zusatzaussagen einzufügen und auf diese Weise metakommunikativ kenntlich zu machen. Da das Sprachspiel des Erzählens strukturell und konzeptionell sehr unterschiedlich angelegt werden kann, können seine Realisationsformen auch sehr unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen bekommen. Wenn z. B. in der IchForm erzählt wird, dann ist von vornherein klar, dass wir alle Erzählinhalte in der Wahrnehmungsperspektive einer bestimmten Person mit besonderen Wahrnehmungsinteressen präsentiert bekommen. Das bedeutet, dass alle Auswahlentscheidungen in sprachlichen Darstellungsprozessen und alle direkten und indirekten Werturteile bzw. Erklärungen subjektspezifisch zu verstehen sind und daher hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit zu überprüfen sind. Wenn dagegen in der Er-Form erzählt wird, dann erwarten wir in der Regel einen Vermittler, der das jeweilige Geschehen relativ objektiv darstellt, weil er selbst ja nicht darin verwickelt ist oder war. Der Erzähler kann sich dabei als neutraler Berichterstatter profilieren, der das jeweilige Geschehen in Außensicht so darstellt, wie es jeder andere Beobachter prinzipiell auch wahrnehmen und objektivieren könnte. Der Er-Erzähler kann aber auch als einfühlender oder gar allwissender Interpret auftreten, der uns in Innensicht auch das mitteilt, was die Personen, von denen er erzählt, denken und fühlen. Das ist im Prinzip zwar eine unrealistischere sprachliche Objektivierungsform als das Erzählen in Außensicht, aber es erleichtert im Gegensatz zum Erzählen in
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realistischer Außensicht den Rezipienten doch sehr, einzelne Personen bzw. die Intentionen ihrer jeweiligen Handlungen besser zu verstehen. Die Er-Erzählung lässt sich als vermittelndes Sprachspiel auch so gestalten, dass im Sinne einer personalen Erzählsituation die jeweiligen Inhalte aus der Wahrnehmungsperspektive einer derjenigen Personen sprachlich objektiviert werden, die in das jeweilige Geschehen involviert sind. Auf ein solches Erzählverfahren treffen wir insbesondere bei Kafka. Unter diesen Umständen lernen wir eine Person in Innensicht kennen und alle anderen in Außensicht. Über das Innenleben der in Außensicht präsentierten Personen können wir nur dann etwas erschließen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was uns von deren Mimik und Gestik berichtet wird. Falls die vom Erzähler in Außensicht dargestellten Personen auch mit Hilfe von wörtlichen Reden präsentiert werden, dann können wir über den Stil ihrer konkreten Sprachverwendung natürlich auch etwas über ihr jeweiliges Innenleben erschließen. Die personale Erzählsituation ist im Prinzip sehr realistisch, weil sie unseren alltäglichen Wahrnehmungsprozessen entspricht. Auch hier haben wir eine Innensicht auf uns selbst und eine Außensicht auf alle anderen Personen. Über deren Innenleben können wir nur etwas erfahren, wenn wir ihre Mimik, ihre Gestik sowie ihr Handeln und Sprechen ikonisch oder indexikalisch deuten. Wenn wir diese Strukturbedingungen des personalen Erzählsprachspiels nicht beachten, dann können wir es als Leser nicht sinnvoll mitspielen. Das Erzählen in der dritten Person lässt sich so ausgestalten, dass der Erzähler gleichsam zu einer eigenständigen Person in den jeweiligen Vorstellungsbildungen wird. Als solche kann er sich dadurch profilieren, dass er nicht nur als bloßer Berichterstatter in Erscheinung tritt, sondern auch als jemand, der den Erzählvorgang auf bestimmte Weise strukturiert. Er kann explizit kenntlich machen, dass er bestimmte Inhalte auswählt und andere beiseite lässt, dass er Inhalte in einer ganz bestimmten Erzählstrategie zeitlich und inhaltlich miteinander verknüpft, dass er einzelne Ereignisse aus einem umfassenden Wissen bewertet und dass er in der Lage ist, im Erzählvorgang zukunftsgewisse Voraussagen oder zukunftsungewisse Andeutungen zu machen. Auf diese Weise vermag er die Aufmerksamkeit der Rezipienten dann spezifisch zu akzentuieren und zu lenken. Nach Stanzel lässt sich unter diesen Umständen von einer auktorialen Erzählsituation in Opposition zu einer personalen Erzahlsituation oder der Erzählsituation einer Ich-Erzählung sprechen.70 Das auktoriale Erzählen realisiert sich im Prinzip in der Rückschau und nicht in der Mitschau, weil sich in Kenntnis des Ausgangs von Geschichten die jeweiligen Prämissen, Motive, Implikationen und Ergebnisse der Geschichten natürlich auf eine stringentere Weise zu einem erzählten Systemraum miteinander verknüpfen lassen als in anderen Erzählspielen. Im Sprachspiel des auk-
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Vgl. F.K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 19652, S. 16 ff. F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 1979, S. 241 ff.
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torialen Erzählens müssen wir uns immer vergegenwärtigen, dass der Erzähler nicht als neutraler Berichterstatter auftritt, sondern als Interpret und Kommentator. Deshalb können wir als Rezipienten uns die Wahrnehmungsperspektive des Erzählers auf das aktuelle Geschehen ebenso zum Gegenstand der Aufmerksamkeit machen wie die Ereignisse, von denen er uns etwas erzählt.
Die erlebte Rede Wenn in einem literarischen Werk der Erzähler nicht als ein neutraler Berichterstatter in Erscheinung tritt, sondern als eine urteilende Person, dann besteht immer die Gefahr, dass er mit dem jeweiligen Autor des Werks identifiziert bzw. verwechselt wird. Daraus können sich für das Sprachspiel des Erzählens gewichtige Konsequenzen ergeben, insofern dann der Autor zuweilen persönlich für das verantwortlich gemacht wird, was dieser den Erzähler berichten oder kommentieren bzw. nicht kommentieren lässt. Unter diesen Umständen kann das literarische Erzählen für die Rezipienten dann leicht seinen Spielcharakter als sinnbildende Strukturierungsanstrengung eines fiktiven Erzählers verlieren und als eine persönliche Meinungsäußerung des Autors verstanden werden, für die dieser ethisch unmittelbar die Verantwortung zu tragen hat. Ähnliches gilt dann auch für das Erzählen im nicht-literarischen Bereich. Dieses Problem lässt sich auf einer literarischen Ebene am Fall Flaubert und auf einer politischen Ebene am Fall Jenninger gut exemplifizieren. In beiden Fällen spielt eine erzählerische Darstellungsform eine ganz zentrale Rolle, die als erlebte Rede bezeichnet wird. Diese Vermittlungsform ist im 19. Jahrhundert als ein besonderes Sprachspiel des literarischen Erzählens entwickelt worden. Sie ist bis heute vielen Missverständnissen ausgesetzt gewesen, weil die artifizielle Struktur dieses Sprachspiels von vielen Rezipienten nicht durchschaut wurde. Diese Gefahr bestand und besteht insbesondere dann, wenn diese Erzählform auch im nicht-literarischen Bereich verwendet wird.71 Als erlebte Rede wird eine Mitteilungsform bezeichnet, bei der in der Regel in der 3. Person Präteritum, aber zuweilen auch mit Hilfe von Konjunktivoder Konditionalformen Sachverhalte erzählt werden, die sprachlich eigentlich in Form einer wörtlichen Rede in der 1. Person Präsens objektiviert werden müssten. In ihr werden nämlich Inhalte wiedergegeben sowie Sprachmittel verwendet (lexikalische und grammatische Zeichen, kommentierende Modalpartikeln, syntaktische Konstruktionen), die nicht dem Sprachduktus des jeweiligen Erzählers zuzuordnen sind, sondern vielmehr der Sprechweise derjenigen Person, über die der Erzähler gerade berichtet. Die erlebte Rede ist als spezifisches Erzählverfahren insbesondere aus zwei Gründen entwickelt wor-
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Eine ausführlichere Darstellung der erlebten Rede als erzählerisches Vermittlungsverfahren sowie der Fälle Flaubert und Jenninger in: W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004. S. 706–719.
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den. Einerseits sollte der literarische Erzählfluss im Präteritum nicht durch die Einschaltung einer direkten Rede im Präsens oder einer indirekten Rede im Konjunktiv gestört werden, weil damit formal natürlich immer auch ein klarer Wechsel der Denkperspektive verbunden ist. Andererseits sollte dadurch den jeweiligen Erzählinhalten ein hohes Maß an szenischer Unmittelbarkeit und Plastizität gegeben werden, wozu ja im Prinzip auch die wörtliche Rede dient. Bei der erlebten Rede bleibt der Erzähler zwar formal als Erzähler präsent, aber er verliert faktisch seine distanzierenden und filternden Erzählerfunktionen, weil er nun zum Sprachrohr einer seiner Figuren wird bzw. zu einem unmittelbaren Spiegel von deren Wahrnehmungs-, Denk- und Versprachlichungsprozessen. Stanzel hat deshalb auch von einer „Ansteckung“ der Erzählersprache durch die Figurensprache gesprochen.72 Im englischen Sprachraum wird bezeichnenderweise die erlebte Rede deshalb auch als Doppelrede (dual voice) bezeichnet. Angesichts dieser Strukturverhältnisse ist nun auch verständlich, dass man die erlebte Rede als ein besonderes Sprachspiel des Erzählens leicht missverstehen kann, wenn man bestimmte Mitteilungsinhalte und Sprachformen nicht der Person zuordnet, über die gerade erzählt wird, sondern dem Erzähler oder gar dem Autor einer bestimmten erzählerischen Mitteilung. Das zeigen die Fälle Flaubert und Jenninger sehr deutlich. Gegen Flaubert, der in seinem Roman Madame Bovary von dem damals noch ziemlich ungewohnten Stilmittel der erlebten Rede Gebrauch gemacht hatte, wurde 1857 ein Prozess eröffnet, der als Immoralismus-Prozess in die Literatur- und Kulturgeschichte eingegangen ist. In seiner Anklage trug der Staatsanwalt eine Passage aus dem Roman vor, in der der Erzählerbericht fast unmerklich in eine erlebte Rede übergeht, in welcher sich der Erzähler zu einem direkten Sprachrohr der Hauptperson Emma macht, da er in ihrem Sprachduktus die Gedanken über die Freuden wiedergibt, die sie subjektiv bei ihrem Ehebruch empfunden hatte. „Immer wieder flüsterte sie vor sich hin: ‚Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!’ Der Gedanke entzückte sie, als durchlebe sie eine zweite Pubertät, die über sie gekommen sei. Endlich also sollten ihr die Liebesfreuden zuteil werden, das fiebernde Glück, das sie so verzweifelt ersehnt hatte. Sie trat in etwas Wunderbares ein, wo alles Leidenschaft, Verzückung, Raserei sein würde ...“73
Nun war es allerdings keineswegs so, dass der Staatsanwalt, wie zuweilen angenommen, sprachlich und literarisch so unsensibel gewesen wäre, dass er nicht erkannt hätte, dass es sich hier um die Gedanken Emmas handelt und nicht um die des Erzählers oder gar Flauberts. Dennoch hat er gegen Flaubert den Vorwurf des Immoralismus erhoben, weil er mit dem Sprachspiel der erlebten Rede als eines neuen Stilmusters unmittelbaren realistischen Erzählens noch nicht zureichend vertraut war.
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F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 1979, S. 247. G. Flaubert, Madame Bovary, 1985, S. 201.
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Die Sprache als Spiel
Der Staatsanwalt empörte sich nämlich darüber, dass der von Flaubert konzipierte Erzähler es bei der bloßen Wiedergabe der euphorischen Gedankengänge Emmas habe bewenden lassen und dass er nicht in der üblichen Weise des auktorialen Erzählens moralisierend dazu Stellung genommen hatte. Der Verzicht Flauberts auf einen wertenden Kommentar des Erzählers zu Emmas Gedankengängen über ihren Ehebruch erschien ihm als eine nicht tolerierbare geheime Sympathie für dieses Verhalten. Gefangen in der Tradition des moralisierenden auktorialen Erzählens war er nicht in der Lage oder willens, die erlebte Rede als ein neuartiges, dem Realismus verpflichtetes Darstellungsverfahren bzw. Sprachspiel zu begreifen und dieses möglicherweise ästhetisch sogar noch positiv zu bewerten. Der Staatsanwalt war sich natürlich bewusst, dass Ehebrüche faktisch immer wieder vorkommen und dass sie subjektiv auch so erlebt werden konnten, wie Emma den ihren erlebt hatte. Gleichwohl sah er es aber als notwendig an, dass ein Autor, der dieses Problem zum Gegenstand eines Romans machte, auch eine Form der erzählerischen Darstellung zu finden hatte, in der dazu moralisch Stellung genommen werden konnte. In seinem Verständnis von literarischen Sprachspielen war es ihm unerträglich, dass der Autor Flaubert seinen Erzähler ganz zum Sprachrohr einer seiner Figuren machte. Das Gericht sprach Flaubert dann zwar vom Vorwurf des Immoralismus frei, es betonte aber auch, dass die von Flaubert gewählte Darstellungsweise zu einem Realismus führe, der als eine Negation des Guten und Schönen zu beurteilen sei. Ein anderes Beispiel dafür, dass die erlebte Rede als Sprachspiel missglücken kann, ist die Rede des ehemaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger im Jahre 1988 zum 50. Jahrestag der antijüdischen Pogrome von 1938. In dieser Rede hatte Jenninger von der erzählerischen Stilform der erlebten Rede Gebrauch gemacht, die seinen Zuhörern im Bundestag zumindest im Rahmen einer politischen Rede gänzlich unvertraut war und die in dieser Textsorte auch keine sinnvolle Funktion hat. Obwohl Jenningers persönliche Distanz zum Nationalsozialismus und seine persönliche Integrität sicher außer Zweifel stand, wurde seine Rede doch zu einem politischen Skandal. Während seiner Rede verließen viele Abgeordnete aus Protest den Bundestag und die Presse lieferte am folgenden Tag Schlagzeilen folgenden Typs: Antisemitismus im Bundestag; Hitler vom Bundestagspräsidenten entschuldigt. Jenninger sah sich daraufhin gezwungen, von seinem Amt zurückzutreten. Was war geschehen? Nach einer Einleitungspassage, in der Jenninger die Ausschreitungen von 1938 als geplante Pogrome in der Denk- und Darstellungsperspektive eines distanzierten historischen Berichterstatters geschildert hatte, wechselte er ohne expliziten Hinweis seine sprachliche Darstellungsperspektive und machte nun von der literarischen Stilform der erlebten Rede einen intensiven Gebrauch. Er verwandelte sich dabei von einem neutralen historischen Berichterstatter zu einem Sprachrohr der Denk- und Entschuldigungsstrategien von Zuschauern der damaligen Pogrome, die sich trotz gewisser Vorbehalte nicht zu Protesten hatten aufraffen können. Dabei verwendete er auch Modalpartikeln und Modalwörter, die nicht als Indikatoren für seine eigenen Sprechakte und Einschät-
Die Erscheinungsformen von Sprachspielen
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zungen zu werten waren, sondern vielmehr als Indikatoren für diejenigen der damaligen Zuschauer. Er stellte rhetorischen Fragen, die nicht seine eigenen waren, sondern diejenigen der damaligen Zuschauer und Zeitgenossen. „Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals –, die ihnen nicht zukam? Mußten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?“ 74
Abgesehen davon, dass Jenninger in seiner Rede den darstellerischen Perspektivenwechsel nicht klar genug markiert hatte, ist natürlich auch die Frage zu stellen, ob sich das literarische Stilmittel der erlebten Rede im Sprachspiel einer politischen Rede überhaupt sinnvoll verwenden lässt. Solange man in einer Gedenkrede die erlebte Rede dazu verwendet, um sich mit Empathie in das Denken einer positiv beurteilten Person hineinzuversetzen, wird es wohl kaum gravierende Vorbehalte gegen die Verwendung dieser Stilform geben. Ganz anders wird man aber wohl urteilen, wenn man sich mit ihrer Hilfe zum Sprachrohr kritikwürdiger Personen macht. Dann setzt man sich als Vermittler schnell dem Vorwurf aus, sich mit den problematischen Denkinhalten dieser Personen zu identifizieren. Gerade in einer Gedenkrede zu beschämenden Vorgängen wird von einem Redner deshalb eher eine Einfühlung in die Wahrnehmungs- und Denkwelten der Opfer erwartet als in die von Tätern oder die von Zuschauern, die Schandtaten und Verbrechen billigend in Kauf nehmen. Jenningers Gedenkrede und die Kritik an ihr exemplifiziert recht klar, wie sehr bestimmte Sprachspiele mit bestimmten Informationserwartungen und Lebensformen verquickt sind. Wenn diese Einbettungen nicht beachtet werden oder wenn man sich bestimmten Gestaltungstraditionen und Gestaltungserwartungen zu entziehen versucht, dann kommt es schnell zu Missverständnissen. Deshalb ist außerhalb der literarischen Sprachspiele der Freiraum für einen experimentellen Sprachgebrauch auch sehr viel geringer als in ihnen. In literarischen Sprachspielen ist der Raum für sprachliche Experimente im Prinzip immer sehr groß, weil diese ja darauf angelegt sind, mit sprachlichen Objektivierungs- und Gestaltungsformen zu spielen, um deren mögliche Sinnbildungsleistungen zu erproben. Dadurch eröffnen sie den Mitspielern auch immer die Chance, ihre Gestaltungskräfte und damit auch sich selbst besser kennenzulernen. Diese anthropologische Relevanz des sprachlichen, aber auch des nichtsprachlichen Spielens hat Novalis erhellend beurteilt: „Durch Experimentiren lernen wir beobachten – Im Experimentiren beobachten wir uns selbst etc.“ 75
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Der Text der Rede ist zugänglich in den Protokollen des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode, 10. 11. 1988, S. 7270–7276 und in einem Anhang zu dem Aufsatz von P. von Polenz, Verdünnte Sprachkultur, Deutsche Sprache 17, 1989, S. 307–316, Zitat hier S. 310. 75 Novalis, Das allgemeine Brouillon, Nr. 766, Werke, Bd. 2, S. 657.
Schlussbemerkungen Komplexe und anthropologisch wichtige Phänomene können wir uns für unsere Denkprozesse begrifflich, narrativ oder sinnbildlich objektivieren. Diese drei Verfahren sollten aber nicht in einem endgültigen Sinne hierarchisiert oder gar gegeneinander ausgespielt werden, da sie sich wechselseitig bedingen und ergänzen. Keine dieser drei Erschließungs- bzw. Objektivierungsweisen von Sprache ist als ein Königsweg zum Verständnis von Sprache anzusehen, obwohl sie kulturgeschichtlich gesehen immer eine ganz unterschiedliche Wertschätzung genossen haben, insofern sie natürlich jeweils recht verschiedenen Erkenntnisinteressen und Verstehensbedingungen entgegenkommen. In der Neuzeit bzw. im Zeitalter des wissenschaftlichen Denkens hat verständlicherweise die begriffliche Thematisierung und Analyse von Sprache als Zeichensystem, als Erkenntnis- und Kommunikationsmedium, als Wissensspeicher und als soziales Interaktionsmittel immer den höchsten Prestigewert gehabt. In diesem Denkrahmen haben sich alle Reflexionen über Sprache darauf konzentriert, die Sprache auf den Begriff zu bringen bzw. mit definierten Analysebegriffen kategorial so zu strukturieren, dass man ihr einen bestimmten Stellenwert in umfassenden Theoriezusammenhängen zuordnen konnte. Das Streben nach einer begrifflichen Objektivierung von Sprache wird dabei nicht allein von dem Motiv getragen, dieses Phänomen strukturell klar zu erfassen und kategorial einzuordnen. Es ist darüber hinaus auch noch von dem Wunsch geprägt, die Sprache als Medium zu beherrschen und optimal zu nutzen. Dabei wird allerdings oft übersehen, dass mit der begrifflichen Objektivierung von Sprache auch immer die Gefahr verbunden sein kann, in die Gefangenschaft seiner jeweiligen begrifflichen Denkmuster zu geraten bzw. die Sprache nur noch durch die Brille dieser Muster wahrzunehmen. Allzu leicht werden solche Denkmuster nämlich als Verkörperungen ewiger platonischer Ideen verstanden und nicht als Repräsentanten von pragmatisch motivierten Hilfsmitteln des Denkens. Deshalb verfallen wir den sprachlichen Denkmustern und ihren kognitiven Schwerkräften in den begrifflich durchstrukturierten Fachsprachen auch leichter als denen in den natürlich gewachsenen Sprachen. In letzteren können und müssen wir unseren Ordnungsbegriffen im faktischen Gebrauch nämlich immer wieder eine neue Gestalt und Akzentuierung geben. Demgegenüber erschließt uns die narrative Thematisierung der Sprache bzw. das Erzählen von Geschichten über Sprache dieses Phänomen ganz anders, insofern dabei eher die Funktionen als die Strukturen von Sprache in den Mittelpunkt unseres Interesses rücken. Im Gegensatz zur begrifflichen versucht man bei der narrativen Objektivierung von Sprache diese nicht abschließend
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mit Hilfe relativ statischer Denkmustern kategorial zu fixieren. Man bemüht sich vielmehr darum, sie im Kontext von Handlungsprozessen zu erfassen und sie verwendungsbezogen kennenzulernen. Dadurch entsteht eine dialogische Spannung zu dem Phänomen Sprache, weil sie nun in unterschiedlichen Handlungskontexten aspektuell ganz anders für uns in Erscheinung treten kann und sich eben deshalb auch einer abschließenden Kategorisierung weitgehend entzieht. Das Erzählen ist deshalb grundsätzlich als eine Objektivierungsweise zu verstehen, der es nicht so sehr auf eine kategoriale Einordnung von Erfahrungsphänomenen ankommt, sondern eher darauf, diese exemplarisch in ganz bestimmten Lebens- und Handlungszusammenhängen kennenzulernen. Die sinnbildliche Thematisierung und Objektivierung von Sprache lässt sich im Prinzip zwischen der begrifflichen und narrativen einordnen. Mit dem begrifflichen Zugriff teilt sie die Tendenz, übersichtliche Ordnungs- und Vorstellungsmuster zu finden, auf die man die Sprache zuordnen kann. Deshalb kommt diese Erfassungsform unserem natürlichen Bedürfnis nach einer Wesenserkenntnis von Sprache auch sehr entgegen. Mit dem narrativen Zugriff teilt sie die Tendenz, Sprache auf heuristische Weise ikonisch bzw. exemplarisch wahrzunehmen, was unserem Nachdenken über Sprache prinzipiell immer einen dynamischen Grundcharakter gibt. Es erweist sich bei diesem Denkansatz nämlich als notwendig, nicht nur nach den positiven und negativen Analogien zwischen den einzelnen Sinnbildern und der Sprache zu fragen, sondern auch nach dem unterschiedlichen Wert der einzelnen Sinnbilder für bestimmte Erkenntnisinteressen, was wiederum dann auch die Frage nach ihren jeweiligen Entstehungsbedingungen einschließt. Außerdem ist zu beachten, dass jede einzelne sinnbildliche oder narrative Thematisierung von Sprache immer auf ergänzende Wahrnehmungsstrategien ähnlichen oder anderen Typs angelegt ist. Dadurch kommen diese beiden Erschließungsweisen von Sprache in eine deutliche Opposition zu den eher abschließenden Schematisierungen, auf welche die begrifflichen Objektivierungen von Sprache angelegt sind. Allerdings geraten die sinnbildlichen Erschließungsweisen von Sprache zugleich auch in eine gewisse Opposition zu den recht kasuistischen Objektivierungen der narrativen Erschließungsstrategien, weil sie immer etwas ganz besonders Typisches herauszuarbeiten versuchen. Sinnbilder für Sprache haben einerseits einen gewissen Anamnesischarakter, weil sie mit Wiedererkennungsprozessen verbunden sind, aber andererseits auch einen gewissen Stimulationscharakter, weil ihre Ähnlichkeitspostulate das Denken nicht zur Ruhe kommen lassen, uns zu Integrationsanstrengungen auffordern und uns außerdem dazu veranlassen, unser sach- mit einem reflexionsthematischen Denken zu verbinden. Sinnbilder für Sprache sind immer dann gut, wenn sie wie Aphorismen nicht aufhören, uns zu irritieren, zu provozieren und zu stimulieren. Sie werden problematisch und langweilig, wenn wir glauben, sie endgültig verstanden zu haben, oder wenn wir annehmen, bestimmte Sinnbilder als letzte Einsichten verstehen zu können. Ebenso wie Begriffe für Sprache sollten auch Sinnbilder für Sprache nicht im Rahmen der folgenden Denkfigur verstanden werden: Sprache ist nichts anderes als ... .
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Schlussbemerkungen
Die Analogiepostulate von Sinnbildern sollten eher als Realisationsweisen des Polaritäts- und Steigerungsprinzips in Denkprozessen angesehen werden. Sinnbilder sind für die geistige Repräsentation des Phänomens Sprache besonders wichtig, weil wir über die Sprache nicht so reden können wie über Steine, Pflanzen oder Tiere. Beim Sprechen über Sprache werden wir immer in selbstbezügliche Denkprozesse verwickelt, da die Sprache ja zugleich immer Denkgegenstand und Denkmittel ist. Diese Spannung können wir semiotisch nur dann bewältigen, wenn wir unsere jeweiligen Denkperspektiven und sprachlichen Objektivierungsmittel auf methodisch reflektierte Weise kontrollieren und korrelieren. Sinnbilder können in solchen Prozessen zu unverzichtbaren Denkmedien werden, weil sie für den Kundigen ja von vornherein nicht als Abbildungsmittel, sondern vielmehr als heuristische und hermeneutische Erschließungsmittel in Erscheinung treten. Wenn man das begriffliche Denken als kulturell höchste Stufe des Denkens ansieht, dann liegt es natürlich nahe, das sinnbildliche Denken bzw. Sprechen als ein schwaches oder vorläufiges Denken zu qualifizieren, da es weder distinkt noch klar ist und zu keinem abschließenden Ergebnis führt. Wenn man das sinnbildliche Denken allerdings als ein heuristisches und hermeneutisches Verfahren für die Wahrnehmung und Interpretation höchst komplexer Phänomene ansieht, zu dem es keine gleichwertigen Alternativen mit denselben umfassenden Erkenntnis- und Strukturierungsleistungen gibt, dann lässt es sich dagegen als ein starkes oder sogar unverzichtbares Denken beurteilen. Mit Hilfe von Sinnbildern können wir eine operativ anregende Wahrnehmungsdistanz zu dem komplexen Phänomen Sprache gewinnen, weil sich in ihnen immer sach- und reflexionsthematische Denk- und Sinnbildungsanstrengungen miteinander verbinden. Wenn man in seinen Erkenntnisbemühungen nur noch mit begrifflich normierten Denkmustern arbeitet und alle semantischen Vagheiten und Ambivalenzen bei sprachlichen Formen auszumerzen versucht, dann ergibt sich schnell die Gefahr, die Gegenstände seines Denkens als eigenständige und widerborstige Phänomene nicht wirklich ernst zu nehmen. Man gerät leicht in ein tautologisches Denken und Reden, bei dem alles Wissen mehr oder weniger aus den eigenen Denkprämissen abgeleitet wird und bei dem das Denken zu einem methodisch regulierten Kalkül wird, das keiner heuristischen Einfälle mehr bedarf, da es im Prinzip nur noch um Zuund Einordnungsoperationen in einem vorgegebenen Denkrahmen geht. Das wissenschaftliches Denken und Argumentieren braucht zweifellos semantisch normierte Begriffe, die sich im Gebrauch nicht ständig chamäleonsartig verändern. Wer sich in Denkprozessen der formalen Schlussfolgerungslogik verpflichtet fühlt, der bedarf definierter Begriffe und kann nicht akzeptieren, dass die verwendeten Wörter bzw. Termini in neuen Relationen jeweils einen anderen begrifflichen Gehalt bekommen. Das heißt nun aber nicht, dass der kontextsensitive natürliche und metaphorische Sprachgebrauch mit seinen vagen Begrifflichkeiten und seinen semantisch leicht modifizierbaren Wörtern keinen kognitiven Wert hätte. Allerdings hat er eine geistige Leistungskraft, die eher dialektisch und heuristisch als schlussfolgernd orientiert ist und die
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deswegen auch nicht nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen ist wie die Leistungskraft des Sprachgebrauchs im klassischen begrifflichen Denken.1 Weiterführendes kreatives Denken, das über ein rein schlussfolgerndes rationales Denken hinausgeht, und fruchtbare Gespräche kommen nur dann zustande, wenn die verwendeten Begriffe nicht randscharf definiert sind, sondern sich im aktuellen Gebrauch lediglich überschneiden. Nur wenn die zentralen Ordnungsbegriffe und Denkformen ein gewisses Maß an Plastizität haben, kann es zu dem kommen, was Gadamer als „Horizontverschmelzung“ in Wahrnehmungs- und Denkprozessen bezeichnet hat.2 Die jeweiligen Gesprächs- oder Denkpartner bedürfen natürlich immer einer gemeinsame Orientierung an dem jeweiligen Gegenstandsbereich, aber sie brauchen keineswegs immer eine semantisch vollständig deckungsgleiche Sprache, weil es in weiterführenden Dialogen ja gerade um den Versuch der Ausarbeitung einer gemeinsamen Begrifflichkeit bzw. Sprachlichkeit geht sowie um die Ausarbeitung von möglichst ähnlichen oder zumindest intersubjektiv verständlichen Denkperspektiven auf die thematisierten Sachverhalte. Die semantische Inkohärenz und Flexibilität des verwendeten Vokabulars bzw. die Differenz zwischen den Prämissen, Erfahrungen und Erkenntnisinteressen bei den beteiligten Partnern ist so gesehen dann sogar eine Grundbedingung von fruchtbaren Dialogen bzw. Textlektüren, sofern diese mehr sein wollen als Verfahren zum bloßen Ausgleich unterschiedlicher Wissensbestände. So betrachtet können Sinnbilder dann auch zu konstitutiven Bestandteilen von fruchtbaren Gesprächen werden, weil sie gerade interaktive Sinnbildungsprozesse ermöglichen und anregen. Das gilt dann insbesondere auch für Gespräche über das Phänomen Sprache, da hier unter erschwerten Bedingungen Sprache mit Hilfe von Sprache aufgeklärt werden muss. Gerade dabei können Sinnbilder sehr hilfreich sein. Mit ihrer Hilfe lassen sich nämlich nicht nur die gemeinsamen Welterfahrungen der jeweiligen Gesprächspartner aktivieren, sondern auch ihre Fähigkeiten, in Denkprozessen den Zauberstab der Analogie auf methodisch kontrollierte Weise heuristisch zu nutzen. Während das begriffliche Denken und Sprechen eine natürliche Neigung hat, das Phänomen Wahrheit kohärenztheoretisch als Vereinbarkeit von Aussagen mit vorgegebenen Grundüberzeugungen bzw. axiomatischen Grundaussagen zu verstehen oder korrespondenztheoretisch als sprachliche Abbildung von vorgegebenen Sachverhalten, hat das sinnbildliche Denken und Sprechen eine ganz andere Grundorientierung. Es bindet unser Verständnis von Wahrheit eher an den Gedanken der Fruchtbarkeit, der Anregungskraft und der Integration von Einzelwissen in ein lebensdienliches Gesamtwissen. Das bedeutet, dass der sinnbildliche Gebrauch von Sprache zwar führen, aber nicht
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Vgl. W. Wieland, Dialektik und Relationen, in: R. Breuninger (Hrsg.), Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie, 1997, S. 369–383. 2 H.- G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 19652, S. 289 ff.
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Schlussbemerkungen
verführen soll. Deshalb haben wir Sinnbilder auch nicht als Manifestationsformen eines endgültigen Wissens hinzunehmen, sondern eher als Repräsentationsformen eines lebensnahen Wissens zu verstehen, bei dem die jeweils postulierten Analogien zwischen Bildspender und Bildempfänger immer wieder neu überprüft werden müssen. Dadurch wird das Denken in Fluss gehalten und kann sich nicht im Hinblick auf bestimmte Ergebnisse beruhigen. Ebenso wie die Struktur der natürlichen Sprache es zulässt, Fragen zu stellen, die letztlich nicht zu beantworten sind, die aber dennoch für die Grundorientierung des Denkens und Lebens unabdingbar sind, so ermöglichen uns auch Sinnbilder für Sprache Wahrnehmungsmöglichkeiten von Sprache, die nicht immer verifizierbar sind, die uns aber dennoch in unserem Denken über Sprache wichtige Orientierungshilfen geben können. Während uns begriffliche Redeweisen über Sprache dabei helfen, die Sprache als ein System- und Konventionsgebilde bzw. als ein spezifisches Zeichensystem unter anderen Zeichensystemen wahrzunehmen, helfen uns sinnbildliche Redeweisen über Sprache dabei, die Sprache als ein anthropologisch grundlegendes Phänomen des Lebens zu verstehen, das wir uns ikonisch über unsere praktischen Erfahrungen mit anderen relevanten Lebensphänomenen erschließen können. Gerade weil wir bei sinnbildlichen Aussagen über die Sprache nicht ganz genau wissen, was sie eigentlich konkret besagen, sind sie paradoxerweise so hilfreich. Sie machen uns nämlich unabweisbar auf den heuristischen und medialen Charakter von Sprache aufmerksam und täuschen uns nicht vor, die Sprache an sich erfasst zu haben oder erfassen zu können. Beim Gebrauch von Sinnbildern lernen wir in unseren Sprachreflexionen nicht nur etwas über die Struktur und die Verwendungsmöglichkeiten von Sprache, sondern auch immer etwas über uns selbst bzw. über unser mögliches Interesse an der Sprache. Auf diese Weise können uns Sinnbilder für Sprache zu Leitfäden werden, die uns sowohl zu einer besseren Kenntnis der Leistungskraft der Sprache als auch zu einer besseren Kenntnis unserer selbst zu führen vermögen. Der Rückgriff auf Sinnbilder exemplifiziert nicht nur, dass wir das Phänomen Sprache in begrifflichen Diskursen nicht vollständig in den Griff bekommen, sondern auch, dass einzelne Sinnbilder dieses Phänomen nicht erschöpfend objektivieren oder repräsentieren können. Sinnbilder für Sprache treten sehr viel klarer als Begriffe von Sprache als perspektivierende Erkenntnismedien in Erscheinung, weil sie eine natürliche Tendenz haben, in andere Sinnbilder überzugehen bzw. sich von anderen ergänzen zu lassen. Zeichentheoretisch gesehen können Sinnbilder für Sprache bei der begrifflichen Objektivierung von Sprache die semiotische Funktion von abduktiv wirksamen Interpretanten übernehmen, insofern sie konkretisieren, in welchen Denkhorizonten und Denkperspektiven wir uns das vielschichtige und deshalb auch etwas amorphe Phänomen Sprache semiotisch überhaupt zu einem Wahrnehmungs- und Denkobjekt machen können. Die gleiche Funktion können auch Geschichten über Sprache erfüllen. Umgekehrt kann allerdings auch geltend gemacht werden, dass Begriffe über Sprache natürlich auch die Funktion von perspektivierenden Interpretanten übernehmen können, insofern sie
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dabei zu helfen vermögen, die etwas unscharfen sinnbildlichen und narrativen Objektivierungen von Sprache interpretativ so zu konkretisieren, dass dadurch klarer konturierte Vorstellungsgestalten entstehen. Begriffe über Sprache tendieren natürlicherweise zur Ausbildung von theoretischen Systemräumen und zu einer methodisch motivierten und legitimierten monoperspektivischen Wahrnehmung von Sprache. Sinnbilder über Sprache tendieren dagegen natürlicherweise zur Ausbildung von offenen Strukturräumen und zu einer polyperspektivischen Wahrnehmung von Sprache. Begriffe wollen Erkenntnisprozesse tendenziell abschließen und die Wissensbildung zur Ruhe kommen lassen. Sinnbilder wollen tendenziell Erkenntnisprozesse eröffnen und die Wissensbildung korrelativ ausweiten. Wenn wir den erkenntnistheoretischen und medialen Grundgedanken ernst nehmen, dass unsere Wahrnehmungsgegenstände uns nicht unabhängig von unseren Objektivierungsstrategien und Objektivierungsmedien gegeben sind, dann müssen wir wahrheitstheoretisch auch akzeptieren, dass keine der verschiedenen Objektivierungsformen von Sprache uns die Sprache an sich zugänglich macht, sondern immer nur mehr oder weniger ergänzungsbedürftige Aspekte von ihr. Die begrifflichen, narrativen und sinnbildlichen Redeweisen über Sprache sind Diskursformen über Sprache, die jeweils ihre eigene Leistungsfähigkeit und damit auch ihre eigenes Existenzrecht besitzen. Sie sind alle als verschiedene Strategien zu verstehen, bestimmte Fragen aufzuwerfen und bestimmte Antworten zu finden. Alle stehen in einem Wettstreit und einem Ergänzungsverhältnis zueinander, obwohl wir kaum eine Chance haben, ihre jeweiligen Leistungen letztlich nach einem einheitlichen Maßstab beurteilen zu können. Eine solche einheitliche Leistungsbeurteilung ist vielleicht auch gar nicht notwendig oder wünschenswert, weil wir dadurch ihre Funktionen abschwächen würden, sich wechselseitig zu provozieren, anzuregen und fortzuführen. Der fehlende Wettstreit zwischen ganz unterschiedlichen Objektivierungsweisen von Sprache könnte nämlich leicht dazu führen, dass eine Erschließungs- und Objektivierungsweise von Sprache sich imperial so ausweitete, dass sie das Lebensrecht aller anderen in Frage stellte und dass sie dann letztlich sogar an ihrer eigenen Macht zu Grunde gehen könnte. Sinnbilder für Sprache lassen sich möglicherweise als Fiktionen oder gar als Lügen diffamieren, weil sie nicht immer zu den jeweils gängigen begrifflichen bzw. theoretischen Anschauungen von Sprache passen und weil sie auch nicht immer gut in Schlussfolgerungsprozessen argumentativ verwendet werden können. Zuweilen können sie sogar als Trivialitäten in Erscheinung treten, da sie uns allzu selbstverständlich vorkommen bzw. unseren alltäglichen Urteilen und Vorurteilen über Sprache weitgehend entsprechen. Aber auch Trivialitäten können Tiefenschichten haben, die uns auf den ersten Blick nicht immer wahrnehmbar sind. Auf jeden Fall können wir im Hinblick auf Sinnbilder für Sprache geltend machen, dass sie nicht dazu bestimmt sind, unser Wissen von Sprache zu fixieren, sondern eher dazu, ein solches zu finden. Dabei kann man dann auch die Ansicht vertreten, dass das Finden von Wissen vielleicht schöner ist als der Besitz von Wissen.
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Schlussbemerkungen
Erkenntnistheoretisch machen uns Sinnbilder über Sprache insbesondere auf zweierlei aufmerksam. Einerseits verdeutlichen sie uns, dass wir uns über die von ihnen postulierten Analogien ein Sprachverständnis erarbeiten können, das sich in unsere konkreten Lebens- und Welterfahrungen einbinden lässt. Andererseits verdeutlichen sie uns aber auch, dass ein differenziertes geistiges Verständnis von Sprache ohne Nutzung von Hypothesen und ohne die Aktivierung unserer Einbildungskraft gar nicht möglich ist. Daher müssen Sinnbilder zugleich mutig und vorsichtig gebraucht werden, weil sie sowohl auf Erfahrungen als auch auf Phantasie aufzubauen haben. Ebenso wie aus ganz geraden Strichen kaum ein sinnträchtiges Bild entstehen kann, so kann auch aus ganz geraden Denkverfahren selten eine sinnträchtige Erkenntnis entstehen. Im Rahmen des begrifflichen Denkens haben wir sicherlich einzuräumen, dass das, was bekannt ist, keineswegs auch schon erkannt ist, und dass wir uns immer zu bemühen haben, das bloß Bekannte auch begrifflich zu durchdringen. Deshalb hat Hegel betont, dass das Analysieren einer Vorstellung im Prinzip nichts anderes sei als „das Aufheben der Form ihres Bekanntseins.“3 Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass etwas nicht nur in Form von Erfahrungen und sinnlichen Vorstellungen bekannt sein kann, sondern auch in Form von gängigen Begriffen. Das bedeutet dann, dass auch Sinnbilder durchaus analytische Qualitäten haben können, insofern sie uns dabei zu helfen vermögen, das bloß begrifflich Bekannte noch umfassender kennenzulernen. Bei der Wahrnehmung von Sinnbildern geht es uns immer irgendwie so wie bei der Wahrnehmung von Wolken. In einer Wolke sehen wir immer eine Ähnlichkeit mit etwas anderem, gleichzeitig wissen wir aber auch, dass es natürlich eine große Differenz zwischen einer Wolke und dem gibt, dem sie ähnelt. Aus diesem dialektischen Tatbestand wäre dann vielleicht folgender Schluss zu ziehen. Einerseits helfen die von uns genutzten Sinnbilder für Sprache dabei, unser etwas amorphes Detail- und Gesamtwissen von Sprache zu strukturieren und ihm eine übersichtliche komplexe Gesamtgestalt zu geben. Andererseits zwingen uns unsere faktischen Erfahrungen mit Sprache und die Defizite der vorhandenen Sinnbilder für Sprache auch immer wieder dazu, die jeweiligen Sinnbilder gedanklich zu transzendieren und ständig neue zu suchen, die intersubjektiv verständlich und akzeptabel sind. Sicherlich haben nicht alle Sinnbilder für Sprache den gleichen Erkenntniswert, aber diesen können wir im Prinzip nur dann feststellen und konkretisieren, wenn wir ihn im Kontext unserer jeweiligen Welt- und Spracherfahrungen auch immer wieder neu zur Debatte stellen. Jean Paul hat für diese spannungsvolle Dialektik und unabschließbare Aufgabe einen bemerkenswerten Satz in die Welt gesetzt: „Die Sprache ist ein Gewölke, an dem jede Phantasie ein anderes Gebilde erblickt.“ 4
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Personenregister Achermann, E. 425 Adam 137, 142, 148, 204 Adelung, J. Ch. 371 Alberti, L. B. 544 Alexander der Große 451 Alice im Wunderland 527 Antaios 11 Apollon 132, 532 Archimedes 336, 432 Ariadne 335 Aristoteles 26, 58f., 61, 318, 340f., 349f., 405f., 409, 436 Arnim, A. v. 129f. Asemissen, U. 46, 506 Asmuth, B. 81 Assmann, A. und J. 221 Athene 133, 489f. Augustin, A. 334, 560 Aust, H. 432 Austin, J. L. 431 Bacon, F. 70, 217, 265, 395, 494f., 560 Ballauf, Th. 267 Baltrušaitis, J. 483 Bartlett, F. 392 Baudy, G. J. 364 Beaufret, J. 247 Becker, K. F. 273 Behm, J. 533 Berkeley, G. 19, 47 Bernhard von Chartres 107, 394 Bertalanffy, L. v. 118, 286ff., 355 Binswanger, H. Ch. 462 Black, M. 87 Blumenberg, H. 99, 358, 559 Bochénski, I. M. 21 Bodammer, Th. 369 Boeckh, A. 169, 384 Boehm, G. 38, 49 Bovary, Emma 631f. Bloch, P. A. 622
Blumenbach, J. F. 270 Blumenberg, H. 62, 99f., 358, 559 Bodemann, E. 424 Bohr, N. 37, 104 Bombeck, M. 212f. Borst, A. 241 Bourdieu, P. 338 Brentano, C. v. 493 Bröcker, W. 146 Bruner, J. 29, 322, 381, 397 Buber, M. 146 Bühler, K. 22, 85f., 158f., 161ff., 320, 431, 445, 564, 577 Buffon, 232, 534f. Bultmann, R. 559 Burckhardt, J. 360 Burkert, W. 112 Buytendijk, F. J. J. 597f. Callois, R. 593, 596 Capelle, W. 59, 349, 548 Cappeletti, V. 214 Carnap, R. 196, 326f., 517ff. Carroll, L. 527 Cassirer, E. 16, 32, 49, 63, 91,187, 219, 294, 304, 319, 373, 441f., 448, 496f., 533, 563, 600 Chandos 265 Charmides 535 Chi Lie 358 Christus 51, 107 Cochetti, St. 526 Coenen, H. G. 64f. Cohn, A. W. 438 Coulmas, F. 359 Dädalus 249f., 335, 461 Dagobert 410 Daiber, J. 538 Dalgarno, G. 226 Darwin, Ch. 271, 275, 295ff. 300ff. 584
656 Demandt, A. 103 Demokrit 548 Descartes, R. 35, 269, 318 Dilthey, W. 106 Diogenes 451, 625 Dionysos 409 Dithmar, R. 68 Don Quichotte 382, 507 Dornseiff, F. 282 Dracula 474, 527 Durkheim, E. 279 Ebel, W, 436 Echo 522f. Eckermann, J. P. 462 Eco, U. 507 Eddington, A. 2, 185 Egli, H. 127, 134 Eigen, M. 68, 584 Empedokles 59, 548 Engels, F. 218, 420, 477f., 583 Eulenspiegel 595 Eva 137, 139, 142, 148, 151, 204 Faust 530 Feldmann, J. 148 Feuerbach, L. 514, 532f. Fischer, E. P. 545f. Fischle, W. H. 131 Flaubert, G. 630ff. Fleck, L. 17 Fontane, Th. 333 Foucault, M. 526 Fouconnier, G. 86 Frankel, H. S. 471f. Franklin, B. 420 Frege, G. 93, 554f. 606 Frerichs, K. 420 Frey, K. 401 Freud, S. 388, 394 Friedberg, A. 544 Gabriel, G. 72 Gadamer, H.-G. 214, 384, 571, 637 Galilei, G. 63 Gardt, A. 473, 478 Gauger, H.-M. 223 Gehlen, A. 105, 298, 374, 391, 598 Gerhard, V. 40 Gide, A. 71
Personenregister
Gilde, W. 483 Gilgamesch, 131 Gipper, H. 60, 180, 252 Glinz, H. 257 Gloy, K. 72 Gödel, K. 21 Goethe, J. W. v. 10, 60f., 67, 118, 128, 153f., 178, 184, 223, 270, 358, 363f. 461f. 474, 530, 558 Goodman, N. 80, 87, 499 Grabes, H. 528 Grass, G. 622 Grassegger, H. 448 Grimm, Gebrüder 133f., 224, 436 Grimm, J. 550 Groos, H. 577 Gulliver 323, 594 Guyer, W. 586f. Gyges 205 Haas, A. E. 548, 559 Häckel, E. 300 Halbmeyer, A. 115 Hamann, J. G. 1, 3f. 8, 36, 39, 120, 140f., 171, 187, 374f., 398, 426, 444, 453, 459, 526 Hans im Glück 437 Harlandt, H. 461, 469 Harsdörffer, G. Ph. 557f. Hartlaub, G. F. 483 Harvey, W. 285, 474 Haubl, R. 483, 533 Hayakawa, S. I. 192, 409 Hayek, F. A. v. 237f, 257, 305ff., 592 Heckhausen, H. 576 Hegel, G. F. W. 16, 20, 30, 36f., 48, 106, 150, 152, 161, 175, 205, 217, 349, 368f., 531, 640 Heidegger, M. 159, 184, 217f., 247f., 342, 357, 384, 457, 519 Heine, H. 150f. Heintel, E. 61 Heisenberg, W. 37 Helenos 133 Hera 523 Heraklit 7, 18, 167, 348–352, 355 Herder, J. G. 1, 8, 38, 56, 78, 105, 120, 136, 146, 148, 223, 229, 298, 371f., 374, 391, 425f., 467, 491f., 526, 549f., 598
Personenregister
Hermanns, F. 583 Hermogenes 163 Herodot 205, 317 Herold, N. 40 Hesiod 59, 449 Heyse, K. W. L. 274 535 Hitchcock, A. 541 Hobbes, Th. 474 Höffding, H. 371 Hölderlin, F. 129f. Hörisch, J. 452, 474 Hoffmann, E. T. A. 527, 540 Hofmannsthal, H. v. 15, 206, 265, 361f. Holz, H. H. 515 Homer 449 Huizinga, J. 51, 573, 597, 599 Humboldt, W. v. 12, 16, 18, 23, 48, 89, 105, 121, 145, 152, 168, 171f., 175f., 230, 233, 272f., 278, 280f., 293f., 304, 324, 339, 352, 360, 372, 380f., 401, 415, 421, 444, 453, 458, 470, 510, 533f., 563, 581, 585f., 602f., 611, 615 Hume, D. 309, 619 Ikarus 73, 148, 201, 250, 461 Ipsen, G. 282 Issing, O. 405 Jacobi, F. H. 120, 136f. Jakob 187 Jakobson, R. 581 Jarchow, H. J. 405 Jenninger, Ph. 630, 632f. Johann von Salisbury 394 Johnson, M. 47, 110 Jonas, H. 547 Kafka, F. 629 Kandaules 205f. Kandler, G. 283 Kant, I. 1, 5, 8, 14, 16, 22, 30, 66ff., 120, 148, 217, 269,ff., 433, 492, 526, 619 Kaspar Hauser 580 Kassandra 133 Keller, Helen 580 Keller, Gottfried 419 Keller, Rudi 307, 466
657
Kiener, F. 179 Kierkegaard, S. 218f., 336f. Kleiber, G. 29, 613 Kleist, H. v. 219, 333, 357, 490f. 572 Klopstock, F. G. 228 Knapp, G. F. 406, 412, 45o Köller, W. 1, 40, 50, 83, 136, 205, 240, 245, 252, 279, 290, 306, 308, 321f., 326, 329, 339, 377, 385, 417, 449, 455, 470, 481, 500, 517, 534, 563, 566, 580, 592, 594, 616ff., 621, 626, 630 König, G. 8 Konersmann, R. 40 Kopanski, K. W. 483 Kopernikus, N. 354 Korzybski, A. 391 Kostof, S. 255, 261 Kratylos 249f. Kraus, Karl 249 Kraus, Manfred 449 Kruse, N. 329 Kuhn, Th. S. 395 Kunzmann, P. 68 Lakoff, G. 47, 110 Lamarck, J.-B. 271, 275, 295f. Lambert, J. H. 323f., 614 Landmann, M. 106, 299, 374, 598 Laokoon 132 La Valette 468 Leibniz, G. W. 196, 226, 398, 413, 424, 495f., 516, 544 Leisegang, H. 16f., 60, 419 Leonardo da Vinci 44, 500, 562f., 564 Lenneberg, E. 613 Lerche, E. 447 Lessing, Th. 91 Leukipp 548 Leverkus, E. 461, 468 Leviathan 474 Lichtenberg, G. Ch. 7, 78, 80, 105, 232, 234, 328, 330, 525, 531f., 535, 625 Liebrucks, B. 102 Linné. K. v. 32, 295 Livius 68 Locke, J. 172f., 495, 544, 600 Lorenz, K. 68, 485f. Lukács, G. 248, 505
658
Personenregister
Lukian 501 Ludwig XIV. 212 Lurker, M. 136 Luther, M. 221, 364, 432 Mach, E. 68 Machiavelli, N. 214 Mädchen von Midnapore 580 Magritte, R. 502f. Maimon, S. 433 Markowitsch, H.-J. 391 Marquard, O. 100, 104, 112ff. Marx, K. 218, 368, 419f., 442f., 450f., 459, 477f, 514 Mauthner, F. 60, 120, 175f., 178, 188ff., 254, 258, 264, 340, 347, 366f., 473, 605 McLuhan, M. 13 Mead, G. H. 591 Medusa 489f. Meier, Ch. 62 Melampos 132 Menenius Agrippa 68, 277 Mensching, G. 471 Mephisto 126, 153, 184, 461f. Merleau-Ponty, M. 460 Merton, R. K. 25, 107, 394f. Mettrie, J. O. de la 269 Midas 409, 415 Minos 249 Mitchell, W. J. T. 49 Mödersheim, S. 81 Monod, J. 269, 298 Morgenstern, Ch. 525 Moritz, K. Ph. 14, 338 Moses 135 Müller, Achatz v. 542 Müller, Adam 476–479, 481 Müller, Wolfgang 233, 534 Musil, R. 54f., 118, 359f. Narzissos 520, 523 Nestroy, J. 432 Neumeyer, A. 40, 532 Neurath, O. 196f. Newton, I. 394 Niebuhr, R. 241 Nietzsche, F. 27f., 80, 99, 218, 231, 236, 246, 373, 393, 395, 421, 451, 473, 569, 584
Nikolaus von Kues 40, 494, 516, 532 Novalis 70, 221, 243, 285f., 532, 576, 626, 633 Ockham, W. v. 471 Ötsch, W. 411 Ohly, F. 62, 108, 370 Olson, D. R. 381, 397 Origines 383 Ovid 522 Palmström 525 Pannenberg, W. 61 Pascal, B. 8, 67, 73, 256 Paul, J. 78, 86, 98, 113f., 232, 482, 601, 640 Paulus 533 Pausanias 522 Peary 144 Peez, E. 483 Peil, D. 68 Peirce, Ch. S. 14, 41 50–55, 56, 67, 75ff., 95f. 219, 225, 233, 290, 395, 417, 422, 508, 605 Peres, C. 221 Perseus 489f., 524 Peter von Hameln 580 Peyer, A. 256 Physiologus 62 Piaget, J. 366 Picasso, P. 46, 499f., 562 Piontek, H. 556 Platon, 14, 26 35, 39, 78f., 95, 162– 169, 178, 181, 229, 244, 285, 318, 377ff., 385, 406, 444, 449, 512, 559, 589 Plenzdorf, U. 232 Plotin 60f. 512 Polenz, P. v. 633 Popper, K. 106, 257, 374, 551 Porphyrius 32 Prometheus 107, 148, 377, 492 Protagoras 164 Proteus 404 Rad, G. v. 146 Raimundus Lullus 326 Ranke-Graves, R. 132f., 335, 409. 422, 490, 492, 527 Rausch, H. 8, 317
Personenregister
Rehkämper, K. 526 Reiners, L. 623 Richards, I. A. 87 Ricoeur, P. 96 Riedl, R. 68, 144 Rilke, R. M. 41, 528, 532, 546 Robespierre 212 Robinson 414, 438 Rombach, H. 33, 61 Rorty, R. 49, 495 Roscher, R. 233 Roth, G. 392f. Rothacker, E. 62 Rousseau, J. J. 212 Runkel, G. 588 Russel, B. 57 Ryle, G. 440 Sancho Pansa 507 Saussure, F. de 49f., 75, 145, 170, 176, 223, 279, 281, 289, 303, 360, 454, 606 Schadewaldt, W. 218 Schaff, A. 374, 513f. Schapp, W. 88, 353f. 612f. Scharfe, M. 128 Schelling, F. W. J. 100f., 149f. Scheuerl, H. 575, 591, 596 Schildknecht, Ch. 316 Schiller, F. v. 10, 149, 220, 229, 600f. Schlegel, August Wilhelm 81 Schlegel, Friedrich 270 Schleicher, A. 300ff. Schleiermacher, F. E. D. 8, 165 Schlemihl, P. 450, 527, 562 Schleusener-Eichholz, G. 549 Schmidt, Werner 213 Schmidt-Biggemann, W. 137 Schmitt, Alfred 580 Schmölders, G. 408 Schneewittchen 487, 527 Schneider, Arthur 59 Schneider, Klaus 227 Schöne, W. 561 Schönrich, G. 526 Schopenhauer, A. 234, 382, 389f., 404, 474, 535 Schwarz, H. G. 221 Schwinger, R. 372 Searle, J. 94, 174, 431, 481, 526
659
Seel, Martin 102 Seel, Otto 62 Shaftesbury, A. A. C. 372 Siebenborn, E. 326 Simmel, G. 207f., 315, 398f. 411, 414, 426f. 434, 438f., 459, 469 Sinz, R. 391 Sisyphos 148 Sismondi, J. Ch. L. 444 Smith, A. 305, 476, 590 Sokrates 26, 35, 39, 70, 95, 164ff., 377ff., 437f., 449, 535 Spencer, H. 575, 581 Spengler, O. 300, 375 Stanzel, F. K. 629, 631 Stein, G. 499 Steinthal, H. 233, 326, 340 Strack, L. 428 Strub, Ch. 617 Swift, J. 326, 594 Teiresias 132, 548 Teuth 377 Thackeray, W. M. 212 Thales 489 Thamus 377 Theseus 335 Thomasberger, C. 411 Thomasius, Ch. 213 Tieck. L. 465 Tillich, P. 144 Trajan 428 Trendelenburg, A. 340 Trier, J. 281 Turner, M. 86 Uexküll, J. v. 250 Vaihinger, H. 69f. Valéry, P. 221f. 334, 367 Velázques, D. 526 Vico, G. 8, 39, 88, 98, 318 Victor von Aveyron 580 Viëta, F. 34 Vološinov, V. N. 514 Voy, K. 411 Vulpius, Ch. A. 358 Wagenschein M. 328f. Wandruska, M. 253, 353
660
Personenregister
Watzlawick, P. 210 Weinrich, H. 83, 108, 353, 386, 595, 615f., 617, 621 Weizsäcker, C. F. v. 35, 486 Wellek, A. 43, 276 Wells, O. 624 Westkamp, D. 318 Weyrauch, W. 178 Wezel, G. 566 Whitney, W. D. 302f. Whorf, B. L. 185, 251f., 331, 373, 421, 470 Wicksell, K. 414f. 456 Wieland, W. 341, 378f., 637 Wiener, R. 193 Wilde, O. 524
Wilhelm Meister 558 Wilkins, J. 226 Winkelmann, J. J. 227 Winkler, R. 68, 584 Wittgenstein, L. 7, 70, 72f., 89, 171f., 190, 196, 209f., 254, 258. 320, 326f., 347, 385, 431, 517, 546, 568f., 603–610, 611, 613, 625 Wygotski, L. S. 325, 565 Xenophanes 59 Zamarovský, V. 131 Zenge, W. v. 333 Zeus 79, 285, 492
Sachregister Abbildungsfunktion von Zeichen 7, 24, 38, 42f., 46, 55, 69, 72, 101, 160, 166, 168, 171, 209, 329, 451, 458, 472, 495, 505, 512, 519, 546 Abduktion 75ff., 89, 636 Abspiegelung 484 Abstraktionsleiter 192 Abstraktionsprozesse 28, 31, 42, 80, 192, 320, 369, 375ff., 418, 432 Adler 123f. Ähnlichkeitsprinzip 44, 49, 52f., 56ff., 58–63, 65, 72, 78, 320, 635 Ähnlichkeitsrelation 42, 108f., 119, 137, 494, 498, 511, 513, 536 Äquivalenzgedanke 403, 411f., 480 Äskulapschlange 127 Ästhetik 54f., 216, 224–234 Ästhetik, semiotische 54f., 225f., 228 Affe 482 Affekte 98f., 101 Agens-Aktio-Schema 449, 487 Aggregatraum 32, 500, 545, 561, 587 Agnostizismus 514 Akkommodation 102, 263, 366, 385, 551, 576, 602 Aktionsdinge 29 Aktivitätszirkel 576f., 579 Akzidenz, 199, 202 Aletheia 217f. Allegorese 62 Allwissenheit 146 Als-ob-Denken 69, 104, 595, 600 Alterität 153, 369 Ambivalenz 5, 38, 47, 57, 70–73, 123f.,133, 220, 250f., 331, 367, 419–422, 456, 473, 636 Amtskleider 214 Analogie 9, 50, 56–80, 84, 91, 483, 635, 637f. Analogie des Seins 61, 76, 119 Analogieschluss 56, 66 Analogisten 325f.
Analyseprozesse 38, 43, 74, 97, 117, 165, 277, 325, 486, 586, 618, 640 Anamnesis 378, 635 Andeutung 226f. Angst 179, 240f., 527 animal rationale 442, 580 –, symbolicum 360, 441f., 497, 600 Anomalisten 325f. Anregung 73 Anschauung 5f., 99, 187, 369 Anthropologie 42, 45f., 48, 58, 63, 105f., 146, 160ff., 198, 204f., 220f., 233, 240, 243, 262, 299, 311, 315, 367f., 372, 380, 398f. 434ff., 475f., 520–535, 568, 574–578,, 583f., 596–603, 638 Anthropomorphismus 68 Antinomie 17 Aphorismus 101, 136, 206, 359f., 623ff., 628, 635 Arbeit 143f., 235, 239ff., 330f., 367– 370, 418, 434, 440f., 453, 479, 582–587 Arbeitsteilung 240f., 305, 419, 434, 438, 441, 443, 474ff., 478, 583 Arbeitszeit 420 Arbitraritätsprinzip 49f., 223 Argumentation 66, 68f., 71, 74, 93, 98f.,103f., 110, 136, 254, 399, 608, 614, 618, 636, 639 Ariadnefaden 15, 335f. Artefakt 43, 153, 158f., 160ff., 184, 235f., 271 Aspekt 74, 117f. Assignaten 461, 467 Assimilation 15, 101, 263, 365f. 385, 575f., 602 Assoziation 384 Asyl 244f., 249 Attributsgebrauch 315, 323, 617f. Attrappen 213
662
Sachregister
Aufklärung 74, 135, 137, 141, 147f., 216, 534, 560 Auge 127, 174, 483, 489f., 536f., 546– 552 Aura 42, 215, 218, 363, 484 Ausblick 539-542 Aussage 9f., 31, 83, 111, 139f., 326, 350, 624, 637 Autonomie 115, 119, 246, 248, 268, 285f., 290, 302, 355, 376f., 564 Ballast 361 Banknoten 419, 427, 461f., 469 Bargeld 460, 467 Basissätze 21 Baum der Erkenntnis 137ff., 143f. 147–151, 204, 491 Baum des Lebens 138, 143 Bauplan 237 Bauwerke 235–265 Bedeutung 90, 92ff., 351, 353f., 604 Bedrohung 123 Bedürfnisse, pragmatische 168f. Begriff 2f., 5f., 8f., 24–37, 72, 74f., 80, 96, 100f., 111, 114, 172, 177, 187, 192, 229, 321, 373, 421, 423, 438, 452, 467, 490, 496, 499, 590, 611–614, 637 Begriffsbildung 27–30, 165f., 182, 212, 267, 320f., 327, 350, 429, 457, 464, 467, 470, 572, 611–614 Begriffsdom 236 Begriffsinhalt 31f. Begriffsnamen 31, 192, 222, 449, 505 Begriffspyramide 4, 17, 32, 111 Begriffsschriften 380 Begriffssystem 4, 612 Begriffsumfang 31f. Belehrungsfunktion 166ff. Beleuchtungslicht siehe Zeigelicht Besinnung 148 Besitzwechsel 432ff., 462f. Besonnenheit 491f. Bestimmungsbegriff 83, 312, 315, 322f. Bewegung 152, 348, 596 Bewusstsein 12, 77, 102, 219, 324, 341, 368, 490f., 514f., 532 Bild 9, 38–55 Bildempfänger 55, 110, 121, 638
Bildfeld 107–110, 119, 355–360 Bildbewusstsein 46 Bilder, sprachliche 44, 48f., 54 Bilderverehrung 40 Bildnis von Sais 220ff. Bildspender 85, 101, 107f., 121, 138f., 155f., 332, 638 Bildträger 46f. Bildungstrieb 270 Bildungswissen 8 blending 86 Blick aus dem Bild 40f., 104, 532 Blick von nirgendwo 111, 216 Blut 474 Blutgeld 403 Blutkreislauf 474 Böse, das 131, 135, 137, 145ff., 148f., 154 Bogen 179f. Bohrer 164 Bosheit 150 Bounty 191 Bourgeosie 218 Brille 84, 419, 525, 554, 558 Brücke 40, 74, 91, 130, 132, 311, 319, 329, 332–335, 338, 344, 391, 477 Brunnen 456ff. Bruttosozialprodukt 462 Buch 370f., 381f., 525 Buch der Natur 8, 62f. Buchgeld 399. 407f., 413, 418, 469, 471, 480 Bußgeld 403 Chaos 113 Chartalitätstheorie 406, 451 Dädalus-Mythos 249, 251 Dämon 71, 123, 135 Dauer im Wechsel 548 Deduktion 66, 76 Definition 613 Definitionsschema 3f., 157, 407 Dekodierung 85, 101, 582 Denken 55, 57, 64–70, 96, 290, 311, 316f. 367, 435, 444 –, analogisierendes 70, 74, 77, 101 –, analytisches 67, 358, 380 –, begriffliches 23, 74, 99f., 112f., 636
Sachregister
–, dialogisches 75, 93 –, dogmatisches 101, 104, 111, 113f. –, experimentelles 101, 111, 208, 216, 435, 586f.,601, 613, 625 –, integratives 65, 67, 103 –, kreatives 637 –, monologisches 74, 93, –, polyperspektivisches 111 –, pragmatisches 76, 515, 525f. –, reflexionsthematisches 12, 21ff., 47, 55, 102, 121, 126, 140, 154, 329, 339, 400, 545, 635f. –, relationales 399, 435ff., 453f., 521 –, sachthematisches 12, 21ff., 47, 55, 102, 121, 126, 140, 154, 329, 339, 400, 545, 635f. –, synthetisierendes 74, 101, 380 Denkform 16f., 29, 57, 102, 380 Denkgegenstände 11, 71, 116 Denkinhalte 432, 526 Denkmuster 25, 28, 30, 189, 321, 361, 385, 390, 634 Denkprozesse 55, 64, 71, 74, 156, 321, 526 Denkstil 4, 15–18, 69, 107, 109, 230, 380, 543, 619 Determinationsrelation 83, 323, 421, 618 Deuteropraxis 381, 397 Dialekt 253, 345 Dialektik 37, 48, 149, 153f., 169, 199, 352, 419f., 435, 441, 457, 513ff., 636 Dialog 9, 231, 273f., 349, 352, 379, 441, 444, 495, 576, 601f., 608, 610, 637 Dialogpartner 9, 41, 95, 134, 378ff., 487, 523ff. Dietrich 182 Differenzen 73, 352, 441ff., 483, 525, 568 Differenzierung 319, 321, 324f., 417, 460, 463, 515, 625 Diplomatie 334f. Distanz 113, 159, 409, 441, 444, 483, 489f., 490, 530, 536, 541, 547, 549f., 555, 636 Dividuum 286f. Dogmatismus 492 Doppelbödigkeit 126
663
Doppelzüngigkeit 126 Dornauszieher 490 Drache 123 Durchblick 216 Dynamik 207, 348f., 445, 465, 570, 635 Echo 482, 508, 511, 523 Edelstein 370 Eigenbewegung 101, 103, 116, 215, 332 551 Eigenlicht/Sendelicht 560 Eigenname 31, 192f., 195, 206, 222f., 447ff., 505 Eigenschaft 321 Eigentum, geistiges 382 Einbildungskraft 55, 73, 78, 216, 222, 224, 226, 228, 368, 384, 505, 540, 588, 600, 619, 640 Einblick 542f Einfluss 348 Einkleidung 206, 209, 211, 215f., 219–224, 228–234 Einsicht 76, 317 Ellipse 418 Emanationslehre 60, 512, 560 Emblem 81, 136, 147 Emotionen 393 Empirismus 66, 388, 495 Energeia 12, 89, 145, 175, 278, 304, 458, 611 Engel 475 Entelechiegedanke 129, 294, 297, 304f Entfremdung 368ff., 435, 441, 444, 588 Enthüllung 205, 209, 217, 226 Entkleidung 218f., 224, 227f., 232 Entschleierung 217–220 Entspezialisierung 169, 211 Entsprechung 513 Entzweiung 150, 369 Epos 506, 622 Erfahrung 30, 39, 215, 338, 345, 355, 369 421, 480, 492, 567 Ergon 12, 145, 175, 278, 304, 360, 458, 611 Erinnerung 377, 387, 390, 392 Erkennen des Erkannten 384
664
Sachregister
Erkenntnis 5f., 30, 60 97, 104 109, 160, 168, 216, 219, 340 396, 485, 640 Erkenntnismittel 531ff. Erkenntnistheorie 6, 522 Ernst 583 Erotik 79, 80, 87, 97, 229 Erscheinungswelt 401, 504f. Erschließungsfunktion 7, 39f. 57, 95, 101, 167, 315, 331 Erwartungshorizonz 365 Erzählen 103, 130f., 370, 495, 621, 635 Erzählspiele 627–630 Erzähltexte 621ff. esprit de finesse 8, 67, 256, 260 esprit de géométrie 8, 67, 256, 260 Ethik 225 Etymologie 90f. 97, 184, 267, 309, 342, 363, 403, 457, 538, 570 Evolutionsgedanke 7, 60, 63, 73, 79, 118f., 128f., 144, 237ff., 258f., 271, 274f., 294-310, 355 Exil 244, 249 Experiment 79, 101, 111, 208, 216 Experimentieren 573, 576ff., 580f., 585f., 602, 613, 625, 633 Fabel 68, 71 Fachsprache siehe Sprache, formalisierte Fachtext 622ff. Faktum/ Faktizität 53, 224, 506 Falschgeld 453, 464 Falschmünzerei 427, 464 Falschspieler 591 Falsifikation 93 Falte 368, 389f.. 393 Familienähnlichkeit 72f., 119, 569, 607, 614 Federkleid 200 Feldgedanke 170f., 280–283, 455 Fell 209f. Fenster 216, 477, 536–566 Fernnähe 483, 548 Fernrohr 161, 174, 176, 483, 536f., 552f., 555–558 Fessel 180, 251, 253 Figur und Grund 582 Filter 180, 421
Fiktion 69, 94, 219, 361, 420, 430, 498, 505, 542, 594f., 639 Fließgleichgewicht 23, 92, 118, 162, 242, 261, 273, 278, 284, 288, 299, 355, 443, 480, 597 Flüssigkeitsvorstellung 404 Fluss 343–360 Flussbett 348 Form 14, 159, 162, 369, 372, 534 –, innere 230, 339, 372, 534, 543 –, lebendige 284 –, symbolische 16, 219, 319, 496, 520, 533, 563 forma formans 12, 18, 102, 175, 304, 339, 372 –, formata 12, 18, 102, 175, 304, 339, 372 Formel 157 Formtrieb 600f. Fortschrittsdenken 48, 141, 151, 328 Fossil 207, 242, 259, 292, 361, 370 Frage 6, 68f., 105, 138f., 378, 380, 437, 520, 524, 638 Frau 465f. Freiheitsgedanke 112, 148f., 201, 439, 587ff., 609f. Früchte 404, 418 Fruchtbarkeit 55, 67, 73, 93, 95, 111, 610, 637 Funktiolekt 253, 345 Funktion, illokutive 22, 174, 431 Funktionalstil 230 Funktionenontologie 33f., 130 Funktionsgedanke 33, 65, 91, 157ff., 168, 284–287, 351, 355, 413, 415, 452f. Funktionsgeld 413–416, 438, 468f. Funktionskleider 210f., 230 Funktionslust 577, 596 Furcht 179 Gängelband/Gängelwagen 148, 253, 382 Ganzheit 275–283, 453 Gebrauch 604, 609 Gebrauchswert 445 Gebärmutter für Begriffe 36 Gebäude 110 Gedächtnis 6, 9, 55, 65, 191, 208, 361, 377, 385–393
Sachregister
Gedächtnistheorien 390–393 Gedanke 228, 229–232 Gedankenkommerz 433 Gedankenkreis 17 Gefängnis 12, 180, 235, 249–254, 340 Gegenstandsbegriff 83 Gegenstandswissen 35, 361, 378 Gehalt, propositionaler 22, 431 Gehirn 238, 387, 392f. Geheimnis 217, 220, 226 Geist 23, 74, 121, 136, 138, 130f. 149f., 155, 160, 205, 221, 234, 238, 274, 290, 328, 368f., 511f., 527, 539, 598 Geist, objektiver/objektivierter 106, 176, 369 Geisteswissenschaften 295, 545, 602 Geld 64, 109, 177, 371, 398–481 Geldbezeichnungen 402 Gelddefinitionen 405ff. Geldevolution 407f. Geldfunktion 407 Geldprägung 422, 426–430 Geldkristall 443 Geldnoten/Banknoten 461f. Geldschöpfung 461 Geldvermögen 449 Geleise 252, 311, 329ff. Gemälde 166, 506ff., 511, 526, 562, 566 Gemeinschaftsbildung 399, 406, 428, 432 Genese 17, 27, 36f., 76, 92, 112, 137, 159, 190f., 267, 275, 300, 304, 310, 318, 329, 342, 405, 416, 429, 486, 509, 513, 515, 585, 635, 639 Genusformen 449 Geschichte 241, 357, 360, 374f., 453, 485, 493, 531 Geschichten 9, 88f., 103, 110, 112f., 130 353f., 375, 378, 464f., 570, 612, 634 Geschichtsschreibung 500f. Gesellschaft 434, 476f. Gesetze, mathematische 63 Gespräch 637 Gestalt 125, 275–283 Gestaltpsychologie 6, 42f., 85, 91, 276ff., 582 Gestaltung 166, 231, 482, 599, 681
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Gestaltungsraum 574 Gestaltwandel 125, 343, 353, 400 Geste 95, 350 Gewalt 373 Gewaltenteilung, 112–115 Gewand 233 Gewebe 273 Gewinn 434 Gewissen 147 Gewölbe 333 Gift 127, 161 Giftpfeile 179 Giftzähne 127 Gitternetz 261f. Gleiches durch Gleiches 59f., 127 Gleichgewichtsbildung 118, 366 Gleichheit 78, 513 Gleichnis 9, 56, 68, 71, 73, 557 Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 238f. Glottik 301 Glücksspiel 593f. Gnostik 147f. Goldmünzen 419 Grammatik 318, 369, 374, 383, 421, 606, 614–622 Grenze 74, 97, 112, 181, 254, 265, 278, 291–294, 316f., 344, 378, 587 Gut und Böse 145–149, 154 Habitus 338f. Häretiker 108 Häutung 120, 127ff., 131, 140, 214 Hammer 157, 160ff., 166, 173, 177 Hand 157, 161, 170, 177, 413, 480 –, unsichtbare 305, 307, 590 Handeln 88, 94f., 97, 174, 316, 536, 567 Handlung 403 Handlungsfunktion der Sprache 168, 174 Handlungsstil 399 Handlungswissen 35, 361, 378, 480f., 515, 608 Häutung 120, 127ff., 141, 154, 214 Haus 235, 243–249, 253, 297 Haut 199ff., 206, 213f., 223f., 229, 232, 546f. Heilung 127, 136, 152 Henne und Ei 169
666
Sachregister
Hermeneutik 6, 140, 169, 214, 380, 383ff., 486, 610 Herr und Knecht 104, 169, 373, 419, 521, 550 Herrschaftswissen 7, 28, 39, 69 Herz 170 Heuristik 27, 36, 39, 44, 57, 65, 67– 70, 74 82, 101, 111, 122, 166, 183, 252, 300ff., 396ff., 399, 482, 510, 519, 557f., 568, 611, 636 Hieroglyphe 234, 358, 451 Himmelsleiter, Jakobs 187 Historismus 214 Höhle 97, 243–246, 318, 557, 559f., 589 Höhlengleichnis 244f., 589 Hölle 148 Hören 483 Hörsinn 547f., 550 Hörspiel 624 Hofnarr 23, 588 Holzweg 337f. homo faber 240, 368, 583, 597 –, ludens 597, 599 –, sapiens 597 Horizontverschmelzung 214, 384, 637 Hospitalismus 580 Hülle 199ff. Hufeisen 104 Hybris 364 Hydra 132 Hypothese 9, 24, 30, 67, 70, 76, 89, 96, 103, 106f., 138f., 153, 161, 166f., 183, 277, 321, 338, 435, 463, 492, 503, 525, 552, 640 Idealismus 148–151, 492, 511ff., 529, 532 Idee, platonische 10, 26, 43, 106, 111, 122, 172, 181, 321, 396, 402, 503f., 512, 570, 579, 611, 634 Identität 18f., 38, 115–118, 195ff., 203, 206, 212, 223, 232, 240f., 264, 291, 348f., 350–353, 355, 411, 475, 513, 522f., 541f., 591, 602 Idiolekt 253, 345 Idolenlehre 217, 395, 494, 560 Ikarus-Mythos 73, 201 Ikon siehe Zeichen, ikonisches Illusion 485
Imagination siehe Einbildungskraft Index siehe Zeichen, indexikalisches Individualismus 208 Individualität 27, 113, 208, 218, 230, 232, 286f., 414, 434, 443, 562, 599, 602 Individuum 285f. Induktion 67, 76, 357 Induktionsschluss 66f. Inflationsproblematik 401, 418, 447, 460–467, 476 Information 35, 49, 103, 211, 247, 175, 285, 364, 378, 392f., 464f., 589 Informationstypen 324 Inhaltsschriften 380 Instinktreduktion 13, 105, 142, 148f., 243, 298f., 391, 598 Institutionen, kulturelle/soziale 23, 105, 195, 197, 239, 247, 251, 262– 265, 268, 298, 303, 305, 374, 391, 413f., 427ff., 432, 439, 450, 453, 459, 468, 477, 480, 531, 598 Instruktionslinguistik 615 Integration, soziale 99, 401, 435, 474– 481, 577 Intellektualität 124, 126f., 130, 135, 437f. Intensität 54f., 225f., 228 Intentio obliqua/recta 21, 530 Intention 77, 157, 480, 604ff., 618 Intentionalität 69, 154, 160, 230, 303 Interaktion 9, 85, 87, 97, 104, 159f., 262, 271, 275, 280, 290f., 366, 379, 393, 407, 414, 431, 440, 474f., 524, 547, 568, 590f., 602, 608 Interaktionsmodell bei Metaphern 86f. Interdependenz 5, 9, 252 Interpretationsgedanke 75, 83, 93, 101, 137, 139, 151, 153, 200, 206, 227, 320, 329, 376, 468, 482, 493, 499, 540, 638 Intuition 80 Ironie 112, 126f., 161, 248, 589, 595 Irrtum 113f., 221 Irrwege 320 Jargon 203, 213 Jeans 232 Jungfrauengeburt 102
Sachregister
Janusköpfigkeit 102 Kampfspiel 576 Kanal, 173, 258 Kapital 331, 478ff. Katalysatorfunktion 133, 135, 150, 156, 444 Kategorienverwechslung 440 Kaufmann 420 Kaufkraft 450, 455, 460ff., 464, 466 Kausaldenken 295, 309f., 619 Kausalität 269f., 303f., 309f., 374, 584, 619 Kirchenfenster 539f. Klarheit, traurige 219 Klassenkampf 514 Kleid 177, 198–234 Knurrworte 260, 409 Können 567 Körper 199, 201, 227 Kognition 493–497, 486 Koine 470 Komposita 312, 315, 322f., 552, 572, 617 Konjunktionen 518, 618ff. –, kausale 309f., 619 Konstitutionsprozess 116f., 194, 221, 476, 532 Konstruktionsgedanke 13, 30, 57, 64f., 236–239, 259f., 303f., 306, 321, 452, 467, 493, 515, 532, 604 Kontemplation 28 88, 101, 366, 375, 536, 539ff., 548, 556f., 583 Kontinuitätsgedanke 129 Konventionsordnungen 44, 49, 75, 104, 163, 165, 193, 208, 287, 289, 417f., 525, 574, 587, 599, 606, 610 Konzeptualisierungen 19, 99ff., 110, 312 Kosmos 12, 91, 237f., 243, 255, 257, 592 Kräfte 575, 577, 593 Kraftüberschuss 575, 577, 579, 581 Kratylos-Dialog 162–169, 406 Kreativität 208, 373, 599 Kredit 456, 462 Kreditgeld 460f., 469 Krieg 110. Künste, freie 318 Kugel 78
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Kugelmensch 79, 229, 285, 287 Kultur 61, 105f., 119, 138–143, 147, 149, 201, 217, 238, 240, 243, 268, 290, 299, 319, 332, 365, 374, 420, 450, 453, 485, 493, 553, 598 Kulturapriori 489 Kulturformen 13, 105ff., 381 Kulturphänomene 28, 40, 107, 119, 158, 198–209, 235–243, 250, 344, 398, 536, 597ff. Kulturwelt 250, 373 Kunst 531, 599, 601 Kybernetik 193 Labyrinth 15, 236, 249, 335f., 338 langue 145, 171, 176, 279ff., 286, 360, 362, 387, 503, 564, 573, 606, 610 Leben 317, 574 Lebensform 143f., 146, 418, 604, 606– 610, 617, 619, 633, 638 Lebensgefühl 518f. Lebensstil 416, 439 Lebenswelt 5, 9, 88, 98, 109, 111, 123, 214, 243, 250, 317, 341, 356, 367, 374, 400, 416, 441, 463, 480, 509, 569, 594, 640 Leibapriori 16, 489, 552 Leiter 157, 177, 186–193 Leitfaden der Sprache 15, 311, 335– 342, 470, 517, 638 Lernen 583, 586f. Lesen 381f. Licht 78, 109, 114f., 258, 379, 537, 540, 544, 548, 553, 559–566 Licht in der Malerei 560–563 Lichtquelle 16, 560f., 563 Lichtperspektive 561 linguistic turn 48f., 340 Links-Rechts-Vertauschung 501f Liquidität 414 List 161 Löwe 107f. Logik 37, 54, 56, 67, 69, 71f., 76, 217, 225, 293, 318, 340, 349, 381, 613, 623, 626, 636 Logos 1, 3f., 58, 82, 120 Lohn 403 Lüge 120, 126, 335, 400, 427, 453, 464f., 639 Lupe 483, 536, 554
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Sachregister
Macht 69, 74f.,160, 429 Mäander 346 Märchen 123, 130, 133ff., 155, 163, 224 Magazin 386f., 392f. Makrokosmos 553, 555 Maler 487 Manierismus 208, 232 Mantel 198, 223f. Marionette 490 Marxismus 214, 236, 241, 511–515 Maschenstruktur 184ff. Maschine 157, 255, 266, 268f. 274, 277, 289, 414f., 587 Maske 198, 203f., 234, 594 Maßstab 408, 415, 420, 429f., 432f., 451, 494, 512, 639 Materialismus 398, 511, 514 Materie 74, 290, 512 Maxime, pragmatische 95 Mechanismus 266, 268, 270 Medium 9, 11–13, 42, 48, 69, 95, 100, 102f., 156, 159, 180, 207, 216, 222ff., 254, 329, 346ff., 375, 421f., 470f., 488–493, 509, 516, 543–546, 549, 634 Meer 358ff., 370 Mehrsprachigkeit 353 Melancholie 541 Mensch 142ff., 146ff.,150, 106f, Mensch als Schöpfer und Geschöpf 106, 161, 299, 598 Merkmale, semantische 108, Merkwelt 250 Mesokosmos 553 Messer 157, 160, 164ff., 166, 168, 174, 177f., 221 Metainformation 324, 518, 566, 603, 609, 616, 618f. Metall 403 Metallismus 406 Metamorphose 128f. Metapher 58f., 71, 79f., 81–88, 191, 208, 227, 234, 253, 287, 556f., 613, 626 –, absolute 99 –, tote 52, 85f., 120, 389, 595, 617 Metaphorologie 99f. Metaphysik 327, 421 Metasätze 21
Metawissen 147 Methode 161, 177, 184, 311, 317f., 401 Midas-Effekt 19f., 33, 100f., 409 Mikrokosmos 553f. Mikroskop 174, 176, 537, 552-555 Mimesis 499 Misstrauen 473 Mittler, geformter 158, 160ff., 320, 330, 445 Mitteilung 463 Mobilität 439 Modalpartikel 566, 603, 623, 632 Mode 202, 206ff. Modelle 9, 56, 68, 77, 83, 97, 177, 517, 520, 574 Modi, gemischte 173 Modusformen 449, 566, 622 Möglichkeitsdenken 139f. Monade 495f., 544 Monismus 114–118 Monolog 231, 273, 352 Monomythie 112f. Monotheismus 112f. Mord/Mörder 466 Mosaik 281 Münchhausenparadoxie 20 Münzen 26, 371, 404, 422–430, 453, 468 Münzgeld 399, 404, 408, 412f., 418f, 426–430, 453f., 477 Münzprägung 404, 422f., 427f. Muschel 370f., 404 Museum 361, 363, 370 Muskel 176, 286 Musterbildung siehe Wahrnehmungsmuster Mutation 296f. Muttersprache 253 Mystik 59, 72, 214, 254, 317, 519, 540, 560, 622 Mythos 56, 71, 79, 88, 120, 122, 130ff., 147, 155, 163, 240f., 347, 377, 489f., 522 Name 163, 447ff. Namenshunger 200 Namenszauber 164 Nahrung 364–367 Narzissos-Mythos 520–524
Sachregister
Natur 61, 119, 143, 148, 160, 216, 240, 263, 268, 290, 304, 420, 450, 531, 585 Naturgesetze 181, 238, 306, 504, 508, 589 Naturphänomene 107, 119, 132, 158, 329, 536 Naturprodukte 271f. Naturwissenschaften 68, 216, 295, 301, 545, 602 Negation 130, 138, 150, 454, 540, 622, 627 Nennzeichen 615f. Netz 3, 49, 157, 177, 184ff., 284ff., 224, 254, 262, 320, 337 –, neuronales 580 Netzwerk 331, 345 Neugier 200, 527, 558 Neuheit 207 Nidhögg 123 Nominalismus 19, 27, 30, 37, 172, 321, 406, 412f., 425f., 451f., 470f., 604 Nominalwert 145, 464f., 475 Normgedanke 440, 535, 616 Notenbanken 428, 469 Oberfläche 199ff., 206 Oberflächenstruktur 27, 74, 183, 258, 350, 388, 499, 554, 564, Objekt, dynamisches 41f., 118 Objektivierungsformen 24, 99, 119, 219, 486, 491, 511, 634 Objektivierungsstil 1, 9, 101, 104, 635 Objektkonstitution 41 Objektsphäre 11, 13, 24, 27, 30, 159, 168, 216, 224, 254, 316, 319, 350, 366, 393, 412, 445, 488, 514, 516, 520, 529, 534f., 540, 563, 617, 623 Omnipräsenz 123 Onoma 163, 449 Onomatopoetika 50, 428, 448 Opfergedanke 304, 403, 408, 434, 441, 588 Oppositionsrelation 108f., 119 Oppositionsstrukturen 74 Orakel von Delphi 7, 9, 132, 205f. Ordnungsformen 306 Ordnungsgebilde 238, 255f., 259 Organ 169–172, 233, 598
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Organisation 170, 268, 270, 272, 277, 281, 613, 615 Organisationszeichen 615f. Organismus 68, 170, 255, 258, 266– 310, 547 Organismusbegriff 267–271 Organon 158, 162, 169, 171, 267f. Ordnungshierarchie 289 Original 40, 44f., 69, 378, 485, 493f., 498f., 501f., 504, 523, 530 Originalität 208 Ordnungsmuster 25, 27, 43 Orientierungsfunktion 93 Ornamentales 54, 77, 82, 223, 232, 556 Osmoseprozesse 538 Papiergeld 399, 406, 413, 418f., 427, 442, 460, 467, 476f. Parabel 68, 71 Paradies 120f., 135–151, 452f., 491 Paradigmenwechsel 184, 395, 612 Paradoxie 20ff., 102, 115, 118, 211, 224, 291, 625ff. parole 171, 176, 279, 282, 286, 362, 503, 564, 573 Partizipation 61, 71 Passivgebrauch 624 Peitsche 178 Perle 370 Perseus-Mythos 524 Perspektive siehe Wahrnehmungsperspektive Perspektive, göttliche 16, 18, 111 Perspektivierungsprozesse 44, 111, 115f. Pfad 311, 314, 330 Pfeil 179f. Pflug 160f. Phänomenologie 42, 121f., 401f., 483, 569 Phaidros-Dialog 377 Phantasie 78, 528, 640 Philologie der Dinge 54 Philosophie 99f., 339f., 443 Physei-These 164, 167 Physiognomie 234 Planung 237f. Pluralität 11, 111–118, 353 Poesie, konkrete 581
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Sachregister
Polis 255, 262 Polyfunktionalität 74, 247, 307, 472, 574, 609f. Polymythie 112f. Polyperspektivität 639 Polytheismus 112f. Positivismus 171, 457, 518 Prädikation 83f., 94, 96, 361, 617 Prädikationsmodell bei Metaphern 83– 84 Prägnanz 43, 89, 225 Prägung 25, 579 Prägeautoritäten 457 Pragmatismus 27f., 76, 512, 515 Praxis 381, 514 –, kondensierte 374 Preis 411, 420, 446, 450, 456, 462, 480 Primatsthese 43, 276f. Prinzip, genetisches 329, 385 Prinzipielles 113 Privateigentum 479 Privatgeld 414, 441 Privatsprache 89, 163, 414, 441, 445f., 608 Produkt von Produkten 116, 160, 241, 373, 599 Produktionsgedanke 367–375, 384, 451 Projektion 59, 71, 85, 98, 493, 509f., 525, 531ff. Projektionsmodell bei Metaphern 85f. Prokrustesbett 70, 72, 348, 422, 525 Prophetie 132f. Protokollsprache 190ff., 196f. Prototypentheorie 29, 613 Prozessvorstellung 155, 286, 321 Prozesswellen, 286f. Prunkgeld 409 Pygmalion-Effekt 100 Quelle 356ff. Rätsel, 54, 86, 234, 624 Rationalismus 7, 35, 66f. 72, 111, 237, 268, 388, 424f., 535 Rationalitätsformen 380ff. Raum 143, 180f., 330, 344ff., 485, 598 –, sozialer 414, 579 Rausch 576, 578
Rauschgift 461 Rauschspiel 593, 596 Realismus 45, 63, 71, 451, 511ff. Realität 484, 491f., 495, 500, 504, 512, 514, 517, 519, 522f., 527, 583 Rechenpfennig 412, 424f., 430, 467 Rechengeld 405, 412f., 422–426 Rechtsordnungen 289, 406, 434, 450, 493, 531, 587 Rede, erlebte 630–633 Reduktion, phänomenologische 122 Reduktion von Komplexität 321 Redewendungen 120, 404, 487, 559, 573 Referenz von Wörtern/Sätzen 21, 85, 89, 93f., 191, 350, 354, 430, 452, 454, 463, 507, 518f., 604, 613ff., 625 Reflexionsgesetze 498 Reflexionsprozesse 94, 102, 143, 334, 375, 399, 486, 490–493, 509, 529f., 541, 610 Regel 574, 579, 581f., 584, 598f., 604f. 608ff. Regeneration 136, 140 Reise 9, 90f., 95, 110, 316 Reizwechsel 552 Relationsgedanke 33, 58, 74, 83, 101, 290, 323, 327f., 425, 434f., 442, 453, 459, 618f. Relationsphänomene 46f., 280f., 284, 328, 435, 442, 453, 485, 612 Relativismus 113 Relativitätsprinzip, sprachliches 185, 251–254, 331, 373, 470 Reliefgebung 628 Repräsentationsformen 14, 29f., 44, 58, 322, 418, 636 Repräsentationsfunktion 202, 416, 420, 424, 431, 526 Repräsentationswert 445, 449 Reproduktion 248, 269ff., 295–300, 304 Resultante 103, 451, 480 Retorte 459 Revolution 354 Rezeptionsgeschichte 120 Rhetorik 8, 52, 56, 126, 193, 174, 230, 318, 604 Richtigkeit der Namen 163–167
Sachregister
Rituale 588 Röhren 173, 253 Rolle 23, 203, 206, 212 Rollenübernahme 591 Roman 506 Rückprägung 87, 106, 270, 272, 521, 602f. Rückspiegel 503 Ruine 242, 361 Sachdeckung 467 Sachfeld 109 Sachsteuerung 331 Salz, 366, 476 Sari 202 Schachspiel 172, 281, 454, 575, 578, 588, 605f., 611 Scham 145f., 204ff., 218 Schatten 102f., 444, 450, 467, 482, 506, 527, 559, 561f., 566 Schattenbild 506, 562, 564 Schatzkammer 107, 181, 361, 370– 373, 383f. Schatztruhe 181, 564 Schaufenster 542 Scheide 221 Scheinbegriffe 518 Scheinsätze 518f. Schemabildung 43, 80 Schießscharte 539 Schiff 157, 177f., 193–197 Schiff des Theseus 18f., 196 Schlange 107, 120–156, 217 Schlaraffenland 138 Schleier 198, 215–224 Schloss 180f. Schlüssel 177, 180–184, 372, 421, 463 Schlüsselfunktion 182, 184 Schlüsselwörter 181, 183f. Schnurrworte 260, 409 Schöpfer und Geschöpf 106, 160, 299 598 Schöpfung 60, 87, 374, 598 Schrift 14, 325, 358, 361, 375–385 Schriftformen 380 Schriftkritik 377ff. Schriftsinn, mehrfacher 383 Schuld 137, 148 Schwamm 361, 386ff., 393 Schweigen 254, 519, 626
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Schwerkraft 252, 328 Schwert 178f. Seheindrücke 500, 503f. Sehfeld 489 Sehen 483 Sehen-als 96–99 Sehsinn 481, 483, 531, 546–551 Sein 57, 58–64, 150, 247f., 290, 319, 321, 349f., 373 Seinsebene 157f. Seins-Dinge 88, 158 Selbstbewegung 317 Selbstbewusstsein 147, 151, 530 Selbstbezüglichkeit 20–23, 140, 151, 189, 227, 336, 346, 400, 486, 636 Selbsterkenntnis 221, 638 Selbsterneuerung 127ff., 370, 627 Selbsterzeugung 599ff. Selbstorganisation 22, 41, 238, 270f., 275, 283, 288–291, 307 Selbstwahrnehmung 521–527 Selektion 296f., 302, 307, 341 Semiose 52f. Semiotik 14, 76, 400, 407, 416–432, 486, 600, 605 Silben- und Buchstabenschrift 380 Singularität 111 Sinnbegriff 89–95 Sinnbild 1ff., 4, 6f., 9, 15, 23, 30, 34, 36, 54, 64f., 81–118, 119, 191, 317, 332, 488, 567f., 636–640 Sinnbildungsprozess 14, 38, 42, 54, 69, 77, 85, 195, 225, 227, 231, 247, 378, 464, 497, 529, 556, 587, 599, 605, 628, 636f. Sinneserfahrung 181 Sinnesorgane 392f., 483, 494, 536, 547 Sinngebung 91 Sinngestalt 225, 616 Sinnkonstitution 582, 605, 610, 613 Sinnzirkulation 582, 605, 610 Sitte 493, 531 Sitz im Leben 9, 45, 65, 207 Skepsis 104, 112ff., 558, 591 Skulptur 115f., 562, 564f. Solipsismus 97 Sophisten 378 Sozialismus 208, 264f. Sozialität 434, 567, 599, 602, 608
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Sachregister
Sozialsphäre 577 Sozialwissenschaften 602 Soziolekt 264, 345 Spargedanke 455f. Speicher 181, 356, 361–397 Speise 364 Spekulation 492, 529 Spiegel 44, 177, 253, 320, 482–535, 536, 545f., 623, 630 –, lebendiger 483, 494, 496, 516, 520 Spiegel als Erkenntnismittel 493–497, 531, 545f. Spiegel als Funktionsgebilde 487f. Spiegel als Medium 488–493 Spiegel als Strukturgebilde 484ff. Spiegelbild 44f., 474, 482f., 486f., 495, 497–510, 522, 527 Spiegelfaszination/Spiegelscheu 527f. Spiegelfunktionen 528 Spiegelmagie 483 Spiegeln, 488 Spiel 104f. 113, 226, 266, 377, 567– 633 Spielbegriff 569, 572–578, 598 Spielfähigkeit 77, 597 Spielentwicklungsgeschichte 578f. Spieler 113, 571f. Spielfreude 576 Spielfunktion 599 Spielraum 247, 251, 306, 574, 587ff., 597, 608f. Spielrausch 576, 578 Spielregeln 571, 578f., 588, 589–592, 606, 608 Spielrolle 600 Spielsachen 600 Spielstrukturmerkmale 596 Spieltrieb 550, 601 Spieltypen 578, 592–596 Spielverderber 591, 602 Spielvermögen 443 Spielwelt 571, 573, 576, 585, 588, 590f. Spinnenfaden 336ff. Spirale 102, 151 Spontaneität 154 Sprachapriori, 16 Sprache 1, 4f., 18f., 26, 34, 42, 50, 110, 116, 130, 140, 144, 152, 176ff., 207, 229, 250, 257, 271,
274, 293, 301f., 333, 337, 345, 347, 351f., 360, 372, 374, 414, 421f., 439–445, 457f., 475, 478f., 485, 537, 539ff., 554, 563–566, 599, 610, 634–640, –, formalisierte 26, 32, 174f., 194, 202f., 227f, 247, 310, 313ff., 330f., 333, 422, 464, 545, 550, 558, 592, 612 –, natürliche 11, 22f., 26, 32, 117, 154ff., 174f., 194, 202f., 209., 211, 239, 241, 293, 302, 310, 313ff. 331, 345, 464, 480, 545, 558, 588, 592 –, poetische 98, 215, 221, 367, 370 –, religiöse 215 Sprache als Nebenprodukt 257 Sprache der Bienen 285, 293 Sprache der Engel 8, 475 Sprache der Dinge 108 Sprache des Geldes 431 Sprache der Kleider 209 Sprache der Kunst 293 Sprache der Mathematik 520 Sprache der Tiere 132ff. Sprachbewusstsein 143 Spracherneuerung 104 Spracherwerb 28, 319f., 323f., 431, 563, 581, 586 Sprachfähigkeit 580 Sprachfunktionen 22, 98, 376, 472, 516 Sprachgebrauch 11, 12, 93, 98, 175, 286, 306, 336, 362, 552, 567, 604ff. –, argumentativer 593 –, ästhetischer 126, 376 –, dialogischer 174, 231, 379, 458, 472, 516, 566f., 602f. –, ironischer 126, 195, 589, 595, 625 –, metaphorischer 126, 156, 195, 208, 329, 348, 465, 472, 589, 595, 613, 617, 624 636 –, mündlicher 375f., 378 –, monologischer 174, 231, 379, 458, 516, 602 –, poetischer 166, 367, 582, 608 –, religiöser 215, 626 –, rhetorischer 582, 593 –, schriftlicher 325, 375f., 378, 550
Sachregister
–, wissenschaftlicher 325–328, 472f., 582, 608, 612 Sprachgefühl 22, 306, 308, 314, 543, 585, 592, 608, 627 Sprachinhalte 361 Sprachkonventionen 96, 385 Sprachkritik 172, 188f., 340, 371 Sprachrohr 376, 631 Sprachregeln 582, 591, 608ff. Sprachskepsis 528 Sprachspiele 72, 89, 191, 431, 568, 573, 603–633 Sprachsystem 93, 145, 279, 286, 361 Sprachtheorie 8f., 18f., 22, 26, 34, 48f., 84, 99, 111, 329, 340 Sprachvertrauen 339f., 447, 449, 456, 463, 468, 470f., 517, 527f. Sprachvermögen 443 Sprachverwirrung 241 Sprachwandel 128, 307, 310, 465f. Sprechakte 94, 194, 565, 621–624, 632 Sprechakttheorie 22, 94f., 174, 308, 431, 481, 565, 603 Sprechen 176 Sprosse 187ff. Spur 311, 314, Staat 476f. Standeskleider 211ff. Stadt 235, 254–265 Stadtmauer 263f. Statusgeld 409f., 418 Statuskleider 202, 212, 230 Staunen 609 Stellvertreterfunktion 604f. Stellenwert 281, 379, 426, 453ff., 466, 481, 624, 634 Stein 162 Stil 17, 21, 211, 215, 224–234, 339, 365, 480, 520, 533ff., 543, 616f., 629 Stilistik 83, 260, 566, 616f., 622f. Stilmittel, ornamentale 81 Stilwert 622 Stofftrieb 600f. Stoffwechsel 271, 291f., 365 Strafmündigkeit 435f. Straße 312, 315 Strukturgedanke 9, 57, 236, 261, 280, 286, 355, 453, 602, 607
673
Strukturbildung 90, 93, 209, 211ff., 224ff., 243, 286, 331, 452, 570, 572, 584 Strukturierungsspiele 572, 578 Strukturräume 587 Stufentheorie, semantische 12, 21, 367 Subjektivität 248, 486, 495 Subjektsphäre 11 13, 24, 27, 30, 159, 168, 216, 224, 254, 316, 319, 350, 366, 390, 393, 412, 445, 486, 488, 514, 516, 520, 529, 534f., 540, 563, 617, 623 Substanzenontologie 33f., 58, 155, 374 Substanzgedanke 91, 155, 199, 202, 222f., 224, 321, 350f., 355, 404, 413, 415, 425, 444, 446f., 449, 453, 485 Substitutionsmodell bei Metaphern 83, 85, 87 Sühnegeld 403, 407 Sündenfall 120, 135, 137, 141, 144, 147, 150 Suggestion 104 Symbol siehe Zeichen, symbolisches Symbolgeld 460–463, 468f., 480 Symmetrie 498–504, 512 Synechismus 75, 290 Syntheseprozesse 22, 43, 67, 74f., 79, 97, 117, 164ff., 486, 586, 618 System, offenes 238, 261, 271, 273, 278, 284, 288-291, 297, 299, 355 Systemgedanke 20, 23, 82, 104, 113, 115, 118, 136, 169f., 260f, 268, 278, 295, 304, 308f., 446, 454, 605, 610 Systemraum 32, 500, 526, 544f., 561, 587, 619, 629, 639 Systemstabilität 288 Systemwandel 288 Tafel 386, 388, 392f. Tätigkeit 401, 611 Täuschung 126, 427, 463f. Tatsache, soziale 279, 303, 454 Taubengleichnis von Kant 14f. Tauschgedanke 399, 401f., 407, 411, 415, 419f., 432–445, 456, 476 Tauschwert 445, 477 Taxis 237f., 257, 592
674
Sachregister
Tempusformen 307ff., 449, 566, 620ff. 628 tertium comparationis 79, 82 Teufel 108, 135, 141, 432, 527 Teufelin 121 Text 258, 297, 333, 339, 365, 378, 381f., Textinhalte 384f. Textmuster 544f. Textsorten 618–633 Thema-Rhema-Relation 418 Theorie 8f., 19, 78, 101, 111f., 157, 161 177, 236, 317f., 374, 492, 541 Thesei-These 163ff. Tiefe 124, 206, 360 Tiefenstruktur 27, 74, 183, 258, 350, 388, 499, 554, 564 Tier 122, 124f., 142ff., 146f., 152, 160, 201, 205, 236, 240, 250, 269, 311 Tod 142f., 145, 355 Töpferscheibe 165f. Toga 202 Traditionen 89, 98f., 109f., 296, 361f., 365, 446, 480 Transsubstantiationsgedanke 477 Triebe 123, 135 Trivialitäten 639 Tür 180, 183, 539 Tun 319, 373, 497 Turmbau zu Babel 239ff. turn, linguistic 340 Typus 42f., 45, 320 Trugbild 40 Ubiquität 404 Überblendungsmodell bei Metaphern 86 Überfluss 356 Übergang 477, 527 Übersummativitätsthese 43, 85, 276f. Uhr 269, 277f. Umwege 328 Unbewusstes 124 Uniform 202, 211, 234 Universalien 57, 69, 97, 321 Universalienstreit 321, 451 Universalsprachen 326 Unmittelbarkeit 498, 504ff. Unschärfe siehe Vagheit
Unterwelt 123, 131, 135, 152 Urbild siehe Original Urne 178, 364 Ursprung 356, 344 Urteil 613 Vagheit 5ff., 36f., 71, 101, 247, 260, 609f., 636 Verfassungstexte 624 Vergeltung 403 Verführung 403 Verhüllung 198, 205, 209, 220f., 224, 226f. Verifikation 93 Verkleidung 210 Verkleidungsspiel 593ff. Verleumdung 101 Vermittlung 13, 75, 225, 345, 375, 415, 484, 549 Vermögen 403 Vernunft 4, 114, 148f., 171, 425, 485, 492ff., 529, 531, 560 –, instrumentelle 160 Verpflichtung 403, 418, 432, 439 Verrechnungsfunktion 420, 468 Verstrickung in Geschichten 88, 612 Verstrickungsmodell bei Metaphern 87ff. Vertrauensproblematik 399, 401, 427, 468–474 Verstrickungsmodell bei Metaphern 87ff. Vieh 403f. Virtualität 498, 506f, 523 Vögel 123, 132f., 296 Volksmetaphysik 420 Vorbild 40 Vorhandenheit 159 Vorsorge 143f., 435 Vorstellung 77, 86, 369, 507 Vorstellungserzeugung 172, 380, 507, 639 Vorstellungsklavier 172 Wachstum 310 Waffe 177–180, 364, 573 Wahrheit 55, 94, 173, 359f., 363, 512f., 516f., 556f., 610, 637 –, nackte 38, 47, 76, 209, 216–219, 226, 497f.
Sachregister
Wahrheitsfrage 4, 9f., 55, 67, 94, 111, 113f., 174, 217ff., 231, 361, 623 Wahrnehmung 13, 17, 77, 122, 492 Wahrnehmungsinteresse 36, 88, 511, 590 Wahrnehmungsinhalte 122 Wahrnehmungsmuster 25, 27ff., 34, 47, 101, 251, 549, 611 Wahrnehmungsperspektive 18, 31, 41, 76, 93, 101f., 113ff., 118, 122, 147, 154, 167, 215, 250, 342, 366, 396ff., 401, 416, 526, 541f., 545, 549, 556, 617, 621 Wahrnehmungspsychologie 582 Wald 283 Walnuss 51 Wandel 348ff., 353 Ware 361–364, 378f., 418ff., 432 Warengeld 399, 418f., 423, 427, 438, 453, 468, 480 Was-Dinge 485 Wasserräder 166 Weberlade/Weberschiffchen 165 Wechselwirkung 5, 23, 275ff., 283– 294, 399, 407, 442–445, 475ff., 551 Weg 97, 110, 190, 311–342, 346 Welle 360 Welt/Welten 315, 330, 334ff., 345, 361, 377, 382, 400, 511–516, 540, 553, 556, 621 –, sinnliche 150, 369 Welterfahrungsmöglichkeiten 29, 106, 152, 464 Weltwahrnehmung 521–527, 589 Weltwissen 54, 84, 331, 336, 464, 552, 613, 618 Wenn-dann-Prinzip 185 Werden 349 Werkzeug 109, 141, 154–197, 198, 401, 413, 421, 443, 449, 497, 573, 605 Werkzeugmacher 169 Werkzeugtypen 177–197 Wertäquivalenz 403, 457 Wertaufbewahrung 418, 432, 456, 458 Wertgedanke 399, 401, 403, 411f., 419f., 430, 434, 445–460, 466, 469 Wertgeld 410–413, 418, 468 Wertung 101
675
Wertverlust 465 Wesensgedanke 33f., 91, 295, 350, 355, 401, 437, 446, 452f., 499, 599, 635 Wesensschau 122, 402 Wettkampfspiele 576, 578f., 593, 608 Wiedergeburt 127f, 131, 152, 214, 497 Widerlager 332f., 338 Widerspiegelung 484f., 493, 510–520 Widerspiegelungstheorie 482 Widerständigkeit 14, 18, 20, 41f., 71, 160, 228, 380, 460, 577, 579, 586, 601f., 636 Wille 393 Wille zur Macht 69 Wirkwelt 250 Wissen 1, 5ff., 10, 15, 26, 97, 106f., 139, 150, 221, 251, 296f., 316ff., 326, 329, 341f., 356f., 361f., 366, 372, 378f., 381f., 393ff., 463, 518, 567 Wissensbildung 2, 5f., 37, 76, 97, 275, 342, 357f., 366, 393–397, 458, 567, 639 Wissenschaft 217, 227, 249, 609, 636 Wissenschaftssprache 196, 213, 325– 328, 517ff., 612 Wissensformen 5, 20, 31–34, 35f., 106f., 191, 318, 342, 381, 590 Wissensspeicherung 98, 320, 456, 458 Wissenssuche 95 Witz 78, 624 Wörter 88f., 162, 164ff., 184, 366 430f., 465, 611-614 –, durchsichtige 223, 323, 457 Wörter als Klaviertasten 172 Wolfskinder 580 Wolke 640 Wortarten 33f., 155, 293, 321f., 327, 339 Wortbildner 166f., 169, 178f. Wortbildung 166f., 169, 178f., 322f. Wortfamilie 380 Wortfeld 32, 108, 186, 281ff., 424 Wortgeld 479 Worthülse 213, 465 Wortlautschriften 380 Wortspiel 573, 594, 614, 622f., 624– 627 Wortwechsel 322, 398, 459
676
Sachregister
Wozu-Dinge 88, 158f., 485 Würfel 78 Wunderblock 388f. Yggdrasil 123 Zahl 424f. Zahlungsmittel 402ff., 418, 436, 452 Zahlungswert 455 Zange 157, 161f. Zauberbesen 141, 178, 373 Zauberstab der Analogie 70, 79, 637 Zauberworte 448, 457 Zeichen 38, 41, 43–46, 95, 132f., 203, 209–215, 224f., 338, 376, 407, 413, 507–510, 514, 527, 589 –, abgeleitete 52 –, geldliche 463 –, grammatische 174, 287, 322–325, 449, 518, 614–622 –, ikonische 50–53, 63, 75, 96, 224, 242, 255, 406, 417f., 509, 523 –, indexikalische 50–53, 63, 242, 255, 314, 406, 417f., 509 –, lexikalische 287, 322, 449, 614– 622 –, sprachliche 463 –, symbolische/konventionelle 50f., 255, 406, 417 Zeichenbegriff 75, 211, 415f. Zeichenhaftigkeit 498 Zeicheninterpretant 50f., 76, 290, 417, 638 Zeichenmodelle 289f., 416f. Zeichenobjekt 50f., 95, 290, 417
Zeichenrelation 52 Zeichensystem 152f. Zeichentheorie 14, 49–55, 324, 417, 514 Zeichenträger 46, 50f., 96, 209, 225, 290, 400, 407, 417 Zeigelicht 561f., 563–566, 606 Zeit 12, 334, 391f., 420, 499, 548, 620ff. Zeitdehnung 334 Zellmembran 25, 538f. Zentralperspektive 45, 499f., 544, 560 Zeugbegriff 159 Zigarettenwährung 418 Zirkel, hermeneutischer 2, 6, 15, 101, 112, 151, 159, 197, 283, 311, 336, 357, 402, 510 Zirkulation 194, 414, 418, 442–445, 457–460, 478 Zitat 258, 291 Zufall 144, 571, 576 579, 584, 590, 593f., 597 Zufall und Notwendigkeit 296ff., 307, 590 Zunge 120, 126 –, gespaltene 120, 126 Zuhandenheit 159 Zuschauer 540f. Zwang 201 Zweck 237, 338, 438, 583ff., 609 Zweckrationalität 438f., 584, 588 Zwerge auf Riesen 25, 107, 127, 393– 397 Zwischenwelt 446