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German Pages 328 Year 2019
Sigmund von Birken (1626–1681)
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 215
Sigmund von Birken (1626–1681)
Ein Dichter in Deutschlands Mitte Herausgegeben von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte und Johann Anselm Steiger
ISBN 978-3-11-059494-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059312-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059271-9 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2018965589 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Stefan von der Lieth, Hamburg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Klaus Garber, Hartmut Laufhütte, Johann Anselm Steiger Vorwort 7 Klaus Garber Schäfer und Poet: Dichterischer Selbstentwurf und pastoral inszenierte Biographie. Zum Rollenverständnis und zur Subjekt-Konstitution eines freien Schriftstellers 13 Dirk Niefanger Dialogisches Sprechen in Birkens allographer Paratext-Poetik
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Claudius Sittig Gib uns die Musenkrone. Sigmund von Birken als ‚krönender Dichter‘
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Thomas Borgstedt Kranz, Pfeife und Kreuz. Sigmund von Birkens Figurengedichte zwischen Dichterlegitimation, Panegyrik und Erbauung 75 Johann Anselm Steiger „Komm, du schöne Sommerzeit! Komm, du süsse Ewigkeit!“ Sigmund von Birkens Sommerlied vor dem Hintergrund der lutherisch-barocken Predigt- und Auslegungstradition 105 Thomas Illg … leset in des geistigen Arnds Paradiesgärtlein. Sigmund von Birken als Rezipient Johann Arndts 139 Stefanie Arend Selbstreflexion und Bildsamkeit. Sigmund von Birkens und Albrecht von Hallers Morgenpoesie im Vergleich, mit einem Blick auf den Bildungsroman 163 Ferdinand van Ingen Sigmund von Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie. Deutungsmodelle, Distinktionsformen 177 Marie Thérèse Mourey Birken und das ‚Ballet‘: Werke, Kontexte, Theorien
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Inhalt
Rosmarie Zeller Sigmund von Birken im Dienst der Propaganda des Sulzbacher Hofes Hartmut Laufhütte Sigmund von Birken als Förderer und Mentor jüngerer Kollegen Ralf Schuster Frauen im Pegnesischen Blumenorden des 17. Jahrhunderts
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Axel E. Walter „der Pegnesis Echo […] vom Belt“. Zu Struktur und Strategie von Johann Georg Pellicers Lob des Floridans 273 Esther Meier Verhältnisbestimmung: Birken und Sandrart, Dichter und Maler in der Teutschen Academie 297 Personenregister
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Vorwort Komm/ Floridan/ komm/ Schäfer/ Komm schaue diß/ was vielen unbewust.
Zum ersten Mal ist dem Nürnberger Dichter und zweiten Präsidenten des ‚Pegnesischen Blumenordens‘ ein eigener Kongreß gewidmet worden. Das geschah, ohne daß im Jahr 2013 ein Jubiläum zu begehen gewesen wäre. Und daran hat sich auch einige Jahre später zum Zeitpunkt der Publikation nichts geändert. Wohl aber hat das verzögerte Erscheinen der Kongreß-Akten zu einer andersgearteten Koinzidenz geführt. Seit einigen Monaten liegt die zunächst auf vierzehn Bände veranschlagte Ausgabe der handschriftlichen Werke und der Briefe Birkens in knapp dreißig Halbbänden geschlossen vor. So gesehen bezeichnet eben dieses Jahr zumindest in der Birken-Philologie eine – gerne apostrophierte – Zäsur. Die Geschichte der Beschäftigung mit Birken gibt stets wieder Anlaß zu Staunen. Der Dichter selbst hat alles getan, um sich als Wortführer in seiner Zeit zu etablieren und für sein Nachleben Sorge zu tragen. Ihm war, anders als einem ihm darin Verwandten wie Martin Opitz, kein Erfolg beschieden. Das Mißgeschick hob an im Blick auf seine Schriften. Ein sorgfältig archiviertes, unentwegt fortgeschriebenes, vielfach in großen Sammelhandschriften zuammengeführtes Werk kam nur partiell zum Druck. Birken hinterließ wenn nicht einen numerisch, so doch in seiner Vielfalt einzig dastehenden handschriftlichen Nachlaß. Erst jetzt, knapp 350 Jahre nach seinem Tod, werden Anlage und Profil seines Werkes voll erkennbar. Birkens Nachleben hängt damit zusammen. Doch es kommt anderes hinzu. Birken hatte schon zu Lebzeiten nicht nur Freunde. Sein ostentativ auf Nachruhm bedachter Gestus wurde bemerkt und von aufmerksamen Beobachtern, zu denen wir etwa eine Großen wie Johann Helwig zählen möchten, registriert. Ihm galt Klaj als der Meister der nachopitzschen deutschen Sprache und Poesie und nicht der Präsident der Dichter im Umkreis der Pegnitz. Und als dann noch im 17. Jahrhundert der Wind umschlug, der Klassizismus zunächst von Frankreich, sodann von England her sich Bahn brach, galt Birken rasch als einer der Repräsentanten des inkriminierten stilistischen Manierismus und höfischen Schranzentums. Damit gelangten Stichworte in Umlauf, die im bürgerlichen Zeitalter nur allzu willfährig aufgenommen und fortgeschrieben wurden. Nur wenige Dichter des 17. Jahrhunderts haben im 18. wie im 19. Jahrhundert eine so schlechte Presse gehabt wie Birken. Auch taugte er – anders als Opitz – nicht dazu, zum nationalen Heros aufgebauscht zu werden. Die deutsche Poesie des 17. Jahrhunderts, ohnehin in den Händen ihrer bürgerlichen und später ihrer marxistischen Sachwalter in https://doi.org/10.1515/9783110593129-007
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Vorwort
bestenfalls prekärer Obhut, schien in ihren elaborierten Birkenschen Extravaganzen endgültig auf Abwege geraten. Es bedurfte energischer Neuorientierungen in der Literaturwissenschaft, um Birken aus diesen Fängen zu befreien. Mehr als dreihundert Jahre Nachleben Birkens sind ein dankbares Objekt wissenschafts- und geschmacksgeschichtlicher Rückbesinnung. Nimmt es wunder, daß diese Chance ergriffen wurde? Dem ersten Band der Birken-Ausgabe, ‚Floridans Amaranten-Garte‘ gewidmet, ist ein über hundert Seiten umfassender Konspekt der einschlägigen Stationen der Birken-Rezeption, angefangen bei Limburgers ‚Betrübter Pegnesis‘ und endend mit Hermann Stauffers zweibändiger Bibliographie der Schriften Birkens, vorangestellt. Er darf – wie die BirkenAusgabe selbst – als ein Komplement zu dem hier vorgelegten Band verstanden werden. Dieser ist das Dokument eines im September 2013 in Osnabrück abgehaltenes Kongresses, zu dem ein paar Worte verlauten mögen. Erstmals in der Geschichte der Birken-Philologie, so der Vorsatz, sollten – wo immer möglich – die maßgeblichen Aspekte des Birkenschen Werkes synoptisch zur Betrachtung gelangen. Daß ein solches Unternehmen nicht allen Optionen entsprechend zu realisieren ist, versteht sich. Immerhin, annäherungsweise dürfte das Vorhaben gelungen sein. Ohne daß ein opulenter Band vorgelegt werden könnte, sind einschlägige Ausformungen des Birkenschen Werkes zur Sprache gekommen. Den Veranstaltern lag daran, Raum und Zeit für ausgiebige Diskussionen zu reservieren. Jede Stimme sollte gehört werden. Ein derartiges Anliegen ist nur mit einem beschränkten Kreis möglich. Ein gutes Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer traten zusammen und wandten sich dem proteushaft agierenden Großschriftsteller und Netzwerkknüpfer zu. Als Schäferdichter ist Birken in die Literaturgeschichte eingegangen. In der Tat ist er der fruchtbarste und vielseitigste Vertreter in dieser im 17. Jahrhundert so nachhaltig gepflegten Spielart geblieben. Für Birken verknüpfte sie sich ebenso mühe- wie nahtlos mit seinem Selbstverständnis als höfischer Dichter. Die Aufgipfelung der Pastorale zum Fürstenspiegel ist sein Werk gewesen. Schäferliches Rollenspiel und Regentenpanegyrik nebst dynastischer Historiographie führte er denkbar eng zusammen. Und in der Friedensdichtung der Jahre 1649 und 1650 erreichte sein öffentliches Wirken den ersten Höhepunkt. Wie alle Dichter des 17. Jahrhunderts, angefangen bei Weckherlin und Opitz, wußte er sich aufgerufen, als Lyriker seinen Beitrag zu leisten, und das im neulateinischen wie im volkssprachigen Gewand und wie stets im weltlichen wie im geistlichen lyrischen Sprechen zugleich. Niemand aber ist so konsequent zu einer internen Ausdifferenzierung in einzelne lyrische Sammelwerke fortgeschritten wie Birken. Erst jetzt mit der Herausgabe von vier großen weltlichen, vier geistlich-lyrischen Werksegmenten sowie zahlreicher Birkenscher Briefwechsel wird
Vorwort
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diese literaturgeschichtlich singuläre Option über seinen Nachlaß nachvollziehbar. Ebenfalls wie kein zweiter in seiner Zeit hat Birken einzelnen Gattungen einen persönlichen Duktus verliehen und sich stets neu inszeniert. In seiner Rolle als über Jahrzehnte aktiver Schreiber eines Tagebuchs sowie der stetigen Nutzung von ‚Konzeptheften‘ gelangt dieser Zug am deutlichsten zur Ausprägung. Aber auch überkommenen Textsorten verstand er seinen Stempel aufzudrücken. Die Schäferdichtung bot sich dafür an und Birken nutzte diese Chance, angefangen bei seinem Erstling aus dem Jahr 1645, wie kein zweiter. Doch auch die Lyrik, hermetisch verschlossen für subjektzentriertes Agieren, wurde im Zweig der Liebesdichtung bewußt diesem Anliegen vorbehalten und damit eine Variante des lyrischen Votierens ausgeformt, die wiederum erst jetzt mit der Publikation seines ‚Amaranten-Garte‘ sinnfällig in Erscheinung tritt. In eine ganz andere Richtung führt sein nunmehr gleichfalls als ein Zentral massiv seines Schaffens erkennbares moralphilosophisch-erbauliches Schrifttum, das sich so gut wie ausnahmslos in seinem Nachlaß verbarg. Es ist selbstverständlich durchsetzt mit den kurrenten Vorstellungen seiner Zeit. Zugleich aber wendet Birken immer wieder überkommenes Gut persönlich und prägt ihm einen Zug ein, der ihn in der Rolle des patriarchalisch agierenden Hausvaters erscheinen läßt, besorgt um Wohl und Wehe zumal der Gattin an seiner Seite. Nicht zuletzt der Birken im Gewand des Seelsorgers und des im Medium der geistlichen Lyrik agierenden Predigers wird Anlaß geben, neuen Verortungen des Schriftstellers im 17. Jahrhundert näherzutreten. Eingeprägt aber hat sich seine Gestalt als die eines effizienten Managers im Umkreis des Nürnberger Blumenordens. Dessen Mitglieder waren weit verstreut. Birken hat – ganz anders als sein Vorgänger Harsdörffer – das ihm Mögliche unternommen, die Schar der Ordensmitglieder zusammenzuhalten und mit Informationen zu versorgen. Sein immenser Briefwechsel – auch er erstmals durch die ihm gewidmete Ausgabe in großem Stil aktenkundig – legt davon vor allem Zeugnis ab. Doch beileibe nicht er allein. Als ‚comes palatinus‘ verfügte Birken über das Instrument der Dichterkrönung. Souverän bediente er sich seiner und band die Gekrönten zugleich an die Sozietät wie an sich als ihren Primus. Ja, noch seine poetologischen Verlautbarungen, so fortschrittlich sie sich gaben, dienten immer auch der Selbsterhöhung, blieb es dem Theoretiker doch vorbehalten, auf so gut wie allen Feldern zugleich als Promotor der statuierten literarischen Rollen aufzutreten. Ein paar Hinweise, um hineinzugeleiten in den vorliegenden Band. Denn von allem Angedeuteten und manchem mehr wird zu lesen sein, und sei es noch so verknappt und verkappt. Die Veranstalter und die Herausgeber des Bandes schätzen sich glücklich, daß es gelang, so viele Fachleute für das Birken gewid-
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Vorwort
mete Vorhaben zu gewinnen. Sie danken ihnen für ihre Beiträge und die Sorgfalt, welche sie auf diese wandten. Durchgeführt wurde der Kongreß im sog. ‚Zimeliensaal‘ der Universitätsbibliothek Osnabrück. Er wurde immer wieder auch von dem Institut für diese Zwecke genutzt. Auf 25 Jahre seines Bestehens blickt dieses im Jahr 2017 zurück – ein Jubiläumsdatum ganz anderer Art. Die Veranstalter waren und sind dankbar für die Rückmeldungen, daß die Gäste sich in den Räumlichkeiten behaglich fühlten; die meisten von ihnen weilten nicht das erste Mal in Osnabrück. Der Direktorin der Bibliothek, Frau Felicitas Hundhausen, ist für neuerlich erwiesene Gastfreundschaft Dank auszusprechen. Die Betreuung der Gäste in Osnabrück lag in den Händen der studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bibliothek des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit sowie in den nach wie vor diversen Drittmittelprojekten des seit langem emeritierten Osna brücker Hochschullehrers. Gefördert wurde der Kongreß durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, das sich über einen Zeitraum von fünf Jahren auch an der Finanzierung der Birken-Ausgabe beteiligte. Die Herausgeber danken Herrn Ministerialdirigenten Rüdiger Eichel für sein ungewöhnliches Engagement auf dem Felde der frühneuzeitlichen Philologie, das auch dem in Osnabrück erstellten ‚Handbuch des Personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven‘ sowie der von Osnabrück initiierten Schaffung eines ‚Handbuchs der kulturellen Zentren‘ zugute gekommen ist. Zu danken ist darüberhinaus auch an dieser Stelle für die Grußworte, die von Herrn Eichel sowie von dem Präsidenten der Universität Osnabrück Claus Rollinger und dem Direktor des Frühneuzeit-Instituts Wolfgang Adam verlauteten. In Dankbarkeit und Trauer erinnern sich die Veranstalter und gewiß viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses an die Führung durch das Felix-Nußbaum-Museum, zu dem sich die Direktorin des Hauses Inge Jaehner bereitgehalten hatte. Sie ist allzufrüh im Jahr 2016 verstorben. Schließlich wissen es die Herausgeber sehr zu schätzen, daß der Band in der Reihe ‚Frühe Neuzeit‘ erscheinen kann, wo er neben weitere einzelnen Autoren des 17. Jahrhunderts gewidmete Bände tritt. Diese Reihe feierte 2017 Jubiläum; 1987 wurde sie im Anschluß an ein langes und gleichfalls unvergessenes Gespräch mit Robert Harsch-Niemeyer ins Leben gerufen und mit einem Werk zum Thema ‚Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit‘ eröffnet, das einen 1986 in Osnabrück abgehaltenen Kongreß im Beisein vieler Kolleginnen und Kollegen aus der DDR und dem östlichen Europa dokumentiert. Insbesondere Achim Aurnhammer ist die Aufnahme des nunmehr Birken gewidmeten Bandes in die ‚Frühe Neuzeit‘ vermöge seines Gutachtens zu danken.
Vorwort
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Möge auch dieser Band parallel zu der dem Dichter gewidmeten Edition dazu beitragen, die Beschäftigung mit Leben und Werk, Umfeld und Nachleben Birkens zu befördern, und dem literarischen Gedächtnis zugute kommen. Nichts will den Herausgebern wichtiger erscheinen als die Statuierung lebendiger geschichtlichkultureller Tradition. Klaus Garber, Osnabrück Hartmut Laufhütte, Passau Johann Anselm Steiger, Hamburg Im Herbst 2018
Klaus Garber
Schäfer und Poet: Dichterischer Selbstentwurf und pastoral inszenierte Biographie Zum Rollenverständnis und zur Subjekt-Konstitution eines freien Schriftstellers Der Dichter, der freie Schriftsteller Sigmund von Birken, wird in der Literaturgeschichte unter den verschiedensten Chargen geführt: als geistlicher Dichter, als Erbauungsschriftsteller, als Verfasser von Gelegenheitsgedichten, als Dramenund speziell als Friedensdichter, als Historiograph und Dynasten-Paneygriker, als erster Theoretiker des Romans auf deutschem Boden, als Tagebuchführender, als Briefschreiber, in Bälde mit dem Fortschreiten der Ausgabe seiner Werke und Briefe gewiß auch als Arrangeur diverser lyrischer Sammelhandschriften und zwar gleichermaßen im lateinischen wie im deutschen sowie im geistlichen und weltlichen Metier, die Problematik dieser letzteren Unterscheidung einmal außer acht gelassen.1
1 Eine Typologie des Birkenschen Werkes ist versucht worden in zwei aufeinander abgestimmten Arbeiten von Klaus Garber: Sigmund von Birken. Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historisch-soziologischer Umriß seiner Gestalt, Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7), S. 223–254; ders.: Private literarische Gebrauchsformen im 17. Jahrhundert. Autobiographika und Korrespondenz Sigmund von Birkens. In: Briefe deutscher Barockautoren. Probleme ihrer Erfassung und Erschließung. Hg. von Hans-Henrik Krummacher. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 6), S. 107–138. Beide Arbeiten sind eingegangen in: Klaus Garber: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. Paderborn 2017. Die seither gewonnenen diesbezüglichen Erkenntnisse der Birken-Forschung mit der Verzeichnung der Literatur verarbeitet in der Einleitung zu Sigmund von Birken: Floridans Amaranten-Garte. Hg. von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Teil I: Texte. Teil II: Kommentare. Tübingen 2009 (Werke und Korrespondenz 1 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 55/56 [künftig: WuK; NDL]). Hier die Kapitel: Struktur des gedruckten Werkes, S. XXIV–XLVII; Ego-Dokumente, S. XLVII–L. Ein nach Werkgruppen gegliedertes Porträt des Schaffens Sigmund von Birkens unter Anführung der einschlägigen Literatur auch in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 1. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Berlin, New York 2008, S. 558–564 (Garber). https://doi.org/10.1515/9783110593129-013
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Bei Birken ist das alles mehr oder weniger ausgeprägt. Aber er ist dies und gewiß manches andere und Unerwähnte hinzugenommen nicht zur Gänze. Ein Titel fehlt, der, wenn denn nur einer zu vergeben wäre, an erster Stelle stehen müßte. Sigmund von Birken ist Schäferdichter; ist Schäferdichter, wie es einen solchen kein zweites Mal in der Geschichte der deutschen Literatur und keinesfalls nur der des siebzehnten Jahrhunderts gegeben hat. Und nicht nur in der Geschichte der deutschen, sondern ganz offenkundig auch in der der europäischen Literatur. Niemand, an den man denken könnte, weder Sannazaro in Italien noch Garcilaso de la Vega in Spanien, weder du Bellay oder Ronsard in Frankreich noch Spenser in England, um nur einige wenige prominente Namen zu nennen, haben ein derart extensives und gattungstypologisch differenziertes pastorales Werk vorzuweisen wie Birken – eine Feststellung, wenn sie denn zutrifft, die selbstverständlich keinerlei ästhetisches Werturteil impliziert.2
2 Zu dem Schäferdichter Sigmund von Birken vgl. Julius Tittmann: Schäferpoesie und verwandte Gattungen. In: Ders.: Die Nürnberger Dichterschule. Harsdörffer, Klaj, Birken. Beitrag zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Göttingen 1847, S. 58–106; zu Birken insbes. S. 70–83; Heinrich Meyer: Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts. Diss. phil. Freiburg i. Br. 1927. Druck: Dorpat 1928, S. 34–59; Elisabeth Renner: Die Schäfer- und Geschichtsdichtungen Sigmund von Birkens. Diss. phil. Prag 1937 (Masch.); Blake Lee Spahr: The Pastoral Works of Sigmund von Birken. Phil. Diss. Yale University 1951 (Masch.); ders.: Dorus of Istrien. A question of identity. In: PMLA 68 (1953), S. 1056–1067; ders.: Dorus aus Istrien. A question answered. In: MLN 72 (1957), S. 591–596. Beide Arbeiten wieder abgedruckt in: Blake Lee Spahr: Problems and Perspectives. A Collection of Essays on German Baroque Literature. Frankfurt a. M. u. a. 1981, S. 17–31, 33–39; Maria Fürstenwald: Letztes Ehren-Gedächtnüß und Himmelklingendes Schäferspiel. Der literarische Freundschafts- und Totenkult im Spiegel des barocken Trauerschäferspiels. In: Daphnis 2 (1973), S. 32–53; Klaus Garber: Martin Opitz’ ‚Schäferei von der Nymphe Hercinie‘ als Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hg. von Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam 1982 (Daphnis 11/3), S. 547–603. Wieder abgedruckt in Klaus Garber: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit (Anm. 1) (darin auch ein Passus zu Sigmund von Birkens ‚Schönheit-Lob und Adels-Prob‘); Jane O. Newman: ‚FrauenZimmers Geberden‘ und ‚Mannesthaten‘. Authentizität, Intertextualität und ‚la querelle des femmes‘ in Sigmund von Birkens ‚EhrenPreis des Lieb-löblichen Weiblichen Geschlechts‘ (1669/73). In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 314–330; Michael Schilling: Gesellschaft und Geselligkeit im ‚Pegnesischen Schäfergedicht‘ und seiner ‚Fortsetzung‘. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 473–482; Klaus Garber: Surpassing the Prototype. Sigmund von Birkens ‚Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey‘. In: Imperiled Heritage: Tradition, History and Utopia in Early Modern German Literature. Selected Essays. Edited and with an introduction by Max Reinhart. Hg. von Klaus Garber. Aldershot u. a. 2000, S. 142–165; ders.: Der Nürnberger Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz. Soziale Mikroformen im schäferlichen Gewand. In: Ders.: Wege in die Moderne. Historiographische, literari-
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Wir haben nach den Gründen zu fragen, die sich namhaft machen lassen für eine derartige Fixierung eines Autors auf eine der kardinalen Gattungen der europäischen Literatur, die Schäferdichtung – eine Frage, die natürlich nur dann sinnvoll ist, wenn in Bezug auf den zur Rede stehenden Autor mehr erwartet wird als Routine und Verfertigung von billiger Serienware im einmal ergriffenen Genre, wieviel auch immer davon mit im Spiel sein mag. Diese Frage will wenigstens in zwei Richtungen verfolgt sein. Einzelne ausgewählte Texte müssen zur Sprache kommen und kommentiert werden. Und grundsätzliche, womöglich noch über die pastorale Poetologie hinausführende Probleme, wie sie mit der Formulierung des Themas gegeben sind, müssen thematisiert werden.
1 Konstitution der Prosaekloge Beginnen wir mit einem Exempel. Birken eröffnet seine dichterische Laufbahn, wie allseits bekannt, mit einem Schäfergedicht, der Fortsetzung der Pegnitzschäferei des Jahres 1645 – Fortsetzung, weil in der Nachfolge des ein Jahr früher erschienenen Pegnesischen Schäfergedichts von Harsdörffer und Klaj angesiedelt.3 Klaj erscheint, wie seit der Edition aus dem Jahr 1966 gleichfalls bekannt, in einigen Exemplaren als Autor mit auf dem Titel der Fortsetzung, in anderen und vermutlich etwas später gedruckten Exemplaren ist sein Name getilgt – ein unerhörter Vorgang, wenn es sich denn so verhalten haben sollte, reklamierte Birken doch binnen Monatsfristen das Recht auf alleinige Autorschaft, wähnte sich also der Patronage des älteren und bekannten Dichter-Kollegen für seinen Erstling enthoben. Der Duktus der Schäferei ist in der Tat so geartet, daß eine
sche und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Hg. von Stefan Anders, Axel E. Walter. Berlin, Boston 2012, S. 223–341. Hier – im Anschluß an ein Kapitel zur Rezeptionsgeschichte der Pegnesen und ein weiteres zu Nürnberg in der Frühen Neuzeit sowie zwei Abschnitte zu Martin Opitz – das Kapitel 3.3: Sozietät, Ständekonflikt und Geistes adel. Die Pegnitzschäfer im Spiegel ihrer Schäfereien. Hier zu Birkens Schäfereien S. 278–316. 3 Vgl. zu Harsdörffers und Klajs Pegnesischem Schäfergedicht neben der in Anm. 2 zitierten Literatur auch Klaus Garber: Vergil und das Pegnesische Schäfergedicht. In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Hg. von Martin Bircher, Eberhard Mannack. Hamburg 1977 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 3), S. 168–203. Wieder abgedruckt in: Klaus Garber: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. München 2009, S. 275–300; Silvia Serena Tschopp: Friedensentwurf. Zum Verhältnis von poetischer Struktur und historischem Gehalt im ‚Pegnesischen Schäfergedicht‘ von G. Ph. Harsdörffer und J. Klaj. In: Compar(a)ison 1 (1993), S. 217–237; Klaus Garber: The Pastoral Archetype of the Nuremberg Sodality. In: Imperiled Heritage (Anm. 2), S. 125–141.
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Mitverfasserschaft Klajs schwerlich in Anschlag gebracht werden kann. Klaj wird wie andere Pegnitzschäfer das eine oder andere Gedicht beigetragen, vielleicht die eine oder andere Erfindung beigesteuert haben; schwerlich mehr. Die Fortsetzung geht auf Birkens Konto.4 Es handelt sich um eine Prosaekloge mit eingelegten Gedichten. Die Gattung in dieser von Opitz erfundenen Form, für die bislang keine europäischen Vorbilder namhaft gemacht werden konnten, ist im Jahre 1645 gerade einmal fünfzehn Jahre alt.5 Das ist eine kurze Frist in der Literaturgeschichte. Nicht aber in der
4 Vgl. das Nachwort zu Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken, Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht. 1644–1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock 8), S. 1–40. Hier S. 29–32 eine Bibliographie der Quellen, in der die entsprechenden Nachweise geführt und zugleich einige bislang in Umlauf befindliche Irrtümer hinsichtlich der in die ‚Fortsetzung‘ eingegangenen anderweitigen Schäfereien Birkens und der Mitglieder des ‚Pegnesischen Schäferordens‘ korrigiert werden. Diese Erkenntnisse sind eingegangen in die im Osnabrücker Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit entstandene und jetzt maßgebliche Dokumentation des Birkenschen Werkes von Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werkes. 2 Bde. Tübingen 2007, S. 11–13, Nr. 7.1; 7.2. Der Verfasser konnte zurückgreifen auf ein über 3000 Seiten umfassendes unveröffentlichtes Manuskript von Klaus Garber und Renate Stiening: Bibliographie der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, die auf der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren mit Unterstützung der DFG erarbeitet wurde und mit Rücksicht auf die zahlreichen sich anschließenden Bibliotheksreisen des Projektleiters in den alten deutschen Sprachraum des Ostens zunächst unpubliziert blieb. Wesentliche Ergebnisse sind eingegangen in das derzeit maßgebliche Kompendium zum Pegnesischen Blumenorden – den wichtigsten Beitrag seit Johann Herdegens ‚Historischer Nachricht von deß löblichen Hirten- und Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang‘ (vgl. u. Anm. 20) – von Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 50). Hier ist insbesondere einschlägig das Einleitungskapitel: Die Frühzeit des Pegnesischen Blumenordens, S. 1–186, mit dem Birken gewidmeten Kapitel S. 64–101, sowie: ‚Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens‘ mit dem Eingangskapitel: Das Kasualschrifttum im Zentrum der Gesellschaftsdichtung 1662 bis 1681, S. 189–244. Vgl. von Renate Jürgensen auch die eindrucksvolle Jubiläumsschrift zur Dreihundertfünfzig-Jahrfeier des Ordens: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesbaden 1994. 5 Um der Anschlüsse willen sei auch hier die maßgebliche Literatur zu dem Opitzschen Prototyp zitiert: Alfred Huebner: Das erste deutsche Schäferidyll und seine Quellen. Diss. phil. Königsberg 1910; Ulrich Maché: Opitz’ ‚Schäfferey von der Nimfen Hercinie‘ in Seventeenth-Century Literature. In: Essays on German Literature in Honour of G. Joyce Hallamore. Ed. by Michael S. Batts, Marketa Goetz Stankiewicz. Toronto 1968, S. 34–40; Leonard Forster: Martin Opitzens ‚Schäfferei von der Nimfen Hercinie‘. Eine nicht nur arkadische Pionierarbeit. In: Theatrum Europaeum. Festschrift für Elida Maria Szarota. Hg. von Richard Brinkmann u. a. München 1982, S. 241–251; Klaus Garber: Martin Opitz’ ‚Schäferei von der Nymphe Hercinie‘. Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland (1982) (Anm. 2); Jane O. Newman: Et in Arcadia ego. Pastoral
Schäfer und Poet: Dichterischer Selbstentwurf und pastoral inszenierte Biographie
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der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, da sich die Ereignisse seit dem erstem Auftreten der Wortführer in Heidelberg und am Oberrhein sowie in Anhalt und Schlesien förmlich überschlagen. In der Prosaekloge, dieser Terminus als Kürzel sei hier einmal gestattet, liegen vor Eintritt Birkens in die literarische Szene bereits eine Reihe namhafter Titel vor. Die Leipziger mit Fleming an der Spitze sowie mit Finckelthaus, Brehme und Rinkart ihm zur Seite, haben bereits in der Mitte der dreißiger Jahre in der Nachfolge Opitzens großartige und von dem Meister markant abweichende Texte mit innovativem Potential vorgelegt.6 1642, drei Jahre vor seiner Rosemund, ist Zesen mit einer virtuosen und tiefsinnigen Kostprobe zur Stelle.7 Dann nehmen zwei Jahre später die Nürnberger mit Harsdörffers und Klajs Pegnesischem Schäfergedicht die Stafette auf und eben ein Jahr später folgt ihnen Birken nach. Die Gattung ist binnen kürzester Frist etabliert. Sie wird weit mehr als hundert Stücke im siebzehnten Jahrhundert zeitigen, darunter mancherlei Mediokres, aber immer wieder auch Perlen deutscher Poesie, und das vielleicht ganz besonders in der frühen Phase.8
Poetics, or Imitation as Survival in Theocritus, Virgil and Opitz. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 525–550; Peter Rusterholz: Der ‚Schatten der Wahrheit‘ der deutschen Schäferdichtung. In: Compar(a)ison 2 (1993), S. 239–259; Peter Michelsen: ‚Sieh, das Gute liegt so nah‘. Über Martin Opitz’ ‚Schäfferey von der Nimfen Hercinie‘. In: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit. Festschrift Joachim Telle. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, S. 191–200; Silvia Serena Tschopp: Die Grotte in Martin Opitz’ ‚Schäfferey von der Nimfen Hercinie‘ als Kreuzungspunkt bukolischer Diskurse. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt, Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 63), S. 236–249. 6 Vgl. Anthony J. Harper: Zur Opitz-Rezeption in Leipzig. Eine frühe Leipziger Schäferei in der Nachfolge der ‚Schäfferey von der Nimfen Hercinie‘. In: Martin Opitz (Anm. 2), S. 605–612; Karl F. Otto Jr.: Seventeenth Century Pastoral Poetry. Opitz and Nicander. In: Martin Opitz (Anm. 2), S. 629–635; Klaus Garber: Das Erbe Opitzens im hohen Norden. Paul Flemings Revaler Pastoralgedicht. In: Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne. Hg. von Klaus Garber, Martin Klöker. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 81), S. 303–317. Eingegangen in: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit (Anm. 1). 7 Vgl. M. Phil. Caesiens v. F. Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack oder Götter- und NymfenLust/ Wie sie unlängsten in dem Heliconischen Gefilde vollbracht/ auff Lieb- und Lobweesiges Ansuchen Einer dabey gewesenen Nymfen kürtzlich entworffen. Hamburg/ Jn verlegung Tobias Gundermans/ Gedruckt durch Heinrich Wemem/ im Jahr MDCXLJJ. Vgl. dazu jetzt Seraina Plotke: Philipp von Zesens ‚Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack‘ als poetologisches Werk. In: Philipp von Zesen. Wissen, Sprache, Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130), S. 25–34. Eine eingehende Interpretation ist für das Arkadienwerk des Vf.s geschrieben worden. 8 Die entsprechenden Zeugnisse wurden seinerzeit vorläufig in gedruckter Version zusammengeführt bei Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974
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Was macht das Charakteristische, nur Birken Zugehörige seines Erstlings aus? Läßt sich überhaupt in der Gattungsreihe ein eigenes Profil dingfest machen – die immer gleiche und entscheidende Frage für den Gattungshistoriker, ist sie doch unumgänglich verknüpft mit der kritischen, in das ästhetische Zentrum führenden Wertfrage. Alle erwähnten Vorgänger Birkens zeichnet aus, daß sie einen jeweils neuen und vielfach überraschenden Zug der jungen, soeben von Opitz kreierten Gattung zuführen. Das kann hier nicht gezeigt werden. Im Blick aber auf Birken rücken sie dann zumindest hinsichtlich des thematischen Vorwurfs enger zusammen. Birken ist es, der vom ersten Moment seines Auftretens an eine Sonderstellung nicht nur einnimmt, sondern provokant für sich reklamiert. Warum und wieso? Die Prosaekloge ist vielerlei. Eines aber ist ihr in der überwältigenden Mehrzahl der Gattungsexemplare eigen: Im Mittelpunkt steht die Huldigung einer Person oder einer Personengruppe, womöglich auch eines Geschlechts oder einer Dynastie. So hatten es alle Vorgänger Birkens gehalten, ohne daß hier Einzelheiten namhaft gemacht werden könnten. Auch Harsdörffer und Klaj hatten an der Gepflogenheit festgehalten und die Hochzeit zweier Paare aus dem Nürnberger Patriziat besungen. Ihr Gedicht ist formal ein pastoral geschmücktes Epithalamium, zugleich aber natürlich sehr viel mehr, und das unter Ausnutzung der Chancen und Wahrnehmung der Lizenzen, die die Opitzsche Kreation den Poeten eröffnet hatte.
2 Ehrung der Helden des Dreißigjährigen Krieges Birken weicht charakteristisch und prononciert von seinen Vorgängern ab. Er greift in der Pastorale, in der Prosaekloge, seiner Erstlingsarbeit, zum höchsten denkbaren Sujet, dem Preis der Helden des Dreißigjährigen Krieges, der sich da
(Literatur und Leben 16), S. 312–354. Für diesen Zweig der deutschsprachigen Schäferdichtung des siebzehnten Jahrhunderts wurde in der o.a. Untersuchung der Begriff ‚Prosaekloge‘ in Abgrenzung zur Versekloge eingeführt. Vgl. das entsprechende Kapitel im ersten, der Typologie der Gattungen gewidmeten Teil, S. 26–38. Vgl. im Blick auf die inzwischen eingetretene bibliographische Fundierung auch die Ausführungen oben in Anm. 4. Zur Prosaekloge selbst, die im Mittelpunkt eines (abgeschlossenen) Kapitels zum Arkadienwerk des Verfassers steht, sei hier nur verwiesen auf eine am Rande verbliebene kleine Arbeit von Max Reinhart: Welt und Gegenwelt im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Ein einleitendes Wort zur sozialkritischen Funktion der Prosaekloge im Pegnesischen Blumenorden. In: Pegnesischer Blumenorden in Nürnberg. Festschrift zum 350jährigen Jubiläum. Hg. vom Pegnesischen Blumenorden [i. e. von Werner Kügel]. Nürnberg 1994, S. 1–6.
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seinem Ende zuneigt. Das ist ein unerhörter Vorgang, weil ein unerhörtes Wagnis. Wie sollte dieses poetische Experiment in aufgewühlter Zeit und nach wie vor klarer politischer und konfessioneller Frontenbildung gelingen, ohne daß der Dichter sich allzu sehr exponierte und den Zensor in Gestalt des Nürnberger Rats auf den Plan riefe? Selbst den Patriziersohn Harsdörffer sollte dieses Schicksal ja wenige Jahre später ereilen. Nun, eine angelegentliche Interpretation vermöchte zu zeigen, daß der Dichter peinlich genau und vorsätzlich auf eine gerechte Verteilung der Gewichte bedacht ist, für die katholische wie die protestantische, die französische wie die schwedische Seite poetisch-panegyrischen Weihrauch ausstreut. An dieser Stelle geht es um anderes. Birken genügt die Lobpreisung einzelner Personen oder Personengruppen nicht, mit der sich an dieser genau markierten Stelle in der Prosaekloge die Vorgänger begnügt hatten. Er weicht von ihnen ab, indem er programmatisch über sie hinausgeht. Er ergreift das zeitgeschichtliche Ereignis des Jahrhunderts, imputiert es über eine Heldenehrung der Pastorale und verschafft ihr damit epische Dignität. Natürlich hatte es Zeitgeschichtliches auch bei den Vorgängern, angefangen bei Opitz, gegeben. In Harsdörffers und Klajs Schäfergedicht war die deutsche Misere, war die Überziehung der deutschen Lande mit fremden Truppen und mehr noch der deutsche Bruder-, sprich der deutsche Bürgerkrieg in der allegorischen Figur der verhärmten und von Trauer gezeichneten Schäferin Pamela, der Nachfolgerin der trauernden Witwe Roma Dantes und Petrarcas, versinnbildlicht worden.9 Doch dies blieb eine allegorisch verschlüsselte Episode. Birken kennt keine pastorale Abschattierung an der entscheidenden Stelle im Zentrum der Prosaekloge. In einer prachtvoll hergerichteten Höhle – einer Erbschaft Vergils und des europäischen Schäferromans – vollzieht sich die Heldenehrung. Ein solcher Befund verlangt nach einer poetologischen, sodann aber auch nach einer auktorialen Betrachtung.
3 Pastoral-epische Kontamination Birken bedient sich wie ungezählte seiner Vorgänger in der europäischen Literatur der Vergilschen Gattungskonstruktion. Wollte man sie auf einen Nenner
9 Vgl. die entsprechenden Ausführungen in dem Kapitel ‚Die Phoenixerwartung und das ideale Rom‘ bei Konrad Burdach: Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit. Berlin 1913–1928 (Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung 2/1), S. 61–94.
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bringen und in einen Satz zwängen, so könnte der lauten, daß Vergil die politische und die schäferliche Welt kontaminiert, gattungstheoretisch gesprochen genus grande und genus tenue in einen ständigen Verweisungszusammenhang bringt. Die erste, die vierte und die neunte Ekloge sind dafür besonders einschlägige Beispiele, aber auch in anderen der insgesamt zehn Eklogen spielt diese Überblendung hinein, mit der und über die Vergil zum Archegeten der europäischen Bukolik wurde. Schon in den Eklogen ist mit anderen Worten der Dichter der Aeneis präsent – die unverlierbare Erkenntnis der deutschen Altphilologie mit Friedrich Klingner und Vinzenz Buchheit an der Spitze.10 Eine literarische Welt, ein literarischer Kosmos ist in diesem poetischen Kalkül beschlossen. Es hat bewirkt, daß die Schäferdichtung über zwei Jahrtausende und bis hinein in die Tage eines Johann Heinrich Voß und eines Maler Müller ein reiches politisches und am Ende auch sozialkritisches Potential mit sich führte, das unaufhörlich neue pastoral verschlüsselte zeitdiagnostische Energien freisetzte. Lautet die Chiffre für diese poetisch-pastorale Machination Arkadien, so dürfte plausibel zu machen sein, daß sich im Spiegel dieser Chiffre zweitausend Jahre europäischer Geistigkeit einfangen lassen.11
4 Überbietung stilistisch gewendet Doch nicht darum geht es hier, sondern um den Schäferdichter Sigmund von Birken. Der nämlich exponiert sich in seinem pastoralen Erstling mit dem gewaltigen thematischen Vorwurf als Emigrant und Neuankömmling auf den gesegneten poetischen Fluren an der Pegnitz vor den Toren Nürnbergs genauso wie dies
10 Vgl. Friedrich Klingner: Römische Geisteswelt. 4., verm. Aufl. München 1961. Die vier VergilBeiträge hier S. 239–326, 600–630; ders.: Virgil. Bucolica – Georgica – Aeneis. Zürich, Stuttgart 1967; Vinzenz Buchheit: Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgika. Dichtertum und Heilsweg. Darmstadt 1972 (Impulse der Forschung 8). 11 Vgl. Klaus Garber: Arkadien und Gesellschaft. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bde. I–III. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. II. Stuttgart 1982, S. 37–81; ders.: Wunschbild Arkadien. Die Metamorphosen einer europäischen Utopie. In: Ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit (Anm. 2), S. 215–330; ders.: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. Speziell zu Birken sind hier heranzuziehen die Kapitel: Sozialer Antagonismus in Arkadien?, S. 53–58; Emanzipation des weiblichen Geschlechts, S. 59–68. Zu dem ‚Pegnesischen Schäfergedicht‘ Harsdörffers und Klajs vgl. das vorangehende Kapitel: Humanistisches Arkadien an der Pegnitz, S. 43–52. Vgl. jetzt auch Klaus Garber: Wunschbild Arkadien. Eine europäische Utopie in deutscher Version. In: Ders.: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit (Anm. 1), S. 321–535. Hier jeweils die einschlägige Literatur.
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auf andere Weise auch Klaj ein Jahr vorher getan hatte. Der Unterschied? Klaj führt sich singend ein, seinem Mund entströmen Verse, die in der Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts keine Parallele haben, sie sind Zeugnisse eines poetischen Genies, das nichts, aber auch gar nichts tat, um dieser seiner Genialität öffentliche Geltung zu verschaffen und nach wenigen Jahren, in denen er Unvergleichliches und Unvergängliches schuf, auf einer Pfarre in der Provinz verstummte.12 Birken indes nutzt das Schäfergedicht – angefangen beim Thema – als Sprungbrett, um sich in der neuen Heimat als Dichter zu etablieren. Dem Erstling ist nichts weniger fremd als Bescheidenheit. Die pastorale Humilität, in die der Schäfer Floridan sich kleidet, ist dem ehernen Kothurn des epischen Dichters verschwistert, der in dem Niedersten nach dem Höchsten greift und das vom ersten Moment an. Wir erinnern uns seines, sprich des Schäfers Floridans, Auftritts vor den Toren Nürnbergs. Auf Sukzession ist alles abgestellt. Die Fortsetzung, die er seinem Werk als Titel gegeben hat, meint mehr als eine Anknüpfung an den eben in die Welt getretenen, aber schon illustren Vorgänger. Fortgesetzt werden soll mit dem Erscheinen Floridans an der Pegnitz die Muse der Pegnesen, poetische Kontinuität erwirkt werden über den zu den Pegnitzschäfern sich gesellenden Neuankömmling in der Gestalt eines schäferlichen Mitsängers. Man muß ermessen, was es bedeutet, daß die soeben von Harsdörffer und Klaj besungene Landschaft sogleich eingangs noch einmal poetisch vorgenommen wird. Eine derartige Operation impliziert geradezu eine Einladung, nein eine Aufforderung zum Vergleich. Er ist leicht angestellt und zeitigt ein eindeutiges Ergebnis.
12 Der (weltliche) Lyriker Johann Klaj ist in den Schatten des geistlichen Dichters getreten und bleibt zu entdecken. Vgl. das Kapitel ‚Verschanzte‘ Schäfer-Welt (Harsdörffer, Klaj, Birken). In: Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/I: Barock-Humanismus: KrisenDichtung. Tübingen 2006, S. 322–352. Erlaubt sei die Erinnerung an eine ausgefallene Stimme zu Klaj. „Der ist der wahre Fürst des Nürnberger Parnasses. Ein herzensfröhlicher und wundermilder Meister, handwerkstreu und weltoffen und gottinnig, in Vielem der Jean Paul, in Manchem der Franz Schubert des Barock-Jahrhunderts, von einem leisen Abglanz gleichwie Georg Friedrich Händels bestrahlt.“ Herbert Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik. Leipzig 1936, S. 75. Herder hat sich erstaunlicherweise zu Klaj offensichtlich nicht geäußert. Vgl. das Kapitel ‚Johann Klaj in der literarischen Wertung‘ bei Conrad Wiedemann: Johann Klaj und seine Redeoratorien. Untersuchungen zur Dichtung eines deutschen Barockmanieristen. Nürnberg 1966 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 26), S. 25–34. Richard Alewyn sprach in seinen Vorlesungen zum Barock von Klaj als einem Lyriker, dem über das Rokoko hinaus erst in der Romantik ein kongenialer Widerhall beschieden war. Vgl. Klaus Garber: Die ungeschriebene Literaturgeschichte. Das Bild des Barock in dem späten Bonner Vorlesungs-Zyklus. In: Zum Bilde Richard Alewyns. Hg. von Klaus Garber. München 2005, S. 19–35, hier S. 27.
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Das Floridansche poetische Exercitium ist durchgängig auf Überbietung abgestellt. Das ist prinzipiell gängige humanistische Praxis. Nun aber zeitigt sie vor allem in der Wahl von ausgefallenen Bildern und Metaphern einen Gestus der Outriertheit, der dem Vorgänger abgeht und über den das Tor zu einem pastoralen Manierismus eröffnet wird, der Birkens Markenzeichen bleiben sollte. Das Sujet wird programmatisch noch einmal gewählt, um an ihm zu demonstrieren, was an poetischem Potential in ihm steckt, das von den Vorgängern noch nicht wahrgenommen wurde und nun von dem Schäfer Floridan entdeckt und mit einer ostentativen Gebärde, die sich zugleich in pastorale Bescheidenheit kleidet, ausgestellt wird. Der Entwurf des Schäferdichters Floridan als eines Geschöpfs des Dichters Sigmund von Birken vollzieht sich zunächst und zuerst im Medium einer poetischen Sprache, deren Merkmal im Fortgang von einem Satz zum anderen auf nichts anderes abgestellt ist, als Einmaligkeit über eine bislang nicht nur nicht verwendete, sondern auf Überraschung, auf Pointierung, auf Scharfsinnigkeit abgestellte poetische Formulierung zu demonstrieren. Noch einmal: Das ist prinzipiell gängige humanistische Praxis. Gleichwohl dürfte kein zweites Beispiel aus dem siebzehnten Jahrhundert dafür beizubringen sein, daß ein stilistischer Habitus durchgängig dafür verwandt wird, poetische Singularität zu reklamieren – oder, um es neudeutsch zu wenden, auf Alleinstellungsmerkmale hinzuarbeiten. Auch Zesen, an den man am ehesten in diesem Zusammenhang denken wird, beschreitet doch andere Wege, ist stets und gerade auch in seiner Prosaekloge, dem wunderbaren Poetischen Rosenwälder Vorschmack des Jahres 1642, darauf bedacht, im vordergründigen poetischen Szenarium eine hintergründige, von Raffinesse durch und durch tingierte Feier der Poesie, vermittelt über die Trias Mythos, Schönheit und Liebe, vernehmbar werden zu lassen – der grandiose Vorwurf seiner einzig in der Schäferdichtung des siebzehnten Jahrhunderts dastehenden und drei Jahre später im Jahr der Fortsetzung erscheinenden Adriatischen Rosemund.13
13 Zurückverwiesen sei auf Anm. 7 und die dort angegebene Literatur. Zur ‚Adriatischen Rosemund‘ sei hier nur hingewiesen auf Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesens ‚Adriatische Rosemund‘. Kunst und Leben. In: Philipp von Zesen 1619–1669. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. von Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 1), S. 47–122. Vgl. auch den einleitenden Bericht ‚Philipp von Zesen und die Forschung‘ von van Ingen in dem zitierten Band, S. 1–25. Des weiteren Sandra Krump: Zesens ‚Adriatische Rosemund‘. Gesellschaftskritik und Poetik. In: Euphorion 94 (2000), S. 359–402. Vgl. jetzt das Kapitel ‚Adriatische Rosenmund‘. In: Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 177), S. 87–120.
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5 Pastorales Sprachspiel und epischer Vorwurf So gesehen, um eine erste Synopsis zu wagen, sind pastorales Sprachspiel und epischer Vorwurf nur zwei Seiten der einen Medaille, geprägt von dem Vorsatz, im Medium der Pastorale und verkörpert in der Schäfergestalt des Floridan dichterische Selbstaufwertung zu inszenieren. Die dialektische Volte, den pastoralen und den epischen Code kurzzuschließen, wie von Vergil vorgegeben, hat bei keinem Dichter des siebzehnten Jahrhunderts zu einer derart prononcierten poetischen Pose geführt wie bei Birken. Es wäre Aufgabe einer anspruchsvollen Darstellung seiner pastoralen Schöpfungen, diesem poetischen Spiel zu folgen. Aber stehen uns nicht die einschlägigen Bilder ohnehin vor Augen? Der Dichter rüstet sich als Hirt seit der Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei für die Wahrnehmung der anspruchsvollsten Aufgaben, die die Zeit auf dem Felde der Poesie zu vergeben hat. Was besagt da die billige Formel ‚Hofdichter‘? Der Hirt als Stellvertreter des Dichters weiß sich als Hirt und nur als ein solcher legitimiert, zu dem höchsten, dem epischen Vorwurf zu greifen, der Regentenpanegyrik, eingebettet in den Gang der nationalen Geschichte. Er wirkt in jedem dieser Stücke mit an der Aufwertung des Standes des Poeten – dem großen, von Opitz vorgegebenen Thema. Daß in dieser Verteilung der Rollen Ruhm abfällt von dem Hirten auf den Dichter namens Sigmund von Birken als seines poetischen Schöpfers, ist bare Selbstverständlichkeit. Aber eben: Die Konstitution der dichterischen Persönlichkeit Sigmund von Birken bleibt gebunden an die Vermittlung über die Gestalt des Hirten. Diese ist als Träger von Sujets mit epischer Qualität das Medium des dichterischen Ruhms und in diesem Sinn der Erzeugung von dichterischer Identität. Eine Subjektkonstitution gibt es nur im Rahmen dieses poetischen Rollenspiels, nicht jenseits seiner. Folgen wir dem Hirtendichter auf dem Weg in das poetische Pantheon des im Zeichen Floridans gestifteten Dichterruhms und das, wie nicht anders möglich, in wiederum knapp bemessenen Schritten.
6 Hirt und Prinz: Die Wolfenbütteler Inszenierung Sigmund von Birken, eben in Nürnberg aus dem Egerland als Halbwaise angekommen, hatte alsbald wieder Abschied zu nehmen. Er gelangte auf Empfehlung Harsdörffers an den Wolfenbütteler Hof. Drei Schäfergedichte legen von seinen ‚niederdeutschen Wanderjahren‘ Zeugnis ab. Wir verharren für einen Moment bei
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einer einzigen Episode, auf nichts anderes bedacht, als den Dichter qua Schäfer an seinem Selbstentwurf arbeiten zu sehen.14 In Dannenberg an der Jeetzel stößt er, den herübergrüßenden Schloßturm im Blick, auf die fürstlichen Insignien in der einstigen Residenz der Welfen – ein eigenes überaus ergiebiges Thema. Wie aber wird es eingeführt? In Gestalt eines denkwürdigen Emblems der zwischen dem Welfenprinzen Anton Ulrich und dem Hirtendichter Floridan Birken obwaltenden Vertraulichkeit. Zwei Kupfer zieht der Schäfer hervor, die er als Geschenk des Fürstensohnes sein eigen nennen darf: Dieses ist ihm um so mehr wert, „weil es ihm vorstellete/ daß auch Helden und hohe Gemüter seinen Schäferstand und das Feldleben zu ehren/ ihre Hand mit der Kunst vermähleten.“15 (f. A4v)
14 Zur Wolfenbütteler Episode Birkens vgl. das schöne Kapitel ‚Poeta Laureatus Caesareus. Die niederdeutschen Wanderjahre. 1645–1648‘ in der unpublizierten und nicht abgeschlossenen Studie von Otto Schröder: Sigmund von Birken. Quellenstudien zur Biographie, S. 127–165a. Als nach wie vor maßgebliche Untersuchung ist zu verweisen auf: Blake Lee Spahr: Anton Ulrich and Aramena. The Genesis and Development of a Baroque Novel. Berkeley, Los Angeles 1966 (University of California Publications in Modern Philology 76). Hier insbesondere S. 52–79, das Kapitel ‚Anton Ulrich and Sigmund von Birken‘. 15 Sigmund von Birken: Dannebergische Helden-Beüt/ [i. e. Helden-Blüt] in den Jetzischen Blum-Feldern beglorwürdiget. Hamburg/ Gedruckt/ bey Jacob Rebenlein. im Jahr/ 1648. Das vorgelegte Zitat hier f. A4v. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 2), S. 39 mit Anm. 49 (fälschlich im Text als Anm. 50 ausgewiesen), S. 133. Das Werk in dem Birkenschen Handexemplar stand an zehnter Position in dem verschollenen Sammelband 4° PBlO. 3. Vgl. Klaus Garber: Ein Blick in die Bibliothek Sigmund von Birkens. Handexemplare der eigenen Werke und der Ordensfreunde – Überliefertes und Verschollenes. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift Hartmut Laufhütte. Hg. von Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 157–180. Eingegangen unter dem Titel ‚Zur Krisis reichsstädtischer Überlieferung. Die Bibliothek des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg und die verschollenen Handexemplare Sigmund von Birkens‘. In: Ders.: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents. München 2006, S. 285–312. Hier der entsprechende Nachweis S. 170 bzw. S. 300. Wilhelm Schmidt, dem das Birkensche Exemplar vermutlich als letztem vorlag, notiert: „1648 Dannebergische Helden-Beut, in den Jetzischen Blum-Feldern beglorwürdigt.“ Auch in Birkens Exemplar also stand der fehlerhafte Titel. Vgl. die entsprechende Notiz in dem chronologisch angelegten unpaginierten handschriftlichen Verzeichnis von Christian Schwarz: Verzeichnis von Schriften welche auf den Pegnesischen Blumenorden in Nürnberg und dessen Mitglieder Bezug haben gesammlet von Christian Schwarz unter dem Namen Eudemus des Ordens Mitglied (dazu Garber S. 164 f. bzw. S. 293 f.). Es ist schwer vorstellbar, daß Birken ihn nicht handschriftlich korrigiert haben sollte. In seiner Autobiographie liest man völlig korrekt in der Marginalspalte: „III. Opus. Dannbergische Heldenblüt.“ Vgl. Sigmund von Birken: Prosapia / Biographia. Hg. von Dietrich Jöns, Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988 (WuK 14 = NDL 41), S. 41. Wir zitieren nach dem Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin (Yu 4731 R (7)), das sich bis auf weiteres in der JagiellonenBibliothek zu Krakau befindet. Die äußerst reichhaltigen Sammlungen an Personalschriften
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Eines der beiden Kupfer mit dem Bildnis des Schlosses trägt eine zweizeilige subscriptio von der Hand des Prinzen, die unschwer erkennen läßt, daß auch der spätere Fürst auf die poetische Hilfeleistung seines Mentors Sigmund von Birken angewiesen blieb: Die statt spacirt zu Dorf. Erd, luft und flut sind munder, Weil sonn und sommer hitzt. Hitz ist des Lustes Zunder.16
Die Pastorale ist der Ort, da die Erinnerung an die Begegnung des Dichters mit dem Prinzen ihren Platz hat. Birken war des Vorzugs gewürdigt worden, als Prinzenerzieher nach Wolfenbüttel gerufen bzw. geschickt zu werden. Die Pastorale hält dieses Ereignis bis in die späte Guelfis hinein in vielen Details fest.17 Sie ist
aus der Sammlung Meusebach der ehem. Königlichen Bibliothek zu Berlin sind heute als Filme komplett in der Bibliothek des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück verfügbar und also zumindest medial wieder vereinigt. 16 A. a. O., f. B1r. 17 GUELFJS oder NiderSächsischer Lorbeerhayn: Dem HochFürstlichen uralten Haus Braun sweig und Lüneburg gewidmet/ auch mit Dessen Alten und Neuen Stamm-Tafeln bepflanzet: durch Sigmund von Birken/ in der Hochlöbl. Fruchtbring. Gesellschaft den Erwachsenen. Nürnberg/ Zu finden bey Johann Hofmann. gedruckt bey Christof Gerhard. A.C. MDCLXIX. Das Werk hat sich u. a. in einem aus der Birkenschen Bibliothek herrührenden Exemplar erhalten (8° PBlO. 69). Vgl. Garber: Bibliothek Sigmund von Birkens (Anm. 15), S. 178 bzw. S. 309, mit Aufführung der in diesem Band enthaltenen weiteren zwei Beistücke Birkens nebst dem Hinweis auf handschriftliche Annotationen. Sodann heranzuziehen Stauffer: Sigmund von Birken (Anm. 4), S. 698–703, mit Nachweis der zahllosen weiteren in das Werk eingearbeiteten früheren Stücke Birkens, jedoch ohne Kennzeichnung des Birkenschen Handexemplars. Eine große Untersuchung des Werkes steht aus. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 2). S. 40 f. Das Werk ist im Arkadienbuch des Verfassers eingehend behandelt. In das Werk sind neben der Helden-Blüt u. a. zwei weitere auf Wolfenbüttel und Niedersachsen vielfach auch biographisch Bezug nehmende Prosaeklogen eingegangen: 1. Götterschenkungen zu dem Freud-feyerlichen Myrten- und EhrenFeste des Lobwürdigen FONTANO und Seiner Viel-Tugendbegabten MARGARJS Verehret/ und mit einem Hertzmeinenden Wuuschgedichte [!] beygeschickt. – In diesem Zusammenhang ist der wichtige Abschnitt ‚Wolfenbütteler Dichtungen Birkens‘ bei Meyer: Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts (Anm. 2), S. 38–45, heranzuziehen. Hier heißt es (S. 38 f. mit Anm. 48, S. 133) zu dem erstgenannten und von Meyer abweichend titulierten ‚Götterspendungen‘: „Aus dem Jahr 1646 sind erhalten die Götterspendungen zu dem Freud-feyerlichen Myrthen und Ehrenfeste des lobwürdigen Fontano und Seiner Viel-Tugend-begabten Margaris verehret und mit einem herzmeinenden Wunschgedichte beygeschickt. Gedruckt in Wolfenbüttel Bey Joh. Bismarck. Ao. 1646. 4. Da es mir nur zum Teil im Druck, zum andern in handschriftlicher Ergänzung vorliegt, kann ich die Blattzahl nicht angeben. Es ist ein Gedicht für Schottelius, dem Birken als Collaborator beigegeben war.“ Meyer dürfte also nicht die Sammelschrift für Schottelius, sondern nur den Beitrag Birkens in der Hand gehabt haben, den dieser in seiner Handbibliothek verwahrte, und zwar an 28. Position im Sammelband 4° PBlO. 3, der verschollen
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das literarische Organon in der europäischen Literatur für die Exposition biographischer Daten. Der Gattungs-Philologie muß es darum zu tun sein, wie dieser Transfer von Leben ins Werk sich vollzieht und wie er gemäß der Regularien der Gattung bewerkstelligt wird. Niemand übersieht alle einschlägigen Zeugnisse der europäischen Tradition. Bis zum Erweis des Gegenteils darf die These in den Raum gestellt werden, daß wir es erneut mit Birkenschem Sondergut innerhalb der Gattungsgeschichte zu tun haben.
ist. Was im Druck vorlag, was in Handschrift, ist der allzu knappen Meyerschen Angabe nicht zu entnehmen. Möglicherweise hatte Birken das Impressum auf dem Titelblatt seines Gedichts, das ja einen gesonderten Titel führte, ergänzt. Und möglicherweise hatte schon er, sofern er den Titel seines Stückes handschriftlich wiedergab, ‚Götterspendungen‘ notiert. Das aber ist unwahrscheinlich, weil Wilhelm Schmidt in den vierziger Jahren kurz vor der Katastrophe in einem ergänzenden Eintrag zu einem Verzeichnis der Pegnesia von Christian Schwarz notiert hatte: „1646 Handschrift: Götterschenkungen zum Myrtenfeste Fontano & Mariana [!] Gedruckt Wolfenbüttel 1646. 16 Seiten.“ (Verzeichnis von Schriften welche auf den Pegnesischen Blumenorden in Nürnberg und dessen Mitglieder Bezug haben. Manuskript, S. 15). Hier ist also der Begriff ‚Götterschenkungen‘ nach dem Birkenschen Handexemplar bezeugt. Der Schmidtsche Eintrag erweckt den Eindruck, daß das gesamte Werk nur handschriftlich vorlag. Der gedruckte Text umfaßt 14 Seiten (f. B4r – f. D2v). Der Verlust des Birkenschen Handexemplars wurde erstmals bekanntgegeben von Klaus Garber: Forschungen zur deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 3 (1971), S. 226–242, S. 236 (vgl. auch ders.: Edition der Schäferdichtungen im Rahmen der ‚Sämtlichen Werke‘ Sigmund von Birkens, ebd., Bd. 4 (1972), S. 71 f.). Jörg Jochen Berns vermittelte daraufhin dankenswerterweise in den späten siebziger Jahren die in der Niedersächsischen Landesbibliothek zu Hannover bewahrte Sammelschrift für Schottelius mit dem Beitrag Birkens (Cm 389 (5)). Der verlorene Sammelband 4° PBlO. 3 aus dem Birkenschen Nachlaß mit zahlreichen Birkenschen Handexemplaren insbesondere aus der Frühzeit beschrieben und nach Maßgabe des Möglichen rekonstruiert bei Garber: Bibliothek Sigmund von Birkens (Anm. 15), S. 169 f., bzw. im Wiederabdruck (2006), S. 299–301. Vgl. jetzt auch den Eintrag zu der Schottelius gewidmeten Sammelschrift in der Staufferschen ‚Morphologie‘ (Anm. 8), S. 30–32, Nr. 17, unter Namhaftmachung der weiteren Beistücke neben den ‚Götterschenkungen‘ Birkens. Der zweite größere Beitrag Birkens in der ‚Guelfis‘ lautet: Floridans Des Pegnitzschäfers Niedersächsische Letze/ Seinen Wehrten und Geehrten Hausgenossen und andern Gutgönnern und Freunden zu Dankbarer Erwiederung und Gutem Andenken hinterlassen Jn Dannenberg. Jm Jahr unsers Erlösers M.D.C.JJL. [Horaz-Motto] Hamburg/ Gedrukkt bey Jakob Rebenlein. Das Werk stand vor der Helden-Blüt an neunter Position in dem verschollenen Sammelband 4° PBlO. 3. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 2), S. 39 f. mit Anm. 50, S. 133; Garber: Bibliothek Sigmund von Birken, S. 170 bzw. S. 300. Es hat sich in den Archivbeständen des Ordens, möglicherweise herrührend aus Birkens Besitz, ein weiteres Exemplar erhalten: 4° PBlO. 41 (4a). Vgl. Garber: Bibliothek Sigmund von Birken (Anm. 15), S. 174 f. bzw. 304–306, wo die in den sechziger Jahren vom Vf. aufgefundenen Bündel PBlO. 41–44 eingehender beschrieben werden. Alle in ihnen enthaltenen Schäfereien sind verzeichnet im Kurztitelverzeichnis im Anhang zu der Dissertation ‚Der locus amoenus‘ (Anm. 8), S. 315 ff. Vgl. jetzt wiederum den Eintrag bei Stauffer: Sigmund von Birken (Anm. 4), S. 41–43, Nr. 22.
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Vergil hatte in äußerst kunstvoller Dezenz seinen Hirten Tityrus, dieses Urbild aller späteren pastoralen Gestalten, deren Physiognomie zwischen der des Hirten und der des Dichters ständig oszilliert, von einem Besuch in der Hauptstadt Rom erzählen lassen. Ein Geschenk war ihm daselbst zuteil geworden. Von der Ackerverteilung an die Söldner im römischen Bürgerkrieg, so das Orakel, würde er nicht betroffen sein, sein ererbtes Landgut fürderhin sein eigen nennen dürfen. Nur ein Gott, so der Schäfer, könne diese glückliche Fügung in seinem Leben herbeigeführt haben. Der Name Octavians, der Name des künftigen Kaisers, fällt nicht; die Szene bleibt in ein Geheimnis gehüllt.18 Birken begegnet dem zukünftigen Fürsten persönlich, und dem Schäfer Floridan ist es vorbehalten, das Ereignis poetisch zu verarbeiten. Es läuft auf eine Annäherung der beiden durch Welten getrennten Stände hinaus. Der Fürst hat sich zu dem Schäfer herabgeneigt. Ein Oben und ein Unten sind markiert. Doch die Trennung beider Sphären ist keine unverrückbare. Der Prinz, der zukünftige Fürst, der Ranghöchste im sozialen ordo, bequemt sich desjenigen Geschäfts an, das in die Zuständigkeit des auf der sozialen Leiter an der untersten Stelle angesiedelten Partners fällt, das des Hirten. Er gibt ein Zeichen der Wertschätzung des dichterischen Metiers, indem er sich selbst in ihm versucht. In einem Medium begegnen sich Prinz und Hirt auf Augenhöhe, der Poesie.19
7 Poesie in standespolitischer Funktion Ja, mehr noch. Der Hirte verwaltet die Regeln des poetischen Handwerks, weiß um die Bewandtnisse und die Geheimnisse der Poesie, ist Dichten doch sein Existenzgrund. Der Prinz als Schüler in der Schule des sangeskundigen Hirten – das ist die Konfiguration, die sich der auf memoria gestimmten Szene einprägt. Der Hirt ist des Umgangs mit einem Großen der Welt gewürdigt worden und er wurde es kraft seiner Auszeichnung als Repräsentant des Dichters und dessen Produkt, der Poesie. Mehr soziales, mehr kulturelles, mehr standespolitisches Prestige ist nicht denkbar. Und auch von daher mag ein Licht auf die Birkensche Entschei-
18 Vgl. zuletzt mit der einschlägigen Literatur Vergil: Leben auf dem Lande. Bucolica – Georgica. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, erläutert und herausgegeben von Michael von Albrecht (Bucolica) und Otto Schönberger (Georgica). Nachwort von Michael von Albrecht. Stuttgart 2013 (Reclam Bibliothek). 19 Vgl. auch das Gedicht ‚An Dualbe‘ in der oben Anm. 1 bzw. unten Anm. 34 zitierten Edition Birkens, in dem eine geradezu amikale Nähe poetisch vergegenwärtigt wird. Der Text findet in dem Arkadienbuch des Verfassers eine eingehendere Interpretation.
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dung fallen, sich der Übernahme einer beruflichen Obliegenheit radikal und unumstößlich zu versagen. Birken wollte als Dichter und nur als ein solcher gewürdigt sein und seinen Weg durch die Zeiten antreten. Die Rollenentwürfe, mit denen er seinen Schäfer Floridan unentwegt auf poetischem Trab hält, dienen keinem anderen Zweck als der Statuierung einer dichterischen Physiognomie, deren Züge besagen, daß Poesie, daß Dichten, daß Agieren als Dichter das einzig verbindliche Ingredienz eben dieser Gestalt sein sollte. Alle, aber auch alle Manipulationen im Leben des Sigmund von Birken, vom täglichen Versezählen und Registrieren der ein- und ausgegangenen Post bis hin zum Einfahren der poetischen Ernte in mächtigen Sammelschriften im Alter dienen dieser selbsterkorenen poetischen Denkmalpflege, für die kein zweites Beispiel vergleichbarer Radikalität in der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts verfügbar sein dürfte.20
20 Es ist hier der Ort, die spärliche Literatur zur Vita Birkens knapp zu rekapitulieren. Eine große Biographie fehlt bislang. Sie dürfte erst nach Abschluß der Edition der Werke und Briefe Birkens zu schreiben sein. Wir erhoffen sie uns vom besten Birken-Kenner Hartmut Laufhütte. Vgl. die einschlägigen Beiträge in dem wichtigsten bislang zu Birken vorliegenden Werk: Hartmut Laufhütte: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007. Soeben tritt hinzu: Der Pegnesische Blumenorden unter der Präsidentschaft Sigmund von Birkens. Gesammelte Studien der Forschungsstelle Frühe Neuzeit an der Universität Passau (2007–2013). Hg. von Hartmut Laufhütte. Passau 2013. Die oben in Anm. 14 zitierte Biographie von Otto Schröder ist bis zu dem Übergang Birkens nach Bayreuth gelangt. Sie bleibt für die ersten fünfzehn Jahre des öffentlichen Wirkens Birkens (1645–1660) die maßgebliche, weil durchgeschriebene und das gesamte verfügbare Material auswertende Studie. Daran anschließend sind die Arbeiten von Joachim Kröll heranzuziehen. Vgl. u. a. Joachim Kröll: Der Dichter Sigmund von Birken in seinen Beziehungen zu Creußen und Bayreuth. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 47 (1967), S. 179–276; ders.: Bayreuther Barock und frühe Aufklärung. I. Teil: Markgräfin Erdmuth Sophie (1644–1670) und ihre Bedeutung für Bayreuth. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 55 (1975), S. 55–175; ders.: Bayreuther Barock und frühe Aufklärung. II. Teil: Die Briefe des Bayreuther Generalsuperintendenten Caspar von Lilien an den Nürnberger Dichter Sigmund von Birken. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 56 (1976), S. 121–234; ders.: Sigmund von Birken (1626–1681). In: Fränkische Lebensbilder 9 (1980), S. 187–203. Vgl. des weiteren Conrad Wiedemann: Sigmund von Birken 1626–1681. In: Fränkische Klassiker. Hg. von Wolfgang Buhl. Nürnberg 1971, S. 325–336; Ferdinand van Ingen: Sigmund von Birken. Ein Autor in Deutschlands Mitte. In: Der Franken Rom (Anm. 2), S. 257–275. Das zeitgenösssische Zeugnis liegt bekanntlich vor in Martin Limburgers ‚Betrübter Pegnesis‘. Das Werk erschien erstmals 1683. Ein Exemplar hat sich in der Bibliothek des ‚Pegnesischen Blumenordens‘ erhalten (8°PBlO. 1704). Das Werk wurde gleich im folgenden Jahr in einer Titelauflage wieder vorgelegt. Die Ausgabe 1684 ist entschieden häufiger und wurde daher auch dem Nachdruck zugrunde gelegt: Die Betrübte Pegnesis/ Den Leben/ Kunst- und Tugend-Wandel Des Seelig-Edlen Floridans/ H. Sigm. von Birken/ Com. Pal. Caes. Durch 24 Sinn-bilder/ in Kupfern Zur schuldigen Nach-Ehre/ fürstellend/ Und mit Gespräch- und Reim-Gedichten erklärend/ Durch ihre Blumen-
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Der Hirte Floridan ist der Stellvertreter des Dichters, der da unaufhörlich die poetischen Weihen beschwört, um sie im gleichen Atemzug auf sein Haupt als Repräsentanten des Dichters lenken zu können. Es vermöchte wohl von Interesse sein, diesen vom Geist des Humanismus inspirierten und sodann persönlich gewandten Dichterkult mit dem im achtzehnten Jahrhundert einsetzenden, aus dem Geist der Empfindsamkeit geborenen und an die Person Klopstocks sich heftenden zu vergleichen.
8 Chronist des Friedens Ein eigenes Kapitel gerade auch im Blick auf den vorliegenden thematischen Zusammenhang bezeichnet die Birkensche Friedensdichtung. Auch sie ist selbstverständlich durch und durch pastoral durchwirkt. Und sie ist diejenige unter den dichterischen Schöpfungen Birkens, in der die Adaptation Vergils aus naheliegenden Gründen am nachhaltigsten zur Geltung kommt, war doch der Dichter der römischen Bürgerkriege im Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege im Europa an der Schwelle zur Moderne nahezu unbegrenzt dem eigenen dichterischen Geschäft anzuverwandeln. Wiederum sei die These gewagt, daß kein Dichter die sich hier auftuenden standespolitischen Offerten so konsequent ausgereizt hat wie eben Birken über seinen Krieg und Frieden in Regie nehmenden Schäfer Floridan.21
Hirten. Nürnberg/ druckts Christian Sigm. Froberg. Zu finden daselbst bey Joh. Jac. von Sandrart/ und in Frankfurt und Leipzig bey David Funken/ Kunst- und Buchhändlern. 1684. Nachdruck: Hildesheim u. a. 1993 (Emblematisches Cabinet). Der Nachdruck ist mit einem ergiebigen Nachwort des Herausgebers Dietrich Jöns versehen. Das Werk enthält auf den Seiten 309–329 die Leichenpredigt von Paul Martin Alberti. Zu Limburger selbst vgl. Renate Jürgensen: Magister Martin Limburger (1637–1692), Myrtillus II. – der ‚Blumen-Fürst‘. In: Der Franken Rom (Anm. 2), S. 342–363. Des weiteren zu Birken selbstverständlich einschlägig: Johan Herdegen: Historische Nachricht von deß löblichen Hirten- und Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr, mit Kupfern geziert, und verfasset von dem Mitglied dieser Gesellschaft Amarantes. Nürnberg/ bey Christoph Riegel/ Buch- und Kunsthändler unter der Vesten. 1744, S. 79–158. 21 Vgl. zur Friedensdichtung Birkens: Hartmut Laufhütte: Der gebändigte Mars. Kriegsallegorie und Kriegsverständnis im deutschen Schauspiel um 1648. In: Ares und Dionysos. Das Furchtbare und das Lächerliche in der europäischen Literatur. Hg. von Hans-Jürgen Horn, Hartmut Laufhütte. Heidelberg 1981, S. 121–135; John Roger Paas: Sigmund von Birken ‚Des Friedens Vermählung mit Teutschland‘. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 17 (1990), S. 82–89; Klaus Garber: Sprachspiel und Friedensfeier. Die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts auf ihrem Zenit im festlichen Nürnberg. In: Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Um-
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Wie vom Sprachspiel, gruppiert um Held und Hirt, profitiert der Dichter von der Inszenierung eines dichterischen Vorwurfs von europäischen Dimensionen, indem er sich zu dessen Dolmetscher und Deuter aufwirft und über ungezählte und vielfach unscheinbare Brückenschläge das gewaltige geschichtliche Drama mit seiner selbstergriffenen Rolle als ‚alter Vergilius‘ verzahnt. Nur einen einzigen Aspekt möchten wir hervorheben. Birken hat in seiner Fried-erfreueten Teutonie aus dem Jahr 1652 ein Fazit seiner unerhört reichen Friedensdichtung der vergangenen Jahre gezogen, bevor dann mit der Margenis im Jahr 1679 ein nochmals bravouröser Nachzügler folgte. Dieser war freilich in einem Entwurf des Jahres 1651 schon vorweggenommen, dem Friedens-Zyklus, wie er im Teutschen Olivenberg also zusammengeführt werden sollte, dem er seiner thematischen Anlage nach zugehörte, auch wenn er in Birkens Teutscher Schaubühne, einem weiteren nicht zustande gekommenen sammlerischen Projekt, publiziert werden sollte.22 Als ‚Geschichtschrift‘ und nicht wie seine anderen Stücke als ‚GeschichtGedicht‘ hat Birken seine Teutonie in seiner Poetik apostrophiert. Das welthistorische Ereignis sollte in ihr auf der Basis der vorangegangenen Friedensschriften für die Nachwelt poetisch kodifiziert werden und das unter den Fittichen der Nymphe Noris. Es gehört zu den Delikatessen des Stücks, das der Hirtendichter mit der Nymphe ganz ungeniert plaudert. Und das nicht von ungefähr. Im Zentrum steht nämlich nichts Geringeres als der Wachstumsprozeß der deutschen Sprache und deren Eignung als Medium der jungen, von Opitz inaugurierten Poesie. Mit den
feld, Rezeptionsgeschichte. Hg. von Heinz Duchhardt. Redaktion Eva Ortlieb. München 1998, S. 679–713; ders.: Pax Pastoralis. Zu einer Friedensgattung der europäischen Literatur. In: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Bde. I–III. Hg. von Klaus Bußmann, Heinz Schilling. O. O. 1998. Textband II, S. 319–322; Hartmut Laufhütte: Das Friedensfest in Nürnberg 1650. In: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Textband II, S. 347–357. Jetzt in der ursprünglichen erweiterten Version in Laufhütte: Sigmund von Birken (Anm. 20), S. 153–169. 22 Vgl. Sigmund von Birken: Die Fried-erfreuete Tevtonie. Eine Geschichtschrifft von dem Teutschen Friedensvergleich/ was bey Abhandlung dessen/ in des H. Röm. ReichsStadt Nürnberg/ nachdem selbiger von Osnabrügg dahin gereiset/ denkwürdiges vorgelauffen; mit allerhand Staats- und Lebenslehren/ Dichtereyen/ auch darein gehörigen Kupffern gezieret/ in vier Bücher abgetheilet/ ausgefertiget von Sigismundo Betulio, J. Cult. Caes. P. Nürnberg. Jn Verlegung Jeremiä Dümlers/ im 1652. Christjahr. Der verlorene Sammelband 4°PBlO. 3 aus Birkens Bibliothek mit seinen Handexemplaren wurde mit der Teutonie eröffnet. Sie ist bibliothekarisch gut bezeugt. Vgl. Stauffer: Sigmund von Birken (Anm. 4), S. 149–154, hier S. 153 zu zwei hervorzuhebenden Exemplaren in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sowie im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aus der Sammlung Merkel. Vgl. zu den im vorliegenden Abschnitt angedeuteten Kontexten wiederum mit der einschlägigen Literatur der in Anm. 1 bzw. unten Anm. 34 zitierten Edition die Abschnitte Teutscher Olivenberg und Teutsche Schaubühne, S. XXXII–XXXV.
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Nürnberger Dichtern, so schält sich heraus, ist sie in eine neue Phase getreten, und drei Namen stehen dafür ein, diejenigen von Harsdörffer, Klaj und Johann Helwig – gleichfalls einem Großen und Vergessenen der deutschen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts.23 Sollte es aber damit sein Bewenden haben, der Entfaltungsprozeß der deutschen Literatur mit der illustren Trias auf Nürnberger Boden abgeschlossen sein? Aber beileibe nicht! Für die Hauptfigur ist ein eigenes Szenarium ersonnen, wie es keiner der Barockdichter sonst sich maßgerecht gezimmert hat.
9 Literarischer Kairos Die Prinzessin Teutonie ist aufgetaucht, Verkörperin des deutschen Vaterlandes wie einst Pamela im Schäfergedicht Harsdörffers und Klajs. Möchte die holde Prinzessin, so die unterwürfige Anfrage der Nymphe, nicht den einen oder anderen der Pegnitzschäfer zu Gesicht bekommen? Aber natürlich! Demnach gienge die Noris hin/ sie beruffen zu lassen. Sie fand aber allbereit vor der Thür stehen den Schäfer Floridan/ welcher hin und wider bey der Hofbursch sich befragte und Gelegenheit suchte/ der Prinzessin eine in Teutonischer Sprache verfasste Friedensrede/ die er unlängst in öffentlicher Versamlung hören/ und nun/ nebest einem Schäfergedicht/ in Druck kommen lassen/ mit füg zu hinterbringen.24
23 Vgl. Johann Hellwig: Die Nymphe Noris. A Critical Edition. Edited by Max Reinhart. Columbia 1994 (Studies in German Literature, Language and Culture); Max Reinhart: Johann Hellwig. A Descriptive Bibliography. Compiled and with an Introduction and Notes. Columbia 1993 (Studies in German Literature, Language and Culture). Hinzuzunehmen sind die beiden wichtigen Abhandlungen von Reinhart: The Privileging of the Poet in Johann Hellwig’s ‚Die Nymphe Noris‘. In Sprachgesellschaften – Galante Poetinnen. Hg. von Erika A. Metzger, Richard E. Schade. Amsterdam 1988 (Daphnis 17), S. 229–243; ders.: Historical, Poetical and Ideal Representation in Hellwig’s Prose Eclogue ‚Die Nymphe Noris‘. In: Konstruktion. Untersuchungen zum deutschen Roman der frühen Neuzeit. Edited by Lynne Tatlock. Amsterdam 1990 (Daphnis 19), S. 41–66. Eine eingehende Interpretation der ‚Nymphe Noris‘ in: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Band I–II. Hg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders, Thomas Elsmann. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39), S. 47–89. In englischer Version unter dem Titel: Return to Urban Community: Johann Hellwig’s ‚Die Nymphe Noris‘. In: Garber: Imperiled Heritage (Anm. 2), S. 165–204. 24 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 22), S. 16. Bezug genommen ist auf Birkens Werk: Krieges- und Friedensbildung; in einer/ Bey hochansehnlicher Volkreicher Versammelung/ offentlich vorgetragenen Rede/ aufgestellet/ Nebenst einer Schäferey/ Durch Sigismund Betulius. Nürnberg/ Gedrukkt und verlegt durch Wolfgang Endter. Jm Jahr M. DC. XLIX. Die angehängte Schäferei führte – bei durchlaufender Foliierung und Paginierung – einen eigenen Titel, nicht
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Sehnsüchtig war auf den Dichter und Dolmetscher des Friedens gewartet worden. Nun ist dieses Warten und Hoffen mit der Mission einer pastoral unterlegten Historiographie des Friedensschlusses an ein Ziel und glückliches Ende gelangt. Seit je waren in der Bukolik literarische Trophäen vergeben worden. An das Bild der von Dichter zu Dichter weitergereichten Hirtenflöte knüpfte sich das Selbstaufwertungs-Arrangement. Sannazaro hatte es in der neueren volkssprachigen Bukolik mit seiner Arcadia eröffnet, Opitz in seiner Ekloge Daphnis aus der Beuthener Jugendzeit sogleich aufgenommen.25 Bei Birken ist jedwede Dezenz und symbolische Beschattung verabschiedet. Unter den Augen der Prinzessin und der Nymphe wird ihm das Podest des nationalliterarischen Heros bereitet. In der Gestalt Floridans ist der letzte der großen Sänger erschienen, der abschließend gesagt hat, was im geschichtlichen kairos zu sagen war. Was soll nach ihm noch kommen? Weniger als ein knappes Jahrhundert nach Eröffnung der neuen, auf das Deutsche umgepolten poetischen Schreibweise ist diese bereits an ihr Ende gelangt, und der mit den Größten der Geschichte Umgang pflegende und die erhabensten Sujets traktierende HirtenPoet ist ihr Vollender.
10 Im Angesicht des Kaisers Der aber war am Ziel nun doch noch nicht angelangt. Über den Fürsten thronte der Kaiser. Der Weg nach Wien mußte angetreten werden. Und das nicht realiter, sondern poetisch und also für den eingeschworenen Bukoliker noch einmal in der Gattung der Pastorale, die sich derart unversehens zum Fürstenspiegel mauserte – Birkens ureigenste Mitgift an die Weiterentwicklung der Gattung im siebzehnten Jahrhundert.26 Der Ostländische Lorbeerhäyn aus dem Jahre 1657
jedoch ein eigenes Impressum: Schäferey: behandelt durch Floridan/ bey Unterredung Fillokles und Rosidans. Das Birkensche Handexemplar befand sich als zweites Beistück wie andere seiner Friedensarbeiten in dem mit Unikaten wiederum reich bestückten Sammelband 4°PBlO. 3., der im Krieg verschollen ist. Zu der jetzigen Überlieferung nebst Kontexten vgl. Stauffer: Sigmund von Birken (Anm. 4), S. 53–56. 25 Vgl. Klaus Garber: Daphnis. Ein unbekanntes Epithalamium und eine wiederaufgefundene Ekloge in einem Sammelband des schlesischen Gymnasium Schönaichianum zu Beuthen in der litauischen Universitätsbibliothek Vilnius. In: Martin Opitz, Paul Fleming, Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Köln u. a. 2013, S. 92 f.: Geschicke der Hirtenflöte. 26 Vgl. das Kapitel ‚Pastoraler Fürstenspiegel‘ in der Einleitung zu der oben Anm. 1 bzw. unten Anm. 34 zitierten Edition, S. XXVII–XXXI. Hier wiederum das einschlägige Quellenschrifttum.
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ist dafür das einschlägige Zeugnis, mit dem Birken zugleich seinem anspruchsvollsten Werk präludiert, dem monumentalen Habsburgischen Ehrenspiegel aus dem Jahr 1668.27 Der Ostländische Lorbeerhäyn ist dem nachmaligen Kaiser Leopold I. gewidmet und erschien unmittelbar nach dem Tod Ferdinands III. Nur Windischgrätz und Stubenberg steuern Ehrengedichte bei. Birken hat auf die Rekrutierung von Pegnitzschäfern zwecks Ausschmückung der Ehrenpforte zu Eingang des Werkes bewußt verzichtet. Selbst Harsdörffer, der doch noch lebte, ist nicht dabei. Die Habsburger Belange liegen fest in den Händen des ‚Erwachsenen‘, wie sich der vom Kaiser soeben Geadelte nach seiner Aufnahme in die ‚Fruchtbringende Gesellschaft‘ mit seinem zweiten sozietären Namen auf dem Titelblatt nun einführen durfte – der Höhepunkt der zielstrebig betretenen Karriere war binnen eines guten Jahrzehnts erreicht, der spätere Ordensvorsitz fiel da nicht mehr gleich nachhaltig ins Gewicht.
27 Vgl. Sigmund von Birken: Ostländischer Lorbeerhäyn/ Ein Ehrengedicht/ Von Dem höchstlöbl. Erzhaus Oesterreich: Einen Fürsten-Spiegel/ in XII. Sinnbildern/ und eben sovielen Keyser- und Tugend-Bildnissen/ Neben Dem Oesterreichischen Stamm- und Zeit- Register/ Kürtzlich vorstellend: Samt Einem Anhang von Ehrengedichten/ an Fürsten/ Grafen und Herren. Durch Sigismundum à Birken/ dict. Betulium, C. Com. Pal. N. Nürnberg/ Bey Michael Endter: Jm Jahr des Heils MDCLVII. Birkens Handexemplar 4°PBlO. 67. Der (sprechende!) Titel des mit dem ‚Lorbeerhayn‘ kommunizierenden ‚Ehren-Spiegels‘: Spiegel der Ehren des Höchstlöblichsten Kayser- und Königlichen Ertzhauses Oesterreich oder Ausführliche GeschichtSchrift von Desselben/ und derer durch Erwählungs- Heurat- Erb- und Glücks-Fälle ihm zugewandter Käyserlichen HöchstWürde/ Königreiche/ Fürstentümer/ Graf- und Herrschaften/ Erster Ankunft/ Aufnahme/ Fortstammung und hoher Befreundung mit Käyser- König- Chur- und Fürstlichen Häusern; auch von Derer aus diesem Haus Erwählter Sechs Ersten Römischen Käysere/ Jhrer Nachkommen und Befreundten/ Leben und Großthaten: mit Käyser. Rudolphi I GeburtsJahr 1212 anfahend/ und mit Käys. Maximiliani I TodesJahr 1519 sich endend. Erstlich vor mehr als C Jahren verfasset/ Durch Den Wohlgebornen Herrn Herrn Johann Jacob Fugger/ Herrn zu Kirchberg und Weissenborn/ der Röm. Käys. und Kön. Maj. Maj Caroli V und Ferdinandi I Raht; Nunmehr aber auf Röm. Käys. Maj. Allergnädigsten Befehl/ Aus dem Original neu-üblicher ümgesetzet/ und in richtiger Zeitrechnung geordnet/ aus alten und neuen Geschichtschriften erweitert/ in etlichen StammTafeln bis auf gegenwärtiges Jahr erstrecket/ mit derer vom Erzhaus abstammenden Chur- und Fürstlichen Familien Genealogien/ auch vielen Conterfäten/ Figuren und Wappen-Kupfern/ gezieret/ und in Sechs Bücher eingetheilet/ Durch Sigmund von Birken/ Röm. Käys. Maj. Comitem Palatinum, in der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft den Erwachsenen. Nürnberg/ Bey Michael und Johann Friderich Endtern. Anno Christi MDCLXVIII. Das Birkensche Handexeplar: 2°PBlO. 2. Dazu die wichtige Publikation von Inge Friedhuber: Der ‚Fuggersche Ehrenspiegel‘ als Quelle zur Geschichte Maximilians I. Ein Beitrag zur Kritik der Geschichtswerke Clemens Jägers und Sigmund von Birkens. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 81 (1973), S. 101–138.
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Wieder holt der Dichter zu einer großen ‚Überreichungs-Rede‘ aus. Daß er sie nutzt, um an seinem eigenen Ruhmes-Tempel zu werkeln, überrascht gewiß nicht mehr. „Jch erkühne/ einer grossen Verrichtung mich unternehmend/ aller Teutschen Mund zuseyn/ und soviel Millionen treu-verbundne[r] Herzen“.28 (f. π7v). Natürlich ist er dieser Aufgabe weder würdig noch gewachsen. Also obliegt es dem genus humile, seiner Schwachheit ein seinerseits gebrechliches Gefäß darzubieten. Zwar/ aus Wohlwissen meiner armen Beredtsamkeit/ habe ich zu dieser Lob- und DankRede/ erwählt/ eine Art Schrifften/ in welcher/ einfältige Schäfere das Wort führen: mir zu einer Entschuldigung/ wann/ von so hohen Sachen/ ich durch sie/ ihrer Gewonheit nach/ allzu-nidrig rede. Ein Landmann/ mag wohl/ bey dieser neuen FriedensZeit/ von unsrem (zwar nun nicht mehr unsrem) Teutschen wie der Virgilianische Tityrus von dem Römischen Ersten/ Augusto/ singen und sagen: Du sihst/ wie meine Heerd Er machet sicher weyden; Er lässet/ was ich will/ mich spielen in den Heyden. Diese Leute/ genießen am meisten des Friedens: von wem solten sie dann lieber aufspielen und singen/ als von demjenigen/ durch den sie dessen genießen?29
Der neuerliche Rekurs auf Vergil bedeutet jedem Kundigen, was da zu erwarten ist. Und wenn Ferdinand III. soeben verschied, nicht also ein lebender Augustus zu feiern ist, so bewerkstelligt die Schrift des Dichters doch beides in einem, nämlich Bekundung von Trauer zu bezeugen und Prophetie des künftigen Kaisers zu sein. Ihm und nicht dem Verstorbenen war also die Widmung mit Bedacht zugeeignet. Und so hat ganz unversehens eine Transfiguration im poetischen Gewebe stattgefunden. Die niederste Gattung und ihr versierter Dichter treten mit dem höchsten Anspruch auf. Dargeboten werde „in E. May. hochlöblichster Stamm-Ahnen hohen Tugenden und Lob-Eigenschafften/ ein selblicher FürstenSpiegel/ als ein gleichloses Beyspiel/ dem alle Welthäupter nachahmen solen.“30 (f. π10v). Der in den zeitgenössischen Poetiken festgehaltene Komplementärcharakter heroischer und pastoraler Poesie bewährt sich erneut. Und in der Tat hat Birken alles getan, in den panegyrischen Partien eine planmäßige Verzahnung fürstlich-adliger und poetisch-gelehrter Normen, wie sie Sinn der Gattungs-Symbiose ist, zu bewerkstelligen. Das kann hier nicht gezeigt werden.
28 Birken: Ostländischer Lorbeerhäyn (Anm. 27), f. π7v. 29 Ebd., f. π8v. 30 Ebd., f. π10v.
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11 Fürstenspiegel und Ehrenspiegel Im Zeichen Vergils vollzieht sich der Aufbruch in den Osten. Der Meliboeus der ersten Ekloge ist zur Stelle, um dem bis in die Nacht hinein seines poetischen Auftrags genügenden Dichter in der Frühe, da die Sonne im Osten aufgeht, das Geleit von der Pegnitz an die Donau, dem kaiserlichen Fluß des Habsburger Imperiums, zu entbieten. Es ist ein über Literatur gestiftetes Geleit. Wie Dante an der Hand Vergils zieht Birken mit einem Vergilschen Geschöpf an der Seite zur HabsburgEhrung auf. Was Vergil für Augustus war, will der Hirtendichter für Leopold und darüber hinaus für die Dynastie der Habsburger insgesamt sein, der da in der Pastorale ein Ehrentempel errichtet wird. Und wieder steht die Nymphe Noris als Führerin bereit. Sie war Zeugin der Floridanschen poetischen Friedenstaten. Und die werden nun zunächst erinnert. Als Prophet des weltumspannenden Friedens war der antike Dichter der Eklogen und zumal der vierten hervorgetreten. Als Friedensdichter hat sich der Hirtendichter Florian-Birken wie kein anderer seiner Zeit hervorgetan. Als des Friedens Kundiger, als Stifter seines Andenkens ist er qualifiziert, die Vergilsche Mission in der Gegenwart zu wiederholen. Diese Liaison impliziert, daß der Dichter als Sachwalter und Hüter von Normen auftreten wird. Die Ehrensäulen an der Seite von Meliboeus und im Gefolge der Nymphe abschreitend, wird in den zu Schrift geronnenen Ruhmes taten der Habsburgischen Kaiser, angefangen bei Rudolf I., dasjenige poetisch kodifiziert, was den Regenten nach dem Willen des antik-modernen Hirten- und Dichtergespanns auszeichnen muß, soll ihm denn der Titel rex iustus zuerkannt werden. Die Regentenpanegyrik ist im memorialen Modus zugleich Handlungsanweisung, ist adhortativ konzipiert. Wenn dem Schäfer die Formulierung dieses vornehmsten poetischen Auftrags vorbehalten ist, so aus Gründen des Dekorums. In der schäferlichen Gebärde der gattungsspezifischen Humilität wird symbolisch zurückgenommen und in ein Niederes verkehrt, was direkt artikuliert dem zu wahrenden Rangunterschied widerstritte. Als schäferlich verklausulierte und kaschierte darf die zum Fürsten- und Regentenspiegel aufgewertete Botschaft dem ranghöchsten politischen Repräsentanten auf Erden übereignet werden. Das Wissen um das Uneigentliche dieses polito-poetischen Geschäfts begründet den Selbstanspruch des Schäferdichters. Niemand hat ihn gleich souverän beherrscht und hervorgekehrt wie Birken. In diesem Licht betrachtet verliert denn auch seine Zurschaustellung den Charakter der persönlichen Ranküne und reiht sie ein in die Geschichte der Stilisierung des Dichters und seines poetischen
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Auftrags, wie sie in der neueren Zeit sogleich mit Petrarca einsetzt und auf deutschem Boden über Celtis und Opitz bei Birken ihre vielleicht markanteste Ausprägung findet.
12 Seitenblick auf den Lyriker des Amaranten-Garte Wir aber müssen wenigstens andeutend noch einen letzten Schritt tun. Bislang war nur die Rede von dem mit anspruchsvollen pastoralen Manifesten hervortretenden Dichter. Seit kurzem aber haben wir Kenntnis von einer ganz anderen, der Öffentlichkeit und dem Streben nach Ruhm abgewandten Seite des Dichters und das nochmals in seiner Rolle als Schäferdichter. An ein literaturgeschichtliches Ereignis ist zu erinnern, das wiederum singulär dasteht in der Geschichte der deutschen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. Birken hat sich exzessiv der Gelegenheitsdichtung gewidmet, und er mußte es schon aus äußeren Gründen, war er doch als freier Schriftsteller auf sie angewiesen. Er hat auch diesen Zweig seiner ein ganzes Leben lang währenden Produktion sorgfältig archiviert und in großen Sammelhandschriften zusammengeführt. Niemand hatte Vergleichbares aufzubieten, zumindest nicht in der Façon, die Birken seinen zu Gelegenheiten entstandenen Lyrika verlieh. Er reservierte einen eigenen Band seiner lateinischsprachigen Produktion. Und er gliederte auch die deutschsprachige nochmals in Gedichte auf Standespersonen und solche auf Bürgerliche im weitesten Sinn und unter selbstverständlichem Einbezug der gelehrten Chargen. Hinzu gesellten sich zwei lyrische Sammelschriften mit geistlichen Gedichten, die eine stärker okkasionell besetzt und vor allem mit Epicedien bestückt, die andere mit in der Mehrzahl nicht auf Anlässe fixierten Texten.31 Das waren fünf Bände, deren Schicksal es blieb, genauso wie die erwähnte Teutsche Schaubühne und der Teutsche Olivenberg im Archiv des Meisters zu verharren und den gewiß ins Auge gefaßten Weg in die Öffentlichkeit nicht zu finden. Erst die große Ausgabe der Werke und Briefe Birkens macht sie zugänglich.32
31 Vgl. wiederum die Abschnitte ‚Weltliche lyrische Sammelhandschriften‘ und ‚Geistliche lyrische Sammelhandschriften‘ sowie ‚Dichterey-Sachen‘ in der Einleitung zu der oben Anm. 1 bzw. unten Anm. 34 zitierten Edition, S. XXXIX–XLIII, mit dem Verzeichnis der Quellen und der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur. 32 Vgl. zur Disposition der Birken-Ausgabe die folgende Anm. 33.
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Zu diesem sechsten tritt ein siebter Band, der in der Birken-Ausgabe der erste ist. Mit ihm wird sie eröffnet. Entscheidungen über Eröffnungen, wenn denn nicht rein chronologisch verfahren wird, wie bei Birken unmöglich, sind die heikelsten. Im vorliegenden Fall gab es keine Zweifel und entsprechend keine Diskussion unter den Herausgebern. In zwei mächtigen Halbbänden hat Birkens AmarantenGarte im Jahr 2009, fast vierhundert Jahre nach seiner Geburt und mehr als dreihundert Jahre nach seinem Tod, erstmals das Licht der Welt erblickt.33
33 Vgl. Sigmund von Birken: Floridans Amaranten-Garte (Anm. 1). Eine Mitteilung der Disposition der aus dem Nachlaß Birkens edierten Texte im Rahmen der von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte und Johann Anselm Steiger betreuten Birken-Edition dürfte willkommen sein: – Sigmund von Birken: Floridans Amaranten-Garte. Hg. von Klaus Garber und Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Teil 1: Text, Teil 2: Apparate und Kommentare. Tübingen 2009 (WuK 1 = NDL 55/56). – Sigmund von Birken: Birken-Wälder. Hg. von Klaus Garber, Christoph Hendel und Hartmut Laufhütte. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Berlin, Boston 2014 (WuK 2 = NDL 77/78). – Sigmund von Birken: Poetische Lorbeer-Wälder. Hg. von Ralf Schuster in Zusammenarbeit mit Hartmut Laufhütte. Teil I: Texte, Teil II: Kommentare. Berlin, Boston 2018 (WuK 3 = NDL 93/94). – Sigmund von Birken: Betuletum. Hg. von Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Berlin, Boston 2017 (WuK 4 = NDL 90/91). – Sigmund von Birken: Todten-Andenken und Himmels-Gedanken oder Gottes- und TodesGedanken. Hg. von Johann Anselm Steiger. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Tübingen 2009 (WuK 5 = NDL 59/60). – Sigmund von Birken: Psalterium Betulianum. Hg. von Alexander Bitzel. Teil 1: Texte. Teil 2: Apparate und Kommentare. Berlin, Boston 2016 (WuK 6 = NDL 83/84). – Sigmund von Birken: Anhang zu Todes-Gedanken und Todten-Andenken; Emblemata, Erklärungen und Andachtlieder zu Johann Michael Dilherrs Emblematischer Hand- und Reisepostille. Hg. von Johann Anselm Steiger. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Berlin, Boston 2012 (WuK 7 = NDL 67/68). – Sigmund von Birken: Erbauungsschrifttum. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bearbeitet von Thomas Illg, Ralf Schuster und Johann Anselm Steiger. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Berlin, Boston 2012 (WuK 8 = NDL 79/80). – Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Tübingen 2007 (WuK 9 = NDL 53). – Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Berlin, New York 2010 (WuK 10 = NDL 61/62). – Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken, Johann Michael Dilherr, Daniel Wülfer und Caspar von Lilien. Hg. von Almut und Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Berlin, Boston 2015 (WuK 11 = NDL 81/82).
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Der seit seinem 20. Lebensjahr bis an sein Lebensende im Jahr 1681 unentwegt in poetische und historiographische Projekte verwickelte Autor und freie Schriftsteller hat ein Lyrikbuch pflegen wollen, in dem er ganz bei sich selbst und im Kreis der ihm verbundenen Menschen war. Daß er ein Tagebuch führte, mochte ihn mit dem einen oder anderen Zeitgenossen verbinden, auch wenn wir gerade aus dem Deutschland des siebzehnten Jahrhunderts so gut wie keine Zeugnisse haben. Birken ist also auch hier dank seiner archivalischen Akribie ein Sonderfall. Aber daß er ein lyrisches Liederbuch anlegte, dem man mit einigem Recht auch den Titel eines lyrischen Tagebuchs zusprechen könnte, blieb ein singulärer Fall. Das Bild des Schriftstellers Sigmund von Birken erfährt durch seinen Amaranten-Garte nicht ein neues, wohl aber ein reicheres Profil. Der der Öffentlichkeit zugewandten Seite seines Wirkens tritt eine auf das Private bedachte zur Seite. Wohl ist das eine oder andere der Gedichte aus dem Zyklus zum Druck gelangt, eine große Anzahl verblieb im Status der Handschrift. Und das offensichtlich nach dem Willen des Autors. Wenn überhaupt eine Publikation ins Auge gefaßt war, so eben in der Gestalt der Sammlung, des wie auch immer und auf ganz andere Weise noch einmal okkasionellen Zyklus’, und am liebsten womöglich nach dem Tod des Verfassers, wie jetzt mit arger Verspätung dann ja auch erfolgt. Der Dichter, der alles auf die eine Autoren-Karriere gesetzt hatte und das Forum der Gesellschaft, der literarischen Öffentlichkeit unentwegt suchte, sich pastoral kostümiert in pastoraler Bescheidenheit mit Anspruch und Selbstbewußtsein begabt in Szene setzte, reservierte sich noch einmal einen der Poesie gewidmeten Raum, in dem das Experiment der Selbsterkundung, der poetischen Artikulation gelebten Lebens angestellt wurde, kreisend um erfahrene Freundschaft und ersehnte Liebe, um eingedenkende Rückschau und hoffnungsvol-
– Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. Hg. von Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. Teil I: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Tübingen 2005 (WuK 12 = NDL 49/50). – Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Teil I: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Tübingen 2012 (WuK 13.1 = NDL 65/66). – Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Magnus Daniel Omeis, Joachim Heinrich Hagen, Sebastian Seelmann und Georg Wende. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Teil I: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Berlin, Boston 2018 (WuK 13.2 = NDL 95/96). – Sigmund von Birken: Prosapia / Biographia. Hg. von Dietrich Jöns und Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988 (WuK 14 = NDL 41).
Schäfer und Poet: Dichterischer Selbstentwurf und pastoral inszenierte Biographie
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len Zukunftsentwurf. Jedes dieser Gedichte verlangte nach Inspektion seiner Machart, keines dürfte darunter sein, das sich nicht – und sei es nur im Handwerklichen – auf den im weitesten Sinn vorgegebenen humanistischen und zumal den petrarkistischen Formenkanon zurückbeziehen ließe. Die Beherrschung des Handwerks ist schlechthinnige Voraussetzung des zur Feder Greifenden. Poetische Sachkunde waltet selbstverständlich auch in der Behandlung eher privater Sujets.34 Wir aber wünschten, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, daß der versierteste publizistische Stratege ganz offensichtlich sein poetisches Geschäft, um nicht zu sagen: seinen dichterischen Auftrag, darin nicht erschöpft sah, ja, daß ihn womöglich eine Ahnung gestreift haben mochte, daß der Funktionalisierung der Poesie zuweilen Einhalt zu gebieten sei. Und das um der Wahrung ihrer Würde, ja ihrer Autarkie willen. Wäre dem aber so, dann würde sich an dieser Stelle und nur an dieser einen womöglich der Spalt eines Tors öffnen, durch den ein Lichtstrahl des kommenden, des großen aufgeklärt-empfindsamen Jahrhunderts hereinzubrechen vermöchte.
34 Es darf verwiesen werden auf die Interpretation ausgewählter Texte aus der Sammlung im abschließenden Kapitel zur deutschen Schäferlyrik des 17. Jahrhunderts, mit dem – im Anschluß an die Vers- und Prosaekloge – die Behandlung der schäferlichen Liebesdichtung – Lyrik, Drama, Roman – im Rahmen des dem 17. Jahrhundert gewidmeten Bandes des Arkadienwerkes des Verfassers eröffnet wird.
Dirk Niefanger
Dialogisches Sprechen in Birkens allographer Paratext-Poetik Nicht die einschlägigen Auszüge aus Sigmund von Birkens poetologischem Hauptwerk, die Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst von 1679, finden meist Eingang in die einschlägigen Sammelwerke und Abhandlungen zur Poetikgeschichte, sondern Birkens kleine Vorrede zu Anton Ulrichs Roman Aramena von 1669. Sie gilt gemeinhin als eine der ersten deutschsprachigen Romanpoetiken und wird deshalb zum Beispiel fast immer in die einschlägigen Sammelbände zur Romantheorie1 aufgenommen. Hermann Stauffers Aussage, dass Birkens Vor-Ansprache „bekanntlich […] die erste Theorie des Romans in deutscher Sprache“ darstelle,2 wirkt freilich etwas übertrieben. Schließlich erscheint Johann Rists nicht ganz unbekanntes Roman-Gespräch ja ein Jahr früher.3 Und auch der Eingang zur Continuatio (1669) von Grimmelshausen enthält wichtige Bausteine einer Romanpoetik.4 Trotzdem gilt natürlich vielen die Vor-Ansprache zur Aramena als einer der wichtigsten Theorie-Texte des Nürnbergers: Im Barock-Band der ReclamReihe Die deutsche Literatur in Text und Darstellung wurden zentrale Auszüge der Vorrede, aber keine aus Birkens Rede-bind- und Dicht-Kunst abgedruckt.5 In glei-
1 Vgl. etwa Eberhard Lämmert, Hartmut Eggert (Hgg.): Romantheorie 1620–1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 22–26 sowie Hartmut Steinecke, Fritz Wahrenburg (Hgg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999, S. 64–67. 2 Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. Band II. Tübingen 2007, S. 719. 3 Vgl. Johann Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürzung Der ganzen Welt […] Brachmonats Unterredungen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 6. Berlin 1976, S. 341–386. Teile des Gesprächs werden in den in Anm. 1 genannten Anthologien abgedruckt. Zur ‚schwierigen Beziehung‘ Birkens zu Rist vgl. Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster: Johann Rist und Sigmund von Birken. Eine schwierige Beziehung, rekonstruiert aus ihrem Briefwechsel. In: Der Pegnesische Blumenorden unter der Präsidentschaft Sigmund von Birkens. Gesammelte Studien der Forschungsstelle Frühe Neuzeit an der Universität Passau. Hg. von Hartmut Laufhütte. Passau 2013, S. 189–203. 4 Vgl. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2005, S. 563–566. 5 Vgl. Renate Fischetti (Hg.): Barock. In: Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung. Hg. von Otto F. Best, Hans-Jürgen Schmitt, Bd. 4, ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1980, S. 54–60. https://doi.org/10.1515/9783110593129-041
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cher Weise verfährt das Fischer-Lesebuch Barock.6 Im Reclam-Bändchen Poetik des Barock fehlen – zu Unrecht – Birkens poetologische Versuche.7 Gäbe es Sammelbände zur Poetik der geistlichen Lyrik müsste man vermutlich analog zur Romanpoetik verfahren: Von herausragender Bedeutung erscheint in diesem Feld zweifellos Sigmund von Birkens Vor-Ansprache zum edlen Leser in den Sonnetten, Liedern und Gedichten zu Gottseeligem Zeitvertreib von Catharina Regina von Greiffenberg (1662). Ferdinand van Ingen erwähnt sie sogar auf der ersten Seite seiner kurzen Greiffenberg-Biographie in Reclams Handbuch Deutscher Dichter.8 Man kann diese Paratext-Poetik geistlicher Lyrik noch durch Birkens Vorrede zum Andacht-liebenden wehrten Leser in Johann Löhners Geistlicher Sing-Stunde von 1670 oder durch seine Vor-Ansprache zum Leser, die sich in Anton Ulrichs ChristFürstlichem Davids-Harpfen-Spiel von 1667 findet, ergänzen.9 Solche Texte müssten in der laufenden Birken-Ausgabe10 eigentlich in einem eigenen Band kleinerer poetologischer Schriften gesammelt werden, weil sie einen spezifischen, von der – notwendigerweise anders argumentierenden – Poetik Birkens zu unterscheidenden Zugriff bieten. Gerade die Paratext-Poetiken Birkens zu fremden Werken zeigen – so die Hauptthese des folgenden Beitrags – ein dialogisches Verfahren zur Konstitution ästhetischer Prinzipien, das sich weder in den Paratexten anderer Barockdichter, die in ihre eigenen Werke einführen, noch in Birkens Rede-bind- und Dicht-Kunst findet.11 Die ParatextPoetik Birkens, die sich mit fremden Werken auseinandersetzt und aus dieser notwendig dialogischen Position heraus eigene poetische Prinzipien gewinnt, erweist sich als vom Verfahren her bemerkenswerte Variante poetischen Sprechens im siebzehnten Jahrhundert. Diese besondere Sprechweise der Paratexte ist bislang nicht genügend berücksichtigt worden, obwohl Gerard Genette in seinem Standardwerk zwischen auktorialen und allographen Varianten, also des
6 Vgl. Dirk Niefanger (Hg.): Barock. Das große Lesebuch. Frankfurt a. M. 2011, S. 509–523. 7 Vgl. Marian Szyrocki (Hg.): Poetik des Barock. Stuttgart 1977. 8 Vgl. Ferdinand van Ingen: Catharina Regina von Greiffenberg. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. von Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max, Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Stuttgart 2000, S. 321–330, hier S. 321. 9 Vgl. Johann Löhner: Geistliche Sing-Stunde: oder XXX AndachtLieder […]. Nürnberg 1670, unpaginiert [Bl. π2r–π3v] sowie Anton Ulrich zu Braunschweig-Lüneburg: ChristFürstliches DavidsHarpfen-Spiel. Nürnberg 1667, unpaginiert [Bl. π3r–2π8v]. 10 Vgl. Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz. Hg. von Klaus Garber u. a. Tübingen u. a. 1988 ff. 11 Zur Poetik und Funktion der Paratexte im siebzehnten Jahrhundert vgl. Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008 und Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hgg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008.
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hier relevanten Typus, unterscheidet und wir so über ein angemessenes BegriffsInstrumentarium verfügen, um Birkens dialogische Sprechweise zumindest literaturtheoretisch bestimmen zu können.12 Als allographe Paratexte werden solche Vorreden, Nachworte, Widmungsdichtungen und andere rahmende Schriften verstanden, die nicht vom Autor des Haupttextes verfasst worden sind; auktoriale (oder autographe) Paratexte nennt Genette die von einem Autor gezeichneten Rahmentexte. Wenn deutliche Indizien für den Autor sprechen, könne man von apokryphen Paratexten sprechen. Jede Form der Paratexte kann natürlich fingiert sein.13 Stefanie Stockhorst reduziert in ihrer ansonsten wegweisenden Monographie zur barocken Paratextpoetik die Funktion des allographen Typus mit Genette lediglich auf seine postume oder editorische Notwendigkeit.14 Sie konzentriert sich deshalb bei ihrer Abhandlung über poetologische Paratexte des Barock ausdrücklich auf den auktorialen Typus.15 Unter den wenigen Ausnahmen des allographen Typs, mit denen sich Stockhorst befasst, finden sich selbstverständlich Birkens bekannte Aramena-Vorrede und die Greiffenberg-Einleitung.16 Die besondere Kommunikation der allographen Birken-Texte berücksichtigt sie aber nicht. Neben den allographen Vorreden und der poetologischen Panegyrik in fremden Werken finden sich natürlich auch in Birkens eigenen Büchern einschlägige poetologische Paratexte, die eine aufmerksame Lektüre lohnen: etwa sein später Vorbericht zum Schauspiel Margenis (1679) mit Überlegungen zum historischen Bezug, zur Hermeneutik dramatischen Geschehens und zur allegorischen Gestaltung, sein Nothwendiger Vorbericht an den Leser in der Fried-erfreuten Tevtonje (1652)17 mit den Hinweisen zur Gattung Geschichtschrift oder die Vorrede über Catechismus-Lieder (1660), die sich handschriftlich in der Sammlung Todten-Andenken und Himmels-Gedanken findet.18 Hier geht es um den Nutzen geistlicher Dichtung in Relation zur Bibellektüre.
12 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M., New York 1989, S. 173. 13 Vgl. ebd., S. 173 f. 14 Vgl. Stockhorst (Anm. 11), S. 18. 15 Vgl. ebd., S. 20. 16 Vgl. ebd., S. 128 f. und 286–289. 17 Vgl. Sigmund von Birken: Die Fried-erfreute Tevtonje. Eine Geschichtschrift […]. Nürnberg 1652, unpaginiert [Bl. Ar–A2v]. 18 Vgl. Sigmund von Birken: Todten-Andenken und Himmels-Gedanken oder Gottes- und Todes-Gedanken. Hg. von Johann Anselm Steiger. Teil 1: Texte, Teil 2: Apparate und Kommentare. Tübingen 2009 (Werke und Korrespondenz 5 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 59/60), Text Nr. 86, S. 144 f., 670–672.
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Auf diese und eine Reihe weiterer Paratexte Birkens, in denen poetologische Bemerkungen zu finden sind, kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Ziel ist keineswegs die Rekonstruktion seiner ästhetischen Vorstellungen aus den rahmenden Texten. Vielmehr möchte ich exemplarisch das dialogische Verfahren Birkens anhand der Aramena-Vorrede und der genannten Paratexte zur geistlichen Lyrik zeigen. Ich bin also weniger an den dort entworfenen poetologischen Prinzipien, als an der Art und Weise ihrer Hervorbringung interessiert. Meine folgenden Ausführungen sind in erster Linie philologischer und nicht philosophischer Natur.
1 Vor-Ansprache zum Edlen Leser in Anton Ulrichs Aramena Als das poetikgeschichtliche Verdienst der Vor-Ansprache gilt gemeinhin die Unterscheidung von Epos und Roman, die der Sache nach wohl schon von Birkens Freund Johann Wilhelm von Stubenberg in seiner Übertragung der Clélie von Madame de Scudery vorgenommen wurde.19 Die neuen „GeschichtGedichte“ in ungebundener Rede20 werden allerdings erst in Birkens Teutscher Rede-bindund Dicht-Kunst explizit als „Romanzi oder Romains“21 bezeichnet. Auch hier ist übrigens Johann Rist etwas früher, der in seinem oben erwähnten Gespräch schon den Gattungsbegriff ‚Roman‘ nutzt.22
19 Vgl. Johann Wilhelm von Stubenberg: Clelja: eine Römische Geschichte/ Durch Herrn von Scuderi, Königl. Französ. Befehl-habern zu unser Frauen de la Garde, In Französischer Sprache beschrieben; anitzt aber ins Hochdeutsche übersetzet/ Durch Ein Mitglied der hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft den Unglückseeligen. Nürnberg 1664, Bd. I, Widmung an Kaiserin Eleonora und Bd. VI, S. 778 ff. Dazu vgl. Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 11 und Martin Bircher: Johann Wilhelm von Stubenberg (1619–1663) und sein Freundeskreis. Berlin 1968, S. 283–286 und 319. 20 Vgl. Sigmund von Birken: Vor-Ansprache zum Edlen Leser. In: Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig-Lüneburg: Die durchleuchtige Syrerinn Aramena. Der erste Theil […]. Nürnberg 1669, unpaginiert [Bl. 1v–2r]. 21 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Hildesheim, New York 1973 [Reprint der Ausgabe von 1679], S. 303. 22 Vgl. Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürzung Der ganzen Welt (Anm. 3), S. 376, 378 passim. Ziel des Gesprächs war unter anderem, „daß man die Romans unterscheide/ wie dan etliche gar gut und löblich/ dagegen etliche gefunden werden/ die so schlecht und närrisch/ daß man sie auch des durchlesens nicht einmahl würdig schätzen sollte“ (S. 376). Birken hat Rists Monatsunter
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Ein Aspekt, der in der späteren, kodifizierten Poetik keine Rolle mehr spielt, in der Vor-Ansprache aber ausführlich behandelt wird, ist das Verhältnis des Adels zum Roman. Die Erörterung der Frage, ob der Adel als Lesepublikum narrativer Großformen erwünscht sei und ob Vertreter dieser Gruppe gar als Autoren möglich wären, ergibt sich allein aus der allographen Variante des Paratextes. Allerdings wird diese nicht durch einen zweiten Autornamen markiert; die Vorrede bleibt anonym, könnte für den unbedarften Leser also auch vom Romanautor oder einer anderen Person stammen. Während es in der allographen Vorrede nicht in erster Linie um die eigene dichtungstheoretische Profilbildung geht wie in der kodifizierten Poetik, liegt eine wesentliche Funktion des allographen Paratextes in der Profilierung des Bezugstextes und seines Autors. Die Verortung des Autors im literarischen Feld23 gehört sogar zu den primären Funktionen der allographen Rede; sie hat im Barock weniger ökonomische Gründe, als einen auf das Ästhetische und Sittliche bezogenen apologetischen Charakter. Gerade ein Paratext, der sich mit fremden Dichtungen befasst, ist im siebzehnten Jahrhundert streng an die Dispositive des decorums gebunden. Eine freie Entfaltung eigener ästhetischer Prinzipien verbietet die spezifische kommunikative Gebundenheit der Textsorte. Im imaginären Dialog mit Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel entwickelt Birken deshalb eine Platzierung des Hohen Romans im kulturellen Feld, die weit über das hinausgeht, was in der kodifizierten Poetik notwendig wäre. Sicher, schon die Gattungsbezeichnung Heldengedicht24 und die Abgrenzung zum „Feld- oder Hirtengedichte“, wo ausdrücklich „von allen Sachen/ Hohen und Niedren Personen“25 gehandelt werden kann, legt eine Ansiedlung im genus grande mit all seinen Konsequenzen nahe. Doch erzwingt der allographe Paratext eine weitergehende apologetische Darlegung adeliger Kreativität und damit eine eigene Positionierung des Romans im kulturellen Feld. Sie ist mit einer deutlichen Aufwertung der bislang nicht kodifizierten Gattung verbunden. Die Tatsache, dass Birken seine Vor-Ansprache dem Roman eines Herzogs beige-
redung vermutlich rezipiert: so spricht Birken etwa wie Rist von den „Kunst- und Tugendliebenden“ Romanlesern (Vor-Ansprache zum Edlen Leser [Anm. 20], Bl. 7v). 23 Im Sinne von Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Übers. von Wolfgang Fietkau. Frankfurt a. M. 1974; ders.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M. 2001; Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998 sowie Aleida Assmann, Jan Assmann (Hgg.): Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation. München 2001. 24 Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 21), S. 301. 25 Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 21), S. 293 und 295.
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geben hat, eröffnet ihm die Möglichkeit, die Gattung innerhalb des poetischen Diskurses gesellschaftlich aufzuwerten. Diese dialogisch bestimmte Aufwertung des Romans wird sich im achtzehnten Jahrhundert durchsetzen, wobei dies – bemerkenswerter Weise – nur gelingt, indem Birkens soziale Positionierung des Romans überwunden wird. Der Roman wird dann zur bürgerlichen Gattung schlechthin.26 Schon aus literaturgeschichtlichem Interesse erscheint deshalb die gesellschaftliche Rechtfertigung des Romans in der Vor-Ansprache also von Belang. Schauen wir uns die entsprechende Passage einmal an: Es sind/ dieser art Historien/ vor allen anderen Schriften/ ein recht-adelicher und darbei hochnützlicher zeitvertreib/ sowol für den/ der sie schreibet/ als für den/ der sie liset: wie dann auch die jenigen/ so dergleichen geschrieben/ meist entweder vorneme Stands- und sonsten adeliche personen/ oder doch leute gewesen/ die mit solchen personen kundschaft gepflogen haben.27
Die angeführten epischen Exempel erlauben Birken den Adelsbegriff auszuweiten, so dass, wenn man es genau nimmt, nicht Abkunft oder tatsächliche Nobilitierung für die Rezeption und Produktion entscheidend sind, sondern die Teilhabe an der vornehmen Kommunikation. Das Romanschreiben und -lesen soll als Bestandteil dieser adeligen Kommunikation gerechtfertigt werden.28 Die Vorrede favorisiert also eine künstlerische Tätigkeit, von der man vorschnell annehmen könnte, sie verstoße gegen das standesgemäße decorum. Ansatzpunkt der Argumentation ist deshalb zunächst nicht die herzogliche Autorschaft, sondern die generelle Nützlichkeit der Romane für den Adel. In den guten Romanen – Birken grenzt sich vom Amadis-Roman „und
26 Vgl. etwa Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Stuttgart 1964 [Reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1774]. 27 Birken: Vor-Ansprache zum Edlen Leser (Anm. 20), Bl. 3r. 28 Zur adeligen Autorschaft insgesamt und zur Vorrede Birkens vgl. jetzt Claudius Sittig: Kulturelle Kommunität und Distanz. Zur adeligen Teilnahme an literarischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit. In: Was den Adel adelig macht. Adeliger Eigensinn in Recht, Politik und Ästhetik Europas (16.–20. Jahrhundert). Hg. von Jörn Leonhardt, Christian Wieland. Göttingen 2011 (Schriftenreihe des Freiburger Institute for Advanced Study – School of History), S. 239–254, besonders S. 243 f. Zum Kontext vgl. Dieter Breuer: Gibt es eine bürgerliche Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts? In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 30 (1980), S. 211–226; Werner Wilhelm Schnabel: Literatur oder Literaturen? Sondierungen im ‚literarischen Untergrund‘ des 17. Jahrhunderts. In: Bayerisch-Ukrainischer Germanistenkongress in München / Kloster Banz. Die Germanistik um die Jahrtausendwende. 26.–30. April 2011. Lemberg (Lwiw) 2012, S. 134–141 sowie Marian Füssel, Thomas Weller (Hgg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005 (Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, Bd. 8).
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andere[n] aufschneiderische[n] alber[n]e[n] pedantische[n] fabelbruten und mißgeburten“ ausdrücklich ab – könnte der adelige Leser „die Früchte der Staats- und Tugendlehren/ mitten unter den Blumenbeeten angenemer Gedichte“ – Fiktionen sind gemeint – finden. Die Romane seien deshalb „rechte Hof- und AdelsSchulen/ die das Gemüte/ den Verstand und die Sitten recht adelich ausformen/ und schöne Hofreden in den mund legen.“29 Sie lehren/ durch vorstellung des unbestands menschlichen glückwesens/ der liebes- und lebensgefärden/ der gestraffen tyranney und untugend/ der vernichtigten anschläge/ und anderer eitelkeiten/ wie man das gemüte/ von den gemeinen meinungen des adel-pöbels läutern/ und hingegen mit Tugend und der wahren Weißheit adeln müsse.30
Unschwer ist erkennbar, wie die eingangs apologetisch eingesetzte und dann auf den Adelsdiskurs erweiterte Ständeklausel nun durch den eingeführten universellen Tugendbegriff echter adeliger Gesinnung unterlaufen wird. Denn jetzt erscheint nicht notwendig der als adelig, der adelig geboren wurde. Auch unter den Geburtsadeligen gibt es einen Pöbel, der gemeine Gesinnungen pflegt. Komplementär stellt Birken also dem Geistesadel einen Geistespöbel gegenüber. Nur derjenige wird als wahrer Adel bestimmt, der sich durch Tugend und Weisheit auszeichnet. Zu solchen Gesinnungen können – so Birken – die neuen Romane beitragen, weil sie auf verständliche, lebensnahe und angenehme Weise sittsames Handeln vorführen und schlechtes Verhalten schelten. Mit der Förderung des wahren, nämlich geburtsunabhängigen Adels als Romanintention wird die an sich hierarchisch geordnete Kommunikationssituation des allographen Dialogs programmatisch eingeebnet. In der Vor-Ansprache spricht jemand, der auch von Adeligen gehört werden möchte, weil er weiß, was einen rechten Adel ausmacht. In der rhetorisch geschickten Verschiebung des Geburts- in einen Gesinnungsadel verbirgt sich deshalb eine erhebliche Anmaßung Birkens, der ja gerade nicht dem Geburtsadel entstammt, sondern erst 1654 für seine geistigen Produkte nobilitiert wurde. Durch die Aufwertung des Geistesadels stellt sich Birken in seiner – freilich nicht mit eigenem Namen gekennzeichneten allographen Vor-Ansprache – so einerseits dem Herzog gleich, andererseits unterschiebt er ihm – falls die Vor-Ansprache als auktorialer Paratext gelesen wird – einen faktischen Verzicht auf den Geburtsadel im literarischen Feld. So radikal ist das freilich auch wieder nicht, denn es wiederholt nur die Ideen, nicht aber die Praxis der Sprachgesellschaften des siebzehnten Jahrhun-
29 Alle Zitate aus Birken: Vor-Ansprache zum Edlen Leser (Anm. 20), Bl. 3v. 30 Ebd.
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derts.31 Die Fruchtbringende Gesellschaft wird vielleicht auch deshalb als Kulturfaktor in der Vorrede genannt.32 Das mitunter verwendete Personalpronomen ‚wir‘ suggeriert im Kontext typisch adeliger Tätigkeiten an manchen Stellen der Vor-Ansprache durchaus einen auktorialen und nicht einen allographen Paratext; etwa wenn es heißt: „Wir Teutschen lassen uns/ in Italien und Frankreich/ zu adelichen Leibs-übungen anweisen.“33 Solche Aussagen treffen eindeutig eher auf Anton Ulrich als auf Birken zu. Analog verhält es sich mit der Nennung der römischen Kaiser Augustus und Maximilian, die sich der Schreiber – durchaus schon mit Blick auf den folgenden Roman – als Vorbilder nimmt; so kann streng genommen nur ein Herrscher argumentieren. Die so entstehende Perspektiv-Bricolage changiert zwischen allographem Duktus und kaum zu übersehender auktorialer Anmaßung. Wenn es konkret um den adeligen Autor des vorliegenden Romans geht, wird eine Trennung von Vorrede und Haupttext implizit hörbar: Wann nun/ dergleichen Bücher/ der Adel mit nutzen liset/ warum solte er sie nit auch mit ruhm schreiben können: Und wer soll sie auch bässer für den Adel schreiben/ als eine person/ die den Adel beides im geblüt und im gemüte träget:34
Gemeint ist natürlich Anton Ulrich. Hier nun lässt der Sprachgestus in seiner panegyrischen Volte den allographen Modus unverkennbar durchscheinen und markiert vielleicht sogar die heimliche Co-Autorschaft Birkens am ganzen Roman. Denn wenn die Vor-Ansprache mit doppelter Zunge redet, warum dann nicht auch der Roman selbst. An ihm hat Birken ja tatsächlich mächtig mit redigiert. Nur scheinbar gibt sich die Vorrede dem üblichen und auch notwendigen Herrscherlob hin. Tatsächlich behauptet sich durch diesen allographen Gestus eine zweite Romanstimme, die faktisch Birken heißt und – nicht ohne poetologische Rechtfertigung – wie im Zitat oben den Geistesadel für sich reklamiert. Daran ändert auch die ostentative Betonung adeliger Besonderheit nichts, die den diskutierten Abschnitt abschließt: Nun sollen die Edlen/ als die größten unter den Menschen/ auch die Bästen/ und folgbar die verständigsten seyn; und wann sie es sind/ sollen sie sich als solche der Welt zeigen: welches nicht anderst geschehen kann/ als durch reden und schreiben.35
31 Vgl. Klaus Conermann: Fruchtbringende Gesellschaft. Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein. Leipzig, Weinheim 1985. 32 Vgl. Birken: Vor-Ansprache zum Edlen Leser (Anm. 20), Bl. 3r und 4vf. 33 Ebd., Bl. 4r. 34 Ebd., Bl. 3v. 35 Ebd., Bl. 3v –4r.
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Nicht nur die Betonung des Hörensagens in diesem Zitat, auch der logisch umkehrbare Schluss belässt die Aussage über den generellen Wert des Adels im Bereich des Ungefähren. Zudem zementiert die perfide Unterscheidung der größten und besten Menschen auch hier die Auffassung, dass der noblere Adelige nicht notwendig der bessere Mensch sein muss. Allerdings sollte man Birkens Text hier sehr genau lesen, also in seinem Sinn ‚verständig‘ sein, um diese Differenzierung mitzubekommen. Von jedem Adeligen der Zeit kann das nicht erwartet werden; deshalb war die dialogische Anlage der Vor-Ansprache vermutlich recht gefahrlos. Am Ende der Vorrede wird die allographe Kommunikationssituation nochmals betont, ohne die wahre Autorschaft der poetologischen Ausführungen preiszugeben: Was bisher gesaget ist/ das ist gegenwärtiger Aramena zu ehren geschrieben: bei deren sich alles das befindet/ was […] zu Lob geredt worden. Sie hat eine hohe hand zur gebärerinn […]. Sie ist/ nicht im Schulstaub/ sondern zu Hof erwachsen. Sie ist auch nicht mit gesellschaft des Pöbels bestäubet: sondern redet höchsthöflich und recht-fürstlich/ von fürstlichen Geschichten.36
Dass die Aramena am Hof entstanden ist, bestimmt – nach dem Gehörten – nicht unbedingt eine adelige Autorschaft; die offene Formulierung lässt sogar an einen nicht-adeligen (Ko-)Autor denken, da Birken vorher die Teilhabe an adeliger Kommunikation und die adelige Gesinnung, ausdrücklich nicht aber den Geburtsadel hervorgehoben hatte. Da diese Passage außerdem mit Birkens Ausführungen über die „gemeinen meinungen des adel-pöbels“37 korrespondiert und besonders das adelige Reden und nicht allein die hohe Abkunft betont, bleibt auch hier die Einebnung des Standesunterschieds von Paratextsprecher und Romanautor hörbar.
2 Zwei allographe Paratexte zur geistlichen Lyrik In seiner Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst hat Birken die „Geistliche[n] Lieder“ als die wichtigste lyrische Gattung hervorgehoben und angemahnt, dass „dergleichen“, gemeint ist die religiöse Ausrichtung, „billig alle Lieder seyn
36 Ebd., Bl. 7r–7v. 37 Ebd., Bl. 3v.
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sollten.“38 Obwohl – so Birken – gerade die geistlichen Lieder „für jedermann/ auch für Ungelehrte/ gesetzet werden“, sollte man „in dergleichen Gedichten“ keineswegs „alle Poetische und Figürliche Redzierden hinweg lassen/ und nur schlechthin leblose Reimen leimen und daher lirlen“.39 Die Hochschätzung poetisch anspruchsvoller Rede auch im geistlichen Bereich begründet sich nicht zuletzt aus Birkens Maxime, Poesie habe zuallererst dem Lob Gottes zu gelten. Mit Bestimmtheit „nennen […] wir Christen“, so die Poetik, „die Ehre Gottes“ an erster Stelle, erst dann kämen die horazischen Prinzipien prodesse und delectare.40 Eine solche ästhetische Position findet sich schon in Birkens Vor-Ansprache zur geistlichen Lyrik der Greiffenberg (1662). Bedenkt man die gängigen Vorstellungen von weiblichem Schreiben in der Barockzeit, erscheinen vor allem die Hinweise auf die ästhetische Qualität der Gedichte programmatisch; ein solches Lob funktioniert besonders nachhaltig, wenn der allographe Modus der Rede betont wird, also wenn der Dichter die Dichterin lobt. Birkens Vor-Ansprache macht deshalb gleich zu Beginn deutlich, dass es im Folgenden um die Profilierung weiblichen Schreibens geht. VOn der Fürtrefflichkeit/ und insonderheit von der Geist- und Kunstfähigkeit/ des lieblöblichen Frauenzimmers zu schreiben/ ist eine Arbeit/ die ein gantzes Buch erfordert/ und nur von etlichen Blättern nicht kann umschränket werden.41
Zwar gilt die ästhetische Grundlegung geistlicher Lyrik generell, doch adelt sie besonders das Werk der Freundin Catharina Regina von Greiffenberg: Die rechte und echte Dichtkunst/ bestehet/ in nutzbarem Kern-innhalt/ und in ungemeinem belustbaren Wortpracht. Solche Gedanken und solche Worte/ führt allhier unsre Teutsche Uranie/ deren zart-schöne Hände auf der himmlischen Dichter-harffe nur lauter-unvergleichlich zu spielen wissen.42
Der dialogische Charakter des Paratextes wird deutlich, wenn Birken als Beleg der Greiffenbergischen Dichtungskraft ein eigenes Gedicht einrückt, das ein Sonett der Freundin – Uber GOttes unbegreiffliche Regirung/ seiner Kirchen und
38 Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 21), S. 189. 39 Ebd., S. 190. 40 Ebd., S. 185. 41 Sigmund von Birkens Vor-Ansprache zum edlen Leser. In: Catharina Regina von Greiffenberg: Sämtliche Werke. Hg. von Martin Bircher u. a. 10 Bde. Millwood (N. Y.) 1983, Bd. 1, unpaginiert, Bl. 7r–21r, Zitat: 7r. 42 Birken: Vor-Ansprache zum edlen Leser (Anm. 41), Bl. 19r.
Dialogisches Sprechen in Birkens allographer Paratext-Poetik
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Glaubigen43 – variiert. Das poetologische Sonett der Greiffenberg wird in der Variante Birkens zum panegyrischen Text, der über die Qualität der eingeleiteten Dichtung das weibliche Schreiben legitimiert. Legt man Prätext und inspirierte Nachdichtung zusammen, erscheint die Sprecherin des Originals als quasi göttliche Stimme. In Greiffenbergs Sonett heißt es: WEr kan deinen Sinn ersinnen/ unersinnter Gottheits Schluß? dein’ Vnendlichkeit verschwämmt alle Fünklein der Gedanken. dir ist gleich mein Vrtheil-Liecht/ wie dem Meer ein kleiner Fanken. All mein gründen/ ist gegründet im ungrundbarn Gnadenfluß:44
Das Sonett betont zuerst die eingeschränkte menschliche Erkenntnisfähigkeit in Bezug auf Gottes Willen; ihr stellt es, ganz lutherisch gedacht, die große Gnade Gottes gegenüber. Theologisch ernst gemeint ist die nur auf den ersten Blick lediglich rhetorisch wirkende captatio benevolentiae. Die eigene Herabsetzung soll die Größe Gottes und die große Gunst des eigenen geistlichen Erkennens und Sprechens gleichzeitig hervorheben. Dadurch, dass dieses überhaupt Gegenstand der Wahrnehmung und Gnade Gottes wird, erscheint es – wenn auch nur als kleines ‚Fünklein‘ – trotzdem gewichtig. Das parallele erste Quartett bei Birken lautet: Wer kan diesem Mund gleichsingen? er ist aller Kunst beschluß. mir verschmelzt den Geist und Sinn/ dieses Feuer der Gedanken: wie die Sonne unterdruckt/ Lunen und der Sternen Fanken. Kunst/ lässt sonst nur Bäche rinnen: hier entspringt ein gantzer Fluß/ […].45
Die Rhetorik, die Birken hier bei seiner Greiffenberg-Panegyrik anwendet, ist die steigernde amplificatio, die er durch eine comparatio realisiert. Sie dient der ästhetischen Wertsteigerung des eigenen Textes – also dem ornatus – und dem artistischen Lob der Dichterin. Das heißt, der Sprecher in Birkens Sonett steigert die bei Greiffenberg verwendeten Epitheta der autographen Inszenierung bei seiner korrespondierenden allographen Inszenierung der Dichterin: Feuer statt Funken, Verschmelzen statt Verstreuen, Vereinigung von Geist und Sinn statt schwierige Greifbarkeit des göttlichen Sinns, mächtiger Kunstfluss statt unergründbarer Gnadenfluss. So rückt, begründet durch einen Perspektivwechsel ins Säkulare der Kunst, die Dichterin an die Stelle Gottes. Diese ‚Vergöttlichung‘ Greiffenbergs erscheint aber keineswegs als verwegenes oder übertriebenes Lob, wenn man sie
43 Greiffenberg: Sämtliche Werke (Anm. 41), Bd. 1, S. 47. 44 Ebd. 45 Birken: Vor-Ansprache zum edlen Leser (Anm. 41), Bl. 20r.
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Dirk Niefanger
poetologisch deutet. Denn die nicht rational steuer- und begreifbare Befeuerung poetischer Tätigkeit durch Gottes Wort ist Teil des poetologischen Konzepts geistlicher Dichtung bei Birken und in seinem Nürnberger Umfeld. Die Dichtkunst wird zur Aussprache eines poeta vates, der seine Inspiration – seinen „Poetische[n] Geist“ – allein vom „Himmel“ empfängt.46 Die Wechselbeziehung zwischen Gott und Poet(in) hebt Birken erklärend nach dem eingeschobenen Sonett in einem recht bekannten Zitat hervor; es weist – nebenbei bemerkt – nach, dass die geistliche Barocklyrik von einer, wenn auch diffusen Genie-Vorstellung ausgeht: Gleichwie aber/ die Göttliche Dichtkunst/ von Himmel stammet: also soll sie hinwiederum/ von der Erden/ gen Himmel flammen.47
Diese allgemeinen poetologischen Aussagen bezieht die dialogische Vor-Ansprache am Ende wieder auf Catharina Regina von Greiffenberg, wobei der Sprecher der Vorrede offenbar ganz bewusst den Sprachduktus und das Vokabular der Dichterin auch in seiner Prosa aufgreift. Man könnte meinen, nun sei Birken von der göttlichen Rede seiner Freundin inspiriert worden: Diß thut unsre himmel-klingende Uranie: Sie brennet von Göttlicher Lob-begierde/ und von Verlangen nach Tugend und Weißheit; Sie flammet in himmlischer Liebesglut gegen ihrem ewigen Seelen-Liebhaber deme zu Ehren sie allhier/ nicht Worte/ sondern lauter Geistesfunken ausseuffzet.48
Dieser emphatische Ton verbietet sich naturgemäß in der nicht minder programmatischen Vor-Ansprache zum Leser in Anton Ulrichs ChristFürstlichem DavidsHarpfen-Spiel (1667, 21670). Aber auch hier muss Birken wieder dem allographen Modus vertrauen, wenn er auch nicht den Reiz der Genderdifferenz ausspielen kann. Das Argumentationsmuster erinnert daher eher an die Aramena-Vorrede, obwohl der Gegenstand geistlicher Natur – also den Gedichten der Greiffenberg näher – ist. Birken beginnt mit einer Poetik der Andacht und des Gebets; beides deutet er als Gespräch mit Gott.49 Je häufiger man dieses pflege, desto mehr bessere sich das eigene Leben.50 Das höchste Gut, um das man Gott bitten könne, sei die
46 Ebd., Bl. 19r. 47 Ebd., Bl. 20v. 48 Ebd., Bl. 21r. 49 Vgl. Sigmund von Birkens Vor-Ansprache zum Leser. In: Anton Ulrich von BraunschweigWolfenbüttel: Christ-Fürstliches Davids-Harpfen-Spiel zum Spiegel und Fürbild Himmel-flammender Andacht […]. Wolfenbüttel 1670, unpaginiert, Bl. 2r–12v, hier Bl. 2v. 50 Vgl. ebd., Bl. 3r.
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„himmlische Weißheit“.51 Zwar habe „jederman“52 – wie es heißt – das berechtigte Verlangen, glücklich, groß, reich und weise zu sein, doch „sind es vor allen/ die Regenten auf Erden“, die der Weisheit und des Gesprächs mit Gott am meisten bedürfen.53 Denn „durch mich“, sage Gott, „regiren die Fürsten.“54 Ihre Gespräche mit dem Herrn „fördern“ – so Birken – „ihre Anschläge zu gutem Außgang.“55 Insofern brauche sich der „Fürst“ seines „Gebets und der Andacht“ nicht zu „schämen“.56 Das vorliegende Buch tue deshalb recht, wenn es die Texte eines Herzogs veröffentliche. Denn die Gebete „nutzen […] nicht allein ihnen selber/ sondern auch ihren Unterthanen.“57 Ihren „Herzen“ vermitteln sie Glaube und Gehorsam.58 Da die Sammlung geistlicher Texte Anton Ulrichs als „Spiegel und Fürbild himmel-flammender Andacht“, wie es auf dem Titelblatt heißt, gedacht ist, richten sich die Texte also nicht nur an seinesgleichen. Vielmehr sollen die Gebete und Andachten Vorbild für eigene Zwiesprache mit dem Herrn59 und – für weniger Sprachbegabte – auch vorgeprägtes Mittel der Kommunikation mit Gott sein. Dabei rückt der Fürst als Autor an die Stelle des geistlichen Mittlers: „Welch ein herrliches Gespräche ist es nun“, folgert Birken, „wann Götter mit GOtt reden!“ Doch, so hört man die allographe Stimme mahnen, die Fürsten „sind es nicht von sich selbst/ sondern GOtt hat sie darzu gemacht.“60 Wer „mächtig ist, der hat seine Macht von ihm.“61 Insofern bietet auch die Vor-Ansprache zum Leser in Anton Ulrichs geistlichem Lieder- und Gebetbuch eine Möglichkeit, die Standesfrage zu stellen, wenn auch nicht so selbstbewusst wie später beim Roman Anton Ulrichs. Indem Anton Ulrich aber als gottbegnadeter Herrscher mit einer besonderen Beziehung zum Herrn dargestellt wird, legitimiert sich auch das dialogische Verfahren der VorAnsprache als Lesefrucht des ersten Untertanen und weisen Ratgebers, deren der Fürst – wie es bei Birken heißt – auch bedarf. Sie (und damit auch sich selbst) rückt er sogar an die Seite Gottes, wenn er konstatiert:
51 Ebd., Bl. 5v. 52 Ebd., Bl. 4v. 53 Ebd., Bl. 6v. 54 Ebd., Bl. 7r. 55 Ebd., Bl. 10v. 56 Ebd., Bl. 7v. 57 Ebd., Bl. 10v. 58 Ebd., Bl. 10v. 59 Vgl. Ebd., Bl. 12r. 60 Ebd., Bl. 10v. 61 Ebd., Bl. 11r.
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Dirk Niefanger Der größte und bäste Schatz eines Fürsten/ sind weise Räthe: Aber der Weiseste unter ihnen ist der jenige/ von dem alle Weisheit kömmet.62
Gottesnähe wird also beiden zugestanden: den Fürsten und den weisen Räten. Wie gut, dass Birken dem Herzog bei der Redaktion seines Andachtsbüchleins mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist. Das musste offenbar dann doch, wenn auch nur mittelbar im Gespräch mit dem Leser, untergebracht werden. Der allographe Modus erlaubt ein selbstbewusstes Auftreten Birkens, das sich vor allem in der Aufwertung der eigenen beratenden Tätigkeit, des Geistesadels überhaupt und der poetischen Inspiration niederschlägt. Der Habitus des ersten Lesers vermag die besondere Position von Autorschaft – sei sie fürstlicher oder weiblicher Abkunft – in ihrer Eigenart zu charakterisieren und verständlich zu machen. Insofern kündet die allographe Rede vom Besonderen des poetologischen Zugriffs, von dem man sich distanzieren, mit dem man sich aber auch – zumindest temporär – identifizieren kann. In allen behandelten Fällen bleibt dies ein poetisches Wagnis, ist doch letztlich der genetische Graben zwischen Vorredner und Autor des Haupttextes unüberwindbar. Insofern gewinnt die allographe als pseudoauktoriale Rede auch als empathisches Schreibexperiment ihren Reiz. Auch das zeigen die behandelten Vorreden, die wohl deshalb in ihrer Redeweise nicht eindeutig – etwa durch den Autornamen – markiert werden. Hierin unterscheiden sich die diskutierten Vor-Ansprachen von Birkens Vorrede zu Löhners Geistlicher Sing-Stunde63 und zu einigen eigenen Texten.64
62 Ebd., Bl. 7r. 63 Vgl. Johann Löhner: Geistliche Sing-Stunde: oder XXX AndachtLieder. Nürnberg 1670, unpaginiert, Bl. 3r–4v. 64 Vgl. Sigmund von Birken: Margenis. Das vergnügte bekriegte und wieder befriedigte Teutschland. Nürnberg 1679, unpaginiert, besonders etwa Bl. 2r: Den vorliegenden Druck „hat der Autor damit nicht länger zurückhalten […] wollen“.
Claudius Sittig
Gib uns die Musenkrone Sigmund von Birken als ‚krönender Dichter‘ Zwischen 1655 und 1679 hat Sigmund von Birken in seiner Eigenschaft als kaiserlicher Hofpfalzgraf insgesamt mindestens 27 Männer und Frauen mit dem Dichterlorbeer bekränzt.1 Seine Krönungen stechen aus der großen Masse der frühneuzeitlichen Dichterkrönungen schon auf den ersten Blick deutlich heraus: nicht nur, weil hier ein einzelner Hofpfalzgraf für eine bemerkenswert große Zahl von Krönungen verantwortlich zeichnet, sondern auch wegen der absolut singulären Praxis der Krönung von Männern und Frauen gleichermaßen. Einmalig ist außerdem die Überlieferungssituation, denn die Konzepte für viele Krönungsurkunden, die begleitenden Briefwechsel sowie Birkens Tagebücher sind erhalten und zu großen Teilen bereits ediert.2 Für keinen anderen Hofpfalzgrafen der Frühen Neuzeit besitzen wir – mit Blick auf die vorgenommenen Dichterkrönungen – eine ähnliche gute Überlieferungssituation.3
1 Die folgenden Angaben nach John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A biobibliographical Handbook. 4 Bde. Berlin, New York 2006, Bd. 1, S. CXXIXf.: Matthäus Sassenhagen (1655), Jacob Klinkbeil (1658), Elias Thomae (1659), Jakob Sturm (1662), Katharina Margaretha Dobenecker, Magnus Daniel Omeis, Samuel Friderici, Sebastian Seelmann (alle 1667), Barbara Juliana Penzel, Johann Geuder, Maria Katharina Stockfleth, Regina Magdalena Limburgerin, Simon Bornmeister (alle 1668), Heinrich Arnold Stockfleth, Jacob Christoph Kirchmair, Johann Ludwig Faber, Johann Röling (alle 1669), David Nerreter (1670), Gertraud Moller (1671), Andreas Ingolstetter, Carl Friedrich Lochner, Johann Gabriel Maier, Johann Leonhard Stöberlein (alle 1674), Caspar Cöler (1675), Michael Kongehl (1676), Johann Achatius Lösch (1679), Elisabeth von Senitz (in den 1670er Jahren). In Birkens eigenem Register seiner Amtshandlungen als Hofpfalzgraf, das er auf den leeren Schlussblättern des Heftes mit der Kopie seines Adels- und Palatinatsdiploms führte, sind nur 13 Krönungen aufgelistet (vgl. PBlO.A.1, 29r/v, 30v). 2 Erhalten sind die Konzepte für Bornmeister (PBlO.C.29.1) Cöler (PBlO.C.24.9.1), Faber (PBlO.C.24.14.1), Geuder (PBlO.C.24.16.1), Kirchmair (PBlO.C.24.22.1), Klinkbeil (PBlO.C.24.23.1), Lochner (PBlO.C.24.24.1), Maier (PBlO.C.24.25.1), Messerschmied (PBlO.C.24.27.1), Nerreter (PBlO.C. 24.29.1), Röling (PBlO.C.24.31.1), Seelmann (PBlO.C.24.32.1) und Stöberlein (PBlO.C.24.35.1). Abgedruckt sind die bisher edierten Konzepte der Urkunden in den entsprechenden Bänden der Birken-Ausgabe. Vgl. außerdem: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearb. von Joachim Kröll. 2 Tle. Würzburg 1971 und 1974 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, VIII. Reihe 5 und 6). 3 Nach meinem Wissen existieren lediglich im Fall von Theodor Reinking und Johann Rist Überlieferungsbestände, die einen tieferen Einblick in die Praxis der Dichterkrönung durch die Hofpfalzgrafen gewähren. Allerdings fallen sie gegenüber den für Birken überlieferten Dokumenten https://doi.org/10.1515/9783110593129-055
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Auf der Grundlage dieser Materialfülle könnte man über Birkens Krönungen lange und ausführlich berichten. Jede einzelne personelle Konstellation wäre es (mindestens in kulturgeschichtlicher Perspektive) wert, im Detail vorgestellt zu werden. Glücklicherweise lässt sich vieles inzwischen leicht über die hervorragenden Kommentare der vorliegenden Bände der Birken-Ausgabe erschließen. Die folgenden Überlegungen verfolgen darum vorrangig das Ziel, Birkens Krönungen in eine neue Geschichte der Dichterkrönungen einzuordnen. Diese neue Geschichte unterscheidet sich von der geläufigen älteren Version durch eine grundsätzliche Verschiebung der Perspektive: Anstatt auf die Bedeutung der Dichterkrönung für die individuellen Biographien der gekrönten Dichter zu fokussieren4 oder allgemeine Aussagen über die Institution der Dichterkrönung zu machen, sollen die krönenden Hofpfalzgrafen als entscheidende ‚intermediäre‘ Akteure in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden.5 Dass diese Neuperspektivierung auch mit Blick auf Birkens Krönungen aufschlussreich sein dürfte, deutet das Zitat, das dem vorliegenden Beitrag seinen Titel gibt, bereits an. Die Formulierung stammt aus einem Gelegenheitsdruck aus Anlass der Krönung von Jakob Klinkbeil im Jahr 1658. „Gib uns die Musen-Krone“ ist dort ein Anagramm, das der (seinerseits gekrönte) Dichter Benjamin Ludwig aus den Buchstaben „Siegesmund von Bircken“ gebildet hat.6 Das Sprachspiel
spärlich aus. Vgl. Max Joseph Husung: Das Protokollbuch des Kaiserl. Hofpfalzgrafen Theodor Reinking I. In: Familiengeschichtliche Blätter 13/6 (Juni 1915), Sp. 171–178 und 13/8 (August 1915), Sp. 225–228; ders.: Das Protokollbuch des Kaiserl. Hofpfalzgrafen Theodor Reinking II. In: Familiengeschichtliche Blätter 14/2 (Februar 1916), Sp. 33–36; ders.: Das Protokollbuch des Kaiserl. Hofpfalzgrafen Theodor Reinking III. In: Familiengeschichtliche Blätter 14/4 (1916), Sp. 97–104 (mit Informationen über die vorgenommenen Dichterkrönungen); außerdem Otto Frick: Ein HofPfalz-Grafen-Diplom Johann Rists. Burg 1866; Johannes Bolte: Ein Dichterdiplom Johannes Rists. In: Archiv für Literaturgeschichte 15 (1887), S. 444–446; Johannes Dräseke: Johann Rist als Kaiserlicher Hof- und Pfalzgraf. In: Jahresbericht. Gymnasium mit Realprogymnasium in Wandsbek 17 (1889/1890), S. I–XXII; Ralf Schuster: Heinrich Papes Verzeichnis von Johann Rists Amtshandlungen als kaiserlicher Hofpfalzgraf. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung 9 (2015), S. 33–48. 4 Vgl. zuletzt die monumentale vierbändige Dokumentation von John Flood: Poets Laureate (Anm. 1). 5 Vgl. Claudius Sittig: Die Dichterkrönung als Instrument der Literaturförderung in der Frühen Neuzeit. In: Maecenas und seine Erben. Kunstförderung und künstlerische Freiheit – von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Jochen Strobel, Jürgen Wolf. Stuttgart 2015 (Maecenas 1), S. 155– 171. Zur Neubewertung der Bedeutung von intermediären Akteuren in der Frühen Neuzeit vgl. exemplarisch auch Hans Cools, Marika Keblusek, Noldus Badeloch (Hg.): Your Humble Servant. Agents in Early Modern Europe. Hilversum 2006. 6 AN Den WohlEhrenvesten/ Vorachtbaren/ Wohlgelahrten/ vnd Wohlbenannten Herrn JACOBUS Klinckebeil/ von Kalließ aus der Neumarck/ Röm. Käysl. Majest. offenbahren Notarius,
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hat Birken so gut gefallen, dass er die Formulierung am 15. Juni 1660 in seinem Tagebuch notiert7 und später auch in seine Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) aufgenommen hat. Sie erscheint dort im 9. Kapitel über die „unterschiedlichen Redgebänd-Arten“ als Beispiel unter den Anagrammen (§ 115). Ludwigs Wortspiel erscheint Birken „wol gebuchstabwechselt“, so heißt es, „weil er von einem Comite Palatino geredet/ dessen Amt ist/ unter andern auch MusenKronen oder Poetische LorbeerKränze in Käis. Maiest. hohem Namen auszutheilen.“8 Das Anagramm ist aber nicht nur ein Beispiel für eine gelungene poetische Sprachverwendung, sondern zugleich auch der unmittelbarste Beleg für die persönliche Machtposition, die Birken besaß: als der Krönende im Zentrum einer Gruppe von Gekrönten und Krönungsaspiranten. Wenn man den Blick auf die Krönenden richtet, dann lässt sich eine ‚Gebrauchsgeschichte‘ der Dichterkrönungen schreiben, die in der Tendenz von der geläufigen Einschätzung in der Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung entscheidend abweicht. Denn bisher hat man die Praxis der Dichterkrönung in der Regel als Indiz für die Heteronomie des literarischen Feldes angesehen. Vor dem Horizont eines modernen Ideals der künstlerischen Autonomie schien es zum einen befremdlich, dass die Entscheidung über die Auszeichnung der Dichter mit dem Lorbeerkranz in den Machtbereich der höchsten politischen Autorität fiel und dass sie eingebunden war in ein kompromittierendes System der Patronage, das dem Dichter die Rolle des Klienten zuwies und den Wert seiner Dichtung als Objekt in einer politisch fundierten Ökonomie des Gabentauschs bestimmte. Vor allem aber hat man, zum anderen, seit dem 16. Jahrhundert einen inflationären Anstieg der Krönungen beobachtet, der zur Folge hat, dass die ehemals hochgeschätzte symbolische Auszeichnung ihren Wert weitestgehend verliert. Der Grund für diese Entwicklung ist, dass das ursprünglich kaiserliche Recht zur Dichterkrönung nun auch von den Hofpfalzgrafen ausgeübt werden durfte. Immer häufiger, so lautet ein wichtiger Befund, lag solchen Krönungen ein ökonomisch fundiertes Kalkül des Ämter- und Titelkaufs zugrunde. Man hat die Praxis der Dichterkrönung daher – sowohl in ihrer frühen Bindung an die politische Autorität des Kaisers, als auch in ihrer Einbindung in eine frühneuzeitliche ‚Kultur der Ehre‘ –
gekrönten Poeten/ und zur Zeit bey der Fürstl. Sächß. LandesHauptmanschafft des Marggraff thumbs Niederlausitz/ Ampts SECRETARIUS über dessen glück-rühmlich auffgesatzte DichterKrone. Jena 1660, S. 1. 7 Die Tagebücher des Sigmund von Birken (Anm. 2), Teil 1, S. 19. 8 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy/ mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679, S. 150.
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als symptomatisch für einen älteren Zustand des Sozialsystems der Literatur angesehen: „Als die ersten deutschen Dichter geboren wurden,“ so hat Friedrich Paulsen formuliert, „wurden die letzten ‚Poeten‘ gekrönt.“9 Der vorliegende Beitrag vertritt gegenüber solchen Erzählungen von einer zunehmend anachronistischen Praxis und ihrem sinkenden Ansehen eine skeptische Position. Wenn man auf die Krönungspraxis der Hofpfalzgrafen fokussiert, zeigt sich, dass die Dichterkrönung nicht zwangsläufig als Indiz für die ‚Heteronomie‘ des literarischen Feldes in der Frühen Neuzeit zu verstehen ist; und es erscheint auch nicht zwingend, ihre Geschichte ausschließlich als Geschichte des Missbrauchs und Bedeutungsverlusts der Institution zu schreiben. – Wenn man pointiert formulieren will, kann man am konkreten Gebrauch der Auszeichnung durch die Hofpfalzgrafen stattdessen auch Momente der ‚Autonomisierung‘ beobachten. Und Birkens Dichterkrönungen bestätigen aus verschiedenen Gründen genau dieses neue Bild.
1 Inwiefern die eingangs vorgeschlagene Verschiebung der Perspektive zu einer Neubewertung der frühneuzeitlichen Praxis der Dichterkrönung beitragen kann, lässt sich leicht verdeutlichen, wenn man skizziert, wie die Geschichte vom Wertverlust und Bedeutungsverfall der Institution der Dichterkrönung im 17. Jahrhundert üblicherweise erzählt wird.10 Die ‚Fallhöhe‘ wird regelmäßig durch den Verweis auf den triumphalen Beginn der Tradition bestimmt: Petrarcas beispiellose Krönung am Ostersonntag des Jahres 1341 auf dem Kapitol in Rom erscheint als grandioser Akt der Selbstermächtigung des humanistischen Dichters.11 Der hohe Wert der Auszeichnung zeigt sich überdies daran, dass bereits kurz nach Petrarcas Krönung das
9 Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Dritte, erweiterte Auflage, hg. und mit einem Anhang fortgesetzt von Rudolf Lehmann. Berlin, Leipzig 1921, Bd. 2, S. 6. Die letzten Poetenkrönungen werden hier auf die Jahre 1743 und 1756 datiert (ebd., Anm. 1). 10 Die folgenden Überlegungen habe ich bereits an anderer Stelle ausführlicher und mit weiteren Belegen und Verweisen auf die vorliegende Forschungsliteratur ausformuliert, vgl. Sittig (Anm. 5). 11 Vgl. exemplarisch Marion Steinicke: Dichterkrönung und Fiktion. Petrarcas Ritualerfindung als poetischer Selbstentwurf. In: Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Hg. von ders., Stefan Weinfurter. Köln u. a. 2005, S. 427–446; Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert. Köln u. a. 2003 (Frühneuzeitstudien N. F. 4); ders.: Petrarcas Dichterkrönung. Das Verschwinden des Ereignisses in
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neu begründete Ritual von den Kaisern übernommen wird. In der Folge erscheinen viele der Krönungen (die immer auch an die grandiosen Anfänge erinnern) als herausgehobene kulturpolitische Ereignisse.12 Die Tradition wird mehr oder weniger ungebrochen bis um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gepflegt, als mit der Abdankung des letzten Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation notwendig auch die Praxis der Dichterkrönung ihr Ende findet. Im Laufe der Jahre scheint der frühe Glanz des feierlichen Rituals und der verliehenen Würde allerdings zusehends verblasst zu sein. Das zeigt um die Mitte des 17. Jahrhunderts – exakt zu der Zeit, als Birken seine Dichterkrönungen vornimmt – überdeutlich der Briefverkehr, der die Krönung eines Herrn Georg Strube durch Johann Rist im Jahr 1665 vorbereitet.13 Johann Becker aus Havelberg, ein Freund des Wedeler Pastors, hatte den Kontakt zwischen Rist und Strube hergestellt und Rist um die Krönung gebeten. Strube hatte Rist daraufhin offensichtlich ein paar poetische Schriftproben zukommen lassen, und bereits nach einer ersten kursorischen Lektüre war Rist in seiner Eigenschaft als kaiserlicher Hofpfalzgraf gerne bereit, Strube auf Empfehlung von Herrn Becker und wegen der unter Beweis gestellten Eignung zu einem Kaiserlichen Poeten zu creieren und zu bestätigen, und solches zwar in optima forma vermittelst eines gar schönen Diplomatis, welches von 8 oder 10 Blättern des besten weissen Pergamens in rot Saffian, über und über vergoldet, wird gebunden und mit lauter Fraktur- und Kanzlei-Buchstaben auf das zierlichste geschrieben, wofür ich dem Schreibmeister allein 4 Rthllr. muss bezahlen. Unterdessen will ich mit den 2 Rosenobeln, welche ganz und gar auf das Diploma gehen, also dass ich pro labore keinen Heller bekomme, zufrieden sein, und dasselbe meinem Herrn Becker zu Gefallen, als gegen welchen ich mich gern wegen des damaligen überschickten köstlichen Trunkes dankbar erzeigen wollte, angesehen ich das Gute, so mir widerfähret, lange liebe Zeit kann behalten. Will demnach mein Herr die 8 Rthllr. zu dem Diplomate Zeigern dieses zustellen, so will ich alsobald alles dasjenige, was dazu gehört, einkaufen, den Band verfertigen und die Privilegia, Krone und Gnade, welche ihm aus Kaiserlicher Macht und Gewalt conferieret werden, durch den Schreibmeister verzeichnen und mit meinem grossen Palatinat-Insiegel corroborieren lassen.14
seiner Erzählung. In: Petrarca und die römische Antike. Hg. von Ulrike Auhagen u. a. Tübingen 2005 (NeoLatina 9), S. 219–232. 12 Für knappe Hinweise vgl. Sittig (Anm. 5), S. 156–160. 13 Strubes Krönung steht im Zentrum eines wichtigen Aufsatzes von Theodor Verweyen: Dichterkrönung. Rechts- und sozialgeschichtliche Aspekte literarischen Lebens in Deutschland. In: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Aufsätze. Hg. von Conrad Wiedemann. Heidelberg 1979 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 1), S. 7–29. 14 Zit. nach Dräseke (Anm. 3), S. V; vgl. auch Bolte (Anm. 3).
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Auffällig viel ist hier von erwiesenen und zu vergeltenden Gefälligkeiten und entstehenden Kosten die Rede. Nichts will Rist von den nötigen Zahlungen für sich selbst behalten. Alles tut er Herrn Becker zuliebe, der ihm einmal einen „köstlichen Trunk“ geschickt hat. Allenfalls könne sich Herr Strube, so fügt Rist hinzu, wenn er wollte, auf ähnliche Weise erkenntlich zeigen: „Will dann der Herr Strubius mit etwa einem Fässlein des stärksten Havelberger Biers, welches gar leicht zu Wasser auf Hamburg kann gebracht werden, seine Dankbarkeit sehen lassen, will ich solches zu seiner eigenen Discretion gestellet haben.“15 Allerdings scheint Rist dieser Vorschlag im Anschluss doch bedenklich gewesen zu sein. Jedenfalls nimmt er ihn in einem zweiten Brief zurück, auch weil er nicht weiß, wie es um die Finanzen des Herrn Strube bestellt ist. Das Geld, das er für das Diplom ausgelegt hat, ist ihm wichtiger als das Bier, das er auf jeden Fall bekommen will (aber doch lieber selbst bezahlen), weil er „viele Liebhaber der Märkischen Biere darauf vertröstet“ hat. – Ob Rist am Ende tatsächlich sein Bier bekommen hat, ist nicht überliefert – sicher ist nur, dass Strube einen Monat später ein gekrönter Dichter war. Es gab vermutlich keinen rituellen Krönungsakt, sondern es blieb, jedenfalls von Rists Seite, bei der brieflichen Übersendung des Diploms. Im Begleitschreiben betont er, dass er die Gedichte noch einmal „etwas fleissiger betrachtet und daraus eine sonderliche Geschicklichkeit vermerket“16 habe. Und auch in der Urkunde formuliert er, dass er Strubes lateinische und deutsche Dichtungen „nicht nur mit einer sonderbaren Lust, sondern auch mit höchster Verwunderung […] angesehen und mehr denn einmal durchgelesen“ habe.17 Es handelt sich noch immer um eine Dichterkrönung, aber die Diskrepanz zwischen der triumphalen Feier am Ostersonntag des Jahres 1341 und dem alltäglichen Rechtsgeschäft im April des Jahres 1665 könnte größer kaum sein. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts war ein solcher Vorgang allerdings durchaus nichts Ungewöhnliches, er entsprach vielmehr einem verbreiteten Usus. Darum erscheint es durchaus naheliegend, die Geschichte der Dichterkrönung als Geschichte des Missbrauchs und der Profanierung eines ursprünglich grandiosen Konsekrationsrituals zu erzählen. Der entscheidende Auslöser für den Niedergang lässt sich schnell identifizieren: Verantwortlich war die Delegierung des Rechts zur Dichterkrönung an die Hofpfalzgrafen. Spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die Dichter in der Regel nicht mehr durch den Kaiser persönlich gekrönt, sondern immer häufiger durch dessen Stellvertreter, die im Rahmen von verschiedenen Verwaltungsaufgaben auch das Recht zur Dich-
15 Dräseke (Anm. 3), S. V. 16 Ebd., S. VII. 17 Ebd., S. XII.
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Abb. 1: Kaiserliche Dichterkrönungen, ca. 1400–1806. Diagramm nach Flood, Poets Laureate (Anm. 1), S. CXCIV.
terkrönung ausübten.18 Diese Entwicklung hatte – nach geläufiger Einschätzung – die Konsequenz, dass die Dichterkrönung entscheidend an Wert verlor. Die Gründe für diesen Wertverlust liegen auf der Hand: Die Autorität des Kaisers wirkte in den meisten Fällen nur noch vermittelt durch seine Stellvertreter. Der Gekrönte erhielt die Krone in der Regel also aus ‚zweiter Hand‘. Die Dichterkrone verlor darüber hinaus an Wert, weil sie inflationär häufig verliehen wurde, denn die Hofpfalzgrafen haben ausgiebig von ihrem Recht zur Krönung Gebrauch gemacht. Mit der steigenden Zahl derjenigen, die mit der entsprechenden ‚Konsekrationsmacht‘ ausgestattet sind, steigt auch die Zahl der Dichterkrönungen. Die Korrelation erscheint unmittelbar evident, wenn man die Daten aus John Floods monumentalem Kompendium statistisch erfasst und visualisiert (Abb. 1). Und schließlich hat zum Wertverlust noch beigetragen, dass die Hofpfalzgrafen ihr Amt naturgemäß zur Existenzsicherung genutzt haben und mit der Auszeichnung nicht sparsam umgegangen sind. Das Beispiel von Johann Rist zeigt deutlich, dass es dabei nicht nur um Gefälligkeiten ging, sondern dass auch materielle Gegenleistungen für die Dichterkrönung im Spiel waren. Rist betont zwar mehrfach, dass die poetische Begabung von Herrn Strube ein zentraler Aspekt für die Krönung gewesen sei, aber er erwähnt auch, dass er Strubes Fürsprecher Becker noch einen Gefallen schuldig war. Er eröffnet dem Krönungsaspiranten außerdem mindestens die Möglichkeit, seine Dankbarkeit durch ein Fass Bier zum Ausdruck zu bringen. Und schließlich lassen seine Aussagen über die Mate-
18 Vgl. Jürgen Arndt: Zur Entwicklung des kaiserlichen Hofpfalzgrafenamtes von 1355 bis 1806. In: Hofpfalzgrafen-Register. Hg. vom Herold. Verein für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften zu Berlin. Bearb. von Jürgen Arndt. Bd. 1. Neustadt a. d. Aisch 1964, S. V–XXIV.
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rialkosten und das Schreiberhonorar darauf schließen, dass die Dichterkrönung auch eine geschäftliche Transaktion ist – in diesem Fall allerdings nur unter der Hand, denn der genannte Preis von vier Talern (von denen Rist behauptet, dass sie lediglich das Schreiberhonorar und die Materialkosten decken) ist im Vergleich mit Rists Angaben in anderen Fällen doppelt so hoch, und so dürften ihm selbst zwei Taler als Honorar geblieben sein.19 Dichterkronen wurden also verkauft und mit ihnen die gewährten Privilegien: Das ist das denkbar schlechteste Szenario für die Auszeichnung mit dem Lorbeerkranz, weil dieser seine Strahlkraft als Symbol für den Ruhm gerade aus seiner materiellen Wertlosigkeit zieht. Die Hofpfalzgrafen, so könnte man sagen, spielen das Spiel nicht mehr nach den alten Regeln. Sie verleihen die Ehre gegen Geld. Poesie spielt bei dieser ganz und gar ‚prosaischen‘ Transaktion offensichtlich keine Rolle. Die Qualität eines poetischen Textes war kaum noch von Bedeutung. Möglicherweise war die Fähigkeit, ein Gedicht zu verfassen, die formale Bedingung dafür, dass ein Kandidat für die Auszeichnung mit dem Lorbeer in Betracht kam, aber in letzter Konsequenz ging es wohl um die Konversion von sozialem und ökonomischem Kapital (Beziehungen und Gebühren) in kulturelles Kapital (Titel).20 „Allzuoft“, so schreibt John Flood, „degenerierte die Dichterkrönung – vor allem im 17. Jahrhundert – zu einer reinen Geschäftssache“.21 Während bei Flood nur ein leichtes Bedauern anklingt, konnte Friedrich Ebeling im Jahr 1883 seine profunde Enttäuschung darüber nicht verbergen, dass mit der Delegierung des Rechts zur Dichterkrönung an die Hofpfalzgrafen „der Entwürdigung und dem Mißbrauche jener feierlichen Handlung Thür und Thor geöffnet“22 waren. Und auch Richard Newald hat die Entwicklung mit kräftigen Worten verurteilt: […] Die Würde [verliert] bald an Bedeutung, da die Krönung schon vor der Mitte des 16. Jahrhunderts von jedem kaiserlichen Pfalzgrafen (comes palatinus) vorgenommen werden konnte; so hatten die Rektoren oder namhafte Gelehrte wie Nicodemus Frischlin oder Paulus Melissus Schede als Inhaber der comitiva sacri palatii das sehr bald mißbrauchte Recht, Dichterkrönungen nach eigenem Ermessen vorzunehmen, so daß es mitunter als
19 Vgl. Flood, Introduction: The Laureation of Poets in the Holy Roman Empire. In: Ders.: Poets Laureate (Anm. 1), Bd. 1, S. XLVII–CCLV, hier S. CXXXIf. 20 Die Formulierung in Anlehnung an Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 2001. Vgl. zu dieser generellen Perspektive auf die Dichterkrönungen auch Schirrmeister: Triumph des Dichters (Anm. 11). 21 John L. Flood: Viridibus lauri ramis et foliis decoratus. Zur Geschichte der kaiserlichen Dichterkrönungen. In: Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich. Hg. von Anette Baumann u. a. Köln u. a. 2003, S. 353–378, Zitat S. 368. 22 Friedrich W. Ebeling: Friedrich Taubmann. Ein Culturbild. Leipzig 1883, S. 134.
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Ehre empfunden wurde, nicht gekrönt worden zu sein. […] Die schnell zunehmende Entartung der Würde zeigt sich darin, daß die Bewerbungen eitler Nichtskönner kaum geprüft wurden oder von einträglichen Geschenken an den entscheidenden Pfalzgrafen begleitet wurden.23
2 Eine solche Beschreibung der historischen Entwicklung ist natürlich zutreffend. Dass die Dichterkrönung ihren exklusiven Charakter verlor, haben schon die Zeitgenossen vielfach polemisch registriert.24 Scharf angegriffen wurden die Hofpfalzgrafen natürlich insbesondere wegen des unterstellten schnöden ökonomischen Kalküls und der geringen Ansprüche, die sie an die Qualifikation der
23 Richard Newald: Dichterkrönung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Auflage. Hg. von Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr. Bd. 1. Berlin 1958, S. 261 f. 24 Zur zeitgenössischen Kritik an den Dichterkrönungen vgl. Flood: Introduction (Anm. 19), S. CCXIV–CCXXXVI. Dass Gottfried Wilhelm Sacer, der pseudonyme Autor der in diesem Zusammenhang häufig genannten Satire auf die Dichterkrönungen, die unter dem Titel ‚Reime dich oder ich fresse dich‘ im Jahr 1673 erschien, seinerseits gekrönter Dichter war, wäre allerdings ebenso zu problematisieren wie etwa das scharfe Urteil Friedrich Wilhelm Ebelings über Bartholomäus Bilovius (1572–1615), der als Musterbeispiel eines unverantwortlich handelnden (allerdings seinerseits gekrönten) Hofpfalzgrafen gilt: „Die Pfalzgrafen teilten mit verschwenderischer Hand an Freunde, Bekannte und Schützlinge den Lorbeer mit oder ohne Comitiv aus, unbekümmert um die Tüchtigkeit der Empfänger. Sie machten aus dem Titel ‚poeta laureatus‘ einen Handelsartikel, verkauften sogar die Befugnis zur Dichterkrönung an nicht gekrönte Subjekte. Es gab unter den Inhabern von Comitiven noch unternehmendere Köpfe, welche diesen Schacher zur schamlosesten Industrie erweiterten. Sie zogen sonderbar verkleidet von Land zu Land, von Ort zu Ort, kündigten ihre Ankunft wie Seiltänzer und Bärenführer mit Pauken und Trompeten und Umritten an, laut ausrufend, dass sie mit kaiserlicher Vollmacht versehen wären, Dichter zu krönen und durch Krönung poetische Talente zu erwecken. Zwei der frechsten Kumpane waren Willichius Westhov und Bartholomäus Bilovius aus Stendal, ein aus mehreren Ämtern vertriebener Gelehrter, den Hunger zum Feilbieten von Dichterkränzen trieb und der auf seiner Landstreicherei auch Sachsen heimsuchte und mit besonderem Erfolg in Leipzig und Wittenberg seine Trödelbude aufschlug. Hier verkaufte er die Insignien des Dichterruhmes Stück um Stück für 8 Thaler“ (Friedrich Wilhelm Ebeling: Friedrich Taubmann. Ein Culturbild. Leipzig 1883, S. 134 f.). Allem Anschein nach ist für das negative Bild von Bilovius zu guten Teilen Friedrich Taubmann verantwortlich, seinerseits ein gekrönter Poet, dem an der Würde der Auszeichnung gelegen war und der sich mit seinem ehemaligen Freund Bilovius zerstritten hatte (vgl. insgesamt Karl Bülowius: Bartholomäus Bülow genannt Bilovius a Bilav. Comes palat. et poeta laureatus etc. Eine Zusammenstellung der über ihn vorhandenen Nachrichten. (Aus der Geschichte der Familie Bülowius). Masch.schr. Dresden 1932).
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Kandidaten hatten. Allein der Blick auf die große Zahl der Dichterkrönungen reicht aus, um plausibel zu machen, dass die Würde nicht mehr viel bedeutet haben kann. Allerdings ist die statistische Darstellung der Krönungen durch die Perspektive möglicherweise verzerrt: Wenn man nicht nur die Gekrönten erfasst, sondern auf die Krönenden fokussiert, ergibt sich ein anderes Bild. Dann zeigt sich nämlich, dass die Masse der Krönungen gar nicht auf die große Zahl der Hofpfalzgrafen zurückzuführen ist. Tatsächlich sind es (jedenfalls mit Blick auf die Fälle, in denen die Akteure namhaft gemacht werden können) nur wenige Hofpfalzgrafen, die für die Mehrzahl der Krönungen verantwortlich zeichnen.25 In der Zeit zwischen 1570 und 1612 sind es neben dem Kaiser vor allem Paul Schede Melissus (32 Krönungen),26 Nikolaus Reusner (16 Krönungen), Heinrich Pantaleon (9 Krönungen)27 sowie Bartholomäus Bilovius und Johann Georg Gödelmann (je 6 Krönungen). Kaiser Rudolph II. hat im genannten Zeitraum ebenfalls Dichterkrönungen vorgenommen (20 Krönungen), allerdings deutlich weniger als Paul Schede Melissus. 19 weitere Personen sind für insgesamt 21 Dichterkrönungen verantwortlich. Ganz offensichtlich geht die Mehrzahl der Krönungen also auf das Konto einzelner Akteure. Und dieser Eindruck bestätigt sich auch beim Blick auf einen zweiten Zeitraum: Zwischen 1612 und 1637 steht unangefochten der Baseler Pfarrer und Historiker Johann Jacob Grasser an erster Stelle (30 Krönungen),28 gefolgt von einer Reihe von Hofpfalzgrafen, die drei bis sechs Krönungen vorgenommen haben (Hornmold, Pareus, Hantschmann, Hoenegg, Schösser, Florus, Grünthal). Und es lassen sich noch 27 weitere Personen namhaft machen, die jeweils einen oder zwei Dichter gekrönt haben. Eine Dichterkrönung von der Hand des Kaisers selbst hat es im Zeitraum gar nicht gegeben. Und wenn man schließlich, drittens, den Zeitraum zwischen 1653 und 1685 in den Blick nimmt, in dem auch Birken seine Dichterinnen und Dichter gekrönt hat, dann sieht man,
25 Die folgenden Angaben wiederum nach dem wichtigen Kompendium von Flood: Poets Lau reate (Anm. 1). Überlegungen zur Belastbarkeit der Zahlen finden sich in Sittig (Anm. 5), S. 166– 169. 26 Vgl. Felicitas Ritter: Schede, gen. Melissus, Paul. In: Hofpfalzgrafen-Register (Anm. 18), S. 51– 55a, mit einer unvollständigen Liste der Dichterkrönungen. 27 Zu Pantaleon und seinen Krönungen vgl. Peter P. Rohrlach: Pantaleon (Pantlin, Bantlin), Heinrich, 1566 (1570)–1595. In: Hofpfalzgrafen-Register (Anm. 18), Bd. 1, S. 113–129. 28 Vgl. Alfred R. Weber: Johann Jacob Grasser (1579–1627). In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 89 (1989) S. 41–133, bes. S. 91 f. sowie Beilage II: Von J. J. Grasser gekrönte Poëtae laureati Caesarei, S. 129–133. Die Zahl der oben genannten Krönungen basiert auf den Angaben bei Flood (Anm. 1), Bd. 4, S. 2404. Weber nennt dagegen 23 sicher nachweisbare, zwei sehr wahrscheinliche und drei fragliche Krönungen.
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dass neben ihm hauptsächlich Rist (35) und Zesen (19) die Dichter mit dem Lorbeerkranz krönten.29 Die scheinbar einfache Korrelation zwischen der großen Zahl der Hofpfalzgrafen und der großen Zahl der Dichterkrönungen stellt sich also bei genauerer Betrachtung komplexer dar: Tatsächlich ist für die Mehrzahl der Krönungen nur eine kleine Gruppe von Hofpfalzgrafen verantwortlich. Der Befund ist insofern interessant, als man auf die Frage, welche Eigenschaft all diese Hofpfalzgrafen verbindet, eine eindeutige Antwort geben kann: Schede, Reusner, Bilovius, Grasser, Hornmold, Pareus, Hantschmann, Schösser, Westhovius, Florus, Rist und Birken waren allesamt selbst gekrönte Dichter. Und das Gleiche gilt auch für die Mehrzahl derjenigen, die nur wenige Dichterkrönungen vorgenommen haben. Es hat also nicht jeder beliebige Hofpfalzgraf auch Dichter gekrönt, sondern es gibt eine (allerdings kaum explizit formulierte) Voraussetzung: Dichterkrönungen wurden hauptsächlich von gekrönten Dichtern vorgenommen. Darum wäre es im Fall von Birkens eigener Krönung im Jahr 1646 eine unzulässige Verkürzung, wenn man Martin Gosky, der Birken den Lorbeerkranz aufsetzte, lediglich als ‚Leibarzt‘ Herzog Anton Ulrichs bezeichnete – stattdessen wurde Birken durch Martin Gosky gekrönt, einen Hofpfalzgrafen, der nicht nur die juristischen Kompetenzen besaß, sondern als gekrönter Dichter auch eine weitere entscheidende Voraussetzung erfüllte. Und so ist Birkens Diplom auch unterzeichnet: „Martinus Gosky Doctor. Archiater et Comes Palatinus Poeta Coronatus in fidem scripsit.“30 Für den engen Zusammenhang zwischen dem gekrönten Status des Krönenden und der Krönung von anderen Dichtern lassen sich noch weitere Belege beibringen: In einigen Fällen, in denen Dichterkrönungen von gekrönten Dichtern vorgenommen wurden, die selbst nicht zu Hofpfalzgrafen bestellt und darum auch nicht mit dem Recht zur Krönung ausgestattet waren, zeigt sich besonders deutlich, dass die Dichterkrönungen als entscheidende Voraussetzung wahrgenommen wurde.31 In anderen Fällen musste man, obwohl die juristische Kom-
29 Für genauere Angaben vgl. Sittig (Anm. 5), S. 167–169. 30 PBlO.C.111.1, fol. Ar. 31 Das gilt etwa für Heinrich Glarean (vgl. Karl Schottenloher: Kaiserliche Dichterkrönungen im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation. In: Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters (Festschrift für P. Kehr). München 1925, S. 648–673, hier S. 661) oder Nicodemus Frischlin (vgl. David Friedrich Strauss: Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte in der zweiten Hälfte des sechszehnten [sic!] Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1856, S. 98 f., Anm. 2) – insofern unterläuft Newald in seiner oben zitierten Passage (Anm. 23) ein Lapsus, wenn er neben Schede auch Frischlin als einen würdigen Krönenden nennt.
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petenz gegeben war, zuerst noch einen geeigneten Krönenden finden, mitunter wurde sogar erst noch eine Krönung des Krönenden vorgenommen.32 Wenn also der Befund stimmt, dass Dichterkrönungen in der Regel von gekrönten Dichtern vorgenommen wurden, dann geht vermutlich auch die Einschätzung fehl, dass die Krönenden lediglich in ihrer Funktion als Stellvertreter des Kaisers agiert haben. Die jeweiligen Hofpfalzgrafen, denen man bisher nur eine Vermittlerrolle zugestanden und ein rein finanzielles Kalkül unterstellt hat, haben doch eine entscheidende Rolle gespielt. Für eine solche Annahme spricht etwa, dass sich manche Poeten, die Paul Schede Melissus gekrönt hat, nicht poeta laureatus oder poeta caesareus nennen, wie es üblich gewesen wäre, sondern poeta melisseus.33 Eine ähnlich starke Zentrierung auf die Person des Krönenden ist im Fall von Rist zu beobachten: etwa wenn er sich in seinem Dankgedicht Rüstiges Vertrauen zu Gott im Jahr 1658 bei vier gekrönten Dichtern gemeinsam für den Zuspruch in schweren Zeiten bedankt, und dabei seinen eigenen Status als ihr „Kröner“ mehrfach hervorhebt,34 oder wenn er Georg Greflinger, der als erster
32 Als im Jahr 1629 an der Universität Altdorf, die das entsprechende Privileg als Institution besaß, eine Dichterkrönung vorgenommen werden sollte, ließ man erst den Dekan der Philosophischen Fakultät von anderer Seite zum Dichter krönen, damit er anschließend seinerseits die gewünschte Krönung vollziehen konnte: „Man hatte nemlich damals noch die Meinung, daß, wie bei Doktoren und Magistern, nur der, der die Würde selbst hat, solche andern ertheilen könne, also wer einen andern Poëten kreiren könne, selbst Poët, oder wenigstens Professor der Poëtik, seyn müsse.“ (Georg Andreas Will: Geschichte und Beschreibung der Nürnbergischen Universität Altdorf. Altdorf 1795, S. 97; ein Hinweis auf den Vorgang bei Flood: Poets Laureate [Anm. 1], S. 1916). 33 Vgl. dazu die Bemerkungen bei Flood: Introduction (Anm. 19), S. CXXVIf. 34 Das zeigt sich bereits im Titel: Rüstiges Vertrauen zu Gott: Poetisch auffgesetzet/ und Den Edlen/ WolEhrenvesten/ Hochgelahrten/ Sinnreichen und Kunstberühmten Herren M. Tobias Petermann/ Martin Stübritzen/ Justus Sibern/ Constantin Christian Dedekinden Allen Vieren/ Kaiserlichen/ Gekröhnten/ und sämmtlichen (Einen Eintzigen außgenommen) Ristianischen Poe ten zur Dankbahrkeit für Jhre wolerhaltene/ mittleidentliche Trostschreiben/ übersendet/ von Ihrem Kröhner/ dem Rüstigen. O. O. 1658. Der Poet, der (entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung) nicht von Rist gekrönt worden war, ist Justus Sieber, der den Lorbeerkranz bereits im Jahr 1652 von Johann Georg von Oppel empfangen hatte (vgl. Justus Sibers Lorber-Kranz. Görlitz 1652). Rist hat sein ‚Rüstiges Vertrauen‘ in seiner ‚Neüe[n] Musikalische[n] Kreutz- Trost- Lobund DankSchuhle‘ (Lüneburg 1659) erneut abgedruckt (S. 80–83) und dort einleitend noch einmal explizit formuliert, dass er von den vier Adressaten lediglich „dreien […] die Poetische Lorbeer Krohn aufgesetzet“ habe (ebd., S. 79). Vgl. Johann Rist, Michael Jakobi: Neue Musikalische Kreuz-, Trost-, Lob- und Dank-Schule. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin u. a. 2018 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke 97), S. 88–92. – Für hilfreiche Hinweise auf Siebers Krönung bedanke ich mich bei Ralf Schuster, C. S.
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in den Genuss einer Krönung durch Rist gekommen ist, als „meinen Aller Ersten Poeten“ bezeichnet.35 Man kann in der Entwicklung, dass die Person des Hofpfalzgrafen für die Dichterkrönung immer größere Bedeutung gewinnt, mit guten Gründen ein Symptom „für das sinkende Ansehen der Bindung der Auszeichnung an die kaiserliche Autorität“ sehen,36 aber die veränderte Konstellation lässt sich auch anders deuten: Das wichtigste rechtlich-politische Instrument zur symbolischen Auszeichnung von Literaten war vom Kaiser in die Hände der Dichter selbst gelegt worden, und die Konsekrationsmacht erschien in einer ganzen Reihe von Fällen nicht in erster Linie von einer externen Instanz delegiert. Es war vielmehr das symbolische Kapital des Krönenden, das bei der Krönung eine wichtige Rolle spielte. Mit anderen Worten: Man kann am Beispiel der Dichterkrönungen durch die Hofpfalzgrafen in der Frühen Neuzeit beobachten, wie sich das literarische Feld selbst organisiert.
3 Dass diese Perspektive auf die Dichterkrönungen eine Tendenz sichtbar macht, zeigt sich auch an Birkens Krönungspraxis. Motiviert war sie sicher nicht durch ein banales ökonomisches Kalkül – auch wenn Birken (nach Ausweis der Eintragungen in seinen Tagebüchern) durch seine Krönungen in gut zwei Jahrzehnten insgesamt 130 Reichstaler verdient hat.37 Über die finanziellen Kalküle, die Birken mit seinem Erwerb der Hofpfalzgrafenwürde verfolgte, und darüber, dass sich die Strategie nicht auszahlte, hat Hartmut Laufhütte das Wichtigste bereits gesagt: Das in vieljähriger Bemühung und unter demütigenden Umständen erlangte Palatinat [1655] war nichts […] [Solides]. Es erwies sich sogleich und langfristig als die Enttäuschung überhaupt: Erstens kam es, als es dann endlich kam, zu spät als daß es dem Herrn von
35 So in der Vorrede zur deutsch-lateinischen Ausgabe der ‚Neuen Himmlischen Lieder‘ aus dem Jahr 1658. (Johann Rist: Neue Himmlische Lieder. Krit. hg. und komment. von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 391–397, Zitat S. 395). Vgl. dazu Astrid Dröse: Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert. Berlin 2015 (Frühe Neuzeit 191), S. 127 f. 36 Flood: Viridibus lauri ramis et foliis decoratus (Anm. 21), S. 269; vgl. auch ders.: Introduction (Anm. 19), S. CXXVIf. 37 Vgl. Rudolf Endres: Das Einkommen eines freischaffenden Literaten in der Barockzeit in Nürnberg. In: Quaestiones in musica. Festschrift für Hans Krautwurst. Hg. von Friedhelm Brusniak, Horst Leuchtmann. Tutzing 1989, S. 85–100, hier S. 95.
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Birken, in welchen es den schlichten Betulius verwandelte, die ersehnte Verbindung mit seiner Rieterin Silvia ermöglicht hätte. (Der Herbeiführung einer Andeutung von Standesgleichheit hat das ganze Unternehmen offenbar primär gegolten.) Zweitens verweigerte ihm die Freie Reichsstadt, in der er lebte, einige der Privilegien, auf die er nun Anspruch zu haben glaubte, vor allem Abgabenfreiheit und die Zulassung als Anwalt und Notar, die endlich eine ordentliche Existenzmöglichkeit geboten hätte. Von den Amtshandlungen aber, drittens, die zu verrichten ihn das kaiserliche Diplom autorisierte […], ließ sich nicht leben. Gleich zu Beginn schon mußte er die goldene Ehrenkette, die zu den Insignien der neuen Würde gehörte, versetzen.38
Der finanzielle Gewinn, der für Birken mit den Dichterkrönungen verbunden war, wird also kaum entscheidend gewesen sein. Auffälliger ist ohnehin Birkens außerordentlich selbstbewusster Gebrauch des Instruments der Dichterkrönung. Das vom Kaiser gewährte Privileg verstand er ganz offensichtlich als Auftrag, die zeitgenössischen Dichter zu fördern. Der Anspruch, die Auszeichnung mit vollen Händen auszuteilen, findet sich bereits in Benjamin Ludwigs oben zitierter Forderung „Gib uns die Musen-Krone“, die im folgenden Gedicht selbst noch weiter ausformuliert wird: „Uns Musen gieb die Krone/ | Vornemblich weil diß Pfand | Vom hohen Kaysers-Throne | Dir selbst ist zugesandt […].“39 Und so kommentiert auch Birken selbst seine Krönungspraxis, etwa im Krönungsdiplom für David Nerreter: „Den Dichtern […] gehören […] Kronen und Ehren als Belohnungen der Tugend. Und diese, die ihnen Apoll geweiht hat und die seit so vielen Jahrhunderten von den dahingegangenen Kaisern verliehen worden sind, haben den Gebrauch der Dichterkrönungen bis in unsere Zeiten fortgepflanzt. Sie sind nun in Stellvertretung den Händen der kaiserlichen Hofpfalzgrafen anvertraut.“40 Als ein solcher Stellvertreter des Kaisers agiert Birken sehr selbstbewusst, und er legitimiert seine Praxis mit Nachdruck durch den Hinweis, vom Kaiser nicht nur
38 Hartmut Laufhütte: Poetenwürde und literarisches Dienstleistungsgewerbe im 17. Jahrhundert. Am Beispiel des Pegnesischen Blumenordens. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 155–177, Zitat S. 157. 39 AN Den WohlEhrenvesten/ Vorachtbaren/ Wohlgelahrten/ vnd Wohlbenannten Herrn JACOBUS Klinckebeil (Anm. 6), S. 2. 40 „Coronae etiam ac Honores, virtutis praemia, debentur: eaquè ipsis ab Apolline dicatae, et tot retrò seculis à Divis Jmperator dari solitae, orem Coronationis in nostra usquè tempora propagârunt, nunc manibus Comitum Caesarei Palatii vicariis delegatae.“ (Sigmund von Birken: Krönungsurkunde für David Nerreter, 29.7.1670. In: Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Berlin 2012 [Werke und Korrespondenz 13.1], S. 314–317, Übersetzung ebd., S. 825–828, Zitat S. 827).
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„gefähigt“, sondern auch „befehligt“ worden zu sein, „die Kunstdichtende mit Lorbeerlaub zu krönen“.41 Ein Aspekt, der deutlich macht, welch hohen Stellenwert Birken der Dichterkrönung beimaß, zeigt sich an den Urkunden, die Birken in enger formaler Anlehnung an das Vorbild seiner eigenen Krönungsurkunde verfasste: Regelmäßig stellte er der rechtsverbindlichen Dispositio eine lange programmatische Arenga voran, in der die Würde der Poesie und der Poeten und ihr Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung betont wird.42 Wenn man die Krönungsurkunden als serielles Quellenkorpus betrachtet, ist besonders auffällig, dass Birken diesen programmatischen Textteil der Urkunde immer wieder neu arrangierte und ausstaffierte. Nach Ausweis der erhaltenen Konzepte scheint er den Anspruch gehabt zu haben, jede Arenga individuell zu gestalten. Die Diplome für Klinkbeil (1658), Seelmann und Friderici (alle 1667), Geuder, Bornmeister und Faber (alle 1668) bieten jeweils verschiedene Versionen. In der Urkunde für Kirchmair (1669) greift Birken erstmals auf ein älteres Diplom (für Klinkbeil) zurück, aber noch im selben Jahr entwarf er für Röling wiederum eine neue Arenga. Das Diplom für Nerreter (1670) rekurriert wieder auf eine ältere Urkunde (Bornmeister); die Texte für Stöberlein und Maier aus dem Jahr 1674 sind dagegen wiederum neu. Die Urkunden für Lochner, Messerschmied (beide 1674) und Cöler reproduzieren wiederum ältere Formulierungen. Die Bedeutsamkeit, die Birken im Kontext seines Urkundenformulars solchen poetologischen Argumentationsgängen beigemessen hat, zeigt sich auch daran, dass er zwei dieser Texte (die für Röling und Geuder) im Jahr 1679 in seine Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst aufnahm.43 Ein weiterer Aspekt, der deutlich macht, dass Birken sein Krönungsprivileg als literaturpolitisches Instrument einsetzte, zeigt sich an seiner Praxis, den Lorbeerkranz nicht nur zur individuellen Auszeichnung von Dichtern zu verleihen; er nutzte die Dichterkrönung darüber hinaus als Teil des Rituals zur Kooptation von Dichtern in seinen „gekrönten“ oder „ädel-gekrönten“ Pegnesischen Blumen-
41 Sigmund von Birken an Maria Catharina Stockfleth, 25.11.1668. In: Sigmund von Birken: Floridans Amaranten-Garte. 2 Teile. Hg. von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Tübingen 2009 (Werke und Korrespondenz 1), S. 727–729, Zitat S. 728. 42 Vgl. dazu die Hinweise von Klaus Garber unter der Überschrift „Palatinatsurkunden und Poe tologie“. In: Ebd., S. CXIIf. 43 Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 8), S. 517–523 und S. 524–530. Dazu Theodor Verweyen: Daphnes Metamorphosen. Zur Problematik der Tradition mittelalterlicher Denkformen. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen, Klaus Haberkamm. Bern, München 1972, S. 319–379.
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orden.44 Birken unterscheidet sich in diesem Versuch, das Ansehen seiner Sprachgesellschaft durch die Krönung ihrer Mitglieder zu steigern, nicht von anderen Vorsitzenden der konkurrierenden zeitgenössischen Sprachgesellschaften:45 Johann Rist führte in seinem Elbschwanenorden ostentativ den Gesellschaftsnamen „Palatin“ und stellte bereits in der Satzung die Forderung auf, die Mitglieder sollten „alle Gelärte Leute/ Sinreiche Geister/ künstliche Mäister/ und daferne es immer müglig/ Käiserl: Gekrönte Poeten sein […].“46 Und tatsächlich waren die gekrönten Poeten hier in der Überzahl.47 Ähnliches lässt sich auch für Philipp
44 Dass Birken mit der Verleihung der Dichterkrone bestimmte soziale und poetische Ansprüche verband, zeigt eine Reflexion über die Krönung als Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Pegnesischen Blumenorden: „Müssen aber/ (fragte Meliböus ferner) alle Blumgenoßen/ Gekrönte Dichtere seyn? Es ist ja/ (antwortete Floridan/) damit unser Orden zu förderung Teutscher Sprach Aufname/ sinnreiche Geister sammele/ beschlossen worden/ nur solche/ und die diesen Ehrenkranz würdig tragen/ in die Gesellschaft aufzunehmen. Dafern aber ein- und anderer Liebhaber und Schutz-Freund der Gottes- und TugendLiebe/ auch Teutscher Sprach-Ubung/ deme die DichterKrone/ Stands und Beruffs halber/ nicht anständig ist/ zu uns tretten wolte/ ist er an dieses Gesetze nicht verbunden/ und uns genüget/ wann das Lobgerüchte ihn mit dem Ruhm der Gottseligkeit und Tugend krönet: wie dann/ von dem Apollo/ als Vorstehern der Künste/ das LorbeerLaub oder Haar seiner Dafne/ nicht allein den Poeten/ sondern auch den dapferen TugendHelden/ gewidmet worden. Jm übrigen erfordern wir von unseren Gekrönten/ daß sie auch andere Sprachen/ Künste und Wissenschaften/ zumal ohne das die DichtKunst derer aller Wolkündigkeit erfordert/ ihnen bekannt und verwandt machen sollen. Wir wollen auch/ dz sie nicht abgeschmacke Reimenleimere seyen/ noch/ diese schöne heilige Musen mit unschambarem und Satyrischem Geschmitze befleckend/ GOtt und Menschen beleidigen; auch dieselben nicht/ wie der Reimschmierers Pöbel zu thun pfleget/ zu jedermanns LohnMetzen machen/ sondern/ in ihren Gedichten/ aller Erbarkeit/ auch einer recht-Poetischen geistigen Schreib-art/ sich befleißigen sollen.“ (Sigmund von Birken: Floridans Lieb- und Lob-Andenken seiner Seelig-entseelten Margaris im Pegnitz-Gefilde/ bey frölicher Frülingszeit/ traurig angestimmet. Nürnberg 1670, S. 271 f.) An der Passage ist zugleich aufschlussreich, dass es soziale Konstellationen (des Berufs oder Standes) gab, in denen eine Dichterkrönung als Auszeichnung offenbar unangemessen war. Zu denken wäre etwa an adelige Dichter, die in der Regel nicht gekrönt werden. Zur Vernachlässigung der rangniedrigeren Poetenwürde beim Adel und den Angehörigen der höheren Fakultäten vgl. z. B. Dieter Mertens: Zur Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I. In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Berlin 1996 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 18), S. 327–348, bes. S. 340 f. 45 Ein Überblick dazu bei Flood: Introduction (Anm. 19), S. CCIII–CCVII. 46 Conrad von Hövelen: Des Hochlöblich-ädelen Swanen-Ordens Deudscher Zimber-Swan. Candore, Virtute, Honore. Lübeck 1666, S. 90. 47 Vgl. Jörg Jochen Berns: Zur Tradition der deutschen Sozietätsbewegung im 17. Jahrhundert. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen. Hamburg 1979 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7), S. 53–73, hier S. 67: An Rist und Birken könne man sehen, „wie das kaiserliche Amt des Palatinats, das beide innehat-
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von Zesen beobachten, der seinerseits die Mitglieder seiner Deutschgesinnten Genossenschaft gerne mit der Dichterkrone auszeichnete. Dass in diesem Feld der drei Sprachgesellschaften die Frage nach der Mitgliedschaft ebenso wie die Frage nach dem jeweiligen Krönenden bedeutsam war, zeigt das Beispiel von Samuel Friderici, der sich nach Ausweis eines Briefs von Martin Kempe nicht von Rist, sondern lieber von Birken krönen lassen wollte: „Unser Herr [Rist], ist sonst sehr facilis in erogandâ lauro, und eben das ist die ursach, warum Herr Fridrici denselben nicht von ihm begehrt, sondern nimmt einig und allein zum Nürnbergischen Palatino die Zuflucht.“48 Und auch Jakob Klinkbeil erklärt, man habe ihm in seinem direkten Umfeld „die LorbeerCron vielfältig anerbothen“, er aber habe „solche vermeinet von einem andern Orthe zuerlangen, weil solche mehr Lob und Ehre mitbringet, da sie aus der Frembde erhalten wird, Herr Rist hat solche mir auch angetragen habe Mich aber wegen meiner Unwürdigkeit für dieselbe bedancket.“49 Wie ‚eigenmächtig‘ Birken von seinem Krönungsprivileg Gebrauch gemacht hat, zeigen schließlich besonders drastisch die zahlreichen Krönungen von dichtenden Frauen.50 Dass die Krönung von Frauen den Zeitgenossen grundsätzlich erklärungsbedürftig war, zeigt die interessierte Nachfrage des (durch Christoph Philipp Richter) gekrönten Poeten Christian Franz Paullini kurz nach seiner Aufnahme in den Pegnesischen Blumenorden: „Rümlich ists, daß mein hochEdler Herr solche wolspielende Tichterinnen mit dem LorbeerKrantz beschenket. Möchte wol wißen, wie Ers mache, ob es nur geschehe mit übersendung des krantzes, oder aber auch mit einem (ihnen anständigen) diplomate, bitte üm Nachricht.“51 – Die Antwort ist (leider) nicht überliefert, aber tatsächlich hat Birken einen Unterschied zwischen der Krönung von Dichterinnen und
ten, besonders ausgiebig für die Krönung von Dichtern und damit für die rechtliche Absicherung und die Steigerung des Ansehens von zwei Sozietäten genutzt wurde. […] Sie verwendeten das Palatinat somit als Integrations- und Beglaubigungsinstrument zur Erzielung wackerer Sozietätsmitglieder […].“ 48 Martin Kempe an Sigmund von Birken, 26.10.1666. In: Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Berlin 2012 (Werke und Korrespondenz 13), S. 40–43, Zitat S. 42. 49 Jacob Klinkbeil an Sigmund von Birken, Januar 1658 (PBlO.C.173.1). 50 Zu Birkens Krönungen von Frauen vgl. Ralf Schuster: Einleitung. In: Die Pegnitz-Schäferinnen. Eine Anthologie. Hg. von dems. Passau 2009, S. 5–48, bes. S. 11 f.; John L. Flood: Neglected Heorines? Women Poets Laureate in the Holy Roman Empire. In: Bulletin of the John Rylands University Library Manchester 84/3 (2002), S. 25–47. 51 Christian Franz Paullini an Sigmund von Birken, 29.7.1672, PBlO.C.254.2, In: Birken: Floridans Amaranten-Garte (Anm. 42), Teil II, S. 724 f.
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Claudius Sittig
ihren männlichen Kollegen gemacht, denen das Ritual, traditionell im öffentlichen Raum der (männlichen) Gelehrsamkeit situiert und mit rechtlichen Konsequenzen verbunden, eigentlich vorbehalten war: Birken hat die Krönungen von Frauen nicht im Register seiner Amtshandlungen als Hofpfalzgraf verzeichnet,52 und er hat auch keine Krönungsurkunden wie im Fall der männlichen Gekrönten angefertigt. Er überschickte stattdessen das Gesellschaftszeichen und ein „Lorbeerkränzlein“,53 begleitet von einem Brief und Gedicht. Auffällig bleibt gleichwohl, dass Birken die begleitenden Briefe durchaus mit seinem Amtstitel als „Comes Palatinus“ unterzeichnet hat.54 Die Krönungen selbst werden als vollgültige Kooptationen angesprochen: „[K]omt/ tretet ein in der Gekrönten Zahl“, heißt es etwa in einem Gedicht an Maria Catharina Stockfleth zur Aufnahme in den Blumenorden.55 Wie sehr Birken bewusst war, dass er mit der Krönung von dichtenden Frauen die Handlungsspielräume eines Hofpfalzgrafen erweiterte und Grenzen überschritt, indem er die „Kunstdichterinnen billig dieses Ehrkranzes für mitwürdig“56 erachtete, dokumentiert die ausführliche Argumentation in einem Brief an Catharina Margaretha Schweser: Die Kunst-dichtende mit Lorbeerlaub zu krönen, bin ich von dem Allerhöchst-Gekrönten auf Erden gefähigt und befehligt. Solte, diese freyheit sich allein auf den MannsNamen erstrecken? da die lieben Männinnen und MannsTöchter des Himmels MitErben seyn werden: warüm sollten sie nicht auf, auf Erden, des Ehrkranzes mit-theilhaft seyn? da sie, mit dem Männlichen Geschlechte wett-kunstdichten, ja dasselbe übertreffen: warüm sollten sie von der Sieges Krone und dem EhrenLohne ausgelassen seyn?57
Wenn man Birkens zum Teil dezidiert ‚eigenmächtige‘ Praxis der Dichterkrönung betrachtet, dann erscheint es kaum plausibel, dass die Delegation des Rechts zur Dichterkrönung an die Hofpfalzgrafen notwendig zum rapiden Bedeutungsverlust der Poetenwürde führte. Karl Schottenloher hat vor längerer Zeit prägnant
52 S.o. Anm. 1. 53 Sigmund von Birken: An Silvia, bey übersendung des BlumSchäfer-Bandes und LorbeerKränzleins. In: Birken: Floridans Amaranten-Garte (Anm. 41), Teil I, S. 366 f. 54 Vgl. Sigmund von Birken an Catharina Margaretha Schweser, Konzept eines nicht abgeschickten Briefs, datiert zwischen dem 13.6. und 25.6.1668. In: Birken: Floridans AmarantenGarte (Anm. 41), Teil II, S. 727; Sigmund von Birken an Maria Catharina Stockfleth, 25.11.1668. In: Ebd., S. 729 („S.v.B.C.P.“). 55 Birken: Floridans Amaranten-Garte (Anm. 41), Teil I, S. 371. 56 Sigmund von Birken an Maria Catharina Stockfleth, 25.11.1668. In: Birken: Floridans Amaranten-Garte (Anm. 41), Teil II, S. 729. 57 Sigmund von Birken an Catharina Margaretha Schweser, Konzept eines nicht abgeschickten Briefs, datiert zwischen dem 13.6. und 25.6.1668. In: Birken: Floridans Amaranten Garte (Anm. 41), S. 726.
Gib uns die Musenkrone
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geschrieben, dass um 1600 die „eigentliche Geschichte der Dichterkrönung ein Ende“ gefunden habe, die Krönungen gehörten seitdem „viel eher der Geschichte der Pfalzgrafenwürde an.“58 Wenn man ähnlich pointiert formulieren will, kann man behaupten, dass das Gegenteil der Fall war: Das wichtigste Instrument zur symbolischen Auszeichnung der Dichter war vom Kaiser in die Hände der Dichter selbst gelegt worden. Und Birken gehört zu denjenigen, die auf besonders selbstbewusste, programmatische Weise davon Gebrauch gemacht haben.
58 Schottenloher (Anm. 31), S. 672.
Thomas Borgstedt
Kranz, Pfeife und Kreuz Sigmund von Birkens Figurengedichte zwischen Dichterlegitimation, Panegyrik und Erbauung
1 Lautgedichte und Figurengedichte Aus dem umfangreichen Werk Sigmund von Birkens erinnert man heute vor allem noch die Kunst der Figurengedichte, die Beförderung einer lautmalerischen Poesie und seine Beiträge zur Poetik. Darüber hinaus ist die häufig schäferliche Einkleidung seiner Werke und seine Aktivität in der Pegnesischen Schäfergesellschaft geläufig geblieben. Insbesondere die artistischen Aspekte seiner Dichtung und der der Pegnitzschäfer insgesamt blieben interessant im Blick auf die poetischen Entwicklungen der modernen Avantgarden, die experimentelle Lautpoesie und die visuelle Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Verbindung stiftete hier lange Zeit der Begriff des literarischen „Manierismus“. Mit dem Propagieren des Manierismusbegriffs war der Versuch verbunden, zeittypische, vermeintlich „antiklassische“ ästhetische Phänomene der Frühen Neuzeit in einen epochenübergreifenden Zusammenhang mit Merkmalen der Kunstentwicklung im Zeitalter der modernen Avantgarden zu bringen. Die Assoziation mit der Moderne und die damit verbundene Aufwertung der barocken Artistik stellt dabei einen transhistorischen Bezug her, der letztlich wenig zur Erläuterung der historischen Begründungszusammenhänge der frühneuzeitlichen Dichtung selbst beiträgt.1 Einige der lautmalerischen und der visuellen Figurengedichte des Sigmund von Birken nehmen innerhalb des lyrischen Kanons der deutschen Literatur einen kleinen, aber relativ ungefährdeten Platz ein. Einzig in Albrecht Schönes großer Barockanthologie von 1968 finden sich darüber hinaus als weitere Beispiele seiner Dichtung ein Andachtslied, eine Prosaekloge und zwei Auszüge
1 Vgl. dazu Gerhard Regn: Manierismus. Kritik eines Stilbegriffs. In: Manierismus. Interdiszi plinäre Studien zu einem ästhetischen Stiltyp zwischen formalem Experiment und historischer Signifikanz. Hg. von Bernhard Huss. Heidelberg 2014, S. 19–44; Ursula Link-Heer: Manier / manieristisch / Manierismus. In: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2001, S. 790–845. https://doi.org/10.1515/9783110593129-075
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aus poetologischen Texten.2 Mit seinen lautmalerischen Gedichten ist Birken bis heute dagegen in den wichtigsten Lyrikanthologien präsent.3 Die Figurengedichte gehören ebenfalls zum eisernen Bestand der Anthologisten von Karl Otto Conrady bis Heinrich Detering. Am häufigsten wiedergegeben wird hier das Kreuzgedicht, das Birken als Beispiel für diese Gedichtform in seine Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst von 1679 eingerückt hat. Es findet sich bei Schöne ebenso wie bei Conrady und Detering.4 Schöne und Conrady bringen zudem das Zepter aus der Pipenburgischen Rath Stelle von 1650, Conrady und Detering das umgekehrte Herz aus der Guelfis von 1669. Zu erwähnen ist ferner das gern zitierte Sonett in Buchform ebenfalls aus der Guelfis, das u. a. in Reclams nicht wieder aufgelegter Anthologie Deutsche Sonette von 1979 wiedergegeben ist.5 Die Beispiele der Anthologien bilden eine willkürliche Auswahl, doch sie zeigen eine deutliche Tendenz. Am beliebtesten und damit auch am bekanntesten scheint Birkens Kreuzgedicht zu sein. Das ist bemerkenswert, weil es von seinem Überlieferungskontext in Birkens Poetik her ein untypisches Beispiel ist. Den ursprüngli-
2 Albrecht Schöne (Hg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. 3. verb. Aufl. München 1988, S. 32–38 (Poetik), 215–217 (Andachtslied), 737 f. (Figurengedichte), 839–856 (Schäferei). 3 Reclams Anthologie der Deutschen Unsinnspoesie von 1978 bringt Birkens Distelsonett sowie das lautmalerische Epigramm ‚Wann Schäfer Trifften trifft das Ruffen frecher Treffen‘. Beide Texte werden hier von ihrem Kontext isoliert dargeboten. Das Distelsonett wird ohne das ihm zeitgenössisch in metrischer und semantischer Umkehrung vorangehende Blumensonett wiedergegeben, mit dem gemeinsam es den ‚Vorbericht‘ der Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey einrahmt; Floridan [Sigmund von Birken]: Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey. Nürnberg 1645, unpag. Vorspann. In: Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken und Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht 1644–45. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966; abgedruckt in: Klaus Peter Dencker (Hg.): Deutsche Unsinnspoesie. Stuttgart 1978, S. 21 (mit unpräziser Quellenangabe). Das Trifften-Epigramm entsteht bei einem poetischen Wettstreit, bei dem es um die gehäufte Verwendung bestimmter Konsonanten in einem Gedichttext geht; Birken: Fortsetzung (s. o.), S. 78. Das Fehlen dieser Information enthält dem Leser den inventorischen Anlass des Texts vor. Mit Kontext ist das Trifften-Epigramm dann in Reclams Anthologie der Sprachspiele abgedruckt: Klaus Peter Dencker (Hg.): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 2002, S. 55 f. Hier findet sich auch das frühe Kreuzgedicht von Rudolf Karl Geller (s. u. Anm. 31). Schließlich übernimmt Robert Gernhardt das Trifften-Epigramm in seine Sammlung komischer Lyrik: Robert Gernhardt, Klaus Cäsar Zehrer (Hg.): Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten. Frankfurt a. M. 2004, S. 354 (ohne Kontext und mit unpräziser Quellenangabe). 4 Karl Otto Conrady (Hg.): Das große deutsche Gedichtbuch. Kronberg/Ts. 1977, S. 119 f.; in der Neuausgabe ist von Birken nur noch das Kreuz abgedruckt: Der neue Conrady. Düsseldorf, Zürich 2000, 32003, S. 191; Heinrich Detering (Hg.): Reclams großes Buch der deutschen Gedichte: vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2007, 32013, S. 144 f. 5 Hartmut Kircher (Hg.): Deutsche Sonette. Stuttgart 1979, S. 86.
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chen Konstitutionszusammenhang der Figurengedichte bei den Pegnitzschäfern repräsentiert es nicht. Die Bevorzugung des Kreuzgedichts hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es der mit dem Barockzeitalter verbundenen christlichen Orientierung der Epoche so deutlich Rechnung trägt und dass es eine gesteigerte formale Komplexität aufweist. Das Kreuzmotiv vermag zugleich eine inhärente Problematik der Figurengedichte zu neutralisieren: Es widerlegt durch seine christliche Thematik den auch zeitgenössisch schon geäußerten Verdacht, es könne sich bei diesen Gedichten um eine bloße artistische Spielerei ohne tieferen poetischen Gehalt handeln.6 Dieser Vorwurf wird im Fall des Kreuzgedichts durch die Dignität des christlichen Zentralsymbols entkräftet. Bei den schäferlich und panegyrisch motivierten Figurengedichten ist den Vorbehalten sehr viel schwerer zu begegnen. Für die Aufnahme der Figurengedichte in den lyrischen Kanon der deutschen Literatur ist nicht zuletzt das moderne Interesse an der visuellen Poesie mitverantwortlich. So problematisch die epochenüberschreitende Assoziation ist, es lassen sich in bestimmten Hinsichten durchaus Parallelen über die Jahrhunderte hinweg anführen. So besteht in beiden Perioden ein starkes Interesse an intermedialen Bezügen. Das Zeitalter der Aufklärung mit seiner Forderung nach ‚Natürlichkeit‘ sowie Lessings autoritative Trennung von Poesie und Malerei hatten die Visualität aus der Literatur verbannt und der visuellen Poesie damit ein vorläufiges Ende bereitet. Demgegenüber sind sowohl das rhetorisch orientierte frühneuzeitliche Zeitalter als auch die modernen traditionskritischen Avantgarden in hohem Maße aufgeschlossen für das Zusammenspiel der Künste und ihrer jeweiligen Medien. Beide Perioden stehen unter dem Eindruck eines intensiven Medienwandels. In der Frühen Neuzeit handelt es sich um die Auswirkungen des Buchdrucks und ein daraus folgendes Interesse an den Möglichkeiten von Bild/Text-Kombinationen im Druck. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert geht es um die Entwicklungen der Massenpublizistik und das beginnende Zeitalter der Elektrizität. Die neuen Möglichkeiten der Aufzeichnung von Bild- und Tondokumenten schaffen ein neues Interesse an medienüberschreitenden Phänomenen. Parallel zur Medieninnovation entwickelt sich in beiden Zeiten eine Sprachskepsis, die als Ausdruck des Wandels der Geltung traditioneller Werte verstanden werden kann. Sowohl das
6 Belege bei Wilhelm Kühlmann: Kunst als Spiel. Das Technopaegnium in der Poetik des 17. Jahrhunderts. Mit Anmerkungen zu Baldassare Bonifacios Urania (Venedig 1628). In: Daphnis 20 (1991), S. 505–529, hier S. 506–509 u. ö.
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Zeitalter der Rhetorik als auch die sogenannte Sprachkrise der Moderne7 sorgen für ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Arbitrarität der Zeichen und für die Täuschungsanfälligkeit und Manipulativität der menschlichen Rede. In beiden historischen Perioden entwickelt sich ein Interesse für außersprachliche Signifikation und für nichtsprachlich motivierte Zeichen. Gleichwohl sind die weltanschaulichen Grundlagen dieser Gemeinsamkeiten fundamental andersartig und ebenso ihre philosophischen und ästhetischen Konsequenzen. Der Zweifel an der Gewissheit der sprachlichen Signifikation motiviert in beiden Perioden außersprachliche Überformungen der Poesie – sowohl mit Hilfe ihrer Lautlichkeit als auch ihrer schriftsprachlichen Graphie. Lautpoesie und visuelle Poesie entstehen mit einer in dieser Hinsicht verwandten Intention. Sie verfolgen das Ziel, der Konventionalität und Arbitrarität der sprachlichen Zeichen, durch die ihre Wahrheitsfähigkeit gefährdet erscheint, durch eine zusätzliche außersprachliche Motivierung der poetischen Zeichen entgegenzuwirken. Dabei entsteht allerdings ein doppelter Effekt: Die Hervorbringung des motivierten Zeichens durch intermediale Überformung gelingt nur zum Teil, denn sie setzt sich der Gefahr aus, als Täuschung und damit als bloßer Trick zu erscheinen. Dem Anliegen einer zusätzlichen Fundierung, Absicherung und Überhöhung der poetischen Aussage entspringt der Eindruck bloßer Artistik – mit der genau umgekehrten Wirkung der Nichtigkeit. Die entsprechende Kritik findet sich in Deutschland bereits in den zeitgenössischen Poetiken des siebzehnten Jahrhunderts. Wilhelm Kühlmann hat dazu Zitate u. a. von Christian Weise, Daniel Georg Morhof und Erdmann Neumeister zusammengestellt.8 So hält Weise es für eine gezwungene Manier […]/ da sich etliche bemühen Becher/ Seulen/ Hertzen/ Tauben/ Eyer/ Affen und Meerkatzen in Versen abzubilden: denn wer die Madrigalische Art versteht/ auch kurtze und lange Verse wol untereinander werffen kann/ der hat zu solcher Gauckeley gar leichte Rath gefunden.9
7 Exemplarische Texte: Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne [1873]. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. 2., durchges. Aufl. München, Berlin 1988, S. 873–890; Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief [Chandos-Brief; 1902]. In: Hugo von Hofmannsthal: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hg. von Bernd Schöller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979, S. 461–472; Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Stuttgart 1901/02. 8 Dazu insgesamt Kühlmann: Kunst als Spiel (Anm. 6). 9 Christian Weise: Curiöser Gedancken Von Deutschen Versen/ Andrer Theil. Leipzig 1692, S. 109 f.
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Eine positive Möglichkeit, mit dieser Ambivalenz artistischer Kunstfertigkeit umzugehen, bietet die Komik. Diese konterkariert allerdings die Absicht, poetisch einen nicht-arbiträren Sinn zu generieren, und unterstreicht stattdessen noch die Nichtigkeit des Gegenstands.10 Die Pegnitzschäfer vermitteln diesen Eindruck des Komischen zum Teil mit ihrer Lautpoesie. Infolgedessen landen die Texte heute gern in Anthologien komischer Lyrik. Gleichwohl ist der spielerisch-scherzhafte Charakter der frühneuzeitlichen Gedichte von einem modernen Komik-Verständnis zu unterscheiden. So richtet sich die lautmalerische Artistik durchaus auch auf ernste Gegenstände, wie das auf den Dreißigjährigen Krieg bezogene Gedicht einer melancholischen und in ‚Raserey‘ befindlichen Schäferin aus dem Pegnesischen Schäfergedicht, „die ihr sicherlich einbildete/ sie were das arme und in letzten Zügen liegende Teutschland“: Es schlürfen die Pfeiffen/ es würblen die Trumlen/ Die Reuter und Beuter zu Pferde sich tumlen/ Die Donnerkartaunen durchblitzen die Lufft/ Es schüttern die Thäler/ es splittert die Grufft/ Es knirschen die Räder/ es rollen die Wägen/ Es rasselt und prasselt der eiserne Regen/ Ein jeder den Nechsten zu würgen begehrt/ So flinkert/ so blinkert das rasende Schwert.11
Die Ernsthaftigkeit der Kriegsklage widerspricht hier keineswegs der sprachartistischen Anlage des Gedichts. Generell muss man sich von der modernen Assoziation lösen, dass ein artistisch-spielerischer Umgang mit dem poetischen Material grundsätzlich auf eine ästhetizistische Selbstbezüglichkeit der Dichtung und damit auf eine Autonomievorstellung der Poesie zu beziehen sei. Kunstvolle artistische Techniken können in der Frühen Neuzeit vielmehr selbstverständlich mit der poetischen Dignität und den heteronomen Zwecken von Literatur zusammengehen.12
10 Die Harmlosigkeit gilt seit Aristoteles als Merkmal des Komischen: Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, Kap. 5, S. 16 f. 11 Pegnesisches Schäfergedicht in den Berinorgischen Gefilden angestimmet von Strefon und Clajus. Nürnberg 1644, S. 14. In: Harsdörffer, Birken und Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht (Anm. 3). 12 Vgl. im gleichen Sinn Gerhard Regn: „Dies gibt zu der grundsätzlichen Vermutung Anlass, dass die sich selbst zeigende Artistik in der Kunst der Vormoderne nicht einfach eine frühe Ausprägung des Prinzips jener Autonomie ist, die für das moderne Kunstverständnis prägend geworden ist“; Regn: Manierismus (Anm. 1), S. 38.
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Birkens Trifften-Epigramm steht im Unterschied zu diesem Beispiel tatsächlich in einem scherzhaft-geselligen Kontext. Hier wetteifern die Hirtendichter miteinander, wer am häufigsten den Anfangsbuchstaben seines Hirtennamens in einem vierzeiligen Epigramm unterzubringen vermag. Aus diesem spielerischen Wettstreit entstehen fünf Epigramme von Lerian, Strephon, Montano, Klajus und Floridan, die sich meist ohne die entsprechende Erklärung in den modernen Anthologien wiederfinden. Auch die Schäfernamen werden dort nicht genannt, so dass nicht klar wird, dass ein bestimmter Buchstabe jeweils besonders häufig in den Gedichten untergebracht werden sollte. In Birkens Epigramm ist es das ‚F‘ von ‚Floridan‘. Den Versen vorangestellt ist im zeitgenössischen Druck jeweils die Anzahl des im Vers untergebrachten entsprechenden Buchstabens: 10 12 12 7
Wann Schäfer Trifften trifft das Ruffen frecher Treffen/ Der Waffen puff und paff/ pfeifft unsre Pfeiffe? Nein. Das Hoffen äffet offt/ offt trifft es trefflich ein/ Drüm hoffet/ Hoffen wird nicht mehr den Frieden äffen.
Gesteigert wird der artistische Scherz nun noch dadurch, dass alle fünf Epigramme ihren Leitbuchstaben überraschenderweise jeweils 41mal untergebracht haben, so dass es keinen Sieger des Wettstreits gibt.13 Der hier dargebotene gesellige Scherz mittels Gedichten unterscheidet sich deutlich von einer modernen Komik, die von der überraschenden Unterbietung semantischer Erwartungen lebt. Im frühneuzeitlichen Schäfergedicht dient dieser Scherz vielmehr der Vorführung poetischer Fertigkeiten im Rahmen eines schäferlichen ‚Liederbuchs‘, mithin ebenfalls einem durchaus ernst gemeinten Anliegen. Komik findet sich noch weniger bei den frühneuzeitlichen Figurengedichten, auch hier wieder im Unterschied zur Moderne. Die Ambivalenz der visuellen Gedichte zwischen Zeichenüberhöhung und Nichtigkeit des Sinns wird in der Moderne nicht selten zum Teil der Performanz. Ein schönes Beispiel dafür ist Reinhard Döhls apfel von 1965 (Abb. 1).14 Er greift ein traditionelles Motiv der Figurendichtung auf. Schon Catharina Regina von Greiffenberg hatte einen Reichsapfel nebst anderen Insignien für den Kaiser gedichtet, ein Gedicht, das allerdings nicht überliefert ist.15 Dafür haben sich fast alle Figurendichter unter
13 [Birken]: Fortsetzung (Anm. 3), S. 77 f. 14 Reinhard Döhl: apfel [Postkarte 1965]. In: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. Hg. von Eugen Gomringer. Stuttgart 1972, 2001, S. 38. 15 Theodor Verweyen: Aus den Schatzkammern des Pegnesen-Archivs. Das Figurengedicht der Catharina Regina von Greiffenberg. In: Pegnesischer Blumenorden in Nürnberg. Festschrift zum 350jährigen Jubiläum. Nürnberg 1994, S. 23–34; kritische Edition in: Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. Hg. von
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Abb. 1: Reinhard Döhl: apfel (Postkarte 1965).
den Pegnitzschäfern – außer Birken – mit Reichsäpfeln hervorgetan. Dies unterstreicht die große Bedeutung panegyrischer Motive für die Figurendichtung der Frühen Neuzeit. Im Unterschied zu den ernsthaften mimetischen Bemühungen zur Wiedergabe des Reichsapfels in den barocken Beispielen betont Reinhard Döhl sowohl den Täuschungscharakter der Figur als auch die Gewaltsamkeit der Überführung der Schrift in das Bild: Indem er den berühmten Wurm in die Apfelschrift einfügt, erzeugt er einen täuschenden und zugleich komischen Überraschungseffekt. Und indem er den Umriss des Apfels – im Unterschied zu den traditionellen Umrissgedichten – gleichsam aus dem Text ausstanzt, werden die Zeichenfolgen am Rand des Bildes zerschnitten und damit zerstört. Dadurch wird der funktionale Gegensatz zwischen den digitalen Schriftzeichen „Apfel“ und der analogen Darstellung eines Apfel-Bildes herausgestellt. Der kritisch reflektierende Rückbezug auf die barocken Figurengedichte ist dabei offensichtlich. Während in modernen Beispielen die Inkongruenz von Schriftzeichen und bildhafter Darstellung wie in diesem Fall gerne kritisch oder ironisch herausgestellt wird, zielen die frühneuzeitlichen Beispiele gerade auf den Erweis einer solchen Kongruenz. Dabei ist die poetologische Zuordnung dieser Konstruktionen keineswegs völlig klar. Im Gegensatz zu den früheren Erklärungsansätzen, die auf den artistischen und manieristischen Aspekt dabei rekurrierten, hat inzwischen eine Art Paradigmenwechsel stattgefunden. Es werden sehr viel
Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster (Werke und Korrespondenz 12). Tübingen 2005, Text 184(1), S. 376, 913 f.
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stärker weltanschauliche, philosophische und religiöse Perspektiven herangezogen, um das Phänomen der barocken Figurengedichte traditionsgeschichtlich zu erklären.
2 Kreuzgedichte Den Versuch einer systematischen Analyse und Grundlegung stellt die Baseler Dissertation von Seraina Plotke mit dem Titel Gereimte Bilder aus dem Jahr 2009 dar, die sich gezielt mit den barocken Figurengedichten befasst.16 Plotke geht von einer semiotischen Analyse aus, um dann eine breit angelegte historische Funktionsbestimmung der Formen in den verschiedensten historisch-kulturellen Kontexten vorzunehmen. Besondere Beachtung finden die Sprachkonzepte des siebzehnten Jahrhunderts (S. 79–109), die ut-pictura-poesis-Vorstellung (S. 111– 136), die Emblematik (S. 137–160), die barocke Festkultur (S. 161–202) und die Memorialkunst (S. 203–261). Im Sinn eines angenommenen „bildhaft deutenden Denkens“ der Zeit (S. 59) bezieht sie die Figurengedichte auf figurale und sinnbildliche Traditionen wie die mittelalterliche Allegorese, den Florentiner Neuplatonismus, die frühneuzeitliche Hieroglyphenforschung, die paracelsische Signaturenlehre und die Emblematik. An die Stelle einer modernebezogenen Perspektive im Sinn einer überhistorischen Manierismuskonzeption in der Nachfolge von Ernst Robert Curtius, Gustav René Hocke und anderen erscheinen die Figurengedichte nun im Licht traditionsgeschichtlicher Perspektiven, insbesondere solchen der Allegorese und der Emblematik, wie sie von Walter Benjamin und Albrecht Schöne für das siebzehnte Jahrhundert stark gemacht worden sind.17 Durch diesen Paradigmenwechsel geraten bei Plotke verstärkt religiös-erbauliche Funktionszusammenhänge und christlich geprägte Beispiele der Gattung in den Fokus. Im Vergleich mit den Beispielen aus dem Pegnesischen Schäfergedicht von 1644/45 handelt es sich bei den von Plotke analysierten Exemplaren meist um spätere Texte. So untersucht sie als Beispiel für die Figurengedichte im Rahmen von Prosaeklogen die Geige des Johann Geuder aus dem Jahr 1672, anhand deren sie ein gänzliches Verschmelzen von Poesie und Theologie konstatiert.18 Ferner werden Birkens Kreuzgedicht von 1679 und Theodor Kornfelds Sand-Uhr von
16 Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert. Paderborn u. a. 2009. 17 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M. 21982; Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964. 18 Plotke: Gereimte Bilder (Anm. 16), S. 109.
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1685 jeweils einer exemplarischen Interpretation unterzogen.19 Die Beispiele sind nicht nur durch christliche Motive geprägt, sie zeichnen sich auch durch eine gesteigerte semiotische Komplexität aus. Nicht zuletzt gilt dies für Birkens Creutz. Birkens Kreuzgedicht (Abb. 2)20 konstituiert seine Gestalt vollständig durch die zentrierte Setzung langer und kurzer Verse. Zweihebige Jamben bilden die Senkrechte, fünfhebige den Querbalken des christlichen Kreuzes. Insofern ist die Metrik dieser Versabfolge das eigentliche Mittel der mimetischen Darstellung. Das erklärt, weshalb die sogenannten Bilder-Reime seit Julius Caesar Scaliger üblicherweise als eine Sonderform der Metrik behandelt wurden.21 Die bildliche Darstellung sollte durch eine kunstvolle Anordnung verschiedener Versarten hervorgebracht werden. In diesem Sinn ist auch das oben wiedergegebene Zitat von Christian Weise zu verstehen, der davon sprach, „kurtze und lange Verse wol untereinander“ zu werfen. Diese Ausgangsbedingung antiker Technopaegnien wird in Beispielen wie Geuders „Geige“ oder Kornfelds „Sand-Uhr“ nicht ausschließlich befolgt. Vielmehr treten hier weitere typographische Mittel hinzu, um die komplexeren Figuren dieser Texte zur Darstellung zu bringen. Die graphische Gestalt des christlichen Kreuzes bietet demgegenüber eine gerade Linienführung, was zu einer sehr klaren Gestalt des Figurengedichts führt. Eine Steigerung der mimetischen Qualität des Gedichts stellt dabei die Tatsache dar, dass einzelne semantische Bestandteile des Texts zusätzlich eine eigene abbildende Funktion erhalten. Der Text des Gedichts beschreibt die Gestalt Jesu am Kreuz, indem er dessen Körperteile wörtlich an der Stelle der Figur benennt, an der sie bei einem Kruzifix graphisch zu platzieren wären. So heißt es in den Versen des Querbalkens: „Sein heiligs Haupt die Dornen must empfinden“ und „Die treue Händ’ und Arme voll Erbarmen“, so dass die Worte „Haupt“, „Dornen“, „Hände“ und „Arme“ ungefähr an der Stelle des Kreuzes zu stehen kommen, an der sie im Bild auch graphisch darzustellen wären.22 Auch wenn es im Detail nicht immer bildlich exakt passt, entfaltet das Gedicht damit neben der äußeren Umrissfigur eine zweite Ebene mimetischer Abbildung mittels semantischer Elemente. Etwas Ähnliches finden wir übrigens später wieder in
19 Ebd., S. 105 ff., 129 ff., 154 ff. Die Vorlagen: Johann Geuder: Der Fried-seligen IRENEN Lustgarten […]. In: Johannes Praetorius: Satyrus Etymologicus. O. O. 1672, S. 195–277, die Geige: S. 250; Theodor Kornfeld: Selbst-Lehrende Alt-Neue Poesie Oder Vers-Kunst der Edlen Teutschen Helden-Sprache. Bremen 1685, S. 83. 20 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679, S. 145. 21 Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. 5 Bde. Stuttgart 1992 ff., Bd. I, S. 554–559 (Buch II, cap. 25). 22 Vgl. die ausführliche Analyse bei Plotke: Gereimte Bilder (Anm. 16), S. 129–136.
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Abb. 2: Sigmund von Birken: Creutz (1679).
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Reinhard Döhls „Apfel“, wenn das Wort „Wurm“ zugleich den ‚Ort‘ des Wurms im Apfel mimetisch bezeichnet. Auch die Kreuzgedichte können in einen antiken Traditionszusammenhang gerückt werden. Einerseits hat man einen Bezug auf die mittelalterliche Tradition von Kreuzgedichten bei Hrabanus Maurus und anderen hergestellt.23 Die frühneuzeitlichen Kreuzgedichte verweisen in ihrer Gestalt allerdings auch auf die aus der Antike überlieferten beiden Altardarstellungen, den Iason- und den Musenaltar.24 Insbesondere fällt die trapezförmige Gestaltung eines Sockels auf, die bei christlichen Kreuzgedichten in ähnlicher Weise wiederkehrt (allerdings nicht in dem von Birken). Tatsächlich war den Autoren der Rückbezug auf die antiken Beispiele bewusst. Der venezianische Dichter Guido Casoni (1561–1642) veröffentlichte unter dem Titel La Passione di Christo 1626 einen Zyklus von zwölf Figurengedichten mit den Marterinstrumenten Christi, darunter auch ein Kreuzgedicht mit großer Ähnlichkeit zum Iasonaltar (Abb. 3).25 In der kurzen Vorrede weist er auf die antiken Muster und darunter auch auf die Altäre hin und nimmt für sich in Anspruch, die heidnischen antiken Motive ins Licht der christlichen Wahrheit gehoben zu haben.26 Birken hat Casonis Zyklus und seine Argumentation vermutlich zur Kenntnis genommen. Nachdem er in seiner Poetik die „Beispiele in den Schäfergedichten der Blumgenoßen“ aufgezählt und sodann auch auf das antike Vorbild des Theokrit verwiesen hat, kommt er auf die Möglichkeit geistlicher Figurengedichte zu sprechen. Zunächst heißt es dazu: „Ein Christlicher Poet kann ausbilden/ das heilige Creutz“, um kurz darauf auch die Marterwerkzeuge als mögliche Gegenstände vorzuschlagen: Wer seinen JEsum recht kennet und liebet/ wird neben-stehendem Creuz noch viele nachmachen/ auch dergleichen mit der Dorn-Krone der Geisel-Seule/ und andrem unsers theuren Heilands Passion-Zeug/ ersinnen können.27
23 Vgl. exemplarisch Ulrich Ernst: Die neuzeitliche Rezeption des mittelalterlichen Figurengedichtes in Kreuzform. Präliminarien zur Geschichte eines textgraphischen Modells. In: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zu Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik. Hg. von Ulrich Ernst. Berlin 2002, S. 181–223. 24 Vgl. auch Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Ausstellung im Zeughaus der Herzog-August-Bibliothek vom 1. September 1987 bis 17. April 1988. Weinheim 1987, S. 89. 25 Anthologia Palatina 15,26; Neil Hopkinson (Hg.): Theocritus, Moschus, Bion. Cambridge, Mass. 2015 (Loeb Classical Library 28), S. 576 f. 26 „Ma l’Autore levando la Poesia dalle tenebre di queste favole, & alzandola alla luce della verità“; Guido Casoni: L’Opere. Venedig 1626, S. 225; vgl. zu Casonis Zyklus: Giovanni Pozzi: La parola dipinta. Milano 21996, S. 206–214. 27 Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 20), S. 144.
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Abb. 3: Dosiadas von Kreta: Altar (Iasonaltar, 3./2. Jh. v.Chr.).
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Bei den Figurengedichten in Kreuzform handelt es sich mithin ausdrücklich um christliche Überformungen antiker Muster. Solche Überformungen waren im konfessionellen Zeitalter für die meisten humanistischen Gattungen verbreitet. Die Einfachheit und Ausdrucksstärke der Kreuzform lädt zu einer solchen Adaptation geradezu ein. Birken ist nicht der erste Barockdichter, der in deutscher Sprache ein Kreuz als Figurengedicht präsentiert. Ältere Beispiele zeigen etwa graphische Kreuze, die umlaufend beschriftet sind.28 Ein echtes Umriss-Kreuzgedicht setzt der junge Adam Olearius in seiner Leipziger Zeit 1629 als „Grabstein“ ans Ende seiner poetischen Beigabe zu einer Leichenpredigt für den Leipziger Kaufmann Hermann Hütten, den er als „MusenFreund“ und seinen „Mecoenas“ sowie als „rechtes Vater-Hertz“ würdigt. Dieses frühe deutsche Kreuzgedicht steht somit in keinem Christusbezug, sondern in einem panegyrischen Kontext des Dichterlobs, wie die sonst verbreiteten panegyrisch-schäferlichen Motive der Figurengedichte auch. Das Beispiel des Olearius ist formal bereits anspruchsvoll gestaltet, indem die Anfangsbuchstaben der Verse zusätzlich das Akrostichon „HERMAN HVTTEN IST GESTORBEN“ bilden.29 Justus Georg Schottelius hatte in der Folge ein Kreuzgedicht in seiner Teutschen Vers- oder ReimKunst von 1645 zusammen mit vier anderen, säkularen Motiven vorgestellt.30 Als Widmungsgedicht zu Johann Klajs Trauerspiel Der Leidende Christus verfasste ferner Rudolf Karl Geller 1645 ein Kreuzgedicht, das bereits die Körperteile Christi linear von oben nach unten benennt, ohne dass sie schon an der richtigen ‚Stelle‘ des Kreuzes platziert wären.31 Schließlich hat Birken ein Kreuzsonett der Catharina Regina von Greiffenberg bearbeitet und mit ihren Gedichten 1662 zum Druck gebracht. Von diesem Gedicht ist ein sehr schönes Autograph überliefert (Abb. 4).32
28 Christliche und Gottselige Betrachtung deß strengen und ernsten Gerichte [sic!] Gottes […]. [Augsburg ca. 1610]. VD17: 23:677186B. 29 Adam Olearius: Dialogus Oder Gespräch Der seligen Vaters-Seelen mit den Kindern/ Des […] Herrn Herman Hüttens Senioris. Angeb. an: Polycarp Leyser: Leichpredigt […]: Beym Begräbnis des […] Herrn/ Herman Hütten […]. Leipzig 1629. VD17: 1:028820E, unpag., Blatt 50 (= letzte Seite). 30 Justus Georg Schottelius: Teutsche Vers- oder Reimkunst. Wolfenbüttel 1645, S. 261; Ernst: Die neuzeitliche Rezeption (Anm. 23), S. 189. 31 Rudolf Karl Geller: o. T. (Lobgedicht in Kreuzform). In: Johann Klaj: Der leidende Christus. Nürnberg 1645, S. 72. Gellers Kreuzgedicht folgt unmittelbar auf ein Lobgedicht Birkens, der es somit wohl gekannt hat; vgl. zu Gellers Gedicht Ernst: Die neuzeitliche Rezeption (Anm. 23), S. 184 f. 32 Verweyen: Aus den Schatzkammern des Pegnesen-Archivs (Anm. 15).
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Abb. 4: Catharina Regina von Greiffenberg: Kreuzgedicht (Autograph).
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Bereits Greiffenberg bietet die von Birken später wiederaufgegriffene graphische Platzierung der Körperteile Christi auf dem Kreuz. Außerdem hat ihr Kreuzgedicht den trapezförmigen Sockel der antiken Altargedichte. Ihre Handschrift gestaltet eine sehr elegante, geschwungene Kreuzfigur, die in den Druck nicht übernommen wurde. Der begrenzte Platz auf der Druckseite führte hier sogar dazu, dass die Kreuzgestalt plump und gedrungen wirkt. Die langen achthebigen Trochäen, die den Querbalken bilden, mussten in kleineren Typen gesetzt werden, damit sie in die Zeile passten. So gerieten sie in ein Missverhältnis zu den vierhebigen Trochäen des Längsbalkens. Indem Birken sehr viel kürzere Versarten verwendete – zweihebige und fünfhebige Jamben – ergab sich eine deutlich elegantere Gestalt des Kreuzes. Er vereinte damit die gelungenere Erscheinung des Gellerschen und des Schottelius schen Gedichts mit den poetischen Errungenschaften desjenigen der Greiffenberg. Geller hatte bereits einen graphisch unpräzisen Bezug auf die Christusgestalt geboten. Er verwendete oberhalb dreihebige und unten zweihebige Jamben für den Stamm und Alexandriner für den Querbalken. Auch Olearius hatte dreihebige Jamben und Alexandriner gewählt. Schottelius nahm keinen Bezug auf die Körperteile Christi und benutzte zwei- und sechshebige Trochäen. Der antike Sockel ist bei Geller angedeutet, bei den anderen fehlt er. Birken bildet eine Synthese aus den Vorzügen seiner Vorbilder. Es dürften diese Vorzüge graphischer Klarheit und Eleganz einerseits und semantischer Komplexität andererseits sein, die Birkens Kreuz seinen stellvertretenden Platz in den modernen Anthologien gesichert hat. Der Blick auf die Tradition der Kreuzgedichte macht augenfällig, inwiefern diese sich in einzelnen Punkten von den schäferlich-panegyrisch geprägten Figurengedichten unterscheiden. So kommen die Kreuzgedichte allesamt als Einzelgedichte vor. Die vorliegenden Beispiele werden als Exempel in Poetiken präsentiert beziehungsweise im Fall von Olearius als laudatives Epitaph und bei Greiffenberg als Einzeltext in einer Sammlung geistlicher Dichtung. Allein Casoni erweitert das Motiv zu einem Zyklus von zusammengehörigen Figurengedichten. Birkens Poetik nimmt sich ausdrücklich vor, für ihre Lehrsätze „Exempel oder Beispiele Geistlichen inhalts“ zu geben.33 Aus diesem Prinzip seiner Poetik ergibt sich die Notwendigkeit, ein Kreuzgedicht als Beispiel für das Figurengedicht zu bieten.
33 Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 20), unpag. Vor-Rede, § 25.
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3 Die Prosaekloge Die Bedeutung der Bukolik für die Figurengedichte ist im Unterschied dazu schon durch deren Vorgeschichte und Überlieferung vorgegeben. Die frühneuzeitlichen Autoren greifen auf die antiken Beispiele der Gattung zurück, die bereits im Mittelalter in den Handschriften der Bukoliker überliefert waren und sich dann an der Wende zum sechzehnten Jahrhundert erneut in der neu entdeckten Anthologia Planudea fanden.34 Die frühneuzeitlichen Poetiken weisen durchweg auf Theokrit als Stammvater der Figurengedichte hin und stellen darüber eine enge Verbindung zur Bukolik her.35 Die frühesten Figurengedichte in deutscher Sprache finden sich in Einzeldrucken und stehen meist in dedikativ-kasualen Kontexten. Besonders verbreitet sind die panegyrisch sehr geeigneten Pokalmotive, aber auch andere gegenständliche Motive aus dem epigrammatisch-inschriftlichen Kontext.36 Die Panegyrik der Figurengedichte zielt hier in der Regel auf bedeutende Persönlichkeiten, auf Institutionen oder besondere Anlässe. Im Pegnesischen Schäfergedicht von 1644 findet sich das erste bescheidene deutschsprachige Figurengedicht innerhalb einer Prosaekloge. Es steht im Zusammenhang der Beschreibung einer „Dratmüle“. Der Maschinenlärm dieser hochtechnischen Produktionsanlage ist derart stark, dass die Schäfer-Dichter Strefon und Klajus sich nicht mehr unterhalten können. Somit verfassen sie jeweils ein Gedicht „zu jhrer Gedächtnis“. Die Drahtmühle wird von ihnen in einem Sonett und in einem Figurengedicht in der relativ schlichten Gestalt eines Ambosses verewigt: Es bewohnen diese Hütten Troglodyten/ Das Gerücht Hat der Künste Lob unnd Prob Hier gedicht und aufgericht. Wer wil Stösse heraussertragen/ frage wieviel es geschlagen?37
34 Silvia Strodel: Zur Überlieferung und zum Verständnis der hellenistischen Technopaignien. Frankfurt a. M. 2002, S. 289–303; Plotke: Gereimte Bilder (Anm. 16), S. 17 f. 35 Vgl. zu den poetologischen Bestimmungen Plotke: Gereimte Bilder (Anm. 16), S. 20–28. 36 Beispielhaft und pompös in der Gestaltung: Salomon Rheda: FrewdenBecher/ Zu Ehren/ Glückwüntschung vnd sonderlichem Wolgefallen/ Dem […] Rudolph Müllern. Erfurt 1606, VD17 547:693642M; ähnlich: Verehrung vnd Geschenck/ Zu Ehren und sonderm Wolgefallen gestellt/ vnd in Truck verfertigt/ Dem Edlen vnnd Vesten Junckern Philipp Hainhofer […]. [Augsburg 1616], VD17 23:677456Y. 37 Pegnesisches Schäfergedicht (Anm. 11), S. 18.
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Der Text des Figurengedichts ist elaboriert und scharfsinnig. Zusammengesetzt ist es aus zwei- und vierhebigen Trochäen, deren Anordnung mit geringfügiger satztechnischer Nachhilfe bei mittelachsenzentrierter Ausrichtung die Gestalt des Ambosses hervorbringt. „Troglodyten“ bezeichnet in der Antike generell Höhlenbewohner und zielt hier auf das „schwartze Schmiedevolk“, wie es im vorangehenden Sonett plastisch heißt. Das „Gerücht“ meint den ohrenbetäubenden Lärm38 der Drahtmühle, das „Hämmern/ Pochen und Poltern“,39 das hier für die Entstehung des Gedichts verantwortlich gemacht wird. Das bedichtete Objekt des Ambosses dient auf diese Weise unvermittelt „der Künste Lob unnd Prob“ und will folglich auch metaphorisch gelesen werden. Dass der Dichterschäfer vom ‚Schmieden‘ zum ‚Verseschmieden‘ übergeht, liegt denkbar nahe.40 Dabei ist der letzte Vers – die argute Pointe – nicht leicht zu verstehen. Aus der Drahtmühle ‚herausgetragen‘ werden letztlich die beiden Gedichte der Pegnitzschäfer. „Stösse“ lässt sich mithin in metaphorischer Assoziation mit den Schlägen des Schmiedehammers scharfsinnig auf den Takt des Verses beziehen.41 Insofern kann die Frage „wieviel es geschlagen“ sinnvoll das Metrum des Gedichts bezeichnen, das abgezählt werden muss. Der Amboss erscheint als scharfsinniges Bild des Versemachens. Damit bleibt die verrätselte Pointe im Kontext des Lobs der Dichtung, dem das Unterfangen der Pegnitzschäfer insgesamt dient. Mit der Wahl des Ambosses bewegt sich das Figurengedicht in einem Motivraum, der dem der antiken Vorbilder entspricht. Als Werkzeug und Artefakt ist das Motiv nicht weit vom Beil des Simias von Rhodos entfernt. Auch die poetologische Thematik findet sich bereits zentral in antiken Figurengedichten wie der Syrinx des Theokrit oder dem Ei des Simias.42 Der Gestalt nach ähnelt es wiederum entfernt dem Iasonaltar. Anders als die antiken Texte ist das vorliegende Beispiel allerdings in den schäferlichen Erzählkontext der Prosaekloge eingebunden. Der bedichtete Gegenstand steht nicht in einem mythologischen oder sakralen Kontext, sondern markiert die Verbindung zu handwerklich-technischen Errungenschaften des heimatlichen Herrschaftsgebiets. Zugleich assoziiert das Schäfergedicht diese Errungenschaften den Fähigkeiten der anwesenden Dichterfiguren.
38 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1854–1971. München 1984, Bd. 5, Sp. 3752, Lemma: „gerücht II.1“: „lautes rufen oder schreien, lärm, getöse“. 39 Pegnesisches Schäfergedicht (Anm. 11), S. 17. 40 Vgl. zum Ambossgedicht: Adler, Ernst: Text als Figur (Anm. 24), S. 159. 41 Einen Bezug des Begriffs „Stoß“ auf die Metrik weist auch das Grimmsche Wörterbuch nach; vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch (Anm. 38), Bd. 14 (1957), Sp. 462, Lemma: „stosz I.4.i): me trisch-rhythmisch“. 42 Christine Luz: Technopaignia. Formspiele in der griechischen Dichtung. Leiden u. a. 2010, S. 335–344.
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Prosaeklogen haben den Charakter von erzählerisch gerahmten Liederbüchern.43 Sie sind in der Regel zugleich durch allegorische Schlüsselbezüge auf reale Personen eines lokalen Herrschaftsraums bezogen, insbesondere aber auf die in ihrem Zentrum stehenden Schäfer-Poeten selbst.44 Als Liederbücher demonstrieren sie die poetischen Fertigkeiten ihrer Autoren. Dazu dient die möglichst große Vielfalt der dargebotenen Gedichtformen. An der vorliegenden Stelle wird dies durch die Präsentation von Sonett und Figurengedicht zu einem gemeinsamen Thema exemplarisch gewährleistet. Die Funktion des Figurengedichts ist also einerseits die Imitatio einer ungewöhnlichen, aus der Antike überlieferten Gedichtform in deutscher Sprache und andererseits deren panegyrische Bindung an den heimischen Herrschaftsraum. Diese panegyrische Funktion ist im gegebenen Fall dadurch gewährleistet, dass das Pegnesische Schäfergedicht eine Hochzeitsgabe anlässlich einer Doppelhochzeit von Mitgliedern dreier Nürnberger Patriziergeschlechter ist, deren Stammbäume später im Text noch explizit gewürdigt werden. In der poetologischen Indienstnahme des Amboss-Gedichts kommt diese doppelte Funktion von panegyrischem Herrschaftslob und bukolischer Dichterlegitimation unmittelbar zum Ausdruck. Als „der Künste Lob unnd Prob“ ist dies im kurzen Gedichttext auf den Punkt gebracht. Dieses erste Beispiel eines Figurengedichts der Pegnitzschäfer hat die inventorische Phantasie in dieser Hinsicht offenbar stark beflügelt. Harsdörffer hat wenig später – 1645 – im 5. Band seiner Gesprächspiele als poetologisches Exempel eine ‚Flasche‘ abgedruckt, die sich auf das entsprechende Vorbild bei Rabelais bezieht.45 Birken macht die Figurengedichte dann in seiner Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey aus dem gleichen Jahr zu einem zentralen poetischen Symbol für die Gründung des Pegnitzordens. Sie fungieren als eine Art inskriptorisches Siegel auf der Gründung der Dichtergesellschaft. Dies wird mehrfach zum Ausdruck gebracht. So dreht sich die Handlung eine geraume Zeit um einen Blumenkranz, der als Preis für den poetischen Wettstreit zwischen Strefon und Klajus ausgelobt wurde. Um diesen bei gleichen poetischen Leistungen am Ende nicht zerteilen zu müssen, beschließt man, jedem Mitglied des künftigen Blumen
43 Zur Prosaekloge: Klaus Garber: Nachwort. In: Pegnesisches Schäfergedicht 1644–45 (Anm. 3), S. 1*–27*; ders.: Martin Opitz’ „Schäferei von der Nymphe Hercinie“. Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland. In: Daphnis 11 (1982) 547–603. 44 Das Gattungsmuster für diesen Funktionszusammenhang bildet im deutschen Sprachbereich die 1630 erschienene „Schäfferey von der Nimfen Hercinie“ des Martin Opitz, die dem Grafen Hans Ulrich von Schaffgotsch gewidmet war: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. IV, 2. Stuttgart 1990, S. 508–578. 45 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Teil 5. Nürnberg 1645, S. 454; vgl. Adler, Ernst: Text als Figur (Anm. 24), S. 132–139; Kühlmann: Kunst als Spiel (Anm. 6), S. 507 f.
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ordens eine Blume aus dem Kranz zuzuteilen, den Kranz selbst aber intakt zu lassen. Sodann heißt es, es „sollen diese Blumen das Bemerke unsrer Hirtengenoßschaft seyn“.46 Bezug genommen wird damit auf den dauerhaften Symbolwert dieser Blumen. Wegen ihrer Vergänglichkeit werden diese dann durch ein mit der Blume und dem Namen seines Trägers besticktes Band substituiert. Damit nicht genug, wird der zum „Bemerke“ und damit zum Zeichen der Gesellschaft erklärte Kranz durch ein Figurengedicht verdoppelt und überhöht beziehungsweise in die Dauerhaftigkeit der Poesie überführt. Genau diesen Sachverhalt formuliert die zweite Hälfte des Kranzgedichtes (Abb. 5): […] Es wird noch dieses Riß beginnen ein starkes Band gewiß anspinnen: und dein Blumbewirten grünt an Ruhm weil die Pegnitz-Hirten krönt die Blum. Bezüngtes Gerüchte/ Trieb unsrer Gedichte/ Mach unsren Verbindungs-Bund Kund in dem weiten Rund Mit Stifften/ in Schrifften.47
Im Mittelpunkt der Aussage steht der inschriftliche Bezug des Gedichttexts auf den Kranz als den durch seine Gestalt repräsentierten Träger – „dieses Riß“ – und die Gewährleistung dauerhaften Ruhms durch das Verfassen von Dichtungen in „unsrer Mutter-Zung“ (S. 32). Das zweite Figurengedicht der Fortsetzung weist auf die Syrinx des Theokrit zurück. Es handelt sich um ein siebenversiges Gedicht in Gestalt einer „PFEIFFE“, das den Hirten des Pegnitzordens als Geschenk des Gottes Pan überlassen wurde (ebd., S. 57). Man beschließt daraufhin, die Rohrpfeife
46 [Birken]: Fortsetzung (Anm. 3), S. 32. Jeremy Adler bezeichnet es etwas ungenau als „Emblem des Blumenordens“: Adler, Ernst: Text als Figur (Anm. 24), S. 160; vgl. auch: Jeremy Adler: Arcadian semiotics. The visual poetry of Sigmund von Birken (1628–1681). In: William A. Kelly: The German book 1450–1750. Studies presented to David L. Paisey in his retirement. London 1995, S. 213–231, hier S. 221, wo er von einer „emblematic method“ spricht. 47 [Birken]: Fortsetzung (Anm. 3), S. 33, Kranzgedicht, v. 9 ff.
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Abb. 5: Sigmund von Birken: Krantz (1645).
[…] solte hinfüro solcher ihrer Genosschaft eigenes Sinnbild/ Kenn- und Merkzeichen seyn und heissen/ worbey sie/ sowohl als an den Blumen (von denen oben erwänet/) von allen andern sollte unterschieden werden. (ebd., S. 67)
Entsprechend dieser symbolischen Funktion zeigt das Titelblatt der Fortsetzung das Bild einer an einem Baum aufgehängten siebenröhrigen Panflöte. Das dazugehörige Figurengedicht Birkens behandelt wiederum die Themen der Dichtung und des Nachruhms (Abb. 6): Du Schäferorgelwerk/ das Pan erkünstelt hat/ Das Ladon/ als er stahl die Nymphe/ hat gebohren/ Dein Tönen macht/ daß oft von uns der blasse Kummer trat/ Du labest Hirten/ Heerd und Heid/ füllst Eiter und die Ohren. Pan hat heut dich uns verehret/ ehret uns mit hoher Gnad: Wir sollen und wollen dich/ Chore der Rohre/ so nützen/ Daß unsrer Gedichte Gerüchte von fernen bey Sternen soll blitzen.48
48 Ebd., S. 67.
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Abb. 6: Sigmund von Birken: Rohr-pfeiffe (1645).
Das Pfeifen-Gedicht setzt sich regelgemäß wiederum aus unterschiedlichen Versarten zusammen. Es beginnt mit zwei Alexandrinern, fährt mit zwei siebenhebigen Jamben fort, der fünfte Vers ist ein achthebiger Trochäus und das Gedicht schließt mit einem fünf- und einem sechshebigen Daktylus. Die gelungene Gestalt der Panflöte ergibt sich trotzdem nur mit Hilfe graphischer Manipulation der Verszeilen. Wie der Kranz wird die Pfeife zu einem Sinnbild der Schäfergesellschaft erklärt. Um dies auch formal zu erfüllen, wird im Text der Prosaekloge zusätzlich noch ein Emblem angefügt. Als pictura hat man sich die Pfeife – entweder verkörpert durch das voranstehende Figurengedicht oder durch den Holzschnitt vom Buchtitel – vorzustellen. Eine eigene pictura des Emblems wird im Text selbst nicht abgedruckt. Als Lemma angeführt wird ein „Spruch-Reim“ aus drei Worten, wie in der Impresentheorie Paolo Giovios empfohlen, hier allerdings nicht in einer Fremdsprache:49
Mit Nutzen Erfreulich.
Das Sorgenreiche Geld erfreut die Schäfer nicht/ Der eitlen Ehre Freud giebt ihnen kein Belieben. Ein freyer Freudenstand/ ein frohes Feldgedicht/ Ein Freudgereitzter Reim den Baumen eingeschrieben Samt einer Freudenpfeiff aus Rohren zugericht/ Heist eine Schäfer-Freud/ in ihrer Trift getrieben. Ihr Hirten/ freuet euch/ der alles hält in allen Der grosse Pan erfreut euch mit dem Gnadenschutz/ Die Schäfer-Freudenfest ihm ebenfalls gefallen. Die Freude sonder Reu ist wahrer Tugend Nutz. (Ebd.)
49 Das Lemma bei Emblem und Imprese wird traditionell durch ein lateinisches Zitat oder zumindest einen fremdsprachigen Ausspruch aus maximal drei Worten gebildet. Dies zielt auf eine gewisse Verrätselung. Davon wird hier abgewichen. Vgl. Paolo Giovio: Dialogo dell’Imprese Militari et Amorose. Venedig 1556, S. 6; dazu: Dieter Sulzer: Zu einer Geschichte der Emblemtheorien. In: Euphorion 64 (1970), S. 23–50, hier S. 31 f.
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Die subscriptio bzw. „Erklärung“ Strefons rekurriert sprachspielerisch auf das Motto, indem es den Begriff „Freude“ in jedem einzelnen Vers aufgreift. Auch die Pfeife und der „Nutz“ kommen im Text vor. Dem schäferlichen Motiv der Panflöte wird somit in der Fortsetzung sowohl im Rahmen der Erzählung als auch mit einem Figurengedicht und einem formgerechten Emblem (mit auf dem Buchtitel und/oder als Figurengedicht vorangestellter pictura) Rechnung getragen. Figurengedicht und Emblem sind dabei formal und in der Benennung klar unterschieden: als „Bildreimen“ ist ersteres in der Glosse bezeichnet, als „Spruch-Reim“ und „Sinnbild-Erklärung“ das Lemma und die subscriptio des Emblems. Birkens originelle Kombination von Figurengedicht und Emblemtext legt es nahe, die Frage nach dem genauen Verhältnis der beiden Text/Bild-Genres zu stellen. Dies scheint umso notwendiger, als in der historischen Einordnung der Figurengedichte in vielen auch neueren Arbeiten immer wieder Parallelen zur Emblematik gezogen wurden. Der Vergleichspunkt ist dabei deutlich: In beiden Fällen handelt es sich um originäre Text/Bild-Kombinationen, die eine nennenswerte frühneuzeitliche Konjunktur aufzuweisen haben. Attraktiv erscheint der Vergleich, weil die Anbindung an die poetologisch gut fundierte und ideengeschichtlich aussagekräftige Tradition der Emblematik den Figurengedichten eine philosophische Substanz zu verleihen vermag, die über das bloß artistische Spiel dieser Form hinausweist. Der Bezug der Figurengedichte auf die Emblematik wurde in der Forschung immer wieder stark gemacht. Wilhelm Kühlmann hält ihn für „naheliegend“, stellt aber fest, dass es in den Barockpoetiken erstaunlicherweise keine Belege für den Zusammenhang gebe, was er auf den „divergenten Begründungskontext“ zurückführt.50 Ulrich Ernst sieht große Gemeinsamkeiten in der Text/ Bild-Beziehung51 und Jeremy Adler bezeichnet die Figurengedichte geradezu als „telescoped emblems, uniting pictura and subscriptio“, und nimmt an, dass sie „simultaneously embody the natural, the human, and the Divine“.52 Im Licht der Emblematik verwiesen die Figurengedichte mithin auf die Fähigkeit des Dichters „to read the Book of Nature“ (ebd.). Für Plotke unterstreicht die angenommene Verwandtschaft mit der Emblematik die Tendenz auch der Figurendichtung, „eine bildhaft deutende Sicht auf die Welt und ihre Erscheinungen“ zum Ausdruck zu bringen.53 Somit scheint der Verweis auf die Emblematik die Zuordnung
50 Kühlmann: Kunst als Spiel (Anm. 6), S. 505 und 506, Anm. 3. 51 Ulrich Ernst: The figured Poem: Towards a Definition of Genre. In: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang (Anm. 23), S. 1–21, hier S. 6. 52 Adler: Arcadian semiotics (Anm. 46), S. 214. 53 Plotke: Gereimte Bilder (Anm. 16), S. 59–69, hier S. 60.
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der Figurengedichte zu den Traditionen der christlich inspirierten Allegorese und Signaturenlehre in Mittelalter und Früher Neuzeit zu stützen. Insofern dient er einer tendenziellen Sakralisierung der Figurengedichte durch ihre Interpreten. Dennoch erscheint die Parallelisierung problematisch. Die beiden Genres sind formal völlig unterschiedlich konstruiert und entstammen völlig andersartigen Traditionen. Im Fall der Emblematik sind dies die Heraldik, die frühneuzeitliche Impresenkunst und die Hieroglyphenlehre der Renaissance, die durch naturkundliche und mythologische Motive angereichert werden. Semantisch geht es um die allegorische Ausdeutung verrätselter Symbole und naturkundlicher oder mythologischer Gegebenheiten in einem oft moralischen Sinn. Im Fall der Figurengedichte werden die bedichteten Objekte dagegen nicht mithilfe einer nichtschriftlichen pictura, sondern durch die typographische Anordnung von Verszeilen dargestellt. Das Spektrum der Objekte ist sehr viel eingeschränkter, andersartig und einfacher in seiner Beschaffenheit. Die Darstellungen der Figurengedichte sind auch nicht deutungsbedürftig und sie werden in der Regel keiner textlichen Ausdeutung unterzogen. Die hermeneutische Richtung ist somit umgekehrt: während das Emblem von der pictura zur Erklärung ihres Sinns in der subscriptio voranschreitet, wird der Bildgegenstand beim Figurengedicht durch den Text erst konstituiert.54 Diese hermeneutischen Unterschiede erklären sich daraus, dass die historische Genese beider Genres unterschiedlich und unabhängig voneinander zu beschreiben ist.
4 Epigrammatik Bei den überlieferten Figurengedichten der griechischen Antike handelte es sich in vier der sechs Fälle um Weihepigramme. Christine Luz schreibt resümierend, sie stellen sich als beschriftetes Weihobjekt dar, in dem die Figur, die das Gedicht abbildet, dem Gegenstand entspricht, auf dem die Inschrift zu stehen vorgibt. Auf diese Weise wird das Figurengedicht in einen Kontext gestellt, in dem das Zusammenspiel von Text und Bild seinen Platz hat: Das Weihgedicht braucht einen Gegenstand, auf dem es steht, also bringt ihn das Figurengedicht in der Figur seines Textkörpers mit.55
54 Plotke geht umgekehrt davon aus, dass auch beim Figurengedicht der „graphisch-ikonische[] Signifikationsmodus“ primär sei: Ebd., S. 53. 55 Luz: Technopaignia (Anm. 42), S. 352; als Weihepigramm gelten das Beil und die Flügel des Simias von Rhodos, die Syrinx, die Theokrit zugeschrieben wurde, und der Iasonaltar. Über-
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Damit gehören die Figurengedichte zum Genus der Epigramme, für die solche reale oder fiktive ‚Inschriftlichkeit‘ typisch ist. Scaliger bezeichnet das Epigramm generell als „statuae inscriptio“.56 Epigramme als Objektaufschriften bilden als Weih- oder Geschenkepigramme sowohl in der Griechischen Anthologie als auch bei Martial eigene genuine Subgenres.57 Für literarische Epigramme, die nicht mehr unmittelbar auf Gegenstände aufgebracht sind, ergibt sich die Notwendigkeit, den angedichteten, nun aber abwesenden Gegenstand auf andere Weise zu evozieren, entweder, indem er innerhalb des Epigrammtexts benannt wird, oder etwa, indem in einer Epigrammüberschrift auf ihn verwiesen wird. Scaliger diskutiert diesen Fall und nennt als Beispiel die Überschrift „In Rufi statuam“ des Ausonius.58 In einer ähnlichen Funktion kann man die Figur beim Figurengedicht sehen. Sie stellt das Dedikationsobjekt dar, auf das man sich die Epigrammschrift aufgebracht vorzustellen hat. Christine Luz hat sogar eine These entwickelt, nach der die Konstitution der Figur beim Figurengedicht vom Rezipienten erst konstruierend hervorgebracht werden müsse. Demnach wäre das Figurengedicht als ein Rätseltext zu verstehen, der sein Objekt erst preisgibt, wenn man als Leser die korrekte Zeilenanordnung nach dem Versmaß rekonstruiert hat.59 Die These ist spekulativ, macht aber die hermeneutische Richtung nochmals deutlich: Diese verläuft beim Figurengedicht vom Epigrammtext zur Konstitution der Figur. Beim Emblem verläuft sie dagegen umgekehrt von der deutungsbedürftigen pictura zum sinnerschließenden Epigramm. Die Beobachtung, dass die Konstitution der Figur eine Art Rätsel darstellt, passt letztlich auch zu den frühen Figurengedichten Birkens und der Pegnitzschäfer. Auch im Ambossgedicht wird der Amboss im Text des Gedichts nicht genannt (allerdings im umgebenden Prosatext). Der Gedichttext spielt ausschließlich mit
schritten wird die Form des Weihepigramms im Ei des Simias und im Musenaltar, die beide poetologische Fragen thematisieren; vgl. ebd. S. 327–351. 56 Scaliger (Anm. 21) III, cap. 125, 169b/170a, S. 202; vgl. zur Inschriftlichkeit des Epigramms auch Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, S. 218–223. 57 Weihepigramme bilden das VI. Buch der ‚Anthologia Graeca‘, Geschenkepigramme als Xenia und Apophoreta das 13. und 14. Buch der Epigramme des Martial; vgl. zu letzterem Meike Rühl: Saturnalicio lusit et ipse luto. Martial und die Kunst in den Apophoreta. In: Rheinisches Museum für Philologie 149 (2006), S. 287–309. 58 Scaliger (Anm. 21) III, cap. 170a, S. 204 f. 59 Dies setzte voraus, dass die Gedichte ursprünglich fortlaufend ohne Zeilenumbruch geschrieben waren oder dass sie mündlich rezipiert wurden, so dass die Gestalt nicht visuell kenntlich wurde; vgl. Christine Luz: Das Rätsel der griechischen Figurengedichte. In: Museum Helveticum 65 (2008), S. 22–33, bes. S. 26 ff.
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dem Doppelsinn der Schmiedemetapher, so dass das Thema und die Figur des Ambosses aus dem Text erst hermeneutisch erschlossen werden müssen. Der Amboss wird vom Gedicht nicht als Objekt emblematisch ausgedeutet, er bildet vielmehr die metaphorische Auflösung eines Texts, der explizit nur vom Dichten spricht. Ähnlich wird auch im Pfeifengedicht die Pfeife nicht ausdrücklich genannt. Sie wird stattdessen vielfach umschrieben, so dass die visuelle Gestalt des Gedichts eine Auflösung des solcherart Umschriebenen bietet. Anders ist es lediglich beim Blumenkranz, der am Beginn des Texts explizit angesprochen und hervorgehoben wird: „Du buntlicher runder KRANTZ“. Von einer unmittelbaren Analogisierung der Traditionen von Emblematik und Figurendichtung sollte man folglich absehen. Näher liegt es, die Parallelen auf die gemeinsame Wurzel ihres textlichen Bestandteils zurückzuführen. Bei dieser gemeinsamen Wurzel handelt es sich um das poetische Modell des Epigramms, das sich seit dem späten fünfzehnten Jahrhundert zu einem epochalen poetologischen Modell des Späthumanismus entwickelt hat. Die Epigrammmode hat praktisch alle Gattungen der Frühen Neuzeit überformt.60 Sie zeigt sich verantwortlich für die Entwicklung der stilbildenden argutia-Ästhetik der Zeit. Sie schlägt eine Brücke zur höfischen Geselligkeitskultur und zur Panegyrik. Ihre unmittelbare Kombination mit der Impresentradition der Renaissance bringt die Emblematik hervor. Ihr überzeugendes Merkmal ist ihr inschriftlicher Charakter. Das Modell der Inschrift macht das Epigramm zum sinnfälligsten Träger der zentralen humanistischen Überzeugung von der Dauerhaftigkeit der Schrift, der Poesie, der Gelehrsamkeit und des von ihr gewährten innerweltlichen Nachruhms. Damit ist der Epigrammatismus von seiner Konstitution her eine Begleiterscheinung der wesentlich säkularen Tendenzen der europäischen Renaissance. Seine geistliche Indienstnahme erscheint demgegenüber als ein nachgeordnetes Phänomen. Man sollte die frühneuzeitlichen Figurengedichte folglich nicht vornehmlich im Kontext von Emblematik und Allegorese diskutieren, sondern sie stärker ins Licht der Epigrammtradition rücken. Dies wird auch dann aufschlussreich, wenn man sich die beliebtesten Motive der Figurengedichte ansieht. Dabei handelt es
60 Vgl. zur Entwicklung der Epigrammmode insgesamt: James Hutton: The Greek Anthology in Italy to the Year 1800. Ithaca, New York 1935; Ulrich Schulz-Buschhaus: Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Barock. Bad Homburg u. a. 1969; Henning Mehnert: Sal Romanus und Esprit Français. Studien zur Martialrezeption im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts. Bonn 1970; Frank-Rutger Hausmann: Untersuchungen zum neulateinischen Epigramm Italiens im Quattrocento. In: Humanistica Lovaniensia 21 (1972), S. 1–35; Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979; Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin, New York 1996; Borgstedt: Topik des Sonetts (Anm. 56), S. 211 ff.
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sich um die klassischen Trägerobjekte epigrammatischer Inschriften: um Pokale, Säulen, Pyramiden, Altäre, Brunnen, Flaschen, Kränze, Bäume. Hinzu kommen typisch humanistische Schriftträger: Bücher, der Berg Parnass oder auch die Verkörperungen der Künste, insbesondere Musikinstrumente wie die Panflöte, die Lyra, die Orgel oder wie bei Johann Geuder die Geige. Am verbreitetsten sind Monumente, die in ihrer steinernen Gestalt die in Anspruch genommene Dauerhaftigkeit der Schrift auch in ihrem Material repräsentieren. In gewissem Sinn kann man hierzu auch die Kreuzfigur zählen, wenn sie wie bei Olearius als virtuelles „Grabmal“ zum Träger einer dedikativen Grabschrift wird. Thomas Neukirchen hat in seiner Untersuchung textimmanenter Inschriften in der Barockliteratur betont, dass die wesentliche Funktion dieser Inschriften darin bestehe, die Dauerhaftigkeit und damit den Wert der humanistischen Schriftkultur zu erweisen. Es gehe nicht primär darum, die Schrift durch einen dauerhaften Schriftträger zu verewigen, wie oft angenommen wird. Vielmehr werde die Schrift selbst in ihrer Dauerhaftigkeit manifestiert: Die Inschriften in der Literatur des Barock bezeichnen demnach im wesentlichen die Präsenz der Schrift in eben dieser Literatur; und insofern die Schrift eine wesentliche Grundbedingung und einen integralen Bestandteil der Gelehrsamkeit darstellt, läßt sich diese Präsenz begreifen als Repräsentation der Schriftgelehrsamkeit, damit aber als Repräsentation des barocken Schriftgelehrten und seines ständischen Bewußtseins.61
Diese Diagnose deckt sich unmittelbar mit den von mir untersuchten Figurengedichten Birkens und der Pegnitzschäfer. Insbesondere der Fall des Kranzes erhellt, dass hier keineswegs die Unvergänglichkeit des Schriftträgers zentral ist. Der vergängliche Blumenkranz wird vielmehr durch die Dichterschrift in die Dauerhaftigkeit überführt. Genau dieser Sachverhalt wird im Text der pegnesischen Figurengedichte systematisch ausgesprochen: „Das Gerücht Hat der Künste Lob unnd Prob Hier gedicht und aufgericht“ (Amboss), „Bezüngtes Gerüchte/ Trieb unsrer Gedichte […] Mit Stifften/ in Schrifften“ (Kranz), „Daß unsrer Gedichte Gerüchte von fernen bey Sternen soll blitzen“ (Pfeife). Die Figurengedichte aus dem Pegnesischen Schäfergedicht und seiner Fortsetzung sind allesamt eng an die Motive der antiken Vorbilder angelehnt. Der Amboss erinnert nach Form und Motiv an das Beil des Simias von Rhodos62 und
61 Thomas Neukirchen: Inscriptio. Rhetorik und Poetik der Scharfsinnigen Inschrift im Zeitalter des Barock. Tübingen 1999, S. 257, vgl. darin auch die „Kurze Geschichte der textimmanenten Bauminschrift“, S. 184–201. 62 Luz: Technopaignia (Anm. 42), S. 330–332.
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die Rohrpfeife greift unmittelbar die Syrinx des Theokrit63 auf. Die Texte sind in den narrativen Erzählzusammenhang der Prosaekloge integriert und zielen auf die Selbstvergewisserung der späthumanistischen Dichtergelehrten. Dies kommt bei Kranz und Pfeife durch ihre symbolhafte Funktion als Memorialzeichen der Dichtergemeinschaft und insgesamt durch die inhaltlichen Aussagen der Gedichttexte zum Ausdruck. Damit stehen sie im engen Funktionszusammenhang mit der bukolischen Textgattung, in die sie eingelassen sind.
5 Eine Legitimationsfigur Die Prosaeklogen der Zeit stellen eine grundlegende Sinnfigur bereit. Sie bringen einen ‚natürlich‘ gegebenen Kultur- und Herrschaftsraum in einen panegyrisch-legitimatorischen Zusammenhang mit einer angestammten Herrschaftsordnung – einem Herrschaftsgeschlecht oder auch den Vertretern eines städtischen Patriziats, wie im Fall der Pegnitzschäfer – und einem als schäferlich gezeichneten Stand humanistischer Dichtergelehrter. Letztere bringen ihre poetischen Fertigkeiten in zahlreichen, dem heimatlichen Raum gewidmeten Gedichtbeispielen zum Ausdruck. Die Prosaeklogen bilden damit eine integrale Legitimationsfigur, bestehend aus einem heimatlichen Natur- und Kulturraum, einer zugehörigen legitimen Gebietsherrschaft und einer von einem Dichter- und Gelehrtenkreis dargebrachten Huldigungsdichtung, die diese drei Pole legitimatorisch zusammenschließt. Die bukolische Dichtung der Frühen Neuzeit ist so aufs Engste verbunden mit der absolutistischen Herrschaftsform, die als ‚natürlich‘ und genealogisch legitimiert poetisch überhöht und ‚verewigt‘ wird, ohne dabei auf christliche oder gar kirchliche Legitimationsfiguren zu rekurrieren. Darin wiederum gründet die Beliebtheit bukolischer Gattungen im Umfeld der Höfe und ihre umfangreiche historische Konjunktur im Zeitalter des Absolutismus. Die Figurengedichte sind dabei eine ungewöhnliche, aus der Antike überkommene Gedichtform, deren poetische Beherrschung eine gesteigerte Wirkung auszuüben vermag. Zugleich eignen sie sich durch ihre visuelle Präsenz zu einer symbolischen Verdichtung des genannten Sinnzusammenhangs. Besonders dienen die untersuchten Beispiele dabei der Selbstlegitimation des pastoralen Dichterkreises. Insofern ist die Aussage von Jeremy Adler, die Figurengedichte
63 Ebd., S. 341–344.
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spielten eine zentrale Rolle „in legitimating the pastoral“,64 zu modifizieren. Nicht das Pastorale bedarf der Legitimierung, es ist umgekehrt: Legitimiert werden eine zeitgenössische Herrschaftsordnung und ein bürgerlicher Gelehrtenstand im Licht einer naturhaften Ursprünglichkeit, die pastoral inszeniert wird. Die semantische Komplexität der Figurengedichte wird zunehmend gesteigert, was durch die Kontextualisierung innerhalb der Prosaeklogen begünstigt wird. So werden zunehmend neue Motive erprobt und komplexere Sinnzusammenhänge angestrebt. Dazu zählt auch die Kombination und Überlagerung mit weiteren Deutungskontexten. Bereits die oben diskutierte emblematische Ergänzung der Rohrpfeife in Birkens Fortsetzung des Pegnesischen Schäfergedichts zielt in diese Richtung. Birken hat 1646 drei Figurengedichte im Rahmen einer kurzen Prosaekloge anlässlich der Hochzeit von Justus Georg Schottelius veröffentlicht, die er später in die Guelfis (1669) aufgenommen hat.65 Neben der Darstellung der Widmungsobjekte nimmt Birken hier eine zusätzliche mythologische Kontextualisierung vor. In einem Traum des Schäfers Fontano wird das Urteil des Paris aufgerufen, ohne dass Paris selbst partizipiert.66 Es treten die Göttinnen Juno, Pallas Athene und Venus auf. Die Güter, die die drei Göttinnen im Mythos dem Paris versprechen, werden nun in Gestalt von Figurengedichten dem Hochzeiter zugeeignet: Für Juno repräsentiert ein Pokal „Gut und Geld“, für Pallas ein Sonett in Buchform die Weisheit und für Venus schließlich zwei „Reim-Herzen“ die Liebe des Brautpaars. Eine ähnliche semantische Überlagerung laudativer Figurengedichte findet sich in Birkens Pipenburgischer Raht-Stelle. Diese Gedichte anlässlich der Wahl Joachim Pipenburgs in den Lüneburger Senat befassen sich mit den Tugenden einer „Staats- und Rahts-Person“ (S. 247). Hier werden die Dedikationsobjekte Buch, Kranz und Waage in drei Bäume geritzt, nämlich eine „Büche/ Erle/ und Linde“ (S. 249). Die Baumarten repräsentieren dabei über eine poetische Etymologie die Tugenden des Staatsmanns: die Erle die „Ehre“ in Gestalt eines Kranzes, die Buche die Weisheit in Gestalt eines Buchs und die Linde die „gelinde Billigkeit“ in Gestalt einer Waage (S. 250 f.). Wie die Mythologie in den Gedichten für
64 Adler: Arcadian semiotics (Anm. 46), S. 214. 65 Eine kommentierte Edition des Druckes von 1646 in: Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster (Werke und Korrespondenz 9). Tübingen 2007, Text 2c, S. 91 f., 715–725. Dort auf S. 716 zur späteren Fassung in der „Guelfis“ von 1669. 66 Adler hat das Motiv des Parisurteils in seiner Analyse der Szene übergangen und stattdessen anhand der Göttergestalten einen metaphysischen („supernatural“) Gehalt hervorzuheben versucht; vgl. Adler: Arcadian semiotics (Anm. 46), S. 228 ff.
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Schottelius steigert hier eine schäferliche Baumallegorik den poetischen Bedeutungsraum der Figurengedichte.67 Festzuhalten bleibt, dass die barocken Figurengedichte Birkens sich initial eng auf ihre antiken Vorbilder beziehen. Sie werden als genuin pastorale Ausdrucksform frühneuzeitlicher Panegyrik in den Kontext der barocken Prosaekloge integriert und zur symbolischen Repräsentation der schäferlichen Dichtergesellschaft genutzt. Die Betonung liegt hier neben ihrer panegyrischen Ausrichtung in der Legitimation der späthumanistischen Dichtungspraxis selbst. Zusätzlich finden sich christlich-erbauliche Verwendungsweisen, die oft ebenfalls in kasualen Kontexten im Rahmen von Leichabdankungen und ähnlichem oder als Exempeltexte in Poetiken auftreten und die die Möglichkeiten einer geistlichen Verwendungsweise der Figurengedichte dokumentieren. Insbesondere die Kreuzgestalt eignet sich dazu in eindrucksvoller Weise. Insgesamt aber bleiben Birkens Figurengedichte eng auf kasuale Zwecke und auf den Kontext der Prosaekloge bezogen, wobei sie zunehmend semantisch kompliziert werden. Dies geschieht durch die kunstvolle Kombination mit beliebten emblematischen und mythologischen Motiven der Zeit, mit denen sie leicht verbunden werden konnten. Diese Kombinierbarkeit sollte gleichwohl nicht dazu verleiten, eine allzu enge Verbindung von Figurendichtung und Emblematik zu unterstellen. Beide Text/Bild-Gattungen sind genetisch mit der Tradition der Epigrammdichtung verbunden. Eine primäre oder ursächliche Anbindung der Figurengedichte an die christliche Allegorese des Mittelalters oder die Signaturenlehre der Renaissance erscheint aber angesichts von deren Verwurzelung in der pastoral geprägten Panegyrik nicht angezeigt. Ebensowenig angezeigt ist eine allzu unmittelbare Assoziation mit den modernen Bestrebungen experimenteller Poesie, sofern diese auf die Autonomie und Eigenwertigkeit literarischer Verfahren zielen. Auch der Begriff des Manierismus erscheint hier wenig dienlich, da er stets auf die historische Absetzung von einem klassizistischen Stilideal zielt. Bei den Figurengedichten geht es vornehmlich darum, eine besondere, noch wenig geläufige lyrische Form der Antike in einem humanistischen Sinn für die Gegenwart zu erschließen. Ihren ‚Sitz im Leben‘ gewinnt sie im Rahmen der epigrammatisch geprägten Kasualdichtung. Ihre anspruchsvollste literarische Gestaltung erfährt sie als ein symbolhaftes Signet jener poetischen Komplexion aus Dichterlegitimation und Herrschaftslob, für die die frühneuzeitliche Prosaekloge besonders charakteristisch ist.
67 Adler sieht hier eine „climax in Birken’s handling of visual poems as natural […] signs“; ebd., S. 230.
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„Komm, du schöne Sommerzeit! Komm, du süsse Ewigkeit!“ Sigmund von Birkens Sommerlied vor dem Hintergrund der lutherisch-barocken Predigt- und Auslegungstradition
1 Paul Gerhardts (1607–1676) berühmtes Sommerlied1 kennen viele – auch Zeitgenossen, die sonst in religiöser und hymnologischer Sicht eher ‚unmusikalisch‘ sind. Manchem mag auch das immerhin selbst im Evangelischen Gesangbuch von 1993 zu findende Mai-Lied des Schlesiers Martin Behm (1557–1622) noch in den Ohren klingen (‚Wie lieblich ist der Maien‘). Die meisten der recht zahlreichen barocken Sommer-Gedichte und -Kirchenlieder indes sind heutzutage wenig oder gar nicht bekannt – so etwa Simon Dachs (1605–1659)2 hier einschlägige Texte, aber auch das Sommer-Lied Sigmund von Birkens (1626–1681),3 eines Autors,
1 Johann Georg Ebeling (Hg.): PAULI GERHARDI Geistliche Andachten Bestehend in hundert und zwanzig Liedern […]. Berlin 1667 (Nachdruck: Paul Gerhardt: Geistliche Andachten [1667]. Samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten. Hg. von Friedhelm Kemp. Mit einem Beitrag von Walter Blankenburg. Bern, München 1975), S. 108 f. Vgl. Johann Anselm Steiger: „Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’“. Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theologie). Berlin, New York 2007. 2 Zu Dach vgl. Ulrich Maché, Axel E. Walter: Dach, Simon. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 2. Berlin u. a. 2008, S. 534–536 sowie folgenden Sammelband: Axel E. Walter (Hg.): Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126). 3 Vgl. zu Birken Klaus Garber: Birken, Sigmund von. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Zweite vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 1. Berlin u. a. 2008, S. 558–564; Hartmut Laufhütte: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Passau 2007; Conrad Wiedemann: Sigmund von Birken 1626–1681. In: Fränkische Klassiker. Hg. von Wolfgang Buhl. Nürnberg 1971, S. 325–336; Joachim Kröll: Sigmund von Birken (1626–1681). In: Fränkische Lebensbilder 9 (1980), S. 187–203 sowie Ferdinand van Ingen: Sigmund von Birken. Ein Autor in Deutschlands Mitte. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 257–275. https://doi.org/10.1515/9783110593129-105
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dessen Lieder4 ehedem in den Gesangbüchern recht zahlreich vertreten waren. Im heutigen Evangelischen Gesangbuch finden sich nur noch zwei Lieder des Nürnberger Dichters.5 Birkens Sommer-Lied umfaßt in der Manuskriptfassung 34 Strophen und kam erstmals im Jahre 1657 in Johann Michael Dilherrs (1604–1669)6 im Verlagshaus Endter zu Nürnberg publizierten Zeit-Predigten7 zum Abdruck. Das Gedicht
4 Zu Birkens geistlicher Lyrik vgl. die bislang einzige monographische Arbeit: Richard Mai: Das geistliche Lied Sigmund von Birkens. München 1968; Johann Anselm Steiger: Pfau und Kranich. Ein Beitrag zur Emblematik in der geistlichen Dichtung Sigmund von Birkens (1626–1681). In: Praktische Theologie und Landeskirchengeschichte. Dank an Walther Eisinger. Hg. von Johannes Ehmann. Münster (Westf.) 2008 (Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 12), S. 349– 363; Johann Anselm Steiger: Luther und der Schwan. Bemerkungen zu einem Bildmotiv bei Jacob von Sandrart und Sigmund von Birken. In: solo verbo. Festschrift für Bischof Dr. Hans Christian Knuth. Hg. von Knut Kammholz u. a. Kiel 2008, S. 114–124; Johann Anselm Steiger: Multimediale Verkündigung des Wortes Gottes in der Freien Reichsstadt Nürnberg. Zur Kooperation Sigmund von Birkens (1626–1681) mit Johann Michael Dilherr (1604–1669). In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 81 (2012 [erschienen 2013]), S. 106–122 sowie Johann Anselm Steiger: Heilbrunnen. Zwei Gedichtgruppen Johann Rists und Sigmund von Birkens und das transkonfessionelle Bildmotiv des fons vitae. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung 7 (2013), S. 45–66. 5 Nämlich ‚Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken‘ (EG 88) und ‚Lasset uns mit Jesus ziehen‘ (EG 384). 6 Zu Dilherr vgl. Renate Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung. 2 Teile. Wiesbaden 2002 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 43), hier: Teil 1, S. 247–531; dies.: Johann Michael Dilherr und der Pegnesische Blumenorden. In: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Hg. von Klaus Garber, Heinz Wismann. 3 Bde. Tübingen 1996, S. 1320–1360; Wilhelm Kühlmann: Addenda zur Korrespondenz Johann Michael Dilherrs, zugleich ein Hinweis auf einen Briefcodex namhafter Theologen (BUN Straßburg). In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 59 (1990), S. 105–115; Thomas Bürger: Der Briefwechsel des Nürnberger Theologen Johann Michael Dilherr. In: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Festschrift Blake Lee Spahr. Hg. von Martin Bircher u. a. Amsterdam 1984 (Chloe 3), S. 139–174; Dietmar Peil: Zur ‚angewandten Emblematik‘ in protestantischen Erbauungsbüchern. Dilherr – Arndt – Francisci – Scriver. Heidelberg 1978 (Beihefte zum Euphorion 11); Williard James Wietfeldt: The emblem literature of Johann Michael Dilherr (1604–1669). An important preacher, educator and poet in Nürnberg. Nürnberg 1975 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 15); Gerhard Schröttel: Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg. Nürnberg 1962 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 34). 7 Vgl. Johann Michael Dilherr: Zeit-Predigten/ gerichtet auf das Advent/ Weihenachten/ Neujahr/ Fest der Weisen/ Grünen Donnerstag/ Ostern/ Himmelfahrt/ Pfingsten/ etc. Samt beygefügten dazu gehörigen Gebeten. Nürnberg 1657 (FB Gotha Theol. 8° 733/16 [1]), S. 704–714.
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umfaßt hier allerdings nur 29 Strophen (vgl. Textanhang).8 Birkens Sommerlied ist der 13. Predigt Dilherrs zugeordnet, die dieser – wie eine Marginalie mitteilt – 1640 in Jena gehalten hat, also in der Zeit, als Dilherr noch eine Professur an der Salana bekleidete. Die Predigt trägt folgende Überschrift: „Die Dreyzehehende [sic!]/ So eine Sommer-Predig/ von dem Gekrönten Jahr. Jn JESU Namen/ Amen!“9 Predigttext ist Ps 65,12: „Du krönest das Jahr mit deinem Gut/ und deine Fußstapffen trieffen von Fette.“10 Dilherrs Predigttext-Auswahl berücksichtigt Birken sogleich zu Anfang seines Gedichtes. Denn das Gedicht setzt (ganz anders übrigens als Paul Gerhardts Sommerlied) mit der Anrede des Sommers als einer Krone ein („Kron des Jahres“), um in den ersten vier Strophen eine Fülle von Metaphern und Prosopopöien zwecks einer umfassenden Begrüßung – siebenmal begegnet die Wendung „sey gegrüst!“ – dieser Jahreszeit folgen zu lassen. Erst in Str. 5 wechselt das lyrische Ich die Adresse, spricht nun Gott an, zollt ihm den fälligen Lobpreis in hymnischer Gebetssprache und bittet ihn darum, die Voraussetzungen auf seiten des Beters zu schaffen, damit dieser befähigt werde, Gott zu danken und den rechten usus der Sommerzeit ins Werk zu setzen. Wie in zahlreichen zeitgenössischen Gebet- und Meditationsbüchern, etwa Heinrich Müllers (1631–1675),11 dessen Schriften Birken vielfältig rezipiert hat, bezeichnet das Gedicht Dank und Lob, die Gott zu zollen sind, als geistliche Opfergaben und das Herz des Betenden als ‚Dankaltar‘12 („Laß mit Dank mein Herze rauchen“). Schon an dieser Stelle wird exemplarisch sichtbar, daß Birken bestrebt ist – und zahlreiche weitere Belege in seinem Œuvre bestätigen dies –, seine sich auf Werke anderer Autoren beziehenden Gedichte einerseits in äußerst enger Bezugnahme
8 Vgl. Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. 2 Bde. Tübingen 2007, Nr. 161. 9 Dilherr: Zeit-Predigten (Anm. 7), S. 646. 10 Ebd., S. 658 f. 11 Vgl. Helmut K. Krausse, Redaktion: Müller, Heinrich. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 8 (2010), S. 394–396; Johannes Wallmann: Müller, Heinrich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Vierte völlig neu bearbeitete Auflage. Bd. 5. Tübingen 2002, Sp. 1570; Helge Bei der Wieden: Müller, Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 18 (1997), S. 405 f.; ders.: Müller, Heinrich. In: Biographisches Lexikon für Mecklenburg. Bd. 1 (1995), S. 170–174; ders.: Müller, Heinrich. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Bd. 9 (1991), S. 240–243. 12 Vgl. Heinrich Müller: Geistlicher Danck-Altar/ Zum täglichen Lob-Opffer der Christen/ Mit vielen Kupffern gezieret. Benebenst Einem Anhang zweyer Theologischer Fragen. I. Ob ein Christ in gewissen Fällen für seinen Nähesten das Leben zu lassen schuldig seye? II. Ob ein Christ/ von einem Trunckenbold überfallen/ lieber tödten sol/ oder sich tödten lassen? […]. Frankfurt a. M. 1670 (UB Rostock Fm-3082).
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auf eben diese zu formulieren, er diese Gelegenheiten zugleich aber zum Anlaß nimmt, in seinen lyrischen Texten, die weitaus mehr sind als ‚Beigaben‘, solche Aspekte in den Vordergrund zu stellen, die weit über die argumentative Struktur des jeweiligen (in diesem Falle des Dilherrschen) Bezugstextes hinausgehen. Begrüßt wird der Sommer in Birkens Text als Stifter von umfassender Fruchtbarkeit mit Blick auf die Nutz- und Zierpflanzen sowie die Heilkräuter, als Ermöglichungsgrund von outdoor-Freizeitgestaltung zu Wasser und zu Lande, als Stifter von Liebe und Wollust und vielem mehr, wobei die Fülle der in dieser Jahreszeit bereitgestellten sowie alle Sinne affizierenden Gaben und Freuden in der Plerophorie der Prosopopöien ihre Abbildung, ja Inszenierung findet. Nach der betenden Adressierung Gottes, des Schöpfers und Erhalters aller Kreatur in Str. 5 wendet sich das lyrische Ich in den Str. 6–8 erneut der Beschreibung der sommerlichen Situation zu, wobei im Sinne bukolischer Topik auch die fernab von „Stadt und Haus“ zu findenden sommerlichen loci amoeni in den Blick genommen werden, die es ermöglichen, mit der prächtigen Natur zu verschmelzen, ja, im Grase liegend, von den Kräutern gleichsam in die Arme geschlossen zu werden (Str. 7). Und doch dient all das, was in der sommerlichen Landschaft zu erleben ist, letztlich der meditativen Versenkung in den ersten Glaubensartikel, weswegen das lyrische Ich sein göttliches Gegenüber darum bittet, im Herzen gegenwärtig zu sein, insofern dies die Voraussetzung dafür ist, die Kreaturen als Personifikationen ihres Schöpfers in rechter Weise wertzuschätzen: Laß mich, wann ich geh spaziren, dich im herzen mit mir führen. der Geschöpfe Wunderzier, stelle mir den Schöpfer für.
Ziel des vorliegenden Beitrags – das klang bereits an – ist es, Birkens großartigen Text einer Auslegung vor dem Hintergrund der sich in ihm gleichsam wie in einem Brennglas bündelnden Auslegungstradition lutherischer Naturtheologie zu unterziehen. Auf diese Weise soll exemplarisch Birkens tiefe Verwurzelung in Theologie und Frömmigkeit des barocken Luthertums aufgewiesen werden. Dieser wird man erst dann ansichtig werden können, wenn man bereit ist, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß die lutherische Orthodoxie ihre eigentliche und in die Breite wirkende Relevanz keineswegs zuvörderst oder gar ausschließlich durch ihre polemisch-theologische Arbeit und die zahlreichen kontroverstheologischen Auseinandersetzungen erzielt hat, wie dies ein immer noch bisweilen tiefsitzendes Mißverständnis suggeriert, sondern auf dem Felde der Predigtpraxis und der Erbauungsliteratur. Um Birkens Gedicht angemessen entziffern zu können, bedarf es zunächst eines Schrittes zurück, nämlich zu Luther.
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2 Martin Luther zufolge wird in Jesu Rede über die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde (Mt 6,24–34) die Welt gleichsam auf den Kopf gestellt, indem die Menschen zu Schülern der ihnen mit Blick auf ihr Gottvertrauen überlegenen Kreaturen werden.13 Aber der mensch ist toll und töricht worden, nach dem er von Gottes wort und gebot gefallen ist, das hinfurt keine creatur lebt die nicht klüger sey denn er, und ein kleines zeisichen, das weder reden noch lesen kann, sein Doctor und Meister ist jnn der schrifft, ob er wol die gantze Bibel und seine vernunfft zu hulffe hat.14
Die Vögel unter dem Himmel sind Luther zufolge Exempel, die lehren, wie es um die wahre fiducia, mithin um die Intensivform des Glaubens, bestellt ist. Darum sind sie im Hinblick auf den Menschen Vorbilder der aus dem Vertrauen auf Gott resultierenden Sorglosigkeit des Reiches Gottes. Die Vögel beherrschen die „kunst“, Gott zu „vertrawen und die sorge von sich auff Gott [zu] werffen“,15 und legen dem Menschen den eigentlich selbstverständlichen Schluß a minore ad majus nahe, daß das, was für die Vögel gilt, umso mehr auch den Menschen gewiß sein darf: Wir aber, seine hoheste creatur, umb welcher willen er alle ding geschaffen hat und uns alles gibt und jm soviel an uns gelegen jst, das es nicht mit diesem leben ein end jnn uns sol nemen, sondern nach diesem leben das ewig leben wil geben, Die sollen jm nicht soviel vertrawen das er uns auch kleiden werde, wie er die blumen auff dem feld und vogel jnn der lufft mit mancherley schönen farben und feddern kleidet:16
Es ist erstaunlich, wie prägend diese Lesart von Mt 6 im Kontext der lutherischen Predigt- und Frömmigkeitstradition des 16. Jahrhunderts und der Barockzeit geworden ist. Zu den vielfältigen Amplifikatoren dieser Interpretation dürfte neben den hier einschlägigen Texten Luthers selbst und der an sie anschließenden Postillen u. a. Hermann Heinrich Freys (1549–1599) Biblisches Vogelbuch
13 Vgl. hierzu ausführlicher Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards. Leiden u. a. 2002 (Studies in the History of Christian Thought 104), S. 30–33. 14 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009 (im folgenden zitiert als WA für ,Weimarer Ausgabe‘ mit Band-, Seiten- und Zeilenzahl), hier: WA 32, 463, 15–19. 15 WA 32, 463, 9 f. 16 WA 32, 464, 31–36.
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gehören, das der Interpretation von Mt 6 einen prominenten Platz einräumt und Luther ausführlich zitiert.17 Der führende Jenaer Barocktheologe Johann Gerhard (1582–1637)18 kommt in seiner Postilla, näherhin in der Predigt zum 15. Sonntag nach Trinitatis, auf eben diesen Sachzusammenhang zu sprechen. Weil die Natur ein Buch ist, fungiert sie – so Gerhard – zugleich auch als Schule: Der liber naturae ist schola naturae. „Hie führet vns Christus in die Schule der Natur/ aus welcher wir viel lernen köndten/ wenn wir nur diß Buch fleissig lesen.“19 Auch Gerhard zufolge hat der Mensch mit dem lapsus Adae nicht nur die Möglichkeit verloren, mittels der in statu innocentiae ungebrochenen Erkenntnisfähigkeit seiner Vernunft Gott aus seinen Werken zu erkennen. Vielmehr hat, wie Gerhard im Anschluß an Luther formuliert,20 der mit dem Fall einhergehende Verlust des dem Menschen von Gott in statu integritatis übertragenen dominium terrae zur Folge, daß nun umgekehrt die nichtmenschliche Schöpfung als Lehrmeisterin des sündigen Menschen das Sagen hat. Zwar dem Menschen waren alle Thier vnnd alle Creaturen vnter Henden geben/ daß er jhr HErr seyn solte/ Aber durch den Fall ists mit dem Menschen dahin kommen/ daß numehr die Creaturen seine Meister vnd Lehrer seyn müssen/ das macht die leidige Sünde. Denn wie vorher im Stand der Vnschuld der Mensch ist weit vber der Natur anderer sichtbaren Creaturen gewesen/ dieweil er das Bild Gottes an sich trug/ also ist er nach dem Fall weit vnter die Natur geworffen/ denn Gott hasset nichts/ das er geschaffen/ aber den Sünder hasset er/ darumb ist der Mensch durch die Sünde weit vnter die Natur gesetzt.21
Von den Vögeln unter dem Himmel nun ist – so Gerhard – das Wichtigste, nämlich die Kunst des Glaubens zu erlernen, die konkret wird in zweierlei Hinsicht: nämlich im Vertrauen auf die göttliche Sorge, die im Rahmen der provi-
17 Vgl. Hermann Heinrich Frey: Therobiblia. Biblisch Thier-, Vogel- und Fischbuch (Leipzig 1595). Hg. von Heimo Reinitzer. Graz 1978 (Naturalis historia bibliae 1), hier: Vogelbuch, fol. 26r– 28r. 18 Vgl. den Überblick bei Johann Anselm Steiger: Gerhard, Johann. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 2 (2012), Sp. 557–571. 19 Johann Gerhard: Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontäglichen vnd fürnehmesten Fest-Euangelien/ vber das gantze Jahr […]. Jena 1613. 3 Teile und Appendix (HAB Wolfenbüttel 419–420 Theol.), Teil 2, S. 269. 20 Vgl. WA 10.I.2, 380, 13–16: „Jm ersten büch Mose haben wir ein gepot, das wir herrn sind uber alle Creaturen, und die vögel sollen unsere herrn sein in der klůghait, uß mit dem hailosen unglauben, Got macht uns zů narren und setzet unns die vögel für, das sie unsere maistere sind und uns regieren, die wir regieren solten […].“ 21 Postilla (Anm. 19), Teil 2, S. 269.
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dentia für den Erhalt (conservatio) alles Geschaffenen einsteht und die Kreaturen so aller sündlichen ‚Bauchsorge‘ enthebt, sowie im hymnischen Lobpreis eben dieses Gottes, der allein die Letztverantwortung für seine creatio trägt und auf den man darum seine Sorge getrost werfen kann. Der sündige Mensch ist dadurch definiert, daß er zu eben diesem Hymnus nicht fähig ist, mithin stumm ist – so stumm, wie ihm auch die Natur erscheint. Wird ihm diese jedoch durch den Glauben als Kommunikationsraum des Wortes Gottes erschlossen und verliert die Natur somit ihre Nonverbalität, wird auch der Mensch fähig, seinen sündlichen Quietismus zu durchbrechen – allerdings erst, indem er vorgängig die Natur und deren permanenten Schöpfungshymnus zu Gehör bekommt, um diesem sodann imitatorisch nachzueifern. Ein Vöglein setzt sich des Morgens früe auff ein Zweigelein/ singet Gott seinem Schöpffer ein Liedlin/ gedencket nicht/ wo es werde erneret werden: Was thun wir dargegen/ die Bauchsorge verhindert vns manchmal am Schlaff/ krencket vnnd beschweret vns das Hertz/ daß wir nimmer mit frölichem Munde Gott loben/ darumb solten vns die Vöglein billich schamrot machen/ sie haben nie Gottes Wort gehöret/ sie haben nie göttliche Verheissung empfangen/ vnd trawen doch Gott sicherlich/ er werde sie erhalten/ darumb beschert jnen auch Gott ein Körnlein/ darauff sie nicht gedacht.22
Martin Moller (1547–1606)23 vergegenwärtigt die Quintessenz des aus der Predigt der Vögel und dem Buch der Natur zu Erlernenden nicht in Gestalt einer oratio ficta, sondern im Rahmen eines Soliloquiums des Predigthörers, mithin in einem Selbstgespräch, das regiert wird von parallel konstruierten Antithesen, die die Vorzüge des Menschen im Vergleich mit seinen Mitkreaturen aufzählen, aber zugleich dessen Belehrungsbedürftigkeit markieren: Ja, meine Sele: Schaue die Vögel unter dem Himmel an, sie erndten nicht, sie samlen nicht in die Scheuren, und dein himlischer Vater nähret sie doch, bist du denn nicht viel mehr, denn sie? Ja traun. Nun wolauf, meine Sele, schaue an die Vögel, lerne von ihnen, der HErr hat es befohlen. O schäme dich, du kleingläubiges Hertz, solt du erst von den unvernünftigen Vögeln lernen? Sihe, du bist geschaffen zu Gottes Bild, die Vögel nicht. Du hast eine unsterbliche Sele, die Vögel nicht. Du bist durch Christum erlöset und ein Kind Gottes worden, die Vögel nicht. Du gehörest in das ewige Leben, die Vögel nicht. Zu dem hast du Vernunft und Verstand, kanst arbeiten, säen, einerndten, kochen, backen, ja beten und
22 Ebd., S. 269 f. 23 Vgl. Elke Axmacher: Praxis Evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller (1547–1606). Göttingen 1989 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 43).
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GOtt anrufen, die Vögel aber nicht. So denn nun GOtt die unvernünftigen Vögelein ernähret, solte er denn deiner vergessen?24
Daß die Kreaturen es sind, die vom Sohn Gottes in Mt 6 zu Lehrern der Menschen bestallt werden, hebt auch Valerius Herberger (1562–1627) in seiner Herzpostille in den Vordergrund: „Gleich wie euch der HErr JESUS die Vogel zu Doctoren fürgestellet/ so muß auch Doctor Blum das Beste thun.“25 Was nun die Vögel anlangt, so inszeniert Herberger diese als Vorbilder wahren Gottvertrauens, der Sorglosigkeit und des Gottesdienstes: Das Vöglein singet und tschirpet bald seinen Morgen-Segen/ darauf erhebt sichs zu seinem Beruff/ und fleuget von einem Ort zum andern: Also sollen wir des Frühesegens nicht vergessen/ und nach andächtigem Gebet mit Freuden unsere Amts-Arbeit angreiffen/ denn gleich wie der Vogel zum fliegen/ also sind wir zur Arbeit gebohren. […] Wenn nun gegen Abend das Vöglein sein Kröpfflein gefüllet/ so singet es wieder seinen Abend-Segen und Gratias, und stecket sein Häuptlein unter die Flügel/ und schläfft süß und säuberlich/ läst GOtt walten/ dem mag der Morgen befohlen seyn: Also solten wir auch das Confitemini und dancket dem HErrn nach gehaltener Mahlzeit sprechen/ nicht vom Tische lauffen/ wie die Sau vom Troge/ und hernach unser Häuptlein unter die Flügel unserer Glückhennen JEsu Christi stecken/ sub alis ejus sperabis, und Gott für das zukünfftige lassen sorgen.26
Genau von dieser sich in der Natur vollziehenden Glaubens- und Vertrauensschulung spricht auch das „Vor-Jahrs Liedchen“ aus der Feder des Königsberger Dichters Simon Dach, das unverkennbar auf Mt 6 fußt. An diesem Gedicht läßt sich präzise beobachten, wie sich eine insbesondere durch die lutherische Predigt promulgierte Tradition in die geistliche Lyrik hinein verlängert und hier zur poetischen Aneignung gelangt. Dachs lyrisches Ich, das auf einer Spazierfahrt durch den Wald des Gesangs der Vögel gewahr wird, tritt mit Hilfe der Perspektive der Bergpredigt in ein Gespräch mit eben diesen ein, wobei auffällt, daß neben Mt 6 eine ganze Reihe weiterer biblischer Sprachbausteine verarbeitet wird. Die letzte Strophe formuliert in einem sehnlichen Wunsch das Lernziel dieser Lektion,
24 Martin Moller: PRAXIS EVANGELIORUM, Das ist: Einfältige, nützliche Erklärung und Betrachtung Der Evangelien Auf alle Son- Fest- und Apostel-Tage […]. Lüneburg 1763 (Privatbesitz) [Erste Auflage: 1603], S. 725b/726a. 25 Valerius Herberger: Evangelische HertzPostilla […] Erster Theil/ Jn welcher Alle ordentliche Sonntags-Evangelia und auch aller fürnehmen berühmten Heiligen gewöhnliche Feyertags-Texte/ durchs gantze Jahr aufgeklitschet/ der Kern ausgeschelet/ aufs Hertze andächtiger Christen geführet/ und zu heilsamer Lehre/ nothwendiger Warnung/ nützlichem Troste/ andächtigem Gebet/ unsträfflichem Leben/ und seliger Sterbens-Kunst abgerichtet werden […]. Leipzig 1691 (Theologische Bibliothek der Universität Hamburg) [erste Auflage: 1613], S. 553a. 26 Ebd., S. 552a/b.
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das darin besteht, die Vögel nicht nur als exempla fidei et fiduciae zu erkennen, sondern ihnen auch in der konkreten Lebenspraxis nachzueifern, sie also als ethische Vorbilder zu begreifen: DJe Lust hat mich gezwungen Zu fahren in den Wald, Wo durch der Vögel Zungen Die gantze Lufft erschallt. Fahrt fort, jhr Frewden Kinder, Jhr Püsche-Bürgerey Vnd Freyheit-volck nicht minder, Singt ewre Melodey! Jhr lebt ohn alle Sorgen Vnd lobt die Güt’ vnd Macht Des Schöpffers von dem Morgen Biß in die späte Nacht. Jhr bawt euch artig Neste, Nur daß Jhr Junge heckt [Ps 84,4], Seyd nirgends Fremd’ vnd Gäste, Habt ewren Tisch gedeckt. Jhr strebet nicht nach Schätzen Durch Abgunst Müh’ vnd Streit, Der Wald ist ewr Ergetzen, Die Federn ewer Kleidt. Ach wolte Gott, wir lebten Jn Vnschuld, gleich wie Jhr, Nicht ohn auffhören schwebten Jn sorglicher Begier! Wer ist, der also trawet Auff Gott, das höchste Gut, Der diese Welt gebawet, Vnd allen gutes thut? Wir sind nicht zu erfüllen Mit Reichthumb vnd Gewinn, Vnd gehn vmb Geldes willen Offt zu der Höllen hin. O, daß wir Gott anhiengen, Der vns versorgen kan,
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Vnd recht zu leben fiengen Von Euch, Jhr Vögel, an!27
3 Nur vor diesem (hier freilich nur skizzierten) auslegungsgeschichtlichen Hintergrund läßt sich Birkens Sommer-Lied angemessen interpretieren. In vorliegendem Gedicht, aber auch in Birkens geistlichem Œuvre insgesamt zeigt sich sehr deutlich, wie tief verwurzelt in der lutherischen Predigt- und Frömmigkeitskultur das Schaffen dieses Dichters ist und wie souverän, eigenständig und kreativ er mit diesen Traditionen umzugehen verstand. In den Str. 14 bis 16 greift Birken auf die zuvor skizzierte Auslegungstradition zu Mt 6 zurück und verdichtet sie lyrisch folgendermaßen: Hör’ ich lieblich tireliren auf den Bäumen, Sorgen-frey, und in Lüften musiciren, sie die Vögel-Sängerey: lern’ ich, daß ich auch soll ehren Dich, mit Mund- und Herzens-Chören, und dann lassen dich allein sorgen und zufrieden seyn. Hast du mich doch selbst geführet zu den Vögeln in die Lehr, die ganz keine Sorg berühret, wo sie Nahrung nehmen her. Zu den Gräslein, die da stehen, heist du mich zur Schule gehen, lernen, daß ein Vatter sey, der da Hüll und Füll verleih. Zwar ich weiß, du thust das deine. doch ich muß, auf dein Geheis, auch mit händen thun das meine, suchen Brod in Müh und Schweis. Lehret mich doch izt im Grünen, das bemühte Volk der Bienen Speis und Vorraht tragen ein, und die Ameis ämsig seyn.
27 Simon Dach: Gedichte. Hg. von Walther Ziesemer. 4 Bde. Halle (Saale) 1936–1938 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 4–7), hier: Bd. 1, S. 107.
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Wie Luther und seine Erben läßt Birken die Vögel als Lehrer des Glaubens und exempla pietatis auftreten, die, auf die Fürsorge des himmlischen Vaters schlechthin vertrauend, selbst „Sorgen-frey“ sind und darum auch frei sind zum Lobpreis ihres Schöpfers. Auf diese Weise kommt den musizierenden, singenden Vögeln eine Vorbildfunktion zu mit Blick auf den Lobpreis, den die Menschen Gott „mit Mund- und Herzens-Chören“ zu zollen haben – eingedenk der Tatsache: „Wes das Hertz vol ist/ des gehet der Mund vber“28 (Mt 12,34). Zielen die Strophen 14 und 15 darauf ab, den aus der auf Luther zurückgehenden Predigttradition bekannten Aufruf zum Vertrauen auf die göttliche Sorge zu verbalisieren, so ist es das Anliegen von Str. 16, deutlich zu machen, daß dies nicht zur Folge haben kann, sich der Pflicht entbunden zu wähnen, einer beruflichen Tätigkeit nachgehen zu müssen. Dies ist ein Aspekt, auf den auch Luther in seinen Predigten über Mt 6 zu sprechen kommt.29 Auffällig ist, daß Birken sich auch um der Entfaltung dieses berufsethischen Aspektes willen der Bildwelt der kreatürlichen Wirklichkeit bedient und zwei aus der zeitgenössischen Emblematik wohlvertraute exempla des Fleißes wählt, nämlich die Biene30 und die Ameise.31 Letzteres Tier wird in den Sprüchen Salomos als Vorbild der Rechtschaffenheit gepriesen, wenn es in Prv 6,6–8 heißt: „GEhe hin zur Emmeissen du Fauler/ sihe jre weise an/ vnd lerne. Ob sie wol keinen Fürsten noch Heubtman noch Herrn hat/ bereit sie doch jr brot im Sommer/ vnd samlet jre speise in der Erndte“ (vgl. zudem Prv 30,25).
28 Bibelzitate richten sich nach Luthers Bibelübersetzung 1545/46 und werden dargeboten laut Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Textredaktion Friedrich Kur. München 1972. 29 Vgl. WA 10.I.2, 379, 26–28: „Damit wil aber der Herr nicht, das wir nicht arbaitten sollen, sondern will uns mit disem Exempel der sorg entnemen […].“ 30 Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1987 [erste Auflage: 1967], S. 930; Wolfgang Franzius: HISTORIA ANIMALIUM In quâ plerorumque Animalium praecipuae proprietates in gratiam Studiosorum Theologiae & Ministrorum Verbi ad usum 'EikonologikÕn breviter accommodantur. In Academiâ VVittebergensi ante plures annos dictata […]. Amsterdam 1665 [erste Auflage: 1612], S. 682 zufolge ist die unablässige Tätigkeit der Bienen ein „signum indefessi studii & maximae industriae.“ 31 Vgl. Daniel Cramer: EMBLEMATA MORALIA NOVA, Das ist: Achtzig Sinnreiche Nachdenckliche Figuren auß heyliger Schrifft in Kupfferstücken fürgestellet/ worinnen schöne Anweisungen zu wahrer Gottesforcht begrieffen […]. Hildesheim u. a. 1981 [Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a. M. 1630], S. 256 f.
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Die soeben näher beleuchteten Str. 14–16 werden bereits in Str. 3 präludiert, wo der Sommer als „Capellenmeister unsrer Lüfte-Cantorey“ apostrophiert wird, sowie in Str. 8, in der es heißt: Uber uns, die VögelChöre singen auf dem Baumgezelt, geben ihrem Schöpfer Ehre, der sie nehret und erhält. Sie, die süssen Nachtegalen, die den Dank mit Liedern zahlen. Dir, dir, dir die Lerche singt, singend sich in Lüften schwingt.
Es liegt die Vermutung nahe, daß sich diese Strophe an Paul Gerhardt anlehnt, dessen Sommerlied in der dritten Strophe bekanntlich folgendermaßen lautet: Die Lerche schwingt sich in die Lufft/ Das Täublein fleucht aus seiner kluft Und macht sich in die Wälder: Die hochbegabte Nachtigall Ergötzt und füllt mit ihrem Schall Berg/ Hügel/ Thal und Felder.
Birkens Sommerlied kommt (bei allen tiefgreifenden Differenzen) mit demjenigen Paul Gerhardts aber auch darin überein, daß der Anblick des sommerlichen Gartens zum Anlaß wird, die Sehnsucht nach dem durch den Sündenfall verlorenen Paradiesesgarten und die Hoffnung auf die Restitution desselben im Eschaton zu verbalisieren.32 Was bei Gerhardt mit den Worten „Welch hohe Lust/ welch heller Schein | Wird wol in Christi Garten seyn?“ nur knapp angerissen wird, entfaltet Birkens Text in Str. 9 und 10 ausführlicher: Ach der bösen Sünden-fehden, die uns jener Freud entsetzt in dem schönen Garten Eden, da uns ewig hätt ergetzt solch ein süsses SommerLeben. doch du wirsts uns wiedergeben dorten in der Ewigkeit: dieser Trost ist meine Freud.
32 Vgl. Steiger: Geh’ aus (Anm. 1), S. 33 f.; 110 f.
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Paradis! wo bist du blieben? kaum dein Schatten seind itzund diese Gärten, die betrüben: weil im Garten hat begunnt alles Elend dieser Erden. doch wolt angefangen werden auch im Garten, unser Heil, das durch Jesum wurd zutheil.
Mit der metaphorisch-eschatologischen Bezeichnung des himmlischen Reiches Gottes als eines sommerlichen Gartens steht Birken (wie Paul Gerhardt) in einer im barocken Luthertum weitverbreiteten Tradition, die sich u. a. bei Martin Behm,33 Philipp Nicolai (1556–1608)34 und Johann Matthäus Meyfart (1590–1642)35 greifen läßt. Nicolai zufolge befinden sich die ins ewige Leben Eingegangenen „in dem
33 Vgl. Martin Behm: Kirchen Calender/ Das ist/ Christliche Erklerung Des Jahres vnd der XII. Monaten: damit auch ein einfeltiger Christen-Mensch den grossen Wercken Gottes fein nachdencken/ vnd sich in die Zeit recht schicken lerne. Gestellet/ vnd in XIII. Predigten abgehandelt […]. Wittenberg 1606 (WLB Stuttgart Theol. 8° 5978), S. 406–408: „So gibt vns warlich der Sommer auch ein wunder schönes Bilde/ wie vns Christus selber drauff weiset/ vnd achtung drauff zu geben anleitung gibet. Denn gleich wie der liebliche Sommer viel anmütiger vnd Herrlicher ist/ als der rauche [= rauhe] kalte Winter/ Also wird jene zeit viel Herrlicher sein als diese. Wenns am Allerlieblichsten auff Erden ist/ so ist doch dis leben gegen jenem wie der allerkeltiste Winter gegen dem lieblichsten Sommer. […] Da werden nicht Gras/ Blumen vnnd Beume wachsen/ sondern es wirdt die Himlische Wohnung schöner sein/ als wenn sie von eitel Golde/ Perlen vnnd Edelgesteinen zugerichtet were. Denn Gott wirdt einen newen Himmel vnd Erde schaffen […]. Da werden nicht etwa schlecht die Vogel singen: Sondern die H. Engel vnnd ErtzEngel Cherubim vnd Seraphim/ vnd alle ausserwehlten neben jhnen werden für Gottes Throne stehen/ vnnd Sanctus singen/ vnd das Lied des Lammes hören lassen. Da werden wir recht lustig sein/ das wie die Sonne am Himmel scheinet/ vnnd keines Rockes bedarff/ also werden wir auch glentzen in vnsers Himlischen Vaters Reiche/ vnd wird vnser Kleyd sein der schöne Glantz/ damit vns Gott vmbgeben wird/ wie Chrysostomus auch saget. O last vns in dem Kalten Winter dieses Lebens ja fleißig an diese SommerZeit gedencken/ vnd es also machen/ damit wir vns derselben ewig frewen mögen.“ 34 Vgl. Die Pest, der Tod, das Leben – Philipp Nicolai – Spuren der Zeit. Beiträge zum PhilippNicolai-Jahr 1997. Hg. von der Evangelischen Kirchengemeinde u. a. Lüdinghausen, Unna 1997 sowie Anne M. Steinmeier-Kleinhempel: ‚Von Gott kommt mir ein Frewdenschein‘. Die Einheit Gottes und des Menschen in Philipp Nicolais ‚FrewdenSpiegel deß ewigen Leben‘. Frankfurt a. M. u. a. 1991 (Europäische Hochschulschriften, Reihe Theologie 430). 35 Vgl. Johann Matthäus Meyfart: Tuba Novissima. Das ist Von den vier letzten Dingen des Menschen 1626. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1980 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 26), S. 42. Zu Meyfart vgl. Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. München 1987 sowie Christian Hallier: Johann Matthäus Meyfart. Ein Schriftsteller, Pädagoge und Theologe des 17. Jahrhunderts. Neumünster 1982 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 15).
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frewdenreichen Paradeiß/ vnnd rechtem Sommerlande deß ewigen Lebens“.36 Laut Martin Behm mündet die irdische Existenz eines Christenmenschen, die er mit dem Frühling parallelisiert, in den ewigen Sommer des ewigen Lebens: „Darumb haben wir vrsach ein solch MeyenLeben zu füren/ daß es Gott im Himmel gefalle/ damit wir nach dem frölichen Mäyen einen herrlichen Sommer im ewigen Leben erlangen mögen.“37 Hier bringt sich die Paradiesesgeschichte, die mit Apk 22 synoptisch gelesen wird, in der Tat als rückwärtsgewandte Eschatologie und umgekehrt die Rede vom neuen Garten der Ewigkeit als protologisch rückgebundene Eschatologie zur Geltung. Im Unterschied freilich zu Paul Gerhardts Sommerlied hält Birkens Gedicht gleichsam inne, um im Rahmen einer ausgreifenden Entfaltung biblischer Baum-Topik den Sündenfall zur Sprache zu bringen, dessen Überwindung durch das Heilswerk Christi „auch im Garten“ (Str. 10) – gemeint ist der Garten Gethsemane (vgl. Joh 18,1; 19,41) – seinen Anfang nahm.38 Die empirisch sichtbaren Bäume liest Birken in Str. 11 als emblematische Erinnerungen an den im Paradies stehenden Baum der Erkenntnis, der den Ureltern zum Fallstrick wurde, und blickt zurück auf den mit dem Sündenfall einhergehenden Verlust des Baumes des Lebens wie des paradiesischen Gartens in Gänze. Unter Bezugnahme auf die Johannes-Offenbarung kontrastiert Birken diese hamartiologische Perspektive mit der soteriologisch motivierten Identifikation des Gottessohnes als des Holzes des Lebens nach Apk 2,7; 22,2.14.19,39 um sodann in Str. 12 und 13 die Thematik
36 Philipp Nicolai: THEORIA VITAE AETERNAE, Das ist: Historische Beschreibung deß gantzen Geheimnisses vom ewigen Leben. Darinnen auß Heiliger Göttlicher Schrifft/ von vnser Erschaffung/ wie auch von vnser Erlösung/ deßgleichen von vnser Widergeburt/ folgends von vnser Seelen Heimefarth/ vnd endlich von der Aufferstehung vnsers Fleisches zum ewigen Leben ordentlich in fünff Büchern gehandelt wird. […]. Hamburg 1606 (FB Gotha Theol. 8° 399/7), S. 816. 37 Behm (Anm. 33), S. 380. 38 Diese typologische Sicht der Dinge ist in der zeitgenössischen Tradition der Passionspredigt häufig zu finden. Vgl. z. B. Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten. Kritisch hg. und komment. von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Doctrina et Pietas I.6), S. 25: „Adam hatte im Garten gesündiget/ solches zu büssen fenget Christus sein Leiden im Garten an.“ Vgl. ebd., S. 48 f.: „Weil auch vnsere erste Eltern im Paradißgarten die Sünde vnnd Tod auffs menschliche Geschlecht gebracht hatten/ so wolte auch Christus im Garten sein Leiden anfangen/ als durch welches für die Sünde bezahlet vnnd die verlohrne Güter herwieder bracht seyn. Jm Garten war die Verheissung gegeben vom Weibes Samen/ welcher der Schlangen solte den Kopff zutreten/ darumb wolte Christus/ diß sein heilsames Werck im Garten anfangen. Jm Garten war die Feindschafft gesetzt/ zwischen dem gebenedeyeten Weibes Samen/ vnnd der Schlangen Samen/ darumb wolte auch Christus diesen Streit mit dem Teuffel vnd aller seiner Macht im Garten anfangen“. 39 Vgl. ähnlich Salomon Glassius: ARBOR VITAE, Der Baum des Lebens/ JEsus CHristus/ Aus göttlicher Schrifft durch die Gnade des heiligen Geistes vorgestellet/ Vnd Zu tröstlicher Betrach-
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der Fruchtbarkeit des Glaubens lyrisch zu entfalten – wiederum unter Berücksichtigung der Textwelten der Heiligen Schrift und unter Verarbeitung der facettenreichen biblischen Baummetaphorik. Seh ich nicht zum Brennen fällen Bäume, die nit bringen Frucht? der wird auch ein Brand der Höllen, an dem Gott nit Früchte findt. Jesu! laß du mich auf Erden deiner Zweiglein eines werden, ô du Baum, daß für und für grün’ und Früchte bring’ in dir. Du hast jenen Baum verfluchet auf der Reis, an dem du nicht fandest Frucht, die du gesuchet. Jesu, du mein Herz befrücht: daß ich meine Glaubenszweige dir nit todt und dürre zeige, und so abgehauen, werd von der Höllenglut verzehrt.
Str. 12 nimmt zunächst Bezug auf Mt 7,19 (‚Ein jglicher Bawm/ der nicht gute früchte bringet/ wird abgehawen/ vnd ins Fewr geworffen‘) und appliziert diese metaphorische Redeweise Jesu ganz im Sinne der in ihr enthaltenen Gerichtsankündigung, der zufolge derjenige, dessen Glaube fruchtlos bleibt, das göttliche Verdammungsurteil zu erwarten hat. Es schließt sich ein an die zweite trinitarische Person gerichtetes Gebet an, das in Anlehnung an die johanneische Rede von den am Weinstock Christus als Reben gedeihenden Jüngern (Joh 15,5) das
tung/ vnnd nöhtiger Lebenserbawung Jn fünff Büchlein verfasset […]. Jena 1629 (FB Gotha Theol. 4° 826/3), S. 2: „Die ander hohe Wolthat Gottes ist die Sendung vnd Schenckung des Sohnes Gottes. Denn es redet der heilige Apostel ferner also: Mitten auff jhrer Gassen/ vnnd auff beyden Seiten des Stroms stund Holtz des Lebens/ etc. [scil. Apk 22,2] Was ist das für ein Holtz des Lebens? Es ist vnser hochverdienter HErr vnd hertzlieber Heiland JEsus Christus.“ Vgl. ferner ebd., S. 3: „Jm jrrdischen Paradißgarten hatte Gott der HErr vorzeiten einen Baum gepflantzet/ vnd denselben mitten in Garten gesetzet/ welcher der Baum deß Lebens genennet wird Genes. 2. 8. darumb daß der Mensch durch Niessung vnd Gebrauch desselben bey langwärendem Leben vnnd frischem gesunden Wolstande erhalten worden were. Dieser Baum im Paradiß ist wegen der leidigen Sünde verdorret/ vnd mit dem Garten selbsten vergangen. Er ist aber ein Vorbilde gewesen des rechten Lebensbaums JEsu Christi/ von welchem geschrieben stehet 2. Timoth. 1. 10. daß er (als ein lieblicher fruchtbarer Lebensbaum) das Leben vnnd ein vnvergenglich Wesen ans Liecht gebracht habe.“
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Miteinander des Sohnes Gottes mit dem glaubenden Ich als die Relation von Baum und „Zweiglein“ näherbestimmt, womit (ganz im Sinne der rechtfertigungstheologischen Grundlagen) klargestellt ist, daß die furchtbringende Kraft nicht auf die Fähigkeit des Menschen, sondern einzig und allein auf die virtus des Baumes, also Christi, zurückgeht. Das ‚Grünen‘ als Metapher für die geistliche Fruchtbarkeit entlehnt Birken hingegen aus Ps 92,13 (‚DEr Gerechte wird grunen wie ein Palmbawm‘) bzw. Ps 72,16 (‚Vnd wird grünen in den Stedten/ wie gras auff Erden‘). In deutlicher Analogie zu Str. 12 nimmt auch Str. 13 zunächst Bezug auf einen Erzählzusammenhang der Evangelien, nämlich auf Jesu Verfluchung des Feigenbaums in Mt 21,19 f. Hieran schließt sich wiederum eine Gebetsformulierung an, die (vergleichbar mit den Str. 13 und 14 von Gerhardts Sommerlied) von Christus die – einzig von ihm vorzunehmende – Befruchtung des Herzens erbittet, die notwendig dafür ist, Früchte des Glaubens hervorzubringen. Bemerkenswert ist hierbei, daß Birkens Bezeichnung der Glaubensfrüchte als „Glaubenszweige“ voraussetzt, daß der Glaubende zwar, wie in Str. 12 formuliert, Zweig am Lebensbaum Christus ist, zugleich aber selbst (gewissermaßen als Ableger) ein Baum ist, der Zweige ausbildet. Die Bitte, der Sohn Gottes möge dafür Sorge tragen, daß die „Glaubenszweige“ nicht „todt und dürre“ bleiben, um sodann „abgehauen“ zu werden, fußt auf der Buß- und Gerichtspredigt Johannes des Täufers in Mt 3,10 (‚Es ist schon die Axt den Bewmen an die wurtzel gelegt/ Darumb welcher Bawm nicht gute Frucht bringet/ wird abgehawen/ vnd ins fewr geworffen‘) bzw. auf den Worten Jesu Mt 7,19 (‚Ein jglicher Bawm/ der nicht gute früchte bringet/ wird abgehawen/ vnd ins Fewr geworffen‘) und schließt damit an den Beginn von Str. 12 wieder an. Ähnlich wie Paul Gerhardts Sommerlied ist auch Birkens Text mithin keinesfalls auf den ersten Glaubensartikel beschränkt, sondern weitet, ausgehend von der geistlichen Meditation einer Jahreszeit, den Blick für die zentralen soteriologischen und eschatologischen Themata. Somit ist Birken bestrebt, die Natur im Sinne der zeitgenössischen Emblematik als ein solches Transparent zu entziffern, durch das die grundstürzende Heilstat Gottes in Christo, nämlich die von ihm aufgerichtete Versöhnung von Gott und Mensch, das Eschaton und mit ihm der ewige Sommer hindurchscheinen. Dies ist der eigentliche Fokus von Birkens Sommerlied, der das Gedicht in seiner Gänze prägt und dessen Textgefälle bestimmt. Explizit wird dies vor allem in den letzten vier Strophen. Laß izt deinen Fusstapf triefen, mache Feld und Wiesen fett: deine Gnad und Macht zuprüfen, die uns trösten in die wett.
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Krön das Jahr mit deinen Gaben, daß uns Les’ und Ernde laben; daß sein Brod und Futter werd, allem Fleisch und Vieh auf Erd. Doch der Weitzen-ähren eine, nicht ein Unkraut, laß mich seyn: daß du in die Himmel-Scheune mich einmal mögst führen ein. in der Ernde, da das Feuer wird verzehren Tresp und Spreuer. laß, ins Lebensbündelein, meine Seel gebunden seyn. Jtzund lacht uns an, die Sonne: bald wirds wieder Winter seyn. Leid sich wechselt hier, mit Wonne; Regen folgt auf Sonnenschein. dorten wird, bey stätem Sommer, nimmer folgen Kält und Kummer. da wir, angethan mit Schein, selber werden Sonnen seyn. Wir, die wir auf Erden streuen Threnen, Trübsal ausgeseet, werden dorten Freud einmeyen, wann die HimmelsErnd’ angeht. da wird wohnen Wonn’ und Lachen, da wird alle Lust erwachen. Komm, du schöne Sommerzeit! Komm, du süsse Ewigkeit!
Dieser Teiltext ist von einer Fülle biblischer Sprachmaterialien geprägt, die kunstvoll miteinander verwoben sind. Str. 31 versprachlicht – zugleich zurückblickend auf die erste Strophe, in der vom Sommer als „Kron des Jahres“ die Rede war – Ps 65,12 f. und transponiert das dort hymnisch über Gott als Quelle aller Fruchtbarkeit Gesagte in eine Bitte: ‚Du krönest das Jar mit deinem Gut/ Vnd deine Fusstapffen trieffen von fett. Die Wonunge in der Wüsten sind auch fett/ das sie trieffen/ Vnd die Hühel sind vmbher lüstig.‘ Die Bitte um die göttliche Gewährung von Fruchtbarkeit der Felder und Wiesen appliziert das lyrische Ich in Str. 32 auf sich. So wie der Mensch im Rahmen der agrikulturellen Wirklichkeit die Fruchtbarkeit nicht herbeizuzwingen in der Lage ist, diese vielmehr einzig und allein von Gott gestiftet werden kann und darum erbeten werden muß, so gilt ähnliches vom Menschen, der seinen Schöpfer darum bittet, ihn zu einer „Weitzen-ähre“ werden zu lassen, die in der Ernte des göttlichen Endgerichtes für würdig befun-
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den werden wird, in die „Himmel-Scheune“ eingebracht zu werden. In höchst artifizieller Weise kombiniert Birken an dieser Stelle die Bußpredigt Johannes des Täufers Mt 3,12 (‚Er wird seine Tenne fegen/ vnd den Weitzen in seine Schewnen samlen‘) mit dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,30: ‚Samlet zuuor das Vnkraut/ vnd bindet es in Bündlin/ das man es verbrenne/ Aber den Weitzen samlet mir in meine Schewren‘). Auffällig ist an dieser Stelle im Vergleich der Manuskriptfassung des Gedichtes mit der Druckversion, daß letztere, die ja insgesamt erheblich kürzer ist, eine zusätzliche Strophe enthält, die zwischen Str. 31 und 32 der ersteren rangiert und folgenden Wortlaut hat: Laß auch mich seyn einen Acker/ der dein Wort zu nehmen an/ nicht sey träge/ sondern wacker/ der es auch behalten kan: daß es mir die Sorgenflecken/ die Weltdornen/ nicht erstecken: sondern Härt’ und Unverstand/ laß mich seyn ein gutes Land/
Diese Strophe nimmt Bezug auf das Gleichnis von der vierfachen Saat (Mt 13,3–9) und deren übliche barock-lutherische Deutung. Ihr zufolge steht das Saatgut für das verbum Dei, das nur Frucht bringt, d. h. Glauben stiftet, wo es auf den fruchtbaren Acker der aufnahmefähigen Seele fällt und nicht auf dem Wege von den Vögeln gefressen wird, auf steinigem Grund rasch aufblüht und ebenso schnell wieder verdorrt oder unter den Dornen erstickt wird. Klar erkennbar angeregt durch das Stichwort ‚Bündlein‘ in seiner biblischen Textvorlage fließt Birken dann indes ein weiterer Text der Heiligen Schrift in die Feder, nämlich die Worte, die Abigail in 1Sam 25,29 an David richtet: ‚VND wenn sich ein Mensch erheben wird dich zu verfolgen/ vnd nach deiner seelen stehet/ So wird die seele meins Herrn [scil. Davids] eingebunden sein im bündlin der Lebendigen/ bey dem HERRN deinem Gott‘. Bedenkt man, daß dieser alttestamentliche Text zu den im 17. Jahrhundert, vor allem im Kontext der ars moriendi (insbesondere auch in den Leichenpredigten),40 äußerst gern verwendeten Trost-
40 Vgl. Johann Gerhard: Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard. Kritisch hg. und komment. von Johann Anselm Steiger in Verbindung mit Ralf Georg Bogner und Alexander Bitzel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001 (Doctrina et Pietas I.10), S. 80 (hier bezogen auf die Prediger des Wortes Gottes): „Da gehets nun freylich also/ daß die Lehrer vnnd Prediger den Samen göttlichs Worts mit Threnen ausstrewen/ ein mal weil sie jr Ampt wegen der bösen vndanckbaren Welt mit Seufftzen vnd Threnen verrichten müssen/ Hebr. 13. Darnach weil
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sprüchen gehört, wird folgendes deutlich: Die Wendung des Gedichts „laß, ins Lebensbündelein, | meine Seel gebunden seyn“ formuliert die sich von Mt 13,30 her nahelegende Bitte, Gott möge den Betenden nicht zum ‚Unkraut-Bündlein‘ gehören lassen, das dem Feuer überantwortet werden wird, positiv um, indem es über eine Stichwort-Verbindung, die beiden Testamente intertextuell miteinander verknüpfend, Zuflucht nimmt zum Sprachschatz des ersten Teils des biblischen Kanons. Str. 33 stellt einerseits Sommer und Winter als Chiffren von Wonne und Leid einander gegenüber, nicht aber, um bloß die sprichwörtliche Allerweltsweisheit ‚auf Regen folgt Sonnenschein‘ zu artikulieren, sondern um auch an diesen Gedanken eine eschatologische Reflexion anzuschließen, die die endzeitliche Überwindung allen Leidens (Apk 21,4) am Jüngsten Tage sowie den ewigen Sommer zum Gegenstand hat und diesen hoffnungsvollen Ausblick kombiniert mit der Zitation von Mt 13,43, mithin des (von Birken überaus häufig verarbeiteten) locus classicus bezüglich der dem Menschen noch bevorstehenden Verherrlichung (glorificatio)41 („Denn werden die Gerechten leuchten/ wie die Sonne in jres Vaters reich“). Die letzte Strophe des Gedichts speist sich allen voran aus Ps 126, dem eschatologischen Psalm par excellence, so daß auch am Ende des vorliegenden Textes
sie mit Threnen jhr Gebet Gott auffopffern vnd bitten/ daß er zu jhrem Seen vnd Pflantzen das Gedeyen geben wolle. Auff solche Threnensaat wird eine fröliche Erndte folgen/ Sie werden einmal jhre Garben bringen/ das ist/ am jüngsten Tage werden sie das Heuflein derer/ so durch jhr Wort zu Gott bekehret sind/ dem HErrn Christo darstellen/ da werden die Seelen in dem Bündlein der Lebendigen/ darinn sie eingebunden seyn/ wie Abigail redet/ 1. Sam. 25. vor Gott vorgestellet werden/ etc.“ Vgl. ebd., S. 201: „Darumb wann schon die Welt vntergehet/ wann schon alles über einen hauffen wird geworffen/ wann schon vnser Leib vnter der Erden muß verfaulen/ so wird doch vnsere Seele in den Allmechtigen/ mildreichen vnd trewen Henden GOttes deß HErrn erhalten werden/ sie ist eingebunden ins Bündlein der Lebendigen bey dem HErrn/ 1. Sam. 25. Dieses Bündlein der Lebendigen ist anders nichts als die grosse menge der heiligen abgeleibten Seelen/ welche in Gottes Henden zum ewigen Leben wird erhalten/ da sind sie wol verwahret.“ Vgl. auch Felix Bidembach: PROMPTUARII EXEQVIALIS PARS POSTERIOR, CONTINENS CENTVRIAS II DISPOSITIONUM, QVIBUS THEMATA FUNEBRIA SIVE SCRIPTURAE DICTA VARIA, QVAE DE MORte, sepultura, resurrectione, fine seculi, & vita aeterna, &c. tractant, & in CLASSE X. MANUALIS BIDEMBACHIANI, juxta seriem librorum Biblicorum annotata extant, breviter explicantur & illustrantur. […] EDITIO TERTIA. Lübeck 1611 (Privatbesitz), S. 33–35. 41 Vgl. Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/1607). Lateinisch-deutsch. Kritisch hg., komment. und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (Doctrina et Pietas I.3), S. 249 f.: „DEvota anima non debes amare vitam fugientem sed potius permanentem. Eò ascende per desiderium, ubi juventus sine senectute, vita sine morte, gaudium sine tristitia, regnum sine commutatione. Si delectat te pulcritudo, justi fulgebunt sicut Sol […].“
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noch einmal deutlich wird, daß Birken seine geistliche Lyrik auf weite Strecken als eine Fortschreibung der kanonischen Rang genießenden Lyrik Davids begreift. Die Wendung „Wir, die wir auf Erden streuen | Threnen, Trübsal ausgeseet, | werden dorten Freud einmeyen, | wann die HimmelsErnd’ angeht. | da wird wohnen Wonn’ und Lachen“ verdichtet Ps 126,1 f.5 f.: ‚WEnn der HERR die Gefangen [sic!] Zion erlösen wird/ So werden wir sein wie die Trewmende. Denn wird vnser mund vol lachens vnd vnser zunge vol rhümens sein […]. Die mit Threnen seen/ Werden mit freuden erndten. Sie gehen hin vnd weinen/ vnd tragen edlen Samen/ Vnd komen mit Freuden/ vnd bringen jre Garben.‘ Doch weist der Sommer nicht nur dadurch zeichenhaft über sich selbst hinaus, daß er die ewige Sommerzeit der neuen Schöpfung proleptisch vergegenwärtigt, damit der Mensch sich hoffend nach ihr ausstrecken möge. Vielmehr bildet die Tatsache, daß der irdische Sommer vorübergeht, den Anlaß, in die eschatologische Meditation auch den Umstand einzubeziehen, daß Gott am Tage des Gerichts, wie Birken in Anlehnung an Lk 16,2 formuliert, „einmal Rechnung fordern thut“ (Str. 17). Diesen Gedanken spinnt Birken in Str. 18 fort, indem er mit deutlichem Anklang an das Heraklitsche p£nta ∙e‹ das Fließen der Bäche und Flüsse zum Sinnbild der Vergänglichkeit allen irdischen Daseins, kurz der vanitas,42 erhebt. Zugleich aber, und hiermit in schroffer nicht denkbarer oppositio stehend, gewinnt Birkens Text aus der Faktizität des Wasserkreislaufs eine konsolatorische Dimension mit Blick auf die für das Ende der Zeiten verheißene resurrectio carnis. Mich erinnert auch, das Fliessen dieser schnellen Wässerlein, wie die Tage hinverschiessen, keiner stellt sich wieder ein diß tröst uns, daß du das Leben, das du nahmst, wirst wiedergeben: wie die Flüsse gehn zu Meer, und von dannen wieder her.
Ähnlich wie Paul Gerhardts Sommerlied43 ist auch Birkens Text (v. a. in Str. 19) geprägt von einer angemessenen Würdigung der Ambivalenz der Pflanzen, die einesteils die sommerliche Herrlichkeit als Vorwegnahme der gloria coelestis zu deuten lehren, andererseits aber im Sinne von Ps 90,5 (‚Du lessest sie da hin
42 Vgl. Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966. 43 Vgl. Steiger: Geh’ aus (Anm. 1), S. 111–113.
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faren wie einen Strom/ Vnd sind wie ein Schlaff/ Gleich wie ein Gras/ das doch bald welck wird‘) als genauso rasch aufblühende wie verwelkende Kreaturen emblematische Repräsentationen der Nichtigkeit und Flüchtigkeit des menschlichen Lebens darstellen, das unversehens zuendegehen kann. Um so dringlicher erscheint angesichts dieser Einsicht in die vanitas alles Irdischen die im Kontext des Lebens auf Erden wahrzunehmende ethische Verantwortung des Christenmenschen, die in den Str. 20 bis 23 thematisiert wird. Ganz im Sinne einer konsequent auf die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben fokussierten Ethik stellt das lyrische Ich in Str. 20 zunächst klar, daß ohne Beistand und Segen Gottes der Mensch nicht fähig ist, bona opera als Früchte des Glaubens zu tun. Sachgerecht ist es daher, daß das Ich in den besagten Strophen sich wiederum betend an Gott wendet, um ihn darum zu bitten, ihn, den Beter, allererst zu dem zu machen, was die sommerliche Landschaft, die ihn umgibt, längst schon ist, nämlich zu einem „gute[n] Land“ (Str. 21) und „schöne[n] Anger“, auf dem „TugendBlümlein“ (Str. 22) wachsen. Keineswegs ausschließlich die freundlichen und angenehmen Seiten des Sommers hat Birken im Blick, um sie als Prolepsen des ewigen Sommers der neuen Schöpfung vor Augen zu malen. Vielmehr thematisiert das Gedicht – hierin sich deutlich von Paul Gerhardts Sommerlied unterscheidend und in Analogie zu Martin Behms Kirchenkalender44 – auch die gleißende sommerliche Hitze. Sie dechiffriert Birken, ausgehend von 1Petr 4,12 (‚JR lieben/ Lasset euch die hitze so euch begegnet nicht befrembden [die euch widerferet/ das jr versucht werdet] als widerfüre euch etwas seltzams‘), als Gleichnis der tentatio (Str. 24–26).45 Die tentatio ist es, die das Leben eines Christenmenschen nach lutherischer Auffassung bis zum Jüngsten Tage stets begleitet und Ausweis einer besonderen, von Gott geschickten Auszeichnung des Glaubenden ist, der die Nähe Gottes sub contraria
44 Vgl. Behm (Anm. 33), S. 401 f.: „Jnsonderheit aber hat ein jeder Christ auch sein Sommercreutz: Bald sticht jhn die hitze der Trübsalen/ Bald vberfellt jhn ein Sturm vnnd Wetterlein des Vnglücks/ das ob er schon eylet/ er jhm doch nicht entrinnen kan. O wie geschwüle wird vns dann vmbs Heupt vnd Hertze: Dann im Creutze wirdt das Hertz im Leibe wie ein zerschmoltzen wachs/ die kreffte vertrocknen wie ein scherbe/ vnd die Zunge klebet am Gaumen/ das Hertz ist geschlagen/ vnd verdorret wie Gras/ vnd dürstet den Menschen nach Gott vnd seiner Hülffe wie ein dürr Land/ vnd schreyet darnach/ wie ein hitziger Hirsch nach frischem Wasser.“ 45 Vgl. zur Thematik Carl Heinz Ratschow: Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik. Zweite Auflage. Gütersloh 1957; Horst Beintker: Die Überwindung der Anfechtung bei Luther. Eine Studie zu seiner Theologie nach den Operationes in Psalmos 1519–21. Berlin 1954 (Theologische Arbeiten 1); Johann Anselm Steiger: Versuchung III. Kirchengeschichtlich. In: Theologische Realenzyklopädie 35 (2003), S. 52–64.
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specie auch und gerade als diejenige des ihn in leibliche und geistliche Krisensituationen schickenden Deus absconditus erfährt. Warme Zeit! die bange Hitze, an das Creutz mich denken macht. Sonn’! ie heller deine Blitze, iemehr unser Leib verschmacht. So, der Gott am nächsten sitzet, unterm Creutz am meisten schwitzet. Doch die Trübsal ist uns nütz, wie im Sommer auch die Hitz. Er meints gut: er will uns leiten von der schnöden Sündenbahn in Gedult uns lehren streiten, uns durch Hitze treiben an, daß wir, wie ein Hirsche, schnaufen, nach dem Gnadenbrünnlein laufen. Daß die Seele dürst nach Gott, macht die heisse CreutzesNoht. Zwar wir müssen, durch viel Leiden, durch die heisse Wüsten, gehn ins gelobte Land der Freuden. Lieber will ich Creutz ausstehn, vor die bösen Sündenthaten hier, als dorten ewig braten in der Höllenglut, aldar nie kein Tröpflein Wassers war.
Schon in Str. 24 wird mit der Formulierung „die Trübsal ist uns nütz“ implizit ein bezüglich des reformatorischen und barock-lutherischen Verständnisses der tentatio zentraler biblischer locus classicus aufgerufen, den Birken recht häufig in seine Texte einbaut, nämlich Apg 14,22, wo es heißt, ‚das wir durch viel trübsal müssen in das reich Gottes gehen‘. Daß genau diese Bezugnahme intendiert ist, wird anhand der übernächsten Strophe zweifelsfrei sichtbar, wo es heißt: „Zwar wir müssen, durch viel Leiden, | durch die heisse Wüsten, gehn | ins gelobte Land der Freuden“. Nur die Anfechtung gewährleistet, daß der Glaubende in Bewegung bleibt, ja angetrieben wird und aus der „Trübsal“ (Str. 24) „Gedult“ erlernt – im Sinne von Röm 5,3: ‚wir rhümen vns auch der Trübsaln, die weil wir wissen, Das trübsal gedult bringet‘. Die Anfechtung bewirkt mithin, daß der Glaube lebendig bleibt, die ihm nötige, auf die sich dehnende Zeit bezogene Verlaufsform, eben die Geduld (Øpomon») erlernt, um zugleich fähig zu werden, den alten Adam niederzuringen, sprich „von der schnöden Sündenbahn“ abzubiegen und „wie ein
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Hirsche“ das „Gnadenbrünnlein“ aufzusuchen, um seinen geistlichen Durst zu stillen, der nicht wäre und darum auch nicht gestillt werden könnte, gäbe es die Hitze der Anfechtung nicht. Hier läßt Birken klar erkennbar Ps 42,2 f. in seinen Text einfließen: ‚WJe der Hirsch schreiet nach frischem Wasser/ So schreiet meine seele Gott zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott/ nach dem lebendigen Gott.‘ Jedenfalls zieht das lyrische Ich diese Art der Hitze und den aus ihr resultierenden Durst, der die Verheißung hat, dereinst gestillt zu werden, derjenigen Hitze vor, die in der „Höllenglut“ (Str. 26) statthat, „aldar | nie kein Tröpflein Wassers war“. Mit dieser Wendung ruft das Gedicht den Erzählzusammenhang der Perikope vom reichen Mann und armen Lazarus in Erinnerung, in der der in der Hölle schmorende geizige Wanst mit den keiner Erhörung gewürdigten Worten zitiert wird: ‚Vater Abraham/ Erbarme dich mein/ vnd sende Lazarum/ das er das eusserste seines Fingers ins wasser tauche/ vnd küle meine Zungen/ Denn ich leide pein in dieser flammen‘ (Lk 16,24). Von der barock-lutherischen Predigttradition her betrachtet, kommt dieser Rückgriff des Birkenschen Gedichtes auf Lk 16 keineswegs unerwartet, da (wie etwa anhand von Martin Mollers Praxis Evangeliorum deutlich wird46) der Geizhals aus Lk 16 gleichsam zum altbekannten personellen Inventar lutherischbarocker Predigten über Mt 6 am 15. Sonntag nach Trinitatis gehört, verkörpert er doch die verwerfliche, weil ungläubige ‚Bauchsorge‘ der sündigen Welt in geradezu prototypischer Weise. Die Str. 27–29 leisten eine bußtheologisch motivierte Dekodierung des sommerlichen Gewitters, indem sie Gottes „Blitz- und Donner-Wagen“ als empirische Konkretionen des Zornes Gottes über die Sündhaftigkeit der Menschen und zugleich als Bußrufe, als Aufforderungen, im Vertrauen zu Gott und seinen Geboten umzukehren, entziffern. Ähnliche Argumentationen, innerhalb deren (wie bei Birken selbst47) nicht selten auch Kometenerscheinungen und Pestepidemien das nötige bußtheologische Augenmerk geschenkt wird, begegnen in den zeitgenössischen barocken Predigten zuhauf, auch bei Dilherr. Prägend ist hier die Gewißheit, daß die auf die Bekehrung der Sünder zu Gott zielende Predigt des mosaischen Gesetzes sich im Rahmen eines Medienwechsels auch der Naturerscheinungen zu bedienen fähig ist, um die Dringlichkeit des Bußrufes in Augen und Ohren der Adressaten aktuell und sinnfällig werden zu lassen. Ein entscheidendes Plus, das der lyrischen Schreibweise im Gegenüber zur homiletischen
46 Vgl. Moller (Anm. 24), S. 724b. 47 Vgl. hierzu insbesondere Birkens Geistliche Cometen-Post und Pest-Trost in Sigmund von Birken: Erbauungsschrifttum. Hg. von Johann Anselm Steiger. 2 Teile. Berlin, Boston 2014 (Werke und Korrespondenz 8 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 79 f.).
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Verarbeitung dieses Topos zukommt, besteht darin, daß es ersterer leichter fällt, die geforderte Umkehr zu Gott, die mit der kollektiven und der contritio cordis entspringenden confessio peccati einzusetzen hat, nicht nur als Erfordernis zu benennen, sondern tatsächlich zu realisieren. Genau dies findet in Birkens Text in Str. 28 statt: Ach wir sind ja freylich Sünder, wehrt, daß uns dein Grimm berühr. Doch wir sind auch deine Kinder, hoffen Gnad und Lieb von dir. Laß das Wetter uns vormahlen, des Gesetzes Donnerstrahlen: laß die schlagen in das Herz, daß es fühle Reu und Schmerz.
Bemerkenswerterweise gelingt es Birken, die Kausalität der ira Dei, die durch die Sündhaftigkeit der Menschen und die mit ihr verbundene Verletzung der iustitia Dei evoziert wird, in die naturkundlichen Zusammenhänge einzuzeichnen, insofern er die Sünden als in den Himmel aufsteigende Dünste bezeichnet, an denen sich das Gewitter entzündet. Eingeleitet durch die klagende exclamatio „Ach“, die den Beginn von Str. 28 sowie den vorletzten Vers aus Str. 27 wiederaufgreift, heißt es in Str. 29 daher: Ach die Dünst, sind unsre Sünden, die da steigen Himmel-auf, sich an Gottes Zorn entzünden, mit ergrimmtem Donner-lauf zu den Sünden wieder kehren, schelten, straffen und versehren. Gott! laß walten deine Gnad: daß dein Zürnen uns nit schad.
4 Erst wenn man die im höchsten Maße dichte Intertextualität der geistlichen Lyrik Birkens mit der Heiligen Schrift und zudem deren produktive Verarbeitung einer großen Menge von Theologumena und Topoi der zeitgenössischen Predigt- und Erbauungsliteratur mit im Blicke hat, kann eine Würdigung dieses poeta doctus, dieses Dichters also als eines (nicht nur, aber eben auch) theologisch profund gebildeten und darum lyrisch im höchsten Maße präzise sprechenden Zeitgenossen in angemessener Weise stattfinden.
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Die Kommentierung der geistlichen Lyrik Birkens, die im Rahmen der Schaffung einer kritischen Edition mehrerer umfangreicher geistlicher Sammelhandschriften des Nürnberger Dichters zu leisten war, war bestrebt, dem geschilderten Umstand Rechnung zu tragen. Zwar kann es nicht die Aufgabe des Editors sein, sämtliche traditionsgeschichtliche Tiefenstrukturen der Quellentexte auszuleuchten. Gleichwohl aber ist es nötig, Birkens theologisches und frömmigkeitliches Umfeld zumindest exemplarisch anhand eines Corpus von ausgewählten Bezugstexten und im Rahmen der Darbietung von aussagekräftigen Similien abzustecken. Schon die drittmitteltechnischen Rahmenbedingungen sorgten dafür, daß ein nicht nur hier deplazierter Vollständigkeitswahn nicht aufkam, der der verfehlten Meinung huldigt, es sei Aufgabe der Editoren, sämtliche sich an die Publikation einer Edition potentiell anschließenden wissenschaftlichen Untersuchungen in kondensierter Form im Kommentar sogleich mitzuliefern. Gleichwohl bietet der Kommentar neben der Eruierung von Bibelstellen auch ausgewählte Similien dar, um die weitere Erforschung der traditionsgeschichtlichen Verwurzelung Birkens zumindest anzuregen und – wichtiger noch – die Plausibilität dieser Fragestellung beispielhaft darzutun.
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5 Textanhang: Sigmund von Birken, Sommerlied Autographe Fassung48 Sommer-Lied.
1. Kron des Jahres, Gold der Zeiten, Freud der Erden, Zier der Welt, Trost der Jammer-Eitelkeiten, aller Wonne Wohngezelt, Aehrenvatter, Garbengeber, Traubenkoch, Feldteppichweber, Brunn, aus dem uns Nahrung fliest, Güldner Sommer, sey gegrüst! 2. Sey gegrüst, Gemahl der Erden, Ceres Bruder, SonnenSohn, Pflegevatter unsrer Heerden, armer Feldleut reicher Lohn, Freund der Flora, Wiesenmahler, BlumenVormund, Feldbestrahler, Sonne-mehrer, sey geküsst, güldner Sommer, sey gegrüst! 3. Sey gegrüst, Capellenmeister unsrer Lüfte-Cantorey, Herzbeherzer, Geistbegeister, Lieb-entzünder, Sinnen-Mey, Wasserfahrer, Badeheitzer, Hochzeitmacher, Wollustreitzer, Krug, der Fluten-Silber giest, güldner Sommer, sey gegrüst! 4. Sey gegrüst, Spazirenführer, Gartenwirt und Schattenfreund, Blumenhold, Waldeinlosirer Luftbesänfter, Maurenfeind,
484950
Druckfassung49 Sommer-Lied. Nach der Singweise: JEsu/ der du meine Seele/ etc. 1. KRon deß Jahres/ Gold der Zeiten/ Freud der Erden/ Zier der Welt/ Trost der Jammer-Eitelkeiten/ aller Wonne Wohngezelt/ Aehrenvatter/ Garbengeber/ Traubenkoch/ Feldteppichweber/ Brunn/ aus dem uns Nahrung fliesst/ Güldner Sommer/ sey gegrüsst! 2. Sey gegrüst/ Gemahl der Erden/ Ceres Bruder/ Sonnen-Sohn/ Pflegevatter unsrer Heerden/ armer Feldleut reicher Lohn/ Freund der Flora/ Wiesenmahler/ Blumenvormund/ Feldbestraler/ Sonne-mehrer/ sey geküsst/ güldner Sommer sey gegrüsst! 3. Sey gegrüsst/ Capellenmeister unserer Lüffte Cantorey/ Hertzbehertzer/ Geistbegeister/ Lieb-entzünder/ Sinnen-May/ Hochzeitmacher/ Wollust-reitzer/ Wasserfahrer/ Bade-Heitzer/ Krug/ der Fluten Silber giesst/ güldner Sommer sey gegrüsst! 4. Sey gegrüsst/ Spatzirenführer/ Gartenwirt und Schattenfreund/ Blumenhold50/ Wald-Einlosirer/ Lufftbesänffter/ Maurenfeind/
48 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Archiv des Pegnesischen Blumenordens B.3.3.3, fol. 43v–46v. Edition in: Sigmund von Birken: Psalterium Betulianum. 2 Teile. Hg. von Alexander Bitzel. Berlin, Boston 2016 (Werke und Korrespondenz 5 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 83 f.), Gedicht I/22, S. 68–76. 49 Dilherr: Zeit-Predigten (Anm. 7), S. 704–714. 50 Blumenhold] Emendiert aus: Baumenhold
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Kräuter-Apoteker, Keyser der durchsüssten Honighäuser, aller Freuden Prinz du bist, güldner Sommer, sei gegrüst! 5. Höchster Gott! sey hochgepriesen, vor die schöne Sommerzeit, da uns Freud und Sonne grüssen, nach dem kalten WinterLeid. Laß mit Dank mein Herze rauchen. Laß mich, dir zu Ehren, brauchen, diese schöne Jahres-zeit, die uns nützet und erfreut. 6. Feld und Wälder bitten Gäste, laden uns ins grün’ hinaus. die belaubten Schatten-äste, locken uns von Stadt und Haus. Laß mich, wann ich geh spaziren, dich im herzen mit mir führen. der Geschöpfe Wunderzier, stelle mir den Schöpfer für. 7. Sie, die buntgeblümten Wiesen, uns in ihren Gräselein in der Kräuter Arme schließen: da uns wiegt und singet ein der krystallnen Bächlein wudeln und ihr süsses Silberstrudeln; da uns, in der sanften Ruh, deckt der Bäume Schatten zu. 8. Uber uns, die VögelChöre singen auf dem Baumgezelt, geben ihrem Schöpfer Ehre, der sie nehret und erhält. Sie, die süssen Nachtegalen, dir den Dank mit Liedern zahlen. Dir, dir, dir die Lerche singt, singend sich in Lüften schwingt. 9. Ach der bösen Sünden-fehden, die uns jener Freud entsetzt in dem schönen Garten Eden, da uns ewig hätt ergetzt solch ein süsses SommerLeben. doch du wirsts uns wiedergeben
Kräuter-Apothecker/ Käiser der durchsüsten Honighäuser/ aller Freuden Printz du bist. Güldner Sommer/ sei gegrüsst! 5. Du/ O GOtt! sey hochgepriesen vor die güldne Sommerzeit/ da uns Freud und Sonne grüssen/ nach dem kaltem Winterleid. Laß mit Danck mein Hertze rauchen laß mich dir zu Ehren brauchen diese schöne Jahreszeit/ die uns nutzet und erfreut. 6. Feld- und Wälder bitten Gäste/ laden uns in’s Grün’ hinaus. die belaubten Schatten-Aeste locken uns aus Stadt und Haus. Laß mich/ wann ich geh spatziren/ dich im Hertzen mit mir führen. der Geschöpffe Wunderzier stelle mir den Schöpffer für. 7. Sie die bunt-geblümten Wiesen/ uns/ in ihrem Gräselein/ in der Kräuter Arme schliessen: da uns wigt und singet ein dort deß Baches Lispel-Wudeln/ und deß Stromes Silberstrudeln/ und das süsse Flutgelall schallend in dem Wall und Fall. 8. Uber uns die Vögelchöre singen auf dem Baumgezelt/ geben ihrem Schöpffer Ehre/ der sie nehret und erhält. sie/ die süssen Nachtegalen dir den Danck mit Liedern zahlen. dir/ dir/ dir die Lerche singt/ die dein hohes Lob bezüngt. 9. Ach! der bösen Sündenfehden/ die uns jener Freud entsetzt/ in dem schonen Garten Eden; da uns ewig hätt ergetzt solch ein süsses Sommer-Leben. doch du wirsts uns wiedergeben/
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dorten in der Ewigkeit: dieser Trost ist meine Freud. 10. Paradis! wo bist du blieben? kaum dein Schatten seind itzund diese Gärten, die betrüben: weil im Garten hat begunnt alles Elend dieser Erden. doch wolt angefangen werden auch im Garten, unser Heil, das durch Jesum wurd zutheil. 11. Bäum’! ihr macht mich Threnen giessen über jenen Baum, wovon Tod und Furcht ward abgerissen: da der Lust ward Fluch zu Lohn; da der andre Baum verschwunde, der uns Leben geben kunde. doch ward Jesus bald dafür unser Baum des Lebens hier. 12. Seh ich nicht zum Brennen fällen Bäume, die nit bringen Frucht? der wird auch ein Brand der Höllen, an dem Gott nit Früchte findt. Jesu! laß du mich auf Erden deiner Zweiglein eines werden, ô du Baum, daß für und für grün’ und Früchte bring’ in dir. 13. Du hast jenen Baum verfluchet auf der Reis, an dem du nicht fandest Frucht, die du gesuchet. Jesu, du mein Herz befrücht: daß ich meine Glaubenszweige dir nit todt und dürre zeige, und so abgehauen, werd von der Höllenglut verzehrt. 14. Hör’ ich lieblich tireliren auf den Bäumen, Sorgen-frey, und in Lüften musiciren, sie die Vögel-Sängerey: lern’ ich, daß ich auch soll ehren Dich, mit Mund- und Herzens-Chören, und dann lassen dich allein sorgen und zufrieden seyn.
dorten in der Seligkeit. dieser Trost ist meine Freud.
10. Bäum’/ ihr macht mich Trähnen giessen über jenen Baum/ woran Tod und Frucht ward abgerissen/ da der Lust ward Fluch zu Lohn; da der andre Baum verschwunde/ der uns Leben geben kunde. doch wird JEsus bald dafür unser Baum deß Lebens hier. 11. Seh ich nicht zum Brennen fällen Bäume die nicht fruchtbar sind! der wird auch ein Brand der Höllen/ an dem GOtt nit Früchte find. JEsu! lasse mich auf Erden deiner Zweiglein eines werden/ O du Baum/ das für und für unverdorret grün’ an dir. 12. Du hast jenen Baum verfluchet auf dem Weg/ an dem du nicht fandest Frucht/ die du gesuchet: JEsu! du mein Hertz befrücht/ daß ich meine Glaubens-Zweige dir nit tod und dürre zeige; und dann abgehauen werd von der Höllenglut verzehrt. 13. Hör ich lieblich tireliren auf den Bäumen Sorgenfrey/ und in Lüfften musiciren sie die Vogel-Cantorey; lern ich/ daß ich auch sol lehren dich mit Mund- und Hertzens-Chören; alsdann/ lassen dich allein sorgen/ und zu frieden seyn.
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15. Hast du mich doch selbst geführet zu den Vögeln in die Lehr, die ganz keine Sorg berühret, wo sie Nahrung nehmen her. Zu den Gräslein, die da stehen, heist du mich zur Schule gehen, lernen, daß ein Vatter sey, der da Hüll und Füll verleih. 16. Zwar ich weiß, du thust das deine. doch ich muß, auf dein Geheis, auch mit händen thun das meine, suchen Brod in Müh und Schweis. Lehret mich doch izt im Grünen, das bemühte Volk der Bienen Speis und Vorraht tragen ein, und die Ameis ämsig seyn. 17. Jn den langen Sommer-Tagen, laß mich ja, die theure Zeit nicht in Müssiggang vertragen; denken an der Ewigkeit Ersten Tag, da das Gerichte und dein zornigs Angesichte auch von ieder Zeit-Minut Einmal Rechnung fordern thut. 18. Mich erinnert auch, das Fliessen dieser schnellen Wässerlein, wie die Tage hinverschiessen, keiner stellt sich wieder ein diß tröst uns, daß du das Leben, das du nahmst, wirst wiedergeben: wie die Flüsse gehn zu Meer, und von dannen wieder her. 19. Grüne Gräslein! euer Leben, bildet mir das meine vor. Jtzund seh ich euch zwar heben eure Köpflein frisch empor: bald komt Sense, Frost, Hitz, Regen, die euch todt zu boden legen. 51
51 der] Emendiert aus: da
14. Hast du mich doch selbst geführet zu den Vogeln in die Lehr/ die gantz keine Sorg berühret/ wo sie Nahrung nehmen her. Zu den Gräßlein die da stehen/ heist du mich zur Schule gehen/ lernen/ daß ein Vatter sey; der51 da Hüll und Füll verleih. 15. Zwar ich weiß/ du thust das deine: doch ich muß/ auf dein Geheiß/ auch mit Händen thun das meine/ suchen Brod in Müh und Schweiß. Lehret mich nicht jetzt im Grünen das bemühte Volck der Bienen Speiß und Vorrath tragen ein/ und die Ameis ämsig seyn. 16. Jn den langen Sommertagen laß mich ja die werthe Zeit nicht in Müssiggang vertragen/ dencken an der Ewigkeit ersten Tag/ da das Gerichte und dein zornigs Angesichte/ auch von jederzeit Minut/ einmal Rechnung fordern thut. 17. Mich erinnert auch das fliessen lieblich-schneller Wässerlein/ wie die Tage hin verschiessen: keiner stellt sich wieder ein. Diß tröst uns/ daß du das Leben/ das du gabst/ wirst wiedergeben: wie die Flüsse gehn zu Meer/ und von dannen wieder her. 18. Grüne Gräßlein/ euer Leben bildet mir das meine vor. Jetzund seh ich euch zwar heben eure Köpfflein frisch empor; bald kömmt Seuche/ Frost/ Hitz/ Regen/ die euch tod zur Erden legen:
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Also nimt der Mensch auch ab, und sein Wesen eilt zu Grab.
also nihmt der Mensche ab und sein wesen eilt zu Grab.
20. Starker Gott! steh bey mir Schwachen! Kan ich doch, aus eigner Kraft, nicht ein Gräslein wachsen machen. Ach gib Segen, Geist und Saft! Ohne dich, ich hier auf Erden kan kein fruchtbars Erdreich werden; ohne dich, Herr, kan ich hier nicht zu Ehren leben dir. 21. Laß das Gute bey mir haften, daß ich sey ein gutes Land; laß es wurzeln, fruchten, saften, daß ich sey kein dürrer Sand; laß in mir, die Sorgenhecken, deinen Samen nicht erstecken; streu ihn in mein Herz hinein, laß das nit seyn harten Stein. 22. Herr! du kondst die Erd schattiren mit dem Blum- und Kräutergras. Wollest auch mein Herze zieren, fruchten mit dem Himmelnaß: daß es, wie ein schöner Anger, geh mit TugendBlümlein schwanger. Wärm es wohl mit deinem Geist, der der Seelen Sonne heist. 23. Bäume, Gras und Kraut auf Erden, hast du, mir zu nutz und gut, mir zu dienste, lassen werden. deine Gnad viel an uns thut. daß auch, dir zu dienst und Ehren, (wie die Erde, mich zu nehren,) ich zur Welt erschaffen sey: diß mach denken mich hierbey. 24. Warme Zeit! die bange Hitze, an das Creutz mich denken macht. Sonn’! ie heller deine Blitze, iemehr unser Leib verschmacht. So, der Gott am nächsten sitzet, unterm Creutz am meisten schwitzet. Doch die Trübsal ist uns nütz, wie im Sommer auch die Hitz.
19. Warme Zeit/ die bange Hitze an das Creutz mich dencken macht. Sonn’/ je näher deine Blitze/ je mehr unser Leib verschmacht: so/ der GOtt am nächsten sitzet/ unterm Creutz am meinsten schwitzet; Er stäupt jeden/ den Er liebt/ doch/ als Vatter/ Streiche gibt.
„Komm, du schöne Sommerzeit! Komm, du süsse Ewigkeit!“
25. Er meints gut: er will uns leiten von der schnöden Sündenbahn in Gedult uns lehren streiten, uns durch Hitze treiben an, daß wir, wie ein Hirsche, schnaufen, nach dem Gnadenbrünnlein laufen. Daß die Seele dürst nach Gott, macht die heisse CreutzesNoht. 26. Zwar wir müssen, durch viel Leiden, durch die heisse Wüsten, gehn ins gelobte Land der Freuden. Lieber will ich Creutz ausstehn, vor die bösen Sündenthaten hier, als dorten ewig braten in der Höllenglut, aldar nie kein Tröpflein Wassers war. 27. Gott! dein Blitz- und Donner-Wagen schreckt uns billich, wann er dich rollend bringt daher getragen: Keile träget er bey sich, die dein Zorn pflegt auszustreuen, die der Sünder Schedeln dräuen. Ach erzeige Gnad für Recht, und verschone deiner Knecht’. 28. Ach wir sind ja freylich Sünder, wehrt, daß uns dein Grimm berühr. Doch wir sind auch deine Kinder, hoffen Gnad und Lieb von dir. Laß das Wetter uns vormahlen, des Gesetzes Donnerstrahlen: laß die schlagen in das Herz, daß es fühle Reu und Schmerz. 29. Ach die Dünst, sind unsre Sünden, die da steigen Himmel-auf, sich an Gottes Zorn entzünden, mit ergrimmtem Donner-lauf zu den Sünden wieder kehren, schelten, straffen und versehren. Gott! laß walten deine Gnad: daß dein Zürnen uns nit schad.
20. Er meints gut: Er wil mich leiten von der schnöden Sündenbahn/ in Gedult mich lehren streiten/ mich durch Hitze treiben an/ daß ich/ wie ein Hirsche schnauffe/ nach den Gnadenbrünnlein lauffe. daß die Seele dürst nach GOtt/ macht die heisse Creutzesnoth. 21. Zwar wir müssen durch viel Leiden/ durch die heisse Wüste gehn/ zu gelobten Himmelsheiden. Jch wil lieber Creutz ausstehn vor die bösen Sündenthaten/ hier/ als dorten ewig braten in der Höllenglut/ aldar nie kein Tröpfflein Wassers war. 22. GOtt/ dein Blitz- und Donnerwagen schreckt uns billich/ wann er dich rollend bringt daher getragen: Keile träget Er bey sich/ die dein Zorn pflegt auszustreuen/ die der Sünder Schedeln dräuen. Ach! erzeige Gnad für Recht/ und verschone deiner Knecht. 23. Ach wir sind ja freylich Sünder/ werth/ daß uns dein Grimm berühr: doch sind wir auch deine Kinder/ hoffen Gnad und Lieb von dir. Laß das Wetter uns vormahlen des Gesetzes Donnerstralen; laß sie schlagen in das Hertz/ daß es fühle Reu und Schmertz.
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Johann Anselm Steiger
30. Nun so laß dann, Sonn’ und Regen, kochen reiche Frucht im Feld. Zeig uns nit nur, deinen Segen: Hagel, Nässe, Hitz und Kält laß die Früchte nicht versehren; wollst den Segen auch gewähren. Laß die Erd nit Erz und Stein, und den Himmel eisern, seyn. 31. Laß izt deinen Fusstapf triefen, mache Feld und Wiesen fett: deine Gnad und Macht zuprüfen, die uns trösten in die wett. Krön das Jahr mit deinen Gaben, daß uns Les’ und Ernde laben; daß sein Brod und Futter werd, allem Fleisch und Vieh auf Erd.
32. Doch der Weitzen-ähren eine, nicht ein Unkraut, laß mich seyn: daß du in die Himmel-Scheune mich einmal mögst führen ein. in der Ernde, da das Feuer wird verzehren Tresp und Spreuer. laß, ins Lebensbündelein, meine Seel gebunden seyn. 33. Jtzund lacht uns an, die Sonne: bald wirds wieder Winter seyn. Leid sich wechselt hier, mit Wonne; Regen folgt auf Sonnenschein. dorten wird, bey stätem Sommer, nimmer folgen Kält und Kummer. da wir, angethan mit Schein, selber werden Sonnen seyn.
24. Nun so laß dann Hitz und Regen kochen reiche Frucht im Feld. zeig uns nicht nur deinen Segen: Hagel/ Nässe/ Hitz und Kält laß die Früchte nicht verheeren/ wollest in uns auch gewähren: Laß die Erd nit Ertz und Stein/ und den Himmel eisern seyn. 25. Laß jetzt deinen Fußstapff trieffen/ mache Feld und Wiesen fett; deine Gnad und Macht zu prüfen/ die uns lieben in die Wett. Krön das Jahr mit deinen Gaben/ daß uns Lees’ und Erndte laben; daß sein Brod und Futter werd allem Fleisch und Vieh auf Erd. 26. Laß auch mich seyn einen Acker/ der dein Wort zu nehmen an/ nicht sey träge/ sondern wacker/ der es auch behalten kan: daß es mir die Sorgenflecken/ die Weltdornen/ nicht erstecken: sondern Härt’ und Unverstand/ laß mich seyn ein gutes Land/ 27. Ach der Weitzen-Aehren eine/ nicht ein Unkraut laß mich seyn: daß du in die Himmelscheune mich einmal mögst führen ein: in der Ernde/ da das Feuer wird verzehren Tresp und Spreuer; laß ins Lebensbündelein meine Seel gebunden seyn. 28. Jetzund lacht uns an/ die Sonne: bald wird’s wieder Winter seyn. Leid sich wechßlet hier mit Wonne/ Regen folgt auf Sonnenschein. dorten wird/ auf steten Sommer/ nimmer folgen Kält und Kummer; da wir/ angethan mit Schein/ selber werden Sonnen seyn.
„Komm, du schöne Sommerzeit! Komm, du süsse Ewigkeit!“
34. Wir, die wir auf Erden streuen Threnen, Trübsal ausgeseet, werden dorten Freud einmeyen, wann die HimmelsErnd’ angeht. da wird wohnen Wonn’ und Lachen, da wird alle Lust erwachen. Komm, du schöne Sommerzeit! Komm, du süsse Ewigkeit!
29. Wir/ die wir auf Erden streuen Thränen/ Trübsal ausgesäet/ werden dorten Freud einmeyen/ wann die Himmelsernd angeht: da wird wohnen Wonn und Lachen/ da wird alle Lust erwachen. Komm/ du schöne Sommerzeit! Komm/ du süsse Ewigkeit!
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Thomas Illg
… leset in des geistigen Arnds Paradiesgärtlein Sigmund von Birken als Rezipient Johann Arndts Johann Arndt (1555–1621) zählt zu den bekanntesten lutherischen Erbauungsschriftstellern.1 Aufgrund der außerordentlich breiten Wirkung seines Werkes darf er als eine Schlüsselfigur der nachreformatorischen Frömmigkeitsgeschichte bezeichnet werden.2 Diesen Ruf verdankt Arndt in erster Linie dem überdurchschnittlichen Erfolg seiner Vier Bücher Von wahrem Christenthumb,3 erschienen zwischen 1605 und 1610,4 die in zahlreichen Auflagen gedruckt und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurden. Bis 1670 konnten 64 Auflagen nachgewiesen werden und insgesamt 240 Ausgaben bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.5 Bekannt sind Übersetzungen ins Finnische, Isländische, Lettische, Litauische, Ungarische, Slowakische, Wendische und Rätoromanische; es existiert sogar eine
1 Zu Arndt allgemein vgl. Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter. Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675). Leipzig 2000 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 2.8), S. 258 f.; Hans Schneider: Arndt (Aquila), Johann. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann Anselm Steiger, Friedrich Vollhardt. Bd. 1. Berlin, Boston 2011, Sp. 146–157. 2 Vgl. Hans Schneider: Johann Arndts Studienzeit. In: Ders.: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 48), S. 83–129, hier S. 83. Schneider zufolge läßt sich die Wirkung der Werke Arndts bis in das 19. Jahrhundert nachvollziehen. 3 Im folgenden als BWC I–IV abgekürzt. 4 Die Urausgabe des Werkes wurde 1605 in Frankfurt a. M. gedruckt, sie umfaßte nur ein Buch. Dieses später als erstes der vier Bücher gezählte Buch erlebte 1606 in Braunschweig zwei Auflagen mit jeweils verändertem Textbestand, 1607 wurde das Werk erneut, wiederum erweitert und korrigiert, in Jena produziert. 1610 konnte die erste Gesamtausgabe der vier Bücher in Magdeburg veröffentlicht werden. Die nur schwer zugängliche Urausgabe liegt als Edition vor. Johann Arndt: Von wahrem Christenthumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Hg. von Johann Anselm Steiger. Hildesheim u. a. 2005 (Philipp Jakob Spener Schriften, Sonderreihe IV = Johann Arndt-Archiv I). Zur Druckgeschichte vgl. die Bemerkungen des Hg.s ebd., S. 351–374. Die erste Gesamtausgabe ist als Nachdruck greifbar. Johann Arndt: Vier Bücher Von wahrem Christen thumb/ Die erste Gesamtausgabe (1610). Buch 1–4 (Nachdruck). Hg. von Johann Anselm Steiger. Hildesheim u. a. 2007 (Philipp Jakob Spener Schriften. Sonderreihe V.1–3 = Johann Arndt-Archiv II.1–3). 5 Vgl. Hans Schneider: Johann Arndts „Vier Bücher von wahrem Christentum“. Offene Fragen der Quellen- und Redaktionskritik. In: Ders.: Der fremde Arndt. (Anm. 2), S. 197–215, hier S. 197. https://doi.org/10.1515/9783110593129-139
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Übertragung ausgewählter Teile des Werks ins Jiddische.6 An zweiter Stelle muß das 1612 in Magdeburg veröffentlichte Paradiß-Gärtlein Voller Christlicher Tugenden genannt werden, ein umfängliches, thematisch gegliedertes Gebetbuch, das der Autor mit Querverweisen auf entsprechende Kapitel der BWC versah.7 Arndts Paradiesgärtlein wurde von anderen Frömmigkeitsschriftstellern wie auch von Kirchenlieddichtern rezipiert und erfuhr ebenfalls sehr viele Auflagen.8 Beide Hauptwerke Arndts waren Sigmund von Birken vertraut, er las darin im Rahmen seiner privaten Andacht, zitierte sie und empfahl sie weiter. In seiner Sammelhandschrift Todten-Andenken und Himmelsgedanken oder Gottes- und Todes-Gedanken ist ein Widmungsgedicht überliefert, das Birken in ein Exemplar des Paradiesgärtleins einschrieb, um es einer uns unbekannten Empfängerin zu verehren. Darin finden sich die folgenden Verse. Spazir in dich ô Seel! du bist ein Paradeis dir selber, wann darinn dein Gott und Tugend schwebet: da raucht der Herz-Altar zu Gottes Lob und Preis; und alles grünt und lacht; der Lebensbrunn belebet. So eine Gotteslust, so einen Garten, lehret uns Pflanzen, dieses Buch, das Geist und Andacht hat.9
Aus dem Briefwechsel mit seiner ersten Ehefrau Margaretha Magdalena ist bekannt, daß Birken ihr nicht nur in einem Fall schriftlich riet, da das direkte Gespräch streitbedingt unterbrochen war, bestimmte Abschnitte aus dem Para-
6 Vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005, S. 40. 7 Eine kritische Edition fehlt, der Straßburger Druck von 1625 ist als Digitalisat online zugänglich: http://diglib.hab.de/drucke/xb-4113/start.htm (25. Februar 2014). 8 Vgl. Elke Axmacher: Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2001 (Mainzer Hymnologische Studien 3), S. 44–78; Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Hg. von Martin Brecht. Göttingen 1993, S. 113–151, hier S. 141; vgl. Jeung Keun Park: Johann Arndts Paradiesgärtlein. Eine Untersuchung zu Entstehung, Quellen, Rezeption und Wirkung. Göttingen 2018 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 248); Johannes Wallmann: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Johannes Wallmann. Tübingen 1995, S. 1–19, hier S. 4. 9 LI. Jn das einer Dame verehrte Paradisgärtlein. In: Sigmund von Birken: Todten-Andenken und Himmels-Gedanken oder Gottes- und Todes-Gedanken. Hg. von Johann Anselm Steiger. 2 Teile. Tübingen 2009 (Werke und Korrespondenz 5 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 59 f.), Text 51, S. 87, V. 5–10.
Birken als Rezipient Johann Arndts
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diesgärtlein betend zu meditieren, um, solcher Art gerüstet, zu einer Beendigung des ehelichen Zwistes fähig zu werden.10 Jch bitte euch noch einmahl, üm Gottes, üm eurer zeitlichen Wolfart und ewigen Seeligkeit willen, bittet Gott üm seinen Heiligen Geist, üm Demut und Sanftmut: leset in des geistigen Arnds Paradißgärtlein das 6, 7. 8. 20. 29. 30. 33. 35. 42. 45 und die 4 ersten in der dritten Claß. Betet vor euch und vor mich, ich wills auch thun, damit unser Haus vom Teufel, von Untugenden und Ungemach erlöset werde.11
Bei den von Birken genannten Gebeten aus Arndts Paradiesgärtlein handelt es sich um Fürbitten, mit denen sich der Beter an Gott wendet, um die christlichen Tugenden der Demut, der Geduld und der Sanftmut zu erhalten. Ebenso empfiehlt Birken seiner Frau die Bitte um Frieden und Einigkeit sowie das Gebet wider den Geiz. Die hier angesprochenen Grundthemen des geistlichen Lebens führt Birken seiner Frau gegenüber in mehreren Briefen an; in ihnen wird Birkens Bild seiner Partnerin als einer bisweilen hoffärtigen, geizigen, zänkischen und undankbaren Frau sichtbar. Offensichtlich war Birken verärgert, er sah indes auch das Seelenheil von Margaretha Magdalena in Gefahr und beabsichtigte, da er sich mit biblischer Begründung als das geistliche Haupt der ehelichen Verbindung betrachtete, sie zurück auf den Pfad geistlicher Tugenden zu führen.12 Birkens Strategie zur Krisenintervention mag aus heutiger Sicht wenig zielführend erscheinen, seine Wertschätzung des Paradiesgärtleins wird in seinem Brief jedoch deutlich: Er empfiehlt Arndts Gebetbuch wie schon im oben genannten Widmungsgedicht als eine Art Schule des geistlichen Lebens, aus der das meditative Gebet und die für das geistliche Leben zentralen Gebetsanliegen gelernt werden können. Liest man sich in das geistliche Werk Birkens ein, so zeigt sich recht bald, daß Birken vielerorts ähnlich vehement wie Arndt für ein wahres, mit Ernst gelebtes Christentum eintritt. Dieses Thema allein verweist noch nicht speziell auf das theologische Programm Arndts, obwohl Teile der kirchengeschichtlichen Forschung, insbesondere der Pietismusforschung, Arndts Engagement auf dem Feld der praxis pietatis als eine Art Ausnahmeerscheinung dargestellt haben und in
10 Für den freundlichen Hinweis auf die Nennung Arndts in diesem Briefwechsel danke ich Hartmut Laufhütte. 11 Brief Birkens an Margaretha Magdalena von Birken (Nürnberg, Mai 1666). In: Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. 2 Teile. Berlin, New York 2010 (Werke und Korrespondenz 10 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 61 f.), Text 75, S. 183 f., Z. 554–559. 12 Vgl. die Einleitung zum Briefwechsel, ebd., S. XXIII u. XXIV–XXVI.
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ihm einen Erneuerer und Verlebendiger der lutherischen Frömmigkeit sahen.13 Anderen Theologen der lutherischen Orthodoxie schrieben sie gleichzeitig zu, die kirchliche Frömmigkeit über den Lehrbildungsprozessen am Beginn der sich etablierenden lutherischen Konfession und über den dogmatischen Lehrstreitigkeiten aus dem Blick verloren zu haben. Einen wichtigen Impuls für diese Sicht der Dinge gab Winfried Zeller mit seiner in den 1950er Jahren formulierten These, es habe um 1600 eine flächendeckende Krise der Frömmigkeit gegeben.14 Folgt man der hier kurz umrissenen Einschätzung der historischen Situation, dann leuchtet das Engagement Arndts um so heller auf, je dunkler die ihn umgebende frömmigkeitsgeschichtliche Landschaft gezeichnet wird. Zellers These war infolge ihrer vielfältigen Rezeption und auch Variation außerordentlich wirksam; ihr Einfluß reicht z. T. bis in die Gegenwart.15 Hinzu kam, daß die Orthodoxieforschung ihren Gegenstand hauptsächlich mit dogmengeschichtlich orientierten Fragestellungen untersuchte, aus diesem Grund blieb die zahlreich produzierte Erbauungsliteratur der Epoche lange Zeit fast unberücksichtigt.16
13 Zur Diskussion über die frömmigkeitsgeschichtliche Stellung Arndts in der Forschung vgl. Thomas Illg: Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum. Göttingen 2011 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 44), S. 44–52. 14 Vgl. Winfried Zeller: Protestantische Frömmigkeit im 17. Jahrhundert. In: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Bernd Jaspert. Marburg 1971 (Marburger theologische Studien 8), S. 85–116, hier S. 87–92; Johannes Wallmann: Reflexionen und Bemerkungen zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts. In: Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen. Göttingen 1999, S. 25–42, hier S. 25–27. 15 Zellers These rezipierend gehen z. B. die folgenden Autoren von einer mangelhaft ausgeprägten Kraft der lutherisch-orthodoxen Frömmigkeit aus, die durch Arndt eine Erneuerung erfuhr: Brecht (Anm. 8), S. 115; Klára Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst. Die Meditation im 16. Jahrhundert. Eine funktionsanalytische Gattungsbeschreibung. Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 8), S. 219; Berndt Hamm: Johann Arndts Wortverständnis. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 8 (1982), S. 43–73, hier S. 45 f.; Wallmann: Der Pietismus (Anm. 6), S. 28–30. Die Rezeption der These Zellers in der kirchen- sowie in der allgemeinhistorischen Forschung entfaltet Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (Beiträge zur historischen Theologie 91), S. 1–33; vgl. auch Wallmann: Reflexionen (Anm. 14), S. 25–42. 16 Vgl. Georg Hoffmann: Protestantischer Barock. Erwägungen zur geschichtlichen und theologischen Einordnung der lutherischen Orthodoxie. In: Kerygma und Dogma 36 (1990), S. 156–178, hier S. 157; Hans-Christoph Rublack: Zur Problemlage der Forschung zur lutherischen Orthodoxie in Deutschland. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. von Hans-Christoph Rublack. Gütersloh 1992 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 197), S. 13–32, hier S. 13.
Birken als Rezipient Johann Arndts
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Mittlerweile ist eine differenziertere Sicht auf das Luthertum des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts möglich. Es konnte gezeigt werden, daß die lutherisch-orthodoxen Theologen ihre wissenschaftliche Arbeit keineswegs von der kirchlichen Frömmigkeit separierten,17 verstanden sie ihre Disziplin, Martin Luther folgend,18 doch grundsätzlich als eine praktische Wissenschaft, die sich der Theorie um praktischer Anwendung willen widmet. Theologisches Wissen zu erwerben und zu verwalten, hatte daher letztlich der Praxis und insbesondere der praxis pietatis zu dienen. Exemplarisch wird dieses Theologieverständnis in der Vorrede zu Johann Gerhards Meditationes Sacrae (1606) deutlich, in der Gerhard die Theologie mit der Medizin als einer anderen praktischen Wissenschaft vergleicht. Wie es der Medizin darum zu tun ist, von Krankheit zu heilen und Gesundheit zu erhalten, so stellt sich der Theologie laut Gerhard die Aufgabe, zu zeigen, wie die in geistlicher Hinsicht kranken Seelen von Sünde befreit und im Glauben gestärkt werden können.19 Durch Forschungsergebnisse der jüngeren Zeit wurden zudem die vielfältigen Leistungen lutherisch-orthodoxer Autoren auf dem Gebiet der Erbauungsschriftstellerei sichtbar, nachdem diese Literaturgat-
17 Vgl. z. B. Markus Matthias: Gab es eine Frömmigkeitskrise um 1600? In: Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Hg. von Hans Otte, Hans Schneider. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), S. 27–43, hier S. 52. Der Autor weist am Beispiel Philipp Nicolais die enge Verflechtung von lutherischorthodoxer Theologie und Frömmigkeit nach und zeigt auf, wie Nicolai Inhalte des christologischen Dogmas für sein Erbauungswerk fruchtbar macht. 18 Luther lehnte ein Verständnis der Theologie im Sinne einer scientia speculativa scharf ab, wie einem für diesen Sachverhalt prominenten Zitat aus den Tischreden zu entnehmen ist: „Vera theologia est practica, et fundamentum eius est Christus, cuius mors fide apprehenditur. Omnes autem hodie, qui non sentiunt nobiscum et non habent doctrinam nostram, faciunt eam speculativam, quia sie konnen aus der cogitatio nit kommen: Qui bene fecerit etc. Es heist aber nit so, sed: Timenti Dominum bene erit in ultimis. Speculativa igitur theologia, die gehort in die hell zum Teuffel.“ (Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883–2009 (im folgenden zitiert als WA.TR für ,Weimarer Ausgabe Tischreden‘ mit Band, Nummer und Zeilenzahl), hier: WA.TR 1, Nr. 153,16–21) Vgl. zur Sache auch: Christoph Schwöbel: Theologie I, 4.5. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 8, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage. Tübingen 2008, Sp. 259–263. 19 „QVI THEOLOgiam Medicinae conferunt, & multi sunt, & rem rectè explicare videntur. Vt enim duplex Medicinae finis, sanitatem in corpore humano conservare, eandemque amissam recuperare: ita Theologia, quoad animae morbos, eodem modo duplicem agnoscit finem, ostendit namque, non solùm quomodo â peccatis liberemur, sed etiam quomodo in gratia conservemur. […] sufficit instituto meo, quòd ex collatione Theologiae cum Medicina, optimâ ratione colligere poßim, Theologiam esse doctrinam practicam, ac proinde minus rectè sentire, qui speculativam eam esse contendunt, quo in numero sunt quidam ex Scholasticis.“ Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/7) Lateinisch-deutsch. Hg. von Johann Anselm Steiger. Teilbd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (Doctrina et Pietas I.3), S. 13–18.
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tung verstärkt in das Blickfeld gerückt ist.20 Der These, es habe um 1600 eine umfassende Frömmigkeitskrise gegeben, wurde in der jüngeren Orthodoxieforschung deutlich widersprochen.21 Im Anschluß an die bereits 1924 publizierten Arbeitsergebnisse Hans Leubes konnte Elke Axmacher z. B. zeigen, daß das von mehreren Erbauungsschriftstellern formulierte Urteil, es herrsche ein Mangel an gelebter Frömmigkeit vor, häufig weniger auf der Analyse der tatsächlich vorzufindenden kirchlichen Situation beruhte, sondern vornehmlich theologischen Prämissen folgte, die in die Beurteilung der Lage einflossen. Von Bedeutung ist hier die nicht selten zu findende theologische Anschauung, Naturkatastrophen, außergewöhnliche Naturphänomene oder besondere geschichtliche Situationen seien als ein strafendes Handeln Gottes zu bewerten, das als Reaktion auf eine mangelhaft ausgeprägte Frömmigkeit erfolgt. Auch Arndt bediente sich dieses Argumentationsmusters und bewertete Hungersnöte und Pestepidemien in der Vorrede zu BWC I als göttliches Gerichtshandeln, das die verbreitete laue Frömmigkeit strafe.22 Sein Werk präsentierte er, um die Leser zu einem wahren Christentum anzuleiten und ihnen den Weg aus dem göttlichen Strafgericht zu zeigen. Die kirchliche Frömmigkeit kann zudem als krisenhaft erscheinen, weil das vorfindliche Leben der Glaubenden dem beispielhaften Leben Christi nicht in gewünschtem Maße ähnlich ist. Diese nicht aufzuhebende Differenz zwischen aktuellem und idealisiertem geistlichen Leben ist für mehrere Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts Anlaß, Mißstände hinsichtlich der praxis pietatis namhaft zu machen. Zeller wertete Aussagen wie diese als einen Hinweis auf eine tatsächlich vorhandene Krise der Frömmigkeit, dem Stand der jüngeren und jüngsten Forschung zum Thema entspricht diese Schlußfolgerung jedoch nicht mehr.23
20 Im Nachwort zur Edition der Meditationes Sacrae Johann Gerhards weist Johann Anselm Steiger auf die große Zahl von Meditationswerken hin, die um 1600 gedruckt wurden und somit genau in den Zeitraum fallen, für den Zeller eine Krise der Frömmigkeit annimmt. Vgl. Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (Anm. 19). Teilbd. 2, S. 658–665. 21 Vgl. Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen Lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924, S. 4–6; Jörg Baur: Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter. Ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Teil 1. Hg. von Dieter Breuer. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 43–62, hier besonders S. 43 f., 50, 53; Matthias (Anm. 17), S. 27–43; Johann Anselm Steiger: Seelsorge, Dogmatik und Mystik bei Johann Gerhard. Ein Beitrag zu Theologie und Frömmigkeit der lutherischen Orthodoxie. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 106 (1995), S. 329–344, hier S. 329–332. 22 Vgl. Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Vorrede, S. 11–13. 23 Vgl. Elke Axmacher: Praxis Evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller (1547–1606). Göttingen 1989 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 43), S. 306–314.
Birken als Rezipient Johann Arndts
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Mit seiner Frömmigkeitsliteratur und seinem Engagement für die praxis pietatis stand Arndt also keineswegs allein auf weiter Flur. Bereits bevor die Urausgabe der BWC 1605 gedruckt wurde, lag es lutherischen Autoren am Herzen, die Frömmigkeit zu befördern. Daher weist nicht allein das Birken und Arndt gemeinsame Thema der praxis pietatis auf die Schriften Arndts zurück, sondern Birkens Rezeption theologischer Begriffe, die in Arndts Werk von Bedeutung sind. Insbesondere finden sich in seinen geistlichen Werken Hinweise auf Arndts Beschreibung der Situation des Menschen nach dem Sündenfall, auf seine Lehre bezüglich der wahren Buße und seine Konzeption der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Arndtsche Theologie scheint bisweilen durch in Birkens theologischem Urteil und insgesamt in Birkens Predigt, die er als Autor geistlicher Schriften hält, zwar nicht von der Kanzel, aber als Prediger im Rahmen des Priestertums aller Glaubenden.
1 Zu Birkens Arndt-Rezeption in der Gottseeligen Gespräch-Lust Exemplarisch läßt sich Birkens Arndt-Rezeption an seiner Gottseeligen GesprächLust24 zeigen. Mit diesem handschriftlich überlieferten, jedoch Fragment gebliebenen Werk in Form eines Gesprächspiels verfolgte Birken den Plan, die Stationen des Tagesablaufes meditativ zu betrachten und auf ihren geistlichen Gehalt hin zu befragen. Sechs fiktive Personen treten in geistliche Gespräche über verschiedene Themen ein, die sich an den Stationen des üblichen Tagesablaufes entspinnen. Das Erwachen, das Tageslicht und das Ankleiden werden ebenso bedacht wie das Waschen oder das Halten der Mahlzeit. Eine von Birken erstellte Inhaltsübersicht, die dem Manuskript auf der Innenseite des Deckblattes voransteht, führt 30 Gespräche auf und sieht für die letzten beiden Kapitel die Themen „Der Schlaff.“ und „Das Ende.“ vor.25 Birkens Absicht war es demnach, den ganzen Tagesablauf geistlich zu reflektieren, das Manuskript bricht jedoch nach dem 19. Gespräch ab.
24 Vgl. Birkens Gottseelige Gespräch-Lust. In: Sigmund von Birken: Erbauungsschrifttum. Hg. von Johann Anselm Steiger. 2 Teile. Berlin, Boston 2014 (Werke und Korrespondenz 8 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 79 f.), S. 181–422. 25 Vgl. Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), S. 184, Z. 22 f.
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Arndt wird in der Gespräch-Lust als „geistreicher Gotteslehrer“26 und „geistreicher Lehrer“27 eingeführt, zumindest legt Birken die ehrenvollen Titel den fiktiven, miteinander im Gespräch stehenden Personen in den Mund. Mit einem eindeutigen Bezug auf Arndts BWC zitieren sie ihn an einer Stelle auch unter dem Pseudonym „Lehrer des Wahren Christentums“28. Birken sorgt dafür, daß verschiedene der fiktiven Personen auf Arndt Bezug nehmen. So ist es keineswegs allein der Gotteslehrer Engelbrecht, der sich auf Arndt beruft, auch der betagte Adelige Gotthart und Dietwalt, ein Kunstliebender, geben sich als geneigte Leser Arndtscher Schriften zu erkennen. Keine der genannten Personen äußert sich kritisch oder ablehnend über Arndt, sie zitieren ihn vielmehr als bekannte und auch anerkannte Autorität in Belangen des geistlichen Lebens. Darin gleichen diese Bezugnahmen auf Arndt der Haltung, die Birken diesbezüglich in den Briefen an seine Ehefrau eingenommen hatte. Zu einem Teil der Stellen notierte Birken in der Marginalspalte des Manuskripts exakte Quellenangaben, die es potentiellen Lesern ermöglichen sollten, die entsprechenden Passagen in den BWC aufzufinden. Auf diese Weise ist neben den Gesprächen zwischen den fiktiven Personen noch eine weitere Gesprächsebene im Spiel, nämlich Birkens Dialog mit dem Leser. Und auch hier wird Arndt offensichtlich als Lehrer des geistlichen Lebens geschätzt.
1.1 Lernen von Arndt, dem geistreichen Gotteslehrer Arndt entwickelte einen eigenen theologischen Ansatz, der durch die Rezeption teils disparater theologischer Traditionen ein charakteristisches, nicht durchweg spannungsfreies Profil erhält. Neben mittelalterlich-mystischen und spiritualistischen Quellen fanden auch Paracelsische Texte und Konzepte Eingang in sein Werk.29 Birken greift diesen Bereich des Arndtschen Denkens in der Gespräch-
26 Vgl. ebd. Gespräch 17, S. 361, Z. 451. 27 Vgl. ebd. Gespräch 18, S. 394, Z. 469. 28 Vgl. ebd. Gespräch 18, S. 399, Z. 618. 29 Die quellenkritische Erforschung der BWC (und anderer Werke Arndts) ist längst nicht abgeschlossen; sichtbar wird die Breite der verwendeten Quellen und Traditionen bei Edmund Weber: Johann Arndts Vier Bücher vom Wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung. 3. Auflage. Hildesheim 1978. Weitere Einflüsse, besonders aus dem Bereich des mystischen Spiritualismus konnte Hermann Geyer nachweisen. Vgl. Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. Berlin, New York 2001 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 80.1–3).
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Lust auf, wenn er Gotthart ein Beispiel aus der Natur wählen läßt, um einen geistlichen Zusammenhang zu erläutern, das dieser, wie angegeben wird, bei einem „geistreichen Gotteslehrer“ vorgefunden hatte. Da Birken in der Marginalspalte des Manuskripts die BWC als Quelle angibt, ist der Arndt-Bezug eindeutig. Jch erinnere mich zweyer schöner Gleichniße, mit welchen ein geistreicher Gotteslehrer von der Hoffart gar beweglich abmahnet. Der Mensche, (sagt er) ist ein Schatten. Was ist ein Schatten? Nichts ist er. Er hat kein wesen, auch kein weben, von sich selbst: er hanget an dem ding, dessen gestalt er ist. Reget sich der Baum, so beweget sich auch der Schatten. Weß ist nun die bewegung? je nicht des Schattens, sondern des Baums. Also hat der Mensch kein leben und weben, von sich selbst: es ist Gottes, in Jhm leben, weben und sind wir. Auch die Aepfel des Baums, erscheinen wohl im Schatten: aber es sind nicht Aepfel, sondern ihr Schatten; sie sind nicht des Schattens, sondern des Baums. Also, wann du gute Früchte bringest, so erscheinen sie wohl in dir, aber als ein Schatte: sie sind nit dein, sondern Gottes, von dem sie kommen. Der Apfel, wächst nit aus dem Schatten: gute Werke, nicht aus dem Menschen. der Mensch hängt an Gott, wie ein Schatten am Leib. Was hat ein Schatten, das sein ist? ist er doch selber nichts, wie kan er dann etwas haben? Ein Apfel, (sagt er ferner) wächst nicht aus dem Holz, ob er wohl daran hanget, wie ein Kind an der Mutterbrust, sondern aus der grünenden Krafft: dann sonst trügen, auch dürre hölzer, Aepfel. Also ist der Mensch, von Natur, ein dürrer Baum, zum Guten erstorben: Gott aber, ist seine grünende Krafft.30
Im ersten Buch der BWC illustriert Arndt mit dem Apfel-Beispiel den gleichen geistlichen Zusammenhang. Ein Mensch ist nichts anders denn ein Schatte. Sihe an einen Schatten eines Baums/ was ist er? Nichts. Reget sich der Baum/ so beweget sich der Schatte auch/ wes ist nun die Bewegung? Nicht des Schatten/ sondern des Baums: Also wes ist dein Leben? Nicht dein/ sondern Gottes/ wie geschrieben stehet Act. 17. Jn jhm leben/ weben/ vnd sind wir/ Die Epffel des Baums erscheinen auch wol im schatten/ aber sie sind nicht des Schatten/ sondern des Baums: Also tregestu gute Früchte/ sie sind nit dein/ sie erscheinen wol in dir/ aber als ein Schatte/ sie kommen aber auß dem ewigen Vrsprung/ welcher ist Gott/ wie ein Apffel nicht auß dem Holtze wächset/ wie die vnuerstendigen meinen/ ob er wol daran hanget/ wie ein Kind an der Mutter Brüsten/ sondern auß der grünenden Krafft/ ex centro seminis, sonst trügen auch dürre Höltzer Epffel. Der Mensch aber ist von Natur ein dürrer Baum/ Gott ist seine grünende Krafft.“31
Der Quellenvergleich weist einen Teil von Birkens Text als fast wörtliches Zitat aus. Insgesamt hält sich Birken sehr eng an seine Vorlage, auch das von Arndt eingeflochtene Bibelzitat aus Apg 17,28 läßt Birken anklingen und notiert die
30 Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), Gespräch 17, S. 361, Z. 451–464. 31 Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Kap. 19, S. 184 f.
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Bibelstelle in der Marginalspalte des Manuskriptes. Allerdings formuliert Arndt den naturphilosophischen Hintergrund des Exempels deutlicher als Birken: In Übereinstimmung mit Paracelsus geht er davon aus, daß Form und Materie eines Gewächses grundsätzlich aus einem Geist entstehen, wie Arndts Bemerkung erweist, in jedem Samen sei ein „spiritus seminis“ vorhanden, dessen grünende Kraft Gestalt und Frucht des Gewächses bilde. Paracelsus erläutert diese Anschaung näher in der Astronomia magna. got wil, das beume aus dem ertrich wachsen und ander obs, birn und dergleichen mer geschöpf. so nun sein wille sol geschehen, so muß am ersten das holz da sein, aus dem die birn wachst, dan vom holz wils got haben. nit das das holz die birn sei, aber die birn ist wie ein geist im holz, so lang bis die corporalitet entpfecht. und dieweil sie sol ein greiflichen leib haben, so seind die elementa in ein holz transmutirt worden. das ist, was greiflich ist, das hat sein corpus von den underen zweien elementen, und alles, das in ein solch corpus gehen sol, dasselbig ist am ersten ein geist, aber nit ein astralischer geist, dan derselbig nimpt kein corpus an, aber ein under elementischer geist, derselbig empfacht die corporalitet. als, ein samen ist ein natürlicher geist, so er aber geseet wird, wird aus im ein baum, iezt ist er in seim corpus. also verstanden mit der biren aus dem baum auch, das sie ein elementischer geist am ersten ist, darnach materialisch in der corporalitet.32
Birkens Zitat erweckt nicht den Eindruck, als hätte er die naturphilosophischen Implikate in Arndts Argumentation übersehen. Die Passage dient offensichtlich auch nicht allein dazu, den Charakter Gottharts auf diese Weise zu kolorieren und ihn als Naturkundigen zu zeichnen. Der Arndt verliehene Titel, „geistreicher Lehrer“, deutet m. E. vielmehr darauf hin, daß Birken die Fähigkeit Arndts schätzt, Gottes Wort aus dem Buch der Natur zu lesen und die in der Schöpfung verborgene Weisheit Gottes zu entschlüsseln. Mit Blick auf die Nachwirkung der Werke Arndts ist dies von Bedeutung. Denn Arndts Interesse an Paracelsus, das seitens der Arndtforschung häufig nicht oder nur schwerlich in den Rahmen lutherisch-orthodoxen Denkens eingegliedert werden kann,33 hinderte Birken
32 Paracelsus: Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt. Hg. von Karl Sudhoff. Buch 1. München, Berlin 1929 (Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus Sämtliche Werke 1.12), S. 56 f. 33 Carlos Gilly geht so weit, Arndt als einen Theosophen zu betrachten, der gleichsam under cover im lutherischen Amt bleibt, um dort in seinem Interesse zu wirken. Vgl. Carlos Gilly: Hermes oder Luther. Der philosophische Hintergrund von Johann Arndts Frühschrift „De antiqua philosophia et divina veterum Magorum Sapientia recuperanda“. In: Frömmigkeit oder Theologie (Anm. 17), S. 163–199, hier S. 173–199. Eine durchgängig lutherische Arndtinterpretation findet sich hingegen in: Wolfgang Sommer: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie. Göttingen 1988 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 41), S. 138,
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offensichtlich nicht daran, ihn als geistlichen Lehrer und als theologische Autorität im Raum des lutherischen Bekenntnisses ernstzunehmen.
1.2 Lernen vom Lehrer des wahren Christentums In einer weiteren Passage der Gespräch-Lust gibt Birken zu erkennen, aus welcher Quelle er schöpft, auch wenn hier exakte Angaben fehlen. Birken rezipiert Arndts Auffassung des neuen Lebens in der Heiligung, der sanctificatio hominis, das dem geistlich wiedergeborenen Menschen aufgetragen ist. Mit Hilfe des Pseudonyms „Lehrer des Wahren Christentums“34 deutet er seine Vorlage an. Wie Arndt in der Vorrede zu BWC I erklärt, will er die Glaubenden zu einem wahren Christentum anleiten. Der wahre lebendige Glaube zeigt sich laut Arndt in Werken der Nächstenliebe und strebt danach, die persönliche Heiligung täglich zu vervollkommnen.35 Einen wesentlichen Teil der Anleitung bildet Arndts Ermahnung, den geistlichen Kampf gegen die sündhafte Natur des Menschen aufzunehmen und die mortificatio carnis zu erstreben. Mit Blick auf die Situation des Menschen nach dem Sündenfall lehrt Arndt, daß zwei Naturen im Glaubenden miteinander ringen, die in dualistischer Weise aufeinander bezogen sind. Post lapsum trägt der Christ zwei Genealogien in sich, wie Arndt erklärt: die linea Adami, die den Menschen durch seine sündhafte Natur beständig zur Abkehr von Gott verführt, und die linea Christi, die einen geistlichen, tugendhaft lebenden Menschen hervorbringt. Es ist zweyerley Geburt eines Christenmenschen/ die alte fleischliche/ sündliche/ verdampte vnnd verfluchte Geburt/ so aus Adam gehet/ dadurch der Schlangensamen des Sathans Bilde/ vnd die jrrdische/ viehische Art des Menschen fortgepflantzet wird/ vnnd die geistliche/ heilige/ selige/ gebenedeyte newe Geburt/ so aus Christo gehet/ dadurch der Same Gottes/ das Bilde Gottes/ vnd der himmelische/ gottförmige Mensch geistlicher weise
140, 166–169; zur Diskussion über Arndts theologiegeschichtliche Stellung in der Forschung vgl. Illg (Anm. 13), S. 20–44. 34 Vgl. Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), Gespräch 18, S. 399, Z. 618. 35 „Darzu werden dir lieber Christ/ diese Büchlein Anleitung geben/ wie du nicht allein durch den Glauben an Christum Vergebung deiner Sünden erlangen solt/ sondern auch wie du die Gnade Gottes recht solt gebrauchen zu einem heiligen Leben/ vnd deinen Glauben mit einem Christlichen Wandel zieren vnd beweisen. Denn das wahre Christenthumb stehet nicht in Worten/ oder im eusserlichen Schein/ sondern im lebendigen Glauben/ aus welchem rechtschaffene Früchte/ vnd allerley Christliche Tugende entspriessen/ als aus Christo selbst.“ Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Vorrede S. [13 f.].
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wird fortgepflantzet. Also hat jeder Christenmensch zweyerley Geburts Linien in jm die fleischliche lineam Adami, vnd die geistliche lineam Christi, so aus dem Glauben gehet.36
Arndts Anliegen ist es, die Glaubenden zu wahrer Buße zu führen, damit sie die ihnen einwohnende linea Adami und mithin das Fleisch schwächen. Er ermahnt sie, durch wahre Reue und im Glauben der Eigenliebe, der Hoffart und der Wollust des Fleisches abzusterben.37 Die geistliche Übung der mortificatio carnis zieht dann Arndt zufolge die Lebendigmachung des Geistes nach sich. Im folgenden Zitat wird diese Kernaussage der Arndtschen Lehre bezüglich der sanctificatio hominis greifbar, es stammt aus einem Kapitel der BWC, in dem Arndt sein Konzept der wahren Buße grundlegend darstellt. Durch diese Busse aber geschicht die tödtung vnd creutzigung des Fleisches vnd aller fleischlichen Lüste/ vnd bösen Vnart des Hertzens/ vnd die Lebendigmachung des Geistes: Dadurch Adam vnd alles was seiner Vnart ist/ in vns stirbet durch wahre Rewe/ vnd Christus in vns lebet durch den Glauben. Denn es henget beydes an einander/ auff die Tödtung des Fleisches folget die Lebendigmachung oder ernewerung des Geistes/ vnnd die Ernewerung des Geistes/ auff die tödtung des Fleisches. Wenn der alte Mensch getödtet wird/ so wird der newe lebendig/ vnd wenn der newe lebendig wird/ so wird der alte getödtet.38
Birken nimmt die Arndtsche Bußlehre in der Gespräch-Lust auf und rezipiert auch deren anthropologische Hintergründe. Er legt sie Gotthart in den Mund, der die Untugend der sogenannten Bauchsorge kritisiert, also der rein auf die irdische Dimension der menschlichen Existenz bezogenen Lebenssorge. Ganz im Sinne Arndts gibt Gotthart im Gespräch zu bedenken, in dieser Weise irdisch gesinnt zu sein, gehe einher mit einer Vernachlässigung der geistlich zu vollziehenden Kreuzigung des Fleisches. Es sind ihrer viele, die, wo nicht aus dem Mund, iedoch in ihrem Herzen und bey sich selber, mit den Cyklopen beym Euripides sagen: Wir erkennen sonst keinen Gott, als unsren Bauch, dem wir täglich Schafe und Rinder und allerhand niedliches opfern. Diese Worte hat zum theil widerholet der heilige Paulus, als welcher in den Griechischen Poeten wohl belesen gewesen: Wandlet nicht, sagt er, wie die Feinde des Creutzes Christi, das ist der Creutzigung des Fleisches, welcher ihr Gott der Bauch ist, die da irdisch gesinnet und allein auf die leibliche Wollust bedacht sind.39
36 Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Kap. 3, S. 22 f. 37 „Diese verkerte böse Vnart des Menschen muß nun geendert/ oder gebessert werden durch wahre Busse/ das ist/ durch ware göttliche Rewe/ vnd durch den Glauben/ so vergebung der Sünden ergreiffet/ vnd durch die tödtung deiner eigen Liebe/ Hoffart/ vnnd Wollust des Fleisches.“ Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Kap. 4, S. 35. 38 Ebd., S. 33 f. 39 Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), Gespräch 18, S. 398 f., Z. 611–616.
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Ein Vergleich mit Arndts Auffassung der wahren Buße erweist, daß Birkens Auslegung des eingeflochtenen Bibelzitates aus Phil 3,18 der Exegese Arndts gleicht. Auch Arndt hatte in den BWC erklärt, das Kreuz Christi auf sich zu nehmen bedeute, sich in der geistlichen mortificatio carnis zu üben.40 Mit einem direkten Hinweis auf Arndt beschließt Birken die Rede Gottharts; Arndts Kernaussagen bezüglich der Buße und ihre anthropologischen Voraussetzungen bilden die Grundlage für das von Gotthart vorgetragene Argument: Wer der Seele und nach dem Geist lebet, (sagt der Lehrer des Wahren Christentums), der führet ein göttliches: wer aber dem Leib und nach dem Fleisch lebet, der führet ein viehisches Leben. Diese zwey Leben, das geistliche und fleischliche, tödten immer eins das andre in diesem Leben.41
Auch an anderer Stelle folgt Birken der Arndtschen Anthropologie, laut deren zwei einander widerstrebende Naturen im Menschen lebendig sind. Einen Hinweis auf seine Quelle gibt er an dieser Stelle nicht. So ist nun der Alte Mensch, Adam, die Natürliche Geburt, das Fleisch, die Finsterniß, Jrdische Gesonnenheit, die Sünde, der Tod, das Verdammniß, das Bild des Teufels, ja der Teufel selber: den müßen wir ausziehen. Aber der Neue Mensch ist, Christus, die Wieder- und Neugeburt, der Geist, das Liecht, himmlische Gesonnenheit, die Gerechtigkeit, das Leben, die Seeligkeit, das Bild Gottes, ja Gott selber: den sollen wir anziehen.42
In den BWC begegnen sehr ähnlich aufgebaute, zum Teil mit identischen Begriffen operierende Ausdeutungen der linea Adami bzw. der linea Christi im Menschen. Arndt ordnet hier die entsprechenden Kategorien in gleicher Weise, wie Birken dies tut, der fleischlichen oder eben der geistlichen Geburt zu und führt sie letztlich auf Adam oder Christus zurück, die er einander als Typos und Antitypos gegenüberstellt.43
40 „Jrren demnach die jenigen/ die allein weltliche Trübsal vnd Wiederwertigkeiten für Creutz achten/ vnnd wissen nicht/ daß die innerliche Busse vnd tödtung des Fleisches das rechte Creutz sey/ das wir täglich Christo sollen nachtragen.“ Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Kap. 4, S. 38. 41 Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), Gespräch 18, S. 399, Z. 618. 42 Ebd., Gespräch 8, S. 236, Z. 75–79. 43 Vgl. dazu insbesondere die folgende Passage in BWC II, wo Arndt die zur linea Adami und zur linea Christi gehörenden Unterkategorien tabellarisch auflistet. Arndt stellt in dieser Tabelle neben anderen die folgenden, mit Birkens Text übereinstimmenden Begriffspaare gegenüber: „Adam/ Christus. Alte Mensch/ Newe Mensch. […] Alte Geburt/ Newe Geburt. Fleisch/ Geist. […] Finsternuß/ Liecht. […] Sünde/ Gerechtigkeit. Verdamnuß/ Seligkeit. Todt/ Leben. […].“ Arndt (Anm. 4), BWC II (1610), Kap. 7, S. 84.
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2 Birkens imago-Dei-Konzeption im Lichte der Aussagen Arndts und Heinrich Müllers Weitere Bezüge zum Werk Arndts zeigen sich dort, wo Birken die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen thematisiert. Arndt entfaltet seine imago-DeiKonzeption an prominenter Stelle, im ersten Kapitel der BWC; sie zählt zu den fünf Zentralthemen der Anleitung zu einem wahren Christentum, die Arndt zu Beginn des ersten Buches definiert und entfaltet. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen beschreibt Arndt als eine Gleichförmigkeit der menschlichen Seele mit dem Willen und den Tugenden des trinitarischen Gottes.44 Arndt zufolge bildet sich diese Gleichförmigkeit in den Lebensäußerungen eines Gott hingegebenen Menschen ab, wenn in dessen Verstand und Willen Heiligkeit, Güte und Gerechtigkeit Gottes sichtbar werden.45 Um diesen Gleichklang menschlicher Lebensäußerungen mit dem Willen Gottes zu illustrieren, vergleicht er die Seele des Menschen mit einem Spiegel, in dem Gottes Bild erscheint. Dann ein Bilde ist/ darinn man eine gleiche Form vnd Gestalt sihet/ vnd kan kein Bildnis seyn/ sie mus ein Gleichnis haben dessen/ nach dem sie gebildet ist/ Als in einem Spiegel kan kein Bild erscheinen/ es empfahe denn die Gleichnis/ oder gleiche Gestalt von einem andern/ vnd je heller Spiegel/ je reiner das Bild erscheinet: Also je reiner vnd lauterer die Menschliche Seele/ je klärer Gottes Bild darein leuchtet. Zu dem Ende hat GOtt den Menschen rein/ lauter/ vnbefleckt erschaffen mit allen Leibs vnd Seelen Kräfften/ daß man GOttes Bilde in jhm sehen solte / Nicht zwar als einen todten Schatten im Spiegel/ sondern als ein warhafftiges lebendiges Contrafeyt vnd Gleichnis des vnsichtbaren Gottes/ vnd seiner vberaus schönen/ innerlichen/ verborgenen Gestalt/ das ist/ Ein Bilde seiner göttlichen Weisheit im Verstande des Menschen/ ein Bilde seiner Gütigkeit/ Langmut/ Sanff[t] mut/ Gedult in dem Gemüt des Menschen/ Ein Bilde seiner Liebe vnnd Barmhertzigkeit in den Affecten des Hertzens des Menschen/ Ein Bilde seiner Gerechtigkeit/ Heiligkeit/ Lauterkeit vnnd Reinigkeit in dem Willen des Menschen/ Ein Bilde der Freundligkeit/ Holdseligkeit/ Liebligkeit vnnd Warheit in allen Geberden vnd worten des Menschen.46
Arndt denkt das Gott-Widerspiegeln des Menschen hier als einen aktiven Vorgang, denn das Spiegelbild Gottes leuchtet Arndt zufolge in der menschlichen Seele auf,
44 „DAs Bilde GOttes im Menschen ist die Gleichförmigkeit der Menschlichen Seelen/ verstandes/ Geistes/ Gemüts/ willens vnd aller innerlichen vnd eusserlichen Leibes vnd Seelen Kräffte mit Gott vnd der heiligen Dreyfaltigkeit/ vnd mit allen jhren Göttlichen Arten/ Tugenden/ Willen vnd Eigenschafften.“ Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Kap. 1, S. 1 f. 45 „Daraus erscheinet/ daß sich die heilige Dreyfaltigkeit in Menschen abgebildet/ auff daß in seiner Seelen Verstand/ Willen vnd Hertzen/ ja in dem gantzen Leben vnd Wandel des Menschen eitel göttliche Heiligkeit/ Gerechtigkeit/ Gütigkeit erscheinen vnd leuchten sollte.“ Ebd., S. 2. 46 Ebd., S. 3–5.
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wenn die Seelenkräfte mit der göttlichen Weisheit, Liebe und Güte interagieren. Deutlich wird, daß Arndt die Gottebenbildlichkeit des Menschen als ein Beziehungsgeschehen bestimmt und nicht als eine feste, dem Menschen eingestiftete Kraft oder Eigenschaft. Dieses Merkmal und ebenfalls die Spiegelmetaphorik als Illustration seiner These sind charakteristisch für Arndts imago-Dei-Lehre, wie sie in BWC I vorliegt. Birken eignet sich Grundzüge dieses Konzeptes an, darauf deuten Texte in verschiedenen Teilen seines Werkes hin. Beispielsweise läßt er die fiktiven Gesprächspartner der Gespräch-Lust den morgendlichen Aufputz zum Anlaß nehmen, den kontrollierenden Blicken in den Spiegel eine geistliche Dimension abzugewinnen. Wieder ist es der betagte Adelige Gotthart, der einen Gedanken Arndts aufnimmt, wenn er den Gesprächspartnern die Situation des Menschen post lapsum zu bedenken gibt: Infolge des Ungehorsams gegen Gott spiegelt der Sünder nun das Bild des Teufels wider und bedarf der geistlichen Wiedergeburt. Man pfleget, wann man sich aufputzet, in Spigel zuschauen. dieses leibliche, soll uns gedenken machen an das geistliche Bespiegeln. Gott hat den Menschen erstlich zu seinem Bild erschaffen: auch, als dasselbe, durch auftünchung der sündlichen TeufelsLarve, sich verlohren, hat er, mit dem Blut seines Sohns und durch das geistliche Wasserbad, solche Schminke von uns wieder abgewaschen, und vermittelst dieser Wiedergeburt sein Bild in uns neugeschaffen. Dessen sollen wir, so offt wir in den Spigel schauen, uns erinnern, und darbey seuffzen: Jch sehe zwar ein Bild: doch ist es deines nicht, ô Gott, das du zuerst mir hattest eingeschaffen. die Sünd ists, die in mir dir deinen Spiegel bricht: doch kanst die Stücke du zusammen wieder raffen.47
Auch in der Fortführung des Gedankens durch die adelige Jungfrau Hildegard nimmt Birken die Spiegelmetapher auf. Unsre Seelen, sind freylich Gottes Spigel, darinn er sich zusehen verlanget. Sollen wir derhalben uns befleißigen, Gottes Bild erfunden zuwerden: damit er nit ursach gewinne, uns in seinem Zorn zuzertrümmern, und die Scherben ins ewige Feuer zuwerffen.48
Birken beschreibt die Gottebenbildlichkeit des Menschen hier im Sinne Arndts als ein Beziehungsgeschehen. Daran schließt sich die ebenfalls mit Arndt, aber
47 Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), Gespräch 9, S. 244, Z. 69–78. 48 Ebd., Z. 79–81.
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auch mit Martin Luther übereinstimmende Deutung an, der in Sünde gefallene Mensch sei zum Spiegelbild Satans transmutiert.49 Die Weise, wie sich Birken das imago-Dei-Konzept Arndts aneignet und in der Gespräch-Lust umsetzt, zeigt einen wichtigen Aspekt seiner Arndt-Rezeption: Mit dem Spiegelschauen nimmt Birken eine alltägliche, fast banale Tätigkeit zum Anlaß, um geistliche Zusammenhänge zu reflektieren. Er betrachtet die Morgentoilette dazu geistlich-phänomenologisch. Indem er diesen Vorgang des alltäglichen Lebens mit Hilfe von Kriterien des geistlichen Lebens decodiert, wird dem erwachten Betrachter die Morgentoilette gleichsam zu einer geistlichen Übung. Der aufgeweckte und geistlich erweckte Leser sieht sich im Spiegel auf diese Weise gleichzeitig als geistlich wiedergeborener, zu einem neuen Leben erweckter Mensch. Mit dieser Meditation, die das Spiegelschauen zum Anlaß nimmt und dieser Gewohnheit einen geistlichen Mehrwert hinzufügt, verbindet Birken geistliches und alltäglich-profanes Leben und zieht den Glauben so in das Leben hinein. Diese geistlich-phänomenologische Betrachtung des Alltags erinnert stark an das Konzept der Emblematik, die auf ihre Weise oft alltägliche Phänomene aufgreift, um darin geistig bzw. geistlich nachzuvollziehende Inhalte abzubilden.50 Birken bedient sich der Emblemkunst auf seine Weise, indem er die pictura des herkömmlichen Emblems durch die sprachliche Inszenierung des Alltags ersetzt, die den Leser entsprechende Bilder imaginieren läßt und ihn mit einem geistlichen Impuls in seinen Alltag zurückführt. Bei Arndt ist die beschriebene Vorgehensweise einer solchen geistlichphänomenologischen Betrachtung alltäglicher Vorgänge kaum zu finden. Wohl braucht Arndt Exempla und Gleichnisse, anhand deren er Zusammenhänge des geistlichen Lebens erläutert, wie z. B. den oben erwähnten Vergleich menschlicher Werke mit dem Schatten eines Baumes. Hier dient der Blick in die Natur indes dem besseren Verständnis eines Zusammenhangs, der in einem anderen Feld liegt, nämlich im geistlichen. Birken hingegen führt beide Situationen, die des alltäglichen und die des geistlichen Lebens wie Bilder zusammen, die übereinander geblendet werden, so daß die profane Welt für die geistliche durch-
49 „Wie könte nun eine greulichere vnd abschewlichere/ Sünde seyn? Daraus dieser Grewel erfolget/ Erstlich/ daß der Mensch dem Sathan gleich worden in seinem Hertzen/ denn sie haben beyde gleiche Sünde begangen. Vnd ist demnach der Mensch auß Gottes Bilde des Sathans Bilde/ vnd seyn Werckzeug worden/ fehig aller Bosheit des Sathans darnach ist der Mensch aus einem göttlichen/ geistlichen/ himlischen Bilde gar jrrdisch/ fleischlich/ viehisch/ vnnd thierisch worden.“ Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Kap. 2, S. 14. 50 Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: Einleitung. In: Birken: Erbauungsschrifttum (Anm. 24), S. XI–XXXIV, bes. XXIII–XXVII.
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scheinend wird. In dieser emblematisch-geistlichen Umsetzung der Arndtschen imago-Dei-Lehre wird ein besonderer Zug seiner Arndt-Rezeption erkennbar. Neben den inhaltlichen Übereinstimmungen finden sich allerdings auch klare Abweichungen von der Argumentation Arndts, wie eine genaue komparatistische Analyse zu erkennen gibt. An mehreren Stellen seines Werkes wird sichtbar, daß Birken die Gottebenbildlichkeit gleichzeitig als eine dem Menschen eingestiftete Eigenschaft begreifen kann. Das belegt bereits der oben zitierte Vers: „Jch sehe zwar ein Bild: doch ist es deines nicht, | ô Gott, das du zuerst mir hattest eingeschaffen.“51 Vergleichbare Aussagen sind häufig in solchen Passagen anzutreffen, in denen Birken die Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes aufnimmt, der zufolge Gott den Menschen aus einem Erdenkloß formte und ihm mit dem göttlichen Odem eine ewig lebende Seele einhauchte. Exemplarisch wird dieser Zusammenhang deutlich in der zweiten Strophe von Birkens AndachtLied, eines Junggesellen, dessen Manuskript sich in der Sammelhandschrift Psalterium Betulianum findet. Du hast die Seel dem Leib gehauchet ein, daß sie auf Erd dein Ebenbild solt seyn: der Satan hat diß dein Gemähl beflecket, dafür itzund mich seine Larve decket.52
Offenbar sieht Birken die Seele an als eine dem Menschen eingestiftete, ewige und direkt auf Gott bezogene Instanz, die konstitutiv für dessen Gottebenbildlichkeit ist. Dieser Aspekt fehlt in Arndts Ausführungen zum Thema in den BWC ganz. Birken nimmt also wichtige Aspekte des Arndtschen imago-Dei-Konzepts auf, gleichzeitig geht er inhaltlich darüber hinaus. Es liegt nahe, nach weiteren Einflüssen auf das theologische Denken Birkens zu suchen. In Betracht kommt hier insbesondere Heinrich Müller (1631–1675), Professor der Theologie in Rostock, Pastor an St. Marien und ab 1671 Superintendent daselbst, dessen Schriften neben denjenigen Arndts das geistlich-lyrische Schaffen Birkens fundamental geprägt haben. 1673 arbeitete Birken gemeinsam mit anderen Pegnitz-Schäfern an einer lyrischen und musikalischen Umsetzung von Andachten Müllers, die dessen Geistlichen Erquickstunden entstammten.53
51 Birken: Gespräch-Lust (Anm. 24), Gespräch 9, S. 244, Z. 75 f. 52 Sigmund von Birken: AndachtLied, eines Junggesellen, Str. 2. In: Ders.: Psalterium Betulianum. 2 Teile. Hg. von Alexander Bitzel. Berlin, Boston 2016 (Werke und Korrespondenz 6 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 83 f.), Gedicht I/10, S. 21, V. 5–8. 53 Vgl. Heinrich Müller: Geistliche Erquickstunden/ Oder CL Hauß- und Tisch-Andachten. Erstdruck Rostock 1664. Ab 1666 umfaßte das Werk 300 Andachten.
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Sieben der insgesamt 50 in Verse gebrachten und von Johann Löhner in Musik gesetzten Andachten stammten von Birken, er überarbeitete das gesamte, 1673 in Nürnberg publizierte Werk54 und übernahm auch die Druckbetreuung. Bereits im Vorfeld der Realisierung stand Birken mit Müller in brieflichem Kontakt.55 Als Autor von Erbauungsschriften sah sich Müller selbst nicht allein in der Tradition Luthers,56 sondern ebenso auch Arndts und nahm Elemente aus dessen Werken auf.57 Sein umfängliches Erbauungswerk Himmlischer Liebes-Kuß Oder Ubung des wahren Christenthums enthält eine Andacht, die den Adel der menschlichen Seele abhandelt. In ihr faßt der Autor grundlegene Aspekte der imago-Dei-Lehre zusammen; die von Arndt und Birken genannten Punkte sind darin enthalten. Laut Müller ist die Seele zum Bilde Gottes erschaffen und dem Menschen als ein unsterblicher Geist eingehaucht; diesen Gedanken hatte auch Birken in seine Ausführungen zum Thema aufgenommen. Da Gott die Seele nach seinem Bild formte und in ihr eine Entsprechung findet, ist sie Müller zufolge dazu befähigt, mit dem Schöpfer zu kommunizieren. Zudem führt er den bei Arndt und ebenfalls bei Birken zu findenden Gedanken an, „Daß die Seele von GOtt zu einem Spiegel erschaffen ist, darinn man sein Bild sehen könte. So lang sich nun die Seele zu GOtt hält, siehest du GOtt darinnen, und was göttlich ist; wenn du sie aber zur Welt wendest, findest du nichts darinnen als was Welt und weltlich ist.“58
54 1673 erschien die Gemeinschaftspublikation in Nürnberg unter dem Titel: Der Geistlichen Erquickstunden des Fürtrefflichen Theologi H. Doct. Heinrich Müllers Past. und Profess. Publ. bey der löbl. Universität Rostock Poetischer Andacht-Klang: von denen Pegnitz-Blumgenossen verfasset; und in Arien gesetzet durch Johann Löhner der Sing-dichtkunst Beflissenen. Nürnberg 1673. 55 Vgl. Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. Bd. 2. Tübingen 2007, S. 858–860. 56 Vgl. zu Müllers Bezugnahmen auf Luther Johann Anselm Steiger: Das Gebet im Zeitalter des Barock. Ein Beitrag zu Martin Luther und Heinrich Müller sowie zur Bildtradition des armen Lazarus. Neuendettelsau 2013, S. 39–67. 57 In der Vorrede nennt Müller die Schriften Arndts neben denen Luthers als inhaltliche Bezugspunkte für sein Werk: „Wie mich denn auch zu dieser Christlichen Arbeit viele gottselige Hertzen angefrischet haben, deren und andern zum Dienst ich dieses geringe Wercklein geschrieben und allermeist dahin gerichtet habe, daß ihnen die Ubung des wahren Christenthums, wie aus der lebendigen Erfahrung der Liebe GOttes im Hertzen gehet, kurtz und deutlich für Augen gestellet würde. Es haben andere heilige Männer für mich diesen Weg betreten, voraus Luther und Arndt, in deren Fußstapffen ich zu weilen, wanns Noth thut, trete.“ Heinrich Müller: Himmlischer Liebes-Kuß Oder Ubung des wahren Christenthums/ fliessend aus der Erfahrung Göttlicher Liebe. Berlin 1726, Vorrede an den Leser (unpaginiert). 58 „Erstlich ist die Seele edel dadurch, daß sie zum Bilde GOttes erschaffen. Moses beschreibet den Ursprung der Seelen, Gen. 2. Und GOTT der HErr machte den Menschen aus dem Erden-Kloß, und bließ ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase, und also ward der Mensch eine lebendige
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Der Textbefund legt die Vermutung nahe, daß das theologische Denken Birkens durch Texte Müllers mitgeprägt wurde. Weitere Textvergleiche geben darüber hinaus Anhaltspunkte für die These, daß Birken sich in seiner Arndt-Lektüre an der durchgehend lutherisch-orthodox geprägten Arndt-Rezeption Müllers orientierte. Eine Verbindung zwischen den genannten Textwelten ist gegeben in einer von Birken verfaßten lyrischen Bearbeitung einer Andacht Müllers, die Arndt nahestehendes Gedankengut enthält. Müllers Andacht trägt den Titel: Von grosser Wissenschafft. Viel Wissens/ wenig Gewissens.59 Kritisch wendet sich Müller darin gegen eine rein akademisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Glauben, da sie zwar zu einer größeren Gelehrsamkeit, nicht aber zu lebendiger Frömmigkeit und Glaubensfrüchten führe. In einem mottohaft formulierten Satz der Andacht wird sein Argument exemplarisch sichtbar: „Was du gutes weist/ das übe: Wissenschaft ohne That ist ein Wolcke ohne Regen/ ein Baum ohn Frucht.“60 Arndt hatte sich in der Vorrede zum ersten Buch der BWC in sehr ähnlicher Weise geäußert und seinen Bußruf mit einer deutlichen Kritik am theologischen Wissenschaftsbetrieb verbunden.61 Birken übernimmt den Kritikpunkt Müllers in seiner lyrischen Bearbeitung und formuliert:
Seele. Es darff keines weitläufftigen Disputirens, ob GOtt die Seele aus Adams Cörper geschaffen, und durchs Blasen hinein gesencket habe; oder ob durchs Blasen die Seele in Adams Cörper gebildet sey? Wir lernen hieraus 1. daß die Seele ihren Ursprung aus GOTT hat, und darum billig ihre Ruhe in GOtt suchet, wie das Kind nicht gern einer Fremden Brüste säuget. 2. Daß die Seele ein Geist, und also unsterblich sey. Darum muß sie billig mit dem unsterblichen GOtt umgehen, wie der sterbliche Leib mit sterblichen Dingen handelt. 3. Daß die Seele von GOtt zu einem Spiegel erschaffen ist, darinn man sein Bild sehen könte. So lang sich nun die Seele zu GOtt hält, siehest du GOtt darinnen, und was göttlich ist; wenn du sie aber zur Welt wendest, findest du nichts darinnen als was Welt und weltlich ist. Gleichwie man in einem Spiegel bald den Himmel, bald die Erde siehet, nachdem man ihn kehret und wendet. Ach! das ist Jammer, daß die Seele, die GOtt und den Himmel in sich tragen könte, sich mit der Welt und ihrem Unflath schleppen muß. Wie ein Wachs nicht zugleich zwey Gestalten in sich fasset; so mag auch die Seele nicht zugleich himmlisch und weltlich seyn. 4. Daß sich GOtt der Seelen selbst mittheilen wollen, und dazu hat er sie durch sein Bild empfänglich gemacht, daß er mit der Seelen, wenn sie ihm gleich wäre, könte Freundschaft machen, in ihr wohnen und würcken. Darum erfordert der Seelen-Adel, daß sie alles ausschleust, was nicht GOtt ist. GOtt und die Welt vertragen sich nicht in einem Hertzen, je mehr die Welt ausgehet, je mehr gehet GOtt ein.“ Müller (Anm. 57), S. 902 f. 59 Heinrich Müller: Geistliche Erquick-stunden/ Oder Dreyhundert Haus- und Tisch-Andachten. Frankfurt a. M. 1672, S. 315. 60 Ebd., S. 317. 61 „Jederman sucht jetzo hochgelarte Leute/ von denen er Kunst/ Sprachen vnd Weißheit lernen möge/ aber von vnserm einigen Doctore JEsu Christo/ wil niemand lernen Sanfftmut vnnd hertzliche Demut.“ Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Vorrede, S. [8].
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Jm Thun besteht, im wissen nicht, der Wahren Christen wahre pflicht: die heist uns gläuben nur, und lieben.62
Die komparatistische Analyse der Texte Müllers, Arndts und Birkens zeigt neben den prominenten Übereinstimmungen, daß sowohl Müller als auch Birken einen markanten Punkt im theologischen Programm Arndts umgehen. Denn Arndt begreift Werke der Liebe oder auch die Tugenden Christi nicht allein als Früchte des Glaubens. Vielmehr bilden die Übung der imitatio Christi und das Tun des Willens Gottes in seinen Augen gleichzeitig auch die entscheidenden Voraussetzungen für eine vertiefte Gotteserkenntnis. Diese Überzeugung vertritt Arndt, ohne die Christusnachfolge im Sinne eines menschlichen Werkes mißzuverstehen, das dem Glaubenden erst die Gotteserkenntnis einbrächte. Maßgeblich ist für ihn vielmehr das neuplatonische Konzept der pia philosophia, an dem sich seine Erkenntnislehre orientiert. Darüber hinaus wird deutlich, daß er die Erfahrung und die Übung als den eigentlichen Weg des Erkenntnisgewinns betrachtet. In diesem Punkt schließt Arndt sich einer Erkenntnislehre an, wie sie von Paracelsus und von Arndts Lehrer in Basel, dem paracelsistischen Mediziner Theodor Zwinger vertreten wurde. Beide ordnen die Erfahrung und die Praxis der theoretischen Erforschung eines Gegenstandes vor.63 Aus diesem Grund wendet sich Arndt nicht allein gegen ein solches Streben nach Wissen, das die Frömmigkeit vernachlässigt, er gibt vielmehr zu erkennen, daß er die akademische Theologie auch deshalb kritisch betrachtet, weil er eine völlig andere Arbeitsweise für sachgemäß und erstrebenswert hält. Viel meinen/ die Theologia sey nur eine blosse Wissenschaft vnd Wortkunst/ da sie doch eine lebendige Erfahrung vnd Vbung ist. Jederman studiret jetzo/ wie er hoch vnd berümbt in der Welt werden möge/ aber from seyn wil niemand lernen. Jederman sucht jetzo hochgelarte Leute/ von denen er Kunst/ Sprachen vnd Weißheit lernen möge/ aber von vnserm einigen Doctore JEsu Christo/ wil niemand lernen Sanfftmut vnnd hertzliche Demut/ da doch sein heiliges lebendiges Exempel/ die rechte Regel vnd Richtschnur vnsers Lebens ist/ Ja die höchste Weißheit vnd Kunst.64
Wenn Heinrich Müller also formuliert: „Was du gutes weist, das übe“, könnte Arndt diesen Satz im Sinne des pia-philosophia-Konzepts und im Sinne seiner
62 Birken: Todten-Andenken (Anm. 9), Gedicht 244, V. 19–21. 63 Vgl. Hans-Peter Neumann: Natura Sagax – Die geistige Natur. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 94), S. 45–53; Gilly (Anm. 33), S. 181, 183–185. 64 Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Vorrede, S. [7 f.].
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Wissenschaftskritik wie folgt ergänzen: übe, was du weißt, damit du deine Erkenntnis des Guten vertiefst. Nachdem die ersten Ausgaben der BWC erschienen waren, hatten Kritiker Arndt neben anderen Verstößen gegen die lutherisch-orthodoxe Lehre vorgeworfen, er rede dem Synergismus das Wort: Er bürde es den Glaubenden auf, durch gute Werke oder eigene Anstrengungen an der Rechtfertigung mitzuwirken, die dem Bekenntnis zufolge doch sola fide, allein aus Glauben, gewährt wird.65 Diesen Verdacht erweckten insbesondere solche Passagen, in denen Arndt die Glaubenden zur imitatio des tugendhaften Lebens Christi ermuntert und lehrt, die Erfahrung der Liebe Gottes sowie die tiefere Erkenntnis geistlicher Zusammenhänge sei an den Vollzug der imitatio Christi gebunden. Obwohl Arndt den Text der BWC für die Drucklegung der Folgeauflagen mehrfach bearbeitete, verstummte die Kritik bis zu seinem Lebensende und auch danach nicht. Sie setzt sich in den differenten Arndt-Deutungen der Forschung zum Teil bis heute fort, insofern sie auf die Beantwortung der Frage zielen, wie es um die Orthodoxie der Arndtschen Lehre bestellt sei.66 Heinrich Müller und auch Birken gelingt es dagegen, die von Arndt formulierte Wissenschaftskritik im Einklang mit der lutherisch-orthodoxen Theologie zu lesen und zu rezipieren. Sie thematisieren das gemeinsame Anliegen, die Frömmigkeit zu fördern und die wissenschaftliche Arbeit an den Quellen nicht zum Selbstzweck degenerieren zu lassen, ohne jedoch die Grundannahme des pia-philosophia-Konzepts und die beschriebene, seitens des Paracelsismus vertretene Erkenntnislehre zu teilen, die in der Argumentation Arndts wirksam sind. Der Vergleich von Müllers Andacht mit Birkens lyrischer Bearbeitung zeigt noch einen weiteren Aspekt: Birken pointiert die wissenschaftskritischen Äußerungen Müllers stärker als dieser es selbst getan hatte, wenn er formuliert: „Jm Thun besteht, im wissen nicht, | der Wahren Christen wahre pflicht: | die heist uns gläuben nur, und lieben. | den glauben schändet der Sofist: | die Liebe wird der Atheist: | bald haben aus der Welt vertrieben.“67 Die Betitelung der Wissenschaft
65 Vgl. Martin Brecht: Die Aufnahme von Arndts ‚Vier Bücher von wahrem Christentum‘ im deutschen Luthertum. In: Frömmigkeit oder Theologie (Anm. 17), S. 231–262, hier S. 233. 66 Vgl. zu dieser Frage exemplarisch Johann Anselm Steiger: Johann Arndts „Wahres Christentum“, Lukas Osianders Kritik und Heinrich Varenius’ Arndt-Apologie. In: Frömmigkeit oder Theologie (Anm. 17), S. 263–291, hier S. 289, 291. Steiger weist nach, daß in Arndts Werk sowohl Passagen auszumachen sind, aus denen Arndts Orthodoxie zu ersehen ist, als auch solche, die für das Gegenteil sprechen. Daher ist die seit den Streitigkeiten um Arndt virulente Frage, ob Arndt als Lutheraner zu bezeichnen sei, nicht zielführend. Weitaus wichtiger sind Anstrengungen, die einzelne Elemente des Arndtschen theologischen Profils erhellen. 67 Birken: Todten-Andenken (Anm. 9), Gedicht 244, V. 19–24.
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als ‚Sophisterei‘ und die Beschimpfung der in Rede stehenden Christen als Atheisten war Müller nicht über die Lippen gekommen. Legt man jedoch Formulierungen Arndts neben diese Verse Birkens, so finden sich Entsprechungen, etwa wenn Arndt meint, die akademische Theologie werde als bloße Wortkunst mißverstanden und einige Christen stünden dem Heidentum näher als dem lebendigen Glauben.68 So entsteht im Zuge der vergleichenden Lektüre zumindest der Verdacht, Birken habe bei der lyrischen Bearbeitung der Andacht Müllers entsprechende Texte Arndts herangezogen, um die Aussage seines Prätextes zu pointieren. Es wäre somit möglich, daß sich Birken nicht allein die lutherische Arndt-Rezeption Müllers aneignete, sondern auch bestrebt war, Texte Müllers mit einer eigenen Sicht auf das Werk Arndts zu harmonisieren. Um diese Vermutung weiter zu verifizieren, müßte ihr auf einer breiteren Textbasis nachgegangen werden.
3 Zusammenfassung Hinsichtlich der Arndt-Rezeption Birkens zeigt sich rückblickend zunächst die Hochschätzung Arndts als Lehrer des wahren Christentums, dessen Werke als Hilfe zum geistlichen Leben gelesen und meditiert werden. Arndts Anliegen, zu einem mit Ernst gelebten Glauben anzuleiten, eignet sich Birken in seinem geistlichen Werk an. Zudem finden sich in seinen Schriften Theologumena, die zu den Zentralthemen des Arndtschen theologischen Denkens zählen. Birkens Beschreibung der Auswirkungen des Sündenfalls auf die menschliche Existenz wie dessen Aussagen bezüglich der Heiligung des Glaubenden gleichen den Kernpunkten der Arndtschen Anleitung zu einem wahren Christentum und den darin enthaltenen Aussagen bezüglich des status corruptionis und der sanctificatio hominis. Zu den theologischen Zentralthemen Arndts, die in Birkens Werk Aufnahme finden, zählt auch dessen imago-Dei-Lehre, auch wenn Birken diese, wahrscheinlich Müller folgend, ergänzt. Müller als Vertreter einer lutherisch-orthodoxen ArndtRezeption kann als ein Vermittler Arndtschen Gedankengutes an Birken und andere angesehen werden. Seine lutherisch-orthodoxe Arndt-Rezeption zeigt sich beispielsweise daran, daß er das neue Leben in der Heiligung zweifelsfrei auf das Wirken Gottes gründet.69 Arndt-Kritiker hatten diesbezüglich Zweifel angemeldet und Arndt vorgeworfen, er sehe mit Blick auf die Rechtfertigung des
68 Arndt (Anm. 4), BWC I (1610), Vorrede, S. 5, 7. 69 Vgl. z. B. Müller: Liebes-Kuß (Anm. 57), Kap. 17 (Von der erneuerenden Liebe GOttes), S. 533: „Hieraus ist offenbar, daß der neue Mensch sein Leben, Krafft und Bewegung aus dem Worte GOttes habe, wann dasselbe durch den Heiligen Geist ein Licht wird im Hertzen.“
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Sünders ein synergistisches Handeln des Menschen vor. Die lutherische ArndtLektüre Müllers ist auch daraus ersichtlich, daß er die geistliche Wiedergeburt des Sünders fest mit dem Taufsakrament verbindet.70 Zumindest in den frühen Ausgaben der BWC hatte Arndt die Bedeutung der media salutis, mithin auch der Taufe, nicht in vergleichbarer Weise gewürdigt. Birken eignet sich die lutherische Arndt-Rezeption Müllers an, es besteht jedoch gleichzeitig Anlaß, zu vermuten, daß er die Müllersche Arndt-Rezeption mit der eigenen Arndt-Lektüre abgleicht und dessen Aussagen im Sinne Arndts pointiert. Ebenfalls von Belang sind für Birken schließlich die naturphilosophischen Erkenntnisse, die neben anderen Traditionen auch zum theologischen Profil Arndts gehören. Birken greift die von Arndt hergestellte Verbindung von paracelsistischer Naturphilosophie und lutherischer praxis pietatis auf, sie gilt ihm keineswegs als Fremdkörper oder kritisch zu reflektierendes Sondergut. Mit seiner zum Teil unkonventionellen theologischen Konzeption wird Arndt von ihm vielmehr als Lehrer des wahren Christentums und als geistliche Autorität im lutherischen Raum geschätzt und ernstgenommen.
70 Vgl. Müller (Anm. 57), Kap. 8 (Von der wiedergebährenden Liebe GOttes/ oder von der Tauffe), S. 103: „Also lernen wir hie die Nothwendigkeit der H. Tauffe. Denn wir alle, die wir von Natur sind, sind unter der Sünden und verdammet. Was vom Fleisch gebohren wird, das ist Fleisch. Wollen wir die Seligkeit ererben, so muß frey anders gebohren seyn über die Natur aus dem Geist, der das Hertz anzünde und erneure, daß es GOttes Willen gegen ihm lerne erkennen, und dadurch mit aller Lust zu GOtt gezogen werde. Hierzu ist bey den jungen Kindern kein ander ordentliches Mittel denn die Tauffe, Die Wiedergeburt geschicht aus Wasser und Geist, Wasser thuts nicht mit seiner natürlichen Krafft, sondern der H. Geist, der in und mit dem Wasser ist, und das Wasser als ein darzu von GOtt geordnetes Werckzeug über sein natürlich Vermögen zu dieser übernatürlichen Geburt erhebet.“
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Selbstreflexion und Bildsamkeit Sigmund von Birkens und Albrecht von Hallers Morgenpoesie im Vergleich, mit einem Blick auf den Bildungsroman Der Morgen als Thema und Anlaß poetischer Anverwandlung erfreute sich in der Lyrik des 17. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Zu erinnern ist beispielsweise an das Morgen Sonnet von Andreas Gryphius oder an Greiffenbergs Morgen-Lied und Morgen-Gedanken. Es sind jeweils Texte, die den Anbruch des Tages allegorisieren, den beginnenden Tag als Aufforderung nehmen, das Licht des Glaubens in die Seele hinein zu lassen. Der Morgen dient der Erinnerung an Gottes Wort und ist Anlaß zum Gebet. Gryphius’ Morgen Sonnet deutet den vierfachen Schriftsinn an, nimmt seinen Ausgang von der bildlichen Ausgestaltung des Morgens und bereits im Zentrum deutlich geistliche Züge an: „[…] O dreymal höchste Macht/ Erleuchte den/ der sich jtzt beugt vor deinen Füssen.“1 Greiffenbergs Texte verzichten fast vollständig auf die Darstellung von natürlichen Phänomenen. Das Morgen-Lied führt im ersten Vers das „ewig unvergänglich Liecht“ ins Feld, das „Gnadensafftig einher bricht“.2 Nicht von der Blumen-Blüte ist sodann die Rede, sondern von der „Tugend-Blüh“, vom „Gnaden-Land“ und von der „GeistBestrahlung“.3 Und auch die Morgen-Gedanken sind rein geistlich konnotiert und rufen dazu auf, sogleich die ersten Gedanken am Morgen dem Lobpreis Gottes zu widmen.4 Auf dieses Gedicht wird noch einmal zurückzukommen sein. Bei allen diesen Texten handelt es sich nicht etwa um reine Naturlyrik, sondern um geistliche Erbauungsliteratur, die den Morgen als tageszeitliches Phänomen zum Anlaß nimmt, über das Verhältnis zum Schöpfergott nachzudenken, ihn zu loben und zu preisen und ihn um Schutz und Hilfe zu bitten für das eigene Seelenheil. Diese Perspektive dominiert auch in Birkens Morgenpoesie. Das Morgen-Lied in den Todten-Andenken und Himmels-Gedanken läßt der Naturdarstellung nur in der ersten Strophe ein wenig Raum. Im Zentrum steht das aufgehende Licht, so daß der Übergang zum Gotteswort in der zweiten Strophe abzu-
1 Andreas Gryphius: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963 (Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke 1), S. 65. 2 Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte. Hg. von Martin Bircher, Friedhelm Kemp. Millwood 1983 (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1662, Sämtliche Werke 1), hier S. 336. 3 Ebd., S. 337. 4 Vgl. ebd., S. 380. https://doi.org/10.1515/9783110593129-163
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sehen ist.5 Die folgenden zehn Strophen beschwören ein gottgefälliges Leben, das sich nicht durch den Satan verführen läßt. Die letzten Verse bitten um Frieden für die Todesstunde.6 Der Morgen gibt Anlaß, über den einzelnen Tag hinaus grundsätzlich die eigene Lebensführung und das Verhältnis zu Gott zu reflektieren. Die Morgenstunde ist als Objekt poetisch-bildlicher Ausgestaltung kaum interessant. Der Titel Morgen-Lied meint folglich eher ein Lied, das am Morgen gesungen wird. Auch im Psalterium Betulanium finden sich einige Morgen-Gedichte, die in diesem Sinne verfaßt sind. Der Morgen ist Anlaß für Autoparänesen, den Tag und das ganze Leben gemäß dem Glauben zu gestalten. Häufig werden Gotteslob und Dank verbunden mit gebetsartigen Passagen. Konstitutiv ist immer wieder die Idee der Entwicklung hin zum Licht des Glaubens, die Befreiung aus der Umnachtung, die eine an ihrer Unbewußtheit des göttlichen Wortes leidende Seele betrübt.7 Gegenüber den genannten Texten fallen nun die Morgen-Gedanken aus Birkens Täglichem Christentum etwas aus dem Rahmen.8 Sie erinnern an das Prosimetrum, weil sich Prosatexte und Gedichte abwechseln und in enger Verbindung miteinander stehen. Aber auch diese Morgen-Gedanken tragen wie die bereits vorgestellte Morgenpoesie in ihrer erbaulich-religiösen Komponente sehr deutlich die Signatur des 17. Jahrhunderts. Ihre bewegte und etwas experimentierende Ästhetik stellt sehr forciert die Anforderung vor Augen, sich hin zum Glauben zu entwickeln, das Bild Gottes als inneren Maßstab zu nehmen. Der Aspekt der inneren Entwicklung hin zu einem Ziel erhält gegenüber den anderen MorgenGedichten so noch einen weitaus größeren Stellenwert. Zu zeigen ist, daß dieser Aspekt dazu verhelfen kann, diesen religiös-erbaulichen Text in Verbindung zu bringen mit der folgenden Literaturgeschichte. Der Suche nach seiner Modernität soll ein kontrastierender Blick auf ein Gedicht in Albrecht von Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte dienen, das ebenfalls den Titel Morgen-Gedanken trägt.
5 Vgl. Sigmund von Birken: Todten-Andenken und Himmels-Gedanken oder Gottes- und TodesGedanken. Hg. von Johann Anselm Steiger. 2 Teile. Tübingen 2009 (Werke und Korrespondenz 5 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 59 f.), S. 148–151, hier S. 148 f. 6 Vgl. ebd., S. 151. 7 Vgl. Sigmund von Birken: Psalterium Betulanium. Hg. von Alexander Bitzel. 2 Teile. Berlin, Boston 2016 (Werke und Korrespondenz 6 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 83 f.). Hier v. a. folgende Texte: Morgen-Lied (Gedicht I/25, S. 82–92), Morgen-Segen (Gedicht I/26, S. 92–95), Sonntags-MorgenLied (Gedicht I/28, S. 97–101). 8 Vgl. Sigmund von Birken: Erbauungsschrifttum. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bearbeitet von Thomas Illg, Ralf Schuster, Johann Anselm Steiger. 2 Teile. Berlin, Boston 2014 (Werke und Korrespondenz 8 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 79 f.), S. 428–442.
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In diesem Text ist die Poetik des 17. Jahrhunderts noch deutlich zu erkennen.9 Birkens und Hallers Morgen-Gedanken überschneiden sich dabei in einem entscheidenden Diskurs: Beide werfen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch auf. Obwohl beide auf diese Frage eine etwas andere Antwort finden, weisen sie voraus auf die weitere Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im folgenden ist zu zeigen, daß dies im Falle von Birkens Gedicht besonders gut möglich ist, wenn man es vor dem Hintergrund der Idee der Bildsamkeit liest, wie sie sich im Kontext des Bildungsromans gleichwohl unter ganz anderen Vorzeichen entwickelte. Vorauszuschicken sind zunächst einige Beobachtungen zur Machart von Birkens Morgen-Gedanken: Der Text ist aufgeteilt in zehn Kapitel. Das erste Kapitel (Alles mit Gott) und das sechste Kapitel (Morgen-Segen beym Aufstehen) bestehen nur aus einem Prosatext. In allen weiteren Kapiteln folgen dem Prosatext ein oder zwei Gedichte, die in ihrer Ordnung varriieren. Die Prosatexte sind nicht immer gleich lang. Der kürzeste des zweiten Kapitels (Beym Erwachen) weist 11 Zeilen auf, der längste des sechsten Kapitels (Morgen-Segen) 37 Zeilen. Auffällig ist das zweite Kapitel auch deshalb, weil ein vierzeiliges Gedicht den Prosatext in der fünften Zeile unterbricht. Insgesamt weisen die Gedichte einfache Rhythmen auf. Häufig sind vierhebige Jamben oder Trochäen sowie Alexandriner. Im besagten zweiten Kapitel folgt nach dem Prosatext ein Gedicht aus zwanzig Versen in vierhebigen Jamben und diesem zwei Strophen mit jeweils vier Alexandrinern. Diese Mischung aus einem gebetsähnlichen Gedicht und alexandrinischen Strophen findet sich in anderen Kapiteln leicht variiert. Beispielsweise folgt im dritten Kapitel (Wann es taget) dem Prosatext ein Gedicht aus ebenfalls zwanzig, nun
9 Interessant ist die Vorbemerkung, die Haller ab der vierten Auflage 1748 diesem Gedicht voranstellte: „Dieses Gedicht ist das älteste unter denen, die ich der Erhaltung noch einigermaßen würdig gefunden. Es ist auch die Frucht einer einzigen Stunde und deswegen so unvollkommen, daß ich ein billiges Bedenken getragen, es beyzubehalten. Die Kenner werden dadurch und in Betracht deß unreiffen Alters deß Verfassers, es mit schonenden Augen ansehen.“ (Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte. Vierte, vermehrte und veränderte Auflage. Göttingen 1748, S. 11). Ein solcher Bescheidenheitstopos, der das Unvollkommene der eigenen Kunst ostentativ ausstellt, ist bei Haller nicht selten und im Kontext der für die Zeit der Aufklärung typischen Verbesserungsästhetik anzusiedeln: Gewiß, daß die Kritik immer reagiert, schützte man sich einerseits vor Anfeindungen, andererseits gehörte es zum guten Ton, das, was man produzierte, stets als verbesserungswert anzusehen. Vgl. Steffen Martus: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Zur Temporalisierung der Poesie in der Verbesserungsästhetik bei Hagedorn, Gellert und Wieland. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 27–43. Auch ist in dieser Bemerkung zu spüren, daß Haller auf Distanz geht, seine Morgen-Gedanken gewissermaßen als eine Art ,Jugendsünde‘ begreift, als ein poetisches Produkt, das seinem sonstigen Werk nicht mehr angemessen erscheint.
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vier- und dreihebigen jambischen Versen im Wechsel und schließlich vier Strophen aus vierzeiligen Alexandrinern. Im achten Kapitel (Beym Haare-richten) folgt dem Prosatext ebenso ein zwanzigzeiliges Gedicht, diesem aber drei Strophen in jeweils vierzeiligen Alexandrinern. Es ist eine Rahmenordnung zu erkennen, die leichte Nuancen, Spielräume, aufweist. Zu diesen Nuancen gehört auch, daß eines der den Prosatexten folgenden Gedichte eine eigene Überschrift trägt: Dasjenige des dritten Kapitels heißt Morgen-Seufzer. In jedem Fall ist die Verschränkung der ästhetischen Form mit dem anthropologischen Diskurs auffällig. Offensichtlich ist das Moment der Bewegung, zu erkennen am Wechsel zwischen Prosa und Versen, an den Variationen in der Rahmenordnung und daran, daß es sich über weite Strecken um eine dialogische Struktur handelt. Das dominante Ich spricht, hadert, ringt mit Gott. Auch und besonders in dieser dialogischen Struktur unterscheiden sich Birkens Morgen-Gedanken von Hallers gleichnamigem Text.10 In den ersten fünf der insgesamt zwölf Strophen dominieren hier eindrucksvoll und höchst poetisch naturlyrische Betrachtungen. Die Rede ist vom Verschwinden der Sterne in der Nacht, vom Anbruch des Tages, von dem betörenden Eindruck der „frühe[n] Morgen-Röthe“,11 der synästhetisch eingefangen wird. Das „rothe Morgen-Thor“ öffnet sich, so daß „glühend Gold“ das Feld bedeckt.12 Auf der Rose spiegelt sich „des frühen Morgens Perlen-Thau“, und der „Lilgen Ambra-Dampff“ zeigt die Wärme der frühen Morgensonne an.13 Das Sprecher-Ich macht sich erst in der fünften Strophe bemerkbar, nun in Korrespondenz mit dem Schöpfergott, den es immer wieder als DU anredet, als allmächtigen Gott, der die Welt erschuf und dessen Macht Worte kaum ausdrücken können: „Und wem der Himmel selbst/ sein Wesen hat zu danken/ Braucht eines Wurmes Lob-Spruch nicht“.14 Ein dialogisches Moment ist kaum auszumachen. Das Ich verzagt am Ende mehr als demütig vor Gottes Allmacht. Diese ist, anders als in Birkens Morgen-Gedanken, von Anfang an nicht unbedingt selbstverständlich. Es scheint, als erkenne das staunende Ich eher plötzlich Gottes Tun. Bei der Betrachtung der Natur stellt sich irgendwann das Wissen jäh ein: „O Schöpffer! was ich sieh/ sind Deiner Allmacht Werke“.15 Es folgt aber keine unmißverständliche applicatio, in der die biblisch konnotierten Bilder Anlaß geben zur Meditation und zur Selbstvergewisserung
10 Für dessen Analyse wird im folgenden die Erstausgabe zugrundegelegt, die 1732 ursprünglich anonym erschien: Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichten. Bern 1732, S. 28–30. 11 Ebd., S. 28. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 30. 15 Ebd., S. 29.
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des eigenen Glaubens, so daß das Ich am Ende als jemand erscheint, der optimistisch die Heilsgewißheit besitzt – so etwa führt es Gerhardts Sommerlied exemplarisch vor:16 „Des grossen Gottes grosses Thun“17 interpretiert das Ich in Hallers Gedicht als Zeichen dafür, daß das menschliche Handeln und Erkennen sich im Vergleich zu Gott nur als geringfügig ausnehmen kann. Angesichts des Wunders der göttlichen Schöpfung hört Hallers Ich auf, sich in Beziehung zu Gottes Allmacht setzen zu wollen, in Beziehung auf Gott zu handeln und zu sprechen. Kurz erinnert sei an Greiffenbergs Morgen-Gedanken. Wie in Hallers Gedicht bildet hier die Unsagbarkeit Gottes und seiner Schöpfungswerke bzw. die Dürftigkeit des menschlichen Wortes überhaupt die Pointe. Zwischen dem Wort Gottes, zwischen dessen „Ich will“ – wie es in Hallers zehnter Strophe heißt18 – und dem menschlichen Tun und Sagen klafft eine ungeheuere Diastase, die auch mit noch so viel Beredsamkeit nicht überbrückt werden kann. Bei Haller lesen wir: Wer von Gottes Taten „will erzehlen/ Muß wie DU ohne Ende seyn“.19 Zu dieser Einsicht kommend, erniedrigt sich das Ich am Ende zum ,Wurm‘, dessen „Lob-Spruch“ Gott nicht brauche.20 Greiffenbergs Einsicht in die „Unaussprechlichkeit“ Gottes kehrt aber nicht so sehr die Kleinheit des Menschen heraus, sondern eher die „Allgröß“ Gottes, dessen Lob sich am Ende im Schweigen manifestiert: […] Dieses nur allein ich weiß/ daß die Unaussprechlichkeit/ dessen Allgröß etwas zeiget. Dieses lobt dich auf das höchst/ das in Lieb verzuckt still schweiget.21
Hallers Ich ist hingegen der aufgeklärte Naturforscher, der „in seinen Schranken bleibt“,22 der die unaussprechliche Allmacht Gottes zwar einsieht, aber dennoch das an der Natur untersuchen wird, was er untersuchen kann, einen Unterschied macht zwischen der Natur als Schöpfung und der Natur als Objekt der menschlichen Neugierde, dem mit menschlicher Vernunft in Maßen beizukommen ist.23 In
16 Vgl. Johann Anselm Steiger: „Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’“. Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theologie). Berlin, New York 2007, S. 90. 17 Paul Gerhardt: Geh’ aus, mein Herz. In: ebd., S. 121–124, hier S. 122. 18 „Das ungemeßne All/ begränzt nur durch sich selber/ Kost dich nichts als das Wort: Ich will“. Haller: Versuch Schweizerischer Gedichten (Anm. 10), S. 30. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Greiffenberg (Anm. 2), S. 380. 22 Vgl. Haller: Versuch Schweizerischer Gedichten (Anm. 10), S. 30. 23 Die aktuelle Haller-Forschung tendiert dazu, zwischen den Diskursen der Naturwissenschaften und der Offenbarungstheologie, die Hallers Texte durchziehen, keinen Widerspruch zu
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Hallers berühmter Unvollkommner Ode über die Ewigkeit spricht eben ein solcher Naturforscher, der sich vor Gottes Allmacht als ,Wurm‘ sieht, und der, gleichsam in Erweiterung der Morgen-Gedanken, daran verzweifelt, in die Geheimnisse der Schöpfung eben doch nicht mit dieser seiner menschlichen Vernunft vollständig eindringen zu können.24 Birkens Morgen-Gedanken funktionieren schon allein deshalb anders, weil sich das Ich von Anfang an in Beziehung zu Gottes Allmacht sieht. Naturlyrische Passagen finden sich so gut wie nicht. Im dritten Kapitel heißt es lapidar: „Der Tag bricht nun an: es wird Liecht.“25 Die applicatio folgt unmißverständlich auf dem Fuß: „Es wird Tag auf Erden: was hilft mich aber das, wann es nicht auch Tag wird in meinem Herzen? Ach! meine Seele, wohnet in der finstren Kerker-Höle dieses Körpers. Ach! wer wird es seyn, der meine Finsternis liecht machet?“26 Der Ausgangspunkt der Perspektive liegt sofort und ausschließlich im Innern des Sprechers. Der Blick richtet sich nach innen und auf die Frage nach dem Verhältnis zu Gott. Diese Frage treibt den Sprecher von Anfang an um, die Frage beunruhigt ihn und wird allegorisch manifest in der äußeren Struktur des Textes, der sich selbst formal unruhig verhält. Der sich zum Glauben Anschickende wendet seine ganze Beredsamkeit auf, um nicht dort zu landen, wo Hallers Ich sich am Ende verfängt: in der Einsicht, nichts wissen zu können, klein zu sein und klein zu bleiben angesichts von Gottes Macht. Hallers Ich aber scheint sich am Ende die Freiheit zu nehmen, sich davon zu stehlen und anderweitig tätig zu werden.
sehen. „Sinnliche Erfahrung, autonome Vernunft und christliche Offenbarung“ seien Erkenntnisweisen, die nicht zwangsläufig miteinander streiten müßten, sondern sich ergänzten. Cornelia Rémi: Religion und Theologie. In: Albrecht von Haller. Leben, Werk, Epoche. Hg. von Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Proß. 2. Auflage. Göttingen 2009, S. 199–225, hier S. 199. Eine vehemente Streitschrift gegen Skepsis und Unglauben bildet beispielsweise Hallers Vorrede zur Prüfung der Sekte die an allem zweifelt (1751), die seine Übersetzung einleitet, die er von Heinrich Samuel Formeys komprimierter Fassung von Jean-Pierre de Crousaz’ Examen du pyrrhonisme (1733) anfertigte. Haller machte sich selbst als Naturforscher ersten Ranges einen Namen. Als Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie in Göttingen rief er 1751 die Königliche Societät der Wissenschaften ins Leben, heute die Göttinger Akademie der Wissenschaften. Seine Lehrbücher der Gefäßanatomie (Icones anatomicae 1743–1756) und Physiologie (Elementa physiologiae 1757–66) waren europaweit bis in das 19. Jahrhundert hinein maßgeblich. 24 Vgl. den Erstdruck in: Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte. Dritte/ vermehrte und veränderte Aufl. Bern 1743, S. 149–153, hier S. 153. Vgl. Andrea Bartl: Von der Krise eines Aufklärers und der Unmöglichkeit, die Ewigkeit beschreiben zu können. In: Lyrik – Kunstprosa – Exil. Festschrift für Klaus Weissenbeger zum 65. Geburtstag. Hg. von Joseph Strelka. Tübingen 2004 (Edition Patmos 9), S. 25–40. 25 Birken: Erbauungsschrifttum (Anm. 8), S. 429. 26 Ebd.
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Ist in Bezug auf die Erkenntnis Gottes wenig auszurichten, so ist es erlaubt, naturwissenschaftliche Forschung zu betreiben. Birkens Ich hingegen befindet sich in einer äußersten Zwangslage. Und dennoch liegt in der Struktur dieser Zwangslage etwas, das dem Gedicht einen modernen Akzent verleiht und über Hallers Text hinausweist: die Ruhelosigkeit des Protagonisten, dessen Tätigkeit, dessen Wille, sich auf ein bestimmtes Ziel hin zu bilden und dieses Ziel unermüdlich zu verfolgen. Das Ziel ist mit Worten leicht zu bestimmen. Es ist das Erwachen nach dem „Ebenbilde“ Gottes.27 Diese Diastase zwischen dem momentanen Zustand als Sünder und dem schöpfergleichen Bild in sich zu überwinden, ist die Aufgabe des einzelnen Tages und zugleich die des ganzen Lebens. Das erste Kapitel Alles Mit Gott gibt, als reiner Prosatext gestaltet, die erwähnte Aufgabe vor. Ein Ich kommt explizit nicht zur Sprache. Es herrscht das ,wir‘ vor und das ,man‘, um die Allgemeingültigkeit der Aussagen zu unterstreichen und alle, und vor allem auch die Leser, mit ins Boot zu holen. Gottes Wort gibt den Rahmen vor: „Ich bin das Alfa und Omega, der Anfang und das Ende, der Erste und der Lezte! das saget der heilige und Warhaftige. Er sey dann der Anfang und das Ende unsers Tages […].“28 Das Bibelwort ist die Leitlinie, an der entlang wir uns von Beginn des Tages an bewegen sollen. Die „Erstlinge der Gedanken“ müssen diszipliniert werden, um dem „Gewäsche des Satans“ zu widerstehen, den „Welt-Sorgen“ Einhalt zu gebieten.29 Ab dem zweiten Kapitel Beym Erwachen weicht das ,wir‘ bzw. das ,man‘ dem Ich als der Hauptfigur, der wir nun dabei zuschauen können, wie sie versucht, mit dieser Anweisung umzugehen. Wir sind die Beobachter, um etwas zu lernen, um es gleichzutun. Das Ziel, Gottesebenbildlichkeit zu erlangen, versetzt in Unruhe und verlangt nach Lösungen. Eine besteht darin, von Gott sogleich beim Erwachen zu reden und ein Gebet auszustoßen, sich selbst aufzumuntern und Gott um Hilfe zu bitten. Es geht darum, bereits das Erwachen auf die Heilsbotschaft auszurichten: „Mein alter Adam mag schlaffen, ja begraben ligen. Ich aber, HErr! will satt werden, wann ich erwache nach deinem Ebenbilde, in Weißheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit.“30 Der Schöpfer selbst wird um Beistand gebeten: Weck meine Sinn’ und Geister auf: daß ich lauf seelig meinen Lauf. HErr! wache du zu meiner Sach: wann mir stellt Welt und Hölle nach.
27 Ebd., S. 428. 28 Ebd., S. 427. 29 Ebd., S. 428. 30 Ebd.
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Im Schiff, in meines Herzens Schrein, wolst, Jesu, nicht entschlaffen seyn. Bis folg dein Tag auf unsre Nacht, da dir zu Lob man ewig wacht: da werd ich, nach dem Bilde dein, mein Schöpfer, recht erwachet seyn. Amen.31
Von hier aus ist es möglich, den Text mit Blick auf die folgende Literaturgeschichte zu lesen. Leitend ist die Idee der Bildsamkeit des einzelnen, die im 18. Jahrhundert konstitutiv sein wird für das neuhumanistische Bildungskonzept und für die Genese des Bildungsromans. Allerdings ist diese Idee in Birkens Text noch fest eingespannt in einen theologischen Rahmen mit allen Konsequenzen. Obwohl die Genese des Bildungsromans im 18. Jahrhundert unter veränderten Vorzeichen und in anderen Kontexten erfolgte, hat ihre Idee der menschlichen Bildsamkeit strukturell ihre Wurzeln in eben diesem Paradigma, das Birkens Gedicht leitet: Der Mensch kann Gott ebenbildlich werden. Der teleologische Aspekt ist hier wie dort gegeben: Der Mensch findet etwas, an dem er sich ausrichten will, zu dem er hin strebt, um ihm gleich zu werden. Auf diese Voraussetzung hat Wilhelm Voßkamp in seiner Publikation zur ,Aktualität der Bildung‘ hingewiesen.32 Auch antike Bildungskonzepte, etwa die aus der Stoa herrührende Idee der schrittweisen Vervollkommnung oder das platonisch-plotinische Konzept des endos eidos (vgl. Plot. Enn. 1.6.3.14),33 des inneren Bildes, das in möglichst großer Methexis zu erreichen ist, fließen in der Vorstellung der imago Dei synkretistisch ineinander. Daß diese Vorstellung auch noch im kulturgeschichtlichen Kontext der Bildungsromane erinnert wird, zeigt eine Äußerung Friedrich Schlegels: „Wenn man […] zum Menschen bilden will, das kömmt mir gerade so vor, als wenn einer sagte, er gebe Stunden in der Gottähnlichkeit.“34 Dann ist allerdings die Rede von den
31 Ebd., S. 428 f. 32 Wilhelm Voßkamp: Der Roman eines Lebens. Die Aktualität unserer Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman. Berlin 2009, S. 64. Zur Utopie im Bildungsroman vgl. ders.: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Frankfurt a. M. 1985, S. 227‒249. 33 Zitiert wird nach der Ausgabe: Plotin: Enneaden. In: Plotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen. Bd. 1: Die Schriften 1–21 der chronologischen Reihenfolge. a Text und Übersetzung. Hamburg 1956. 34 Friedrich Schlegel: Ueber die Philosophie. An Dorothea. In: Ders.: Seine prosaischen Jugendschriften. Bd. 2: Zur deutschen Literatur und Philosophie. Hg. von Jakob Minor. Wien 1882, S. 317–337, hier S. 320; vgl. Voßkamp: Der Roman eines Lebens (Anm. 32), S. 56.
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„Göttern in uns“.35 Die ethische Leitinstanz ist verlegt ins Innere des Menschen selbst. Zentral ist der Gedanke, daß der Mensch sich nicht nur aus sich selbst heraus ohne ein anderes und besseres Bild seiner selbst (in sich) bilden kann. Für den Bildungsroman erkennt Voßkamp eine eklatante „Umstellung“ der „,imago-dei‘-Vorstellung“, die er sozialgeschichtlich begründet. Für diese Umstellung charakteristisch seien etwa die „Verinnerlichung“ und die „Temporalisierung des Bildungsbegriffs“.36 Bildung wird im Bildungsroman als verzeitlichte gedacht. Es wird vorausgesetzt, daß sie in der Lebenszeit abgeschlossen sein kann. Ein solcher Bildungsbegriff ist in Birkens Morgen-Gedanken sicher nicht zu finden. Allerdings lassen sich dennoch Facetten aufspüren, die auch für den Bildungsroman gelten. Beispielsweise spielt der Leser eine wichtige Rolle. Er ist „Beobachter“, und die Figur im Text, das Ich, ist eine Figur der „Identifikation, Selbstprojektion und distanzierender Beobachtung“.37 Im besten Fall beobachtet der Leser die Hauptfigur beim „Nachdenken über sich selbst“ und dabei, wie sie die „Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem vornimmt“, hier von der imago Dei und dem eigenen Zustand.38 Ebenso zu beobachten ist in Birkens Morgen-Gedanken die Idee der „Steigerungsfähigkeit“ im Sinne einer „Selbstvervollkommnung“,39 auch wenn diese im theologischen Kontext nicht innerhalb der begrenzten eigenen biologischen Lebenszeit zum Ziel kommt. Ohnehin stellt ,Selbstvervollkommnung‘ auch im Kontext des Bildungsromans eher eine idealtypische Zielvorstellung dar. In Birkens Text ergeben sich diese Facetten aus der ästhetischen Struktur, vor allem aus dem dialogischen Moment, aus dem Zwiegespräch zwischen Ich und Gott, wobei sich Unruhe und Bewegung des Ich abbilden in der äußeren Form des einem Prosimetrum ähnlichen Mischwesens von Prosa und Gedicht. Wie der Bildungsroman führt Birkens Text eine Art Experiment vor. Eine Figur, die exemplarisch für alle Menschen steht, erzählt von den Mühen, gemäß Gottes Wort zu leben. Im Bildungsroman steht die Idee im Vordergrund, daß der Protagonist seine jeweils eigene, ,wahre‘, Natur in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zur Geltung bringen, zu sich selbst kommen soll. So formuliert es etwa Wilhelm in seinem Brief an Werner: „Daß
35 Ebd. 36 Voßkamp: Der Roman eines Lebens (Anm. 32), S. 65. Vgl. auch ders.: „Ein anderes Selbst“. Göttingen 2004, S. 19. Vgl. zur „Aufwertung der Gegenwart“ als konstitutiver Voraussetzung des neuzeitlichen Bildungskonzepts Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs ,Bildung‘ am Beispiel von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Tübingen 1996 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 56), S. 66. 37 Ebd., S. 57. 38 Ebd., S. 65. 39 Ebd.
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ich Dir’s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“40 Das Ziel der Bildung ist im Vergleich mit den theologisch konnotierten Anstrengungen, wie sie Birkens Morgen-Gedanken deutlich machen, etwas anders gelagert, die Struktur des Bildungsprozesses jedoch ähnlich. Hier wie dort erweist er sich als durchaus schwierig und klippenreich. Birkens Ich begreift sich selbst als „Wanderer“, der sich auf einen „Weg“ begibt, dessen Ziel es ist, „geistlich sehend“ zu werden.41 Das „Liecht“, das ihm helfen möge, sei Gottes Wort.42 Eine Schwierigkeit in diesem Prozeß liegt darin, zu erkennen, daß der Körper, die leiblichen Augen, zwar wach sind und sehen, aber es im Innern noch stockfinster ist. Die liedartigen Gebete, die ausgestoßen werden, wie etwa auch der Morgen-Seufzer im dritten Kapitel, sind Teil des Experiments, in dem das geistliche Auge erwachen und sehend gemacht werden soll. Wenn das geistliche Auge erwacht, verringert sich bzw. verschwindet die Diastase von hell und dunkel. Die Nacht wirkt nicht mehr bedrohlich, sondern „helle“.43 Schläft das geistliche Auge, kann auch das Tageslicht die Finsternis nicht vertreiben. Die Umgestaltung des sündigen Menschen macht, daß ewiger Tag ist im Sinne des ewigen Lichts. Birkens Morgen-Gedanken führen im weiteren einige Experimente vor Augen, die der Leser betrachten und nachahmen kann, wenn er sich entschieden hat, sich auf den Weg zu machen. Es sind geistliche Übungen, die den gesamten Verlauf des morgendlichen Aufstehens in einzelne Akte takten, jeden Handgriff in Bezug auf die Erweckung des Glaubens, des geistlichen Auges, allegorisieren.44 Dazu ist es wiederum nötig, daß das Ich sich selbst beobachtet, keine seiner Bewegungen unaufmerksam durchführt, sondern sie in Beziehung setzt zu der geistlichen Erweckung, die aus dem Bibelwort resultiert. Damit dieser Prozeß gelingt, muß stets auf das eigene Denken reflektiert werden, ein steter Abgleich erfolgen mit dem Bild, das zu erreichen ist. So beginnt das Aufrichten am Morgen mit dem Blick auf das „Bild“ des Gekreuzigten,45 das Aufrichten des
40 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Goethes Werke Bd. 7: Romane und Novellen 2. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. Dreizehnte, durchgesehene Auflage. München 1994, S. 290. 41 Birken: Erbauungsschrifttum (Anm. 8), S. 429. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 431. 44 Entsprechend ist ein Gedicht aufgebaut in den ‚Geistlichen Weihrauchkörnern‘. Vgl. Die Pegnitz-Schäfer: Nürnberger Barockdichtung. Hg. von Eberhard Mannack. Stuttgart 1968, S. 145– 148; Sigmund von Birken: Geistlicher Weihrauchkörner Oder Andachtslieder I. Dutzet; Samt einer Zugabe XII Dutzet Kurzer Tagseufzer […]. Nürnberg 1652, S. 113–118. 45 Birken: Erbauungsschrifttum (Anm. 8), S. 431.
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Körpers möge das Aufrichten der Seele mit sich führen, der Blick möge sich nach oben richten zum Himmel, nicht zum Sündenpfuhl der Erde. Zur Selbstreflexion gehört, wie erwähnt, daß der Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen erkannt wird, zwischen dem status nascendi des Sünders und dem besonderen Ziel. Dazu dienen Selbstbefragungen, die in ihrer drastischen Bildlichkeit das eigene Tun anspornen sollen: Solt ich an der Erden ligen? Kan ich doch in Himmel fliegen. Thiere schauen nur zu Erd: ach! mein Herz nicht Thierisch werd. […] Ach! was solt mich hier erfreuen? Hier sind Eicheln, drebber, Kleyen, damit mäste sich ein Schwein: meine Freud soll edler seyn. Nur nach droben will ich trachten: Alles will ich hier verachten.46
Die Erinnerung an die Heilsgeschichte konnotiert jede Bewegung. Das Ich erinnert sich beispielsweise an die endzeitliche Auferstehung der Toten, die bereits im täglichen Aufstehen eingeübt werden kann, indem man daran denkt, alltäglich morgens „geistlich zur Heiligkeit“ aufzustehen,47 sich auf die Suche nach Gott zu begeben. Die zukünftige Umgestaltung verbildlicht die bekannte Kleidmetaphorik. Abzulegen ist „Adams altes Sünden-Kleid“, die Verwandlung in einen „neuen Menschen“ wird antizipiert und beschworen.48 Das „NachtHemd“ ist das Kleid des „alten Menschen“: „Ich will nun den Neuen anziehen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen ist“.49 Das Ich beschwört diese Umwandlung, sucht sie herbeizubeten, die Wendung ,ich will‘ ist häufig. Sie wird unterstützt oder ergänzt durch Aufforderungen an Gott wie „laß mich“ oder „zieh du mir aus“ und „zieh mir an“.50 Diese Imperative deuten an, daß das ,Wollen‘ des Menschen nicht hinreicht. In Hallers Morgen-Gedanken ist das ,Ich will‘ in der zehnten Strophe dem Schöpfergott vorbehalten. Die Einsicht in dessen Unbegreiflichkeit führt schließ-
46 Ebd., S. 432. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 433. 49 Ebd., S. 436. 50 Ebd., S. 437.
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lich zum Rückzug: „[…] ich bleib in meinen Schranken.“51 Von einigem Interesse ist, daß Haller mit diesem ,Ich will‘ offenbar haderte. Dies geben seine Überarbeitungen in den weiteren Auflagen zu erkennen. Bereits in der dritten Auflage fällt das ,Ich will‘ weg. Anstatt „das ungemeßne All […] kost dich nichts als das Wort: Ich will“52 lesen wir dort „[…] entstunden auf Dein bloßes Wort“.53 Ab der vierten Auflage lautet die Passage „[…] hob aus dem nichts dein einzig Wort“.54 Gottes Allmacht erscheint einmal mehr akzeptiert. Der Mensch aber kann auch wollen. In Hinsicht auf sein Heil aber vermag er nichts. Es steht ihm allerdings frei, auf allen anderen erdenklichen Feldern tätig zu werden und sich zu bilden. Birkens Ich könnte sich auf dem Weg zu dieser Einsicht befinden. Allein das „Haare-richten“ offenbart wieder einmal die Diastase zu Gott, die im Verlauf der morgendlichen Selbstreflexion nicht kleiner, sondern größer zu werden scheint.55 Die Haare geben die Zahl der Sünden an. Als gänzlich fruchtlos aber erweisen sich dann die bisherigen Reden, Selbstermunterungen und Gebete, wenn der Blick in den Spiegel fällt. Wenn das Ich in sich hineinschaut, sieht es sich selbst. Es sieht einen Sünder. Gottes Bild als Leitbild ist fern, Teilhabe wurde noch in keinem Fall erlangt. Der Blick in den Spiegel, nach innen, wird in der Lebenszeit stets dasselbe Bild offenbaren und spornt immer wieder erneut dazu an, das Leben Jesu als „Spiegel“ zu nutzen.56 Die Selbstanklage erreicht im letzten Kapitel Beym Waschen einen Höhepunkt. Der Akt des Waschens offenbart „ein unflätiges Schwein“, das sich immer wieder im eigenen „Koht“ wälzt.57 Reinwaschen wollen kann der Mensch nur den Leib. Der, der es letztendlich allein vermag, die Seele rein zu waschen, ist Gott. Das explizite Ringen um das Verhältnis mit Gott, das sich in Birkens Gedicht besonders durch die dialogische Struktur zu erkennen gibt, fehlt in Hallers Text. Dieses Ringen weicht in Birkens Morgen-Gedanken am Ende der Einsicht, den unvorhersehbaren Verläufen des göttlichen ,Gnadenbrunnens‘ überlassen zu sein: Wer unrein ist, bedarf, daß er gewaschen werde. Ich, HErr, bin Wustes voll: mein Herz klebt an der Erde;
51 Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte (Anm. 10), S. 30. 52 Ebd. 53 Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, 3. Aufl. (Anm. 24), S. 3. 54 Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, 4. Aufl. (Anm. 8), S. 13. 55 Birken: Erbauungsschrifttum (Anm. 8), S. 438. 56 Ebd., S. 439. 57 Ebd., S. 441.
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die Seel welzt sich in Koht, in Eitelkeit der Welt. Kom, wasch! Kein Unflat ja komt in dein HimelZelt. HErr! daß die Höllenglut mich brenne nicht zur Asche, so schaffe, daß auf mich dein GnadBrunn überlauf […].58
Was hier deutlich gesagt wird, bedarf in Hallers Morgen-Gedanken keiner Worte mehr. Gottes Allmacht und ihre für den Menschen nicht einsehbaren Entscheidungen sind wie so manche Geheimnisse der Natur Tatsachen. Diese Erkenntnis befreit den Naturforscher in gewisser Weise und verbietet ihm nicht, sein Objekt zu vermessen. Birkens Ich wird irgendwann dieselbe Sprache sprechen. Es wird bald aufhören, in ewigen Gebeten und sich selbst disziplinierenden Gedanken und Handlungen am Morgen sein Heil zu erflehen und sich seiner selbst auf andere Weise widmen. Es wird einen anderen Blick auf die Natur gewinnen, wird sie vielleicht auch spalten in eine, die unergründbar allein Gott angehört, und in eine, die zu erforschen ist. Unter den Vorzeichen der ,Temporalisierung‘ der Bildsamkeit erweist sich jedoch der Wunsch nach Selbstwerdung im Bildungsroman ebenfalls als Utopie, ein Begriff, der in Bezug auf Birkens Text mit gegebener Vorsicht zu verwenden ist.59 Die Diastase zwischen dem zu erreichenden Selbstbild und dem, was im Rahmen der eigenen und der gesellschaftlichen Möglichkeiten realisiert werden kann, bildet die ästhetische Grundspannung im Bildungsroman. Eine Grundspannung zwischen dem inneren, Gott ähnlichen Bild und den eigenen Möglichkeiten leitet Birkens Morgen-Gedanken, während Hallers Text darauf verzichtet, diese Spannung anzunehmen, um mit Gott zu ringen und sich auf ihn auszurichten. Deshalb weist Birkens Text über denjenigen Hallers voraus, überspringt ihn und nimmt die Utopie der Selbstwerdung angesichts eines inneren Bildes bereits vorweg. Darüber nachdenken könnte man sogar, ob das Ende von Birkens Text dafür plädiert, die Lebenszeit und eben jene anderen Tätigkeiten des Menschen aufzuwerten, in denen er etwas im Hinblick auf sich selbst tatsächlich vermag.
58 Ebd., S. 442. 59 Der Begriff ,Utopie‘ trägt bereits bei Thomas Morus eine innerweltliche Konnotation. Es zeichnet die Utopie eines idealen Staates aus, „das vollkommene menschliche Leben nicht mehr in der christlichen Heilsordnung (Sündenfall und Erlösung), sondern innerweltlich zu suchen“. Ulrich Dierse: Art. Utopie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Bd. 11. Darmstadt 2001, Sp. 509–526, hier Sp. 509. In geschichtstheologischen Entwürfen (E. Bloch) allerdings könnte auch der Wunsch nach Gottes ebenbildlichkeit in das Reich des Utopischen gehören. Eine Utopie ist „das Noch-nicht-Sein […], das schon in der Gegenwart angelegt ist“, auf das hin zugearbeitet wird, das trotz aller Widerstände möglich erscheint (ebd., Sp. 520).
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Sigmund von Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie Deutungsmodelle, Distinktionsformen Der Mischtext der Teutonie ist auch dann, wenn man ihn auf seine Redeteile reduziert, ein komplexes Werk. Ihm ist außerdem eine gewisse Redundanz nicht abzusprechen. Man muss sich Zeit nehmen, die Einzelteile detailliert zu betrachten und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Hartmut Laufhütte hat in seinem Beitrag Das Friedensfest in Nürnberg 1 das Werk mit dessen Hauptquelle, dem 6. Band (1663) des Theatrum Europaeum, verglichen und den komplexen historischen Verlauf des Kongresses, wie er sich bei Birken niedergeschlagen hat, sorgfältig dargestellt. Im gleichen Aufsatz hat er den Aufbau der Schrift mit ihrer sinnträchtigen Bildlichkeit und Emblematik analysiert. Der vorliegende Beitrag kann daher z. T. andere Wege gehen und auf größere Bildkomplexe abheben. Der das Ganze überwölbende Deutungskomplex ist zweifellos der religiös verstandene Kategorienkomplex Krieg und Frieden / Gottes Strafrute und verzeihende Gnade. Das war eine traditionelle Deutungsskala, die wohl allen am Kongress Beteiligten vertraut und in ihrem Verweisungscharakter in jenem konfessionell strittigen Zeitalter allgemein anerkannt war. In problemgeschichtlicher Perspektive sind Kirchenverständnis und praktisch-theologischer Alltag Voraussetzungen des religiösen Lebens und Denkens der Gemeinden. Man war gewohnt, die Weltdinge unter der Perspektive des Glaubens zu sehen und die aktuelle Problematik auf die Entfaltung des göttlichen Heilshandelns zu beziehen. Die Gefährdung der Existenz wurde in Erinnerung an das Wort aus der Apostelgeschichte erlebt, „dass wir durch viel Trübsale müssen in das Reich Gottes gehen“.2 Die Beteiligung der frommen Pegnitz-Schäfer tat ein Übriges. Man wusste hier noch um die religiöse bzw. biblische Wirklichkeitsdeutung von Schäfer- und Landleben, die auf die Nähe zur unverbildeten friedlichen Natur verwies.3 Diese konnte
1 Zuerst in: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Hg. von Klaus Bußmann, Heinz Schilling. Teilbd. II: Kunst und Kultur. [Münster] 1998, S. 347–357, dann in: Hartmut Laufhütte: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007, S. 153–169. 2 Apg 14,22. 3 Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974; ders. (Hg.): https://doi.org/10.1515/9783110593129-177
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so nicht nur auf die damals beliebte Sinnbildkonfiguration (Allegorie, Emblem) bezogen werden, sondern auch auf die „Hirten auf dem Feld von Ephrata“, denen Engel die Geburt des Erlösers und Friedensfürsten Jesus Christus als Ersten verkündeten und das Gloria sangen. So ist der religiös grundierte Friede der wichtigste bildspendende Bereich. Und auch Kontraste werden hier sichtbar. So wie die Geburt Christi im Zustand der Erlösungsbedürftigkeit der Welt ihre innere Begründung fand, so sollte der Westfälische Friede deren utopisches Echo sein. Wir leben anjetzo/ leider! in denen Zeiten/ welche/ ehe dann dieses Weltgebäw über einen Hauffen falle/ unser liebster Heiland uns zuvor gesagt […]. Wieviel falsche Christus hat die alte Schlang in ihrem Höllenreich außgehecket/ unnd herfürgeschickt? […] Wie viel thewre Bekenner der himlischen Warheit werden von jhren Widersächern/ jhnen selbst ein lustiges Schauwspiel anzustellen/ dem blutigen Schwert dahinzugeben/ sie hinzurichten/ dem frässigen Fewer/ sie einzuäschern/ dem düsteren Gefängniß/ sie auszumergeln. Daß ein Volck wider das ander auffstehe […]/ lesen wir nicht allein auß dem Buch der Schrifft/ sondern auch auß der Trübseligkeit heutiger Zeiten. […] Die Fewerheere und Wolckenscharmützel/ dessen Farb der Menschen unmenschliche Blutbäde ankünden/ erzeigen sich ebenfalls häuffig in den Lüfften. Das aufschwellende Ungestüm und Brausen deß Meers und die Wasserwogen/ sind eben auch nichts newes mehr. […] Nunmehr ist es auch an dem/ das dieselbe letzere Flut/ welche die gantze Welt in einen Hauffen werfen wird/ herbeynahet/ welche bißhero mit grimmigen Kriegen und blutigen Niderlagen/ als Flüssen/ sich mählich ausströmet.4
Der Verfasser des Textes, Johann Michael Dilherr (1604–1669), war einer der glanzvollsten Prediger der Zeit und zum wichtigsten Geist Nürnbergs aufgerückt. Worauf er in seinem düsteren Warntext anspielt, ist die bekannte und die Zeit beunruhigende Erscheinung von Kometen, die als Anzeichen von Kriegen, Katastrophen und Krankheiten betrachtet wurden. Hier wurden sie, wie der Kontext zeigt, als die „Zeichen der Zeit“5 verstanden. Diese unheilvollen Ereignisse liegen den Festlichkeiten des Friedensschlusses voraus. Sie sind Zeichen der andersartigen Sensibilitäten jener Zeit, da der Spruch galt: „Achterley vnglück ein Comet | Bedeut, wann er am Himmel steht.“6 Solche Wahrnehmungsweisen assoziieren
Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976; ders.: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. 4 Johann Michael Dilherr: Hertzens-Gespräch/ oder Betrachtungen/ und Seufftzer eines Christenmenschen. Nürnberg 1645. Anfang der Vorrede. 5 Mt 16,3; Lk 21,11. 6 Allgemein: Elisabeth Heitzer: Das Bild des Kometen in der Kunst. Berlin 1995. Ferner: Dies.: Kometen, Kreuze und die Pest in Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hg. von Helwig Schmidt-Glintzer. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Forschungen 70), S. 231–254; Hartmut Lehmann: Die Kometenflugschriften des 17. Jahrhunderts als historische Quelle. In: Literatur und
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die apokalyptischen Plagen im „Buch der Offenbarung des Johannes“ als den klassischen Folgenkanon und fördern eine besondere Erwartungshaltung gegenüber dem Übersinnlichen. Thomas Kaufmann hat die Apokalyptik als typisches Zeitsignal für die Zeit um 1600 bestimmt und ihre Erscheinungsformen ausführlich dargestellt.7 Man habe immer in diesen Zeiten mit Strafen des Himmels zu rechnen. Auch wo nun der Friede einzukehren scheint, ist ein goldenes Zeitalter ohnehin nicht zu erwarten, heißt es in der Teutonie: „Die Zeiten sind viel zu eisern/ als daß Golt daraus werden solte“.8 Im selben Sinn mahnt auch Dilherr: Nur ist dabey zu wachen/ und nohtwendig zu beobachten: Daß man die jenige Sünde/ wegen welcher uns der gerechte Gott mit einem dreissigjährigen Krieg/ bestraft hat/ nicht wieder einreissen lasse. Denn Gott hat uns den Fried nicht/ ohn alles Beding/ gegeben; sondern mit dem Anhang: daß wir die vorbegangene Sünde fliehen sollen.9
Auch das wird im Text der Teutonie fast wörtlich gespiegelt: „Die Teutonier solten dem Himmel dafür danken/ und es für eine hohe Gabe erkennen/ derselben ruhig geniessen/ und sich forthin tugendlich zuleben/ und mit neuen Ubertrettungen sich dieses Gnadengeschenkes nit verlustig/ noch eines so theuren Gastes unwürdig zu machen/ befleissigen.“10 Es wird die typische Haltung und das Bemühen von Dichtern und Geistlichen sichtbar, aus dem Krieg als einer Sündenstrafe die Verpflichtung zur moralischen Besserung herzuleiten. So durchzieht dieser Gedanke auch die ganze Teutonie: Sünde führe zur Strafe, Gottes Strafrute sei der Krieg. Nur Reue und Bekehrung zu Gott im Himmel könnten die Gnade erwirken. Das ist die nahezu unverändert wiederholte Devise der religiös fundierten Frühen
Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil II. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Wiesbaden 1975, S. 683–700. 7 Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006. Hartmut Lehmann hatte sie bereits zu den Krisenerscheinungen gerechnet: Christentum und Gesellschaft – Das Zeitalter des Absolutismus. Stuttgart 1980. Auch: Martin H. Jung: Reformation und konfessionelles Zeitalter (1517–1648). Göttingen 2012, S. 226 ff. („Krieg als Gericht, Friede als Geschenk, Reform als Konsequenz“). 8 Sigmund von Birken: Die Fried-erfreuete TEVTONJE. Eine Geschichtschrifft von dem Teutschen Friedensvergleich/ was bey Abhandlung dessen/ in des H. Röm. Reichs Stadt Nürnberg/ nachdem selbiger von Osnabrügg dahin gereiset/ denkwürdiges vorgelauffen; mit allerhand Staats- und Lebenslehren/ Dichtereyen/ auch darein gehörigen Kupffern gezieret/ in vier Bücher abgetheilet/ ausgefertigt von SIGISMUNDO BETULIO, J. Cult. Caes. P. Nürnberg. Jn Verlegung Jeremiä Dümlers/ im 1652. Christjahr, S. 7. 9 Johann Michael Dilherr: Gottseeliges Friedens-Gedächtnis. Nürnberg 1650, Vorrede. 10 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 8), S. 101.
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Neuzeit, sie bildet den ethisch-politischen Referenzrahmen der Zeit, im Gegensatz etwa zu unserer „religiösen Unmusikalität“ (Max Weber). Noch sind die Friedenszeiten nicht angebrochen. So klagt auch der Beginn der Teutonie, dass unser liebes Teutsches Vaterland ein betrübter Schauplatz der Kriegerischen Jammerwaffen/ und also der gantzen Welt ein erbärmliches Beyspiel/ gewesen […]. Seine Threnenwürdige Blutgeschichten wurden/ an stat der Dinte/ mit blutigen Threnen aufgeschrieben/ ja mit der Spitze deß Degens in das Ertz der Ewigkeit eingegraben. Nach dem aber nunmehr/ durch Göttliche Gnadenschickung/ das Schauspiel sich mit einem Fried-erfreulichen Ausgang geendet; ist es billich/ daß die Nachwelt/ die unsere Kriege liset/ auch zu wissen bekomme/ welcher gestalt dieselbe zu einem beständigen Anstand vermittelt worden. Daher allbereit viel treu-Teutsche Patrioten und Landsleute jhre Federn in das Oel deß Friedens eingetunket/ oder vielmehr sie dem Gerüchte als Flügel angemachet/ üm diese theurwehrte Zeitung durch alle Welt und Welt-Alter zu senden.11
Es wird dem Leser die kummervolle Zeit gleichsam eingehämmert. Das ist die erste Feststellung bei Betrachtung dieses Werks des Friedens. In die Trauer der Zeit fügt sich der Tod der frommen Kaiserin Leopoldina, des wahren Ebenbilds der schönen Rahel des Alten Testaments, wie sie genannt wird. In der Aria auf dem Sterbebett segnet diese, die Rahel, ihre Hinterlassenen mit folgenden Worten: Nun gute Nacht/ Erd/ Vater/ Jacob/ Söhne/ die ich im Tod mit diesem Segen kröne. Gott/ der unsterblich lebt/ wird dieses Land/ sein langversprochnes Erbe/ eur lassen seyn/ darein man mich vergräbt. Nun gute Nacht/ ich sterbe.12
Das verkompliziert die Zusammenhänge, denn es soll doch die Kaiserin betrauert werden. So scheinen hier dem Verständnis Atrappen eingebaut zu sein. Bei näherer Betrachtung enthüllt sich jedoch eine weitere Sinnschicht. Die Kaiserin wird tatsächlich betrauert, und zwar in einem langen Klagegedicht, aus dem folgende Zeilen zitiert seien: wo ist/ der nicht mehr ist/ der wie ein Traum entbricht/ den man gesehen hat als wie ein Nachtgesicht? O all zu waares Wort/ O Wort an dir bewäret/ Leopoldina du! Ach die so grün bejähret/
11 Ebd., Bl. A1. 12 Ebd., S. 53, Vs. 139 ff.
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die Blume dieser Zeit/ der Tod gerissen hin/ wo bist/ wo bist du nun/ du schönste Käiserin? wo bist du/ Zier der Zeit/ du Spiegel aller Tugend/ du Himmel auf der Erd/ du Alter in der Jugend/ des Ostenhauses Ehr/ du du der gantzen Welt und jhres Haubtes Lust/ du waarer Wollust Zelt/ wo bist du Kron deß Reichs? Du warest und bist nimmer.13
Man bemerkt sofort, dass hier eine höhere Tonlage vorherrscht und die verblümte Rede in Verbindung mit (manchmal überraschenden) Metaphern und Wortfiguren, alle in Form eines großen satzübergreifenden Fragezeichens, auf eine besondere und würdevolle Tote zielt. Es heißt dann aber von ihr weiter: Jhr gleichet Rahel/ dort/ die auch von hohem Stamm; zwar edel von Geblüt/ doch von Gemüt ein Lamm.14
Ihr soll die vorliegende Schrift in Wien ein „ewigs Grabmal seyn“.15 Zweifellos liegt hier die Trauerpredigt zugrunde, die der Hofprediger Pater Thomas Dueller S. J. beim Begräbnis in der Kaiserlichen Hofkirche in Wien 1649 gehalten hat: Grabmahl Der Allerdurchleuchtigsten/ und Großmächtigen Kayserin Mariae Leopoldinae, Deß unüberwindlichen Römischen Kaysers Ferdinandi III. werthesten Gemahlin/ Weylandt der Durchleuchtigsten Ertz-Hertzogen von Oesterreich Leopoldi und Claudiae würdigsten Tochter. Der Titulus wird nach dem Titelblatt auf lateinisch mitgeteilt: Hic est Titulus Monvmenti Rachel usque in praesentem diem. Genes: 35. Diß ist der Grabmahl Rachels/ biß gegenwertigen Tag.16 In einem zweiten Teil, aus dem bereits zitiert wurde, folgt dann Der Erzmutter Rachel letzte Sterbletze.17 Da ergeben sich die Überblendungen und deren transparente Tiefen, die zu den erstaunlichen Phänomenen dieses Werks gehören. In dem Klagelied auf Leopoldina finden sich die Zeilen: […] Soll Gott gefällig rauchen der Seelen Andachtsruch/ muß nicht mit unterschmauchen der Sünden Schandgestank. Beym Opfer zünden an wird alles Ingedärm zuvor davon gethan.
13 Ebd., S. 39, Vs. 35 ff. 14 Ebd., S. 40, Vs. 75 f. 15 Ebd., S. 49. 16 Diese Wiener Trauerpredigt wurde mir durch Hartmut Laufhütte zur Verfügung gestellt, wofür ihm herzlich gedankt sei. Das Original befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München (Or. fun. 260/29). 17 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 8), S. 49 ff.
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Leopoldina hat die Glut der heissen Jugend gelöschet mit dem Thau der Perlenklaren Tugend.
Weiter: Jhr gröstes Förchten war/ ohn Gottesforchte gehn/ mit deme gar nicht kond nicht in Versühnung stehn Jhr zarter Unschuldsinn. Aus diesem Wunderbrunnen ist jhre Rosenscham und Liljenstirn gerunnen. Ein stäter Früling ziert jhr Fürstlichs Angesicht/ dem der Begierden Hitz hat nie geschadet nicht/18
Sie war also ganz rein, auch von jugendlicher Hitze ganz entblößt, wie eine Blüte im Frühling. Bei der Überblendung mit der Erzmutter Rahel ergeben sich Parallelen, als sie ihren Sohn Benjamin auf dem Sterbebett anredet: „Nun Benjamin/ mein theurerworbnes Leben/ | ich sterb üm dich!“ Sie nimmt dem Jacob den „HerzenBenjamin.“ So erklären sich die liebevollen (aber grell-barocken) Worte an den Vater Jakob: So liebe nun die Mütter in den Söhnen/ und trockne dir damit die heissen Threnen deß bittren Scheidens ab. Mein Asche wird/ darin noch Funken glimmen der Lieb/ nach dir noch ächzen aus dem Grab/ Ein SeufzerLied anstimmen. Muß ich schon jetzt dem Sohn entrucket werden; doch wird er noch dein Trost auf dieser Erden/ dein Stab im Alter seyn. Nun/ gute Nacht! die Zung redt schon gebrochen/ der Geist reist aus. Dir und dem Leichenstein/ mein Lieb/ laß ich die Knochen.19
Auch in der genannten Trauerpredigt wird der „Gebärerin Leopoldina“ dafür gedankt, dass sie dem „gesegneten Ertzhauß Oesterreich“ einen „Hoffnungreichen Erben“20 geschenkt habe: „Erkennet auch/ und wirdt jmmer erkennen/ disen deinen/ und seinen CARL JOSEPH/ daß er dir gewest sey ein Benoni, oder
18 Ebd., S. 41, Vs. 93 ff. 19 Ebd., S. 53, Vs. 21 ff. 20 Wiener Trauerpredigt (Anm. 16), S. 43.
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Sohn des Schmertzens/ jhme aber seyn solle Benjamin, ein Sohn der Rechten/ ein Sohn/ […] nicht nur der Ehren/ unnd deß starcken Glücks/ sondern ein Sohn der Holdtseligkeit/ der besten Sorgen/ und deß Trosts […].“21 Der Komplex von Namensübertragungen und vom Spiel mit Identitätszuschreibungen, die weder in der Realität der barocken noch der biblischen Wirklichkeit stimmen können, sollen sich in dieser Kunstform jedoch ganz oder doch zum Teil decken. Gleichsam von einer höheren Warte aus gesehen, erhalten Figur und Nachbild eine sinnen-reiche Transparenz, in der immer eines im anderen mitgemeint ist. Sinnverschiebungen erlauben in solchem Figuren-Patchwork eine zunächst verwirrende Doppelbödigkeit, deren Sinn dem Leser einen kreativen Lektüre-Prozess abverlangt. Sie ist hier einerseits durch die Kaiserin Leopoldina und die Mitglieder des Herrscherhauses eingegrenzt, bezieht jedoch über den Vergleich mit Rahel durch direkte Nennung bzw. Assoziation die auserwählten Stämme Jacobs mit ein, ebenso ihre eigenen Kinder Joseph und Benjamin. Die Ausweitung erlaubt auch weitere Sinnübertragungen: Die schöne Rahel selbst/ ich darff es wol bekennen/ hätt borgen müssen hier. Doch sey jhm wie es sey: Leopoldina war von allen Bresten frey. Jhr Schönseyn war Schöntuhn.22
Die Wohltätigkeit kennzeichnete Leopoldina ebenso wie Rahel,23 sie liebte den Ehemann auf gleiche Weise: […] hieng ihrem Jacob an/ jhn als jhr liebstes Hertz von Hertzen lieb gewan. Leopoldina gieng zu Rahel in die Lehre/ liebt jhren Ferdinand/ gab seiner Tugend Ehre.24
Die Erweiterungen ermöglichen gar ein Überspringen von Jahrhunderten und stellen Parallelen her, die die biblische Zeit bis in die Jetztzeit reichen lassen: „Karl Joseph sey gegrüst/ du Joseph Teutscher Länder/ | du künfftig-dapfrer Karl“25. Da taucht er also wieder auf, Joseph, Rachels zweiter Sohn, der die Ägypter durch die
21 Ebd. 22 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 8), S. 42, Vs. 146 ff. 23 Vgl. ebd., S. 43. 24 Ebd., S. 45, Vs. 267 ff. 25 Ebd., S. 48, Vs. 349 ff.
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sieben Hungerjahre gebracht und gerettet hatte. Die Doppelung besagt: Er soll als Karl Joseph nun sein Amt als König antreten. Danach kommt – wen wundert es – auch das klassische Rom in den Blick, dessen Nachfahren jetzt die Völker der Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation bilden. Begriffe wie „der Tempel der Eintracht“ etc. wiesen schon in die Richtung. Demzufolge mischen sich in den Segensspruch für den jungen König metaphorisch gerade noch erlaubte heidnische Relikte: Nun du solst auch erquicken das Haus/ das jetzt so seufzt. Du solt den Stamm beglücken/ du Sohn des Glückes du/ von dem du hergestammt. Die dich belebt/ ist todt; doch jhre Tugend flammt in deiner Jugend auf. O spinnt jhm einen Faden/ der länger ist als lang von lauterm Gold der Gnaden/ am Lebensrocken ab/ jhr Parcen alle drey/ daß seine Zeit der Zeit und jhm ersprießlich sey. Dir Juno soll die Pfleg/ als Mutter/ seyn befohlen/ laß jhn aus deinem Schoß viel Ehr und Hoheit holen. Glück/ leg jhn an die Brust/ flöß jhm den Segen ein. Apollo/ deine Kunst die laß jhm günstig seyn! die Tugend wachs mit jhm. Dich aber/ die sein Leben das Leben hat gekost/ dich will mit Dank erheben dein Ertzhaus/ das du hast beglückt mit diesem Glück/ in welches Ruhm dein Ruhm unsterblich bleibt zurück. die Welt wird/ weil sie steht/ dich ehren in dem Sohne/ die dir zwar gönnt/ daß du mit einem höhern Throne verwechslet jhren hier; doch wünschte/ wann sie könd/ daß sie der Himmel dir noch länger hätt gegönnt/ dich später aufgeholt. Dein Haus/ das Haubt der Häuser/ das gantze Kaiserland/ der Stamm der Heldenreiser/ WIEN das noch weint üm dich/ die danken tausendmal für der Gutthaten Mäng und ungezählte Zahl/ die du an sie gewandt; […] […] Nun Seele/ lebe wol. der Leib soll unser heissen/ bis daß du Himmel-ab in jhn wirst wieder reisen. Indessen soll/ da du nun bist gesarget ein/ du Rahel/ diese Schrift dein ewigs Grabmal seyn.26
Auf Birkens Nachrufdichtung für Kaiserin Leopoldina kann und soll hier nicht weiter eingegangen werden. Es sollten nur einige Streiflichter geworfen werden auf die Art der jeweiligen Bildspender und ihre fast endlose assoziationsreiche
26 Ebd., S. 48 f., Vs. 357 ff., 397 ff.
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Verknüpfung. Solcher modus versificandi ist und war damals eine hohe Kunstleistung. Es wäre nur verwunderlich, wenn die damals so beliebte und in Nürnberg mit ihren tüchtigen Druckereien sehr verbreitete Kunst der Emblematik mit ihren Verrätselungen nicht in der Teutonie vertreten wäre. Tatsächlich ist das der Fall, wenn auch häufig in der Form, dass die pictura meist nur im Wort angedeutet wird. Es ist für das vorliegende Werk selbstverständlich von großer Bedeutung, dass Harsdörffer ein ausgesprochenes Talent für die „Sinnbild-Kunst“ hatte und dass auch Dilherr sich virtuos auf dem Gebiet betätigt hat.27 Obwohl er nie Mitglied des Blumen-Ordens war, hat er durch die enge Beziehung zu Harsdörffer und Birken immer deutlicher den Ton inniger Frömmigkeit und Herzensandacht der Pegnitzschäfer bestimmt. Das emblematische Verfahren ist einfach. Die den Spruch konstituierenden Elemente unterschiedlicher Provenienz lassen sich leicht mit dem Potential klassischer und den Ressourcen christlich-biblischer Lebensregeln bestücken. Die emblematischen Teile sollten deutlich zur Belehrung und Ergötzung zugleich dienen. Sie boten eine ‚angenehme‘ Abwechslung bei den reich und mit allerhand Köstlichkeiten versehenen Tafeln und den inventiven „Schautrachten“: Weil nun alle äusserliche Sinnen bey diesem Freudenmahl jhre Ergötzlichkeit einnamen/ als musten auch die innerlichen und das Gemüt einen Theil an solcher Wollust haben. Zu dem Ende wurden alsobald anfangs zwo Schautrachten aufgesetzet/ mit deren Erfindung der ädle Strefon seiner Sinnen Kunstvermögen allen Anschauenden verwunderlich gemacht.28
Im Zusammenhang mit der Schäfergesellschaft ist von Bedeutung, dass man den Trost der Dichtung in schweren Lebenslagen, wie etwa beim Tod eines Menschen, erfahren und zumindest mit Maßen genießen kann. Auch dafür gibt es Beispiele wie folgendes:
27 Zu Dilherr und den Nürnberger Druckern s. Blake Lee Spahr: Nürnbergs Stellung im literarischen Leben des 17. Jahrhunderts. In: Albrecht Schöne (Hg.): Stadt – Schule – Universität. Barock-Symposion 1974. München 1976, S. 73–83. – Dilherrs Emblembücher: Weg zu der Seligkeit. Nürnberg 1646; Christliche Feld- Welt- und Gartenbetrachtungen. Nürnberg 1647; Göttliche Liebesflamme. Nürnberg 1651; Frommer Christen täglicher Geleitsmann. Nürnberg 1653; Heilige Sonn- und Festtags-arbeit. Nürnberg 1660; Hertz- und Seelen-speise. Nürnberg 1661; Augen- und Hertzens-Lust. Nürnberg 1661; Heilig-Epistolischer Bericht. Nürnberg 1663; Himmel und Erden. Nürnberg 1667. 28 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 8), S. 58.
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Mich belangend hat mich dieses Singen über dem Tode meines Sohnes höchlichen getröstet. Durchleuchtigste Prinzessin/ antwortete Eubolus/ wie sehr mich diese Schäfer anjetzt belustiget/ kan ich besser denken als sagen. […] So hertzbeweglich lassen sich diese Musen hören/ daß man mitten unter den Threnen lachen möchte/ aus hertzlichem Belüsten. […] Glükselig halte ich solche Verstorbene/ deren Namen von solchen Famen nach jhrem Tode mit sotahnem Lob ausgeblasen/ und sie dardurch aufs neue belebet werden. Und ist in Warheit eben dieses allein das rechte Leben/ das erst nach dem Tode anfähet: der Seelen nach/ in der Unsterblichkeit. [Es folgt dann ein ausführlicher Passus über die Vergänglichkeit irdischer Dinge als Reichtum, Gesundheit, Stärke, Schönheit, bis dann der Abschluss dem Wert der Dichtung gewidmet wird]. Wir haben zwar ein kurtzes Leben/ aber ein langes Nachgedächtniß unsres Lebens. Wackre Gemüter streben demnach in der kürtze der Zeit/ nach der länge der Ewigkeit/ und schreiben durch tugendliche Thaten jhre Namen in ein Buch/ daraus sie weder Zeit noch Neid/ weder Glut noch Flut auslöschen kan. […] Deßwegen ward zu allen […] zeiten die göttliche Poesy oder Dichterey in hohem wehrt gehalten […].29
Damit haben die Pegnitzschäfer sich selbst in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und ihre im Sozialleben so wichtige Betätigung in den Vordergrund gespielt. Das bis dahin Erlebte und Vorgeführte hatte sich in der Hauptsache auf den festlichen Akt des Friedens zugespitzt, nun aber, als mit Beginn des 3. Buches das Friedenswerk zu hapern scheint, überwiegt bei der Prinzessin Teutonia wieder die Trauer. Das bietet Eubulus die Gelegenheit, sie in Widerwärtigkeiten zu trösten. Er bedient sich dazu der Elemente des christlichen Glaubens und der klassischen Geschichte, die damit ihre nützliche Funktion als „Sittenmeisterin“ erfüllt. An dieser Stelle kommt der im Titel genannte geistige Wert- und Nutz-Aspekt des Werkes zu seinem Recht: „[…] mit allerhand Staats- und Lebenslehren/ Dichtereyen […].“ Es sollte nicht vergessen werden, dass es Dichter sind, die das Fest ausgerichtet haben. Daher wird das jetzt fällige Ehegeschenk, wiederum ganz traditionell, in das Kleid der Sternenmetaphorik gekleidet. Jch erinnere mich hierbey eines Lieds/ so mir jüngsthin unser Floridan ausgehändigt/ sagte hierauf die Nymfe Noris/ mit welchem er/ unter dem Namen der Teutonischen Nymfen dieser Krone aller Nymfen einholet und bewillkommet. […]. Es war aber dieses:30
Es folgt ein Gedicht, aus dem einige Strophen zitiert seien: 3. Sey willkommen/ unsre Sonne/ du der Erden Himmelzier/ unsres theuren Adlers Wonne/ der da spiegeln will in dir/
29 Ebd., S. 78 f. 30 Ebd., S. 110.
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O du Spiegel aller Gaben/ seiner Augen hohes Liecht/ weil jhm/ was er jüngst vergraben/ wieder zeigt dein Angesicht. 4. Schöner Mond/ sey uns willkommen! unsrer Nacht und schwarzem Leid hast du alle Nacht benommen/ ziehst uns aus das Trauerkleid. Nun so stellen wir/ wir Sternen/ uns zu deinen Diensten ein; laß uns unter dir Laternen laß uns dir aufwärtig seyn. 5. Sey willkommen/ Königinne an der liechten Sternen schantz/ aller Sternen Prinzessine/ unvergleichlich-hoher Glantz. Güldnes VENUSliecht/ komm gehe unsrer Sonnen vor und nach/ unsrem FÖBUS an der Höhe/ schlaffe du mit jhm und wach. 6. Kron der Nymfen/ komm/ die Krone wartt in seiner Hand auf dich/ daß er deiner Tugend lohne und dich setze neben sich […].31
Jetzt scheint die glückliche Zeit angebrochen zu sein. Eine reiche Ernte „verdoppelte die Gnade des Himmels“. Jetzt konnte man hoffen auf ungestörtes Glück – „Einer lude den andern unter den Schatten seines Weinstocks und Feigenbaums/ und verzehreten also unter demselben miteinander die Früchte derselben.“32 Es ist ein Bibelzitat, das auf die göttliche Friedensutopie verweist.33 Das war dem damaligen Leser, hellhörig wie er für solche Worte war, sicherlich bewusst. Es wurde schon auf die Doppel- und Mehrdeutigkeit in der Teutonie hingewiesen. Begriffliche Polyvalenz war ihr gleichsam eingeschrieben. Sie wurde auch praktisch vorgeführt, etwa bei den verschiedenen Deutungen, die man dem vom Löwen aus dem Rathausfenster gespritzten Wein beilegte. Der lustige Anfang
31 Ebd., S. 111. 32 Ebd., S. 114. 33 Mi 4,4; 1Kön 5,5; Sach 3,10. Vgl. auch 2Kön 18,31; Jes 36,17. Der Weinstock ist auch Bild der messianischen Heilszeit (Mk 14,25).
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täuscht nicht darüber hinweg, dass man Zeuge eines außerordentlichen Ereignisses war: Es waren zwo Kufen gestellet/ darein der Wein lauffen/ und daraus er von Männiglich geschöpfet werden solte. Die Begierde eines jeden aber liesse nicht zu/ daß einer nach dem andern schöpfete/ sondern ein jeder wolte der nächst und vörderste seyn. Demnach kehreten sie die Kufen üm/ stunden darauf/ hielten Hüte/ Kannen/ Töpffe/ und was die Eilfertigkeit einem jeden in die Hand gegeben/ an Stangen/ Furken/ u. d.g. in die höhe und unter. Es ware einer/ der seinen Stifel auszoge/ und Wein damit auffienge.34 Jnzwischen gabe es allerley schöne Gespräche und Ausdeutungen hiervon. Einer sagete/ das Blut/ das der leidige Krieg so lange Zeit der Teutonien ausgesogen und -gesoffen/ fange nun wider an in Wein verwandelt/ auß dessen todten Rachen zu fliessen. Andere nenneten es den Wein der Freuden/ nach dem Weinen/ welchen die Friedens-sonne aus dem Threnenregen gekochet. Etliche liessen sich dünken/ sie sehen das Bild des Wolstands vor sich/ der aus seinen beyden Brüsten das Friedenöl springen liesse/ die neugebornen Jahre der Ruhe damit zu nehren und zu säugen. Jhrer viele deuteten den rohten Wein auf die neu-entbrennende Liebe der Hertzen/ den weissen aber auf die wiederblühende alte Teutonische Treu. Geister voll himlischer Gedanken betrachteten hierbey der Teutonier Blutrote Schulden/ welche dem Himmel vormals die Kriegsrute in die Hand gegeben; und den weiss-reinen Vorsatz der besserung/ wodurch er wider begütiget/ das Land zu stäupen abgelassen/ und den Brunn seiner Gnaden/ uns mit neuer Wolfart zu überschütten/ eröffnet.35
Die Teutonie gehört in die Gattung der literarischen Darstellung städtischer Feste, die noch zu wenig erforscht ist.36 Aber sie ist zugleich mehr, wie schon das kleine Gedicht zum Lob Nürnbergs signalisiert: Du edle Neronsburg/ von deinem Hügel kam die vielgewünschte Post/ der langverlangte Nam/ der güldne Teutsche Fried. Es wolte das Geschicke/ du Städtestadt/ aus dir des Friedens liebe Blicke dem Lande schicken zu. O Stadt/ es siht auf dich des gantzen Reiches Aug/ das dich nun recht bey sich das Teutsche Salem nennt. der Kern ligt mitten innen; du bist deß Landes Hertz. Mars kond nie eingewinnen dich Haubt der harten NUS; den Frieden lästu ein. du wirst durch Fried und Sieg forthin berühmet seyn.37
34 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 8), S. 68. 35 Ebd., S. 69. 36 Ich verweise nur auf die Beiträge in dem Band: Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Hg. von Paul Hugger in Zusammenarbeit mit Walter Burkert und Ernst Lichtenhahn. Stuttgart 1987. 37 Birken: Die Fried-erfreuete Teutonie (Anm. 8), Bl. A1v.
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Das organisierende Zentrum ist selbstverständlich die Geschichtschrifft von dem Teutschen Friedensvergleich. Aber es sollte nicht eine trockene prosaische Abhandlung werden, kein Text zu den vielen üppigen Festessen (die übrigens genau beschrieben werden) und keine Anleitung zu den Vergnügungen in Festzelten und dergleichen bzw. zu den Feuerwerkspektakeln. Deshalb: Poetische Distinktionsformen. Es ist eine eigentümliche Mischung aus narrativen Partien – die meist ganz präzise Aussagen enthalten – und hochpoetischen Mitteln. Eine ausgesucht schöne Metaphorik, feierlich voranschreitend in jambischen Schritten, eröffnet beispielsweise das Gedicht auf den Tod der Kaiserin Leopoldina: DJe Sonn/ das Himmelsaug/ der Wagenherr der Erden/ die Seel und Hertz der Welt/ die Tag und Liecht lässt werden/ die himmlische Latern/ die Sternenkönigin/ die Fürstin aller Zier/ deß Lebens Anbeginn/ der Quellbrunn aller Lust/ die Goldgestralte Sonne/ je klärer sie auf uns lässt schiessen jhre Wonne im Aufgang jhres Gangs/ je schwärtzer schwärtzt die Nacht/ im fall jhr Flammgespann zur Tränke wird gebracht und in die Wellen steigt. Kein Tag so schön kan färben mit Purpur Feld und Wald/ den man nicht solte sterben und voller Abend sehn; ja dieser fähet an zu blassen/ wann er kaum den ersten Blick gethan. Sein Anfang lauft zum End. Der Stern der uns verkündet den neugebornen Tag/ sich Abends wider findet. Jetzt zeigt er die Geburt/ bald leuchtet er zu Grab und kündet/ was er angekündet/ wieder ab als Tod- und Lebensbot. Ein Bild des Wandelglückes der Menschen/ des durch Schuld verschuldten Fluchgeschickes/ das alle Huld verkürtzt. Der ewigliche Raht es mit gerechtem Recht also geordnet hat.38
Neben den prächtigen Metaphern für die Sonne und das Licht der Sterne finden wir Klangfiguren wie etwa die Annominatio. Die findet sich auch weiterhin: Die Nacht uns nachtet hier/ die dich von uns geruckt/ und uns geruckt von dir39
38 Ebd., S. 38, Vs. 1–20. 39 Ebd., S. 39, Vs. 47 f.
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– in chiastischer Position also. Wie ungewöhnlich zart wird der Leichnam der alttestamentlichen Rahel in seinen Einzelschönheiten (Augen, Mund, Wangen) mehr angedeutet als beschrieben. Jhr Aeuglein brecht/ die jhr so liebreich waret und keinen Blick zu schicken je gesparet zur Lieb dem/ der euch liebt/ jhr Sonnen bleicht/ jhr flammendes Geflinker/ jhr Stirngestirn voll Stralen/ wie sie gibt der nimmer-Wassertrinker. Du zarter Mund/ jhr blassenden Corallen/ jhr Lippen jhr/ die jhr oft liesset schallen ein liebes Liebeswort/ auf die oft ward ein keuscher Kuß gepräget: nun falle zu/ du schöne Redepfort/ der Tod ein Schloß fürschläget. Du Purpurfeld ümzäunt mit güldnen Spangen/ jhr/ die jhr auch/ jhr Rosenschwangre Wangen/ die Rosen schamrot macht/ du Atlas du/ vor dem die Liljen bleichen: verbleicht nun selbst/ dann euer Frülingspracht soll seinen Herbst erreichen.40
Man müßte sich fragen, ob man einem Werk wie diesem – aber im Grunde gilt das für die Frühe Neuzeit allgemein – mit Weltgeschichte, Stadtgeschichte, Politik etc. beikommen kann. Eher möchte man zur historischen Anthropologie raten – wenn man da genügend methodischen Zugriff hätte. Immerhin verweise ich auf Gerhard Kaisers Worte zum Schluss von Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius. […] der Mord am sündigen Kaiser während der nächtlichen Weihnachtsmesse, bei dem sich das Blut des Fürsten mit dem konsekrierten Meßwein mischt und der Sterbende auf dem Kreuz Christi zu liegen kommt, läßt die Frage aufblitzen, ob hier nicht in tief verborgener Weise das Weihnachtswunder geschieht, das in nur allzu vertrauter Form jährlich in den christlichen Kirchen gefeiert wird: Christus tritt in den Stall der Geschichte ein und wird zum Blutsbruder des sündigen Menschen. Und darin könnte das barocke Drama, dessen explizite, sehr zeitgebunden und zeittypisch christliche Weltabsage die christlichen Gemeinden nicht mehr erreicht, zur Herausforderung und Erschütterung christlicher Sicherheit heute werden.41
40 Ebd., S. 50 f., Vs. 31 ff. 41 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? Über Dichtung und Leben. München 1996, S. 102.
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Anschließend wirft Kaiser die Frage auf, ob wir uns nicht den Werken stellen sollten: „Weil und soweit die Werke Fragen sind, können sie uns so tief in Frage stellen – sogar aus der Tiefe der Geschichte heraus.“42 Wenn Sie erlauben, möchte ich das noch ein wenig weiter verfolgen. Müßte man sich nicht überhaupt fragen, ob wir noch eine innere Beziehung zu den Glaubensgründen jener Zeit voraussetzen können? Und um wieviel mehr gilt das für die heutige junge Generation? Der Krieg wird heute sicher nicht als Strafrute Gottes erfahren, und der Zorn Gottes: ein ebenso dunkler Begriff wie das Wort Sünde. Die interne Religionskritik hat schon eine Evolution des Glaubens in seiner Gänze bewirkt. Alte Glaubenssicherheiten gelten nicht mehr, und auch die Richtung des Glaubens scheint sich völlig verändert zu haben. Das Vergänglichkeitsdenken, wie es sich im bekannten Wortspiel LEBEN / NEBEL ausdrückte, hat heute keine Geltung mehr. Das ist auch etwa zu sagen von dem Lied des Melchior Vulpius von 1609: Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn; dem tu ich mich ergeben, mit Fried fahr ich dahin.
Auch wenn es ein Sterbelied ist, ist es heute ein höchst befremdlicher Text. Die heutige intellektuelle Kompetenz geht darüber eher schmunzelnd hinweg. Und wo sogar Theologen das Herz der evangelischen Botschaft, die Auferweckung Jesu Christi und ein Leben nach dem Tod für jeden Gläubigen, in Zweifel ziehen oder gar ablehnen, ist barocke Religiosität für das moderne Verständnis chancenlos. In Widerwärtigkeit und Unglück, wird da der Christ noch sagen, „dass wir durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen“43? Ich möchte mit einem berühmten Zitat aus Webers Wissenschaft als Beruf schließen: Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander. Es ist weder zufällig, dass unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch dass heute nur innerhalb der kleinsten Gesellschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als propheti-
42 Ebd. 43 Apg 14,22.
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sches Pneuma in stürmischen Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.44
Der Prozess ist unumkehrbar. Man kann Faktenwissen anerziehen, aber religiöse Erfahrung kommt anders zustande. Die Gesellschaft hat sich grundlegend geändert, in ihr spielt die Religion, wenn überhaupt noch bekannt, kaum noch eine Rolle. Das sollte in unserer Erforschung und Kommentierung barocker Schriften wahrscheinlich eine größere Beachtung finden.
44 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 41973, S. 582–613, hier S. 612.
Marie Thérèse Mourey
Birken und das ‚Ballet‘: Werke, Kontexte, Theorien Dank der von Hartmut Laufhütte betreuten Gesamtausgabe ist heute Birkens umfangreiches, schwer überschaubares Werk bibliographisch fast lückenlos erfasst; jedoch bleibt es ungleichmäßig erforscht. Bekannt sind außer der späten Poetik vor allem die Gedichte, die Gelegenheitsschriften sowie die Schauspiele geistlicher Ausrichtung wie etwa Psyche, Androfilo und Silvia. Dass das Ballet der Natur hingegen von der Forschung vernachlässigt wurde, wundert nicht wenig, handelt es sich doch um das einzige Beispiel für die Gattung des Ballet in Birkens Produktion.1 Lediglich Karl-Bernhard Silber widmete ihm im Rahmen seiner Untersuchung von Birkens dramatischem Schaffen ein eigenes Kapitel.2 Im Allgemeinen wird für dieses 1662 anläßlich einer fürstlichen Hochzeit konzipierte Werk die alleinige Autorschaft von Birken schlicht und einfach postuliert. Jedoch ist der Sachverhalt viel komplizierter, insbesondere die Beziehung zum Singspiel Sophia, wie durch den inzwischen veröffentlichten Briefwechsel Birkens nachgewiesen werden konnte. So weiß man heute z. B. mit Sicherheit, dass eben nur das Ballet zur Aufführung kam3 und nicht das Singspiel, wie bis jetzt allgemein angenommen. Mehrere Aspekte der Fragestellung sollen im Folgenden kritisch beleuchtet werden. Zunächst soll auf das Bayreuther Ballet der Natur und dessen Entstehungszusammenhänge kurz eingegangen4 und dabei Birkens vermeintliche Vertrautheit mit der Gattung hinterfragt werden. Sodann wird auf das ‚Ballet‘ in gattungsgeschichtlicher und -theoretischer Hinsicht fokussiert. Aus Unverständnis wurde diese Schauspielform oft zugunsten der prestigevolleren Oper vereinnahmt, was zu zahlreichen Missverständnissen, ja zu Fehlinterpretationen
1 Hermann Stauffer: Sigmund von Birken. Morphologie seines Werkes. 2 Bde. Tübingen 2007, S. 352 ff. 2 Karl-Bernhard Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens. Tübingen 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 44), S. 387–423. 3 Silber (Anm. 2) nimmt noch eine Aufführung beider Werke an (S. 20 f. und S. 389). 4 Der präzise Entstehungskontext wurde von der Vf.in bereits andernorts ausgeführt: MarieThérèse Mourey: Höfische Repräsentation in Bayreuth. Christian Ernst und das ‚Ballet‘. In: Politik – Repräsentation – Kultur. Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth (1644–1712). Politik, Repräsentation, Kultur. Hg. von Rainald Becker, Iris von Dorn. Bayreuth 2014 (Historischer Verein für Oberfranken, Archiv für Geschichte von Oberfranken, Sonderband), S. 115–133. https://doi.org/10.1515/9783110593129-193
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führte. Schließlich sollen eben grundsätzliche Überlegungen zur Ästhetik des Ballets und zum Sinn dieses höfischen Rituals angestellt werden, wobei dessen doppelte, pragmatische wie auch ideologische Funktion hervorgehoben werden soll.
1 Das Ballet der Natur (1662) Anlass des Bayreuther Ballet der Natur war die Vermählung des jungen Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth mit seiner Cousine Erdmuth Sophie von Sachsen. Selbstverständlich wurden am Dresdener Hof prachtvolle Feierlichkeiten organisiert.5 Zu diesem Anlass wollte Birken, den enge Bande mit dem markgräflichen Hof verknüpften (von 1658–1660 hatte er in Bayreuth gelebt und sogar dort geheiratet), für die Heimführung der Braut einen Beitrag leisten. Das Werk wurde am 30. November 1662 „auf dem Fürstl. Hofsaal“ der Bayreuther Residenz „in einem Tanze vorgestellet“ (so das Titelblatt: Abb. 1).6 Das Thema beruht auf einem einfachen Grundgedanken: die Vorzüge der Natur. Die von „Natura“ unterzeichnete Widmungsvorrede parallelisiert den Einzug der Natur, als ‚Mutter‘ der ganzen Welt, mit dem feierlichen Einzug der neuen „Landesmutter“, der das Heer der Naturgeschöpfe huldigen möchte. Beide Einzüge versinnbildlichen die doppelte Verheißung eines Goldenen Zeitalters, das mit dem Regierungsantritt des Markgrafen und dessen Vermählung anbrechen soll, da nicht zuletzt das Fortbestehen der Dynastie gefährdet war.7 Von den nacheinander einziehenden vier Elementen (Erde, Luft, Wasser, Feuer) prangt das letzte, das Feuer, besonders hervor, eine überdeutliche visuelle Transposition der Lie-
5 Uta Deppe: Die Festkultur am Dresdener Hofe Johann Georgs II. von Sachsen (1660–1679). Kiel 2006 (Bau+Kunst. Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte 13), S. 88–126. 6 Ballet der Natur/ welche mit ihren Vier Elementen/ frölich und Glückwünschend sich vernehmen lässt/ bey hochansehnlichster Heimführung und höchstgewünschter Ankunfft in die Hochfürstliche Brandenburgische Residenz Bayreuth Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen Frauen Erdmuht-Sophien/ Geborner Princessinn zu Sachsen/ Jülich/ Cleve und Berg/ etc. Vermählter Marggräfinn zu Brandenburg/ zu Magdeburg/ in Preussen/ zu Stettin/ Pommern/ der Cassuben und Wenden/ auch in Schlesien zu Crossen und Jägerndorf Herzoginn/ Burggräfinn zu Nürnberg/ Fürstinn zu Halberstadt/ Minden und Camin/ etc. als glücklichst-angehender HöchstgeEhrtester Hoch-Fürstlicher LandesMutter: Anno 1662. den 30. Wintermonats/ auf dem Fürstl. Hofsaal daselbst in einem Tanze vorgestellet. Gedruckt zu Bayreuth/ bey Johann Gebhardt. [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Textb. 4° 4 (2)] 7 Christian Ernst war das einzige Kind seines 1655 verstorbenen Vaters Christian. Seine Ehe mit Erdmuth Sophie sollte jedoch kinderlos bleiben.
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Abb. 1: Titelblatt des Drucks Ballet der Natur (Archiv des Pegnesischen Blumenordens, GNM Nürnberg: 2° P.Bl. O. 1 [11]).
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besflammen, die in den Herzen der Jungvermählten ewig brennen sollten. Die Ausarbeitung der Thematik erweist sich mit ihrer panegyrischen Ausrichtung als recht konventionell; den Mittelpunkt der Huldigung bildet die als „Sophia“ angeredete fürstliche Braut – folgerichtig wurde das Ballet ausschließlich von Männern getanzt. Von der Form her ist das Werk ein sog. ballet à entrées: Es besteht aus einer Abfolge von Tanzauftritten, die nur lose miteinander verbunden sind; von einer stringenten Struktur kann also nicht die Rede sein, allenfalls von einem lockeren Aufbau. Die vier Teile des Ballet der Natur, das insgesamt dreißig Tanzauftritte zählt, behandeln jeweils ein Element und sind durch eine Veränderung des Bühnenbildes und eine Zwischenmusik deutlich voneinander getrennt. Nach einer „Einleitung“, die aus einem Lied und einem Tanz der Natur besteht, und nachdem Druckexemplare des Ballet der Natur von zwei „Pantalons“, d. h. lustigen Figuren, der neuen Fürstin und den Zuschauern „mit tieffster Reverenz“ überreicht wurden, tritt im ersten Teil die Göttin der Fruchtbarkeit Ceres auf. Im gedruckten Textbuch wird sie als „dieses Ortes Regentin“ angesprochen – die Anspielung versteht sich, wenn man weiß, dass gerade der neue Landesfürst, Markgraf Christian Ernst, diese Rolle übernahm. Es folgen fünf Auftritte, die das Motiv der Erde veranschaulichen (wobei der Text das bei fürstlichen Huldigungen übliche onomastische Spiel, hier mit dem Namen „Erd-muth“, betreibt), größtenteils mit Figuren aus der Wirklichkeit (Gärtner, Bergleute, Böttcher, Bauern und Bäuerinnen), aber auch mit dem „Wald-Gott Pan, zusammen mit vier Satyren“.8 Der zweite Teil, dem Element Wasser gewidmet, wird durch den Meer-Gott Neptun eingeleitet, dem dann in fünf weiteren Entrées Figuren aus dem Wasserbereich folgen, Tritonen, Wassersüchtige (!), Fischer, Schiffsleute sowie, etwas überraschend, vier Indianer mit Bogen und Pfeilen. Der dritte Teil stellt das Element Luft mit dem Wind-Gott Aeolus dar, es folgen wiederum fünf Auftritte mit Fama, Sackpfeifern, Trompetern, vier Winden und sechs zitternden Alten (!). Der vierte und letzte Teil schließlich, mit dem Element Feuer, zählt doppelt so viele Tanzauftritte (zwölf statt sechs), was die Steigerung überbetont. Den „Schmide-Gott“ Vulcanus begleiten Pastetenbäcker, Köche, Marmitons, Alchemisten, Schornsteinfeger, usw. Nach dem letzten Tanzauftritt des Gottes der Hochzeit Hymen und einer abermaligen Veränderung des Bühnenbildes wird das Ballet durch ein Lied der „KunstGöttin“ Pallas – als deutliches Pendant zum einleitenden Lied der Natur – abgeschlossen. Nach ihrem Abtritt folgt das obligatorische Grand Ballet als Krönung der Darbietung: Es tritt die Himmels-Göttin Juno auf, mit den sieben
8 Die scheinbar willkürliche Abfolge der einzelnen Auftritte erklärt sich durch die notwendige Umkleidung bestimmter Tänzer.
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Planeten und dem Liebes-Gott Cupido. Hier begegnen also durchaus topische Figuren, Motive und Argumente. Die poetische Sprache weist eine große Vielfalt an strophisch-metrischen Formen auf, und das Ganze ist recht abwechslungsreich; neben dem hohen panegyrischen Stil, der zu einer solchen fürstlichen Huldigung gehört, verwendete Birken sogar im Auftritt der Bauern und Bäuerinnen die entsprechenden Mundarten (er lässt ein thüringisches, ein sächsisches und ein fränkisches Paar zur Rede kommen9), um die Lebensnähe zu steigern und „unverstellte Ehrlichkeit“10 zu suggerieren. Aus Birkens Briefwechsel mit dem Geheimen Rat in Bayreuth Adam Volkmann wie auch mit dem Kammerrat Christian von Ryssell geht hervor, wie langwierig und mit zahlreichen Problemen verbunden der Entstehungsprozess sich gestaltete – nicht zuletzt, weil mehrere Personen am Zustandekommen des Werkes beteiligt waren und alles vom Urteil des Fürsten abhing. Vor allem tritt eine verwirrende terminologische Unsicherheit zu Tage: Denn Birken erwähnt und zitiert stellenweise aus seinem „Entwurff zu seinem Ballet“, erwägt angesichts der offensichtlichen, technischen Schwierigkeiten eine Zeitlang, das Werk gar nicht „zu praesentiren“ (d. h. zur Aufführung zu bringen), sondern bei dem fürstlichen Beilager lediglich den Druck feierlich zu überreichen. Eine andere Lösung schlägt er vor: Wenn es sich – vor allem der Kosten wegen – als zu aufwendig erweisen würde, das Ballet mit den vielen Schauplatz-Veränderungen aufzuführen, könnte man daraus ein einfacheres „DanzSpiel“ machen. Dies würde der französische Tanzmeister anordnen, so „dass der Innhalt durch die Gebärden ausgedruckt würde […] und darzu braucht man nur eine einige fronte des Schauplatzes“,11 also ein einziges Bühnenbild bzw. eine einzige Kulisse. Jedoch stellt sich heraus, dass Birken mit dem Begriff ‚Ballet‘ immer das Werk Sophia gemeint hat, das heute als ‚Singspiel‘ bekannt ist; zu dem Begriff ‚Singspiel‘ geht er übrigens nach einer
9 Das Thüringische Paar: „Er: Ännchen, komm, was wollen wir machen?/ Unser Freulein freit jetzund/ Laß uns man auch tun zur Sache! Sie: Ha, es ist noch Zeit genung/ daß wir hin zu Bette gehen/ Möcht doch gerne einmal geschehen!“ Das Sächsische Paar: „Er: Freit ihr nur! Wir wollen saufen/ auf der Freulein Gesundheit fein/ und auch tanzen eins darein. Sie: Ha! Was redest du? Laß uns verschwinden/ große Hochzeit machen auch/ wie es seit je der Brauch ist.“ Das Fränkische Paar: „Sie: Kunz, es hat mir nachts geträumt/ unsere neue Fürstin kam/ Schmalz, Milch, Eier von mir nahm. Er: Gret, du mußt wahrhaft nicht versäumen/ du mußt ihr Törtchen backen/ wenn sie einmal ins Dorf kommt“ (unpaginiert, 1. Teil, 6. Entree). Für seine Hilfe bei der Übertragung des Textes ins Hochdeutsche danke ich Hartmut Laufhütte sehr herzlich. 10 Silber (Anm. 2), S. 398. 11 Brief an Adam Volkmann, 19. Juni 1662, in Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Teil I: Texte. Berlin 2010 (Werke und Korrespondenz 10.1. = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 61 [im Folgenden zitiert als NDL]), S. 349.
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Weile über. Dies hat weitreichende Implikationen für die Einstufung des Werkes und führt sogar zur Umkehrung der bisherigen Perspektive: Das ‚Ballet‘ hat einen viel umfassenderen Sinn als bis jetzt angenommen und ist ein Oberbegriff für ein ‚Gesamtkunstwerk‘, das ursprünglich aus einem Singspiel und einem ‚DanzSpiel‘ bestehen sollte. Das zur Aufführung gebrachte Ballet der Natur ist eben nur das angehängte ‚DanzSpiel‘.12 Eine weitere Implikation betrifft die Frage der Autorschaft:13 Das, was als Ballet der Natur tatsächlich zur Aufführung kam, „ist kein ursprünglicher Bestandteil des Birkenschen Konzepts, sondern die Umsetzung einer Idee des französischen Tanzmeisters“.14 Christian von Ryssell war es, der bei der Vermittlung zwischen dem Bayreuther Hof und Birken Letzterem die Aufgabe zudachte, eine Vorrede zu verfertigen und Verse zu einzelnen Szenen und Figuren zu dichten. Birken war zwar am Ballet beteiligt, ohne jedoch dessen Inventor zu sein. Daher heißt es in seiner späten Poetik durchaus treffend, er habe das Ballet „redend gemacht“.15
12 Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Teil II: Apparate und Kommentare. Berlin 2010 (Werke und Korrespondenz 10.2. = NDL 62), S. 765: „Dass das ursprüngliche Projekt außer durch das Drama auch durch ein Ballett ergänzt werden sollte, ist neu. Dieses ursprüngliche Teilprojekt sollte dann, aus dem primären Zusammenhang herausgelöst, wirklich zur Ausführung kommen“. 13 Als „inventor“ eines Ballets gilt gewöhnlich der Tanzmeister. Die Erfindung, d. i. das allgemeine Thema sowie der Aufbau („dispositio“) und die einzelnen Auftritte („elocutio“) wurden meistens vor der Abfassung des Librettos dem Fürsten vorgelegt, damit er seine Zustimmung erteilt, zumal wenn er sich am Ballet beteiligen und eine besondere Figur verkörpern sollte. Im Falle von Anton Ulrich von Wolfenbüttel war der Herzog tatsächlich selber der Erfinder des Sujets und Autor des Textes, daher die große Geschlossenheit des Ganzen. In anderen Fällen wird der Dichter darum gebeten, einen Text zum Sujet abzufassen bzw. die zu singenden Lieder zu erdichten – und dieser Text bildet dann die Grundlage zum gedruckten Libretto. Dies dürfte wohl für Birkens Ballet der Natur der Fall gewesen sein. 14 Birken (Anm. 12), S. 788. 15 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy. Hildesheim 1973 [Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679], S. 315: „Ein solches [= Ballet] ist auch/ das bei dem HochFürstl. Brandenburg. Beylager zu Baireuth A. 1662 vorgestellte/ und von mir redend gemachte/ Ballet der Natur.“ [Hervorhebung von Vf.in] Birkens fehlerhafte Angabe bei der Reihenfolge der Auftritte bekräftigt die These, wonach er nicht selber für die „dispositio“ sorgte: „da erstlich die Natur vorsinget/ hernach die Götter der vier Elemente/ als Ceres/ Neptunus/ Eolus und Vulcanus mit andern Personen ihres Handwerks/ auftretten/ worauf der Groß-Danz von Juno/ den sieben Planeten und Cupido folget/ und endlich die Pallas nachsinget: alles zur Ehre der HochFürstlichen Vermählten.“ Eigentlich bildet nicht der Gesang der Pallas, sondern das „Grand Ballet“ den Abschluss der Darbietung.
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Das Verdienst der inventio kommt eigentlich dem Tanzmeister zu, wenn auch Ryssell dessen Kunst als banal tadelt.16
2 Birken und das Ballet: von der Praxis zur Theorie Obwohl er nachweislich nie selber nach Frankreich reiste, mochte Birken durch seine Deutschlandreisen (1646–1648) wie auch dank seiner zahlreichen Kontakte von richtungsweisenden Vorbildern Kenntnis gehabt haben,17 wie etwa von den Hofballets in Dresden, denn gerade der kursächsische Hof war bereits vor dem Krieg eine Wiege der neuen Kunstgattung gewesen. Am Dresdener Hof war 1638, also mitten im Krieg, ein eigentümliches Werk aufgeführt worden, das auf Grund der außergewöhnlichen, einmaligen Kollaboration zwischen drei großen Künstlern eine Erwähnung verdient: das Ballet Von dem Orfeo und der Euridyce, das entgegen einer in der Forschung weit verbreiteten, aber irrtümlichen These keine „Oper“ war18 (geschweige denn die erste frühdeutsche Oper …), sondern eben ein
16 Die Briefe Christian von Ryssells zeigen dessen Unzufriedenheit mit dem Tanzmeister: „wiewohl mich nicht dünket, daß ein rechter Nervus drinnen und alles wohl à propos erfunden sey“, wenn er auch um den „mangel der verständigen zu verfertigung der machinen“ weiß. Auch das abschließende „Grand Ballet“ tadelte er, weil es keine Frauenkleidungen gab, während doch weibliche Göttinnenrollen vorkamen! „Sonderlich gefällt mir das große Ballet nicht, sintemahl keine in weibs kleidern gekleidet und doch gleichwohl Göttinen sein sollen“. Birken (Anm. 12), S. 818–821, hier S. 818. 17 Durch seine ‚Wanderjahre‘ in Norddeutschland zwischen 1646 und 1648 hatte Birken viele Städte und Höfe entdeckt (Hamburg, Lüneburg, Celle, Dannenberg, Rostock). Zu den wohl sehr losen und unregelmäßigen Briefkontakten zwischen Birken und dem Wedeler Pastor Johann Rist, siehe die Einleitung zu: Sigmund von Birken: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Teil I: Texte. Tübingen 2007 (Werke und Korrespondenz 9.1 = NDL 53), S. XXXI–XXXIV. 18 So Helen Watanabe-O’Kelly: Court Culture in Dresden. From Renaissance to Baroque. Basingstoke 2002, die sich auf die Autorität des Musikologen Werner Braun stützt und behauptet: „Scholars are fairly unanimous, for instance, in stating that ‚Orpheus and Eurydice‘, performed in the Riesensaal for the wedding of Johann Georg II and Magdalena Sibylle of Brandenburg in 1638, and called a ballet by its author, is in fact an opera. It was a five-act dramatic work with spoken, sung and dances portions, but in which dance played a secondary role“! (S. 171 f.). Das gleiche Urteil gilt für das „Singend Ballet von dem König Paris und der Helena“ (1650) von David Schirmer: „Like Buchner and Schütz’ ‚Orpheus und Eurydice‘ of 1638, this work is also now generally regarded as an opera rather than a ballet, because only one scene in each of the first four
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„Ballet“ französischer Prägung und das sogar in den Quellen ausdrücklich als solches bezeichnet wurde.19 Diese Experimentation war ein seltenes, beeindruckendes Beispiel für eine kühne, innovative Synthese der drei damals herrschenden Stile: Die von Opitz fixierte und von Buchner auf den ‚tanzenden‘ Daktylus erweiterte Prosodie der deutschen Sprache für die Poesie, der von Schütz eingeführte italienische stile nuovo für die Musik und die Tanzauftritte französischer Provenienz, die sich der Hoftanzmeister Gabriel Möhlich bei seiner Bildungsreise nach Paris angeeignet hatte.20 Auch gleich nach Kriegsende, in den 1650er Jahren, wurden wiederum prächtige Ballets in Dresden aufgeführt – für deren inventio und textliche Ausarbeitung sorgte bekanntlich der Dichter David Schirmer. Womöglich war Birken ebenfalls das 1650 in Gottorf aufgeführte Ballet Von der Unbeständigkeit menschlicher Dinge bekannt (Textbuchautor: Adam Olearius), oder noch das 1653 von Johannes Rist verfasste Celler Ballet Die Triumphierende Liebe;21 beide Werke waren zu ähnlichen Anlässen (einer fürstlichen Hochzeit)
acts was actually danced.“ (S. 178). Vgl. neuerdings auch Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz (1585–1672). Kulturpatriotismus und deutsche weltliche Vokalmusik. Bern 2004 (Contacts III 63), über „die Ballett-Oper (!) Orpheus und Euridice“: „trotz der eindeutigen Benennung handelt es sich um eine Oper.“ (S. 241). Dennoch wird etwas weiter zugestanden: „Das Stück wurde in zeitgenössischen Dokumenten immer nur als ‚Ballett‘ (!) bezeichnet; der Begriff ‚Ballett-Oper‘ wurde erst später, etwa bei Fürstenau, verwendet.“ (S. 292 f., Anm. 84). 19 Anton Weck: Der Churfl. Sächs. Weitberuffenen Residentz und Haupt-Vestung Dresden Beschreib- und Vorstellung. Nürnberg 1680, S. 365: „am 20. hujus nach auffgehabener Taffel/ aufm Riesen-Saale ein stattliches Ballet mit unterschiedenen Abwechselungen und 10. Balleten/ auch einer wohl disponirten action, von dem Orpheo und der Euridice volnbracht“. 20 „Die Invention solches Ballets ist von Herrn Augusto Buchnern, Professore poeseos zu Wittenberg, auf itzige neue Art in deutsche Verse gesetzet, von dem Churfürstlichen Capellmeister Herrn Heinrich Schützen aber auf Italienische Manier componirt und von dem Tanzmeister Gabriel Möhlich in zehn Ballettänze gebracht worden.“ Zitiert von Moritz Fürstenau: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden. Nach archivalischen Quellen von Moritz Fürstenau, K.S. Kammermusikus. Erster Theil: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe der Kurfürsten von Sachsen, Johann Georg II., Johann Georg III. und Johann Georg IV., unter Berücksichtigung der ältesten Theatergeschichte Dresdens. Mit einer Ansicht des ersten zu Dresden erbauten Komödienhauses. Zweiter Theil: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe der Kurfürsten von Sachsen und Könige von Polen Friedrich August I. (August II.) und Friedrich August II. (August III.). Hildesheim 1971 [Nachdruck der Ausgabe Dresden 1861/1862], S. 103. 21 Johannes Rist: Die Triumphirende Liebe/ umgeben Mit den Sieghafften Tugenden/ In einem Ballet Auff dem Hochfürstlichem (!) Beylager/ Des Durchläuchtigen/ Hochgebohrnen Fürsten und Herrn/ H. Christian Ludowigs/ Herzogen zu Brunswig und Lüneburg. Gehalten/ Mit Der auch Durchläuchtigen/ Hochgebohrnen Fürstin und Fräulein Dorothea/ Hertzogin zu Schleßwig/ Hollstein/ Stormarn und der Dittmarschen/ Gräfin zu Oldenburg und Delmenhorst. Auff der Fürstlichen Residentz Zelle vorgestellet Am 12. Tage des Weinmonats im 1653. Jahre. Hamburg/ Gedruckt bey Jacob Rebenlein. [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Textb. 4° 50]. Zu dem
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entstanden. Am sinnfälligsten drängt sich jedoch das Vorbild von Anton Ulrichs gleichnamigem Ballet auf, das kaum zwei Jahre zuvor in Wolfenbüttel aufgeführt worden war.22 Dass Birken von den Ballets seines ehemaligen Zöglings, welche eindeutig dem französischen Vorbild folgten,23 Kenntnis hatte, lässt sich aus dem Briefwechsel nachweisen: Zu Wolfenbüttel ist auch ein Schauplatz gebauet worden, darauf Ihre Fürstliche Gnaden Herr Herzog Anthon Ulrich etc. jährlich ein Sing- und danzspiel anstellet, und die Fürstlichen Personen neben den Adeligen Ministris und Frauenzimmer selbsten agiren und danzen: ligt nur an einem Mahler, Componisten und danzmeister, und wann der Schauplatz einmahl zustand gebracht, brauchts hernach schlechte mühe und Costen.24
Eine interne Konkurrenz mit Anton Ulrich ist jedoch ausgeschlossen; viel plausibler ist eine Wiederaufnahme der Thematik durch den Tanzmeister Georges de la Marche, zumal das Konzept auf ihn zurückzuführen ist.25 Jedoch fällt außer der viel raffinierteren Struktur von Anton Ulrichs Ballet, in welchem in einer Art poetischer Intarsienarbeit kleine dramatische Singspiele in die Hauptteile eingefügt sind, die völlig andere Perspektive und Ideologie bzw. Kosmologie auf: Anton Ulrichs Ballet wird durch eine ausführliche Vorrede mit philosophischem Hintergrund eingeführt, die bei Birken völlig fehlt. Auch das Grand Ballet ist viel
Celler Ballet siehe Marie-Thérèse Mourey: Rists Tanz- und Balletinventionen. Das Celler Hochzeits-Ballet „Die Triumphirende Liebe“ (1653). In: Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Hg. von Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn. Berlin 2015 (Frühe Neuzeit 195), S. 231–261. 22 Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Ballet der Natur. Oder Fürstliche Frühlingslust. Wolfenbüttel 1660 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Textb. 4]. Wiederabgedruckt in: Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Bühnendichtungen. Hg. von Blake Lee Spahr. Bd. 2.1, 2.2. Stuttgart 1984 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 309/310). Dazu Silber (Anm. 2), S. 390–394. Die von Silber angenommenen „thematischen Anleihen beim Werk Anton Ulrichs“ (S. 392) sind jedoch nicht auf Birken selbst zurückzuführen, sondern auf den Tanzmeister. 23 Pierre Béhar: Anton Ulrichs Ballette und Singspiele. Zum Problem ihrer Form und ihrer Bedeutung in der Geschichte der deutschen Barockdramatik. In: Jörg Jochen Berns (Hg.): Daphnis 10.4 (1981), S. 775–792. Erweiterte Fassung: Pierre Béhar: Anton Ulrichs Ballette und Singspiele. Von der Bestimmung ihrer Form zur Einschätzung ihrer literarhistorischen Bedeutung. In: Wolfenbütteler Beiträge 5 (1982), S. 123–141. 24 Brief an Adam Volkmann, 19. Juni 1662, in: Birken (Anm. 11), S. 349. 25 Zudem könnte dieser George ein entfernter Verwandter des seit 1658 in Wolfenbüttel tätigen Tanzmeisters Ulrich Roboam de la Marche sein. Siehe Marie-Thérèse Mourey: Tanzkultur am Wolfenbütteler Hof. In: Barocktanz im Zeichen französisch-deutschen Kulturtransfers. Quellen zur Tanzkultur um 1700. Hg. von Stephanie Schroedter, Marie-Thérèse Mourey, Giles Bennett. Hildesheim 2008, S. 199–225.
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komplexer angelegt und lässt hinter den sinnlich wahrnehmbaren Elementen der Natur die hierarchisch übergestellten „Intelligentsien“ die Welt bewegen. Sein literarisches Debüt hatte Birken mit dem Festspiel Teutscher KriegsAbund FriedensEinzug gemacht, das 1650 bei den Friedensfeierlichkeiten in Nürnberg aufgeführt wurde. Das dreiteilige Werk ließ verschiedene Personen in einem Aufzug auftreten, Allegorien (Zwietracht, Eintracht, Friede, Gerechtigkeit) neben traditionellen mythologischen Figuren (Vulcanus, Venus, Cupido, Mars) und Figuren aus dem wirklichen Leben (Soldat, Schäfer). Kaum später (1651) entstand Margenis oder das vergnügte bekriegte und wiederbefriedigte Teutschland, ein „allegorisches Spiel in fünf Akten“. Nach dem Schauspiel Psyche 1652 wurde 1655 Androfilo (nach dem Jesuiten Jacob Masen) zusammen mit der Komödie Silvia aufgeführt. Diese frühen Dramen, die Silber zufolge noch zum protestantischen Schultheater zu zählen sind, hatten neben der Belustigung des Publikums vorrangig „die Ausbildung der männlichen patrizischen Jugend der Stadt“ zum Ziel.26 Doch gerade an einem anspruchsvollen höfischen Schauspiel wie dem französischen Ballet, das damals bei fürstlichen Hochzeiten unerlässlich war, wollte sich Birken nun messen, obwohl er von der Praxis dieser irregulären Mischgattung mit ihren zahlreichen Untertypen wenig Ahnung hatte, im Gegensatz zu dem Frankreichkenner Anton Ulrich. Seine Stärke lag vielmehr in der dichterischen Einkleidung, die der mittelmäßigen Performanz etwas Glanz verleihen sollte. So bemerkt der missmutige Ryssell auf bissig-bittere Art, es würde an dem Tanzmeister liegen, die Mängel des Ballets zu beheben, er selber würde sich aber mehr „auf die wohlgesetzten Füsse seiner [= Birkens] verse, alß [auf die Füsse] der tanzenden [Personen]“27 freuen.
3 Das Ballet: Gattungsgeschichte und -poetik Das Hofballet,28 das sich im siebzehnten Jahrhundert in einem Siegeszug überall in Europa etablieren sollte, war dank der Königin Katharina di Medici im letzten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts im Frankreich der Valois entstanden. Konzipiert wurde es als friedliche Ersatzform für kämpferische Turniere bzw. andere
26 Silber (Anm. 2), S. 20. 27 Birken (Anm. 12), S. 820. 28 Siehe Margaret McGowan: Ballet de cour. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume. Hg. von Ludwig Finscher. Sachteil Bd. 1. 2. neubearbeitete Ausgabe. Kassel u. a. 1999, Sp. 1163–1170.
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riskante Spiele, denen nicht zuletzt König Heinrich II. selber 1559 erlegen war.29 Dass die Praxis vor irgendwelcher theoretischen Fixierung existierte, bedeutet jedoch nicht, dass ein kosmologischer Hintergrund fehlte. Letzterer kommt immer wieder in den programmatischen Vorreden und Zuschriften der Drucke zum Ausdruck, zunächst mit Balthasar de Beaujoyeux Ballet comique de la Reyne (1581), in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts auch in den Ballets von Guillaume Colletet wie etwa dem Ballet de l’Harmonie (1632). Immer wieder dreht es sich darin um den Gedanken der Harmonie, sogar der „Harmonie Universelle“, ein Motiv, das nach den konfessionellen Kämpfen und dem Massaker der Bartholomäus-Nacht wie eine eindringliche Beschwörung klingt, das aber auch auf die erstrebte Fusion von Musik, Tanz und Poesie in einem ‚Gesamtkunstwerk‘ verweist.30 Eine regelrechte Theoretisierung dieser neuen Kunstform ist erst ab der 2. Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts zu verzeichnen.31 Die 1661 von Ludwig XIV. gegründete Académie Royale de la Danse (Königliche Tanzakademie) sollte sich neben der Regulierung der Tanzmeisterzunft ein solches Programm zur Aufgabe setzen. Nach M. De Saint Hubert (1641) und Michel de Marolles (1657) sind dem Jesuiten Claude-François Ménestrier noch pragmatisch inspirierte Reflexionen über die „Führung der Ballets“ zu verdanken (1659). Die erste Poetik entstand mit Michel de Pure (1668), bevor wieder Ménestrier seine frühen Betrachtungen systematisch ausbaute und in den Rahmen einer Gesamtreflexion über die „Repräsentationen“, sowohl in der Musik als auch im Tanz bzw. im Bild, stellte (1682). In Deutschland entstanden Ansätze zur Fixierung der Gattung noch später, erst zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, in direkter Anlehnung an diese fran-
29 Rudolf zur Lippe interpretiert diesen historischen Vorgang als Prozess der Verhöflichung der Kriegerkaste. Vgl. Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Hamburg 1988. In Anlehnung an Jörg Jochen Berns: Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 34 (1984), S. 295–311, sieht Markus Engelhardt darin die „Überführung ritterlich-feudaler Demonstrationsformen in absolutistisch-zeremonielle“, Markus Engelhardt: Oper, Festspiel, Ballett. In: Die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 333–346, hier S. 333. 30 Margaret McGowan: L’art du Ballet de Cour en France. 1581–1643. Paris 1963 sowie MarieClaude Canova-Green: Le Ballet de Cour en France. In: Spectaculum Europaeum. Hg. von Pierre Béhar, Helen Watanabe-O’Kelly. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 31), S. 485–512. 31 Marie-Françoise Christout: Le Ballet de Cour de Louis XIV. 1643–1672. Paris 1967, S. 137–153, insbes. Kap. 5: „Théories et théoriciens: Michel de Pure, Ménestrier, d’Aubignac“. Siehe auch Philippe Hourcade: Mascarades et ballets au Grand Siècle (1643–1715). Paris 2002 (La mesure des Choses).
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zösischen Theoretiker, deren Werke in der Messestadt Leipzig schnell rezipiert wurden. Jedoch waren die Autoren dieser frühen deutschsprachigen Tanzlehren an erster Stelle städtische, professionelle Tanzmeister, die sich auf das gefährliche Terrain der Theoriebildung wagten, ohne die poetologischen Voraussetzungen und philosophischen Implikationen dafür zu meistern. Andererseits findet man bei deutschen Dichtern hier und da Überlegungen zum Wesen der Tanzkunst (wie etwa bei Philipp von Zesen) bzw. zum „Danz-Spiel“, wie bei Georg Philipp Harsdörffer, der sich sowohl in seinen Frauenzimmer-Gesprächspielen als auch in seinem Poetischen Trichter dazu äußerte.32 Da diese Poetiker jedoch mit der Realität des Tanzes nicht recht vertraut waren, sollten ihre Betrachtungen eher als intellektuelle Spekulationen denn als konkrete Anweisungen zu Balletaufführungen interpretiert werden.33 Problematisch an der Gattung des Ballets scheint nicht zuletzt dessen grundsätzliche, aber verwirrende Plurimedialität, die seine „poetische Ortlosigkeit“ im System der Schönen Künste zu rechtfertigen scheint, wie es Bernhard Jahn seinerzeit für die Oper festgestellt hat.34 In der Tat ist die Abgrenzung des Ballets vom musikalischen Schauspiel, Schäferspiel, Singspiel, von der Maskerade und Oper ein schwieriges Unterfangen.35 Ein unbekümmerter Umgang mit der Terminologie bei einigen Forschern stiftete eine völlige Verwirrung; so entstanden die Mischbegriffe „Opera-ballet“ (der Begriff kommt in der Tat nur einmal vor, mit dem 1679 in Dresden aufgeführten Opera-ballet Von dem Judicio Paridis und der Helenae Raub), „Singend Ballet“ bzw. „Ballett-Oper“, ein Terminus, der eigentlich auf Moritz Fürstenaus Studie36 zurückgeht. Auf der Suche nach den ‚Schuldigen‘ stößt man aber bereits auf Gottsched.37 Das Spezifische am Ballet
32 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Bd. 2. Hildesheim 1971 [Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1648–1653], S. 74 f.; ders.: Frauenzimmer-Gesprächspiele. Bd. 4. Tübingen 1968 [Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1644], S. 366–410 bzw. 373–417 (neue Zählung). 33 Siehe Marie-Thérèse Mourey: Danser dans le Saint Empire au XVIIe siècle. Eloquence du corps, discipline des sujets, civilisation des moeurs Bd. 2. Paris 2003, S. 199–221. 34 Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005, insbesondere S. 76 ff. 35 Engelhardt (Anm. 29). 36 Fürstenau (Anm. 20). In Bezug auf die Terminologie bemerkt er (S. 86): „die Bezeichnung [erscheint] in vielen Fällen fast eine zufällige ohne entschiedene principielle Unterscheidung“. 37 Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts. Leipzig 1757, S. 114 (sic! = 214): „Opern. Singspiel, betittelt Sophia […] Ballet der Natur, welche mit ihren 4. Elementen sich fröhlich und glückwünschend vernehmen läßt, bey der Heimführung Fr. Erdmuth Sophien Prinzes-
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liegt wohl an der Schwierigkeit, den Körper als vollwertiges Kommunikationsmedium zu reflektieren, und an der daraus resultierenden Überbewertung des schriftlichen Textes. Dabei ist doch der Körper durch seine unmittelbare Materialität das Medium des Ballets par excellence. Ihm eignet aber eine besondere, stumme Sprache, sei es über die Gestik und Mimik oder über die Kleider bzw. Attribute und Requisite, deren Kenntnis für das Verständnis der in der Performanz eingesetzten Beredsamkeit unerlässlich ist, will man nicht die Aufführung auf ein bloßes, oberflächliches Divertissement reduzieren.38 Bei der Analyse von Birkens dramatischen Werken ist man notwendigerweise auf die poetologischen Aussagen des Dichters sowie auf etwaige Paratexte angewiesen. Silber warnt jedoch zu Recht vor der Gefahr, auf Grund der „Distanz zwischen poetologischer Theorie und dem Dramentext“ sich auf eine spät entstandene Poetik als einzige Grundlage zu stützen.39 Dies gilt insbesondere für das „XII. Redstück“ in Birkens Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679), das „Von den Schauspielen. De Ludis Scenicis“ betitelte Kapitel.40 Dort untersucht der Dichter den Ursprung der dramatischen Gattung, ihre Untergattungen sowie alle Bestandteile des Schauspiels (Materie, Versarten, Redensart) nacheinander, zeigt sich vor allem nachträglich um eine strenge Moralisierung der Schauspiele bemüht – während er im Ballet der Natur wie selbstverständlich Verse auf heidnische Gottheiten gedichtet hatte. Ferner legt er eine Unschärfe mit den Gattungsbegriffen ‚Ballet‘ / ‚Singspiel‘ / ‚Schauspiel‘ / ‚Friedensspiel‘ an den Tag, die auf die Forscher gefährlich weiterwirkte.41 Die Kategorien sind so weit gefasst, dass er sowohl seinen Erstling Teutscher KriegsAb- und FriedensEinzug (1650) wie auch die zweiundfünfzig Jahre vorher entstandene Dafne von Opitz als „Ballet oder Danz-Spiel“ bezeichnet!42 Versucht man eine Rekonstruktion von Birkens möglichen Anregungen, so drängt sich die Nürnberger Linie als erste auf, zumal
sin zu Sachßen nach Bayreuth 1662 den 30 sten des Wintermonats in einem Tanze vorgestellet.“ Auf S. 231 findet man den Eintrag: „Opern. Liebe Herculis und Dejanirae. Eine Oper. Altenburg. Sudetische Frühlingslustt, Bayreuthische Oper.“ In diesen beiden Fällen handelt es sich jedoch um Ballets. 38 So liest man gewöhnlich in der Forschungsliteratur paradoxe Werturteile, wie etwa, dass in einem Ballet der Tanz „eine nur nebengeordnete Rolle“ gespielt habe. 39 Silber (Anm. 2), Kap.: Birkens Poetologische Grundlagen, S. 22–44, hier S. 22. 40 Birken (Anm. 15), S. 315–340. 41 Stauffer (Anm. 1), Bd. 1, S. 350: „Sophia […] höfisches Ballett (‚Singspiel‘)“. Ebd. heißt es S. 353 über das Ballet der Natur: „Ballett (‚Singspiel‘)“! 42 Birken (Anm. 15), S. 315: „Es haben auch eine gleichheit mit denselben/ die so-genannte Ballete oder Danz Spiele: worbei gewönlich/ im Druck/ den Danzenden Personen einige Reden zugeeignet werden/ um damit den Ausfund bekandt zu machen. So ein Gedichte ist/ Opitzens/ Dafne/ und mein Friedens-Ballet.“
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durch die Äquivalenz von „Ballet“ und „Danz-Spiel“, die sich an Harsdörffer zu orientieren scheint. Vor allem aber stößt man auf jesuitische Vorbilder, die Birken nachweislich bewunderte.43 In den Jesuitenschulen kam der körperlichen Ausbildung der Zöglinge ein wichtiger Stellenwert zu, wurden doch zahlreiche Schauspiele und insbesondere Ballets dort zur Aufführung gebracht. Sogar in protestantischen Gebieten wurden die pädagogischen Initiativen der Jesuiten mit Interesse verfolgt und eifrig imitiert. In seiner Poetik bemüht sich also Birken rückblickend, sein höfisches Festspiel in die inzwischen gut etablierte Gattung des Ballet zu integrieren, um sein Werk, zumal durch den Hinweis auf eine so prominente Dichterautorität wie Opitz, desto besser zu legitimieren, wohl auch um seiner Schauspieltheorie größeres Gewicht zu verleihen. Jedoch ist seine Leistung an erster Stelle als ein funktionaler Huldigungsakt zu bewerten.
4 Ästhetik und Ritual Aus diesen Erläuterungen erhellt, dass das ballet de cour viel weniger als Drama bzw. als Frühform der Oper zu betrachten ist denn als eine emblematische Darbietungsform.44 Dass die Tanzkunst von den meisten Poetikern der Zeit als eine redende Malerei, ja eine ‚Emblematik in Bewegung‘ aufgefasst wurde, wie am Beispiel von Colletets Balletvorreden deutlich zu ersehen ist,45 wird für Deutschland durch das (späte) Zeugnis Daniel Morhofs, der selber Texte auf Ballets und ‚Masqueraden‘ (1668) verfasste, bestätigt. In seiner Poetik Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682) erklärte er, die Tänzer seien „gleichsam viva emblemata“,46 und der Dichter müsse unbedingt in der „Ausbildekunst“ versiert
43 Peter Alexander von Magnus: Die Geschichte des Theaters in Lüneburg bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Lüneburg 1961, S. 69. Siehe auch Silber (Anm. 2), S. 28. 44 Im Sammelband von Gerhard F. Strasser, Mara R. Wade (Hgg.): Die Domänen des Emblems. Außerliterarische Anwendungen der Emblematik. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 39), wird das Ballet als solches nicht gewürdigt. 45 Guillaume Colletet: Le Grand Ballet des Effects de la Nature. Le Ballet de l’Harmonie (1632). Wiederabgedruckt in: Paul Lacroix: Ballets et mascarades de Cour de Henri III à Louis XIV (1581– 1652). Bd. 4. Genève 1968 [Nachdruck der Ausgabe Genève 1868–1870], S. 191–206 und 207–219. 46 Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie/ Deren Ursprung/ Fortgang und Lehrsätzen. Kiel 1682, S. 740 ff.: „Hierher gehören auch die Balletten und Masqueraden, worinne man durch Gebärden agiret/ so etwas nach des alten Roscii Art ist. Denn es bestehet allhier bloß in Außzierung der Person/ und in kunstfertiger Application des Tantzes auff die Person. Der Dichter hat sonst hierbey nichts zu thun/ als daß er die Erfindung zu Papier setze/ und etliche kurtze sinnreiche Verse vor iede Person dabey/ welche von den Zusehern
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und mit den Werken von Cesare Ripa und Jacob Masen vertraut sein. Diese Aussage wurde von der Forschung gar nicht berücksichtigt. Im Gegenteil: Es wurde immer nur nach einer dramatischen Struktur, nach einer Handlung gesucht, und falls Letztere nicht zu finden war, wurde vorschnell auf den minderwertigen Charakter der Kunstform geschlossen. Falsch ist an dieser Prämisse, dass das Ballet (zumindest in seiner ursprünglichen Form) nicht so sehr einer aristotelischen Poetik des Dramas als einer neuplatonischen Ästhetik und Kosmologie entsprach. Im Wettstreit der Künste scheint die relevante poetisch-ästhetische Alternative folgendermaßen formuliert werden zu können: ut musica saltatio/ ut pictura saltatio/ ut poesis saltatio. In Frankreich war das neuplatonisch geprägte Ideal der danse mesurée à l’antique (also nach dem Prinzip ut musica saltatio) maßgeblich, wie etwa die Versuche im Umkreis der Pléiade mit Jean Antoine de Baïf und Ronsard belegen. Unter den deutschen Poetikern war Zesen der einzige, der diese Spur stringent verfolgte.47 Die meisten Tanzpoetiker hielten es eher mit der Malerei denn mit einem dramaturgischen Ansatz, so dass die jeweiligen Realisierungen vielmehr mit einer ‚Bildphilosophie‘ zu tun hatten. De Pure etwa ging es primär um eine sinnfällige Konkretisierung, um eine Visualisierung von „Ideen“ bzw. von abstrakten Begriffen, eben durch mehr oder weniger rätselhafte Bilder.48 Ein solches Bezugssystem verstanden in Deutschland Autoren wie Adam Olearius und Herzog Anton Ulrich von Wolfenbüttel am besten; dessen Ballets sind groß-
gelesen werden/ damit sie den Innhalt des Ballets besser verstehen. Unter den Balletten und Masqueraden ist ein geringer Unterscheid. Jene sind weitläufftiger/ und haben gar viel Abtheilungen und Eintritte/ sind fast einer vollständigen Comoedie gleich/ die Masquerade hat etliche wenige Auffzüge. Die Personen werden vorgestellet gleichsam/ als viva emblemata, und kann deren Innhalt bestehen aus Historicis, fabulosis, moralibus. Sie können auch auff gewisse Fälle/ als Hochzeiten/ Geburts-Feste/ Krönungen der Könige/ und dergleichen/ gerichtet werden. Insonderheit muß hier die Außbildekunst wohlverstanden werden/ weil fast das meiste darinne bestehet/ darzu denn die Iconologia des Caesaris Ripae, Masenii Speculum imaginum veritatis occultae, gute Anleitung geben kan.“ 47 Philipp von Zesen: Deutsches Helicons Erster und Ander Theil, Oder Unterricht/ wie ein Deutscher Vers und Getichte auf mancherley Art ohne fehler recht zierlich zu schreiben. Wittenberg 1641. Nachdruck in: Ferdinand van Ingen (Hg.): Philipp von Zesen. Sämtliche Werke. Bd. 9. Bearbeitet von Ulrich Maché. Berlin 1971, S. 64–67 sowie Hochdeutscher Helikon, oder Grundrichtige Anleitung zur hoch-deutschen Dicht-und Reimkunst. Cölln an der Spre 1656. Nachdruck in: Sämtliche Werke. Bd. 10.1 und 10.2. Bearbeitet von Ulrich Maché. Berlin 1971, S. 58–63 und 180–183. 48 Stephanie Schroedter: ‚Idées‘ versus ‚règles‘ – zu Grundsätzen und Kontroversen im Tanzdiskurs des „siècle classique“. In: Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung. Hg. von Claudia Jeschke, Hans-Peter Bayerdörfer. Berlin 2000 (Documenta Choreologica), S. 240–257.
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artige choreographische Inszenierungen neuplatonischer Vorstellungen.49 Es ist übrigens kein Zufall, wenn die wichtigsten französischen Tanz- und Ballettheoretiker Jesuiten waren, wie Ménestrier, der in Anlehnung an seinen italienischen Ordensbruder Emanuele Tesauro, dessen Canocchiale Aristotelico er als grundlegend betrachtete,50 ebenfalls Devisen- und Emblembücher verfasste.51 Und bekanntlich stand Tesauro dem Hofchoreographen in Turin, Philipe d’Aglié, bei der Invention von Ballets zur Seite.52 Wenn daher Birkens konkrete Erfahrung im Bereich von Tanz und Hofballet minimal war und er professionelle „Taschenspieler, Gauckler und Seildänzer“53 wenig schätzte, so war er hingegen auf dem Gebiet der Emblematik durchaus versiert. Gerade sein Frühwerk, der KriegsAb- und FriedensEinzug, nahm sich als eine „vielschichtige, allegorisch-emblematisch strukturierte Darbietung“54 aus, ohne Handlung im Sinne von Interaktionen zwischen den Figuren etwa durch Dialoge; vielmehr war die episch-berichtende Dimension durch Monologe und Anreden der Figuren an das Publikum vorherrschend. Auch die Kostüme und Requisite spielen bei den Schauspielen eine maßgebliche Rolle, und sie sind eben nach den Prinzipien der Emblematik gestaltet.55 Am Ballet der Natur lässt sich das überdeutlich belegen, durch einen Vergleich zwischen den Angaben zur Allegorie der Natur im gedruckten Textbuch und im Briefwechsel mit Christian von Ryssell. Letzterer hatte um Überlegungen gebeten, […] wie Natura gekleidet werden möchte. […] entweder naket, tectis legendis, oder ganz in weisse leinwant alß ein weib. Was sie auf den Kopf und in der Hand haben soll stehet zu bedenken.
49 Marie-Thérèse Mourey: Auf der Suche nach der verborgenen Weltharmonie. Der frühe „Ballet de cour“. In: Tanz im Musiktheater – Tanz als Musiktheater. Hg. von Thomas Betzwieser u. a. Würzburg 2009, S. 409–421. 50 Siehe Anne Elisabeth Spica: Symbolique humaniste et emblématique. L’évolution et les genres (1580–1700). Paris 1996. Die Autorin bezeichnet Tesauro, Ménestrier und Athanasius Kircher als „das geistige Triumvirat der humanistischen Symbolik“ (S. 25). 51 Claude-François Ménestrier: L’art des emblèmes, Où s’enseigne la Morale, par les Figures de la Fable, de l’Histoire et de la Nature. Paris 1684. Nachdruck von Karl Möseneder, mit einem Beitrag „Barocke Bildphilosophie und Emblem“. Mittenwald 1981. 52 Sebastian Neumeister: „Tante belle inventioni di feste, giostre, balleti e mascherate“. Emanuele Tesauro und die barocke Festkultur. In: Theatrum Europaeum. Festschrift für Elida Maria Szarota. Hg. von Richard Brinkmann, Karl-Heinz Habersetzer. München 1982, S. 153–168. 53 Birken (Anm. 15), S. 338. 54 Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des siebzehnten Jahrhunderts. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 69), S. 351. 55 Silber (Anm. 2), S. 122: „emblematisch gestaltete Kostüme, die in ausführlichen Regieanweisungen beschrieben sind“. Es handelt sich jedoch nicht um konkret anwendbare Regieanweisungen, sondern um Erläuterungen für ein gelehrtes Publikum.
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Darauf antwortete Birken kurz: in einer kleidung oder rock: in der 4 Elemente Farben mit großen nacketen Brüsten. Weltkugel auf dem Kopf, Stab in der Hand, oder Zepter. 56
Dem entspricht der Hinweis im Textbuch: Die Natur kommet auf den Schauplatz […] in Opalfarbiger Kleidung (als die Farben der vier Elemente vorstellend) mit blosser starcker Brust/ die Weltkugel auf den Haupt/ und in der Hand einen Zepter führend.57
Das ,Ballet‘ kann demnach durchaus als eine theatrale Gattung betrachtet werden, jedoch nicht auf Grund einer pseudo-dramatischen Handlung, die im Falle vom Ballet der Natur in der Tat gar nicht vorhanden ist. Es ist ein ‚Schaustück‘, das auf der Inszenierung von unbewegten wie auch bewegten Bildern auf einer Bühne beruht. Dies galt übrigens auch schon für Birkens Teutscher KriegsAb- und FriedensEinzug (den der Dichter nachträglich als „Friedensballet“ bezeichnete!), wenn man dem Bericht des Theatrum Europaeum Glauben schenkt: [es ließen sich sehen] etliche Personen/ die stunden mit unverwandten Augen und Leibern/ als wären es Bilder; und diese Vorbildungen wurden durch Auff- und Zuziehung des Vorhangs mit unterschiedlichen Posturen oder Stellungen vor jedem Auffzug einmahl oder vier abgewechselt.
Markus Paul, der die Praxis auf das Vorbild des Niederländischen Rederijker-Theaters zurückführt, kommentiert diesen Bericht folgendermaßen: diese ‚lebenden Bilder‘ […] wurden zur Verdeutlichung des Spielverlaufs gezeigt und dürften in einer Art pantomimischer, jedoch unbewegter Darbietung das folgende Geschehen versinnbildlicht haben. 58
Es dürfte sich jedoch um eine noch relativ statische Form gehandelt haben, während das Ballet die Dynamik der Darbietung bevorzugt, durch tanzende, bewegliche Bilder. Das Ballet ist demnach als ein spätes Renaissance-Schauspiel einzustufen, das mit verschiedenen Bildertypen experimentiert: mit allegorisch-symbolischen
56 Birken (Anm. 12), S. 819 f. 57 Ballet der Natur (Anm. 6), unpaginiert, „Einleitung des Ballets“. 58 Paul (Anm. 54), S. 350; dort auch das Zitat aus dem Theatrum Europaeum. Zur Nähe von Birkens Frühwerk zur Gattung des Ballets siehe ebd. den Abschnitt: „Birkens Friedensspiel ein Ballett?“, S. 351–355.
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Bildern, aber auch mit narrativen Bildern,59 die die Funktion erfüllen, ein Thema, eine Situation bzw. eine kleine Handlung mit typischen Figurenkonstellationen (Gärtner, Fischer, Alchemisten, Bauern, usw.) zu illustrieren. Die besondere Funktion solcher Tänze innerhalb eines Schauspiels sollte also jedes Mal sorgfältig analysiert werden. Dem entsprechen übrigens zwei tänzerische Komponenten, eine danse pure, die vor allem aus geometrischen Bodenwegen besteht, ohne virtuose Sprünge bzw. komplizierte Schrittsequenzen, und eine lebhaftere danse figurée mit einem pantomimischen Anteil (Bauernszenen waren etwa sehr beliebt). Erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wird sich ein regelrechtes „Handlungsballett“ aus dem Ballet de cour herauskristallisieren.60 Da die Praxis der höfischen Schauspiele im siebzehnten Jahrhundert aber sehr kontrastreich war61 und die Aufführungsbedingungen recht ungleich, resultierten die aufgeführten Werke oft aus Kompromisslösungen. Auf jeden Fall irrt man bei der Annahme, die poetischen Texte wären bei der Aufführung von den Schauspieler-Tänzern vorgetragen worden:62 So wie sie nun im Druck des Ballet der Natur vorliegen, wurden sie teilweise tatsächlich gesungen (wie das Lied der Natur und das Lied der Pallas), teilweise nur von den Zuschauern gelesen, damit der Inhalt besser verstanden63 und somit die pan egyrische Intention erfüllt wird. Recht hatte vielmehr der von Silber zitierte Julius Tittmann,64 für den das Ballet „weiter Nichts als ein allegorisches Gemälde mit lebenden Figuren ausgeführt“ und die poetischen Texte nur „eine Erklärung der Bilder“ seien, ein Selbstkommentar der lebenden und beweglichen Bilder, die die Tänzer eigentlich sind. Dass für Birken als Dichter der Text das zentrale Element
59 Zu dieser Unterscheidung siehe Rosmarie Zeller: Sinnkünste. Sinnbilder und Gemälde in Harsdörffers „Frauenzimmer Gesprächspielen“. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. von Doris Gerstl. Nürnberg 2005 (Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg 10), S. 215–230. 60 Stephanie Schroedter: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action. Würzburg 2004 (Tanzforschungen 5). 61 In einigen Fällen (so z. B. für die Pfalz und die Schauspiele in Heidelberg zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts) war das französische „ballet de cour“ durch den Einfluss der englischen „Masque“ überlagert. S. Marie-Claude Canova-Green: The English Court Masque. In: Spectaculum Europaeum (Anm. 30), S. 523–546. 62 So Silber (Anm. 2), S. 388, der noch zwei verschiedene Varianten des Textes postuliert: „der vorliegende Text geht also offenbar erheblich über den Umfang des bei der Aufführung von den Schauspieler-Tänzern vorgetragenen Textes hinaus, da der Druck von 1662 die einzige erhaltene Textvariante darstellt […]“. Silber geht auch fälschlicherweise davon aus, das Ballet sei seiner Struktur nach ein Drama mit gesprochenen Monologen bzw. Dialogen. 63 So Morhof (Anm. 46); so auch Birken selber (Anm. 42). 64 Silber (Anm. 2), S. 388.
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war, versteht sich von selbst, hatte er doch das Ballet nicht selber „inventiret“, sondern eben nur „redend gemacht“. Die im performativen Festereignis des Ballets den Zuschauern vorgeführten, lebenden Bilder werden dann im gedruckten Textbuch kommentiert und gedeutet. Denn auf Grund der Einmaligkeit der Performanz, die ja mit ihrem Gelegenheitscharakter zusammenhängt,65 ist ihre ‚Verewigung‘ durch eine Publikation unabdingbar. Die Drucke fungierten jedoch nicht nur als nachträgliche Dokumentation des Festgeschehens für die Nachwelt, noch als Ersatz für diejenigen, die bei der Aufführung nicht dabei sein konnten, sondern sie wurden bereits im Vorfeld hergestellt und bei der Aufführung an die Zuschauer verteilt, wie es bei dem Bayreuther Ballet der Natur der Fall war. Während der Darbietung (oder danach…) konnte die Lektüre des gedichteten Textes das Verständnis und die Deutung der implizierten symbolischen Zusammenhänge erleichtern. Vor dem Hintergrund der Performanz- und Ritualtheorien kann das Ballet durchaus als eine bevorzugte symbolische Kommunikationsform der Eliten in der Frühen Neuzeit gedeutet werden. Als performativer Akt und rituelle Handlung zugleich hat es zweierlei Funktionen: Eine pragmatische und eine semantische. Zur semantischen Funktion gehört der tanzende Fürst als Hauptträger des Rituals – die physische Teilhabe des Herrschers an diesen zeremoniellen Festaufführungen ist eine unabdingbare Konstante des Repräsentationssystems,66 das der Sonnenkönig in Frankreich am besten anzuwenden gewusst hatte.67 In Deutschland hatte Anton Ulrich von Wolfenbüttel nicht davor zurückgeschreckt, in derselben Rolle wie sein königliches Vorbild, als Gott Apoll bzw. als Sonne aufzutreten. Der tanzende Fürst als irdischer Gott soll ja zur Herstellung der irdischen Harmonie beitragen, ja für sie bürgen; aber zugleich verweist er auf eine höhere, ewige Harmonie göttlicher Herkunft. Als idealer Mittler zwischen der himmlischen und der irdischen Sphäre erfüllt er daher in dieser gleichsam ‚magischen‘ Episteme eine doppelte Funktion. Andererseits verweist die Komposition der an Fürstenhöfen aufgeführten Ballets und deren Rollenzuweisungen ganz konkret auf die innere soziale Struktur des Hofes, die durch eine unverrückbare
65 Nur wenige Ballets erlebten an deutschen Fürstenhöfen eine Wiederholung nach der Erstaufführung, wie z. B. in Hannover ‚Le Charme de l’Amour‘, das 1681 im April aufgeführt wurde, sowie in einer erweiterten Fassung im August desselben Jahres. 66 Dies gilt übrigens auch in anderen Kulturen wie etwa Indien. S. Alex Michaels: Wenn Götter tanzen. Zum Verhältnis von Ritual und Tanz. In: Tanz als Anthropologie. Hg. von Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf. Paderborn 2007, S. 146–158. 67 Zu der Situation in Frankreich s. Hendrik Schulze: Französischer Tanz und Tanzmusik in Europa zur Zeit Ludwigs XIV. Identität, Kosmologie und Ritual. Hildesheim 2012 (Terpsichore. Tanzhistorische Studien 7).
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Hierarchie gekennzeichnet war. Im Ballet als zeremoniellem Akt, an welchem die Hofmitglieder sich pflichtgemäß zu beteiligen hatten, vollzog sich daher die rituelle Bekräftigung dieser Ordnung und Hierarchie innerhalb der Hofgesellschaft, an deren Spitze bzw. in deren Mitte immer der Herrscher selbst stand. Darin liegt die pragmatische Funktion der Darbietung, die auch für ein städtisches Milieu gilt: Markus Paul betont zu Recht, dass bei Birkens Friedensschauspiel nicht so sehr der Autor im Mittelpunkt stand als die Darsteller, die jungen Patrizier aus Nürnberg, die gelobt wurden. Das Schauspiel diente in erster Linie einer gezielten „Selbstdarstellung des Nürnberger Patriziats“.68 In Birkens Ballet der Natur hatte Markgraf Christian Ernst neben drei anderen Rollen die sinnträchtige Persona der Göttin der Fruchtbarkeit Ceres verkörpert, womit die Verheißung eines Goldenen Zeitalters unter seinem Regiment angedeutet wurde. Jedoch hatte er wenig Verständnis für die symbolischen und kosmologischen Hintergründe der Gattung, vielmehr sah er nur die unmittelbar pragmatische Funktion des Rituals, seine Selbstlegitimation als Herrscher und die Behauptung seiner Macht. Im Gegensatz zu ihm gab sich seine Gattin Erdmuth Sophie bis zu ihrem frühen Tod sehr oft diesem performativen Ritual hin, allerdings vor allem im vertrauten Umkreis des Dresdener Hofes, und in ganz ernsten Werken, die sich in die Tradition der allegorischen Moralitäten einreihten. Bald suchte der Markgraf nach anderen, dauerhafteren Repräsentationsformen. Im Ballet Sudetische Frühlingslust, das 1671 zu seiner zweiten Vermählung mit Sophie Louyse von Württemberg aufgeführt wurde (an dessen Text Birken vielleicht mitwirkte, obwohl es nicht eindeutig belegbar ist69), trat er gar nicht mehr auf. Bezeichnenderweise hatte in Frankreich der Sonnenkönig ebenfalls 1670 zu tanzen aufgehört. Somit wurde ein Wandel in der Ästhetik und Symbolik des Hofballets eingeführt, da das Kollektivereignis und -ritual der Hofgesellschaft von nun an weitgehend an professionelle Künstler delegiert wurde. Der Fürst war nicht mehr Akteur und Regisseur seiner Selbstinszenierung, sondern
68 Paul (Anm. 54), S. 357. Zu Recht betont der Autor, die Frage der in einem Schauspiel auftretenden Darsteller bzw. Tänzer sei von der Forschung vollkommen aus den Augen gelassen und das jeweilige Stück „fast ausschließlich unter dem Blickwinkel des Autors betrachtet und zumeist betont“ (S. 356) worden. Dies gilt ebenfalls für die von fürstlichen Personen getanzten Ballets. 69 Silber (Anm. 2), S. 420–423 zufolge hätte Birken zur zweiten Hochzeit Christian Ernsts 1671 einen „Entwurf zu einem Ballet“ verfasst, von dem jedoch keine Spur zu finden ist. Andererseits erwähnt er ein nicht datiertes Manuskript mit Notizen zu einem Ballet, das in Birkens Nachlass erhalten ist. Anita Gutmann: Hofkultur in Bayreuth zur Markgrafenzeit. 1603–1726. Bayreuth 2008, S. 148, behauptet in ihrer Studie, dass Birken der Autor des Balletlibrettos „Sudetische Frühlingslust“ (1671) sei, ohne es jedoch zu belegen. Das Textbuch erwähnt jedoch ausdrücklich den Hoftanzmeister François Maran als Inventor des Ballets.
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nur noch passiver Zuschauer. Die beiden zur Hochzeit Christian Ernsts entstandenen Werke, das Ballet der Natur sowie Sophia, bildeten somit Birkens ersten und letzten Versuch auf diesem Gebiet; später kehrte er zu erbaulichen Schauspielen mit biblischen Stoffen zurück.
Rosmarie Zeller
Sigmund von Birken im Dienst der Propaganda des Sulzbacher Hofes 1 Anlass, historischer Hintergrund Der Anlass zum Gelegenheitswerk Birkens, das im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht, hätte heutzutage alle Ingredienzien für die Regenbogenpresse. Nach dem Tod des Erzherzogs Ferdinand Karl von Österreich (1628–1662) war die Tiroler Linie der Habsburger vom Aussterben bedroht, weshalb sich dessen Bruder, der als Fürstbischof von Augsburg amtierende, aber nicht geweihte Franz Sigismund entschloss, sein Amt aufzugeben und zu heiraten. Gemäß der Darstellung von Gualdo Priorato, dessen Geschichte Leopolds die zeitnaheste Darstellung dieser Episode ist, hat der Kaiser für Sigismund Franz (1630–1665) eine Frau suchen wollen. Offenbar passte dem Kaiserhof die geplante Verbindung mit Maria Hedwig Augusta (1650–1681) von Pfalz-Sulzbach, der älteste Tochter von Pfalzgraf Christian August, nicht, und man bot ihm stattdessen die Herrschaft über Flandern an.1 Als Sigismund Franz ablehnte, weil die Prinzessin von Sulzbach den ersten Platz in seinem Herzen habe, schlug man ihm eine Dame aus dem Hause Hessen-Darmstadt vor. Die für den Erzherzog ausgewählte Prinzessin war jedoch nicht bereit, ihre lutherische Konfession aufzuge-
1 Galeazzo Gualdo Priorato: Historia di Leopoldo Cesare. Wien 1672, S. 627 ff. Gualdo Priorato berichtet, dass Sigismund Franz sich unter einem Vorwand ein Porträt der Prinzessin beschafft habe und völlig zufrieden gewesen sei mit ihren natürlichen Gaben (S. 628). Gualdo Priorato druckt auch den Ehevertrag ab. Die die Hochzeit betreffende Passage und die Transkription des Ehevertrags sind publiziert in: Rosmarie Zeller: Eine tragische Heirats-Geschichte am Sulzbacher Hof. Die Heirat von Hedwig Maria Augusta mit Sigismund Franz, Erzherzog von Österreich. In: Morgen-Glantz 27 (2017), S. 321–344. Vgl. Hans Rall: Christian August von Pfalz-Sulzbach als regierender Herzog (1656–1708) und als Familienvater. In: Land und Reich. Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven Bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag. Hg. von Andreas Kraus. Bd. 2. München 1984, S. 181–194, hier S. 185 f. Rall kennt weder den Ehevertrag noch die Darstellung von Gualdo Priorato noch jene von Franciscus Mercurius van Helmont in der Vorrede seiner Übersetzung von Pisanis Gesetzen und Ordnungen (siehe Anm. 46). Die amtlichen Dokumente sind kommentiert in: „Die mitten im Winter grünende Pfaltz“. 350 Jahre Wittelsbacher Fürstentum Pfalz-Sulzbach (Katalog zur Ausstellung 2006). Sulzbach-Rosenberg 2006, Nr. 176 f. https://doi.org/10.1515/9783110593129-215
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ben, so dass Sigismund Franz auf seiner Heirat mit der pfälzischen Prinzessin bestand. Am 13. Juni 1665 wurde die Hochzeit per Prokuration durch den Weihbischof von Regensburg in Sulzbach vollzogen. Am 25. Juni 1665 starb Sigismund Franz, nachdem er sich angeblich bei der Jagd erhitzt hatte.2 Ohne dass sich Braut und Bräutigam je gesehen hatten, war die Braut schon Witwe. Diese außerordentliche Konstellation wird nun Gegenstand von Birkens im Auftrag des Sulzbacher Hofes verfassten Gelegenheitsschrift Abgebrochener Hoch-FürstlichÖsterreichischer Regenten-Zweig3 wie auch einer Leichenpredigt des Sulzbacher Stadtpfarrers Franz Höchtel,4 während in den anderen Texten zum Tod von Sigismund Franz – in der von Kaiser Leopold I. veranlassten Leichenpredigt,5
2 Siehe die Beschreibung im Theatrum Europaeum: Der Kaiser habe sich auf einer Wallfahrt nach Mariazell befunden, als ihn die Nachricht vom Tod des Erzherzogs erreichte, was ihn veranlasste nach Wien zurückzukehren. „so kam ein Ertzhertzogl. Kammer-Diener von Inspruck dahin mit der traurigen Zeitung/ daß Se. Hoch-Ertzfürstl. Durchl. Herr Ertz-Hertzog Sigismund Frantz/ am 14./24. Junij vor Mittage/ mit Todt abgangen/ nachdem er sich zuvorher etwas unpäßlich befunden/ gejagt/ gefischt/ dabey sich erhitzet und darüber einen Trunck kaltes Wasser gethan hätte/ worauff er sich nach Hofe begeben/ und daselbst niederlegen auch gar den Geist auffgeben müssen.“ (Theatrum Europaeum. 9. Teil. Frankfurt a. M. 1672, S. 1511). 3 Sigmund von Birken: Abgebrochener Hoch-Fürstlich Oesterreichischer Regenten-Zweig/ Der Durchleuchtigster Erzherzog HERR HERR SIGISMUNDUS FRANCISCUS. Der Durchleuchtigsten Erzherzoginn Frauen Frauen MARJEN HEDWJG AUGUSTEN Gebohrnen Pfalzgrävin bey Rhein/ Herzoginn in Bayrn/ Gülich/ Cleve und Bergen/ etc. Die Er heimführen wollen/ durch den Tod entführet/ und von den Lebenden beträhnet. Samt der Oesterreich- Bayr- und Pfälzischen Hochf. Stammverwandtschaft. Nürnberg 1665. Irmgard Scheitler hat in ihrem Aufsatz: Der Kilanische Gärtner. Rätsel um ein Schauspiel zur Fürstenhochzeit in Sulzbach 1668. In: Morgen-Glantz 21 (2011), S. 235–258, auf diesen bisher von der Forschung nicht beachteten Text aufmerksam gemacht. 4 Franz Höchtel: MŒSTUS THORUS ARCHIDUCALIS, Das ist Trau- und Trauer BETT des Weyland Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn SIGISMUNDI FRANCISCI, Ertzherzogen zu Oestreich/ Hertzogen zu Burgund […] Höchstgedachter Jhrer Hochseligsten Ertzfürstl. Durchl. nachgelassener hochbetrübten Frau Gemahlin/ Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen MARIAE HEDWIG AUGUSTAE, Verwittibten Ertzherzogin zu Oestreich/ Hertzogin zu Burgund […] Jn einer Leich- und Trauer-Predigt vorgestellt/ zu Sultzbach in der Fürstl. SchloßCapellen den 12. Augusti des 1665. Jahrs. Von FRANCISCO Höchteln, Prothonotario Apostolico, und Fürstl. Pfaltzgrävischen Residentz- und Stadtpfarrern. Sulzbach o. J. [1665]. Siehe: Nr. 39 im Katalog der katholischen Leichenpredigten. In: Oratio Funebris. Die katholische Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Zwölf Studien. Mit einem Katalog deutschsprachiger katholischer Leichenpredigten in Einzeldrucken 1576–1799 aus den Beständen der Stiftsbibliothek Klosterneuburg und der Universitätsbibliothek Eichstätt. Hg. von Birgit Boge, Ralf Georg Bogner. Amsterdam 1999 (Chloe 30). Zu Höchtel bzw. Höchtl vgl. „Die mitten im Winter grünende Pfaltz“ (Anm. 1), Nr. 178, S. 382. 5 Ernst Bidermann SJ: Ehren-Crone Vnsterblicher Helden-Tugenten Mit welchen deß weyland Durchleüchtigsten Fürsten vnnd Herrens Herrens Sigismund Francisci/ Ertzhertzogens zu Oes-
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im Theatrum Europaeum6 und in den zwei Epicedien7 – diese Heirat nicht bzw. als bevorstehend erwähnt wird. Anzumerken ist, dass der nicht einmal drei Jahre regierende Erzherzog Sigismund Franz die Aufmerksamkeit der Historiker kaum auf sich gezogen hat, so dass die Quellen äußerst spärlich sind.8 Die ausführlichste und zeitnaheste, wenn auch im Sinne des Kaiserhofs verfasste Quelle ist wahrscheinlich die Darstellung von Galeazzo Gualdo Priorato in seiner Historia di Leopoldo Cesare.9 Die späteren Darstellungen fußen auf dieser Quelle.
2 Birkens Beziehung zu Sulzbach Es stellt sich die Frage, wie Birken dazu kommt, für den Sulzbacher Hof ein Epicedium zu verfassen, welches zudem, wie zu zeigen sein wird, eigentlich kein Epicedium ist. Es lassen sich sehr wenige Beziehungen vom Hof in Sulzbach zum benachbarten Nürnberg nachweisen, obwohl solche zweifellos bestanden, auch wenn der Sulzbacher Hof wegen seiner judenfreundlichen Haltung und generell seiner toleranten Konfessionspolitik, seiner Nähe zu nicht-orthodoxen lutheri-
terreich etc. etc. Preyßwürdiger Lebens Wandel herrlich gezieret war. […] Innsbruck [1665]. Siehe: Oratio Funebris (Anm. 4), Nr. 40. 6 Theatrum Europaeum (Anm. 2). 7 Klag- vnd Trost-Gedichte Vber den Früh-zeitigen doch Seeligsten hintritt Deß Durchleuchtigsten Fürsten vnd Herrn, Herren SIGISMUNDI FRANCISCI, […]. Von der Gesellschafft der für diesem zu Jnsbrugg bedienten Comoedianten. O. O. 1665. Dieses Epicedium ist zum Trost des Kaisers verfasst. Johann Heinrich Fitzing von Fitzingsheimb: NÆNIA Oder trawriges Klag-Gedicht Vber den […] Hintritt deß […] Herrn SIGISMVNDI Ertz-Hertzogen zu Oesterreich/ etc. S. Hoch-Fürstl: Durchl: so den 25. Junij Anno 1665 […] diese Welt mit vnsterblich-hinterlassenen Hoch-Fürstlichen Ehren-Ruhm gesegnet. […] Wien 1665. Der Text von Birken, die zwei Gedichte und die zwei Predigten von Höchtel und Bidermann scheinen die einzigen Schriften zu sein, die sich im Zusammenhang mit Sigismund Franz’ Tod nachweisen lassen. 8 Der Eintrag über Sigismund Franz in: Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Brigitte Hamann. München 1988, S. 420, stützt sich auf Weissegger (siehe Anm. 9). 9 Gualdo Priorato (Anm. 1). Gualdo Priorato war seit 1663 kaiserlicher Hofhistoriograph (Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 60, 2003 (http://www.treccani.it/enciclopedia/galeazzo-gualdo-priorato_%28Dizionario_Biografico%29/). La Mausolée de la Toison d’Or […]. Amsterdam 1689, S. 434–437, enthält das lateinische Bildgedicht in Form einer Zypresse aus dem Anhang der Leichenpredigt von Franz Höchtel (Anm. 4). Joseph Maria Weissegger: Historische Gemälde oder biographische Schilderungen aller Herrscher und Prinzen des durchlauchtigen Erzhauses Habsburg Oesterreich. 4. Bd. Kempten 1803, S. 379–382, stützt sich auf Gualdo Priorato. Der Eintrag im Biographischen Lexikon des Kaisertums Österreichs von Constantin von Wurzbach. 7. Teil. Wien 1871, S. 148, scheint Gualdo Priorato nicht zu kennen.
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schen Strömungen und seinem Interesse an Naturmagie, Alchemie und später an der Kabbala vielen Zeitgenossen eher suspekt war.10 1657 hielt Johann Michael Dilherr die Leichenpredigt auf Pfalzgräfin Hedwig, die protestantische Mutter Christian Augusts, die am Ende ihres Lebens in Nürnberg lebte und starb.11 Man kann sich vorstellen, dass Dilherr Birken als Verfasser des Epicediums nach Sulzbach vermittelt hat. Eine weitere Möglichkeit einer Vermittlung könnte über die Familie Windischgrätz gelaufen sein. Birken hat Gottlieb von Windischgrätz 1652 kennengelernt und führte seit 1653 einen Briefwechsel ihm.12 1665 hat die Hochzeit von Gottlieb von Windischgrätz mit Maria Eleonora von Oettingen stattgefunden, für die Birken ein Gesprächspiel verfasst hat.13 Die älteste Schwester von Christian August, Anna Sophia (1621–1675), verheiratet mit Joachim Ernst von Oettingen (1612–1659), war die Mutter der Braut, die Braut also eine Nichte Christian Augusts.14 Eine weitere mögliche Person, die als Vermittler gewirkt haben könnte, ist Andreas Georg I. Paumgartner (1613–1686) von Holenstein und Lonnerstadt, ein Nürnberger Patrizier, der auch als Rat am Sulzbacher Hof wirkte. Dieser hat nämlich bei Birken ein Gedicht in Auftrag gegeben für die zweite Hochzeit von Hedwig Maria Augusta, welches als Nr. CV in Birkens handschriftlicher Gedichte-Sammlung Lorbeer-Wälder figuriert.15 Er hat möglicherweise auch ein
10 Zum Sulzbacher Hof siehe „Die mitten im Winter grünende Pfaltz“ (Anm. 1); Klaus Jaitner: Der Pfalz-Sulzbacher Hof in der europäischen Ideengeschichte des 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Beiträge 8 (1988), S. 273–404; Manfred Finke: Sulzbach im 17. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte einer süddeutschen Residenz. Regensburg 1998. 11 Johann Michael Dilherr: Hertzliches Verlangen und Beständige Hoffnung Der Christlich-Sterbenden/ aus dem 1. Vers. deß 25. Psalm. Bei Hochansehlicher Leich-Begängnuß der Durchleuchtigen Fürstin und Frauen/ Frauen Hedwig/ Pfaltzgräfin bei Rein […]. Zu Nürnberg/ in der Kirchen zum Salvator, an dem 2. Tage Junii/ deß 1657ten Jahrs. Nürnberg 1658. 12 Siehe dazu: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer […] und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Tübingen 2007, S. XLII–L, S. 259 ff. (Werke und Korrespondenz 9 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 53). 13 Sigmund von Birken: Pegnesische Gesprächspiel-Gesellschaft von Nymfen und Hirten bey dem Windischgrätz-Oettingischen HochGräflichen Beylager/ aufgeführet/ durch den Erwachsenen. Nürnberg 1665. Die Hochzeit fand am 2. April 1665 statt (siehe Sigmund von Birken: Tagebücher. Hg. von Joachim Kröll. Teil 1. Würzburg 1971, S. 175). 14 Siehe den Stammbaum in „Die mitten im Winter grünende Pfaltz“ (Anm. 1), im vorderen Deckel und in Sigmund von Birkens Gesprächspiel-Gesellschaft (Anm. 13), S. 32. 15 Für diesen Hinweis danke ich Ralf Schuster. Das Gedicht Nr. CV trägt in der Sammlung den Titel „Uber einen BlumenKrug zum Beylager Jhrer HochFürstlichen Durchleucht Herrn Herrn Julii Francisci Herzogens zu Sachsen-Lauenburg und Frauen Frauen Maria Hedwig Augustae verwittibten Erzherzogin zu Oesterreich, gebornen Pfalzgräfin bey Rhein etc.“ In: Sigmund von Birken: Poetische Lorbeer-Wälder. Hg. von Ralf Schuster in Zusammenarbeit mit Hartmut Laufhütte. Berlin, Boston 2018 (Werke und Korrespondenz 3 = Neudrucke Deutscher Literaturwer-
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Gedicht in Auftrag gegeben, das für die Begrüßung des Markgrafen von Brandenburg-Ansbach bei einem geplanten, aber wohl ausgefallenen Besuch 1680 in Sulzbach bestimmt war.16 Sucht man nach Nürnberger Spuren in der Bibliothek des Pfalzgrafen, deren Katalog erhalten ist, ist die Ausbeute ziemlich mager.17 Von Dilherr finden sich vor allem Predigten, vom Ende der Vierzigerjahre, also aus der Zeit vor der Konversion Christian Augusts zum Katholizismus, die um die Jahreswende 1655/1656 erfolgte, einzige Ausnahme ist, abgesehen natürlich von der erwähnten Leichenpredigt auf Christian Augusts Mutter, eine Leichenpredigt auf Amalia von Stubenberg von 1665.18 Von Birken findet man lediglich: Todes-gedancken und Todes-Andencken 1670 und Floridans Lieb- und Lob-Andencken 1670. Das heißt, es befindet sich kein Buch von Birken, das vor dem Kontakt von 1665 erschienen ist, in der Sulzbacher Bibliothek. Man kann aber trotz des Fehlens von Birkens Schriften in der Sulzbacher Bibliothek annehmen, dass er am Fürstenhof als Verfasser von Genealogien und als Kenner des Habsburgischen Kaiserhauses bekannt war. Bei dem freundschaftlichen Verkehr zwischen Dilherr und Birken wusste ersterer sicher, dass Birken am Spiegel der Ehren, einer historischen Darstellung der Habsburger von Rudolf I. bis Maximilian I., die 1668 herauskam, arbeitete. In Sulzbach kannte man vielleicht auch den Ostländischen Lorbeerhaÿn (1657), einen Fürstenspiegel des Hauses Österreich mit einem „Österreichischen Stamm- und Zeitregister“ im Anhang, in dem auch Sigismund Franz aufgeführt ist.19 Jemanden, der sich in der Genealogie auskennt, brauchte man offenbar, weil es darum ging, wie ich zeigen möchte, dass durch das Epicedium auf den Tod Sigismund Franz’ und einige weitere Maßnahmen bewiesen werden sollte, dass Maria Hedwig Augusta
ke 93 f.), S. 172 und Kommentar S. 504. Eine lateinische Fassung des Gedichts („Jn Nuptias Julii Francisci Ducis Saxo-Lauenburgensis et Mariae Hedwigae Augustae Comitis Palatinae“) findet sich als Nr. 193 in: Betuletum. Hg. von Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Berlin, Boston 2017 (Werke und Korrespondenz 4 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 90 f.), S. 169 und Kommentar S. 835 f. 16 Auch für diesen Hinweis danke ich Herrn Schuster. Das Gedicht steht als Nr. 158 in der Sammlung Lorbeer-Wälder (ebd., S. 291–293, 669 f.). 17 Der Katalog ist auf der Internet-Seite der Bayerischen Staatsbibliothek online zugänglich: Signatur: Cbm Cat. 580. 18 Johann Michael Dilherr: Stubenbergische Seelen-Erquickung: Bey hochansehnlicher und Volckreicher Leichbestattung Der […] Amalia/ Herrin von Stubenberg/ [et]c. geborner Herrin von Lichtenstein von Murrau/ [et]c. Einer recht-Gottsfürchtigen Hanna/ und guththätigen Tabea/ In der Gottsacker Kirchen zu St. Johannis […] An dem 19. Tag des Christmonaths [1661] gezeiget/ Von Johann Michael Dilherrn/ Predigern bei S. Sebald/ und Professorn. Nürnberg 1665. 19 Sigmund von Birken: Der Ostländische Lorbeerhaÿn […]. Nürnberg 1657, S. 460.
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die rechtmäßig angetraute Gattin des Verstorbenen war und damit Anrecht auf die entsprechende Ausstattung hatte. In Sulzbach hat man am 12. August 1665 für Sigismund Franz Exequien gefeiert, wobei auch ein Trauergerüst aufgebaut wurde, welches im Anhang der Predigt von Franz Höchtel abgebildet ist.20 Die Exequien in Innsbruck wurden erst vom 18. bis 20. September 1665 in der dortigen Jesuitenkirche gefeiert.21
3 Entstehung Die Entstehung von Birkens Schrift ist im Tagebuch gut dokumentiert. Am 2. August 1665 notiert er in sein Tagebuch: „das Project des Epicedij Austriaci nach Sulzbach gesendet durch Herrn Dilherrn.“22 Offensichtlich musste in Sulzbach das Einverständnis zum Projekt eingeholt werden, was verständlich ist, wenn meine These stimmt, dass es weniger um das Lob des Verstorbenen als vielmehr um dasjenige seiner Ehefrau geht. Die Notiz weist zudem darauf hin, dass der Kontakt zu Sulzbach über Dilherr funktionierte. Am 11. August 1665 notiert Birken: „zum Epicedio colligirt.“, am 14.8. und am 16.8. „Am Epicedio 1½ Blatt geschrieben.“ Am 17.8. heißt es: „Am Epicedio fortgeschrieben“, ebenfalls am 19.8. und 21.8. Am 22.8. ist er fertig: „das Epicedium absolvirt.“23 Zum 23.8. steht im Tagebuch: „Herrn Baumgartner das Epicedium ausgehändigt.“ und zum 28.8. „Herr Paumgartner mich besuchet, das Epicedium zum druck wieder eingehändigt.“24 Dieser Herr Baumgartner ist mit größter Wahrscheinlichkeit der oben genannte Andreas Georg I. Paumgartner, welcher offenbar die Schrift vor dem Druck nochmals kontrollieren ließ. Am 6. September notiert Birken: „das Epicedium Sigismundi Austriaci ausgedruckt worden. 5 Bogen in Folio.“25 In der Tat hat die Schrift 20 Seiten. Am 21. September notiert er: „Vor das Sulzbachische Epicedium 20 Jmperiales Honorarium bekommen, davon 2 Jmperiales Eleemosyna. 20 Reichstaler.“26 Birken hat von dem beträchtlichen Honorar zwei Reichstaler als Almosen abgetreten, was er öfters getan hat. Die Bezeichnung „Epicedium“ ist allerdings insofern irreführend, als es sich nicht, wie zu erwarten, um ein Gedicht handelt. Das Epicedium enthält zwar am Schluss auch ein Klag- und TrostGedicht an die Witwe. Der Hauptteil der Schrift wird aber von einem Prosatext eingenommen.
4 Der Aufbau von Birkens Schrift Birkens Schrift beginnt ohne Überschrift mit einer Widmung an Maria Hedwig Augusta, und zwar mit den Worten Marias aus Joh 20,13. „Sie haben meinen Herrn weggenommen.“ Im Gegensatz zu dieser Maria wisse die Sulzbachische Maria, wo sich ihr Gemahl befinde, nämlich in Gottes Hand, während sich sein Leib in der Erzfürstlichen Begräbnis-Gruft befinde, der Nachruhm aber im Herzen der Gemahlin. Er vergleicht sie mit Artemisia, die die Asche ihres Mannes Maussolos mit Wein vermischt getrunken habe, um ihm selbst ein Grab zu sein. Artemisia habe dann alle Kunstredner aus Griechenland berufen, die „ihm gleichfalls ein Mausoleum von Leich-Lob-Reden aufgebaut.“ Das werde auch Maria Hedwig Augusta machen, was eine Anspielung darauf sein könnte, dass Maria Hedwig Augusta bzw. deren Vater diese Schrift in Auftrag gegeben hat. Birken selbst nennt seine Schrift eine „Klag- und EhrenSchrift.“ Nach der Widmung beginnt Birkens Schrift nicht etwa mit der Erzählung des seltsamen Ereignisses, sondern vielmehr mit einer Reflexion darüber, wie das Leid in die Welt gekommen sei. Seit die Erzeltern gesündigt haben, sind das Leid und die Fortuna in die Welt gekommen. In für ihn typisch poetischer Manier beschreibt er nun den Glückswechsel mittels Reimen, die das Gegensätzliche zusammenbringen: Dannenhero denkt das Glücke/ im anlachen wie es uns bald möge weinend machen. Es droht/ den Sturz/ im Erheben; das Betrüben im Lieben; das Regen-weinen bey Sonnenscheinen; das Leiden in Freuden. So ungereimt reimt unsre sachen zusammen/ das gewöhnlich auf Tücke gereimte Glücke.27
26 Ebd., S. 202; PBlO.B.2.1.4, 32r. Alle Tagebuchstellen werden mit aufgelösten Abkürzungen nach dem Original wiedergegeben. Ich danke Herrn Hartmut Laufhütte und Herrn Ralf Schuster für die Transkription, die Deutung und die Bewertung des Honorars. 20 Reichstaler waren ein beträchtliches Honorar, wenn man bedenkt, dass Birken damit etwa 9 Monate seine Miete bezahlen konnte. Das Haus seiner Frau in Bayreuth wurde 1660 für 500 Reichstaler verkauft. 27 Birken: Abgebrochener Regenten-Zweig (Anm. 3), Bl. Ajjjr.
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Er führt dann die Metapher des Reims weiter fort, indem er sogar noch einen Echo-Reim einführt. Der Tod beschließe „den KlagReim der zeitlichen Leiden mit Ewigen Freuden/ und kommet mit dem allerschönsten Echo/ des Sterbenden Elende Ende zu geben.“ Der Tod reime Scheiden und Leiden zusammen. Mit diesen Wort- und Reimspielereien, wo das Glück und der Tod selbst zu Reimeschmieden werden, macht Birken gleich auf der ersten Seite seiner Schrift darauf aufmerksam, dass er als Dichter spricht, der die seltsame Konstellation dieses Todesfalles, wo der Tod unmittelbar auf die Hochzeit folgte, für seine Inventio zu nutzen weiß. Birken umschreibt die Gattung Epicedium in seiner Teutschen Rede-bindund Dicht-Kunst auf folgende Weise: „In den LeichGedichten oder Epicediis, ist hauptsächlich dreyerlei zu beobachten/ des Verstorbenen Lob/ die Klage/ und der Trost für die Hinterbliebenen.“28 Wenn hier das Lob des Verstorbenen an erster Stelle steht, welches dann „notwendig eine Klage nach sich“ ziehe, „weil man soviel treffliches an und mit ihm verloren“,29 so hält er sich im Abgebrochenen Regenten-Zweig nicht an diese Reihenfolge, ja er verzichtet überhaupt auf ein Lob des Verstorbenen und beklagt vielmehr die durch den Tod eingetretene Reduktion der Habsburger-Dynastie auf einen einzigen Zweig, nämlich den des Kaisers, der 1665 noch nicht verheiratet war, auf dem also die ganzen Hoffnungen lagen. Der Hauptteil der Schrift, ist zur Hauptsache dynastisch ausgerichtet und enthält nicht weniger als drei verschiedene Stammbäume, was für ein Epicedium ungewöhnlich ist, jedoch zu den Gepflogenheiten der Pegnitz-Schäfer in Hochzeitsgedichten gehört.30 Zunächst führt Birken die im Titel gegebene Metapher des abgebrochenen Zweiges aus: Vor zehn Jahren habe das „ErzHaus Oesterreich […] mit 8 Aesten und Zweigen […] herrlich gegrünet.“ Nun aber seien diese Zweige bis auf zwei abgebrochen. Er zählt die Todesfälle auf, die das Haus Habsburg in den Jahren 1654 (Tod Ferdinands IV.) bis 1665 erlebt hat. Die zwei übriggebliebenen Äste – es handelt sich um Sigismund Franz und um Leopold I. – hätten durch ihre Heirat viele frische Zweige versprochen. Zwischen Sigismund Franz und Leopold I. bestand insofern eine Gemeinsamkeit, als sie beide für eine geistliche Laufbahn bestimmt waren und sich wegen des Todes eines Bruders entschlossen, eine weltliche Laufbahn einzuschlagen und zu heiraten, um den Fortgang der Dynastie zu
28 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679. Reprint: Hildesheim, New York 1971, S. 226. 29 Ebd. 30 Siehe insbesondere auch Birkens im selben Jahr entstandenes Hochzeitsgedicht auf die Hochzeit von Gottlieb von Windischgrätz (Anm. 13).
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gewährleisten. Umso schlimmer, dass nun der eine der beiden Äste auch noch abgebrochen ist. Mit Bezug auf Prediger 1,8 f. merkt Birken an, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe, und so habe es auch schon früher außerordentliche Trauerfälle im Hause Habsburg gegeben, was für die Erzfürstliche Witwe ein Trost sein soll. Es werden neun Fälle aufgezählt, wo der Bräutigam, manchmal auch die Braut meistens vor vollzogener Ehe starb. Diese Fälle werden anschließend in einem Stammbaum dargestellt. Der Unterschied sei allerdings, dass mit dem Tod von Sigismund Franz ein Zweig abgebrochen sei, von dem man im ganzen Reich gehofft habe, dass sich durch die Vermählung mit Maria Hedwig Augusta „der Höchstlöbl. Erzstamm […] gleichsam verjüngen/ und aufs neue prächtig fortzweigen und steigen würde.“31 Darauf folgt nicht etwa, wie man vielleicht erwarten könnte, ein weiterer Trost, sondern es werden die fürstlichen Stammhäuser mit der Mangrove verglichen, welche sich durch ihre Äste, indem sie sie in die Erde senkt, fortpflanzt. So würden die fürstlichen Stammhäuser „in welchen ein Zweig oder Ast/ wann er schon nach der Erden sich geneiget und sterbend sich darein begraben hat/ einen anderen empor- und hervortreibet/ und solcher gestalt der Stamm sich so weit ausbreitet/ daß er endlich ganze Länder überschattet/ nehret und bewirtet.“32 Entgegen dem, was zu erwarten wäre, nämlich Klage und Trost, wechselt hier der Diskurs. Es geht nicht um das Lob von Sigismund Franz, sondern offenbar um jenes des auf einen Zweig geschrumpften Hauses Habsburg, was noch deutlicher wird, wenn Birken ausführt, dass Kaiser Rudolf I. einen solchen „Regenten Baum“ begründet habe, dessen Nachkommenschaft nicht nur Österreich, sondern auch „Teutschland/ Hispanien/ Hungarn und Böheim/ auch in America/ ein grosses Theil der Welt überschattet“ habe, zudem durch die Töchter als Stammesmütter „alle heutige König- Chur- und Fürstliche Familien“ fortgepflanzt habe.33 Aber nicht nur das, der österreichische Stamm hat sich viermal mit dem pfälzischen Stamm und zehnmal mit dem bayerischen Stamm vermählt. Damit weist Birken nach, dass Maria Hedwig Augusta letztlich wie ihr Ehemann auf die Verbindungen der beiden Töchter Rudolfs I., des ersten deutschen Königs34 aus dem Hause Habsburg, mit Pfalzgraf Ludwig bzw. mit Otto Herzog in Bayern zurückgehen, was er wiederum mit einem Stammbaum belegt, auch dies eine Gemeinsamkeit
31 Birken: Abgebrochener Regenten-Zweig (Anm. 3), S. 10. 32 Ebd. Für das Bild der Fürstenhäuser mit einem sich ausbreitenden Baum verweist Birken auf die Bibel: „Daniel 4, v. 7 und Eccl. 3, v. 4.“ 33 Birken: Abgebrochener Regenten-Zweig (Anm. 3), S. 10. 34 Birken schreibt im Stammbaum „Röm. Kayser“, was aber falsch ist.
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mit dem Windischgrätzschen Stammbaum. Birken hebt hervor, dass die beiden Eheleute in Kaiser Ferdinand I. einen noch näheren Stammvater hätten, von dem sowohl Sigismund Franz wie auch Christian August über die Tochter von Ferdinand I., Maria Wilhelmine, Herzogin zu Jülich-Kleve-Berg, abstammen, was wiederum in Form eines Stammbaums dargelegt wird. Dies alles scheint allein dem Zweck zu dienen, die würdige und dem Habsburger ebenbürtige Abstammung dieser dem Kaiserhaus nicht genehmen Braut Maria Hedwig Augusta zu belegen. Die Perspektive verschiebt sich im Laufe des Textes zunehmend auf die Witwe, was sich im Grunde schon im Titel andeutet, wo die Witwe, wenn auch mit etwas kleineren Buchstaben ebenfalls genannt ist. Es werden ausführlich die Umstände der Hochzeit beschrieben, insbesondere die Omina, die zeigen, dass die Hochzeit unter keinem glücklichen Stern stand, ebenso wurde auch auf der Seite des Erzherzogs der Tod von solchen Vorzeichen angekündigt. Diese Vorzeichen, die sich auch bei Gualdo Priorato und bei Höchtel finden, nicht aber in den zwei anderen Klaggedichten, müssen Birken vom Sulzbacher Hof mitgeteilt worden sein. Als der Graf von Königseck zur Vermählung von Innsbruck abreiste, gab es ein Erdbeben. Ob die Erde vor Freude gebebt habe, dass sie Sigismund Franz bald einschließen werde oder vor Unmut darüber, dass die Wünsche der Landeskinder begraben werden mussten, bleibe offen. Das Erdbeben kann übrigens nichts besonders stark gewesen sein, es wird in den Erdbeben-Listen nicht aufgeführt. Das zweite Ereignis betrifft das Porträt des Erzherzogs, das er seiner Braut verehrt hatte; dieses offenbar als Schmuckstück gestaltete Porträt hatte auf der Rückseite einen mit Diamanten gefassten Safir, darunter eine Perle, welche offenbar wiederum von einem Diamanten geschmückt wurde. Dieser sprang am Hochzeitsmorgen weg, und man hat ihn, obwohl man es gleich bemerkte, nicht mehr gefunden. Drittens hätten die Glocken beim dritten Mal so geläutet, wie sie dies nur zur Beerdigung täten. Die Viertelstunden-Glocke habe viele Schläge nacheinander geschlagen. Viertens sei die Familie in schwarz erschienen, weil die Schwester der Brautmutter ein halbes Jahr zuvor gestorben war. Auf der Seite, auf der der Abgesandte des Erzherzogs saß, hätten die Kerzen nur mit sehr kleiner Flamme gebrannt. Die Trauung habe an einem Samstag stattgefunden, weil Christian August wollte, dass sie am Tag des Heiligen Antonius von Padua stattfinde. Samstag ist aber der Tag des Saturn. Am 21. Juni, also vier Tage vor dem Tod des Erzherzogs, ist der Erzherzogin beim Essen der Stein aus dem Trauring gefallen, „welcher Zufall jederzeit/ vermählten Personen/ einen Unglücks- oder Todesfall geweissaget.“35
35 Birken: Abgebrochener Regenten-Zweig (Anm. 3), S. 15.
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Auf der Seite des Erzherzogs waren die das Unglück bedeutenden Vorzeichen folgende: eine weiße Forelle, die der Erzherzog in einem besonderen Behälter hielt und fütterte, ist drei Tage vor ihm gestorben. Zudem ist in dieser Zeit auch ein Komet erschienen. In der Tat gab es 1665 einen großen Kometen, der mit bloßem Auge gesehen werden konnte und zu zahlreichen Kometenschriften führte.36 Diese Omina kündigen alle den Tod an, der nun wiederum aus der Per spektive der Erzherzogin in einer Reihe von Oxymora beschrieben wird: „Sie finge an/ denjenigen todt zu wissen/ in welchem Sie unlangst zu leben angefangen. Sie vernahme seine Abfahrt vor ihrer Heimführung. […] Sie sahe nun ihr Brautbett in einen Leichensarg verwandelt.“ Besonders ausführlich wird der durch die nicht vollzogene Ehe entstandene Zustand beschrieben: „Hingegen hatte dieser Todesfall/ die widerwärtige Namen/ Braut und Gemahlinn/ Freulinn und Frau/ Jungfrau und Wittib/ in und bey ihr vermählet.“37 Der Narratio schließt sich der Trost an, dass Sigismund Franz nun das irdische mit dem himmlischen Österreich vertauscht habe, was wiederum ein Topos ist, den Birken in seiner Poetik für Epicedien empfiehlt.38 Das Erzhaus aber, das einen Ast verloren hat, finde seinen Trost im Sinnbild des Titelkupfers. Dieses ist auch ein eher ungewöhnlicher Bestandteil eines Epicediums, aber typisch für Schriften Birkens. Es zeigt je zwei Reihen von Baumstämmen, deren Äste gebogen sind und sich zu einem Blätterdach vereinigen. In der Mitte befindet sich der mit Rudolf Imperator angeschriebene Hauptstamm, darüber das kaiserliche Wappen mit dem Doppeladler und dem Namen „Leop. Imp.“ Leopold wird 1666 seine Cousine Margareta Teresa von Spanien (geb. 1651) in erster Ehe heiraten, eine Heirat, die 1665 schon vorbereitet wurde. Birken hat also allen Grund, zu betonen, dass man von Leopold Nachkommen erwarte. Die Wappen auf der linken Seite betreffen die Habsburger, diejenigen auf der rechten die Pfälzer (Löwen) und Bayern. Die
36 Siehe z. B.: Sigismund Treu: Abzeichnung Dessen allhie zu Altdorff/ in diesem 1665 Jahr/ in aquario und piscibus erschienenen Cometen […]. Nürnberg 1665. VD 17 verzeichnet mehr als 20 Schriften zu diesem Kometen. Birken hat sich selbst auch mit diesem Kometen beschäftigt, denn er trägt in sein Tagebuch unter dem Datum des 25. Januar 1665 ein: „Felseckern einen Cometen Tittel erfunden“ (Tagebücher [Anm. 13], Bd. 1, S. 159; PBlO.B.2.1.4, 21r). Dabei handelt es sich vielleicht um die bei Felßecker erschienene Schrift von Thomas Bartholin: Cometen/ Propheten: Ein kurtzer doch ausführlicher Bericht/ von der Comet-Sternen Natur und Würckung; Samt einer Erzehlung Aller Cometen und ihrer Geschichten/ soviel deren von Anfang der Welt her/ in Historien auffgezeichnet worden/ und was jederzeit darauf erfolget/ […]. Nürnberg 1665, die ein auffälliges mit Emblemen ausgestattetes Titelblatt hat, was bei Kometenschriften unüblich ist. 37 Birken: Abgebrochener Regenten-Zweig (Anm. 3), S. 16. 38 Birken: Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 28), S. 228.
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Stämme sind nummeriert. Die Nummerierung bezieht sich auf die „OesterreichPfalz- und Bäyrischen Hoch-Fürstlichen Stammverwandtschaft-Tafel“, welche die Verwandtschaft der Häuser Österreich, Pfalz und Bayern illustriert.39 Die Stämme Nr. 14 in der inneren Reihe im Vordergrund beziehen sich auf Sigismund Franz und Maria Hedwig Augusta. Drei Putti, welche ein Spruchband halten, sind links, rechts und über den Stämmen angebracht. Der linke Putto hat einen abgebrochenen Zweig in der Hand, mit dem er flieht: „Nimmt hier die Flucht“, der rechte Putto hält, wie der Text erklärt, was auf dem Bild nicht gut zu erkennen ist, einen Granatapfel in der Hand als „Hoffnungsfrucht“, der mit seinen vielen Kernen die Fortsetzung der Dynastie bedeutet. Der dritte Putto, der sich auf Leopold bezieht, hat ein Füllhorn und ein Spruchband mit „Wird dort gesucht“ in der linken Hand, was dann ergibt: „Die Hoffnungsfrucht nimmt hier die Flucht, wird dort gesucht.“ Das heißt, durch den Tod Sigismund Franz’ ist der Erzstamm (der Tiroler Linie) ausgestorben, an seine Stelle tritt aber der andere durch den Kaiser repräsentierte „Erzstamm“, von dem Birken erklärt: „Der ErzStamm erwartet/ von diesem Allzeit-Mehrer des Reichs/ auch die Vermehrung der Zweige von Österreich.“40 Das heißt, das Titelkupfer stellt zwar einerseits die alte Verbindung zwischen den Pfälzern, den Bayern und den Habsburgern dar, andererseits ist es aber ganz deutlich auf Leopold und das Fortleben des habsburgischen Stammes ausgerichtet. Die zwei Putten unten repräsentieren zwar die Trauer, über allem thront aber der Schriftzug Leopold, der Doppeladler und der Putto mit dem Füllhorn. Die Schrift wird mit einem zweiseitigen, an die Erzfürstliche Witwe gerichteten Klag- und TrostGedicht beschlossen, welches ziemlich genau den Vorschriften Birkens zum Epicedium entspricht, außer dass wiederum das Lob des Toten fehlt, von dem man wahrscheinlich nicht viel wusste, deshalb heißt es von ihm nur sehr allgemein: „Er war in der Jugend alt/ Grau von Witze/ grün von Jahren.“41 Der erste Vierzeiler enthält konventionelle Metaphern, die wiederum das Paradox der Situation umkreisen: Myrten, das Symbol der Brautschaft, haben sich in Zypressen verwandelt, Thalia vergisst den Freuden-Ton, die Wonne stirbt schon bei der Geburt und das Schiff erleidet Schiffbruch im Hafen. Es werden die Omina aufgenommen und in neuem Kontext verwendet. Die Erde mit dem Erdbeben, das Wasser in Form des Inns, der die Nachricht zur Donau trägt, und der Himmel mit der „LeichenFakel“ des Kometen trauern um den Fürsten. Darauf folgt eine längere Passage darüber, wie sich die Prinzessin die Heimführung, die
39 Birken: Abgebrochener Regenten-Zweig (Anm. 3), S. 12. 40 Ebd., S. 17. 41 Ebd., S. 19.
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am 15. August (Mariä Himmelfahrt) hätte stattfinden sollen, vorgestellt hat, was sie ihm und er ihr gesagt hätte und wie sich die Eheleute geküsst hätten. Darauf lässt Birken die Prinzessin selbst klagen, wobei er sich wiederum in paradoxen Formulierungen ergeht, wie zum Beispiel: „Ich verliehr Euch im Erlangen“. Die letzten zwölf Zeilen sind dem Trost gewidmet, der wiederum gemäß Birkens Empfehlungen in der Poetik hervorhebt, dass der Tote nun dem „Tod entstorben“ sei. „Was uns leid/ ist Seine Freud.“ Der Himmel kann auch wieder segnen und den Trauerstand ändern. Ein achtzeiliges von Maria Hedwig Augusta gesprochenes Gedicht KlagGedancken von dieser Todsfalles Seltenheit beschließt den Traktat.42 Hier wird nochmals die immer wieder umschriebene Situation der Jungfrau gebliebenen Witwe umspielt. Klag-Gedancken von dieser Todesfalles-Seltenheit. Jch war Fürstlich hoch-vermählet: und bleib dennoch eine Braut. Jch Gemahlin ohn Gemahl/ bin auch unvermählt geblieben. Mich zugleich/ ein Erz-Herzog/ hat getraut und nicht getraut. Jch/ den ich nie sah/ nach Jhm werd Erz-Herzogin geschrieben. Eh-Frau bin ich eines Eh-Herrn: bin doch Fräulein ohne Mann Jch bin Wittib/ und doch Jungfrau. Ach! das hat der Tod gethan. Aus der Liebe Freuden-Stand/ sezt’ Er mich in Trauer-Orden. Daß/ nun in zwölf Tagen/ ich Braut/ Gemahlinn/ Wittib worden.43
42 Dieses Gedicht steht in den verschiedenen Exemplaren des Regenten-Zweigs manchmal auf S. 19, manchmal auf S. 20. 43 Im Exemplar in Birkens Nachlass lautet der Titel gemäß Hermann Stauffer (Sigmund von Birken [1626–1681]. Morphologie seines Werks. Tübingen 2007, S. 550): Rätsel-Klage: der ErzFürstlichen Fr. Wittib. Vielleicht handelt es sich bei diesem Titel um einen, der im endgültigen Druck ersetzt wurde. Im Wolfenbütteler Exemplar stehen die ‚Klag-Gedancken‘ auf der nicht paginierten S. 20, im Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek auf S. 19 im Anschluss an Birkens Text. In keinem der beiden Exemplare findet sich das von Stauffer erwähnte Doppelporträt auf der Titelrückseite.
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5 Weitere Publikationen zu diesem Anlass aus Sulzbach Birkens Schrift ist, wie angedeutet, nicht die einzige Publikation aus Sulzbach zum Tod des Erzherzogs. Am 12. August wurden in Sulzbach Exequien für den verstorbenen Erzherzog gehalten, die in der schon erwähnten Predigt des Residenz- und Stadtpfarrers Höchtel dokumentiert sind. Höchtel deutet schon im Titel an, dass er die seltsame Situation der Erzherzogin auch zum Thema macht, wenn er seine Rede Trau- und Trauer Bett des Weyland Durchleuchtigen Sigismund Francisci nennt. Die Beschreibung des Toten ist wiederum auf wenige Sätze reduziert. Er wird ein „herrlicher Tugendspiegel“ genannt, eine „Hoffnung deß Ertzhauses Oesterreich“, was Anlass gibt, die Angehörigen dieses Hauses von Karl V. bis Sigismund Franz aufzuzählen. Auch Höchtel geht ausführlich auf die durch diesen Tod für die Witwe entstandene seltsame Situation ein, auch er nennt die Omina, welche diesen Tod angekündigt haben. Es folgt der Trost. Angehängt ist ein Bildgedicht in Form einer Zypresse, welches die Gattin dem verstorbenen Gatten weiht.44 Dieses Gedicht wird auch im Eintrag des Mausolée des Ordens vom Goldenen Vlies abgedruckt.45 Noch eine dritte Schrift aus Sulzbach berichtet von dem Ereignis, es handelt sich um Franciscus Mercurius van Helmonts Übersetzung des Lycurgus italianicus des Ottavio Pisani.46 Noch vor dem Titelblatt werden die Porträts von Sigismund Franz und Maria Hedwig Augusta eingefügt. In der Widmungsvorrede erklärt Helmont, dass er die Übersetzung ursprünglich dem Erzherzog widmen wollte, da dieser aber vor Beendigung der Übersetzung gestorben sei, widme er das Werk dessen Witwe, als ein ihr zustehendes Erbteil.47 Der Rest der Widmungsvorrede besteht in einer Art Trost, dass Gott alles zum Guten wende und dass er durch solches Kreuz, das er den Menschen auferlege, diese reinige. Helmont verpasst keine Gelegenheit, um Hedwig Maria Augusta als „E(ure) Ertzf(ürstliche) Durchl(aucht)“ anzureden. In der „Vorrede an den Leser“ schreibt Helmont, dass der „überaus rare und in vielen seculis unerfolgte traurige fall/ so sich vergange-
44 In Birkens Nachlass ist das Gedicht nicht zu finden, wie mir Hartmut Laufhütte dankenswerter Weise mitteilt, so dass es ihm nicht zugeschrieben werden kann, auch wenn seine Verfasserschaft nicht ausgeschlossen ist. 45 Siehe oben Anm. 9. 46 Ottavio Pisani: Gesetze und Ordnungen durch und nach welchen die Rechte und Gerechtigkeit verfügt wird. […]. Sulzbach 1666. urn:nbn:de:bvb:12-bsb10554541-0. 47 Franciscus Mercurius van Helmont: Zuschrifft. In: Pisani: Gesetze und Ordnungen (Anm. 46), Bl. )(iiijv.
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nes jahr“ ereignet habe, „als eine nunmehr fast weltkündige sach unverborgen“ sei.48 Man kenne aber doch die Details nicht, weshalb er die Geschichte nochmals erzählt, kurz auf die Omina hinweist und dabei auch auf die Predigt von Höchtel und den Abgebrochenen Regenten-Zweig verweist. Auffällig ist, dass er sehr darauf insistiert, dass die Hochzeit in Sulzbach in Anwesenheit des bevollmächtigten Prokurators durch den Weihbischof von Regensburg vollzogen worden sei, auch sei der Tag der Heimführung festgelegt gewesen, ohne dass er jedoch ein Datum nennen würde, das in Birkens Gedicht als der 15. August angegeben wird. Alle drei Dokumente (Birken, Höchtel und Helmont) erwähnen ein eigenhändiges Schreiben des Erzherzogs vom 19. Juni 1665, das Helmont abdruckt und das auch separat überliefert ist. In diesem betont der Herzog, er werde „gewis keine zeit sparen“ „zu der befürderung der abhollung“.49 Auch wenn das Ereignis außerordentlich gewesen sein mag – Birken hat ja immerhin einige ähnliche Fälle aufgezählt –, so erklärt das allein noch nicht die offensichtlich von Sulzbach ausgehende Publikation von mehreren Schriften zu dem Ereignis, die zudem ihrem Inhalt nach sowohl, was die Leichenpredigt, wie, was Birkens Abgebrochenen Regenten-Zweig betrifft, von den Eigenheiten der jeweiligen Gattung abweichen, wie sich gerade auch im Vergleich mit den anderen beiden Epicedien zeigt. Besonders auffällig ist auch die für eine Leichenpredigt nicht unbedingt passende Bett-Metapher, die der Sulzbacher Pfarrer in Anspielung an das Hohelied breit ausführt: Jch zweiffle nicht/ unser Durchleuchtigste Ertzhertzogin werde von keuscher Lieb entzündet/ das höchste Verlangen getragen haben/ Jhren Durchleuchtigsten Ertzhertzogen zu suchen/ und zu sehen. O Durchleuchtigste Ertzfürstin/ Sie suche in lectulo, in dem Bethlein/ und Sie wird Jhn finden/ in lectulo non thori, sed tumuli: nicht in dem Trau- sondern Trauerbethlein […].50
In der Tat entspann sich nach dem Todesfall ein juristischer Streit, ob der von Erzherzog Sigismund Franz mit Pfalzgraf Christian August abgeschlossene Heiratsvertrag gültig sei oder nicht, weil die Ehe nicht vollzogen wurde. Es ging dabei vor allem um einen Abschnitt des Vertrags, in dem der Erzherzogin im Falle des Todes ihres Mannes zugebilligt wurde, den Titel Erzherzogin weiter zu tragen, eine Witwenresidenz in Innsbruck oder Hall zu unterhalten, wozu sie mit Lebensmitteln,
48 Franciscus Mercurius van Helmont: Vorrede an den Leser. In: Pisani: Gesetze und Ordnungen (Anm. 46), unpag. 49 Copey eigenhändigen Schreibens […] Sigismund Francisci Ertzherzogens zu Oestereich an seine Frau Gemahlin. O. O. dat. 19. Juni 1665. urn:nbn:de:bvb:12-bsb10886263-4. 50 Höchtel: Mœstus Thorus Archiducalis (Anm. 4), S. 8.
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Bargeld und Personal ausgestattet werden sollte.51 Während gemäß Gualdo Priorato die kirchlichen Instanzen die Ehe für rechtmäßig hielten, hielten die Juristen die Ehe für nicht vollzogen, und dementsprechend setzte Leopold I. der Tochter des Pfalzgrafen zwar eine Pension aus, sprach ihr aber den Titel einer Erzherzogin ab und erlaubte ihr nicht, eine Witwenresidenz zu unterhalten. Es ging also für Sulzbach darum, zu beweisen, dass Hedwig Maria Augusta rechtmäßig verheiratet war, damit ihr die im Heiratsvertrag ausgehandelten Güter und Titel auch zukamen. Das erklärt, warum Sulzbach im Abgebrochenen Regenten-Zweig die Ehezeremonie so genau beschreiben ließ, denn offenbar war die Nachricht von der Ehe noch nicht bis zu Sigismund Franz’ Untertanen gelangt, geschweige denn zum Kaiser, wie man aus dem in Innsbruck verfassten Epicedium schließen kann, wo es heißt:
51 Der entsprechende Passus im Ehevertrag lautet: „Damit auch wir Erzherzog Sigmund Franz zu Osterreich etc. in der that zuerkennen geben, daß Wir diese Alliance und Freundschafft bevor heben, auf daß auch unser gut gemüth und liebe gegen unsere künfftige Gemahlin desto mehr darob erscheinen möge; So thun Wir besagtes Heÿratgut dergestalt wieder legen, daß Wir Ihr Ld. auf den fall, wann Sie nach Gottes willen in den Wittibenstand gerathen solte und solang Sie dero Wittibenstuhl unverruckt behalten wird, nicht allein Ihren Wittiben Siz und Wohnung in unserer Erzherzoglichen Residenz zu Ynsbruck oder zu Hall, welches unter solchen Beiden Ihrer Ld. ieder Zeit am Liebsten und bequemsten sein wird, mit aller nohtdurfft, an allerleÿ nöhtigem Mobilien, Tapeten und Silbergeschirr, genugsamblich versehen, hiemit verschaffen: Sonders Wir versprechen auch ferner hiemit, daß wir Ihrer Ld. zu Dero Wittwenlichen unterhalt, neben restituierung Ihres eingebrachten Heÿratguts der Zwölfftausent gülden, alß welche Ihrer Ld. ohne das Erblich Verbliebene, oder bis zu Derselben ablag deren Jährliche Verpensionierung mit Sechshundert gülden, Sodann über die 600. gülden, so Ihrer Ld. von den Zwölfftausent gülden Morgengab von Unß versprochen seind, wie ingleichen auch, nebens nöhtiger beholzung und was etwa sonst an Fisch und wildpret freÿwillig geliefert zu werden pfleget, alle Monat noch Eintausent Reichsthaler aus unseren Kammergefällen ohnfehlbar gerichtet und entrichtet werden sollen; Allermaßen Wir Ihrer Ld. hiermit, zu Dero desto mehrerer Versicherung formal obgedachtes Heyratguts und deßen restitution alß auch der Morgengab und wiederlag und Wittumbs halber unsere Ober und Vorder Österreichische Lande, auch sonsten gegenwärtige und Zukünfftige Güter, neben allen Intraden und gefällen, und dann nachenhafft die SalzPfannen zu Hall, alß ein special unterpfand, hiemit zu wahren general und special unterpfand dergestalt, daß weder die specialis generali noch generalis speciali derogiren soll, würcklich einstellen, auch aller Erstgedacht Ihrer Kayserl. Maÿst. consens, vor sich und Dero Successores, Erzherzogen zu Osterreich etc. auf allen fall der devolution einbringen und aushändigen wollen. Wir der Erzherzog erklären Unß auch hiemit, daß Wir Ihrer Ld. zur Kleidung und vor Dero HofDamen die nothdurfft, Sodann zu Ihrer Ld. täglichem HandPfenning, aus Unserer Kammergefällen beysteuren laßen wollen, und soll es mit aussteuerung Ihrer Ld. Kammer- und HofDamen und anderer Dienerinnen wie am Erzherzoglichen Hofe gewöhnlich gehalten werden. Wir und unsere Erben sollen und wollen auch viel bemeldte Unsere künfftige Ehegemahl beÿ solchen Ihrer Ld. Wittumb und Nuzungen, auch der Morgengab, gegen Menniglich nach Unserem besten Vermögen handhaben, schüzen und schirmen.“ (Österreichisches Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien, Signatur: FUK 1732).
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Die zeit war zimlich nah/ der Tag war fast erschienen/ Der Jhm die Edle Braut/ ein Kind der Palatinen/ Zu liefern war bestimt.52
Es ging also für die Sulzbacher darum, zu beweisen, dass Hedwig Maria Augusta nicht nur die Braut des Erzherzogs, sondern tatsächlich mit ihm verheiratet war, darum publizierte man auch den Brief des Erzherzogs an die Braut, in dem dieser sie als „Freundtliche, Hertzgelibste Frau und Gemahlinn“ tituliert und in dem er schreibt, dass er sie bald heimholen werde.53 Der Brief wird mit der Adresse abgedruckt, welche, worauf es den Sulzbachern offensichtlich ankam, die durch die Heirat erworbenen Titel enthält: „Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen Mariae Hedwig Augustae, Ertzherzogin zu Österreich, Hertzogin zu Burgund, Grävin zu Tyrol und Görtz, geborene Pfaltzgräfin bei Rhein […].“54 Der Brief wird ebenso wie der von Hedwig Maria Augusta an ihren Gemahl gerichtete Brief von Gualdo Priorato abgedruckt.55 Der Kaiser hatte nämlich den Titel Erzherzogin suspendiert und nicht erlaubt, dass sie den Witwenstatus mit entsprechendem Hof, wie es im Heiratskontrakt vorgesehen war, erhalten sollte.56 Der Pfalzgraf gab sich mit den vom Kaiser festgesetzten Bedingungen nicht zufrieden und reiste im Oktober 1665, als der Kaiser zur Entgegennahme der Huldigung in Innsbruck war,57 eigens dahin, um bessere Bedingungen auszuhandeln, was ihm anscheinend in finanzieller Hinsicht gelang. Den Titel Erzherzogin wurde Hedwig Maria Augusta nicht zuerkannt, sie sollte ihn jedoch im Zusammenhang mit einer zweiten Heirat kurzfristig bekommen, andererseits wurde ihr nicht explizit verboten, sich trotzdem so anreden zu lassen.58
52 Klag- und Trostgedicht (Anm. 7), Bl. A2v. 53 „Gott dem Allmechtigen/ sage ich vor dießes glück schuldigsten vnd demüetigsten danck/ nichts höhers wünschend alls auf das baldigst die gelegenheit zu haben/ E: L: Mein Person zu offeriren/ wie ich dann auf Meiner seit gewis kein zeit sparen werde zu der befürderung der abhollung/ weilen alle Minuten/ gleichsam gantze Jahr vorkommen; Hiemit Ende vnd befilche in E: L: hertz mein getrewes hertz.“ (Copey eigenhändigen Schreibens [Anm. 51]). 54 Copey eigenhändigen Schreibens (Anm. 51). 55 Gualdo Priorato: Historia (Anm. 1), nicht paginierter Anhang: Scritture contenuto nel libro sesto. Parte Secondo. Nun ebenfalls abgedruckt in: Morgen-Glantz 27 (2017) (Anm. 1), S. 341 f. 56 Gualdo Priorato: Historia (Anm. 1), S. 633. 57 Der Kaiser kam am 3. Oktober 1665 in Innsbruck an (s. Gualdo Priorato: Historia [Anm. 1], S. 642). 58 Zu den Details siehe: Zeller: Eine tragische Heirats-Geschichte (Anm. 1), S. 328, 331.
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Rosmarie Zeller
6 Schluss Höchtels Leichenpredigt, Birkens Schrift und die Widmung von Franciscus Mercurius van Helmont zeigen, dass man in Sulzbach eine eigentliche PropagandaAktion um diese Hochzeit und den Tod des Bräutigams inszenierte, um die Ansprüche der Witwe zu bekräftigen. Zweifellos ist Birkens Schrift unter allen die bedeutendste. Dass man ihn für diese Aktion zu Hilfe rief, ist sicher kein Zufall, denn man wusste in Sulzbach offensichtlich, dass Birken ein gewisses Ansehen am Kaiserhof genoss und dass er Genealogien für rhetorische Zwecke einzusetzen verstand. Es war ja wohl dem Sulzbacher Hof nicht entgangen, dass Gottlieb von Windischgrätz den Stammbaum in dem von Birken verfassten Hochzeitsgedicht dazu benützt hatte, die Anerkennung seiner Zugehörigkeit zum Reichsadel zu unterstützen.59 Der Windischgrätzsche Stammbaum hat mit demjenigen im Abgebrochenen Regenten-Zweig die Gemeinsamkeit, dass Braut und Bräutigam auf einen gemeinsamen Ahnen zurückgeführt werden.60 Man kann sich vorstellen, dass der Sulzbacher Hof das „Rezept“ aus dieser Schrift übernommen hat, um der Verwandtschaft mit den Habsburgern Nachdruck zu verleihen und so Maria Hedwig Augusta zu einer beträchtlichen Apanage zu verhelfen und wohl auch den Sulzbacher Hof aufzuwerten, damit die Prinzessin später doch noch standesgemäß verheiratet werden konnte.61
59 Siehe dazu Ernst Rohmer: Türkenkrieg und Eschatologie in der Publizistik um den Türkenkrieg von 1663/64. In: Morgen-Glantz 21 (2011), S. 79 f. Zu der Wichtigkeit der Ahnenprobe siehe auch Ernst Rohmer: Die Hirten in der Grotte. Zur Funktion genealogischen Wissens in den Schriften des Sigmund von Birken. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 276–288, bes. S. 279 ff. 60 Im Fall Windischgrätz ist es der Burggraf zu Nürnberg; siehe Klaus Conermann: Oettingische Bücherlust im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Regionale Rezeptions- und Literaturgeschichte im Spiegel von Bibliotheken. In: Augsburg in der Frühen Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsprogramm. Hg. von Jochen Brüning, Friedrich Niewöhner. Berlin 1995, S. 252–331, hier S. 297. 61 Maria Hedwig Augusta heiratete in zweiter Ehe Julius Franz von Sachsen-Lauenburg, wozu der Kaiser, weil sie trotz allem als Angehörige der Habsburger galt, die Einwilligung geben musste.
Hartmut Laufhütte
Sigmund von Birken als Förderer und Mentor jüngerer Kollegen 1 Mit jungen Leuten hat er zeitlebens gut gekonnt. Er muß pädagogisch begabt gewesen sein. Seine ,Leutseligkeit‘ wurde in späteren Jahren von vielen seiner jungen Klienten gerühmt. Seine ersten Schüler, von denen wir wissen, waren die nachgeborenen Söhne aus der dritten Ehe Herzog Augusts des Jüngeren (1579–1666) von BraunschweigLüneburg, Anton Ulrich (1633–1714) und Ferdinand Albrecht (1636–1687), damals zwölf- und neunjährig.1 Und obwohl Sigmund Betulius, wie er damals noch hieß, sie nur ein Dreivierteljahr lang am Wolfenbütteler Hof betreut hat,2 sind sie ihm lebenslang in Dankbarkeit verbunden geblieben.3 Informator der beiden Söhne des Verwalters des Klosters Lüne bei Lüneburg, Thomas Damman, war Birken zu kurz, als daß sich nachhaltige Beziehungen hätten aufbauen lassen.4
1 Zu Birkens wohl von Georg Philipp Harsdörffer vermittelter Anstellung als Mitarbeiter Justus Georg Schottelius’ am Wolfenbütteler Hof 1645/46 s. Sigmund von Birken: Prosapia / Biographia. Hg. von Dietrich Jöns, Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988 (Werke und Korrespondenz [fortan: WuK] 14 = Neudrucke Deutscher Literaturwerke [fortan: NDL] 41), S. 31–36, 82–86. 2 Das Einstellungsdokument ist datiert auf Weihnachten 1645, das Entlassungsschreiben auf den 9. Oktober 1646; s. ebd., S. 32 f. Zu den Umständen des Ausscheidens Birkens aus dem Hofdienst s. Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Tübingen 2007 (WuK 9 = NDL 53), zu den Texten Nr. 8 und Nr. 9 im Birken-Harsdörffer-Briefwechsel, S. 597–607. 3 Das bedarf für Herzog Anton Ulrich keiner besonderen Dokumentation. Daß auch Herzog Ferdinand Albrecht sich seines Lehrers wohlwollend erinnerte, erweist u. a. seine Autobiographie; s. Jill Bepler: Ferdinand Albrecht, Duke of Braunschweig-Lüneburg (1636–1687). A traveller and his travelogue. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 16); s. auch Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. Hg. von Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. Tübingen 2005 (WuK 12 = NDL 49/50), zu Text Nr. 160, S. 850 f., Z. 61–73. 4 S. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 40: „Nec non, à Praefecto Lunensis, Lunaeburgo adjacentis, Virginum coenobij, viro Amplissimo Thomasio Dammano, grato hospitio me exceptum https://doi.org/10.1515/9783110593129-233
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Das war anders bei der zweiten Anstellung nach seinem Ausscheiden aus dem Hofdienst. Da war er Informator der Kinder des Mecklenburgischen Rentmeisters Johann Schröder in Dannenberg.5 Birken hat dort eine glückliche Zeit verlebt.6 Einer seiner Schüler hat später den Kontakt zu erneuern versucht. Daß der Altersunterschied zwischen dem jungen Lehrer und seinen Schülern nicht sonderlich groß war, wird die Arbeit erleichtert haben. Das gilt auch für einige Betreuungskontakte, auf die sich der junge Betulius nach seiner Rückkehr nach Nürnberg 1648 einließ. Da hat er – wozu ihn seine in Wolfenbüttel erlangte Würde als Poeta laureatus berechtigte7 – Anfang 1649 ein studienvorbereitendes
repeto.“ Randnotizen (ebd., S. 40m1–4) besagen, daß Birken die beiden Söhne Johann Heinrich und Christian betreut und 20 Taler erhalten hat. Sein Aufenthalt im Kloster Lüne währte vom 10. Dezember 1646 bis zum Februar 1647 (ebd., S. 39m14 f., 18 f.). Anlaß für die Beendigung des Dienstverhältnisses war wohl der Tod der Gattin seines Gast- und Arbeitgebers am 14. Februar 1647; s. ebd. S. 39m18 f.: „Die 14. Februarii Mors Hospitae.“ (Die Lesung „M〈onasterii〉 Hosp〈es〉“ beruht auf fehlerhafter Auflösung der von Birken verwendeten Abkürzungen.) Birken hat Damman ein ausführliches Trostschreiben gewidmet. Es steht, zusammen mit einem Gedicht, in der Sammlung S. v. B. Todten-Andenken und Himmels-Gedanken. oder GOTTES- und Todes-Gedanken. Hg. von Johann Anselm Steiger. Tübingen 2009 (WuK 5 = NDL 59/60), Texte Nr. 5 und Nr. 6, S. 18–28, 28–31; 544–556, 556–558. Eine lateinische Version, ebenfalls zusammen mit einem Gedicht, enthält die Sammlung BETULETUM: Sigmund von Birken. Betuletum. Hg. von Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Berlin, Boston 2017 (WuK 4 = NDL 90/91), Texte Nr. 10 und 11, S. 9–18, 268–288. 5 S. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 41, Z. 28–32: „Inter haec tritum aliquod temporis Dannebergae, quae metropolis olim Comitatûs hodie Principatûs, ab eâ denominati, Hospite Johanne Schroedero, Quaestore Ducißae Megapolitanae, viro integerrimo.“ Eine Randanmerkung (S. 41m16–18) bestätigt Birkens Ankunft in Dannenberg am 15. Juni 1647; eine weitere (ebd. m28– 31) nennt die Kinder des Gastgebers, die Birken zu betreuen hatte. 6 Das bestätigen sowohl Briefe Johann Schröders (PBlO.C.115.1–4) und zweier Dannenberger Freunde, des Pfarrers Johann Fiene (PBlO.C.77.1) und des Rektors und späteren Pfarrers Wolfgang Trippius (PBlO.C.363.1–2) aus der Zeit nach Birkens Rückkehr nach Nürnberg, als auch einige in der Sammlung BETULETUM (Anm. 4) enthaltene Gegenbriefe und Gedichte, die Birken an diese Personen gerichtet hat, die Texte Nr. 28–30, 35, 36 und 41 (WuK 4, S. 33 f., 39, 40, 45 f.; 333–338, 348–352, 352–358, 377–381), und vollends einige Gedichte aus der Dannenberger Zeit, die Birken in die Sammlungen Floridans Amaranten-Garte. Hg. von Klaus Garber und Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Tübingen 2009 (WuK 1 = NDL 55/56) und S. v. B. Birken-Wälder. Hg. von Klaus Garber, Christoph Hendel und Hartmut Laufhütte. Berlin, Boston 2014 (WuK 2 = NDL 77/78) aufgenommen hat, die Texte Nr. 30–35 (S. 64–75; 512–519) dort, Nr. 61, Nr. 63 und 64 (S. 76, 79–83; 586, 588–594) hier. Das Konzeptbuch PBlO.B.5.0.3 enthält 60v/61r eine Eintragung zu einem Brief Birkens an Trippius vom Oktober 1655. Später, 1657, hat der ehemalige Schüler Adolf Friedrich Schröder (s. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 41m29) eine Kontakterneuerung versucht: PBlO.C.314.1–2. 7 Zu Birkens Poetenkrönung s. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 33, Z. 23–27: „Ab aulâ hâc Literatissimi Principis, tamquam è Parnaßo, discedere me vidisses, quippe ab Archiatro ejusdem,
Birken als Förderer und Mentor jüngerer Kollegen
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Kolleg über Politik und Poesie für junge Angehörige des Nürnberger Patriziats und des Gelehrtenstandes gehalten.8 Mit Stolz hat er viele Jahre später in seiner Autobiographie die Namen seiner Hörer aufgelistet und notiert, was aus ihnen geworden war.9 Im nächsten Jahr ist es ihm gelungen, elf junge Nürnberger Patrizier als Schauspieler und Tänzer zu gewinnen, die während der Abschlußfeier der kaiserlichen Verhandlungsdelegation beim Nürnberger Friedenskongreß im Sommer 1650 seine Szenenfolge Teutscher KriegsAb- und FriedensEinzug unter seiner Regie zur Aufführung brachten.10 Mit mehreren der Akteure von 1650 und einigen neuen aus denselben Kreisen gelang ihm Entsprechendes wenig später noch zweimal. 1651 konnte er ein Stück aufführen, das er in seiner Autobiographie als „Schauspiel Irenian“ bezeichnet.11
MARTINO GOSKIO, Comite Palatij Caesaris, Divae Poëseos Lauru ornatum et redimitum, quae ipsâ Die mihi Natali 21. oblata fuerat et collata, nîl tale cogitanti.“ Man zählte damals bei Altersangaben dieser Art den Tag der Geburt mit. Birken ist demnach als Zwanzigjähriger gekrönt worden. Das Coronatsdiplom ist in seinem Nachlaß erhalten: PBlO.C.111.1. 8 S. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 45, Z. 1–5: „Interea operam meam, domi inter privatas parietes, publici acroterij sectatoribus, in palaestra Politica exercendis et Poësi vernaculi imbuendis, elocâsse, eoquè labore, post trimestre spacium, perfunctum me memini.“ 9 Ebd., Z. 6–16; vgl. S. 46, Z. 5–18. 10 S. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 45, Z. 33–S. 46, Z. 4: „Tandem, quum Germaniae, post triginta annorum turbas ac turbines, Pacis tot votorum myriadibus exoptatae sidus affulgeret, Irenopaegnion meum sub convivali Tabernaculo, adplaudente toto Imperij Senatu, in publicum prodijt, actoribus, quorum nomina hi`c sequuntur, Patritijs Noricis.“ Birkens Szenenfolge ‚Teutscher KriegsAb- und FriedensEinzug/ jn etlichen Auffzügen/ Bey allhier gehaltenem hochansehnlichen Fürstlichen Amalfischen Freudenmahl/ Schauspielweiß vorgestellt durch S. B. P. L. C. Jm M. DC. L Heiljahr.‘ existiert in zahlreichen, an verschiedenen Orten veranstalteten Nachdrucken; s. Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. Tübingen 2007, S. 107–113. Zur Aufführung s. Hartmut Laufhütte: Das Friedensfest in Nürnberg 1650. In: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Hg. von Klaus Bußmann, Heinz Schilling. Teilband II: Kunst und Kultur. [Münster] 1998., S. 347–357; abermals in: Ders.: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007, S. 153–169. 11 S. Prosapia / Biographia (Anm. 1) S. 47, Z. 5–10: „Irenicum me Scriptorem, non Polemicum, dixeris: Pacis primu`m cum Teutillide connubia cantata; porro reparatae Pacis Teutonicae Historia IV Libris adornata; deniquè eadem Historia Scenico involucro tecta, Juventuti Patriciae Noricae morum exercitium fuit.“ Birken meint diese Werke: ‚Des Friedens Vermählung mit Teutschland/ in etlichen Kupfern ausgebildet/ und Poetisch beschrieben von S. B. Nürnberg/ bey Wolfgang Endtern/ dem Aeltern/ Jm Heiljahr 1651.‘ und ‚Die Fried-erfreuete TEVTONJE. Eine GeschichtSchrifft von dem Teutschen Friedensvergleich/ was bey Abhandlung dessen/ in des H. Röm. Reichs Stadt Nürnberg/ nachdem selbiger von Osnabrügg dahin gereiset/ denkwürdiges vorgelauffen; mit allerhand Staats- und Lebenslehren/ Dichtereyen/ auch darein gehörigen Kupffern
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In einer gedruckten Perioche heißt es Kurzer Entwurf eines neuen Schauspiels/ darinnen ausgebildet wird das Vergnügte/ Bekriegte und Widerbefriedigte Teutschland: erfunden und auf den Schauplatz gebracht in Nürnberg von Sigismundo Betulio, J. Cult. P. C. Im Jahr 1651.12 Erst viel später, 1679, erschien eine vollständige Fassung des Stückes.13 Im Jahr 1652 schließlich wurde das allegorische Drama Psyche aufgeführt, das wir in einer späteren Bearbeitung als Anhang zu Birkens Poetik Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) kennen.14 Die Perioche zum
gezieret/ in vier Bücher abgetheilet/ ausgefertiget von SIGISMUNDO BETULIO, J. Cult. Caes. P. Nürnberg. Jn Verlegung Jeremiä Dümlers/ im 1652. Christjahr.‘ Zum Drama s. Anm. 12. 12 Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 47m17 f.: „XV. Opus. 2. Schauspiel Jrenian.“ Auf der Rückseite des Titelblattes sind die Namensinitialen der Schauspieler verzeichnet. 13 Margenis oder Das vergnügte bekriegte und wiederbefriedigte Teutschland Sigmunds von Birken. Nürnberg in Verlegung Georg Scheurers Kunsthändlers. A: 1679; s. Karl-Bernhard Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens (1626–1681). Tübingen 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 44), S. 128–202. 14 Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy/ mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg/ Verlegt durch Christof Riegel. Gedruckt bey Christof Gerhard. A. C. M DC LXXIX. Nachdruck: Hildesheim, New York 1973; kommentierte Neuausgabe: Sigmund von Birken. PSYCHE. Hg., kommentiert und mit Materialien versehen von Hans-Peter Ecker, Kirsta Viola Ecker und Ralf Schuster. Bamberg 2017 (Bamberger Texte für Bühne und Film 5). Das Drama steht in der Poetik auf S. 389–516. Zu diesem Stück s. Silber (Anm. 13), S. 203–257; Hartmut Laufhütte: „Animae sub involucro historia.“ Sigmund von Birkens Drama Psyche als allegorische Inszenierung der Heilsgeschichte. In: Theodramatik und Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von Balthasar. Hg. von Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Klaus Lübbers. Berlin 2000 (Schriften zur Literaturwissenschaft 14), S. 139–166; abermals in: Laufhütte: Sigmund von Birken (Anm. 10), S. 413–431. Zu Beginn muß es eine lateinische Fassung gegeben haben; s. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 48, Z. 21–27: „Inter has ruris voluptates, Nobilis domestici votis velificaturus, Psychen Drama, Animae, sub involucro, Historiam, (cuius partem, è fenestra à vento abreptam, altissimè ex oculis avolare vidimus,) utràque linguâ, cum Interscenio vernaculo, Bivium Herculis affingente, mente ac manu fundebam, Patriciae juventutis in urbe Norica soccis postea exhibitum.“ Der Titel des Stückes lautet in der Poetik-Fassung: ‚S. v. B. Schauspiel PSYCHE: auf den Schauplatz gebracht in Nürnberg A. 1652. Jezt/ aus dem Latein/ in Teutsche Poesy versetzet.‘ Eine Neubearbeitung bezeugen zahlreiche Eintragungen in Birkens Tagebüchern der Jahre 1665 und 1666. Das Drama war vor dem Druck in der Poetik Bestandteil eines der unabgeschlossenen bzw. aufgegebenen Werke Birkens: ‚Die Sünd-ersoffene und Zorn-erseuffte Erste Welt‘ (PBlO.B.4.6.3). Wohl Birken selbst hat es, vielleicht im Zusammenhang der Bearbeitung für die Poetik, herausgeschnitten. Das von Anfang an deutschsprachige Zwischenspiel ist in einer Manuskriptversion erhalten als Interscenium ‚Tugend- und LasterLeben‘ des Schauspiels ‚Die wunderthätige Schönheit‘ (PBlO.B.1.0.4); s. Silber (Anm. 13), S. 291–346. Auf die Zusammengehörigkeit beider Zwischenspiel-Titel als Bezeichnungen für dasselbe Stück weist eine Notiz in Birkens Werke-Verzeichnis ‚Syllabus Carminum et Operum Betulianorum‘ (PBlO.B.2.1.11, 1v):
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Irenian nennt die jungen Schauspieler; und zum Psyche-Drama, das zusammen mit einem mehraktigen Zwischenspiel mit dem Titel Bivium Herculis aufgeführt wurde, hält die Autobiographie fest: „Patriciae juventutis in urbe Norica soccis postea exhibitum.“ Die Autobiographie nennt auch den Tag der Aufführung, den Martinstag des Jahres 1652.15 Man darf annehmen, daß es sich bei den jungen Akteuren abermals um die schon zweimal aktivierte Gruppe gehandelt hat. Die Integrationsleistung des sechsundzwanzigjährigen Spielleiters muß bedeutend gewesen sein. Von einigen der Akteure sind Briefe erhalten, die sie aus ihren Studienorten an Birken gerichtet haben.16 Einer der jungen Mitwirkenden am Schauspiel Irenian, der Inhaber der Titelrolle, Paul Albrecht Rieter von Kornburg, wurde Anfang Mai 1652 Birkens letzter Privatschüler. Er sollte wie die Klienten von 1649 auf die Kavalierstour vorbereitet werden. Birken war weit über den Zeitpunkt der Abreise seines Schülers Anfang Oktober 1653 hinaus Hausgenosse in dessen Familie, zu welcher ein freundschaftlicher, durch Tagebuchnotizen und Gedichte reich dokumentierter Kontakt bis zu Birkens Tod bestehen blieb.17 Eines seiner letzten Gedichte, am 19. April
„Bivium Herculis, Tugend- und LasterLeben.“ Zur als Omen interpretierten Luftreise eines Teils des ersten ‚Psyche‘-Manuskripts hat Birken in seiner Autobiographie (Anm. 1) diese Randnotiz angebracht, S. 49m46–50: „Die 20. Augusti pars Psychae, sermo Theagenis zu Frauenaurach aus dem Fenster über die Kirche hoch in die Luft vom Wind geführt worden.“ 15 S. Anm. 14. In einer Randnotiz, S. 49m6–12, hat Birken festgehalten: XXI. XXII. Opuscula. Psyche et Bivium. 3. 4. Schauspiel. 11 Novembris Acta Comoedia, am Project 3 Gulden. Die 22 Senatus 16 Florenos.“ Die Erkenntlichkeit des Rates wird der Tatsache Rechnung getragen haben, daß Birken ihn zur Aufführung eingeladen hatte. Das auf den 13. November 1652 datierte Einladungsschreiben steht als Text Nr. 76 in der Sammlung BETULETUM (Anm. 4), S. 85, 503 f. 16 Von Johann Christoph Falckner, einem der Hörer Birkens 1649 (s. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 45, Z. 10), sind in Birkens Nachlaß zwei Briefe erhalten: PBlO.C.74.1–2. Von Johann Hieronymus Löffelholz von Colberg, der 1650 im Friedensspiel als Pax aufgetreten war (ebd., S. 46, Z. 7), gibt es vier Briefe (PBlO.C.209.1–4), von Hieronymus Scheurl, dem Hirten in diesem Spiel (ebd., Z. 11), einen (PBlO.C.300.1) und von Christoph Fürer von Haimendorf, dem Mars jener Szenenfolge (ebd., Z. 16 f.), vier Briefe (PBlO.C.89.1–4). An diesen letzteren hat Birken laut Auskunft des Konzeptbuches PBlO.B.5.0.3, 4v, am 14. Januar 1653 einen Brief gerichtet. Die Sammlung BETULETUM (Anm. 4) enthält als Text Nr. 68 (S. 78 f., 475–479) ein am 31. Oktober 1651 nach Altdorf adressiertes Schreiben Birkens an Johann Hieronymus Löffelholz von Colberg. 17 Birkens Kontakt zur Familie Rieter begann wohl mit der Probenarbeit für das Schauspiel ‚Irenian‘ im Herbst 1651. Zum 9. September 1651 hat Birken in der Randspalte seiner Autobiographie (Anm. 1) notiert, S. 47m28: „Convivium Actorum.“ Zum 14. September 1651 ist eingetragen, S. 47m29 f.: „Die 14. Munus Senatus Norici X Imperiales.“ Ohne eigenes Datum folgt ebd. m36: „Frau Rieterin 1 TürkisRingl.“ Birkens Anstellung begann am 7. Mai 1652 (ebd., S. 48m28). Im Text der Autobiographie wird die Zeit im Hause Rieter dankbar gewürdigt (S. 48, Z. 14–18): „Hisce defunctum, Domus Rieteria, Paulo-Alberto Filiofamilias, Patricio et hodie Senatori Norico, Ephorum me petijt ac obtinuit, plurimis beneficijs, toto ferè quadriennio me cumulatura.“
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1681 geschrieben, galt dem Namenstag des inzwischen zu höchsten Würden und Ehrenstellen aufgestiegenen ehemaligen Schülers.18 Ein Betreuungs- und Mentoratsverhältnis ganz anderer Art kam anläßlich der Aufführung des Dramas Psyche zustande. Ihr wohnte der junge österreichische Baron Gottlieb von Windischgrätz (1630–1695) bei, der sich danach in enthusiastischen Briefen als Bewunderer der Birkenschen Muse zu erkennen gab, selbst poetische Ambitionen hatte und bald den Wunsch äußerte, von seinem Briefpartner in die Dichtkunst eingeweiht zu werden. Birken hat dem mehrfach und dringlich wiederholten Wunsch entsprochen. Zahlreiche Gedichte des begabten Dilettanten hat er korrigiert, auch nicht wenige, die der Besteller dann als eigene ausgab, für ihn geschrieben und 1654 eine Rudimentärpoetik für ihn verfaßt, die später als Grundlage für die Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst diente.19 Birkens Eifer war freilich nicht selbstlos. Er spannte den begeisterungsfähigen und hilfsbereiten, an Kontakten reichen jungen Diplomaten, der es zuletzt bis zum Reichsvicekanzler gebracht hat, auch für eigene Zwecke ein: erfolglos bei
Dies Letztere wird durch viele Randnotizen bestätigt. Rieters Kavalierstour begann am 8. Oktober 1653 (s. ebd.; S. 51m28 f.). Sechs Briefe von unterwegs sind in Birkens Nachlaß erhalten: PBlO.C.280.1–6. Am 9. Juli 1655 kehrte Rieter zurück (s. ebd., S. 53m13 f.). Erst am 4. Dezember 1655 endete Birkens Hausgemeinschaft mit der Familie (ebd., S. 54m9 f.): „Valedictum Domui Rieteriae.“ Zu einem wichtigen Teilaspekt der Beziehung Birkens zur Familie Rieter s. Hartmut Laufhütte: Floridans Silvia. Transformationen einer Liebesbeziehung. Neue Erkenntnisse zur Biographie Sigmund von Birkens. In: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 87–134; abermals in: Laufhütte: Sigmund von Birken (Anm. 10), S. 81–113. 18 Das Gedicht Nr. 430 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), S. 490–492, 1215 f.: Auf etc. Herrn Paul Albrecht Rieters von Kornburg auf Harrlach etc. Senatoris et Polemarchi Norici Namens-Tag. 19 Zu diesem Kontakt s. Gottlieb von Windischgrätz: Die Gedichte. Hg. von Almut Laufhütte, Hartmut Laufhütte. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 3); Birken-Windischgrätz-Briefwechsel (Anm. 2), S. 259–549, 997–1393. Zu Birkens Rudimentärpoetik s. Teutsche Rede-bind- und DichtKunst (Anm. 14), S. [):( ):( xij]v / ):( ):( ):(r: „Gegenwärtige Poesy-Anweisung/ zielet auf der [sic!] frommen Zweck/ daß diese Edle Kunst zur Ehre dessen/ von dem sie einfliesset/ möchte verwendet werden. Jch schriebe/ vor fast 30 Jahren/ auf gnädiges Ansinnen eines hohen Cavalliers/ ein halb-huntert LehrSätze von dieser Wissenschaft/ welche/ als nur in einem paar Bögen bestehend/ ohne mein Wissen/ vielfältig abgeschrieben/ und endlich gar in die Schulen einzuführen mir abgeheischet worden. Weil es aber ein unvollkommen Werk gewesen/ als habe ich/ durch vieler vornehmen Freunde zusprechen/ mich bereden lassen/ dasselbe unter die hand zunehmen/ und in einige Vollkommenheit einzurichten. Es sind zwar/ viel Teutsche Prosodien/ nach und nach hervor gekommen. Jch aber/ habe in dieser mich beflissen/ nach dem Lehrspruch unserer Blum-SchäferGesellschaft/ alles zu Ehre Gottes einzurichten/ und den Lehrsätzen Exempel oder Beispiele Geistlichen inhalts zu zu ordnen. Solcher gestalt verlange ich/ mit einer Arbeit/ zween Nutzen zu schaffen: daß nicht allein die Jugend zugleich zur Poesy und Gottesfurcht angewiesen/ sondern auch jeder Leser/ durch die Geistliche Lieder/ zur Andacht angefeuret werde.“
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seinem Bestreben, für sein großes Versepos Amalfis zur Verherrlichung Ottavio Piccolominis die in Aussicht gestellte Honorierung und Druckfinanzierung zu erhalten,20 und mit besserem Glück für seine Ende 1652 eingeleiteten Bemühungen um Adel und Palatinat, die vor allem dank der von Windischgrätz betriebenen Unterstützung 1655 zum gewünschten Erfolg führten.21 Auch zur Einrichtung und zur Lancierung des um Haaresbreite verunglückten Habsburg-Panegyricums Ostländischer Lorbeerhäyn (1657) hat Windischgrätz mit Rat und Tat geholfen.22 Und da dieses Werk den Ausschlag gegeben haben dürfte für die Beauftragung Birkens mit der Bearbeitung der Fuggerschen Chronik des Hauses Habsburg, deren Ergebnis Birkens umfangreichstes Werk, der Spiegel der Ehren des Höchstlöblichsten Kayser- und Königlichen Erzhauses Oesterreich (1668)23 war, hat Windischgrätz auch zu Birkens Renommé als Historiograph und zu seiner ökonomischen Konsolidierung nicht unwesentlich beigetragen. In dem jahrelangen Kontakt mit Windischgrätz, der ihm viel abverlangte und viel einbrachte, hat Birken abermals beträchtliches Motivationstalent bewiesen. Und als er vom Frühjahr 1658 an, verheiratet und mehr oder weniger un-, jedenfalls aber unterbeschäftigt, in Bayreuth festsaß und von seiner Frau trotz früherer Beteuerungen, eben dies nicht tun zu wollen, maliziös darauf hingewie-
20 S. Hartmut Lauhütte: „Amalfische Promeßen“ und „Apollo Hofgericht“. Sigmund von Birkens unvollendetes Versepos ‚Amalfis‘. In: Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. Hg. von Axel E. Walter. Amsterdam, New York 2005 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 36), S. 431–487; abermals in: Laufhütte: Sigmund von Birken (Anm. 10), S. 171–206. 21 Zu Windischgrätz’ Anteil s. Prosapia / Biographia (Anm. 1), S. 53m26–50; Texte Nr. 49–54a im Birken-Windischgrätz-Briefwechsel (Anm. 2), S. 331–356, 1088–1108. 22 Ostländischer Lorbeerhäyn/ Ein Ehrengedicht/ Von Dem höchstlöbl. Erzhaus Oesterreich: Einen Fürsten-Spiegel/ in XII. Sinnbildern/ und eben sovielen Keyser- und Tugend-Bildnissen/ Neben Dem Oesterreichischen Stamm- und Zeit-Register/ Kürtzlich vorstellend: Samt Einem Anhang von Ehrengedichten/ an Fürsten/ Grafen und Herren. Durch SIGISMUNDUM à Birken/ dict. Betulium, C. Com. Pal. N. Nürnberg/ Bey Michael Endter: Jm Jahr des Heils M D C LVII.; s. Texte Nr. 93–99 im Birken-Windischgrätz-Briefwechsel (Anm. 2), S. 394–407, 1168–1179. 23 Spiegel der Ehren des Höchstlöblichsten Käyser- und Königlichen Erzhauses Oesterreich oder Ausführliche GeschichtSchrift von Desselben/ und derer durch Erwählungs- Heurat- Erb- und Glücks-Fälle ihm zugewandter Käyserlichen HöchstWürde […]; auch von Derer aus diesem Haus Erwählter Sechs Ersten Römischen Käysere/ Jhrer Nachkommen und Befreundten/ Leben und Großthaten […]. Erstlich vor mehr als C Jahren verfasset/ Durch Den Wohlgebornen Herrn Herrn Johann Jacob Fugger […] Nunmehr aber auf Röm. Käys. Maj. Allergnädigsten Befehl/ Aus dem Original neu-üblicher ümgesetzet/ und in richtige Zeit-rechnung geordnet/ aus alten und neuen Geschichtschriften erweitert […] und in Sechs Bücher eingetheilet/ Durch Sigmund von Birken/ Röm. Käys. Maj Comitem Palatinum, in der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft den Erwachsenen. Nürnberg/ Bey Michael und Johann Friderich Endtern. ANNO CHRISTI M DC LXVIII.
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sen wurde, er lebe von ihrem Geld, war er, der als freier, amtloser Literat leben wollte, sogar bereit, sich um eine Professur an einem der Nürnberger Gymnasien zu bewerben. Es ist nichts daraus geworden. Die Spuren sind spärlich.24 Ob allzu geringer Eifer des auf häuslichen Druck hin sich Bewerbenden oder Bedenklichkeiten der Scholarchen in Nürnberg zu dem Mißerfolg geführt haben, läßt sich nicht erkennen. Zugetraut hätte Birken sich eine Lehrertätigkeit gewiß – und wir ihm auch. Ein anderes Bild ergibt sich für die Zeit, in welcher er als renommierter und selbst schon einflußreicher, gut ,vernetzter‘ Großliterat in Nürnberg etabliert war und in dieser seiner Befindlichkeit für jüngere Autoren interessant wurde bzw. sich für solche interessierte. Für beides, für als Erbringung von Ehrerbietung kaschierte Bitten um Protektion wie für Ermutigung und Ermunterung Jüngerer durch Birken ließen sich viele Beispiele anführen. Eine stattliche Anzahl enthält der 2012 erschienene Band 13.1 der Birken-Ausgabe.25 Im Folgenden werden drei bislang unbekannte Betreuungsvorgänge vorgestellt. Ihre Anzahl ließe sich um ein Vielfaches vermehren.
2 Die erste Eintragung für das Jahr 1669 in Birkens Sammelhandschrift S. v. B. Birken-Wälder ist dieses offenbar ungedruckt gebliebene Epigramm: An Herrn Joachim Heinrich Hagen über seine weinacht-Schäferey Herr Hagen schreibt, was Gott und Menschen kan behagen: Er soll mir mit der Zeit den Kranz von Lorbeer tragen. Als dann wird, dieser Hirt, auch unser Filadon, trägt mit der Christwurz-blum das weisse Band davon.
24 S. Texte Nr. 52–55 im Briefwechsel Birkens mit seiner Frau: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Berlin, New York 2010 (WuK 10 = NDL 61/62), S. 112–116, 515–522; Texte Nr. 7–10 im Birken-Dilherr-Briefwechsel, Text Nr. 20 im Birken-Wülfer-Briefwechsel: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Johann Michael Dilherr, Daniel Wülfer und Caspar von Lilien. Hg. von Almut und Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Berlin, Boston 2015 (WuK 11 = NDL 81/82), S. 15 f., 65; 235–241, 322 f. 25 Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Berlin, Boston 2012 (WuK 13.1 = NDL 65).
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Jn dessen fahr’ er fort, zu thun nach diesem Namen. Sein Kiel, mit Christus Ehr soll manches Blat besamen. Gott ehrt den, der ihn ehrt. dort von den Sternethron setzt Jesus einst ihm auf die ewig-grüne Kron.26
Nach einer Tagebuchnotiz Birkens ist das Gedichtchen in der dritten Januarwoche, also zwischen dem 15. und 21. Januar 1669,27 entstanden. Der Adressat, Joachim Heinrich Hagen (1648–1693), damals Gymnasiast am wenige Jahre zuvor gegründeten Bayreuther Christian-Ernestinum,28 hatte eine Versekloge verfaßt, die wohl erst im März des Jahres 1669 gedruckt worden ist: Weihnacht-Schäferey, Zu Ehren der Heil-Geburt Des Welt-Heilandes Jesu Christi/ Jn rein-teutsche Reimen verfasset/ und Hirten-einfältig abgehandelt von Joachim Heinrich Hagen. Bareut/ Gedruckt und verlegt durch Johann Gebharden/ im Jahr 1669.29 Aus verschiedenen Tagebuchnotizen Birkens läßt sich eine Geschichte rekonstruieren: Zum 17. Januar 1669 hat Birken notiert: „Filadons WeihnachtsSchäferei revidirt.“30 Der Text war Birken also zur Revision vor der Drucklegung zugesandt oder überbracht worden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten unterschiedlicher Plausibilität. Hagen selbst könnte Birken besucht oder ihm das Werk zugesandt und um Revision gebeten haben. Aber weder für einen Besuch noch für einen Brief Hagens vor dem 17. Januar 1669 gibt es einen Beleg, und das erste in Birkens
26 S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), Text Nr. 307, S. 375, 1018. 27 Sigmund von Birken: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearb. von Joachim Kröll. 2 Bde. Würzburg 1971 und 1974 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte. Reihe VIII: Quellen und Darstellungen zur Fränkischen Kunstgeschichte 5 und 6). Bd. 1, S. 433: PBlO.B.2.1.5, 8r: „Hebdomada 1. […] Epigramma zu Herrn Hagens WeihnachtSchäferei. Verse 16.“ 28 Zu Joachim Heinrich Hagen (1649–1693), seit 1670 Filadon im Pegnesischen Blumenorden s. [Johann Herdegen]: Historische Nachricht von deß löblichen Hirten- und Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang/ biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr/ mit Kupfern geziert, und verfasset von dem Mitglied dieser Gesellschaft Amarantes. Nürnberg, bey Christoph Riegel, Buch- und Kunsthändler unter der Vesten. 1744., S. 359 f.; Matthias Simon: Bayreuthisches Pfarrerbuch. Die Evangelisch-Lutherische Geistlichkeit des Fürstentums KulmbachBayreuth (1528/29–1810). München 1930/31 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 12), S. 117, Nr. 885; Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 50), S. 336–345. 29 Es gibt eine Neuausgabe: Joachim Heinrich Hagen: Weihnacht-Schäferey. Hg. und kommentiert von Matthias Clemens Hänselmann. Passau 2013. Zu diesem Werk ferner: Matthias Clemens Hänselmann: Gottessuche als Weg zur Selbstfindung. Die „Weihnacht-Schäferey“ von Joachim Heinrich Hagen. In: Das Motiv der Weihnacht. Untersuchungen zur religiösen Dichtung aus dem Umfeld des Pegnesischen Blumenordens im 17. Jahrhundert. Hg. von Matthias Clemens Hänselmann, Ralf Schuster. Passau 2013, S. 183–229. 30 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 1, S. 425: PBlO.B.2.1.5, 4v.
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Archiv erhaltene Schreiben Hagens, das vom 23. März 1669 stammt,31 scheint das erste überhaupt gewesen zu sein. Möglich wäre auch, daß die Bitte um Revision vom Rektor des Bayreuther Gymnasiums, dem Generalsuperintendenten Caspar von Lilien,32 vorgetragen worden sein könnte. Birken stand mit ihm seit einigen Jahren in Korrespondenzkontakt. Aber in keinem der in Birkens Archiv vorhandenen Schreiben Liliens aus jener Zeit wird Hagens Name auch nur erwähnt. Zum 28. Januar 1669 hat Birken im Tagebuch notiert: „Sextus [ein Nürnberger Pegnitzschäfer der ersten Generation, noch von Harsdörffer aufgenommen] mit Hagens Bruder eingesprochen.“33 Dieser Bruder wird auch später noch mehrfach erwähnt. Auch von ihm könnten Werk und Revisionsbitte übermittelt worden sein. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß der Übermittler der Bayreuther Drucker und Verleger Johann Gebhard war. Birkens Tagebücher verzeichnen intensiven Besuchs- und Korrespondenzkontakt mit ihm.34 Doch von den wenigen in Birkens Archiv erhaltenen Schreiben Gebhards35 gehört keines in die hier relevante Zeitspanne. Einem ihm bis dahin Unbekannten ist Birken mit seinem Epigramm sehr weit entgegengekommen. Das spricht für die – berechtigte – hohe Einschätzung der poetischen Qualität des ihm vorgelegten Werkes oder der dem Autor zuteil gewordenen Protektion. Birken spielt wie in so vielen seiner Gedichte auf Personen mit dem Familiennamen des Adressaten an (v. 1) und stellt (v. 2) die Poetenkrönung in Aussicht. Daß sie bald darauf durch Caspar von Lilien erfolgen würde,36 muß Birken nicht gewußt haben; er könnte sich selbst als künftigen Coronator gesehen haben. In v. 3–5 wird dem jungen Dichter die Aufnahme in den Pegnesischen Blumenorden angekündigt, mit Anspielung auf den Eklogencharakter seiner Dichtung (v. 3). Von der künftigen Mitgliedschaft muß auch in der – von wem auch immer übermittelten – Nachricht an Hagen die Rede gewesen sein, mit welcher
31 Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Magnus Daniel Omeis, Joachim Heinrich Hagen, Sebastian Seelmann und Georg Wende. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Berlin, Boston 2018 (WuK 13.2 = NDL 95 f.), Text Nr. 3 im Birken-Hagen-Briefwechsel, S. 94, 446– 448. Birken hat den Brief am 26. März 1669 empfangen und am 29. März beantwortet. 32 Zu Caspar von Lilien (1632–1687) s. Simon (Anm. 28), S. 190, Nr. 1455; WuK 11 (Anm. 24), S. XXXVIII–LVI. 33 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 1, S. 428: PBlO.B.2.1.5, 5v. 34 Johann Gebhard (1628–1687) war Ende der fünfziger Jahre von Nürnberg nach Bayreuth gezogen und hatte dort eine Druckerei begründet; s. Text Nr. 36 im Briefwechsel Birkens mit seiner Verlobten: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann (Anm. 24), Z. 76–80, S. 74 f., 481. 35 PBlO.C.96.1–5. Die Briefe stammen aus den Jahren 1664, 1665, 1673, 1674 und 1676. 36 Zu Hagens Poetenkrönung durch Caspar von Lilien s. zu Gedicht Nr. 313 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), S. 1029.
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die von Birken revidierte Ekloge zu ihrem Autor zurückgelangt ist. Mit v. 5 wird der künftige Pegnitzschäfer Filadon aufgefordert, der Programmatik seines künftigen Ordensnamens, des Namens des Protagonisten der Weihnacht-Schäferey – er bedeutet ,Gottlieb‘ –, stets zu entsprechen. Die Schlußverse (v. 6–8) ermuntern den jungen Poeten, der Art seines Erstlings gemäß fortzufahren. Birken wird das wohl ungedruckt gebliebene Epigramm mit dem revidierten Text zurückgesandt haben. Die Weihnacht-Schäferey spielt auch in einer Tagebuchnotiz zur ersten Februarwoche 1669 (31. Januar bis 6. Februar) eine Rolle. Da ist die Anfertigung eines weiteren Gedichtes verzeichnet: „Epigramma zu Herrn Hagens Weihnachtsschäferei. Verse 16.“37 Es steht ebenfalls in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder:38
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Wann man im Himmel fragt: was singt der liebe Hagen? Behagen! höret man Gott selbst zur antwort sagen wohl dem, und mehr als wohl, nach dem der Himmel fragt! wohl ihm, wann so von ihm der Echo antwort sagt! Der Thon, behaget Gott, und euer erstes Singen, mein Freünd! das ihr mit Kunst dort oben lasst erklingen, am Brennischen Parnaß. die Erstling opfert ihr dem Himmel: gläubt, er wird eüch segnen noch dafür. Wie seelig ists, auf Erd sich unter Engel mängen, die Leyr, mit Gottes-Lob, hin an den Himmel hängen! Jhr stimmt, daß Ehr sey Gott, mit Serafim hier an: so hat das Engelheer von anfang her gethan. Fahrt so zusingen fort! Gott wird eüch wieder ehren, und euer Glück, iedoch auf Demut wegen, mehren. Eüch wollen, mit der Zeit, zwo Kronen werden hold: von Lorbeerlaube hier, und dort von Sternen Gold.
Es ist nicht zu erkennen, ob eine Bitte um ein Ehrengedicht zum Druck der Weihnacht-Schäferey zu Birken gelangt ist. Um ein solches Gedicht handelt es sich aber diesmal, und es ist nach der Widmungsvorrede als erstes von zwei Ehrengedichten in Hagens Werk gedruckt worden.39 Wieder wissen wir nicht, wie das Gedicht, vermutlich gleich an Johann Gebhard, nach Bayreuth gelangt ist. Abermals verdient der Wortlaut unser Interesse. Wieder werden zu Beginn (v. 1–4) die Möglichkeiten ausgeschöpft, die der Name des Autors bot. Dabei wird der geistliche Charakter des Hagenschen Werkes stark betont. In v. 5 wird der
37 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 1, S. 433: PBlO.B.2.1.5, 8r. 38 S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), Text Nr. 308, S. 375, 1018–1021. 39 Hagen (Anm. 29), S. 17.
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Erstlingsrang des Werkes hervorgehoben. Danach wird auf die Widmung des Werkes an den Landesherrn, den Markgrafen Christian Ernst (1644–1712) angespielt (v. 5–8). Mit v. 7 f. weist Birken auf eine Passage in Hagens Widmungsvorrede hin: „Abraham mit seinen Söhnen und Söhne-Kindern/ nehrete sich von der Viehzucht/ und ehrete GOtt von den Erstlingen seiner Heerde.“40 In den Versen 9–12 geht Birken lobredend auf das Zentralmotiv der Ekloge ein, das auch in deren Vorrede eine Rolle spielt: „Die Ersten Prediger der Heil-Lehre (Evangelii/) waren Hirten/ denen zuvor die Engel aus dem Himmel predigten.“41 Die Aufforderung der Verse 13 f. wiederholt diejenige des Epigramms, und die Ankündigung der Schlußverse (15 f.) macht offiziell, was im Epigramm privat übermittelt worden war. Am 23. März 1669 hat Hagen das gedruckte Werk noch von Bayreuth aus Birken zugesandt. Das hochoffiziell in lateinischer Sprache verfaßte Begleitschreiben Hagens ist dessen erster Brief, der sich in Birkens Archiv erhalten hat; er war wohl wirklich der erste.42 Hagen bedankt sich darin für Birkens Revisionsarbeit und das Ehrengedicht. Dadurch, nicht durch sein eigenes Verdienst, sei das Werk präsentabel geworden. Der Kontakt wegen der Weihnacht-Schäferey war nur der Anfang. In einem zweiten in Birkens Archiv erhaltenen Schreiben, vom April 1669, immer noch von Bayreuth aus,43 teilt Hagen mit, Caspar von Lilien habe ihn auf die Bekanntgabe seines Entschlusses hin, sich nach Pfingsten auf eine Universität zu begeben, mit einer „Valet-Rede in teütscher Sprache“ beauftragt. Sie solle „eine StammVerwandtschafft beyder Chur-häuser, Sachsen und Brandenburg, mit Erzehlung, wie eines aus dem andern sich erbauet, und was sonsten von Vermählung und Bindnüse zwischen beyden sich ereignet“, vorstellen und entweder im Markgräflichen Schloß oder im Auditorium des Gymnasiums „in Anwesenheit aller fürstlichen Personen“ vorgetragen werden. Caspar von Lilien habe ihm empfohlen, sich in dieser Angelegenheit von Birken beraten zu lassen. Das lag nahe, weil Birken sich zur Heirat des Markgrafen mit einer Tochter des sächsischen Kurfürsten und dem Einzug des Herrscherpaares in seine Residenz Bayreuth wenige Jahre zuvor mit entsprechenden Publikationen hervorgetan hatte.44 So fragt Hagen denn,
40 Ebd., S. 15. 41 Ebd. 42 S. Anm. 31; s. zu Gedicht Nr. 308 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), S. 1018. 43 Text Nr. 4 im Birken-Hagen-Briefwechsel (Anm. 31), S. 95 f., 448–450, ausgestellt ca. am 21. April 1669, bei Birken eingetroffen am 26. April 1669; s. zu Gedicht Nr. 313 der Sammlung S. v. B Birken-Wälder (Anm. 6), S. 1026. 44 S. Hartmut Laufhütte: „und ist es gar nit auf einige Mendicitatem abgesehen.“ Sigmund von Birkens poetische Dienstleistungen für Markgraf Christian Ernst und seine Umgebung. In: Der
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ob es besser wäre in einem Poetischen Gedicht (worinnen, Seiner WohlEhrwürden Herrn Magister Limburgers EhrenTempel, welcher zwar mir itzo nicht bey handen, eine Vorschrift seyn könte,) oder aber in einer gemeinen Teütschen Lobrede, nach art, Herrn Claji Seeligen Lobrede der Teütschen Sprache, die doch mit Poetischen Sinn-Griffen und ReimErfindungen eingeflochten werden köndte, dieses aufzuführen.45
Diesmal ist die Quellenlage etwas besser; sogar kuriose Nebensächlichkeiten werden kenntlich. Offenbar zur Beförderung der erhofften Hilfsbereitschaft brachte Hagen eine Naturalleistung auf den Weg: Zum 3. Mai 1669 steht in Birkens Tagebuch: „Herr Hagen von Bayreuth mir einen Capaun gesendet.“46 Im nächsten Brief kommt Hagen darauf zurück. Das Geschenk hat freilich nur mäßiges Wohlgefallen ausgelöst. Zum 20. Mai 1669, dem Himmelfahrtstag, sah Birken Anlaß zu dieser Tagebuchnotiz: „den Koppen braten lassen, aber alt und hart befunden.“47 Immerhin hat die Ankunft des betagten Vogels Birken zur Beantwortung der Hagenschen Anfrage motiviert. Eine Tagebuchnotiz zu diesem Tag hält fest, daß Birken dem Ratsuchenden durch den erwähnten Bruder die soeben erschienene GUELFIS, außerdem ein historiographisches Werk, das er selbst benutzt hatte, und Martin Limburgers Kressischen EhrenTempel zugestellt hat.48 Dadurch – beide
Pegnesische Blumenorden unter der Präsidentschaft Sigmund von Birkens. Gesammelte Studien der Forschungsstelle Frühe Neuzeit an der Universität Passau. Hg. von Hartmut Laufhütte. Passau 2013, S. 39–58; auch in: Politik – Repräsentation – Kultur. Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth. Bayreuth 2014 (Archiv für Geschichte von Oberfranken. Sonderband), S. 93–114. 45 Hagen nennt als mögliche Vorbilder für seine Arbeit diese Werke: ‚Kressischer Ehren-Tempel: Nach dem Seeligen Ableiben/ Des Wol-Edlen/ Gestrengen/ Fürsichtigen und Hochweißen Herrn Jobst Christoph Kressens von Kressenstein/ auf Krafftshof/ Retzelsdorf und Dürrenmungenau etc. Des Aeltern Geheimen Raths/ Schulherrns und Zinßmeisters/ in des H. Röm. Reichs-Stadt Nürnberg; (Welcher dieses Zeitliche den 7. Brach-Monats gesegnet) eröffnet/ Und in einem Teutschen Gedicht Sinnbildweis gezeiget von M. Martin Limburger/ Käis. Gekr. P. und d. z. Vicario zu Krafftshof. NURNBERG/ Gedruckt bey Wolf Eberhard Felßecker/ MD C LXIII.‘ und ‚Lobrede der Teutschen Poeterey/ Abgefasset und in Nürnberg Einer Hochansehnlich-Volkreichen Versamlung vorgetragen Durch Johann Klajus. Nürnberg/ Verlegt durch Wolffgang Endter/ 1645.‘ Nachdruck in: Johann Klaj: Redeoratorien und „Lobrede der Teutschen Poeterey“. Hg. von Conrad Wiedemann. Tübingen 1965, S. 377–416. 46 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 1, S. 459: PBlO.B.2.1.5, 26r. 47 Ebd., S. 466: ebd. 28r. 48 Ebd., S. 460: ebd. 26r: „76 Schreiben an Herrn Joachim Heinrich Hagen per Fratrem, samt einer Guelfis, und Bertio de Rebus Germanicis auch dem Kressischen EhrenTempel Myrtilli, haec duo reddenda.“ Es gibt eine Protokollnotiz des Birkenschen Schreibens: PBlO.B.5.0.26, 119(15)r. Als Geschenk mitgesandt hat Birken außer den beiden Leihgaben dieses damals neuerschienene Werk: ‚GUELFJS oder NiderSächsischer Lorbeerhayn: Dem HochFürstlichen uralten Haus Braunsweig und Lüneburg gewidmet/ auch mit Dessen Alten und Neuen Stamm-Tafeln bepflanzet: durch Sigmund von Birken/ in der Hochlöbl. Fruchtbring. Gesellschaft den Erwachsenen.
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Dichtungen sind Prosaeklogen – wissen wir, zu welcher der beiden erwogenen Redeformen Birken ihm im Begleitbrief geraten hat. Das historiographische Werk hat Hagen mit seinem Antwortbrief am 18. Mai 166949 zurückgesandt. Er dankt für die ausgeliehenen Bücher und teilt mit, der Plan seiner Rede sei bereits fertig. Birken muß sich in seiner Antwort bereit erklärt haben, auch Hagens Rede zu revidieren. Denn seine Tagebuchnotiz zum 9. Juni 1669 bestätigt den Empfang der ihm von Hagen zur Revision zugesandten „Oration“.50 Aus Hagens Begleitschreiben51 wird kenntlich, daß nur ein Teil des Vorzutragenden, der panegyrische Teil der Ekloge, die Abschnitte 1–45 des späteren Drucks, zu Birken gelangt war. Der Abschiedsteil, die späteren Abschnitte 46–57 fehlte noch. Spätestens in drei Wochen, schreibt Hagen, müsse er zum Studienbeginn nach Jena abreisen, vorher aber noch seine Rede halten, und zwar „memoriter“. Den noch auszuarbeitenden Teil skizziert er recht genau. Die GUELFIS habe er ausgiebig genutzt und Zitate und Anlehnungen bezeichnet. Das läßt sich am Erscheinungsbild des Druckes bestätigen. Am 9. bzw. 10. Juni 1669 hat Birken den revidierten Teil zurückgesandt, wie eine Protokollnotiz zum Begleitbrief erweist.52 Die Notiz enthält viel Lob, läßt aber auch erkennen, daß Birken Modifikationen vorgeschlagen hat. Die Unvollständigkeit des ihm vorgelegten Textes spielt keine Rolle. Baldiger Druck wird gewünscht. Im nächsten Brief, am 21. Juni 1669,53 dankt Hagen für Birkens Mühewaltung und teilt mit, für die nächste Woche sei der Vortrag der Ekloge geplant; sie werde dann zur Überarbeitung für den Druck mit nach Jena gehen. Das letzte Drittel
Nürnberg/ zu finden bey Johann Hofmann. Gedruckt bey Christof Gerhard. A.C. M DC LXIX.‘ Zurückerbeten wird Limburgers Ekloge (Anm. 45) und ein historiographisches Werk, das Birken als eines der Werke benennt, die er für den Donau-Strand (1664) benutzt hat: Petrus Bertius / Pierre de Bert (1565–1629): Commentaria rerum Germanicarum. Amsterdam 1616; s. Hartmut Laufhütte: Ein barocker Bestseller. Eine Beschreibung des Donauraumes aus dem Jahr 1664. Zielsetzung, Enstehungsumstände, Nachwirkung. In: Nur Eitelkeit auf Erden? Das Zeitalter des Barock an der bayerisch-österreichischen Donau. Hg. von Franz-Reiner Erkens. Passau 2013 (Veröffentlichungen des Instituts für Kulturraumforschung Ostbayerns und der Nachbarregionen der Universität Passau 67), S. 73–94, bes. S. 92, Anm. 44; abermals in: Laufhütte: Der Pegnesische Blumenorden (Anm. 44), S. 11–26, bes. S. 21. 49 Text Nr. 6 im Birken-Hagen-Briefwechsel (Anm. 31), S. 96 f., 451 f., ausgestellt am 18. Mai 1669, bei Birken eingetroffen am 20. Mai. 50 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 1, S. 473 f.: PBlO.B.2.1.5, 30r: „123 Schreiben von Herrn Hagen zu Bayreuth. […] dessen oration zu revidiren empfangen.“ 51 Text Nr. 7 im Birken-Hagen-Briefwechsel (Anm. 31), S. 97–99, 453 f., ohne Ausstellungsdatum. 52 S. zu Gedicht Nr. 313 der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), S. 1028. 53 Text Nr. 9 im Birken-Hagen-Briefwechsel (Anm. 31), S. 99 f., 455 f., bei Birken eingetroffen am 24. Juni 1669, beantwortet am 6. August.
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der Rede ist demnach von Birken nicht revidiert worden. Seine Antwort vom 6. August 1669 wird schon nach Jena gegangen sein. Sie hat sich mit Hagens erstem Brief von dort gekreuzt. Der ist auf den 5. August 1669 datiert, war Bestandteil einer Sendung nach Bayreuth und hat Birken erst am 26. August 1669 erreicht.54 Am Tag nach dem Vortrag seiner Rede schreibt Hagen, sei er von Caspar von Lilien mit dem poetischen Lorbeer überrascht worden, und am darauf folgenden Tag sei er nach Jena abgereist. Sein Erstes dort sei die Abfassung der Zuschrift seiner Rede gewesen, deren baldiger Druck verlangt worden sei. Die auf den 1. August 1669 datierte Zuschrift widmet das Werk dem markgräflichen Ehepaar.55 Wahrscheinlich auf diese Mitteilung hin hat Birken das Gedicht verfaßt, das, auf dasjenige zur Weihnacht-Schäferey und die in ihm enthaltenen Prophezeiungen Bezug nehmend, Hagen zur Dichterkrönung gratuliert und als einziges Ehrengedicht nach der Zuschrift in Hagens Rede gedruckt worden ist. Es lautet:
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BJn ich nicht ein Profet gewesen/ als ihr mir neulich/ liebster Freund! gabt euer Schäferspiel zulesen/ das Kunst und Andacht hat vereint? Es fand/ in Euren Erstling-Liedern/ der traute Jesus seinen Preiß. Jch sprach: Jhr wuchert mit dem Fleiß/ GOtt wird die Ehr mit Ehr erwiedern.
Nach GOtt soll man die Götter ehren/ durch die er unsre Welt regirt. Jhr habt hierinn auch lassen hören/ was eure Landes-GOEtter ziert. Jhr habt/ als Er dann ist/ ümschlungen den Adler mit dem RautenZweig; 15 und/ wie das Werk ist Euer Zeug/ von hohen Sachen schön gesungen. 10
Diß süsse Singen so entzückte/ den Föbus Eurer MutterStadt: daß seiner Dafne Haar’ er pflückte/ 20 und Euch damit gekrönet hat. Und hab ich nun nit wahr geschrieben/ daß den/ der seinen JESUS ehrt/ sein JESUS wieder halte wehrt? daß GOttgeliebt sind/ die GOtt lieben?
54 Text Nr. 10 im Birken-Hagen-Briefwechsel (Anm. 31), S. 100 f., 456–460. 55 Hagen (Anm. 29), S. 13.
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Gekrönter von der Edlen Blume/ der LJLJE/ die herrlich riecht! Jhr habt nun theil an Jhrem Ruhme: Sie übergibt Euch dem Gerücht. Fahrt fort/ Euch so beliebt zumachen 30 dem höchsten GOtt und Göttern hier. Der Himmel hat noch manche Zier/ damit zukrönen Eure Sachen.56
Birken hat das Gedicht nicht Hagen nach Jena, sondern dem Drucker Gebhard nach Bayreuth zugesandt.57 In seinem nächsten Schreiben aus Jena, am 6. Februar 1670,58 dankt Hagen Birken überschwenglich für dessen Gedicht, das ihm im Druck erstmals zu Gesicht gekommen ist. Ob seine beiden dem Markgrafen gewidmeten Dichtungen ihm ein Stipendium eingebracht haben, ist nicht zu erkennen. Dem Ziel, ein solches zu erlangen, dienten die beiden Arbeiten und Liliens Auszeichnung seines Schülers gewiß. Zu der von Birken früh angekündigten Aufnahme Hagens in den Pegnesischen Blumenorden kam es 1670. Bis zu Birkens Tod blieb ein freundschaftlicher, mit zahlreichen Briefen dokumentierter Kontakt bestehen.
3 Ein für beide Seiten erfreulicher, diesmal von Anfang an gut dokumentierter Betreuungskontakt ergab sich einige Jahre später. Birkens Klient war diesmal der zwanzigjährige Alumne des von beiden Markgrafschaften unterhaltenen Gymnasiums im Kloster Heilsbronn Johann Achatius Lösch (1656–1736).59 Birkens Archiv
56 Die Manuskriptfassung steht als Text Nr. 313 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), S. 380 f., 1026–1030. 57 Der Titel der Hagenschen Rede lautet: ‚HochFürstliche Ehren-Burg und daran gepflanzter PALMEN-HAYN: Der Stamm- und Vermählung-Verwandtschaft beyder Chur- und Hochfürstlichen Häuser/ Sachsen und Brandenburg/ zu unterthänigsten Ehren gewiedmet/ und in einer Abschied-Rede/ in dem Hochfürstlichen Gymnasio, CHRISTIAN-ERNESTINO einer Hochansehnlichen Versamlung/ aus dem Gedächtnis/ vorgetragen. Durch Joachim Heinrich Hagen/ Kaiserl. gekrönten Poeten. Bayreuth/ Gedruckt bey Johann Gebhard/ Im Christ-Jahr 1669.‘ 58 Text Nr. 12 im Birken-Hagen-Briefwechsel (Anm. 31), S. 103 f., 461–463, bei Birken eingetroffen am 9. März 1670. 59 Zu Johann Achatius Lösch (1656–1736), den Birken 1679 als Polydor in den Pegnesischen Blumenorden aufnahm, s. Amarantes / Herdegen (Anm. 28), S. 479–484; Matthias Simon: Ansbachisches Pfarrerbuch. Die Evangelisch-Lutherische Geistlichkeit des Fürstentums Brandenburg-Ansbach 1528–1806. Nürnberg 1957 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 28),
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enthält einen kalligraphisch ausgeführten Brief Löschs vom 1. Juni 1676,60 der aus einem langen Huldigungsgedicht und einem kurzen Prosa-Schlußteil besteht. Daraus geht hervor, daß Lösch Birken besucht und der ihm eine Stammbucheintragung gewidmet hatte und ihm auf die Bitte hin, „daß Sie ihm einige Comoedi, die für Jhro Hochfürstliche Durchleucht zu Onolzbach könnte für gestellet werden“, das Manuskript des 1651 aufgeführten, aber erst 1679 im Druck erschienenen Schauspiels Margenis ausgeliehen hatte.61 Löschs Besuch hatte im November 1672 stattgefunden. Das wissen wir, weil Birken zum 10. November 1672 im Tagebuch notiert hat: „Jn Wolffarts Stammbuch geschrieben. 6 Verse. Er und noch einer von den heilsbrunnern die Margenie von mir erhalten, vor Serenissimo zu agiren.“62 Löschs Gedichtbrief von 1676 bestätigt, daß dieser erste Kontakt schon längere Zeit zurücklag: „Alß einsten Jhr Hoch Edle Magnificenz dero gehorsamsten diener die Gnad erwiesen und seinem Stammbuch dero hochfürtrefflichen Namen eingeschrieben.“ Den Anlaß für die Aufführungspläne kennen wir: Am 21. Oktober 1672 hatte Markgraf Johann Friedrich (1654–1686) die Regierung seines Fürstentums angetreten.63 Ob es in Ansbach oder – wohl eher – in Heilsbronn zu einer Aufführung gekommen ist, wissen wir nicht, es ist aber zu vermuten. Der junge Verfasser der im nächsten Kapitel zu behandelnden Schrift, Johann Leonhard Rosa, bekundet sich 1677 in der Vorrede als gewesenen Schauspieler bei Aufführungen vor den fürstlichen Personen sowohl in Heilsbronn als auch in Ansbach. Die beiden Heilsbronner werden kaum unempfohlen bei Birken erschienen sein; sie werden ein Schreiben des damaligen Heilsbronner Rektors oder eines Bekannten Birkens haben vorweisen können. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß dieser zwei nicht gut empfohlenen, ihm bislang unbekannten Gymnasiasten eines seiner Dramen-Manuskripte anvertraut hätte. Der erwähnte Gedichtbrief Löschs vom Juni 1676, der eine zum Abschluß der Schulzeit von Lösch verfaßte, Birken gewidmete Disputation begleitete, war ein
S. 294, Nr. 1772; Jürgensen (Anm. 28), S. 503–506; s. zu Gedicht Nr. 258 in der Sammlung Floridans Amaranten-Garte (Anm. 6), S. 902–905. 60 PBlO.C.211.1. Birken hat den Brief am 2. Juni 1676 empfangen. 61 Zu diesem Schauspiel s. o. und Anm. 12 und 13. 62 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 156: PBlO.B.2.1.7, 89(27)v. 63 Zu dem Markgrafen und seiner Gemahlin s. Otto Veh in: NDB 10 (1974), S. 476; Andreas Kraus (Hg.): Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Begründet von Max Spindler. München 1997 (Handbuch der Bayerischen Geschichte 3.1), S. 766, 1262. Weil 1672 der zweite Eroberungskrieg Ludwigs XIV. begonnen hatte, in den Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg verwickelt war, was die fränkischen Markgrafschaften mitbetraf, lag es nahe, zur Feier des Regierungsantritts an die Aufführung eines Friedensspiels zu denken.
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Vorspiel. Zum 20. Dezember 1676 hat Birken im Tagebuch notiert: „Herr Lesch von Heilsbronn mir sein Christgeburtgedicht zu censiren gegeben. Jch ihm verehrt das Todten-Andenken, das Friedens Ballet und Metellum Noricum.“64 Und zum 22. Dezember 1676 steht im Tagebuch: „Schreiben von Johann Achatius Leschen. Carmen petit et obtinet. Responsum cum Epigrammate Eodem die.“65 Aus dem Zusammenspiel beider Notizen ist zu folgern, daß Lösch am 20. Dezember 1676 Birken aufgesucht und ihm sein Christgeburtgedicht mit der Bitte um Revision vorgelegt hat. Zwei Tage später hat er Birken brieflich um ein Ehrengedicht zu seinem Werk ersucht, das Birken sogleich verfaßt und dem Bittsteller – wohl zusammen mit dem revidierten Werk – zugesandt hat. Ob der sich noch in Nürnberg aufhielt oder schon wieder heimgereist war, ist nicht zu erkennen. Offenbar hatte das Werk Birkens Zustimmung gefunden. Es ist – sicher noch in der Weihnachtszeit – gedruckt und den Widmungsempfängern, dem jungen Ansbacher Markgrafen und seiner Gattin (seit 1673), der Markgräfin Johanna Elisabeth, einer geborenen Markgräfin von Baden-Durlach, überreicht worden. Das 592 Verse umfassende Gedicht – Alexandriner-Erzähltext mit sieben eingelagerten Strophenliedern – trägt den Titel: Weihnachts-Opffer Der Heilbringenden ChristGeburt deß theüersten Jesuleins Geweyhet von Johann Achatius Löschen/ Brandenburg. Onolzbachischen Alumno auf dem Hoch-Fürstlichen Gymnasio zu Hailsbronn. Onolzbach/ Gedruckt bey Jeremias Kretschmann. ANNO M. DC. LXXVI.66 Birkens Ehrengedicht ist gleich nach der Widmungsvorrede gedruckt.67 Es lautet: Jhr brennet/ und beginnt zu leschen und zu stillen der Kunst-Welt dürren Durst/ und zwar mit Himmelstranck. Wer JEsum liebt/ dem steht auch JEsu lieb zu willen: was man ihm schuldig ist/ das nimmt er an mit Danck.
64 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 361: PBlO.B.2.1.2, 155(4)v. Diese eigenen Werke hat Birken dem Besucher mitgegeben: Sigmunds von Birken Com. Pal. Caes. Todes-Gedanken und Todten-Andenken: Vorstellend eine Tägliche Sterb-bereitschaft und Zweyer Christl. Matronen Seelige SterbReise. Nürnberg/ Zu finden bey Johann Kramern. Gedruckt in Bayreuth/ durch Johann Gebhard. A.C. 1670.; Birken: Teutscher Kriegs Ab- und FriedensEinzug (Anm. 10); Der Norische Metellus oder Löffelholzisches Ehrengedächtnis/ Des Glückhaften Vördersten Regentens der Weltberühmten Norisburg: zu wolverdientem Nachruhm Dieses WolEdlen Stadt- und LandsVatters aufgerichtet durch Die Blumgenoß-Schäfere/ an der Pegnitz. Nürnberg Jm MDCLXXV Christ-Jahr. 65 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 363: PBlO.B.2.1.2, 155(4)v. 66 Zu diesem Werk, das – als Briefbeilage – ausnahmsweise in Birkens Briefnachlaß verblieben ist (PBlO.C.211.11) s. Hartmut Laufhütte: „So wird unser Geist aufglimmen/ Engel-ähnlichs Lob anstimmen.“ Johann Achatius Löschs Weihnachtsschäferei aus dem Jahr 1676. In: Das Motiv der Weihnacht (Anm. 29), S. 267–301. 67 S. [Aij]v. Die Manuskriptfassung steht als Text Nr. 395 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (Anm. 6), S. 450 f., 1159 f.
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Er wird auch leschen Euch den Durst/ das Geistverlangen/ und flügeln eüren Geist zum Ehr: und Glückes-Thron. Bleibt/ als ein Herz Christ/ nur an eürem Christus hangen: Er windet hier und dort/ für Eüch die Lorbeer Cron.
Das Spiel mit den Ausdeutungsmöglichkeiten, den der Name eines Adressaten oder sonst Bedichteten bietet, begegnet zu häufig in Birkens Gedichten, als daß es hier eigens behandelt werden müßte. Auch auf Löschs Werk will ich hier nicht eingehen, so reizvoll das wäre. Ihm muß geraten worden sein, Birkens Dichtungen oder auch Hagens WeihnachtSchäferey zum Vorbild zu nehmen, in welcher die Eklogenform erstmals mit dem Weihnachtsmotiv verbunden worden war. Vom 8. Januar 1677 stammt Löschs zweites in Birkens Archiv erhaltenes Schreiben.68 Es enthält seinen Dank für Birkens Ehrengedicht, durch das er – bescheiden hinsichtlich seiner eigenen Leistung – „einige Beförderung zu erlangen“ hofft. Man erfährt auch Näheres über die von Birken getätigte „censur“: Jch als ein gering-unbekanter Frembdling muste alsobald (da mir Jhrer Hoch Edlen Magnifizenz gehorsamst auffzuwarten, hochgünstig erlaubet) dero Güte erfahren; indeme Sie in großer Unpäßlichkeit fünff stunden auff meines Werckleins Verbeßerung und meiner Unterhaltung angewendet; auch auff ferner gehorsamstes Ansuchen hoch gültige Lob Zeilen nicht versaget.
Also hatte Lösch um das Ehrengedicht tatsächlich erst nach der Unterredung über sein Werk gebeten. Birkens Tagebuch enthält übrigens für die Zeitspanne zwischen dem 11. und 29. Dezember 167669 – am 20. Dezember hatte Lösch ihn besucht – zahlreiche Notizen zu gesundheitlichen Problemen. Löschs Hauptanliegen im Januarbrief war aber der Bericht über den Erfolg, den er mit seiner Dichtung errungen hatte und bescheiden ausschließlich Birkens „Lob Zeilen“ zuschreibt: Wie nun solche bey Seiner Hochfürstlichen Durchleucht soviel gewürket, daß mein Werklein in Gnaden auffgenommen, auch deßwegen ein Gnädiges Recompens, und Decretum auff ein Stipendium Academicum mildest gedyen; als finde ich mich hierdurch von neuem zu gehorsamsten danck verbunden.
Ein solches Stipendium zu erlangen, dürfte – wie sieben Jahre zuvor in der Nachbarmarkgrafschaft bei Joachim Heinrich Hagen – der mit der Weihnachtsdichtung verfolgte Zweck gewesen sein. Seinem Förderer verspricht er Gebetsdank.
68 PBlO.C.211.2. Birken erhielt es am 9. Januar 1677. Mit ihm gelangte Löschs Dichtung zu Birken. 69 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 361 f.: PBlO.B.2.1.2, 156(5)r/v.
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Dem Januarbrief war ein Exemplar des Druckes beigefügt, in dem wohl nicht alle von Birken angebrachten Monita umgesetzt worden waren: Jhre Hoch Edle Magnificenz wollen nicht zürnen, daß die von Jhr verbeßerte Fehler wiederum theils eingeschlichen. Es ist durch deß unverständigen Buchtruckers Nachläßigkeit geschehen, ob ihme schon alles recht fürgeschrieben wurde.
Wir wüßten gern, was Birken moniert hatte. Lösch ist nicht gleich nach seinem zukunftssichernden Erfolg zum Studium nach Jena abgereist. Die Stipendiumzusage löste offenbar nicht gleich die Bewilligung aus. Zum 7. April 1677 hat Birken Löschs dritten Besuch im Tagebuch notiert: „Herrn Leschen von Heilsbronn, meine Teutsche Prosodie abzuschreiben mitgegeben.“70 Ob Birken ihm die alte, für Gottlieb von Windischgrätz 1654 verfaßte Rudimentärpoetik ausgehändigt hat oder schon das Manuskript der 1679 gedruckten Rede-bind- und Dicht-Kunst, ob er sie, wenn es diese war, Lösch ausgeliehen oder ihn mit der Anfertigung einer Reinschrift beauftragt hat, muß offen bleiben. Für den 27. Juni 1677 verzeichnet Birkens Tagebuch abermals einen Besuch Löschs,71 der wohl bald danach nach Jena abgereist sein wird. Vom wichtigsten der bei Löschs Besuch behandelten Gegenstände gibt sein erster, am 20. Mai 1677 aus Jena an Birken gerichteter Brief,72 mit dem er verspätet, wofür er sich entschuldigt, die Prosodie zurückschickt, Auskunft: Sonsten habe Jhre Hoch Edle Magnificenz an dero Großgünstiges Versprechen, wegen deß Concepts deß Diplomatis, so Lauream conferirte, gehorsamst erinnern wollen; überschicke hierbey 2 Reichsthaler pro subscriptione. So Jhre Hoch Edle Magnificenz nach dero guten beqvemlichkeit es zu überschicken belieben werden, sollen auch sobalden die übrige 4. thaler für des Hochlöblichen Ordens kleinod, nebst der reinen Abschrifft deß Diplomatis mit gehorsamsten dancke folgen. Was dero hohes Genehmhalten mir für einen Nahmen, Ordens bluhme und Wahlspruch zuzueignen geruhen, werde mit dancknehmiger Zufriedenheit erkennen.
Birken hatte sich demnach bei den Gesprächen in Nürnberg erboten, Lösch den poetischen Lorbeer zu verleihen und ihn in den Pegnesischen Blumenorden aufzunehmen. Ferner muß verabredet worden sein, daß Birken den Entwurf des Coronatsdiploms nach Jena schicken würde, wo Lösch für die Anfertigung einer
70 Ebd., S. 395: ebd. 174(23)r. 71 Ebd., S. 398: ebd. 176(25)r. 72 PBlO.C.211.3, bei Birken eingetroffen am 5. Juni 1677; s. Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 401: PBlO.B.2.1.2, 177(26)v: „Von Herrn Leschen 2 Thaler pro Lauru, nondum exhibita.“ Geantwortet hat Birken wohl nicht.
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Reinschrift sorgen sollte. Die sollte zur Unterschrift und Siegelung nach Nürnberg zurückgeschickt werden. Birken scheint auf Löschs Brief nicht reagiert zu haben. Entsprechend besorgt hat der am 26. Oktober 1677 nachgefragt73 und abermals keine Antwort erhalten. Lösch, der inzwischen sein Studium abgeschlossen hatte, kam am 7. Dezember 1678 nochmals auf sein Anliegen und Birkens Versprechen zurück:74 Jndeme aber, nach erlangtem Gradu Magisterij, […] die Laurea Poëtica mir einen zimlichen Vorschub thun könte, maßen bey derer erlegung Collegia Poëtica zuhalten Vollmacht bekäme, dergleichen von vielen verlangt worden; als habe in diesem Fall zu Seiner Hoch Edlen Magnificenz mein gutes Vertrauen gesetzet, unterdienstlich bittende, Sie wollen doch mir solche angedeyhen zu laßen, hochgünstig belieben.
Diesen Brief hat Birken endlich am 28. Januar 1679 beantwortet. Das auf den 13. Januar 1679 datierte Konzept des Coronatsdiploms75 für Lösch hat er beigefügt. Daß Birken im Januarbrief auch Löschs Aufnahme in den Pegnesischen Blumenorden bestätigt hat, geht aus Löschs Antwort vom 15. März 1679 hervor,76 mit welcher er die Reinschrift des Coronatsdiploms zur Unterschrift und Siegelung zu Birken sandte, zusammen mit einem „einfältig gesetzten Danksdenkmahl“, das sich in Birkens Archiv nicht erhalten hat. Am 28. März 1679 hat Birken das Diplom nach Jena zurückgesandt. Lösch ist danach noch eine Zeitlang in Jena geblieben, mehrere Briefe in Birkens Archiv belegen es.77 Sie handeln vor allem von Löschs Aufnahme in den Blumenorden 1679. Heimgekehrt ist er, weil ein Dekret des Markgrafen ihm die erste freiwerdende Stelle im Kirchendienst in Aussicht stellte.78 Sein letztes in Birkens Archiv erhaltenes Schreiben wurde am 7. Juli 1680 schon im markgräflich-Ansbachischen Gunzenhausen ausgestellt,79 wo er zunächst als Informator, von 1681 an in verschiedenen Kirchenämtern tätig war. Im Pfarrdienst ist er sein ganzes Leben lang geblieben und als Pegnitzschäfer Polydor nicht sehr auffällig geworden. Seine Heimreise von Jena hatte ihn zwar über Nürnberg geführt; zu einem Besuch bei Birken war aber keine Zeit gewesen, wie Lösch im letzten Brief beklagt.
73 PBlO.C.211.4, bei Birken eingetroffen am 3. November 1677, ebenfalls unbeantwortet. 74 PBlO.C.211.5, bei Birken eingetroffen am 3. Januar 1679. 75 Es ist nicht in Birkens Archiv zurückgelangt. Das Datum liefert sein Verzeichnis seiner Amtshandlungen als Comes Palatinus PBlO.A.1, 29r–31r: 31r. 76 PBlO.C.211.6, bei Birken eingetroffen am 21. März 1679, beantwortet am 28. März. 77 PBlO.C.211.7 (27. April 1679), C.211.8 (24. Mai 1679), C.211.9 (18. Oktober 1679). 78 Das teilt Lösch Birken in seinem letzten Brief aus Jena mit. 79 PBlO.C.211.10, bei Birken eingetroffen am 26. Juli 1680.
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4 Ein ganz anderes Bild vom Verhältnis des Klienten zu seinem Mentor und Förderer vermittelt mein drittes Beispiel. Am 29. Oktober 1677 erhielt Birken ein am Vortag ausgestelltes Schreiben des Heilsbronner Rektors (seit 1675) Johann Friedrich Krebs (1651–1725),80 in dem es heißt: Es hat ein hiesiger Gymnasiast, Johann Leonhard Rose, eine teütsche gebundene Rede verfertiget, die er gerne zum druck befördert wißen mögte. Weiln ich aber alle, so unter meiner inspection alhier studiren und in der Poesy sich üben wollen, Euer Excellenz Schrifften, als welchen Sie sicher nachahmen könnten, recommendire; alß verlanget nun berührter Rose zu dem Apollo selbst sich zuverfügen, und Eurer Excellenz censur und geneigten urtheil, was er verfasset hat, zu untergeben, auch deßwegen um dieses empfehlungs-Schreiben mich ersuchet. Jn welchem begehren ich bemelten Rose desto lieber willfahre, weiln er von der gütigen natur mit einem guten ingenio wohl gezieret ist, durch fleiß und tugend sich zu qvalificiren trachtet, deme auch sein frommer und seeliger herr Vatter den Göttlichen Seegen wird erbetten haben. Ersuche demnach Eure Excellenz, daß Sie ohnbeschwert anhören wollen, was benahmter Rose an dieselbe wird gelangen laßen, auch nach beschaffenheit der sachen mit gutem rath und nötiger instruction zu seinem Vorhaben Sich Jhme förderlich erzeigen.
Der junge Mann, der diesen Brief laut entsprechender Tagebuchnotiz selbst zu Birken brachte,81 war ein Sohn des Bayreuther Diakons und Konsistorialassessors Johann Rosa (1615–1670); Birken kannte den Vater aus seiner in Bayreuth verbrachten Zeit.82 Gleich am Besuchstag hat Birken „des Rosa ersten Bogen durchsehen“. Daß Rosa bei Birken erfolgreich war, erweist das nächste Schreiben des Heilsbronner Rektors an Birken, das am 10. November 1677 ausgestellt worden ist.83 Darin heißt es:
80 PBlO.C.180.1. Zu Johann Friedrich Krebs s. Simon (Anm. 59), S. 294, Nr. 1772. 81 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 427: PBlO.B.2.1.2, 191(40)v: „Unmüßiger Tag, Zusprache von Störn et Uxore, von Sororis filio, filiâ, von Stenzmann, von den jungen Rosa, Scheurer, Maler Mayrn, Knorzen. des Rosa ersten Bogen durchsehen.“ 82 Zu Johann Rosa s. Simon (Anm. 28), S. 265, Nr. 2019. Anläßlich seines Todes hat Birken dieses Gedicht zur Nachrufschrift mit der Leichpredigt beigesteuert: Ehren-Andenken deß Theuren und Treuen Gottes Lehrers in der Hoch-Fürstl. Brandenb. Residenz Stadt Bayreuth. Herrn Johannes Risa: mit Herzlicher Klage/ über den Verlust dieser Buß-ruffenden Prediger-Stimme in der WeltWüsten/ gesetzet Durch Sigmund von Birken. (s. Stauffer (Anm. 10), S. 756–758.) Die Manuskriptfassung steht in der Sammlung S. v. B. Todten-Andenken und Himmels-Gedanken. oder GOTTESund Todes-Gedanken (Anm. 4). Text Nr. 224, S. 297–299, 836 f. 83 PBlO.C.180.2, bei Birken eingetroffen am 14. November 1677, beantwortet am 10. Februar 1678.
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Eurer Excellenz geneigtes Schreiben nicht nur, sondern auch der belobte Rose hat versichert, daß Sie mit sonderbarer gewogenheit, was an dieselbe gelangen laßen, angenommen, maßen dann die erwiesene Willfährigkeit deßen eine genugsame Zeugin.
Aus dem ersten der drei Briefe Rosas, die sich in Birkens Archiv erhalten haben84 – es wird kaum weitere gegeben haben –, der am 15. November 1677 im Kloster Heilsbronn ausgestellt wurde,85 erfahren wir etwas über die Dichtung, für welche Birkens Rat und Korrektur erbeten wurde. Rosa hatte zum Geburtstag der Ansbacher Markgräfin Johanna Elisabeth86 am 6. November ein Huldigungsgedicht verfaßt. Außer der Korrektur hatte er ein Begleitgedicht Birkens erbeten und erhalten. Dieses, das Birken in seiner Antwort auf das erste Schreiben des Heilsbronner Rektors, von der wir durch dessen zweites Schreiben wissen, zusammen mit dem revidierten Text Rosas nach Heilsbronn gesandt haben wird, kennen wir aus Birkens letztem Arbeitsbuch S. v. B. Dichterey-Sachen, in dem es zur Zuordnung in die Sammlung S. v. B. Birken-Wälder markiert ist.87 Es wird dort als am 29. Oktober 1677 entstanden bezeichnet: Zu Herrn Johann Leonhard Rosens Schönheit-Quelle. Was quillt, was rinnet hier, was bildt der BrunnKrystall? Hat selbst die Sonne sich gestürzt in diese Fluten? Sie sihet ja heraus aus diesem Wasser-Fall, der nahe Sipschaft macht mit Claros klaren Struten. 5 Den Göttern hat beliebt, zu kommen auf die Erd: Drum Himmel-Schönheit hier und Tugend flammt zusammen. Es macht den Onoldsbach die hohe Nymfe wehrt: die, wie der TagesPrinz, strahlt von sich helle Flammen. Von dieser Wärm erwächst die Ros’ und wol bekleibt, 10 und denkt mit Dank daran, wie sie ward Huld-beschienen: die ihrer Fürstin Ruhm auf alle Blätter schreibt. Jhr macht es recht, mein Freund! den Göttern soll man dienen. Es adelt sich ein Vers, der hier die Hohen preist; heist Adler, weil also er an den Himmel flieget,
84 PBlO.C.286.1–3; C.286.4 ist eine Fehlzuweisung. 85 PBlO.C.286.1, bei Birken eingetroffen am 22. November 1677, beantwortet am 29. Januar 1678. 86 Markgräfin Johanna Elisabeth (1651–1680; s. Anm. 63), die erste Gattin des Markgrafen Johann Friedrich von Brandenburg-Ansbach, war eine Tochter des Markgrafen Friedrich VI. von Baden. 87 Birkens Gedicht steht demgemäß als Text Nr. 403 in der Edition der Sammlung S. v. B. BirkenWälder (Anm. 6), S. 464, 1174–1177.
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gibt Göttern Ehr und Lob, des Vatters wackrer Geist flackt aus dem Sohn hervor, und unsre Hoffnung wieget. Fahrt fort, und machet Euch Gott und die Götter hold. Es sinnt schon ihre Gnad, und Glück, auf euren Sold.
Birken hat sich in diesem Gedicht sehr stark engagiert, u. a. mit Vorwegnahme des von Rosa zweifellos erstrebten Effekts. In seinem Brief vom 15. November 1677 bedankt Rosa sich bei Birken für die sechsstündige Audienz, die ihm „vor etlichen Wochen“ gewährt worden war, für die Revision seiner Dichtung, deren Druck Birken auch noch vermittelt hatte, und Birkens „Gratial-Zeilen“. Er berichtet ferner, sein Werk sei von der Adressatin wunschgemäß aufgenommen worden und habe ihm „ein gnädiges Recompens“ eingebracht. Seinem Brief hat Rosa nur einige Exemplare des inzwischen gedruckten Werks beigefügt. Leider nennt er den Werktitel nicht; die Andeutungen in der Überschrift des Birkenschen Ehrengedichts, „Schönheit-Quelle“, sind die einzigen Hinweise. In Birkens Nachlaß ist kein Exemplar vorhanden. Wir kennen das Werk trotzdem: Die Universitätsbibliothek Bayreuth besitzt es.88 Der Titel – hier stark abgekürzt – lautet: Tugend-qwellender Schönheit-Brunn/ und Schönheitqwellender Tugend-Brunn: Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen/ FRAUEN Johanna Elisabetha/ Marggräfin zu Brandenburg […] Geborner Marggräfin zu Baden und Hohberg/ […] Als Dero Abbildung/ [Zu Jhr.] Hochfürstl. Durchl. allerglorwürdigstem Geburts-Fest/ […] Aus unterthänigst-demütigster Pflicht gehorsamst gewidmet/ von Johann Leonhard Rose. Nürnberg/ Gedruckt bei Andrea Knorzen. Es handelt sich um eine aufwendige Huldigungsanrede – keine Ekloge – (1116 Verse, 40 Seiten lang) in achthebigen Trochäen mit sieben eingefügten Gedichten verschiedener Art und Form und einem langen Anmerkungsapparat in lateinischer, deutscher und französischer Sprache: sehr prätentiös. Birkens Gedicht steht als einziges Ehrengedicht allein auf S. 6, mit dem Trinitätszeichen „m!“ als Überschrift und einer Abschlußformel: „Also glückwünschte | Sigmund von Birken.“ Es gibt nur eine unbedeutende Abweichung vom Manuskript. Rosa hat auch weiterhin auf Birkens Hilfsbereitschaft vertraut. Dem im Tagebuch verzeichneten, im August 1678 an Rosa nach Heilsbronn gerichteten Schreiben Birkens89 könnte ein zweiter Besuch des Gymnasiasten voraufgegangen sein. Darauf läßt der Inhalt des zweiten an Birken gerichteten Schreibens schließen, das Rosa am 21. Mai 1679 in Wittenberg ausgestellt hat,90 wo er sich seit Anfang
88 Signatur: 45 / NS 5930 R796. 89 Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 452: PBlO.B.2.1.2, 207(56)r: „16 an Johann Leonhard Rosa zu Heilsbronn.“ 90 PBlO.C.286.2. Der von Birken angebrachte Empfangsvermerk (11. Mai 1679) ist falsch.
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des Jahres aufhielt. In diesem Schreiben erinnert Rosa Birken daran, bei der letzten Zusammenkunft auf der Durchreise nach Wittenberg habe er von seinem Vorhaben berichtet, der Markgräfin zu ihrem Geburtstag diesmal mit einer größeren Dichtung aufzuwarten, durch welche er ein ihm in Aussicht gestelltes Stipendium zu erlangen hoffe und für die er abermals Begleitverse Birkens erbeten habe. Die Erinnerung dient zur Vorbereitung einer Bitte: Die Belastungen durch das Studium seien so groß, die Möglichkeiten, sich in der Poesie zu üben so begrenzt, schreibt Rosa, daß er sich nicht in der Lage sehe, das für sein Fortkommen so wichtige Werk zustande zu bringen. Birken wird gebeten, es für ihn zu verfassen und auch einen geeigneten Kupfertitel zu entwerfen; in eigenem Namen möge er ferner ein Begleitgedicht hinzufügen. Rosa hatte recht genaue Vorstellungen, wie die verehrte Excellenz in seinem Namen tätig werden sollte: „das Gedicht kan Sie nach ihrem Selb-Gefallen, etwan auf vier Bögen einrichten, und entweder in gebunden- oder Vermischter rede schreiben.“ Drucken lassen will Rosa das Werk aus Kostengründen in Wittenberg; der Kupfertitel aber soll in Nürnberg angefertigt werden. Bis Anfang September möchte er alles in Händen haben, damit das Werk am Geburtstag der Markgräfin übereicht werden könne. Möglichst umgehend möge Birken ihn durch seinen in Nürnberg lebenden Bruder wissen lassen, was der Gegenstand des Huldigungswerkes sein werde, damit er selbst – immerhin – die Dedikationsadresse entwerfen könne. Die ganze Unverschämtheit wird in einem selbst für damalige Verhältnisse unangenehm unterwürfigen Ton vorgetragen. In etwa zwei Jahren, schreibt Rosa noch, hoffe er von Birken den poetischen Lorbeer zu empfangen. Birken hat offenbar nicht geantwortet. Denn Rosas drittes und letztes Schreiben, am 16. Mai 1679 in Wittenberg ausgestellt,91 reagiert nicht auf eine Nachricht Birkens, sondern auf Mitteilungen des in Nürnberg lebenden Bruders. Von dem habe er vom Tod Frau von Birkens92 erfahren und daß Birken seinem Wunsch nicht entsprechen konnte oder wollte. Immerhin sah er nun Anlaß, sich für sein letztes Schreiben zu entschuldigen. Wegen des Ausbleibens der erbetenen Hilfeleistung, berichtet er, habe er nun selbst „nur ein Carmen“ in der Art von „Academischen Verehr-Gedichten“ in Arbeit, mit dem er sein Ziel, die Gewährung eines Stipendiums, zu erreichen hoffe. Birken wird nun um ein Empfehlungsschreiben
91 PBlO.C.286.3, bei Birken eingetroffen am 2. Oktober 1679. 92 Birkens zweite Ehefrau, die Witwe Clara Catharina Weinmann, verwitwete Rubinger, geborene Bosch (1615–1679), mit der er seit dem 3. Dezember 1673 verheiratet war (s. Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 255: PBlO.B.2.1.8, 120(27)r), war laut Datumsangabe auf dem Titelblatt der Nachrufschrift dreier Pegnitzschäfer am 15. Mai 1679 gestorben, s. Stauffer (Anm. 10), S. 1024. Birken selbst nennt im Tagebuch den 16. Mai als Sterbetag: Birken: Tagebücher (Anm. 27), Bd. 2, S. 460: PBlO.B.2.1.2, 210(59)v.
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an den Markgrafen gebeten. Ob Birken dieser neuerlichen Bitte entsprochen und ob Rosa sein Ziel erreicht hat, wissen wir nicht, wohl, daß er 1682 den Magistergrad erlangt hat. Denn in diesem Jahr hat er aus Mitteln des Klosters Heilsbronn die üblichen zehn Gulden zur Begleichung der dabei entstehenden Kosten erhalten.93 Weiteres über Johann Leonhard Rosa hat sich bisher nicht ermitteln lassen. Wir wissen weder, ob das zweite, das „Verehr-Gedicht“, fertiggestellt, noch, ob es, wenn ja, gedruckt worden ist.
5 Zu allen vorgestellten Vorgängen ließen sich aus den Materialien des BirkenNachlasses viele Parallelen anführen. Einer stattlichen Zahl junger Gelehrter und Poeten hat Birken Rat, Unterstützung und Förderung gewährt, einigen auch durch Aktivierung seiner Verbindungen zu Anstellungen verholfen. Nicht wenige seiner Klienten haben es wie Joachim Heinrich Hagen später zu angesehenen Ämtern und literarischem Ruhm gebracht. Für manche ist es wie für Lösch bei einer soliden Existenz und eher bescheidener literarischer Tätigkeit geblieben. Es konnte nicht ausbleiben, daß es auch Versuche wie denjenigen Rosas gab, seine „Leutseligkeit“ schamlos auszunutzen oder zu mißbrauchen. Bis zuletzt hat Birken junge Leute an sich gezogen. Zum Zeitpunkt seines Todes kann das Durchschnittsalter der Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens nicht sehr hoch gewesen sein.
93 S. Ausführliche Geschichte der öffentlichen und Privatstipendien für Baireutische Landeskinder. Bearbeitet von Dr. Friedrich Wilhelm Layriz. Bd. 1. Hof 1804, S. 56 f.
Ralf Schuster
Frauen im Pegnesischen Blumenorden des 17. Jahrhunderts1 1 Einleitung Der Pegnesische Blumenorden ist die einzige Sprachgesellschaft des 17. Jahrhunderts, in der Frauen eine aktive Rolle gespielt haben. Zwar hat auch Philipp von Zesen zwei Frauen in seine Teutschgesinnete Genossenschaft aufgenommen,2 über deren Wirken in dieser Sprachgesellschaft ist aber nichts bekannt – Catharina Regina von Greiffenberg dürfte nicht einmal gewußt haben, daß sie Mitglied war.3 Der erste Präses und Mitbegründer des Blumenordens Georg Philipp Harsdörffer hat 1645 oder 1646 bereits kurz nach der Ordensgründung Sophia von der Lippe, die in Hadersleben wohnende Tochter des dänischen Kanzlers in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, als Diana in den Orden aufgenommen. Dies ist sicher durch die Vermittlung Johann Rists geschehen, der als Daphnis aus Cimbrien Ordensmitglied war und mit Harsdörffer in Briefkontakt stand.4 Weitere
1 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen weitgehend auf meiner Einleitung zu Die Pegnitzschäferinnen. Eine Anthologie. Zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von Ralf Schuster. Mit einem Vorwort von Hartmut Laufhütte. Passau 2009. Vgl. auch Ralf Schuster: Die Aufnahme von Frauen in den Pegnesischen Blumenorden durch Sigmund von Birken. In: „Erfreuliche Nützlichkeit – Keim göttlicher Ehre“. Beiträge zum Harsdörffer-Birken-Colloquium des Pegnesischen Blumenordens im Oktober 2014. Hg. von Werner Kügel. Passau 2015, S. 219–239. Dort werden zusätzlich zwei Gedichte von Pegnitzschäferinnen genauer betrachtet. 2 Es handelt sich um Catharina Regina von Greiffenberg (Die Tapfere) und Ursula Hedwig von Veltheim (Die Kluge); vgl. Philipp von Zesen. Sämliche Werke. Unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 12. Berlin, New York 1985, S. 461 und 463. 3 Vgl. Hartmut Laufhütte: „Ja dan würde Er an mir viel einen andern finden, als ich Jhm beschrieben worden.“ Philipp von Zesens Versuch, mit Sigmund von Birken in Briefkontakt zu gelangen. In: Ders.: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007, S. 115–124; hier S. 120. 4 Vgl. dazu: Die erste Pegnitzschäferin. Der lyrisch-briefliche Kontakt zwischen Sophia von der Lippe, Johann Rist und Sigmund von Birken. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung. Heft 2 (2008), S. 35–52; auch in: Der Pegnesische Blumenorden unter der Präsidentschaft Sigmund von Birkens. Gesamhttps://doi.org/10.1515/9783110593129-259
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Frauen hat Harsdörffer, dessen Interesse an der Pegnitzschäfergesellschaft offenbar relativ rasch nach der Gründung nachließ, nicht aufgenommen. Durch die Aufnahme der Diana hat er jedoch einen Präzedenzfall geschaffen, der es seinem Nachfolger als Präses, Sigmund von Birken, ermöglichte, weitere weibliche Mitglieder zu rekrutieren. Birken hat die Aufnahme von Frauen in der Nachruf-Ekloge für seine verstorbene erste Ehefrau 1670 theoretisch fundiert: Unsre Blumgenosschaft/ (fienge Meliböus wieder an/) hat vor andern etwas sonderbares/ indem sie auch Personen Weiblichen Geschlechts zu Mitgliedern annimmet. Jn dem Hirtenspiel/ womit ich/ im nächst-verwiechenen Jahr/ unsres Dorus und seiner süssen Dorilis VermählungsFest beglückwünschte/ (sagte Floridan/) ist genugsam erwiesen/ daß die Natur dieses Geschlechte von der Tugend- und Weißheit-Fähigkeit nicht ausschließe; daß auch GOtt und die Ewigkeit zwischen ihnen und uns keinen unterschied mache: wie solten dann wir solche Nymfen und Schäferinnen/ welche Tugendsam und Kunst-geistich/ auch Gottfromm/ sich zeigen/ die das Lob der Fürtrefflichkeit krönet/ und mit denen wir auch im Himmel ewig-seelige Gesellschaft machen werden/ diese unsere Lorbeerlaub- und Blumgenossschaft auf Erden versagen?5
In der 1716 gedruckten Satzung des Blumenordens ist die Möglichkeit der Aufnahme von Frauen schließlich offiziell fixiert worden: Dahero nur solche Personen, von beyderley Geschlecht, auf vorhergehenden guten Rath und beschehener Untersuchung, in die Gesellschafft aufgenommen werden können und sollen, welche die Geschicklichkeit und den Willen haben, den schon-berührten mannigfaltigen Endzweck zu erreichen […].6
Birken hat 13 Frauen in den Orden aufgenommen. Die ,Frauenquote‘ war damit sehr hoch; denn Birken hat insgesamt 45 Männer aufgenommen, so daß fast jedes vierte neu aufgenommene Mitglied eine Frau war. Zum Vergleich: Unter Birkens Nachfolger Martin Limburger sind keine Frauen in die Pegnitzgesellschaft eingetreten. Dessen Nachfolger Magnus Daniel Omeis wiederum hat fünf Frauen
melte Studien der Forschungsstelle Frühe Neuzeit an der Universität Passau (2007–2013). Hg. von Hartmut Laufhütte. Passau 2013, S. 263–276. 5 Floridans Lieb- und Lob-Andenken seiner Seelig-entseelten Margaris im Pegnitz-Gefilde/ bey frölicher Frülingszeit/ traurig angestimmet. Nürnberg 1670, S. 275 f. 6 Zitiert nach Johannes Herdegen: Historische Nachricht von deß löblichen Hirten- und BlumenOrdens an der Pegnitz Anfang und Fortgang/ biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr/ mit Kupfern gezieret, und verfasset von dem Mitglied dieser Gesellschafft Amarantes. Nürnberg 1744, S. 56.
Frauen im Pegnesischen Blumenorden des 17. Jahrhunderts
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aufgenommen.7 Omeis’ Präsidentschaft und seine Aufnahmepolitik ist bislang in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben, obwohl im Archiv des Blumen ordens hochinteressante Dokumente dazu erhalten sind. Nach Omeis’ Tod 1708 wurde bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts keine Frau mehr aufgenommen. Man sieht bereits an diesen Zahlen, daß unter Birkens Präsidentschaft die Frauen im Orden eine besonders wichtige Rolle gespielt haben bzw. daß Birken von den frühen Vorstehern der Pegnitzgesellschaft derjenige war, der sich am meisten für Dichterinnen eingesetzt hat. Auch außerhalb des Blumenordens hat Birken in sehr hohem Ausmaß Literatur von Frauen gefördert und unterstützt: –– Birken betreute den 1662 erfolgten Druck der Gedichtesammlung Catharina Regina von Greiffenbergs sowie den der ersten zwei Andachtswerke dieser Autorin. Auch den dritten Teil hätte er sicher redigiert, wenn ihn nicht sein Tod daran gehindert hätte. Er war mit umfassenden redaktionellen Vollmachten ausgestattet und an den Erfindungen der den Kapiteln vorangehenden Embleme beteiligt.8 –– Es gab Kontakte bzw. Bemühungen um Kontakte zu anderen Literatinnen der Zeit. So bestand etwa ein Briefwechsel mit der Übersetzerin Margaretha Maria von Buwinghausen.9 Birken hat Frau von Buwinghausen auch persönlich bei einem Besuch in Nürnberg kennengelernt. Mit der Stratonica-Übersetzerin Johanna Lorentz von Adlershelm bestand 1667/68 eine über Dritte laufende kurzzeitige lyrisch-briefliche Kommunikation,10 deren Strukturen derjenigen
7 Vgl. dazu die entsprechenden bio-bibliographischen Abrisse in Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 50). 8 Zu Birkens Freundschaft mit Catharina Regina von Greiffenberg s. Hartmut Laufhütte: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007, S. 293–384. S. auch: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. Hg. von Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. 2. Bde. Tübingen 2005 (Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz 12 [künftig WuK] = Neudrucke Deutscher Literaturwerke 49). 9 S. Sabine Koloch und Martin Mulsow: Die erste deutsche Übersetzung von Pierre Charrons ,De la sagesse‘: Ein unbekanntes Werk der intellektuellen Außenseiterin Margareta Maria Bouwinghausen von Wallmerode (1629 – nach 1679). In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 2/2006, S. 119–150. 10 Vgl. Ralf Schuster: Johanna Lorentz von Adlershelm und Sigmund von Birken. Ergänzendes zur Biographie der Stratonica-Übersetzerin. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung. Heft 1 (2008), S. 29–46; auch in: Der Pegnesische Blumenorden (Anm. 4), S. 277–288.
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ähnelt, die Birken 1646/47 mit der ersten Pegnitzschäferin Sophia von der Lippe indirekt über Rist geführt hatte. –– Das Werk Himmlisches Kleeblat oder Betrachtungen Der Allerhöchstheiligen DreyEinigen Gottheit: […] der Herzogin Sybilla Ursula von Holstein-Glücksburg brachte Birken 1674 in Nürnberg auf Wunsch ihres Bruders Herzog Anton Ulrich von Lüneburg-Braunschweig postum zum Druck.11 Birken war also sehr an literarisch tätigen Frauen interessiert, hat versucht, mit ihnen in Kontakt zu treten, und sie unterstützt, wo er konnte. Wie sah nun die Förderung der Pegnitzschäferinnen aus? Welchen Status hatten sie innerhalb des Blumenordens?
2 Die Pegnitzschäferinnen in der Forschung In der Forschung ist das Phänomen der Mitgliedschaft von Frauen im Blumenorden im 17. Jahrhundert verhältnismäßig wenig beachtet, geschweige denn systematisch untersucht worden. Insbesondere die ältere Forschung hat sich eher abwertend zu den Pegnitzschäferinnen geäußert. Diese Geringschätzung der weiblichen Ordensmitglieder geht letztlich auf den ersten Historiker des Pegnesischen Blumenordens, Johannes Herdegen, zurück, der in seiner Festschrift zur Centenarfeier 1744 über Birkens 1673 als Florinda aufgenommene zweite Ehefrau schrieb: Weil Myrtillus der Andere [Birkens Nachfolger im Ordenspräsidium, der Kraftshofer Pfarrer Martin Limburger] den Anfang gemacht, seine geliebteste Ehe-Gattin einige Jahre vorher, ehe unsere Florinda in die Blumen-Gesellschafft getreten, unter den Namen Magdalis einzuführen, so ist ihm hierinnen unser seliger Floridan und wie hernach zu ersehen, noch zween andere Gesellschafftere nachgefolget, nicht in der Absicht gelehrte Musen dahin zu bringen, dafür sie ihre Ehe-Frauen, und diese selbsten sich nicht ausgegeben, sondern ihnen einige Ehre und Vergnügen zu gönnen, bey den zu den anmuthigen Frühlings-Tagen in dem Jrrhain angestellten Gesellschaffts-Versammlungen mit zugegen zu seyn, um bey solchem beliebten Aufenthalt einiger unschuldigen Ergötzlichkeiten zu genießen.12
11 Vgl. Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. 2 Bde. Tübingen 2007, S. 881–884. 12 Herdegen (Anm. 6), S. 444 f.
Frauen im Pegnesischen Blumenorden des 17. Jahrhunderts
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Auch wenn Herdegen natürlich um die literarischen Fähigkeiten einiger der von Birken in den Orden aufgenommenen Dichterinnen gewußt hat, wie die entsprechenden den weiblichen Mitgliedern gewidmeten Kapitel belegen, so hat er die Pegnitzschäferinnen in seiner Ordensgeschichte doch eher gönnerhaft und recht kurz abgehandelt. Nicht zuletzt deshalb hat sich in der Folgezeit das Bild der allein zu ,dekorativen‘ und geselligen Zwecken aufgenommenen Frauen durchgesetzt. Noch 1997 kann Barbara Becker-Cantarino schreiben: Birken und sein Nachfolger nahmen (bis 1708) 19 Frauen auf, von denen jedoch ,nur zwei dichterisch‘ hervorgetreten sind: Gertraud Möller (Mornille, 1671) und Maria Katharina Stockfleth (Dorilis, 1668). […] einige Damen waren kunsthandwerklich tätig, viele bastelten hier und da ein Gelegenheitsgedicht zusammen. So waren die meisten Pegnitzschäferinnen – nach der Aussage des Gesellschaftshistorikers Herdegen – kaum „im Stand gewesen, eine Poetische Arbeit zu verfertigen“, und man mußte daher „den Willen statt der Werke ansehen.“ Sie waren Ehefrauen (zumeist) prominenter Mitglieder.13
Dieses Bild führte dann dazu, daß man den Pegnitzschäferinnen so gut wie keine Beachtung mehr schenkte: Die Äußerungen zu ihnen in älteren, aber auch in neueren literaturhistorischen Arbeiten sind spärlich. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich aber ein anderes Bild als das in der Forschung bisher vorherrschende: Von den 14 von Harsdörffer und Birken aufgenommenen Frauen waren am Tag der Aufnahme sechs unverheiratet, eine verwitwet, und sieben verheiratet. Nur fünf davon waren mit Mitgliedern des Blumenordens verheiratet.14 Die Behauptung, es seien vor allem Ehefrauen von Mitgliedern aufgenommen worden, ist also zu relativieren. Schlichtweg unzutreffend ist die Behauptung, nur zwei seien dichterisch hervorgetreten. 11 dieser 14 Pegnitzschäferinnen sind nachweislich literarisch tätig gewesen;15 lediglich drei dürften wohl wirklich keine derartigen Ambitionen gehabt haben. Ein wesentlich differenzierteres Bild läßt sich auch hinsichtlich der literarischen Produktivität gewinnen: Wir wissen, daß die Dichterinnen Catharina Margaretha Schweser (Silvia),16 Anna Maria Paumgartner (Amarillis)17 und Maria
13 Barbara Becker-Cantarino: Frauenzimmer Gesprächspiele. Geselligkeit, Frauen und Literatur im Barockzeitalter. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kiesant, Winfried Schulze und Christoph Strosetzki hg. von Wolfgang Adam. Teil 1. Wiesbaden 1997, S. 17–42; das Zitat S. 36. 14 Wobei die verwitwete Dorilis (zu ihr s. Anm. 20) später ein Mitglied heiratete. 15 Zwei von ihnen sind von ihren Ehemännern ,gefördert‘ worden: Magdalis und Diana II. S. u. 16 Zu ihr s. Die Pegnitzschäferinnen (Anm. 1), S. 145–155 (dort weitere Literatur). 17 Zu ihr s. ebd., S. 277–279 (dort weitere Literatur).
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Magdalena Götze (Chlorinde)18 handschriftliche Gedichtsammlungen – zumeist geistlicher Lyrik – größeren Umfangs hinterlassen haben, die sich noch einige Zeit in Familienbesitz befunden haben müssen und heute leider nicht mehr auffindbar sind. Ebenso müssen Barbara Helena Kopsch (Erone)19 und Sophia von der Lippe (Diana I.) weit mehr Gedichte geschrieben haben, als von ihnen gedruckt worden sind. Aber auch das im Druck erschienene literarische Werk der Pegnitzschäferinnen ist sehr viel umfangreicher als es oft dargestellt wird. So ist Maria Catharina Stockfleth20 als Verfasserin des zweiten Teils des MakarieRomans hervorgetreten, und von der Königsberger Dichterin Gertraut Möller21 sind mehrere Lyriksammlungen und zahlreiche Separatdrucke von teilweise sehr umfangreichen Gedichten erschienen.22 1997 sind der handschriftliche lyrische Nachlaß und die gedruckten Gedichte der Schlesierin Elisabeth von Senitz23 durch Mirosława Czarnecka ediert worden:24 ein qualitativ und quantitativ eindrucksvolles Oeuvre. Auf die Übersetzungsarbeiten von Barbara Helena Kopsch ist hinzuweisen, die Mitte der 1680er Jahre gedruckt worden sind. Und schließlich sind natürlich die vielen vereinzelt, zumeist in Sammelpublikationen der Pegnitzschäfer erschienenen Gedichte zu nennen. Festzuhalten ist, daß ein großer Teil der Lyrik der Pegnitzschäferinnen religiösen, geistlichen Charakter hat, ein quantitativ geringerer Teil ist der Casualdichtung zuzuordnen. Gar nicht vorhanden ist Liebeslyrik in petrarkistischer Tradition. Dies war offenbar eine Gattung, die den Männern vorbehalten war. Einen Sonderfall bildet das Werk Gertraud Möllers, weil es einen verhältnismäßig hohen Anteil an Gelegenheitsgedichten enthält. Hier sind weitere Untersuchungen dringend wünschenswert. Das durchaus umfangreiche literarische Oeuvre der von Birken aufgenommenen Pegnitzschäferinnen ist inzwischen – soweit noch auffindbar – editorisch einigermaßen zugänglich gemacht, literatur- und kulturwissenschaftlich
18 Zu ihr s. ebd., S. 289–296 (dort weitere Literatur). 19 Zu ihr s. ebd., S. 235–238 (dort weitere Literatur). 20 Zu ihr s. ebd., S. 103–110 (dort weitere Literatur). 21 Zu ihr s. ebd., S. 197–203 (dort weitere Literatur). 22 Zu einem dieser umfangreichen Gedichte liegt seit kurzem eine gründliche Untersuchung vor: Heiko Ullrich: Gertrud Möllers „Newgebohrner Jesus“ (1663) und die Gattung des Hymnus. In: Das Motiv der Weihnacht. Untersuchungen zur religiösen Dichtung aus dem Umfeld des Pegnesischen Blumenordens im 17. Jahrhundert. Hg. von Matthias Clemens Hänselmann, Ralf Schuster. Passau 2013, S. 57–153. 23 Zu ihr s. Die Pegnitzschäferinnen (Anm. 1), S. 221–224 (dort weitere Literatur). 24 Mirosława Czarnecka (Hg.): Dichtungen schlesischer Autorinnen des 17. Jahrhunderts. Eine Anthologie. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1906), S. 77–190.
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aber allenfalls ansatzweise ausgewertet und analysiert worden. Hier existiert ein großes, bisher weitgehend unbeachtetes Forschungsfeld, das wichtige und interessante Erkenntnisse liefern könnte. Auch die Rolle von in den Orden aufgenommenen Ehefrauen läßt sich genauer fassen. Während für die Ehefrauen von Birken, Andreas Ingolstetter und Johann Leonhard Stöberlein keine literarische Aktivität nachweisbar ist,25 liegen von Martin Limburgers Ehefrau Regina Magdalena (Magdalis im Orden)26 einige sehr schöne Gelegenheitsgedichte vor. Dichterisch tätig geworden ist Limburgers Frau offenbar erst nach der Eheschließung. Wir können vermuten, daß ihr Ehemann sie dazu ermuntert und vielleicht auch bei der Abfassung der Gedichte unterstützt hat. Während wir bei Limburger mangels Quellen nur Vermutungen äußern können, wissen wir, daß Magnus Daniel Omeis bestrebt war, das literarische Interesse seiner Ehefrau zu wecken und zu fördern. In einem Brief vom 28. Oktober 1679 an Birken gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, daß seine Frau die Aufnahme in den Orden „zu mehrerer Außübung so wol der Spanischen als Teutschen Sprache solte anspornen“.27 (Maria Dorothea Omeis28 war in Spanien als Tochter deutscher Eltern geboren worden und ist dort aufgewachsen.) In Omeis’ Schreiben vom 21. Januar 1681 heißt es: „Diana höret die Lectiones von der Teutschen Poesie (aber heimlich im cabinet) auch mit an“.29 Frau Omeis hörte also versteckt – Frauen waren damals an Universitäten nicht zugelassen – die Poetikvorlesung ihres Mannes.30 Man sieht, wie sehr Omeis bestrebt war, seine Frau zur Dichtkunst anzuleiten. Der Erfolg war allerdings nicht allzu groß: Es sind nur wenige Gedichte unter ihrem Namen erhalten. Inwieweit Omeis bei deren Abfassung ,mitgeholfen‘ hat, muß offen bleiben. Zumindest einige der aufgenommenen Ehefrauen von Pegnitzschäfern waren also nicht nur in das gesellige Miteinander integriert, sondern wurden auch ermuntert, poetisch tätig zu werden, und erfuhren Unterstützung bei diesen Bemühungen durch ihre Ehemänner.
25 Zu ihnen s. Jürgensen (Anm. 7), S. 423–431. 26 Zu ihr s. Die Pegnitzschäferinnen (Anm. 1), S. 55 f. (dort weitere Literatur). 27 Birken-Omeis-Briefwechsel, Brief Nr. 32. In: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Magnus Daniel Omeis, Joachim Heinrich Hagen, Sebastian Seelmann und Georg Wende. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Mit einem Nachwort zur gesamten Ausgabe von Klaus Garber. 2 Bde. Berlin, Boston 2018 (WuK 13.2 = Neudrucke Deutscher Literatur 95 f.), S. 61, Z. 25 f. 28 Zu ihr s. Die Pegnitzschäferinnen (Anm. 1), S. 261–263 (dort weitere Literatur). 29 Birken-Omeis-Briefwechsel, Brief Nr. 46. In: WuK 13.2 (Anm. 27), S. 76, Z. 15 f. 30 Dieser Vorgang erinnert daran, wie Anna Maria van Schurman in einem eigens für sie angefertigten hölzernen Verschlag, der mit Stoff verkleidet war, Vorlesungen am Utrechter Gymnasium illustre mitanhörte; vgl. Michael Spang: Wenn sie ein Mann wäre. Leben und Werk der Anna Maria van Schurman 1607–1678. Darmstadt 2009, S. 61.
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3 Zum Status der weiblichen Mitglieder im Blumenorden 3.1 Aufnahmevorgang Aufgenommen hat Birken vor allem Frauen aus Nürnberg und der näheren Umgebung. Die meisten von ihnen hat er also persönlich gekannt. Lediglich die von Harsdörffer aufgenommene Sophia von der Lippe, die in Norddeutschland lebte, Gertraud Möller aus Königsberg und Elisabeth von Senitz aus Schlesien hat Birken nie getroffen. Auch Catharina Margaretha Schweser wird er nie begegnet sein, obwohl sie im nicht allzu weit von Nürnberg entfernt liegenden Bayreuth lebte. Es ist ein deutlicher regionaler Schwerpunkt erkennbar: von 14 Pegnitzschäferinnen lebten 10 – wenn man Bayreuth dazu zählt sogar 11 – im Nürnberger Raum. Die meisten Pegnitzschäferinnen stammten aus dem bürgerlichen Milieu. Sie waren Töchter und / oder Frauen von Pfarrern, Gelehrten oder Kaufmännern. Drei von ihnen gehörten dem Adel an, durch Heirat dann auch Birkens zweite Frau. Sie waren alle evangelisch-lutherisch wie auch die meisten männlichen Ordensmitglieder. Da der Orden unter Birkens Präsidentschaft eine sehr viel stärkere religiöse Ausrichtung erfuhr als unter Harsdörffer, war die Zugehörigkeit zum lutherischen Bekenntnis für die Aufnahme sicher eine wichtige Voraussetzung. Ob die Aufnahmekandidatinnen verheiratet oder unverheiratet waren, spielte hingegen für die Mitgliedschaft keine Rolle: das Verhältnis ist hier sehr ausgewogen. Auch ,Altersbeschränkungen‘ gab es wohl keine. Die meisten Pegnitzschäferinnen waren zwar bei der Aufnahme zwischen 20 und 30 Jahre alt, es wurden aber auch ältere Frauen aufgenommen. Die meisten Aufnahmen sind durch Empfehlung anderer Pegnitzschäfer erfolgt. Elisabeth von Senitz ist Birken durch Georg Wende vorgeschlagen worden, der wie Birken Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft war.31 In einigen Fällen können wir diese Aufnahmevorgänge anhand der in Birkens Archiv enthaltenen Materialien (Briefe, Gedichte, Tagebucheintragungen) recht gut rekonstruieren. Sie unterscheiden sich strukturell nicht von denjenigen der
31 Vgl. Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Wende. Zur Ausstrahlung des Pegnesischen Blumenordens nach Schlesien. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 23 (2013), S. 87–101; auch in: Der Pegnesische Blumenorden (Anm. 4), S. 239–249. S. auch den Briefwechsel zwischen Birken und Wende in: WuK 13.2 (Anm. 27), S. 291–311, und die zugehörigen Kommentare.
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Männer. Einziger Unterschied ist hier, daß es offenbar keine Empfehlungen für Aufnahmen durch Frauen gegeben hat: Es sind also nur Frauen von Männern empfohlen worden; die Pegnitzschäferinnen selber haben aber keine Neumitglieder – seien es Männer oder Frauen – empfohlen. Die Frauen erhielten genauso wie ihre männlichen Kollegen ein weißes Ordensband, ihnen wurde ein Schäferinnenname, ein Spruch und eine Blume oder Pflanze zugeteilt, und Birken verfaßte genau wie für die Männer für jedes neue weibliche Mitglied ein kurzes Erklärungsgedicht zu Spruch, Name und Blume. Dies zeigt bereits, daß die Pegnitzschäferinnen im Blumenorden einen den männlichen Mitgliedern gleichberechtigten Status innehatten.
3.2 Dichterkrönungen Geradezu revolutionär mutet an, daß Birken Dichterkrönungen bei einigen weiblichen Mitgliedern des Blumenordens vorgenommen hat. Birken war als kaiserlicher Hofpfalzgraf befugt, solche Ehrungen vorzunehmen.32 Die Dichterkrönung, die zumeist in sehr jungen Jahren erfolgte, war im 17. Jahrhundert eine durchaus angesehene Ehre, die am Beginn vieler Karrieren stand. Sie hatte juristischen Charakter. Klaus Garber und Hartmut Laufhütte schreiben: Als Inbegriff einer rechtsförmigen gelehrten und dichterischen Amtshandlung darf die Dichterkrönung gelten. Sie war auch im 17. Jahrhundert mit jenem Nimbus umgeben, welcher ihr aus der Renaissance seit den Tagen eines Petrarca und Celtis zugewachsen war. Die Krönung im Auftrag des Kaisers, erst recht die Verleihung des Palatinats mit dem an ihm haftenden Recht u. a. zur Dichterkrönung, galten in einem die ständischen Schranken zeremoniell streng beobachtenden und neu befestigenden Zeitalter als mit erheblichem Prestige verbundene Auszeichnungen.33
Birken hat bei neu aufzunehmenden Mitgliedern des Blumenordens häufig auch die Dichterkrönung durchgeführt. Bei Frauen war das aber recht ungewöhnlich. Die einzige mir bekannte Dichterkrönung einer Frau vor Birkens Lebzeiten ist die der Johanna Elisabeth von Weston (1582–1612) durch Paul Melissus (eigentlich: Paul Schede; 1539–1602) zu Beginn des 17. Jahrhunderts.34 Möglicherweise hat dieser Vorgang Birken als Präzedenzfall und Legitimation seiner Krönungen von
32 Vgl. dazu den Beitrag von Claudius Sittig im vorliegenden Band. 33 Floridans Amaranten-Garte. Hg. von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte in Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. 2 Bde. Tübingen 2009 (WuK 1), S. CXII. 34 Vgl. John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. 4 Bde. Berlin, New York 2006, Bd. 4, S. 2239–2244.
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Frauen gedient. Der gerade in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommene Christian Franz Paullini, der später ein bekanntes Lexikon literarisch tätiger Frauen verfaßte,35 äußerte in einem Brief an Birken vom 29. Juli 1672 folgende Frage: Rühmlich ists, daß mein hochEdler Herr solche wolspielende Tichterinnen mit dem LorbeerKrantz beschenket. Möchte wol wißen, wie Ers mache, ob es nur geschehe mit übersendung des krantzes, oder aber auch mit einem (ihnen anständigen) diplomate, bitte üm Nachricht.36
Birkens Antwort auf diese Frage hätten wir auch gerne gekannt, leider aber ist sein Antwortschreiben nicht erhalten. Daß Birken Lorbeerkränze überreicht bzw. überschickt hat, wissen wir. Ob er aber auch offizielle Coronatsurkunden ausgestellt hat, ist fraglich. Es ist keine Urkunde erhalten, auch kein Entwurf für eine solche Urkunde, und in Birkens penibel geführtem Verzeichnis seiner Amtshandlungen als Comes Palatinus, das er auf den leeren Seiten am Schluß einer beglaubigten Kopie seiner Palatinats- und Adelsurkunde angelegt hat,37 sind keine Dichterkrönungen von Frauen verzeichnet, wohl aber alle, die er bei Männern vorgenommen hat. Nach unserem aktuellen Kenntnisstand spricht einiges dafür, daß Birken keine Coronatsurkunden für Frauen ausgestellt hat. Damit dürften diese Krönungen wohl nicht den gleichen Rechtsstatus besessen haben wie die der männlichen Kollegen. Sie sind eher dem Bereich galanter Spielerei zuzuordnen. Auffällig ist auch, daß sich nur für die ersten fünf von Birken aufgenommenen Damen Krönungen nachweisen lassen, für die acht anderen nicht. Ob Birken nach der Krönung Gertraud Möllers 1671 die Dichterinnenkrönungen aufgegeben hat oder ob wir nur aufgrund der Quellenlage38 nicht über sie informiert sind, läßt sich nicht entscheiden. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß Birken recht-
35 Das Hoch- und Wohl-gelahrte Teutsche Frauen-Zimmer Nochmahls mit mercklichen Zusatz vorgestellet von C. F. Paullini. Franckfurth und Leipzig/ Bey Johann Christoph Stößeln/ Buchhändlern in Erffurt. Jm Jahr. MDCCV. 36 Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und den Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. 2 Bde. Berlin, Boston 2012 (WuK 13.1), Brief Nr. 3, Z. 27–29, des Birken-Paullini-Briefwechsels (S. 366). 37 Die Abschrift trägt im Birken-Archiv die Signatur: PBlO.A.1. 38 Birkens späte Tagebücher sind recht lakonisch, für die Jahre 1674, 1680 und 1681, in denen mehrere Schäferinnen aufgenommen worden sind, fehlen sie ganz. Ein Gedicht von Maria Magdalena Stephani, das auf ihre Aufnahme in den Blumenorden 1680 reagiert, legt allerdings nahe, daß sie ebenfalls von Birken zur Dichterin gekrönt worden ist; s. Schuster: Die Aufnahme von Frauen (Anm. 1), S. 232, v. 2.
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liche Bedenken gekommen sind und er deswegen die Krönungen von Frauen eingestellt hat. Aber auch wenn sich bei Birken später möglicherweise Skrupel eingestellt haben und auch wenn die Krönungen von Frauen wohl nicht den gleichen rechtlichen Status wie die der männlichen Kollegen besaßen, darf man die Bedeutung dieser Krönungen nicht unterschätzen. Zumindest auf der symbolischen, wenn auch nicht auf der juristischen Ebene gaben sie zu erkennen, daß im Blumenorden die literarischen Fähigkeiten von Frauen als denen von Männern gleichwertig angesehen wurden und daß es sich bei den Pegnitzschäferinnen um vollwertige Mitglieder des Ordens handelte, die aufgrund ihrer dichterischen Leistungen aufgenommen worden waren. Sie werden den damit ausgezeichneten Damen viel bedeutet haben und dürften motivierend gewirkt haben, weiterhin literarisch tätig zu bleiben.
3.3 Netzwerk Durch die Mitgliedschaft im Blumenorden wurden die Pegnitzschäferinnen in ein literarisches Netzwerk eingebunden. –– Sie konnten durch ihre Mitgliedschaft – ebenso wie Männer, die in Sprachgesellschaften aufgenommen wurden – leichter in Kontakt mit anderen Autoren und Gelehrten treten. Aufgrund der Quellenlage können wir zwar am besten die Kontakte der weiblichen Mitglieder des Blumenordens zu Sigmund von Birken rekonstruieren, es hat aber auch intensiven geistigen Austausch mit anderen Mitgliedern gegeben. Dieses ausgeprägte Beziehungsgeflecht ist bisher wenig erforscht. Bekanntestes Beispiel ist die literarische Zusammenarbeit des Ehepaars Stockfleth, die ja schon vor der Eheschließung begann, und deren Ergebnis die beiden Teile des Makarie-Romans sind. –– Dieses Netzwerk bot auch Unterstützung bei der Suche nach Verlegern und Publikationsmöglichkeiten. So hat Daniel Bärholz aus Elbing, als Hylas Mitglied des Blumenordens, den Druck des 1. Teils der Parnaßblumen,39 einer Lyriksammlung von Gertraud Möller, bei einem Hamburger Verlag vermit-
39 Erster Theil Der Parnaß-Blumen/ Oder Geist- und Weltliche Lieder/ Welche bey müssiger Abend-Weile abgebrochen Gertraudt Müllerin/ gebohrne Eifflerin/ Und in Melodeyen übersetzet Von JOHAN SEBASTIANI, Churfürstl. Brandenb. Preussischen Capell-Meister. Hamburg/ Verlegtens Johann Naumann und Georg Wolff/ Buch-Händlere. Wolffenbüttel/ Druckts Paul Weiß/ Fürstl. Braunschweig Lüneburgischer bestallter Hoff-Buch-Drucker daselbst. Jm Jahr M DC LXXII.
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telt.40 Auch Birken wurde oft um die Vermittlung von Verlegern gebeten, war aber nicht immer erfolgreich dabei. Häufig haben er und andere Pegnitzschäfer auch Ehrengedichte von Pegnitzschäferinnen in ihre eigenen Werke oder Sammelwerke des Ordens aufgenommen und so zumindest eine Publikationsmöglichkeit für einzelne Gedichte geboten. –– Die Mitgliedschaft im Blumenorden bewirkte weiterhin auch eine Steigerung der Bekanntheit der Dichterinnen. Wie bereits erwähnt, wurden Ehrengedichte der Dichterinnen in Sammelwerke des Ordens und andere Werke aufgenommen. In vielen von Birken und anderen Pegnitzschäfern verfaßten Prosaeklogen treten die weiblichen Mitglieder unter ihrem Schäfernamen auf und nehmen an den Gesprächen der Schäfer teil. Den zweiten Teil der PEGNESJS41 hat Birken 1679 der schlesischen Pegnitzschäferin Elisabeth von Senitz gewidmet. Diese war allerdings schon verstorben als das Buch in Breslau eintraf.
4 Schlußbetrachtung Diese aphoristischen Ausführungen zeigen bereits, daß die Pegnitzschäferinnen eine aktive Rolle im Blumenorden gespielt haben, die weit über die bisher von der Forschung konstatierte ,dekorative‘ Funktion hinausgeht. Sie waren innerhalb des Ordens den männlichen Mitgliedern weitgehend gleichgestellt und ihnen – wie ihre Werke zeigen – literarisch gleichwertig. Die Mitgliedschaft im Blumenorden ermöglichte ihnen bessere Publikationsmöglichkeiten, führte zu einer Steigerung ihres literarischen Ansehens und erleichterte ihnen den Zugang zur res publica literaria der Zeit. Das klingt alles sehr modern und fortschrittlich, darf aber nicht als Ausdruck einer frühaufklärerischen Geisteshaltung im Blumenorden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts oder bei seinem Präses Sigmund von Birken gedeutet werden. Birken war frühaufklärerisches Gedankengut, das sich damals in vielen Ländern Europas entwickelte, fremd bzw. suspekt. Sein Denken war fest in einem von der lutherischen Orthodoxie geprägten Weltbild verankert. Das damals herrschende Rollenverständnis der Frau, das theologisch vor allem von der Sündenfall-Geschichte der Bibel hergeleitet wurde, wonach die Frau als dem Mann
40 Vgl. Brief Nr. 9, Z. 21–23, des Birken-Bärholz-Briefwechsels (WuK 13.1 [Anm. 35]), S. 294. 41 PEGNESJS: oder der Pegnitz Blumgenoß-Schäfere FeldGedichte in Neun Tagzeiten: meist verfasset/ und hervorgegeben/ durch Floridan. Nürnberg/ Gedruckt und verlegt von Wolf Eberhard Felseckern. A. MDCLXXIII.
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gesellschaftlich untergeordnet angesehen wurde, war für Birken unhintergehbar. Das ist durch viele seiner Texte belegbar. Birken hatte durch praktische Erfahrungen, etwa durch die ,Innigstfreundschaft‘ mit Catharina Regina von Greiffenberg erkannt, daß Frauen den Männern in literarischen Belangen und auch in religiösen Dingen – sozusagen im Andachtseifer – gleichwertig sein konnten. Diese Überzeugung hat er in einigen einschlägigen Texten auch zum Ausdruck gebracht und durch seine ,Frauenpolitik‘ im Blumenorden praktisch umgesetzt. Dabei ist er aber immer von der Annahme ausgegangen, daß die Frauen – so paradox das klingt – ihre den Männern gleichwertigen intellektuellen Fähigkeiten zu der Einsicht in ihre durch das göttliche Verdikt festgelegte Unterordnung gegenüber dem Mann nutzen mußten.42 Angesichts der damals in Deutschland herrschenden gesellschaftlichen und denkgeschichtlichen Vorgaben und der daraus resultierenden Erziehung von Mädchen hat Birken in dieser Ansicht auch nie Widerspruch durch die weiblichen Mitglieder des Ordens erfahren.
42 Ausführlicher dazu die Einleitung der Anthologie ,Die Pegnitzschäferinnen‘ (Anm. 1).
1668 1668 1671 1673 1673 1674 1674
1634–1692
1649–1683
1637–1705 1629–1679 1615–1679
? ?
Maria Catharina Stockfleth (Dorilis) Catharina Margaretha Schweser (Silvia) Gertraud Möller (Mornille) Elisabeth von Senitz (Celinde) Clara Catharina von Birken (Florinda) Helena Ingolstetter (Philinde) Dorothea Ursula Catharina Stöberlein (Dorinde) Barbara Helena Kopsch (Erone) Maria Dorothea Omeis (Diana II.) Anna Maria Paumgartner (Amarillis) Maria Magdalena Götze (Chlorinde)
Wohnort
verheiratet
1668
ja
Hinweise: Die Abkürzung Aufn. steht für das Jahr der Aufnahme in den Pegnesischen Blumenorden. Die Angaben zu Familienstand, Alter und Wohnort beziehen sich auf den Zeitpunkt der Aufnahme in den Pegnesischen Blumenorden. Die Nachnamen geben die in der Forschung zumeist gebrauchten Formen an, es kann sich deshalb manchmal um Ehe- und manchmal um Mädchennamen handeln.
unverheiratet ca. 23 Nürnberg
bürgerlich, später Juweliersgattin
1680
1657–1722
nein nein
ja ja nein
ja
ja
ja
ja
ja
Lit. aktiv
bürgerlich, Kaufmannstochter ja bürgerlich, Professorengattin ja Nürnberger Patriziat ja
? Nürnberg ca. 41 Nürnberg
bürgerlich, Professorengattin adelig bürgerlich, nach Heirat mit B. adelig bürgerlich, Kaufmannsgattin bürgerlich, Apothekersgattin
gehobenes Bürgertum
ca. 32 Pfedelbach bürgerlich, Pfarrersgattin (in Nürnberg gebürtig) ca. 34 Lauf bei Nürnberg bürgerlich, Pfarrersgattin
verheiratet ca. 34 Königsberg unverheiratet ca. 44 Breslau verheiratet ca. 58 Nürnberg verheiratet verheiratet
adelig
Sozialer Status
ca. 29 Kraftshof bei Nürnberg bürgerlich, Pfarrersgattin
unverheiratet ca. 19 Bayreuth
verwitwet
verheiratet
1668
unverheiratet ca. 20 Hadersleben
Familienstand Alter
1656–nach 1705 1679 unverheiratet ca. 23 Nürnberg 1650–1738 1679/80 verheiratet ca. 29 Altdorf bei Nürnberg 1658–1685 1680 unverheiratet ca. 22 Nürnberg
Regina Magdalena Limburger (Magdalis) Barbara Juliane Penzel (Daphne) 1636–1674
1646
um 1630– nach 1670 ~1639–1691
Sophia von der Lippe (Diana I.)
Aufn.
Lebensdaten
Name/Ordensname
Daten zu den weiblichen Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens im 17. Jahrhundert
272 Ralf Schuster
Axel E. Walter
„der Pegnesis Echo […] vom Belt“ Zu Struktur und Strategie von Johann Georg Pellicers Lob des Floridans
1 Literarisches Leben im Fürstbistum Lübeck im 17. Jahrhundert Das Fürstbistum Lübeck, nach dem Westfälischen Friedensschluss das einzige rein protestantische Fürstbistum im Heiligen Römischen Reich, und seine Residenzstadt Eutin tauchen auf der Landkarte des literarischen Lebens in Deutschland eigentlich, wie die Literaturgeschichtsschreibung, selbst die regionale schleswig-holsteinische, es immer wieder manifestiert, erst ganz am Ende der Frühen Neuzeit auf, als nämlich der sog. ‚Eutiner Kreis‘ von eben dieser Literaturgeschichtsschreibung konstruiert werden konnte. Denn in den 1780er und 1790er Jahren lebten mehr oder minder zufällig und weder gleichzeitig noch in gutem Einvernehmen, solch bedeutende Figuren des literarischen und kulturellen Lebens wie Johann Heinrich Voß, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Friedrich Heinrich Jacobi, Johann Georg Schlosser, Georg Heinrich Ludwig Nicolovius und Johann Heinrich Wilhelm (der Goethe-)Tischbein in Eutin, und Carl Maria von Weber wurde hier immerhin geboren, kurz bevor sein Vater das Amt als Stadtmusikus unter wenig rühmlichen Umständen aufgeben musste.1 Bis heute wirbt
1 Zu dieser ‚großen‘ Zeit Eutins vgl. Wilhelm von Bippen: Eutiner Skizzen. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Weimar 1859; Brigitte Schubert-Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18. Jahrhundert. Neumünster 1975 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 11). Zur Konstruktion eines ‚Eutiner Kreises‘ als Nukleus eines ‚Weimar des Nordens‘ vgl. die kritischen Überlegungen von Axel E. Walter: Johann Heinrich Voß in Eutin (1782–1802) – ein Spätaufklärer in einer norddeutschen Landstadt am Ende des aufgeklärten Jahrhunderts. In: Johann Heinrich Voß (1751–1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994. Hg. von Frank Baudach, Günter Häntzschel. Eutin 1997 (Eutiner Forschungen 5), S. 59–84. Zu Franz Anton Webers Wirken in Eutin – zunächst 1779–1784 als Hofkapellmeister, dann 1786– 87 als Stadtmusikus, ein Amt, das er hoch verschuldet aufgab – vgl. Matthias Viertel: Die Musik am Eutiner Hof. Von der Reformation zur Revolution. Eutin 1991 (Eutiner Bibliothekshefte 4), S. 50–58. https://doi.org/10.1515/9783110593129-273
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Axel E. Walter
das Stadtmarketing mit Eutins ‚großer Zeit‘, und diese ist auch im kulturellen Langzeitgedächtnis der Einwohner der Stadt und des umgebenden Landkreises lebendig. Aber das 17. Jahrhundert, heutzutage ohnehin um seine Existenzberechtigung in der germanistischen Literaturwissenschaft ringend und gerade durch Tagungen wie diese notwendig protegiert, und erst recht die Dichter und Gelehrten dieser vielstimmigen Aufbruchepoche der deutschsprachigen Nationalliteratur sind der kollektiven Erinnerung entschwunden. Horst Joachim Frank erwähnt in seiner Geschichte der Literatur in Schleswig-Holstein aus dem Eutiner 17. Jahrhundert wenigstens am Rande Christian von Stökken und Johann Wilhelm Petersen, beide Hofprediger des Fürstbischofs, und gerade noch des letzteren Gemahlin Johanna Eleonora.2 Schon zu Spezialstudien, die freilich in sehr überschaubarer Zahl vorliegen, muss greifen, wer auf Namen wie Christian Cassius, Friedrich Kogel – und Matthias Pellicer sowie seinen Bruder Johann Georg Pellicer stoßen möchte.3 Um den zuletzt Genannten wird es in diesem Beitrag gehen, doch sei zuvor ganz knapp das soziokulturelle Milieu skizziert, in dem Johann Georg Pellicer im Fürstbistum Lübeck lebte.4 Erich Trunz hat in seinem Aufsatz über Heinrich Hudemann und Martin Ruarus bereits 1935 die Struktur des gelehrt-literarischen Lebens im Herzogtum Holstein dahingehend charakterisiert, dass es durch eine kleine, über die Landstädte und Dörfer zwar weit verstreute, jedoch eng untereinander vernetzte Schicht von Geistlichen, Lateinlehrern, Richtern und juristisch ausgebildeten Amtsleuten sowie einigen gelehrten Ärzten getragen wurde.5 Wie
2 Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 1. Von den Anfängen bis 1700. Neumünster 1995. Bd. 2. 18. Jahrhundert. Ebd. 1998, dort Bd. 1, S. 309–311 (von Stökken), 317–320 (Petersen). Der ‚Eutiner Kreis‘ dagegen erfährt in Bd. 2, S. 421–493, ausführliche Aufmerksamkeit. 3 Olaf Moerke: Die Anfänge der weltlichen Barocklyrik in Schleswig-Holstein. Hudemann – Rist – Lund. Mit einem Textanhang: Briefe und Gedichte von Heinrich Hudemann, Johann Rist und Zacharias Lund. Neumünster 1972 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 8), dort zu Cassius S. 156; Karin Unsicker: Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 10), zu Kogel S. 138–141 u. ö., Johann Georg Pellicer S. 225–233 u. ö., Matthias Pellicer S. 220 u. ö., Cassius S. 13 u. ö. 4 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf dem einschlägigen Aufsatz des Vf.: Dichter und Gelehrte in Eutin und dem Fürstbistum Lübeck im 17. Jahrhundert. In: Wirken und Bewahren. Beiträge zur regionalen Kulturgeschichte und zur Geschichte der Eutiner Landesbibliothek. Festschrift für Ingrid Bernin-Israel. Hg. von Frank Baudach, Axel E. Walter. Eutin 2003 (Eutiner Forschungen 8), S. 23–56. 5 Erich Trunz: Henrich Hudemann und Martin Ruarus, zwei holsteinische Dichter des Frühbarock. In: Ders.: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München (1995), S. 287–349 (Erstdruck in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 63 [1935], S. 162–213).
„der Pegnesis Echo […] vom Belt“
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allerorten im Heiligen Römischen Reich bildeten sich kleine lokale (und lose) Zirkel von Gelehrten und Poeten, die sich als Angehörige der res publica litteraria einem gemeinsamen Ideal von Bildung und Dichtkunst verpflichtet hatten und einen darauf gründenden elitären Identitätsentwurf zu realisieren suchten. Über das 17. Jahrhundert blieb dieses Selbstkonzept des gelehrten Poeten weitgehend stabil, unter dem Einfluss von Martin Opitz’ Werk und Wirken nationalisierte es sich lediglich – und zwar in doppelter Weise: zum einen durch die Wahl der Muttersprache als bevorzugtes Idiom, zum anderen durch eine Patriotisierung der Poesie zum Nutzen des Vaterlandes. Auch in Eutin bzw. im Fürstbistum Lübeck lässt sich ein lokaler Dichterzirkel konturieren, der ohne jede Statuten oder auch nur den Versuch einer Institutionalisierung zufällig am Orte zusammenlebte. Die zentrale Gestalt eines in den äußerst überschaubaren Personenkreisen, die Trunz nominiert hat, vorzustellenden gelehrt-literarischen Lebens im Fürstbistum Lübeck begegnet uns in Christian Cassius, 1609 in Schleswig geboren und 1676 in Eutin verstorben.6 Von Hause aus Jurist, stand er seit 1634 in Diensten der Fürstbischöfe von Lübeck und war über drei Jahrzehnte deren führender Beamter und Diplomat. Sein Verhandlungsgeschick ‚rettete‘ auf den Osnabrücker Friedensverhandlungen die Existenz des kleinen Territorialstaates, der bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches als einziges rein protestantisches Fürstbistum fortexistierte.7 Nur wenige Schrif-
6 Zu ihm Dieter Lohmeier: (sub verbo). In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte und des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde. Bd. 6. Neumünster 1982, S. 49–51. Außerdem der sehr kurze Eintrag von K. Jansen: (sub verbo). In: ADB 4 (1876), S. 62. Am ausführlichsten zu seinem Leben die – mit eigener Blattzählung – angehängten „Personalia“ in: Christoph Rodatzi: Piorum Xeno-politeuma Oder Der wahren Kinder Gottes Pilgrim- und Bürgerschafft […] Mit selbst eigner Ubung abgefast/ und zu einer Leich-Ehren- und Gedächtnis-Predigt Des […] Herrn Christiani Cassii, […] Nach dem dessen Seele den 6 Monats Octobris mit dem eingetretenem Tage aus diesem Jammerthal von dem grossen Gott/ der unsers Lebens und Sterbens Herr/ sanfft und selig abgefodert war; Und darauff sein entseelter Cörper/ am 16 Tage Novemb. bei hochansehnlicher/ Volkreicher Begleitung in sein Erb-Begräbnis/ in hiesiger Collegiat-Kirchen Christlich bestattet worden […]. Plön 1676 (digitalisiertes Exemplar der SUB Göttingen, Sign.: 2 CONC FUN 23 (5)). Bibliographisch ergiebig: Johannes Moller: Cimbria Literata, sive scriptorvm ducatus utriusqve Slescvicensis et Holsatici, qvibus et alii vicini qvidam accensentur, historia literaria tripartita. […]. Kopenhagen 1744, Bd. 1, S. 88–90. 7 Zur Geschichte des Fürstbistums Lübeck fehlt bislang eine ausführliche Gesamtdarstellung. Solange bleibt zurückzugreifen auf das Standardwerk zur schleswig-holsteinischen Geschichte, für unseren Zeitraum: Gottfried Ernst Hoffmann, Klaus Peter Reumann, Hermann Kellenbenz: Die Herzogtümer von der Landesteilung bis zur Wiedervereinigung Schleswigs 1721. Neumünster 1986 (Geschichte Schleswig-Holsteins 5), und Wolfgang Prange: Der Landesteil Lübeck. In: Geschichte des Landes Oldenburg. Ein Handbuch. Im Auftrag der Oldenburgischen Landschaft
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ten sind von ihm überliefert, darunter aus dem Jahre 1635 eine ausführliche Relation Von dem Hochfürstlichen Beylager des dänischen Erbprinzen Christian mit Magdalena Sibylla von Sachsen.8 Cassius war vor allem in der Gelehrtenrepublik sehr gut vernetzt – so hatte er in Paris fast vier Jahre in freundschaftlichem Umgang mit Hugo Grotius gestanden und in dessen Haus gewohnt, in Wittenberg nähere Bekanntschaft mit August Buchner gemacht, in Leiden die Späthumanisten an der Universität kennen gelernt. Straßburger, Helmstedter und Rostocker Dissertationen wurden ihm gewidmet, Johann Heinrich Meibom eignete ihm seine 1639 in Leiden in zweiter Auflage gedruckte Schrift über die Flagellation zu, Andreas Tscherning sandte ihm ein Lobgedicht aus Rostock, mit Vincentius Fabricius verband ihn über drei Jahrzehnte eine freundschaftliche Korrespondenz.9 Kurzum: Cassius repräsentiert einen bestimmten ‚Typus‘ eines noch durch den europäischen Späthumanismus geformten, in entscheidender Amtsstellung wirkenden und über ein weites Netzwerk verfügenden Gelehrten, der seinen Einfluss und seine Stellung für die nächste Generation zunutze zu machen wusste und dieser ein geistiger Mentor wurde. Dazu trug bei, dass er über das Recht der Dichterkrönung verfügte. So hatte er Friedrich Kogel und wahrscheinlich auch Matthias Pellicer zu Poeten gekrönt. Als Cassius starb, stifteten alle bislang genannten ‚Eutiner‘, sogar Johann Wilhelm Petersen, mit Epicedien und anderen Trauerschriften die Erinnerung an ihn.10
hg. von Albrecht Eckhardt, Heinrich Schmidt. Oldenburg 1987 (Oldenburgische Monographien), S. 550–590. Für Eutin ist neben der, für unsere Ausführungen nur wenig ergiebigen Stadtgeschichte von Gustav Peters: Geschichte von Eutin. Neumünster 1958 (2. Aufl. ebd. 1971) die Darstellung von Ernst-Günther Prühs: Geschichte der Stadt Eutin. Mit einem Beitrag von Klaus Langenfeld. Eutin 1993 (2. Aufl. ebd. 1994) maßgeblich. Jetzt außerdem der Band: Die Fürsten des Bistums. Die fürstbischöfliche oder jüngere Linie des Hauses Gottorf in Eutin bis zum Ende des Alten Reiches. Beiträge zum Eutiner Arbeitsgespräch im April 2014. Hg. von Oliver Auge, Anke Scharrenberg. Eutin 2015 (Eutiner Forschungen 13). 8 Relation Von dem Hochfürstlichen Beylager Deß […] Herrn Christians des Fünfften/ zu Dennemarcken […] erwöhlten Printzen […] Mit […] Fräwlein Magdalena Sibylla/ Hertzoginnen zu Sachsen […] Was bey wehrendem solchem hohen Frewdenfest im October deß vergangenen Jahres/ zu Copenhagen […] ist vorgangen. Hamburg 1635 (Exemplar: HAB Wolfenbüttel, Sign. M: Gs 132). Mit Beiträgen u. a. von Vincentius Fabricius und Zacharias Lund. 9 Nachweise in Walter (Anm. 4), S. 45 f., Anm. 86 ff. 10 In der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar befindet sich ein Sammelband mit Epicedien und anderen Trauerschriften auf Cassius (Sign.: S 1:10), dort u. a. (Stück 2) von Johann Georg Pellicer: Lessus In Exequias […] Dn. Christiani Cassii, Aulae Caesareae Sacriq[ue] Palatii Lateranensis Comitis, & Romani Imperii Exempti, Serenissimorum Holsatiae Ducum Consiliarii, Reverendissimi Episcopi Lubecensis Cancellariae Directoris & Ven. Capituli Eutinensis Decani, &c. Lübeck [1676]. Stück 4 von: Friedrich Kogel: Melpomene Cassiana, Praefica: Quam Sublimi cothurno exutam, exeuias iturus comitatur Scazon […]. Lübeck 1677; Stück 6 von Jo-
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Es mag ein Hinweis auf die späthumanistische Gelehrtensozialisation von Cassius sein, konkret auf die in diesen Generationen verbreitete Gewissheit einer internationalen dritten Kraft zuzugehören, dass er sich nicht an dem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts so sehr in Mode kommenden Streben nach einer ‚Mitgliedschaft‘ in Sprachgesellschaften beteiligte, die ein anderes Forum der ‚Netzwerkarbeit‘ schufen und eine ‚Nationalisierung‘ von Dichtkunst und gelehrter Kommunikation zu ihrem Programm erhoben. Alle anderen ‚Eutiner‘ dagegen, deren Namen eingangs aufgezählt wurden, gehörten einem oder sogar mehreren Dichterorden an.11 Dabei besaß Zesens Deutschgesinnete Genossenschaft mit Sitz im nahen Hamburg die größte Anziehungskraft: Johann Georg Pellicer gehörte als „der Zierende“ der Rosen-Zunft an, sein Bruder Matthias als „der Gezierte“ und Christian von Stökken als „der Andächtige“ der Lilien-Zunft; Friedrich Kogel rückte später als „der Scheue“ für einen Verstorbenen nach. Dagegen gibt es keine Hinweise auf Mitgliedschaften, sei es auch nur erstrebte, im benachbarten Elbschwanenorden, der freilich das Todesjahr seines Stifters, des Wedeler Pastors und Poeten Johann Rist (1607–1667), nicht überlebte. Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens waren als „Thyrsis“ Johann Georg und als „Lysis“ Matthias Pellicer, sehr viel später unter der Präsidentschaft von Omeis auch Johann Wilhelm Petersen als „Petrophilus“ und seine Ehefrau Johanna Eleonora, geborene Freiin von und zu Merlau, als „Phoebe“. Die – um 1630 geborenen – Dichter im Fürstbistum Lübeck wären als poetae minores aus literaturgeschichtlicher Sicht zu Unrecht abqualifiziert, sie waren vielmehr durchaus typische Figuren im lokalen literarischen Leben des 17. Jahrhunderts. Wie allerorten dominierten auch in diesem lokalen Zirkel die kasualliterarischen Textsorten, in lateinischer wie deutscher Sprache, die poetische Produktion (wobei Petersen, der diese Form des Dichtens nur gelegentlich übte,
hann Wilhelm Petersen: Memoria […] Dn. Christiano Cassio Aulae Caesareae, Sacriqve Palatii Lateranensis Comiti Et Romani Imperii Exempto […] Et Venerabilis Capituli Uthinensis Decano Quondam Splendidissimo Mense Octobr. d. 6. Anni hujus Curr. 1676. post tot pro salute Holsatica exantlatos labores placide […]. Lübeck [1676]. Christian von Stökken verfasste in Prosa ein: Cassisches Ehren-Gedächtniß/ In der/ so genanten Abdanckung/ Auffgerichtet […]. Lübeck 1677, das, ohne eigenes Titelblatt, aber mit neuer Bogenzählung angehängt ist an die Leichenpredigt von Rodatzi (Anm. 6), die das Weimarer Konvolut als Stück 1 eröffnet. Auch im oben zitierten Göttinger Exemplar ist diese Abdanckung nicht eigenständig gezählt; in beiden Fällen handelt es sich zweifellos, wie die beiden völlig unterschiedlichen Druckangaben belegen, um ein bibliothekarisches Versehen. 11 Die nachfolgenden Angaben zu den Mitgliedschaften basieren auf den Namenslisten bei Karl Goedeke: Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 3. Vom Dreissigjährigen bis zum Siebenjährigen Kriege. Nendeln/Liechtenstein 1975 (ND der 2., ganz neu bearb. Aufl. Dresden 1887), S. 6–19.
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sich auf ein theologisches Schrifttum verlegte, das auf ganz andere Kommunikationskontexte konzipiert war).12 Kogel (um 1625–1682), ein gebürtiger Kurländer, der in Königsberg die Theologie studiert hatte, stieg in Eutin vom Hauslehrer über das Kantoramt bis zum Rektor (seit 1669) der städtischen Lateinschule auf.13 Seine zahlreichen Gelegenheitsgedichte, von denen nur verhältnismäßig wenige Einzeldrucke nachzuweisen sind, bündelte er in verschiedenen Sammlungen. Darüber hinaus schuf er mit seinen drei Teilen Uthinisches Bischofs-, Kirchenund Stadtgedächtnis die ersten Zeugnisse einer regionalen Historiographie.14 Christian von Stökken (1633–1684), einer holsteinischen Adelsfamilie entstam-
12 Johann Wilhelm Petersen (1649–1726) und seine Frau Johanna Eleonora (1644–1724), die ihm 1680 von Spener in Frankfurt am Main angetraut worden war, gehören zu den einflussreicheren Gestalten des lutherischen Pietismus. Petersen, seit 1676 in Lübeck lebend, von 1684 bis 1688 Hofprediger und Superintendent in Eutin, wurde v. a. durch seine mehrfach aufgelegte Sammlung geistlicher Lieder und freier Psalmendichtungen (Stimmen aus Zion, [erstmals Bd. 1] Magdeburg 1696) und durch sein neulateinisches Hexameter-Epos Uranias (Frankfurt am Main, Leipzig 1720), in dem er die gesamte Heilsgeschichte bis zum Tausendjährigen Reich und zur Apokastasis besang, bekannt. – Zu Petersen und seiner Frau vgl. neben beider Autobiographien: Hans-Jürgen Schrader: (sub verbo). In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte und des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde. Bd. 5. Neumünster 1979, S. 202–206; Johannes Wallmann: Das Ehepaar Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. In: Ders.: Der Pietismus. Göttingen 2005, S. 143–151. Dazu die Monographie von Stefan Luft: Leben und Schreiben für den Pietismus. Der Kampf des pietistischen Ehepaares Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen gegen die lutherische Orthodoxie. Herzberg 1994. Weiterhin: Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1993 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 30). Zu Petersens Kasuallyrik: Gunilla Eschenbach: Johann Wilhelm Petersens poetisches Selbstverständnis im Spiegel seiner Gelegenheitsdichtung (1667–1692). In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung. Hg. von Udo Sträter. Bd. 2. Halle an der Saale 2009, S. 721–726 (Hallesche Forschungen 28/2). 13 Über ihn ist nur wenig bekannt, nicht einmal die sonst so agile Lokalforschung hat sich seiner bislang angenommen. Am ausführlichsten bleibt Unsicker (Anm. 3), S. 138–141; außerdem nach wie vor zu konsultieren Moller (Anm. 6), Bd. 2, S. 143. 14 Friedrich Kogel: Das Uthinische Stadt-Gedächtnis, Welches aus unterschiedenen Geschichtund Zeit-Schreibern fleißig zusammen gesuchet, Und nuhn, nebst eingeführten Denkwürdigen Begebenheiten zur beliebten Nachricht vorstellet: Friedericus Cogelius, Kaeis. Gekr. P. und der Bischöfl. Uthinischen Stadt-Schulen Conrector. Plön 1679 (einziges nachgewiesenes Exemplar: Eutiner Landesbibliothek, Sign.: II b 137). Eine wesentlich erweiterte Ausgabe erschien unter dem selben Haupttitel, „Jetzo aber in etwas vermehret, bis auff diese Zeit continuiret […] Zur beliebten Nachricht wiederum vorgestellet Von Alexander Molde, Secretario der Stadt Eutin“ (Plön 1712). Kogels ‚Das Uthinische Bischoff-Gedächtniß Darin Daß Leben Aller Bischöffe des vorhin Oldenburgischen Vnd nun Lübeckischen Bisthums aus weitläufftigen Geschicht- und Zeit-Schreibern erörtert und Besonders in dreien Theilen Kurtz Zusammen getragen ist‘ (nach 1667) und ‚Das
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mend, fungierte nach einem Theologiestudium in Leipzig und Rostock und einer kurzen Tätigkeit als Pastor in Trittau seit 1666 als Hofprediger und Generalsuperintendent des Fürstbistums, bis er 1677 in königlich-dänische Dienste als Superintendent nach Rendsburg wechselte.15 Er verfertigte, neben einer Vielzahl von Predigten von Amts wegen, geistliche und Kirchen-Lieder, steuerte aber auch zu einigen Werken von Rist, so schon 1656 zu den Neüe[n] Musikalische[n] Katechismus Andachten, Ehrengedichte bei16 – poetische Kontakte zum Wedeler Pastor bestanden also durchaus. Von von Stökken stammt außerdem eine Bischöffliche Ehren-Seule zum Amtsantritt von Fürstbischof August Friedrich 1666, die das erste lokale Exempel dieser verbreiteten Form panegyrischer Festbeschreibung darstellt. Unter den deutschsprachigen Lobdichtern im Anhang dieses Werkes findet sich neben Friedrich Kogel auch – mit der falschen Unterschrift „Sellicerus“ – Johann Georg Pellicer, von dem nunmehr die Rede sein soll.17
Uthinische Kirchen-Gedächtniß, Darin alle Evangelische Prediger- und SchulBedienten zu Utin auch die gesammte Prediger, welche in allen Stifts-Kirchen, seit der Evangelischen Lehr-Zeit gelebet, Kürtzlich vorgestellet worden mit Beygefügten Denck- und Merckwürdigen Sachen‘ (nach 1679) blieben Manuskript (heute in der Eutiner Landesbibliothek unter der gemeinsamen Sign. Ms 69); Letztgenanntes wurde erst zweihundert Jahre später publiziert: Das uthinische KirchenGedächtniss. Aus dem handschriftlichen Nachlaß des Fr. Cogelius. Den Gemeinden dargeboten von [Heinrich] Aye. Eutin 1885. 15 Zu von Stökken, dem produktivsten Eutiner Autor dieser Zeit, vgl. Karl F. Otto, Dieter Lohmeier: (sub verbo). In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck, Bd. 5 (Anm. 12), S. 247 f.; Dieter Lohmeier, Red.: (sub verbo). In: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. 13 Bde. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Berlin u. a. 2008–2012, Bd. 11, S. 288 f. Bibliographisch ergiebig ist erneut Moller (Anm. 6), Bd. 1, S. 658–660. 16 Christian von Stökken: An den HochEhrwürdigen/HochEdlen/ Grosachtbahren und Hochgelehrten Herrn/ Johann Risten/ […] Als derselbe nach vielen Geistreichen Schriften auch seine Katechismus- und Haustafel-Andachten der Kirchen Gottes zu Dienst heraus gabe. Sonnet. In: Johann Rist: Neue Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende In Lehr- Trost- Vermanung und Warnungs-reichen Liederen über den gantzen heiligen Katechismum […]. Lüneburg 1656, S. 70–71. Von Stökken lieferte auch für andere Werke Rists Begleitgedichte, jener wiederum schrieb solche für von Stökkens ‚Neugestimmte Davids-Harfe‘ (1656) und ‚Heilige FriedensArbeit‘ (1662). Vgl. den Kommentar in: Johann Rist, Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi: Katechismus-Andachten (1656). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin u. a. 2016 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke 88), S. 107. 17 Bischöffliche Ehren-Seule/ Welche Dem Hochwürdigsten Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn August-Friedrich/ Erwehltem Bischoffen des Stifftes Lübeck/ […] Als Seine Hochfürstliche Durchleuchtigkeit den 4. des Heu-Monats/ […] im negst abgewichenen 1666. Jahre/ mit Hochfürstl. Magnificenz auff dero Bischöfflichen Stuel gesezzet worden/ In der dabei gehaltenen ordentlichen Predigt auff der Bischöfflichen Residenz zu Eutien in der Hochfürstlichen Hoffkir-
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2 Johann Georg Pellicer und die Entstehung der Balthis Johann Georg Pellicer wurde 1636 als Sohn des Adolf Pellicer, Vikar im Lübecker Domkapitel und Kanoniker des Eutiner Kollegiatstiftes, in Eutin geboren.18 Über seine Jugendjahre ist nichts bekannt, 1661 begleitete er als praeceptor einen vermögenden Schleswiger Studenten an die Universität Altdorf,19 im Januar 1666 immatrikulierte er sich in Kiel20 und erwarb dort noch im selben Monat das Lizentiat beider Rechte.21 Seit 1668 gehörte er als Canonicus dem Eutiner Kollegiatstift an, 1676 wechselte er als Rat in die Dienste des katholischen Herzogs von Sachsen-Lauenburg. In dieser Stellung verstarb er 1682. Die Umstände seines Wechsels liegen im Dunkeln, zumal er zuvor in Eutin eine offenkundig sehr wichtige Position eingenommen hatte, was darin zum Ausdruck kam, dass er nach dem Tod seines Bruders vom Fürstbischof auch dessen Kanonikat übertragen bekommen hatte. Der ältere, 1633 geborene Bruder Matthias Pellicer war 1673 verstorben. Er war bereits 1637 auf eine Vikarie im Eutiner Kollegiatsstift gesetzt worden, was für einen gewissen Einfluss der Familie im Fürstbistum spricht. Auch von seinem Leben ist nur wenig bekannt: 1658 immatrikulierte er sich in Greifswald, die
chen […] Unterthänigst auffgerichtet/ Nunmehr auch auff gnädigsten Befehl heraus gegeben Von M. Christian von Stökken/ Nebenst einem Unvorgreifflichen Bedenken über die Ceremonien, so bei Einführung der Bischöffe in acht genommen werden/ dem beigefügt eine kurze Erzehlung/ wie es bei jüngster Bischöfflichen Einführung gehalten worden. Ratzeburg 1667 (ELB: IV f 4° 11). Dort das Gedicht von Pellicer ([Inc.] „Weit- und breit beruffner Lehrer/“) auf S. 49–52. 18 Am ausführlichsten, auf Basis eigener Recherchen Unsicker (Anm. 3), S. 220–221. Außerdem Dieter Lohmeier, Red.: (sub verbo). In: Killy/Kühlmann (Anm. 15), Bd. 9, S. 130. 19 Am 2. August immatrikuliert als „Johann. Georg. Pellicerus, Lübecensis“, zusammen mit Albert Heinrich Vossenholt (Hamburg), vielleicht ein Sohn (oder Enkel) des Hofmeisters des Hamburger St. Jürgen-Hospitals, und Petrus Balthasar Gloxin (Schleswig), Sohn eines Lübecker Kanonikers und holstein-gottorfischen Rats. Die Matrikel der Universität Altdorf. Hg. von Elias von Steinmeyer. Erster Teil: Texte. Würzburg 1912 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte. Vierte Reihe: Matrikeln fränkischer Schulen 1), S. 333. 20 S. 2: „Hannß Georg Pellicerus Lübecensis.“ Das Album der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1665–1865. Hg. von Franz Gundlach. Kiel 1915, S. 2. 21 Q. D. B. V. Auctoritate Amplissimae Facultatis Juridicae In Illustri Christian-Albertina[.] Prae side Nobilissimo, Amplißimo Consultißimoq; Viro Dn. Erico Mauritio U. J. D. & Pandectarum Prof. celeberrimo […] Dissertationem Inauguralem De Aestimatione pro Licentia Summos in utroque jure consequendi honores ac Privilegia Publico examini submitti ad Januarij, 1666. Hanns Georg Pellicerus, Ven: Capitulo Lubec: à secretis. Kiel: Joachim Reumann 1666 (digitalisiertes Exemplar der SUB Göttingen, Sign.: DISS JUR COLL MAX 336 (39)).
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Krönung zum poeta laureatus durch Cassius erfolgte 1665.22 Von ihm sind nur wenige Dichtungen bekannt, die ihn ausschließlich als Kasualdichter ausweisen, der sich in deutscher und lateinischer Sprache zu artikulieren wusste und sowohl über verstreute Einzeldrucke in Verfasser- oder Sammelschriften als auch in anderen Sammlungen als Dichter zu fassen ist.23 Moller weiß in seiner Cimbria literata außerdem, allerdings nur „amico teste“, von einer „Paraphrasis Cantici Canticorum Metrico-Germania“ zu berichten,24 die aber nach dem Eintrag in Jöchers Gelehrtenlexikon Manuskript geblieben25 und heute verschollen ist. Die poetische Produktion des jüngeren Bruders Johann Georg Pellicer war umfangreicher und lässt sich schon deshalb besser dokumentieren, wenngleich auch bei ihm vieles nur Manuskript geblieben ist. In seinem Brief an Birken vom 22. November 1670 kündigt er an, demnächst „einige Tragoedien, von Leiden Christi etc. item ein geringes werck von Jägerey, und vnterschiedliche lateinische inscriptiones“ in den Druck zu geben.26 Obwohl Martin Kempe in sein „Sonderbahres Lob- und EhrenLiderBuch“ in der Balthis ein Gedicht „An Herrn Hans Georg Pellicer, J. U. Lic. Canonic. zu Eutin, des hohen Stifts zu Lübek Secretar. &c. wegen seines geistreichen Trauerspihls vom leidenden Christo“27 aufnahm, scheint keines dieser Werke zum Druck gelangt zu sein. Das Erschienene zeigt ihn wie seinen Bruder ausschließlich als Gelegenheitspoeten, wobei bei ihm die
22 Zu ihm die knappen Bemerkungen bei Unsicker (Anm. 3), S. 220. 23 Eine Übersicht über seine bislang bekannten Dichtungen gibt der Eintrag bei Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 50), S. 402 f. 24 Moller (Anm. 6), Bd. 1, S. 483. 25 Allgemeines Gelehrten-Lexikon, Darinne die Gelehrten aller Stände sowohl männ- als weiblichen Geschlechts, welche vom Anfange der Welt bis auf jetzige Zeit gelebt, und sich der gelehrten Welt bekannt gemacht […]/ heraus gegeben von Christian Gottlieb Jöcher […]. 4 Bde. Leipzig 1750–1751, Bd. 3, Sp. 1361. 26 Johann Georg Pellicer an Sigmund von Birken, Lübeck, 22.11.1670. Zit. nach: Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenzen. Bd. 13.1/I: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Teil I: Texte. Berlin u. a. 2012 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke 65), S. 236 f., hier S. 237. 27 Des In der Durchl. Fruchtbringenden Gesellschaft Erkohrnen und Blumengenossen an der Pegnitz, Damons Sonderbahres Lob- und EhrenLiderBuch Von weitberühmten Poeten in Teutschland. Getruckt im Jahr 1675. In: Balthis Oder Etlicher an dem Belt weidenden Schäffer des Hochlöblichen Pegnesischen Blumen-Ordens Lust- und Ehren-Gedichte. Lübeck 1674, S. 63–168, hier S. 118–123.
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deutschsprachige Dichtung ganz deutlich überwiegt.28 Wie sein älterer Bruder genoss er als Poet die Wertschätzung seiner Zeitgenossen, was sichtbaren Ausdruck darin fand, dass beide sowohl in Zesens Deutschgesinneter Genossenschaft als auch im Pegnesischen Blumenorden Aufnahme fanden: Matthias Pellicer wurde 1670 in beide Gesellschaften aufgenommen (als „der Gezierte“ bzw. „Lysis“), sein Bruder unter dem Namen „Thyrsis“ im gleichen Jahr bei den Nürnbergern und schon 1669 als „der Zierende“ in Zesens Gesellschaft.29 Die frühere Aufnahme des jüngeren Pellicer mag als ein Indiz für eine bessere Vernetzung und größere Anerkennung dienen. Für Sigmund von Birken war Johann Georg Pellicer und nicht sein älterer Bruder Matthias der Ansprechpartner im Fürstbistum (und auch in der Reichsstadt) Lübeck und eine wichtige Scharnierstelle für andere Korrespondenzen im Ostseeraum, die der Nürnberger über ihn weiterleiten ließ. Über Johann Georg Pellicer verlief auch der wechselseitige Austausch einiger Gedichte zwischen Birken und Christian von Stökken.30 Ob Letzterer dadurch konkrete Hoffnungen hegte, in den Orden eingeladen zu werden, ist nicht zu ersehen, auf jeden Fall gab es keine direkte Rekommendation der Aufnahme, wie sie Pellicer für den gebürtigen Lübecker Hermann Lebermann (1645–1705) ausgesprochen hatte, der damals noch Hauslehrer in Lübeck, seit 1679 Prediger am dortigen Dom war.31 Johann Georg Pellicers umfangreichstes und Hauptwerk, um das es nunmehr gehen soll, ist ebenfalls eine Gelegenheitsdichtung insofern, als es auf einen konkreten Adressaten mit dem Ziel der Verewigung im dichterischen Wort geschrieben ist und ebenso einen verifizierbaren Anlass besitzt, der freilich nur lose eingehalten wird, da das Werk mehrere Jahre bis zum Erscheinen brauchte. Der seit kurzem edierte und ungemein detailreich kommentierte Briefwechsel zwischen Johann Georg Pellicer und Sigmund von Birken erlaubt uns nunmehr genauere Einblicke in die langwierige und schwierige Entstehung der BALTHIS Oder Etlicher an dem Belt weidenden Schäffer des Hochlöblichen Pegnesischen Blumen-
28 Eine Kurzbibliographie der bekannt gewordenen im Druck erschienenen Gedichte stellt Jürgensen (Anm. 23), S. 401 f., zusammen. 29 Für die Behauptung von Unsicker (Anm. 3), S. 221, dass Johann Georg Pellicer schon vor seiner Reise nach Weimar 1665 bei den Pegnitzschäfern aufgenommen worden war, gibt es keine Belege. Der jetzt publizierte Briefwechsel zwischen Pellicer und Birken belegt das Jahr 1670. 30 Zusammenfassend die Bemerkungen von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster: Einleitung. In: Birken, Werke und Korrespondenzen Bd. 13.1 (Anm. 26), S. XVII–LXXXVIII, hier S. LII f. 31 Ebd., S. LV. Zu Lebermann der Eintrag bei Jürgensen (Anm. 23), S. 480–482.
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Ordens Lust- und Ehren-Gedichte, wie der Titel der ersten, laut Titelblatt 1674, in Wirklichkeit aber erst 1675 erschienenen Ausgabe lautet.32 Die Balthis besteht aus drei Teilen, die von Johann Georg Pellicer, dem Königsberger Martin Kempe (1642–1683) und dem Elbinger Daniel Bärholz (1641– 1688) jeweils unter ihren Nürnberger Ordensnamen verfasst sind: „Lob des Floridans“ von Thyrsis-Pellicer (S. 14–62), „Sonderbahres Lob- und EhrenLiderBuch Von weitberühmten Poeten in Teutschland“ von Damon-Kempe (S. 63–168) und „Hundert Kling-Gedichte“ von Hylas-Bärholz (S. 169–263), die sich ebenfalls wie bei Kempe auf die verschiedensten Personen richten. Genauer zu betrachten ist der Anfang des gesamten Werkes, also die Paratexte. Nach Titelblatt und der Widmung „An Den HochEdlen und Fürtrefflichen Floridan, Preißwürdigsten Vorstehhern und Oberhaupt der löblichen Blumgenoß- und Schäffer-Gesellschafft an der Pegnitz/ Unsern Hochzuehrenden Großgeneigten Ordens-Genossen“ folgt auf den Seiten 3 bis 6 eine Prosa-„Zuschrifft“, die die „Schäffer und Dienere“ Thyrsis, Damon und Hylas unterzeichnen. Die Reihenfolge der Unterschriften entspricht der Anordnung der drei Teile des Werkes. Seite 7 beginnt mit einem ‚Inhaltsverzeichnis‘ des Bandes, auf das ein erstes Begleitgedicht „Pindarisches Ringel-Lied/ über die herausgebung der Preißwürdigen Balthis“ folgt, das auf Pellicer gerichtet ist und auf den 17. August 1674 datiert. Verfasser ist unter seinem Fruchtbringerischen Gesellschaftsnamen der „Erkorene“ Martin Kempe. Im titellosen zweiten Gedicht singt ab Seite 11 Bärholz ein Loblied auf Floridan-Birken, der „Hirten teures Haupt“.33 Daran schließt sich, mitten auf der Seite 14, Pellicers „Lob des Floridans“ an, das also im Gegensatz zu den Werken der beiden Kollegen weder ein eigenes Zwischentitelblatt noch eigene poetische Zuschriften besitzt. Es ist kaum denkbar, dahinter einen satztechnischen Zufall sehen oder es durch ‚Sparzwänge‘, den unbedruckten Platz auf den Blättern aus Kostengründen möglichst gering zu halten, erklären zu wollen. Vielmehr werden dadurch das Gesamtwerk Balthis und das „Lob des Floridans“, in dem die titelgebende ‚Balthis‘ auftritt, als konzeptionelle Einheit erkennbar, der zwei selbständige und unabhängig davon entstandene Werke hinzugefügt sind. Erst der ab der zweiten Auflage 1677 erweiterte Titel bringt die drei Teile nachträglich in einen Zusammenhang: BALTHIS Oder Etlicher an dem Belt weidenden
32 Das Impressum auf dem Titelblatt lautet: Lübeck/ In verlegung Statius Wessel/ Im Jahr 1674. Kempes Teil hat einen Zwischentitel mit der Druckangabe „Gedruckt im Jahr 1675“ (S. 63), ebenso ist es bei Bärholz (S. 170). Ich zitiere nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Sign.: Yi 7346. 33 Balthis Oder Etlicher an dem Belt weidenden Schäffer des Hochlöblichen Pegnesischen Blumen-Ordens Lust- und Ehren-Gedichte. Lübeck [1675], S. 14.
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Schäffer des Hochlöbl. Pegnesischen Bluhmen Ordens. Teutscher Gedichte/ Drey Theile Jn sich haltend Allerhand Zuschrifften/ Glückwünschungen/ Anbindungen/ Lobreden/ Ehren- Traur- Lust- Hochzeit- und Freuden-Gedichte/ nebst Hundert im dritten Theile befindlichen Sonnetten oder Klingreimen. Nach Alexandrinischer/ Jambischer/ Trochaischer/ Daktylischer/ Pindarischer/ Anapæstischer u. s. w. Art entworfen. Und allen der Teutschen Poësie Liebhabern anitzo zum Nutzen und Ergätzen mitgetheilet.34 Der Zusammenhang wird jetzt also geographisch und poetologisch (im Sinne der damals als Publikationsform verbreiteten ‚Poetischen Wälder‘) konstituiert, die im Titel der ersten Ausgabe imaginierte inhaltliche Konsistenz wird nicht mehr behauptet. Einheit stiftet dem dreiteiligen Werk lediglich die „Zuschrifft“, die ihrerseits allerdings eine Entstehungs- bzw. Schreibmotivation konstruiert, die gerade für das „Lob des Floridans“ – und somit die ‚eigentliche‘ Balthis – nicht in Anspruch genommen werden kann. Birken hatte 1673 die von ihm zusammengestellte (und mehrheitlich verfasste) Pegnesis den Pegnitz-Schäfern des Ostseeraums zugeeignet: Gertrud Moller (Mornille) und Martin Kempe (Damon) in Königsberg, Gottfried Zamehl (Meleager), Friedrich Hoffmann (Cleander) und Daniel Bärholz (Hylas) in Elbing, Matthias (Lysis) und Johann Georg Pellicer (Thyrsis) in Eutin bzw. Lübeck, Johann Salomon Betulius (Orontes) in Mitau und Christian Franz Paullini (Uranius) in Kopenhagen bzw. Hamburg.35 Die „Zuschrifft“ in der Balthis reagiert auf diese Widmung und übernimmt sogar die Echotechnik, die Birken dort in seiner Prosa-„Zuschrift“ eingesetzt hatte. Die Balthis erstattet dem Nürnberger Ordenspräsidenten einen „Gegengruß“, der aus „Schuld- und Dank-verbundenheit“ formuliert wird.36 Soweit es der Korrespondenz zwischen Birken und Johann Georg Pellicer bzw. anderen Ordensmitgliedern zu entnehmen ist, hatte der Eutiner Stiftsherr Anfang 1671 mit der Arbeit an seinem „Lob des Floridans“ begonnen. Nachdem Birken einem Trauergedicht, das er nach Nürnberg anlässlich des Todes von dessen Frau geschickt hatte, großes und öffentliches Lob gezollt hatte, wollte sich Pellicer mit Versen revanchieren. Am 10. März 1671 schrieb er nach Nürnberg: „zum danck vnd andencken habe ich angefangen hiesige lustwälder zum Ruhm deß großen Floridans lobschallend aufzumuntern vnd in einem Schäffer gespräch zugleich die himmelgesonnenheit Vnsrer schönstbelobten Mittschäfferinnen,
34 Bremen: Hermann Brauer 1677. 35 Sigmund von Birken: Pegnesis: oder der Pegnitz Blumgenoß-Schäfere FeldGedichte in Neun Tagzeiten/ meist verfasset/ und hervorgegeben/ durch Floridan. Nürnberg: Wolfgang Eberhard Felsecker 1673. 36 Balthis (Anm. 33), S. 4.
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auch etzlicher bekanten Gesellschaffter würdigste beschaffenheit abzubilden“.37 Zwei Monate später berichtet Daniel Bärholz in einem Brief an Birken vom 12. Mai 1671, dass Thyrsis „anizt eine schöne Schäferey unter händen habe, zum lobe (wie er schreibet), deß teüren Floridans und einiger bekandten Mitschäfer und berühmten Mitschäferinnen.“38 Noch einmal drei Monate danach konnte Bärholz während eines Besuchs bei Pellicer in Lübeck lesen, „was er der Edlen Blumengenoßschaft, absonderlich aber Meinem, ja unserm unvergleichlichen Floridan, zu ehren und höchstverdienten Preise, abgefaßet“39 habe und er glaube, so schreibt er am 12. August 1671 weiter an Birken, dass diese Schrift – übrigens zusammen mit einem, wohl dem bereits erwähnten ‚Trauerspiel‘ – demnächst in den Druck gehen wird. Das Konzept für die Prosaekloge Pellicers stand also in seinen Eckpunkten bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1671 fest. In der 1675 schließlich vorgelegten Gestalt zeigt das „Lob des Floridans“ definitiv, dass Pellicer seinen Text über Jahre bearbeitet hat: So bietet er Verse auf drei 1673 und Anfang 1674 verstorbene Ordensbrüder – nämlich Matthias Pellicer, der Elbinger Schulrektor Friedrich Hoffmann („Cleander der Erste“, 1627–1673) und Johann Sechst („Alcidor“), Korrektor in der Endterschen Buchdruckerei40 – dar, deren Todesdaten somit einen Terminus post quem für seine Schlussredaktion setzen. So schreibt erneut Bärholz am 12. Februar 1674 an Birken: „Jndeßen sinnet Thyrsis, und mit dem Meleager der Hylas darauf, wie wir mit zusammengesetzten kräfften ein zeichen unserer dankbarkeit darstellen mögen, werde auch Jch vor mein theil nicht ruhen, biß der gute Vorsatz seinen End zewk erreichet“.41 Das war verhältnismäßig bald der Fall: Pellicer informiert Birken schon am 27. Oktober 1674, dass die Balthis „izo zu
37 Johann Georg Pellicer an Sigmund von Birken, Lübeck, 10.03.1671. Zit. nach Birken, Werke und Korrespondenzen Bd. 13.1 (Anm. 26), S. 242. 38 Daniel Bärholz an Sigmund von Birken, Gießen, 12.05.1671. Zit. nach ebd., S. 290. 39 Daniel Bärholz an Sigmund von Birken, Elbing, 20.08.1671. Zit. nach ebd., S. 293. 40 Nach Jürgensen (Anm. 23), S. 129 und 131, verstarb Sechst erst 1677. Das ist unzutreffend. Pellicer vermeldet im „Lob des Floridans“ zurecht den Tod des „höchstbeklagten Alcidor“ (S. 58). Auch in dem Gemeinschaftswerk auf Burkhardt Löffelholz, ‚Der Norische Metellus oder Löffelholzisches Ehrengedächtnis/ Des Glückhaften Vördersten Regentens der Weltberühmten Norisburg: zu wolverdientem Nachruhm Dieses WolEdlen Stadt- und Lands-Vatters aufgerichtet durch Die Blumgenoß-Schäfere/ an der Pegnitz.‘ Nürnberg. [o. D.] 1675, wird S. [6] der Tod in einer Fußnote zu einem deutschsprachigen Erinnerungsepigramm auf das Jahr 1674 datiert. Laut Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon […]. Dritter Theil von N–S. Nürnberg, Altdorf 1757, S. 692–693, hier S. 693, verstarb Johann Sechst am 19. Februar 1674. 41 Daniel Bärholz an Sigmund von Birken, Elbing, 12.02.1674. Zit. nach Birken, Werke und Korrespondenzen Bd. 13.1 (Anm. 26), S. 299.
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Bremen bey Stats Wessel gedruckt wird, auch sonder zweiffel schon fertig sein muß“.42 Die Auslieferung der fertigen Balthis verzögerte sich noch einmal enorm, da es zwischen dem Verleger Statius Wessel in Lübeck und der Bremer Druckerfamilie Wessel, die die Herstellung übernommen hatte, bald schon zu Problemen kam, weil der Verleger den Druck nicht bezahlen konnte. Pellicer ließ sich schließlich auf eigene Kosten einige Exemplare aus Bremen besorgen, von denen er einige am 7. Juli 1675 an Birken sandte, und andere zuvor an seine beiden Mitautoren abgegeben hatte.43 Noch in seinem Brief vom 29. März 1676 beklagt Pellicer, die Balthis sei nach wie vor „nicht von dem Verleger eingelöset, welcher von dem drücker nun gerichtlich belangt wird vnd stehet numehr die sache zum entscheid“.44 Über den gerichtlichen Ausgang ist den Briefen zwar nichts mehr zu entnehmen, doch die Tatsache, dass 1677 bei Hermann Brauer in Bremen eine im Satzspiegel unveränderte, auf dem Titelblatt jedoch – wie oben zitiert – deutlich geänderte Ausgabe erschien, weist wohl darauf hin, dass der neue Verleger die erste Lübecker Ausgabe vom Drucker ausgelöst hat. 1680 und 1689 ließ Hermann Brauer weitere Ausgaben erscheinen. Karin Unsicker hat alle vier Ausgaben verglichen und dabei festgestellt, dass es sich 1677 um eine Titelauflage, bei der lediglich der erste Bogen mit den Paratexten neu gesetzt wurde, handelte. Die beiden späteren Auflagen, von denen die dritte bislang nur in der British Library nachzuweisen ist,45 unterscheiden sich von der zweiten lediglich durch die Jahresangabe auf dem Titelblatt.46 Es spricht alles dafür, dass die von Unsicker noch vorsichtig geäußerte These, dass es sich 1677 um Restexemplare der ersten Auflage 1674 gehandelt haben könnte, unzweifelhaft zu bestätigen und auch auf die beiden folgenden Ausgaben anzuwenden ist. Diesem in der Geschichte der Literatur des Pegnesischen Blumenordens singulären Gemeinschaftswerk – singulär insofern, als es nicht wie andere Exempel dieser gerne im Medium des Drucks von den Ordensmitgliedern geübten Form literarischer Freundschaftskommunikation von ‚Schäfern‘ an einem Ort ver-
42 Johann Georg Pellicer an Sigmund von Birken, Lübeck, 27.10.1674. Zit. nach ebd. S. 255. – Der Elbinger Ratsherr Gottfried Zamehl („Meleager“, 1629–1684) hatte ein Begleitgedicht für die ‚Balthis‘ verfasst, das nicht mehr rechtzeitig vor Drucklegung eintraf und deshalb in allen drei Auflagen fehlt. Vgl. Laufhütte/Schuster (Anm. 30), S. XXXIX. 43 Johann Georg Pellicer sendet mit seinem Brief an Sigmund von Birken, Lübeck, 07.07.1675, ein Exemplar der Balthis. Vgl. Birken, Werke und Korrespondenzen Bd. 13.1 (Anm. 26), S. 256. 44 Johann Georg Pellicer an Sigmund von Birken, Lübeck, 29.03.1676. Zit. nach ebd., S. 259. 45 Sign.: 11521.bb.3. 46 Vgl. Unsicker (Anm. 3), S. 219.
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fasst wurde – war also offenkundig kein Erfolg auf dem Buchmarkt vergönnt.47 Martin Kempe legte mehrere selbständige Sammlungen seiner Gedichte vor und war als einer der ganz wenigen poetischen Zeitgenossen Mitglied in allen bedeutenden Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts; seine literaturgeschichtliche Reputation hing nicht von der Balthis ab, und er hat in der deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts bis heute einen durchaus klangvollen Namen. Daniel Bärholz, der überwiegend mit Gelegenheitsgedichten hervorgetreten ist, hat immerhin als regionaler Dichter eine literaturwissenschaftliche Würdigung und Einordnung erfahren.48 Johann Georg Pellicer dagegen, der spiritus rector der Balthis und ihr Kompilator wie Herausgeber, ist gänzlich in Vergessenheit geraten – und mit ihm sein „Lob des Floridans“, dem das abschließende Kapitel gewidmet sein soll.
3 Das „Lob des Floridans“ Das „Lob des Floridans“ beginnt mit einer gattungstypischen Eröffnungsszene: Der Schäfer Thyrsis befindet sich auf freiem Feld bei seiner Herde und setzt mit einem ‚Lied‘ (in sechshebigen Jamben) ein, in dem er seinen – noch abwesenden – Mitschäfern Damon und Hylas ebenso wie sich selbst die Frage stellt, warum sie bislang noch nicht dem Floridan das ihm zustehende Loblied gesungen hätten. Beim Blick über die vor ihm liegende Feldebene sieht er Hylas, dem er entgegenläuft und der ihm als Zeugnis ihrer Freundschaft einen Zettel mit einem Figurengedicht in umgekehrter Herzform zeigt. Thyrsis lässt sich daraufhin an einem über Goldsand fließenden Bach nieder und singt ein erstes Lied auf Floridan. Kaum ist dieses verklungen, nähern sich ihnen „zwo Schäfferinnen und ein Hirte“:49 Es sind Daphne, Barbara Juliane Penzel,50 und Dorilis, Maria Catharina
47 Dass der Leibarzt und Historiograph des Fürstbischofs von Münster, Christian Franz Paullini, bei einer Dienstreise in Hannover ein Exemplar der ersten Auflage bei einem Buchhändler entdeckt hat (vgl. Laufhütte/Schuster (Anm. 30), S. 73), belegt zumindest, dass die ‚Balthis‘ auf dem Buchmarkt wahrgenommen wurde. 48 Durch Christian von Zimmermann: Regionale und soziale Identität in der Frühen Neuzeit. Zur Kasuallyrik von Daniel Bärholtz (1641–1692). In: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Beckmann, Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 827–857. 49 Balthis (Anm. 33), S. 18. 50 Barbara Juliane Penzel (um 1636–1673), Tochter des Nürnberger Ratsschreibers Johann Christoph Müller, heiratete 1667 Conrad Penzel, Hofdiakon in Hohenlohe-Pfedelbach. Sie wurde
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Stockfleth,51 sowie Damon. Damit ist die Gruppe komplett, die sich nunmehr auf einen Spaziergang begibt, der sie sehr schnell an eine Pforte führt, die vor einem auf einem ‚lustbahren‘ Gebirge gelegenen Wald steht. Diese Pforte ziert ein weiteres Lobgedicht auf Floridan. An dieser Pforte beginnt der zweite Teil dieser Prosaekloge. Die Pforte öffnet sich „unversehens“ und gibt den Blick auf einen mit Rosenblättern ausgeschmückten Hain frei, der „in gerade Linie von einander stehende Marmorseulen und pyramiden, auff deren jedwede ein Sinnbild nebst der Erklärung derselben eingegraben“, darbietet.52 Ehrfurchtsvoll betreten die Schäfer diesen „Wollustwald“, der Hylas zu einem Lied inspiriert, das mit allen Motiven eines locus amoenus ausgestattet ist und in den letzten beiden der sechszeiligen, in dreihebigen Jamben verfassten Strophen erneut Floridan herbeiruft. Doch Damon zeigt sich unzufrieden, denn es hätten Hylas „Gedanken sich mehr in derjenigen verlauffen/ die in diesen Wäldern sein Hertz entzündet/ als in den Wäldern selbst“.53 Das stimmt ganz kurz das Liebesmotiv an, das in diesem Falle einen biographischen Hintergrund hat, denn, wenn Damon und Thyrsis Hylas „als einen Verliebten entschüldiget halten“, spielt das zweifellos auf die im Jahr zuvor erfolgte Eheschließung von Bärholz an.54 Dass dem Hylas in den Mund gelegte Lied stellt somit auch diese Ehe unter den poetischen Schutz des Floridan. Da der verliebte Hylas ausfällt, übernimmt Thyrsis es, dem Schutzpatron das angemessen große und umfassende Lob dichterisch zu zollen. Es folgt ein Alexandriner-Gedicht in Paarreimen, das mit 168 Zeilen nicht nur das längste der eingestreuten Gedichte ist, sondern auch das zentrale Gedicht, das in der Mitte des „Lob[es] des Floridans“ mit dem Verspaar endet, „Der Wald/ daß Feld/ die See/ der Himmel stimmt mir bey/ ǀ Daß unser Floridan der Teutschen Phoebus sey.“55 Auf diesen quintessenziellen Schlusssatz hat Thyrsis durch die penible Abarbeitung des Topoi-Katalogs des Dichterlobs sowie einer Revue der von Floridan verfassten unsterblichen Schriften acht Seiten lang hingearbeitet. Der erste Teil des Gedichtes entwirft eine ausführliche Dichterfiliation, die Birken als eine
1668 in den Orden aufgenommen, lebte zu dieser Zeit schon in Pfedelbach. Zu ihr Jürgensen (Anm. 23), S. 285–287. 51 Maria Catharina Stockfleth (1634–1692), verheiratet mit Heinrich Arnold Stockfleth. Nürnberger Pfarrerstochter, Witwe des Altdorfer Theologieprofessors Johann Conrad Heden. Wie die Vorherige Mitte 1668 in den Orden aufgenommen. Vgl. ebd., S. 297–299. 52 Balthis (Anm. 33), S. 21. 53 Ebd., S. 24. 54 Das Zitat ebd. – Bärholz hatte am 22. August 1673 geheiratet, vgl. Laufhütte/Schuster (Anm. 30), S. LXI. 55 Balthis (Anm. 33), S. 32.
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sowohl den antiken als auch den nationalsprachigen Poeten überlegene Begabung herausstellt. Das ist eine amplifikatorische Standardstrategie der Zeit, die sich ebenso in anderen Lobgedichten auf Poeten wiederfindet. Pellicer bringt indes einige durchaus überraschende Namen zur Geltung, beispielsweise in den Reihen „[…] Da sol dir kein Lucan ǀ Kein Pindar, kein Homer, kein Flaccus, kein Buchnan“56 oder „[…] Was Opitz hat erfunden/ ǀ Was Vondel, Catz und Veen in reine Reim gebunden/ ǀ Was Heinsen […]“.57 Wen aber auch immer man anführen würde: Selbst die berühmten Nürnberger Vorgänger Birkens, ebenso die großen europäischen Renaissancepoeten und die größten Zeitgenossen der deutschen Zunft – ein Balde, ein Gryphius, beide in den 1660er Jahren verstorben – können sich mit Birken-Floridan nicht messen: […] Wie Strephon diß erkant/ Als er durch deinem Spiel sich übertroffen fand/ Wie Clajus sich ergetzt/ Fontano ward entzükket/ Als du jhr Feld mit Klee und Lieljen-Schnee geschmükket/ Das weiß die gantze Welt. Er war kein Sannazar, Kein Barthas, kein Petrarch, der dir nicht bote dar/ Die Kron darnach Er rang. Barlei süsse Leyer Verstummte vor dein Spiel; des Baldens hohes Feüer Verschwand vor dein Gerücht. Dach zog die Pfeiffen ein/ Und rieffe Floridan sol fohrthin Orpheus sein/ Der süsser spielt als Er. Es ward durch deine Lieder Der grosse Gryph erhitzt/ Er warff di Laute nieder/ Di sonst so trefflich klang/ man/ sprach Er/ singt nicht gern Mit Nachtgalln in di Wett. Jch bin ein fallend Stern/ […].58
Pellicer beweist an dieser Stelle, das sei nebenbei vermerkt, eine stupende Kenntnis aktueller Publikationen: So war 1670 ein großes lateinisches Lobgedicht auf Simon Dach erschienen, das ihn im Titel als Orpheus Prutenus ehrte – diesen Ehrennamen tritt Dach nun selber an Birken ab.59 Der zweite Teil dieses Alexandrinergedichts widmet sich dann einer ‚Werkschau‘ Birkens, die in Form eines Cento gestaltet ist und sich vorrangig auf dieje-
56 Ebd., S. 25. 57 Ebd., S. 27. 58 Ebd., S. 27 f. 59 Orpheus Prutenus Sive Laudes Posthumae Clarissimi Viri Dn. Simonis Dachii, Calamo excitatae Schlaviciano. DANTISCI, Typis Simonis Reinigeri [1670] (einziges bekanntes Exemplar: Biblioteka Uniwersytecka Toruń, Sign.: Pol.7.III.694). Pellicer könnte durch einen seiner beiden Mitstreiter an dieses Gedicht herangekommen sein.
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nigen Werke des Ordenshauptes konzentriert, in denen er das von den Nürnbergern im Pegnesischen Schäfergedicht gelieferte Gattungsmodell weiterentwickelt hat. Unmittelbar an die eben zitierte Stelle, sinnfällig übergeleitet über Homer, widmet sich Pellicer zunächst über 23 Verse Birkens Fried-erfreuete[r] Teutonie.60 Danach wechselt er vom ‚Friedensdichter‘ zum ‚Heldensänger‘ Birken: […] Du liessest Feur und Wort Auß einem Munde gehn und schribest alle Thaten Der Helden auf/ di ni im Lethes-Pfuhl gerathen; Di vor jhr Vaterland frey/ muhtig/ unverzagt/ Jm offnem Helm gekämpfft/ für uns jhr Bluht gewagt/ Und Noht und Todt getrotzt. […]61
Damit ruft Pellicer in einer neuerlichen Mischung aus Paraphrase und Cento die „Heldenhöle“ aus der Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey (1645) auf und erinnert selbst an einige der von Birken und Klaj besungenen ‚Helden‘ über erneut mehr als zwanzig Verse.62 Von da erfolgt der Wechsel auf die Lobdichtung, die über Birkens Verbindungen zu Braunschweig-Lüneburg und Bayreuth, die beide auch kurzzeitige Lebensstationen gewesen waren, angedeutet werden, was schließlich zum Ostländischen Lorbeerhain (1657) und zur Geschichtsschrift Spiegel der Ehren des Erzhauses Österreich (1668) hinüberleitet, die im Gegensatz zur Fried-erfreueten Teutonie und zur Pegnitz-Schäferey aber nur noch durch die Nennung der Titel intertextuell markiert werden. Birken wird durch diese gezielte Gewichtung der Textteile also insbesondere als Schäferdichter, somit in seiner selbstgewählten und über die Jahre weiterentwickelten Rolle als Floridan zum deutschen Phoebus erhoben, dessen Lob im Himmel und auf Erden, in Flora und Fauna und unter allen Menschen unvergänglich bleiben wird. Damit aber ist noch längst nicht alles gesagt. Ganz im Gegenteil zeigen sich am Ende dieses langen Gedichts, das schon reichlich genug aus dem zur Verfü-
60 Die Fried-erfreuete Teutonie. Eine Geschichtschrifft von dem Teutschen Friedensvergleich/ was bey Abhandlung dessen/ in des H. Röm. ReichsStadt Nürnberg/ nachdem selbiger von Osnabrügg dahin gereiset/ denkwürdiges vorgelauffen; mit allerhand Staats- und Lebenslehren/ Dichtereyen/ auch darein gehörigen Kupffern gezieret/ in vier Bücher abgetheilet/ ausgefertiget von Sigismundo Betulio. Nürnberg: Jeremia Dümler 1652. 61 Balthis (Anm. 33), S. 29. 62 Fortsetzung Der Pegnitz-Schäferey/ behandlend/ unter vielen andern rein-neuen freymuhtigen Lust-Gedichten und Reimarten/ derer von Anfang des Teutschen Krieges verstorbenen Tugend-berümtesten Helden Lob-Gedächtnisse; abgefasset und besungen durch Floridan/ den Pegnitz-Schäfer. Mit Beystimmung seiner andern Weidgenossen. Nürnberg: Wolfgang Endter 1645.
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gung stehenden Topoi-Arsenal barocken Dichterlobs geschöpft hat,63 die versammelten Schäferinnen und Schäfer nicht gänzlich zufrieden. Einige Aspekte hätte der Sänger nicht benannt. Dies betrifft in erster Linie die Gelehrsamkeit des Besungenen, eine in der zeitgenössischen Dichterapologie untrennbar mit dem Ideal des poeta doctus verbundene Selbstzuschreibung der Zunft. Doch Floridan wird in der anschließenden längeren Prosapassage von – in dieser Reihenfolge – Damon, Hylas, Daphne und Dorilis nicht bloß als derjenige beglaubigt, „welcher in der edlen Dicht-Kunst für andern fürtrefflich ist/ und di höhe des Parnassus erreichet“64, und es wird nicht nur ergänzt, dass er natürlich auch in vielen Sprachen und allen Wissenschaften ebenso bewandert sei, auch die Tatsachen, wie vortrefflich er „in der seeligmachenden Gottes Lehre [sei] und dabey sein unsträflich himmel-ähnliches Leben“65 führe und wie bewandert er in göttlichen und weltlichen Rechtsdingen sei, fügt sich diesem Gesamtpaket barocken Dichterlobs ein. Nicht allein seiner Dichtkunst also, der übrigens auch die handschriftlichen Sammlungen „Floridans Amaranten-Garte“ und die „Birken-Wälder“ schon hinzugezählt sind,66 vielmehr der ganzen Fülle und der großen Summe seiner Begabungen und Leistungen verdanke Birken, dass – und das darf in diesem Lobteil selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben – „er jhm auch Jhr: Käys. May. allerhöchste Hulde erworben/ welche mit der Käys. HoffPfaltzGraff-Würde derselben vorlängst begnädiget.“67 Umfassender konnte ein Poet nicht gelobt werden, Pellicer lässt keine Facette unbeachtet. Ob dieser unermesslichen Fülle von Begabungen und Kenntnissen, die sich in Floridan vereinen, verständigt man sich schnell, an diesem Tage nur seiner poetischen Taten zu gedenken. Das Argument, das Pellicer (in Gestalt von Damon-Kempe) dafür ins Feld führt, zählte zum apologetischen Standardrepertoire der Zeit: Die weit verbreitete Missachtung der Dichtkunst, die von allen, die sie betrieben, beklagt wurde. Dieser somit wenig originelle Kunstgriff Pellicers
63 Als Überblick nach wie vor Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966–1986. 3., erg. Aufl. Tübingen 1991 (Rhetorik-Forschungen 2), S. 113–134. Einführend Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchung zu ihren geschichtlichen Grundlagen. 2., unveränd. Aufl. Tübingen 2002, der S. 59–67 ergänzend die Bedeutung von Bibel und Kirchenvätern neben den antiken Autoren für das Motivreservoir der Legitimation des Poeten betont; dazu nunmehr die einschlägige Studie von Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 80). 64 Balthis (Anm. 33), S. 33. 65 Ebd., S. 35. 66 Vgl. die eindeutigen Anspielungen ebd., S. 34 f. 67 Ebd., S. 36.
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leitet indes passend auf den dritten Teil des Textes über. In diesem wendet sich die kleine Gesellschaft den Marmorsäulen zu. Insgesamt sind es siebzehn dieser Säulen, die von den Schäferinnen und Schäfern einzeln abgeschritten werden. Jede ist gleich aufgebaut, und zwar in einer emblematischen Struktur aus Überschrift, Sinnbild und poetischer subscriptio. Es handelt sich um unimediale, ganz in das Medium der Schrift gebannte Embleme ohne Illustration, bei denen die Gedichte im Kopf des Lesers die sinnbildhafte pictura evozieren sollen. Das wird durch eine typographisch hervorgehobene Kurzbeschreibung des Bildinhalts angeleitet. Hier ist nicht der Ort, die in Worte gefassten picturae und die ihnen beigegebenen Motti zu identifizieren, sie entsprechen alle nicht den von Birken vergebenen Ordenssymbolen und Sinnsprüchen. Wir wollen hier nur die von Thyrsis-Pellicer in einer bewussten Vielzahl von Versmaßen und Strophenformen gewürdigten Schäferinnen und Schäfer des Blumenordens aufführen – und zwar in der Reihenfolge des Erscheinens im Text: Den Anfang macht wiederum Floridan, danach folgen Silvia (Catharina Margarete Dobenecker), Damon (Kempe), Daphne (Barbara Juliane Penzel), Meleager (Gottfried Zamehl), Ferrando I. (Johann Ludwig Faber), Dorus (Heinrich Arnold Stockfleth), Macaristo (Christian Betulius), Hylas (Daniel Bärholz), Mornille (Gertrud Möller), Uranius (Christian Franz Paullini), Lysis (Matthias Pellicer), Filemon (David Nerreter), Amyntas II. (Jacob Hieronymus Lochner), Myrtillus II. (Martin Limburger), Rosidan (Johann Geuder) und Poliander (Andreas Ingolstetter). In dem gattungsgemäßen Bestreben, den locus amoenus stets mit realen bzw. realistischen Bezügen zu verbinden und damit zugleich die eigene Dichterexistenz auf Erden zu bestätigen,68 können wir in dem Wald, den Pellicer in seinem „Lob des Floridans“ poietisch refiguriert hat, wohl das „Poetenwäldchen“ der Nürnberger entdecken, das nach Norddeutschland verpflanzt wird. Freilich mischen sich in der Gattung eindeutig erdachte Orte hinzu, die ihrerseits typische Konstituenten der Schäferdichtung sind. So ist es mit der Grotte oder Höhle der Fall. Pellicer sucht sie mit seinen Schäfern als nächstes auf. Notwendig ist dieser Ortswechsel aus narrativen Gründen: Standen bisher die lebenden Ordensmitglieder im Mittelpunkt – mit der Ausnahme des Lysis –, so kommen nunmehr die Toten zu ihrem Recht, im poetischen Wort ihr Andenken gestiftet zu erhalten. Dass der inzwischen verstorbene Bruder Matthias Pellicer noch unter den Lebenden aufgetreten ist, darf als ein Indiz dafür genommen werden, dass dieser Teil der Prosaekloge schon vor 1673 (weitgehend) ausgearbeitet worden war.
68 Dazu maßgeblich: Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974 (Literatur und Leben N. F. 16).
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Der Wechsel von den Lebenden zu den Toten wird im Text sofort offenkundig gemacht, erblickt doch Daphne, die diese Höhle entdeckt, als erstes „di mit todblassen und grimmen Geberden verstellte Morta, auf einen zerbrochenen Marmor-Sarg di[e] rechte mit Bluht gefärbte Hand slummernd unters Haupt lehnend“.69 Die mythologische Todesgöttin, die an dieser Stelle eher ungewöhnlich als Einzelgestalt auftritt, lädt unsere Schäfer lächelnd ein, sich den in dieser Grotte Geehrten ohne Furcht zu nähern. Der Aufbau der Ehrenmäler ist wie zuvor, nur ist der Marmor jetzt selbstverständlich schwarz und nicht mehr weiß. Wiederum beschränken wir uns an dieser Stelle darauf, lediglich die Erwähnten Revue passieren zu lassen: Es sind Lysis, Matthias Pellicer, der damit quasi der Brückenkopf vom Reich der Lebenden in das der Toten wird, danach – mit einer langen subscriptio in achthebigen Trochäen – Cleander (Friedrich Hoffmann) und Alcidor (Johann Sechst), der am 19. Februar 1674 verstorben war. Angesichts der Todesdaten der Bedachten ist von einem späteren Zeitpunkt der Ausarbeitung dieses letzten Teiles auszugehen. Eine Woche vor dem Tod von Sechst hatte Bärholz ja, daran sei erinnert, Birken von dem Plan zur Balthis berichtet,70 der damals also offenkundig von Pellicer wieder aktiv verfolgt wurde. Möglicherweise hat Pellicer seine Pläne modifiziert und den letzten Teil neu hinzugefügt. Der Tod seines Bruders könnte dazu Anlass gegeben haben. Auf jeden Fall hat Johann Georg Pellicer darauf verzichtet, in das Vorangehende noch einmal einzugreifen und seinen Bruder aus dem Lustwald auszulagern bzw., was ja leicht möglich gewesen wäre und die Struktur des Textes nicht verändert hätte, ihn durch ein anderes Ordensmitglied zu ersetzen. Der Tod seines Bruders hat aber vor allem in anderer Hinsicht auf das „Lob des Floridans“ eingewirkt. Denn Thyrsis kehrt von der Gedenksäule des Alcidor noch einmal unter Tränen zur Grabstätte seines Bruders zurück. Das lyrische Schäfer-Ich, das bislang in einer bereits durch die räumliche Trennung von allen Genannten leicht erkennbaren fiktiven Schäferwelt verkehrte, setzt den der Gattung eigenen Rückbezug auf reale Lokalitäten am Ende seines Textes für einen Wechsel der Erzählperspektive und der Sprecherrolle ein, ohne die Schäfermaske abzunehmen. Indem er auf der anderen Seite der brüderlichen Grabstätte „Eine Fürst-Bischöfliche Sitz-Stadt in Zimbrien“71 erblickt, also Eutin, verlegt er den Sterbeort wie den Verstorbenen aus der Schäferwelt heraus. Der Wald, in dem die Schäferinnen und Schäfer gewandelt waren, befindet sich also am baltischen Ufer, bei der Stadt Eutin. Das ‚raue Gebirge‘, „dessen
69 Balthis (Anm. 33), S. 51. 70 S. o. Anm. 41. 71 Balthis (Anm. 33), S. 59.
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Höhe […] so lustbahr/ daß es schiene/ als wan die Natur und Kunst solchen Platz zur Hoffstatt ihrer Wollust erwehlet“,72 ist sogar noch genauer zu lokalisieren: Als Königsberg (Abb. 1). So heißt die höchste Erhebung bei der fürstbischöflichlübeckischen Residenzstadt Eutin. Es ist nicht mehr als ein Hügel, der allerdings auch in anderen zeitgenössischen Medien im Wortsinne überhöht wurde, beispielsweise im Thesaurus Philo-Politicus von Eberhard Kieser und Kilian Lieboldt 1631 (Abb. 2).73 Das mag an seinem Namen liegen, der auf ein Ereignis aus der Reformationszeit zurückgeführt wird, als dort der dänische König seine Artillerie positionierte, um die Stadt gegen einen Angriff der Lübecker zu verteidigen.74 Es war indes keineswegs die exponierte Lage, die für die Erfindung des Poeten Pate stand, dass gerade auf diesem Berg der Baum wuchs, an dem das letzte Gedicht aus dem „Lob des Floridans“ auf einem Zettel hängt. Das Motiv findet sich auch anderswo, so etwa in dem nahezu parallel erscheinenden Norischen Metellus (1675), in dem die Epigramme auf verstorbene Ordensmitglieder auf Zetteln aufgeschrieben sind, die an Bäumen hängen.75 In unserem Fall jedoch verbindet sich mit diesem bewussten Bruch der Fiktionalität eine Verdopplung der poetischen Funktion des Textes: Mit dem Lob auf Sigmund von Birken vereinigt sich untrennbar das Andenken an Matthias Pellicer. Indem Johann Georg Pellicer seinem Bruder das abschließende Loblied auf Birken in den Mund legt, wird die Idee des durch das poetische Wort gestifteten unsterblichen Nachruhms, der Dichter wie Bedichteten stets gleichermaßen trifft, performativ vollzogen. Zudem findet dieser poetische Vorgang an einem Orte statt, dem niemand anderes als der Verstorbene einst mit einem neulateinischen Epigramm die poetische Weihe verliehen hatte.76 Thyrsis-Johann Georg Pellicer dürfte diese Tat-
72 Ebd., S. 20. 73 Politischen Schatzkästleins Sechster Theil Andern Buchs. Das ist: Außerlesene schöne Emblemata, oder Politische Moralia, Lateinisch vnd Teutsch auffs kürtzste beschrieben vnd an Tag gebracht/ Durch Kilian Lieboldt/ Schuldienern zu Obern Heimbach. Sampt 52. Schöner Stätt/ Schlösser vnd vornehmer Oerter beygefügten wahren Conterfeytlichen Abbildungen. Frankfurt a. M.: Eberhard Kieser 1631, S. 12 („Oitinum“) und Bl. 36. 74 Die Episode ist ausführlich geschildert von Friedrich Cogel: Das Utinische Stadt-Gedächtnis/ Welches aus unterschiedenen Geschicht- und Zeit-Schreibern fleißig zusam[m]en gesuchet/ Und nuhn/ nebst eingeführten Denkwürdigen Begebenheit zur beliebten Nachricht vorstellet […]. Plön: Johann Diedrich Reuss 1679, B vv–B vir. 75 Der Norische Metellus oder Löffelholzisches Ehrengedächtnis/ Des Glückhaften Vördersten Regentens der Weltberühmten Norisburg: zu wolverdientem Nachruhm Dieses WolEdlen Stadt- und Lands-Vatters/ aufgerichtet durch Die Blumgenoß-Schäfere/ an der Pegnitz. Nürnberg: [o. D.] 1675. 76 Das Epigramm ist abgedruckt in: Cogel: Das Utinische Stadt-Gedächtnis (Anm. 74), Bl. A[11]r. Cogel ‚übersetzt‘ es in ein gereimtes deutsches Gedicht und ergänzt Bl. A[11]v einige deutsche Verse.
„der Pegnesis Echo […] vom Belt“
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Abb. 1: Silhouette von Eutin, um 1700. Kupferstich aus: Das Uthinische Stadt-Gedächtnis, Oder: Kurtze Denckwürdigkeiten Der Hoch-Fürstl. Bischöffl. Residentz-Stadt Utin In dem Holst. WagerLande, Welche vormahls von Friederico Cogelio, P. C. L. Sch. Utin. Con-Rectore […] fleißig zusammen gesuchet, Jetzo aber in etwas vermehret, bis auff diese Zeit continuiret […] Von Alexander Molde, Secretario der Stadt Utin. Plön 1712 (Eutiner Landesbibliothek).
Abb. 2: Oitinum, vor 1631. Kupferstich aus: Politischen Schatzkästleins Sechster Theil Andern Buchs (Anm. 73), Bl. 36 (Eutiner Landesbibliothek, Sammlung Dreyer-Eimbcke).
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sache beim Adressaten der Balthis als bekannt vorausgesetzt haben. Dadurch sicherte er Lysis-Matthias Pellicer einen poetischen Geltungsbereich, den er mit seinem Werk nicht beanspruchte: Den Ruhm des neulateinischen Poeten. Gleichzeitig erhält das gesamte „Lob des Floridans“ dadurch, dass es auf dem Eutiner Königsberg angesiedelt wurde und dieser selbst als ein Ort der Poesie identifiziert werden soll, eine über den dargestellten Moment hinausreichende Glaubwürdigkeit. Lysis spricht das letzte Wort über Birken, Thyrsis schließt einige Abschiedsverse an Lysis an. Diese Rollenverteilung und die dadurch eindrucksvoll inszenierte Überführung eines aktiven dichterischen Sprechens über den Tod hinaus verleiht dem „Lob des Floridans“ bereits zu dessen Lebzeiten eine überzeitliche, jeglicher Vergänglichkeit entledigte Bestätigung. Die Führerschaft Sigmund von Birkens betrifft die deutschsprachige Poesie, sie ist unbestreitbar und fortdauernd. Die Gattungswahl trägt das Ihrige dazu bei, diese Bedeutung Birkens zu verdeutlichen. Nicht nur, dass das deutschsprachige Modell auf den ‚Vater der deutschen Dichtung‘ zurückging, sondern die Schäferdichtung und die Prosaekloge als Sonderform fanden gerade bei den Mitgliedern des Nürnberger Blumenordens produktive Aufnahme. Im Wettstreit um dichterische Geltung in den Grenzregionen des deutschsprachigen Kulturraumes rückt sich Johann Georg Pellicer – in der Maske des Hirten, doch mit der Autorität des Poeten – damit zugleich in die Rolle eines Anführers in dieser speziellen Dichtkunst, die durch die eingestreute Exempelreihe der Produktion des ‚Teutschen Phoebus‘ Birken wie durch die im Hain und in der Höhle vorgestellten lebenden und toten Dichterkolleginnen und -kollegen als vorbildliche belegt ist. Rist und Zesen, die beiden Konkurrenten mit ähnlichen Führungsansprüchen auf den Norden, werden in der Genealogie der Birken vorangehenden Dichter nicht erwähnt – dabei fungierte Johann Georg Pellicer sogar als Erzschreinhalter der Deutschgesinneten Genossenschaft. Auch die Leipziger, die ja ebenfalls in der Schäferdichtung nichts unbekannt Gebliebenes geleistet hatten, werden verschwiegen. Dass stattdessen dem Bruder Matthias das letzte Wort geliehen wird, imaginiert, ja soll beweisen, dass es mehr als nur einen Vertreter dieser Dichtkunst in dieser Region gibt. Es ist somit Johann Georg Pellicers „Lob des Floridans“, das dem gelehrt-literarischen Deutschland seiner Zeit demonstriert, dass die Pegnesis in der Tat an der Ostsee eine nicht weniger begabte Schwester besitzt, die auf den Namen Balthis hört – und deren Musensitz der Königsberg bei Eutin ist.
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Verhältnisbestimmung: Birken und Sandrart, Dichter und Maler in der Teutschen Academie Das in der Frühen Neuzeit allgegenwärtige Diktum Ut pictura poesis besticht durch seine Eingängigkeit und ist geeignet, eine wie auch immer geartete Verbindung von Wort und Bild kurz und knapp zu benennen. Wie viele seiner Zeitgenossen griff auch Sigmund von Birken in seiner 1679 erschienenen Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst die Sentenz des Horaz auf und konstatierte, wie der Maler mit dem Pinsel, so stelle der Poet mit den Wortfarben des Verstandes Personen und Handlungen dar.1 Mit diesen Worten formuliert er einen theoretischen Allgemeinplatz, der außer Acht lässt, dass jede Verbindung zwischen Dichter und Bildkünstler zwangsläufig auch eine praktische Seite hat. Mit den beiden Medien stehen zwei Personen im Austausch, die Kontakt pflegen, die ähnliche Ziele verfolgen, die zusammenarbeiten oder in einer Konkurrenz stehen. Das Verhältnis, das Dichter und Maler eingehen, ist facettenreich und von unterschiedlichen Interessen geleitet. Die Teutsche Academie reflektiert die personale Ebene der Geschwisterkünstler, indem sie einige Dichter-Maler- und Dichter-Architekten-Paare vorstellt. Wird die Verschwisterung der Künste im kunsttheoretischen Teil diskutiert, so bringen die Künstlerviten Aspekte der Künstlerverbindung zur Sprache. Sie geben zu erkennen, dass die Verschwisterung der Künste auf einer Verbindung von Maler und Dichter beruht, die eine Kooperation eingehen und wechselseitig voneinander profitieren. Der biographische Teil enthält zwar ausschließlich Viten von Malern, Kupferstechern, Bildhauern und Architekten, doch die dazugehörigen Porträttafeln umfassen nicht nur Bildnisse von Künstlern, sondern auch von Schriftstellern und Gelehrten. Da diese Personen ihre Aufnahme in das künstlerbiographische Werk ihren Beziehungen zu Malern und Architekten zu verdanken haben, geben gerade die Porträttafeln Aufschluss über die Verbindungen zwischen bildenden Künstlern und Dichtern.
1 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Hildesheim, New York 1973 (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679), S. 186. https://doi.org/10.1515/9783110593129-297
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1 Tizian/Ariost Als ein prominentes Maler-Dichter-Paar präsentiert die Tafel R im oberen Register Tizian, den die Inschrift ausdrücklich als „MAHL[er]“ bezeichnet, während Ariost als „ARIOSTE POETA VON FERARE“ vorgestellt wird (Abb. 1). Die Darstellung des Dichters basiert auf einem Gemälde Tizians (Abb. 2), von dem man im siebzehnten Jahrhundert zu wissen glaubte, es stelle Lodovico Ariost vor, obgleich es diesen nicht wiedergibt.2 Sandrart kannte dieses Bild, da er es im April 1639 in Amsterdam auf der Auktion des Kunsthändlers Lucas van Uffelen gesehen und gezeichnet hatte (Abb. 3).3 Da das vermeintliche Bildnis des Ariost von Tizian stammt, platzierte Sandrart den venezianischen Meister neben den Poeten und vereinte somit Maler und Dichter. Die anderen Künstler der Tafel stellen weitere Maler aus Venedig vor: Jacopo Bassano, Tintoretto, dessen Tochter Marietta sowie Paolo Veronese. Die in der Lagunenstadt wirkenden Maler und die Malerin bilden eine optische Einheit, indem sie mit dem Betrachter Blickkontakt aufnehmen. Davon unterscheidet sich deutlich die Blickrichtung des Ariost sowie diejenige Tizians, denn keiner von ihnen schaut aus dem Bild heraus. Während der Dichter sinnend ins Unbestimmte blickt, wendet der Maler seinen Kopf in Richtung Ariosts, ohne ihn direkt anzusehen. Wie sehr Sandrart daran interessiert war, Tizian und Ariost so wiederzugeben, dass sie den Betrachter nicht anschauen, ist im Vergleich mit seiner Zeichnung zu erkennen. Wie auf dem Ölgemälde blickt Ariost auch auf der Skizze aus dem Bild heraus, während der Stich gerade dieses Detail veränderte. Durch ihre unbestimmte Blickrichtung verband Sandrart Maler und Dichter miteinander und unterschied sie von den anderen Personen der Porträttafel. Tizian steht durch die Schaffung des vermeintlichen Porträts des Ariost auf Dauer mit dem Poeten in einem Verhältnis. Doch darüber hinaus verbindet Maler und Dichter eine weitere Komponente, die hervortritt, wenn man die Darstellung Tizians mit der verarbeiteten Vorlage vergleicht. Sandrart schuf die für den Stecher vorgesehene Skizze nicht, wie noch Sponsel annahm, nach dem Stich aus Carlo Ridolfis Maraviglie,4 sondern, wie Lucia Siomanta betonte, nach dem Kupferstich, der Tizians Lebensbeschreibung Breve compendio della vita del
2 Harold Edwin Wethey: The Paintings of Titian. II: The Portraits. London 1971, Kat.-Nr. 40. Zu der Porträttafel vgl. auch Anna Schreurs: Von den Vite Vasaris zu Sandrarts Academie: Künstler, Dichter und Gelehrte. In: Le Vite del Vasari. Genesi topoi, ricezione / Die Vite Vasaris. Entstehung, Topoi, Rezeption. Akten der internationalen Tagung in Florenz (Kunsthistorisches Institut) Februar 2008. Hg. von Katja Burzer u. a. Venedig 2010, S. 249–269, hier S. 261 f. 3 Stephanie S. Dickey: Rembrandt. Portraits in Print. Amsterdam 2004, S. 100. 4 Jean Louis Sponsel: Sandrarts Teutsche Academie. Kritisch gesichtet. Dresden 1896, S. 155; Tizians Vita in der ‚Teutschen Academie‘ ist indes eine Übersetzung der Biographie Ridolfis: Carlo
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famoso Tiziano Vecellio di Cadore von 1622 beigefügt ist (Abb. 4).5 Ein besonderes Augenmerk legte Sandrart auf die Kette, die unter der pelzverbrämten Schaube sichtbar wird, die der Stich im Breve compendio jedoch nur ungenau wiedergibt. Die zweireihige Kette mit einem Anhänger ist bei Sandrart zu einer quer umgehängten Kette geworden, deren hellen Glieder markant hervortreten. Mit diesem Detail setzte Sandrart die Ehrungen ins Bild, die er in Tizians Vita in Anlehnung an Ridolfi aufzählt: Der Venezianer stand im Dienst Kaiser Karls V., erhielt von diesem reichen Lohn, ein Jahresgehalt und die Ritterwürde.6 Die von Sandrart betonte Kette ist damit eine Ehrenkette, die Tizians hohes Ansehen beim Kaiser sinnfällig zum Ausdruck bringt. Doch auch Ariost war, gemäß der Teutschen Academie, von Karl V. großzügig behandelt worden. Da Ariost als Dichter keine eigenständige Vita erhält, wies Sandrart auf die erhaltenen Ehren nur knapp in der Vita des Apelles hin, in der er Künstler und Dichter nennt, die von Herrschern gefördert wurden.7 Ariosts Wertschätzung ist damit eine zwar bemerkenswerte Tatsache, die ihn in die Nachfolge der antiken Künstler stellt, auf der Porträttafel indes hinter Tizians augenfälliger Ehrung zurückbleibt. Dort tritt das Würdezeichen des Malers unmittelbar hervor und entspricht ganz dessen den Geist betonender hoher Stirn. Die Wendung über die Schulter verleiht Tizians Porträt Bewegung, ebenso wie das freie Spiel der Barthaare und des Pelzrevers Dynamik übermittelt und dem Maler Präsenz verleiht. Ariost erscheint dagegen in einer statischen Pose. So findet die Ehrung des Dichters zwar im Wort Erwähnung, doch letztlich tritt der Dichter hinter dem Maler zurück. Dieser Schwerpunktsetzung entsprechend erhält Tizian in seiner Vita großes Lob aus dem Munde des Ariost, denn er vermöge, die äußere Gestalt und die inneren Emotionen eines Menschen überzeugend wiederzugeben.8 Diese Fähigkeiten veranlassten Ariost, den Venezianer als einen der größten zeitgenössischen Künstler hervorzuheben. Die folgenden Verse des Dichters rühmen Tizian
Ridolfi: Le Maraviglie dell’arte ovvero le vite degli illustri pittori veneti e dello stato. Hg. von Detlef von Hadeln. Berlin 1914, S. 151–201. 5 Lucia Simonata: Dalle Vite di Vasari all’Academie di Sandrart: Fonti e modelli per i ritratti della Teutsche Academie. In: Le Vite del Vasari (Anm. 2), S. 271–292, hier S. 291, Anm. 38; vgl. auch: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie (Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). Hg. von Anna Schreurs. Memmingen 2012, Kat.-Nr. 2.9, S. 184–186 (Carolin Ott). 6 Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau- Bild- und Mahlerey-Künste Bd. 1. Nürnberg 1675. Im folgenden abgekürzt als TA 1675 mit Teil, Buch, Seitenzahl sowie der URL des benutzten Digitalisates, hier TA 1675, II, Buch 2 (italienische Künstler), S. 160. http://ta.sandrart. net/-text-372 (3. März 2015). 7 TA 1675, II, Buch 1 (antike Künstler), S. 30. http://ta.sandrart.net/-text-230 (3. März 2015). 8 TA 1675, II, Buch 2 (italienische Künstler). S. 160. http://ta.sandrart.net/-text-372 (3. März 2015).
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und andere preiswürdige Maler. Das Lob des Malers fließt aus der Feder des Dichters, während im Umkehrschluss der Maler den Literaten mittels seines Pinsels ehrt, indem er dessen Konterfei festhält, das schließlich in Form von Reproduktionsstichen weit verbreitet wird. So ehren und befördern sich die Geschwisterkünstler zwar gegenseitig, doch klingt wiederum eine Parteinahme zugunsten des Malers an, da Ariost dessen konkrete künstlerische Fähigkeiten lobt, während das Bildnis, das Tizian schuf, das spezifisch Preiswürdige des Dichters nicht erkennen lässt, sondern auf seinen Schöpfer zurückstrahlt, dessen Können darin sichtbar bleibt.
2 Francesco Petrarca/Simone Martini Ein weiterer Poet, den Sandrart mit einem Bildnis bedachte, ist Francesco Petrarca. Sein Porträt erscheint auf Tafel L, die mehrere Personen wiedergibt, die nicht zu den bildenden Künstlern zählen (Abb. 5). Neben Petrarca erscheint seine Geliebte Laura, während im unteren Register der Mediziner, Theologe, Naturphilosoph und Astronom Paracelsus abgebildet ist. Die Aufnahme von gleich drei Personen, die nicht zu den bildenden Künstlern zählen, ist auffallend und erklärungsbedürftig. Das Bildnis, das Sandrart mit Petrarcas Namen überschrieb, stellt nicht den Bezeichneten dar, sondern, wie Anna Schreurs erkannte, dessen berühmten Vorgänger Dante.9 Sandrart mag dieses Bildnis für dasjenige Petrarcas gehalten haben, zumal der Lorbeerkranz auch zu dem jüngeren Laureatus passt. Rein bildstrategisch bot sich das Porträt an, da es mittels des strengen Profils einen deutlichen Bezug zu dem benachbarten Oval mit Lauras Porträt herstellt. Der Dichter blickt so eindringlich zu der Frau, der seine Verse gelten, dass es scheint, sie verdanke ihre Existenz seinem Blick. Die Geliebte indes wendet sich mit niedergeschlagenen Augen zur Seite und bringt mit Körperwendung und Blickrichtung ihre Abhängigkeit von dem Dichter zum Ausdruck. Ihre Passivität klingt auch in der Bildüberschrift an, die schlicht „LAVRA“ formuliert, während der Dichter als „FRANCESCO PETRARCA POЁTA“ bezeichnet wird. Es ist unklar, welche Darstellung Sandrart für Lauras Bildnis vorlag.10 Zwar sind einige Porträts bekannt,
9 Schreurs (Anm. 2), S. 260. 10 Das von Sponsel vorgeschlagene Vorbild unterscheidet sich in Körperwendung, Kleidung und Frisur so sehr von der Darstellung in der ‚Teutschen Academie‘, dass es nicht als Vorlage gedient haben kann. Vgl. Sponsel (Anm. 4), S. 144. Zu Laura im Porträt vgl. Joseph Burney Trapp: Petrarch’s Laura: The Portraiture of an Imaginary Beloved. In: Journal of the Warburg and Cour-
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die sie vermeintlich wiedergeben, doch entstanden diese postum und stimmen mit dem Konterfei auf der Porträttafel nicht überein. Lauras Bildnis nach dem Leben schuf Simone Martini, wie der Leser der Teutschen Academie aus Martinis Vita erfährt.11 Auf dieses Porträt verweist auch Petrarca in zwei Sonetten, mit denen er das Konterfei seiner Geliebten besingt. Geht man davon aus, dass es sich bei diesen Versen nicht um eine dichterische Fiktion handelt, muss Martini das Bildnis als Federzeichnung auf Pergament ausgeführt haben, denn nach Petrarcas Worten hatte er das Porträt „in carte“ mit einem „stile“ geschaffen.12 Innerhalb der Dreiecksbeziehung zwischen Dichter, Maler und Objekt ihrer Kunst kommt den beiden Künstlern die aktive Rolle zu. Die Hand des Malers und die Worte des Dichters haben Laura das Leben geradezu erst verliehen und haben sie zugleich unsterblich gemacht. Darüber hinaus hat Petrarca auch Simone Martini ewigen Ruhm gesichert, indem er ihn für Lauras Bildnis lobend erwähnt. Die schöpferische Hand von Maler und Dichter, die Leben verleihen, und das gegenseitige Lob der Künstler bilden hier eine Einheit. Dichter und Maler befördern sich gegenseitig und tragen dazu bei, dass man ihrer auf Dauer gedenkt.
3 Paracelsus/Leone Battista Alberti Die anderen vier Porträts der Miscellantafel L stellen Fra Angelico (1395/1400– 1455) und einen gewissen Lippo von Florenz dar sowie Paracelsus und den Kunsttheoretiker und Architekten Leone Battista Alberti, der hier fälschlich als Giovanni Battista Alberti bezeichnet ist, während sein Name in den Viten korrekt aufgeführt wird. Der Maler Lippo ist ein Personenkompositum, das auf Vasari zurückgeht, der bereits die Vita des Lippo di Corso (um 1357 – um 1404) mit derjenigen des Lippo di Benirieni (um 1315) verquickte.13 Das obere Malerpaar ist durch einen Gegensatz aufeinander bezogen, denn die Vita des malenden Dominikaners Fra Angelico rühmt seine Weltentsagung und aufrichtige fromme Gesinnung, während Lippo als ein streitsüchtiger und gehässiger Mann gekennzeichnet wird, der in
tauld Institutes 64 (2001), S. 56–192; Pasquale Sabbatino: In pellegrinaggio alle dimore poetiche di Petrarca. Gli itinerari, le reliquie di Laura e il ritratto di Simone Martini nel Petrarchista di Nicolò Franco. In: Studi rinascimentali 1 (2003), S. 61–82, hier S. 74–79. 11 TA 1675, II, Buch 2 (italienische Künstler), S. 64. http://ta.sandrart.net/-text-270 (3. März 2015). 12 Andrew Marindale: Simone Martini. Complete Edition. Oxford 1988, S. 50, 183. 13 Ulrich Thieme, Felix Becker (Hgg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 1929. Bd. 23, S. 275.
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jungen Jahren bei einer von ihm provozierten Messerstecherei den Tod fand. So unterschiedlich ihr Leben verlief, so verschieden ist auch ihr Nachruhm. Fra Angelicos Vita schließt mit seiner italienischen Grabinschrift, die wohl Birken ins Deutsche übertrug.14 Das Leben des Malers resümierend, hebt er dessen Frömmigkeit hervor, dank deren er im Himmel ewig leben werde, während seine malerischen Werke seinem irdischen Ruhm Dauer verleihen. Die Vita des Lippo legt jedoch nahe, dass dem streitsüchtigen Maler kein bleibender Ruhm beschert ist, denn nachdem der Leser von dem tödlichen Messerstich erfahren hat, liest er den lapidaren Satz: „woran er kurz darauf Todes verblichen“. Das letzte Wort in Lippos Biographie hat damit der Tod. Die beiden Maler sind auch im Bild als Gegensatzpaar kenntlich, indem der Mönch in Habit und Tonsur breit das Oval ausfüllt und den Kopf in Richtung des Nachbarporträts wendet. Lippo indes hat seinen Körper zu Fra Angelico gedreht, ohne jedoch mit ihm zu kommunizieren. Obgleich Lippo etwa 50 Jahre vor dem malenden Mönch geboren wurde, ist er hier doch als der Jüngere dargestellt, der ob seiner Jugend und reduzierten Körperlichkeit wenig Gewicht erhält. Da sich das Porträtpaar des oberen Registers sowie Petrarca und Laura aufeinander beziehen, ist es wahrscheinlich, dass auch die Dargestellten im unteren Register in einer Verbindung stehen. Albertis Gegenwart passt zu den beiden Malern des fünfzehnten Jahrhunderts im oberen Register, doch die Anwesenheit des Philosophen, Naturmediziners und Kirchenkritikers Paracelsus erklärt sich nicht unmittelbar, da über seinem Porträt nur der Name erscheint und der übliche Hinweis auf eine Profession fehlt. Da er nur in Form seines Porträts in dem Buchwerk gegenwärtig ist, während sein Name in keiner Textpassage erwähnt wird und nicht einmal im Register erscheint, muss allein das Bild die Begründung liefern, die seine Anwesenheit auf Tafel L erklärt. Der in einem Oval präsentierte Naturphilosoph trägt ein schlichtes Obergewand, unter dem ein kragenloses Hemd sichtbar wird (Abb. 6). Von dem Schwert, das ihm üblicherweise beigegeben ist, ist nur der Knauf sichtbar, auf den er seine linke Hand stützt. Den Kopf wendet er über seine Schulter nach hinten, so dass sein von einem Lockenkranz gerahmtes Gesicht in Dreiviertelansicht zu sehen ist. Sandrart konnte für die Darstellung unter einer Vielzahl von Vorlagen wählen, denn seit dem sechzehnten Jahrhundert kursierten zahlreiche Porträts des Hohenheimers im Medium des Holzschnitts, des Kupferstichs und in Form von Münzen.15 Diese können in zwei Grundtypen unterteilt werden. Eine Gruppe
14 TA 1675, II, Buch 2 (italienische Künstler), S. 69. http://ta.sandrart.net/-text-275 (3. März 2015). 15 Vgl. Karl Möseneder: Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter. Tübingen 2009, Abb. 5–8; Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Paracelsus in num-
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zeigt Paracelsus in einer Profilansicht, wie der Holzschnitt des Monogrammisten AH aus den Jahren um 1538 (Abb. 7), sowie mit einem leicht geöffneten Wams und einem kragenlosen Hemd. Die Werke der anderen Gruppe präsentieren ihn in Dreiviertelansicht und mit der Hand auf dem Schwertknauf – eine Darstellungsweise, die der Monogrammist AH 1540 für einen Druck wählte (Abb. 8). Nun ist er mit einem gefältelten und mit einem Stehkragen versehenen Hemd wiedergegeben. Sandrarts Darstellung stimmt mit keinem der Typen völlig überein und unterscheidet sich zudem durch die Kopfwendung, die auf keiner der Graphiken zu finden ist. Sandrart kannte mehrere Porträts des Hohenheimers, von denen er unterschiedliche Elemente wählte und sie zu einem eigenen Bildnis zusammenfügte. So lag ihm der Kupferstich des Johann Theodor de Bry vor (Abb. 9), den dieser 1597/1598 für das von seinem Vater Theodor und Jean-Jacques Boissard lancierte Gemeinschaftsprojekt der Gelehrtenporträts geschaffen hatte.16 Von dieser Graphik übernahm Sandrart die Hand auf dem Schwertknauf und Paracelsus’ Gesichtszüge, die auf beiden Darstellungen einen markanten m-förmigen Mund erkennen lassen, während auf den anderen Graphiken gleichmäßig waagerechte Lippen zu sehen sind. Zudem erhebt sich auf der Darstellung in der Teutschen Academie Paracelsus’ linke Augenbraue in einem hohen Bogen, den auf de Brys Stich die rechte Augenbraue beschreibt. Sandrart arbeitete zwar nach de Brys Vorlage, übernahm jedoch nur den Kopf und spiegelte ihn, so dass sich Paracelsus entgegen der Bildtradition umwendet. Doch entsprach die Kleidung nicht seinen Vorstellungen, weshalb er dafür einen anderen Stich heranzog, der von Hohenheim in schlichtem Hemd und mit offener Jacke wiedergab. Da Sandrart für den Typus und die Komposition des Porträts Paracelsus’ weit mehr Mühe aufwandte als für andere Bildnisse, die er gar nicht oder – wie im Falle des Ariost – nur geringfügig veränderte, muss das herbeigeführte Äußere für die Bildaussage entscheidend sein. Den Blick über die Schulter erzeugte Sandrart, um eine Beziehung zu dem Nachbarbildnis des Alberti herzustellen, so wie er auch Petrarca durch das intensive Schauen mit Laura verband. Auch Paracelsus’ Kleidung wählte er, um ihn dadurch mit dem Kunsttheoretiker in Beziehung zu setzen, der ebenfalls eine
mis. Nachrichten zu Medaillen auf Theophrast von Hohenheim aus dem 17. bis 20. Jahrhundert. In: Parerga Paracelsica. Paracelsus in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Joachim Telle. Stuttgart 1991, S. 301–358. 16 Die Frankfurter Stecher- und Verlegerfamilie de Bry gehörte wie Sandrart zu den Reformierten, die aus den südlichen Niederlanden in die Messestadt gezogen waren, und stand auch mit Sandrarts engem Vertrauten Matthäus Merian in Verbindung. Vgl. Esther Meier: Joachim von Sandrart. Ein Calvinist im Spannungsfeld von Kunst und Konfession. Regensburg 2012, S. 31 f., 40 f.
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schlichte Jacke und Hemd trägt, entsprechend der Darstellung, die er Vasaris zweiter Vitenausgabe entnommen hatte.17 So stellte Sandrart nicht, wie Johann Tomaschek vermutete, zwischen Paracelsus und Petrarca eine Verbindung her,18 sondern ausdrücklich zwischen Paracelsus und Alberti. Um diese Zusammengehörigkeit zu erzeugen, nahm er sogar eine grundlegende Umgestaltung der Tafel vor. Gemäß der vorbereitenden Zeichnung im Codex iconographicus 366 hatte er zunächst vorgesehen, Alberti mit Giorgio Vasari, Giuseppe d’Arpino, Caravaggio, Annibale Carracci und Lanfranco auf eine Tafel zu setzen (Abb. 10)19 und damit zwei Kunsttheoretiker mit vier in Rom wirkenden Künstlern zu vereinen. Diesen Plan verwarf er kurz vor der Drucklegung, fügte Albertis Bildnis der Miscellantafel L hinzu und nahm in Kauf, dass auf der Porträtseite S das untere linke Oval leer blieb (Abb. 11). Sandrart müssen entscheidende Gründe dazu bewogen haben, Paracelsus und Alberti miteinander in Verbindung zu setzen und dafür eine einschneidende Umgestaltung der Tafel S vorzunehmen. Da zwischen Paracelsus und Alberti kein Bezug hinsichtlich ihrer Profession und Lebenszeit besteht, können nur ihre Schriften das verbindende Element sein. Sandrart würdigte Alberti in der Teutschen Academie in Anlehnung an van Mander als Kunsttheoretiker und nannte die in Latein verfassten zehn Bücher von der Architektur, das Buch zur Bildhauerkunst und die Schrift zur Malkunst. Er selbst sei von edlem Geschlecht und deshalb mehr den Studien zugeneigt gewesen und habe niemals gemalt.20 Da Sandrart Alberti ausschließlich als Kunsttheoretiker vorstellt, kann die Beziehung zu Paracelsus nur auf dieser Ebene angesiedelt sein. Offenbar nahm er auch den Philosophen als Kunsttheoretiker wahr. Paracelsus hatte mit dem Liber de imaginibus, der wohl 1529 entstand, doch erstmals 1572 gedruckt wurde, ein bildtheologisches Werk verfasst.21 Mit dieser, vor dem Hintergrund des reformatorischen Bilderstreits entstandenen Schrift wandte er sich gegen die Anbetung und Verehrung von Bildwerken. Doch darüber hinaus widmete er sich darin ausführlich den magischen Bildern, den Bildern und Figuren des Himmels und der Felsen sowie anderen Naturerscheinungen,
17 Sponsel (Anm. 4), S. 154. 18 Johann Tomaschek: „Forscher“ – „Dichter“ – „Scharlatan“. Das Bild des Paracelsus in den Nachschlagewerken der frühen Neuzeit. In: Manuskripte, Thesen, Informationen 25 (2007), S. 5–23. 19 Bayerische Staatsbibliothek München, Cod. icon. 366, fol. 25r. Verfügbar als Digitalisat unter: http://codicon.digitale-sammlungen.de/Blatt_bsb00020449,00053.html?prozent=1 (3. März 2015). 20 TA 1675, II, Buch 2 (italienische Künstler), S. 68. http://ta.sandrart.net/-text-274 (3. März 2015). 21 Möseneder (Anm. 15), S. 71.
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die er nicht als rein visuelle Erscheinungen wertete, sondern als Übermittler von Prophezeiungen.22 Diese heterodoxe Bildtheologie ist weit entfernt von der Bildauffassung des Calvinisten Sandrart. Zwar betont auch er in der Teutschen Academie ausdrücklich, dass ein Bild nicht mit dem Abgebildeten zu verwechseln und nicht anzubeten sei,23 und spricht sich von dieser Prämisse ausgehend ausdrücklich für eine kirchliche Kunst aus,24 doch darüber hinaus proklamiert er keine Bildertheologie. Die Teutsche Academie ist mit dieser Zurückhaltung weit entfernt von paracelsischem Gedankengut und lässt nicht erkennen, ob Sandrart De imaginibus und nachfolgende Bilderschriften – wie Johann Arndts Ikonographia von 159725 – kannte. Auch wenn Sandrarts Wissen um die Traktate nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, so spricht doch einiges dafür, dass er sie wahrgenommen hatte. So brachten seine Verwandten und Bekannten aus dem Frankfurter Verlegerkreis Paracelsus’ Bücher und paracelsische Werke auf den Markt, wie Sandrarts Schwager Lucas Jennis, der zwischen 1619 und 1624 einige von Paracelsus’ philosophisch-theologischen Schriften publizierte.26 Zudem unterhielten
22 Möseneder (Anm. 15), vollständig abgedruckt dort S. 196–207. 23 „Nam Deus est, quod imago docet, sed non Deus ipse, | Hanc videas; sed mente colas, quod cernis in ipsa.“ / „Das Bild bedeutet Gott, denselben solt du ehren/ | Und nicht das Bild/ das nur die Andacht will vermehren.“ TA 1675, II, Buch 2 (italienische Künstler), S. 55. http://ta.sandrart. net/-text-260 (3. März 2015). 24 Meier (Anm. 16), S. 213–219. 25 Vgl. Johann Arndt: Ikonographia (1597). Kritisch hg., komment. und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Mit einem Beitrag von Wilhelm Kühlmann. Hildesheim 2014 (Philipp Jakob Spener: Schriften, Sonderreihe 6 = Johann Arndt-Archiv 3). Vgl. ferner Inge Mager: Johann Arndts Bildfrömmigkeit. In: Grundbegriffe christlicher Ästhetik. Beiträge des V. Makarios-Symposiums Preetz 1995. Hg. von Klaus Fitschen, Reinhard Staats. Wiesbaden 1997, S. 101–118; Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 48), S. 43–60; Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 107), S. 198–202. 26 Philosophia mystica, darinn begriffen eilff unterschiedene Theologico-Philosophische, doch teutsche Tractätlein. Newstadt 1618; Außlegung der Bericht Theophrasti Paracelsi uber die Wort: Sursum Corda […], darin: Drey unterscheydene Tractätlein Philippi Theophrasti Paracelsi ab Hohenheim, Frankfurt a. M. 1619; Liber Lermonum in Antichristos. Frankfurt a. M. 1619; Nucleus Sophicus, oder Auslegung in Tincturam Physicorum Theopharsti Paracelsi. Frankfurt a. M. 1623. Vgl. Edith Trenczak: Lucas Jennis als Verleger Alchimistischer Bildertraktate. In: Gutenberg Jahrbuch 1965, S. 324–337, hier S. 336; Paracelsus in der Bibliotheca Philosophica Hermetica. Ausstellung zum 500. Geburtsjahr des Theophrastus Bombast von Hohenheim, Paracelsus genannt. Amsterdam 1993, Kat.-Nr. 56, 57a, 57b; Andreas Deppermann: Johann Jacob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002 (Beiträge zur historischen Theologie 119), S. 11.
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der Verleger und Sandrarts enger Vertrauter Matthäus Merian d. Ä. Beziehungen zu dem Mediziner und Paracelsisten Daniel Stoltzius von Stoltzenberg, dessen Schriften Jennis ebenfalls verlegte und in dessen Stammbuch er und Merian einen Eintrag hinterließen.27 Merian hingegen verwies mit dem Titelblatt des von ihm publizierten Opus Medico-Chymicum von Johann Daniel Myllus (1618/1620) auf Paracelsus, bildete ihn in ganzer Figur und mit dem Schwert in der Hand ab und stellte damit Myllus’ Werk in die Tradition des Naturphilosophen.28 Merian und Jennis sowie Sandrarts Verwandte Michel und Christopher Le Blon waren darüber hinaus an der Publikation von Schriften der Rosenkreuzer und Spiritualisten beteiligt, die paracelsisches Gedankengut beinhalteten. Die Publikation dieser Buchwerke resultiert ganz offensichtlich weniger aus einer Spezialisierung aus geschäftlichen Gründen als vielmehr aus einer persönlichen Neigung zu den darin verbreiteten antikirchlichen Vorstellungen.29 Da Sandrart Paracelsus’ Porträt in die Teutsche Academie aufnahm und dieses mit Albertis Bildnis in Beziehung setzte, muss er den Liber de imaginibus zumindest ansatzweise gekannt haben. Er verzichtete zwar auf eine konkrete Aussage zu der darin enthaltenen heterodoxen Bildertheologie, führte Paracelsus aber dennoch als Bildtheoretiker ein. Damit anerkannte er Kunsttheorie und Kunsttheologie als zwei gleichberechtigte Formen der Auseinandersetzung mit dem Bildschaffen. Auch wenn Sandrart vermutlich Paracelsus’ Auffassung von prognostischen Bildern nicht teilte, wählte er ihn doch als einen Vertreter der Bildtheologie. Dafür eignete sich von Hohenheim, da er keiner Konfession zuzuordnen war. Mit einem Theologen aus dem katholischen, lutherischen oder reformierten Lager hätte Sandrart jeweils die Vorstellung eines Bekenntnisses proklamiert. Zwar nahm er in der lateinischen Ausgabe von 1683 auch das Porträt des Athanasius Kircher auf, doch stellt er diesen in einer eigenen kurzen Vita als Kenner der antiken Bauwerke vor,30 so dass der Jesuit als Gelehrter mit großen antiquarischen Kenntnissen vorgeführt wird und nicht als Angehöriger eines
27 Wilhelm Kühlmann: Poeta, Chymicus, Mathematicus. Das Stammbuch des böhmischen Paracelsisten Daniel Stoltzius von Stoltzenberg. In: Parerga Paracelsica. Paracelsus in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Joachim Telle. Stuttgart 1991, S. 277–300; Lucas Heinrich Wüthrich: Matthaeus Merian d. Ä. Eine Biographie. Hamburg 2007, S. 104 f.; ders.: Matthaeus Merian d. Ä. Briefe und Widmungen. Hamburg 2009, S. 359. 28 Catalog zu Ausstellungen […] als Unsterblich Ehren-Gedächtnis zum 400. Geburtstag des hochberühmten Delineatoris (Zeichners), Incisoris (Stechers) et Editoris (Verlegers) Matthaeus Merian des Aelteren (Museum für Kunsthandwerk Frankfurt a. M. und Kunstmuseum Basel). Frankfurt a. M. 1993, Kat.-Nr. 237. 29 Mit weiterführender Literatur: Meier (Anm. 16), S. 31–33. 30 Schreurs (Anm. 2), S. 263 f.
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Bekenntnisses. Paracelsus war zu jener Zeit zwar keinesfalls unumstritten und mitunter als Häretiker angesehen,31 doch konnte er gerade wegen seiner spiritualistischen Vorstellungen keiner Konfessionskirche zugeordnet werden. Damit entspricht er ganz Sandrarts überkonfessionellem Ansatz, den er als Calvinist, der für katholische Kirchen Altargemälde schuf, im Rahmen seiner Profession verfolgte und auch in der Teutschen Academie indirekt zum Ausdruck brachte, indem er keinerlei konfessionelle Aussagen machte. Er vermied in den Biographien jeglichen Hinweis auf die religiösen Auseinandersetzungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts,32 obwohl er als Angehöriger einer reformierten Minderheit in den lutherischen Reichsstädten Frankfurt und Nürnberg Einschränkungen erfahren hatte und als Angehöriger einer aus dem Hennegau stammenden Familie konfessionell bedingte Künstlerwanderungen kannte. So eignete sich Paracelsus, um den Aspekt der Bildtheologie anzusprechen, ohne dass Sandrart damit eine Präferenz für eine Bekenntnisgruppe zum Ausdruck gebracht hätte.
4 Birken/Sandrart Die in der Teutschen Academie erwähnten Verbindungen von Dichter und Maler fanden im Leben Birkens und Sandrarts eine reale Umsetzung. Das dort mitunter postulierte Verbindungsglied der Anerkennung durch den Herrscher verband auch Sandrart mit Birken. Als frei arbeitende Künstler, ohne eine feste Anstellung, waren beide darauf angewiesen, dass ihre Werke von einflussreichen und finanzkräftigen Personen wahrgenommen würden. Erhaltene Ehrengeschenke in Form von finanzieller Zuwendung oder einer Kette waren Zeichen der erlangten Aufmerksamkeit. Da Sandrart um die Sicherheit und das Ansehen wusste, welche die Aufträge eines Herrschers oder gar eine Anstellung am Hof bieten würden, hatte er sich wiederholt um die Verbindung mit einem europäischen Hof bemüht. Deutlich wird dieses Bestreben in seiner Beziehung zu Erzherzog Leopold Wilhelm von Österreich, für den er Aufträge ausführte und dem er nach Ausbleiben weiterer Aufgaben 1647 Die mystische Vermählung der hl. Katharina mit St. Leopold und
31 Hartmut Rudolph: Paracelsus. In: Theologische Realenzyklopädie 15 (1995), S. 699–705, hier S. 704. 32 Esther Meier: Kunst und Konfession in der Teutschen Academie. In: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie (Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). Hg. von Anna Schreurs. Memmingen 2012, S. 55–60.
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Wilhelm übereignete – ein Gemälde, das er stilistisch und inhaltlich ganz auf den Geschmack des potentiellen Auftraggebers abstimmte und mit einer Dedika tionsinschrift versah. Kurz darauf übereignete Sandrart Karl Gustav, dem designierten König von Schweden, die erste Fassung des Friedensmahls – wohl in der Hoffnung, weitere Aufträge zu erhalten. Auch wenn diese ausblieben, so wurden ihm doch Ehren in Form von 2.000 Gulden und einer goldenen Kette im Wert von 200 Dukaten zuteil. Für den Kaiserhof fertigte er zunächst mehrere Porträts und hoffte wohl auf eine feste Anstellung, denn Samuel van Hoogstraeten, der seinerseits Anfang der 1650er Jahre am Kaiserhof beschäftigt war, berichtete, Sandrart suche beim Kaiser große Ehren, wolle gar dem Hofmaler Frans Leux die Krone vom Haupt nehmen und trachte, sich selbst am Hof zu verwurzeln.33 Auch wenn keine der Verbindungen weitere Aufträge sicherte, so wurden Sandrart doch Ehren zuteil. Noch vor 1644 erhielt er eine Ehrenkette, mit der er sich auf seinem Selbstbildnis, das in Form einer Reproduktionsgraphik vorliegt, darstellte. Joost van den Vondel bemerkte in einem beigefügten Epigramm, die Donau habe ihm „de goude keten“ umgehängt.34 Damit könnte Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg gemeint sein, wie Klemm vermutet,35 ohne dass eine persönliche Bekanntschaft für diese Zeit belegt ist, oder Erzherzog Leopold Wilhelm, der 1643 seinen Bischofssitz in Passau eingenommen hatte und sich erst 1647 in Brüssel niederließ. Doch auch von Seiten des Kaisers empfing Sandrart große Ehren, als er 1653 in den Adelsstand erhoben wurde.36 Birken, der seinerseits von höfischen Aufträgen abhing,37 wurde 1654/1655 geadelt und von Sigmund Betulius zu Sigmund von Birken. Das 1664 von Jacob Sandrart gestochene Porträt benennt ihn mit dem Adelstitel als Comes Palatinus Caesareus und erinnert darüber hinaus an die Krönung zum Poeta Laureatus,38 während Wolfgang Philipp Kilians Kupferstich, der in Birkens 1679 erschienener Poetik abgedruckt ist (Abb. 12), ihn als Mitglied der Fruchtbringenden Gesell-
33 Esther Meier: Joachim von Sandrart zwischen Stadt und Hof. In: Grenzüberschreitung. Deutsch-niederländischer Kunst- und Künstleraustausch im 17. Jahrhundert. Hg. von Nils Büttner, Esther Meier. Marburg 2011, S. 149–163. 34 Christian Klemm: Joachim von Sandrart. Kunst Werke u. Lebens Lauf. Berlin 1986, S. 141. 35 Klemm (Anm. 34), S. 142, Anm. 4. 36 Klemm (Anm. 34), S. 341. 37 Dietrich Jöns: Sigmund von Birken. Zum Phänomen einer literarischen Existenz zwischen Hof und Stadt. In: Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 343), S. 167–187. 38 Vgl. Hollstein’s German engravings, etchings and woodcuts, Bd. 38: Jacob von Sandrart. Bearb. und hg. von John Roger Paas. Amsterdam 1994, S. 100.
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schaft vorstellt und ihn mit einem Palmbaum auf dem Kettenanhänger wiedergab. Die Aufnahme in die erlauchte Dichtergesellschaft kommt einer Dichteradelung gleich. Wie Tizian und Ariost suchten und erhielten auch Sandrart und Birken vom Hof Ehrenbekundungen, doch wechselseitig propagierten sie ihr Lob nur bedingt. Sandrart war mit den Amsterdamer Literaten Samuel Coster, Peter Cornelisz Hooft, Gerard Vossius, Caspaer Barlaeus und Joost van den Vondel eine derartige Beziehung eingegangen, indem er sie porträtierte, nach den Porträts Stichvorlagen in Form von Ölskizzen und Zeichnungen anfertigten und diese von Stechern umsetzen ließ.39 Das Lob der Dichter fand damit eine weite Verbreitung. Im Gegenzug verfassten die Literaten lobende Verse auf Sandrart und seine Werke, wie van den Vondel zum Selbstbildnis oder zu den Zwölf Monaten, die auch Barlaeus mit Reimen versehen hatte.40 Birken schrieb ebenfalls Verse zu den Zwölf Monaten nebst Tag und Nacht,41 doch standen sie ihm nicht als Original vor Augen, da sie sich im Besitz des Kurfürsten von Bayern befanden, sondern sie lagen ihm nur in Form von Reproduktionen vor, die Vondels und Barlaeus’ Reime trugen. So verwundert es nicht, dass er über die Beschäftigung mit den Bildern auch eine Auseinandersetzung mit den Versen seiner Dichterkollegen suchte. Vergleicht man Birkens deutsche Verse mit Barlaeus’ lateinischen und van den Vondels niederländischen, so ist eine auffallende Nähe zu deren Worten zu konstatieren. Nicht von ungefähr betonte Birken in Sandrarts LebensLauf, in dem seine Verse abgedruckt sind, er habe Barlaeus’ lateinische „Zeilen theils
39 Vgl. Norbert E. Middelkoop: New Light on Sandrart’s Dutch Scholars’ Portraits. In: Joachim von Sandrart. Ein europäischer Künstler und Theoretiker zwischen Italien und Deutschland. Akten des Internationalen Studientages der Bibliotheca Hertziana Rom, 3.–4. April 2006. Hg. von Sybille Ebert-Schifferer, Cecilia Mazzetti di Pietralat. München 2009 (Rom und der Norden. Wege und Formen des künstlerischen Austauschs 3), S. 97–107. 40 Karel Porteman: De maanden van het jaar. Joachim von Sandrart, Joost van den Vondel, Caspar Barlaeus. Wommelgem 1987; Hartmut Laufhütte: Barlaeus – Vondel – Birken. Drei poetische Reaktionen auf einen Gemäldezyklus Joachim von Sandrarts. In: Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Dietrich Jöns. Neumünster 1998, S. 23–42. 41 Laufhütte (Anm. 40); John Roger Paas: Joachim von Sandrart as entrepreneur. The month as print series with verses. In: Joachim von Sandrart. Ein europäischer Künstler und Theoretiker zwischen Italien und Deutschland. Akten des Internationalen Studientages der Bibliotheca Hertziana Rom, 3.–4. April 2006. Hg. von Sybille Ebert-Schifferer, Cecilia Mazzetti di Pietralat. München 2009 (Rom und der Norden. Wege und Formen des künstlerischen Austauschs 3), S. 123–131.
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nachahmend […] damit besser als Barlaeus exprimirend/ hiesige HochTeutsche Unterschrifften verfasset.“42 Joachim von Sandrart porträtierte zwar die Amsterdamer Literaten, doch von dem Nürnberger Schriftsteller schuf er kein Bildnis. Zwar hatte er geplant, in der Teutschen Academie mehrere zeitgenössische Dichter und Gelehrte abzubilden – darunter auch Sigmund von Birken – und damit den universellen Anspruch des Akademiewerks zum Ausdruck zu bringen, doch wurde dieses Vorhaben nie ausgeführt.43 Wäre dieser Plan umgesetzt worden, so hätte Sandrart die wiederholt vor Augen geführten fruchtbaren Maler-Dichter-Beziehungen auch für die Gegenwart darlegen können. Da das Projekt nicht realisiert wurde, bleibt offen, ob er jedem Literaten einen bildenden Künstler zuordnen und wie er die Beziehung gewichten und kommentieren wollte. Die Hauptverbindung zwischen Dichter und Maler bestand weniger über die Kunstwerke als über die kunsttheoretische und künstlerbiographische Schrift Teutsche Academie. Als bezahlter Redakteur des umfangreichen Werkes und als Übersetzer der lateinischen Verse44 ging Birken mit Sandrart eine Kooperation ein. Bevor er mit Joachim von Sandrart Kontakt aufnahm, stand er schon viele Jahre mit dessen Neffen Jacob von Sandrart in Verbindung, mit dem er in der Stichproduktion zusammenarbeitete.45 In diesem Medium preisen sich die beiden Künstler nicht gegenseitig, sondern loben gemeinsam die jeweils dargestellte Person. Texte und Bilder der Teutschen Academie stellen idealisierte Dichter-Maler-Beziehungen vor Augen, die Realität jedoch war weit mehr von einer nüchternen Kooperation geprägt.
42 TA 1675, Lebenslauf, S. 15. http://ta.sandrart.net/-text-633 (3. März 2015). 43 Schreurs (Anm. 2), S. 258–260. 44 Christian Klemm: Sigmund von Birken und Joachim von Sandrart. Zur Entstehung der Teutschen Academie und zu anderen Beziehungen von Literat und Maler. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 289–313; Hartmut Laufhütte: Ein frühneuzeitlicher Autor als Redakteur: Sigmund von Birken. In: editio 21 (2007), S. 50–68. 45 John Roger Paas: Zusammenarbeit in der Herstellung illustrierter Werke im Barockzeitalter: Sigmund von Birken (1626–1681) und Nürnberger Künstler und Verleger. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), S. 217–239; Johann Anselm Steiger: Luther und der Schwan. Bemerkungen zu einem Bildmotiv bei Jacob von Sandrart und Sigmund von Birken. In: Solo verbo. Festschrift für Bischof Dr. Hans Christian Knuth. Hg. von Knut Kammholz. Kiel 2008, S. 114–124.
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Abb. 1: Tafel R, aus: Joachim von Sandrart: Teutsche Academie Bd. 1, 1675 (Foto: Verfasserin).
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Abb. 2: Tizian: Sog. Ariost (Bildnis eines Mannes), um 1512. London, National Gallery (Repro: Wethey 1971, Abb. 164).
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Abb. 3: Joachim von Sandrart nach Tizian: Sog. Ariost, Zeichnung, 1639. Paris, Institut Néerlandais, Collection Frits Lugt (Repro: Ebert-Schifferer / Mazzetti di Pietralata, S. 106).
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Abb. 4: Tizian, aus: Carlo Ridolfi: Breve compendio, 1622 (Archiv der Verfasserin).
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Abb. 5: Tafel L, aus: Joachim von Sandrart: Teutsche Academie Bd. 1, 1675 (Foto: Verfasserin).
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Abb. 6: Paracelsus, Detail aus Tafel L (Foto: Verfasserin).
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Abb. 7: Monogrammist AH: Paracelsus, um 1538 (Archiv der Verfasserin).
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Abb. 8: Monogrammist AH: Paracelsus, 1540 (Archiv der Verfasserin).
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Abb. 9: Johann Theodor de Bry: Paracelsus, 1597/98 (Archiv der Verfasserin).
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Abb. 10: Joachim von Sandrart: Vorzeichnung für Tafel S. München, BSB, Cod. icon. 366, fol. 25r (Foto: BSB München).
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Abb. 11: Tafel S, aus: Joachim von Sandrart: Teutsche Academie Bd. 1, 1675 (Foto: Verfasserin).
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Abb. 12: Wolfgang Philipp Kilian: Sigmund von Birken, aus: Sigmund von Birken, Teutsche Redebind- und Dicht-Kunst, 1679 (Foto: Verfasserin).
Personenregister Abigail 122 Abraham 127, 244 Adam 126, 149–151, 169, 173 Adam, Wolfgang 10 Adler, Jeremy 96, 101 Aeolus 196 Alberti, Giovanni Battista 301 Alberti, Leone Battista 301–304, 306 Albrecht, Ferdinand 233 Alcidor (= Johann Sechst) 285, 293 Amarillis (= Anna Maria Paumgartner) 263, 272 Amyntas II. (= Jacob Hieronymus Lochner) 292 Antonius von Padua 224 Apollon 68, 184, 211, 254 Ariost, Lodovico 298–300, 303, 309, 312 f. Arndt, Johann 139–142, 144–161, 305 Artemisia 221 Athene siehe Pallas Athene Augustus, röm. Kaiser 34 f., 48 Aurnhammer, Achim 10 Axmacher, Elke 144 Baden-Durlach, Johanna Elisabeth von 250, 255 Bärholz, Daniel 269, 283–285, 287 f., 292 f. Baïf, Jean Antoine de 207 Balde, Johann Jacob 289 Barlaeus, Caspaer 309 f. Barley, William 289 Bartas, Guillaume de Saluste Du 289 Bassano, Jacopo 298 Becker, Johann 59–61 Becker-Cantarino, Barbara 263 Behm, Martin 105, 117 f., 125 Bellay, Joachim du 14 Benirieni, Lippo di 301 Benjamin 182 f. Benjamin, Walter 82 Betulius, Christian 292 Betulius, Johann Salomon 284 Bilovius, Bartholomäus 64 f.
https://doi.org/10.1515/9783110593129-323
Birken, Clara Catharina von 272 Birken, Margaretha Magdalena von 140 f. Birken, Sigmund von passim Boissard, Jean-Jacques 303 Bornmeister, Simon 69 Brandenburg-Bayreuth, Christian Ernst von 194, 196, 212 f., 244 Brauer, Hermann 286 Brandenburg-Ansbach, Johann Friedrich von 249 Braunschweig-Wolfenbüttel, Anton Ulrich von 24, 41 f., 44 f., 48, 52 f., 65, 201 f., 207, 211, 233, 262 Braunschweig-Wolfenbüttel, August d. J. von 233 Brehme, Christian 17 Bry, Johann Theodor de 303, 319 Buchanan, George 289 Buchheit, Vinzenz 20 Buchner, August 200, 276 Buwinghausen, Margaretha Maria von 261 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 304 Carracci, Annibale 304 Casoni, Guido 85, 89 Cassius, Christian 274–277, 281 Cats, Jacob 289 Celinde (= Elisabeth von Senitz) 272 Celtis, Conrad 36, 267 Ceres 130, 196, 212 Chlorinde (= Maria Magdalena Götze) 264, 272 Christian V., König von Dänemark 276 Clajus, Johann siehe Klaj, Johann Cleander (= Friedrich Hoffmann) 284 f., 293 Cöler, Caspar 69 Colletet, Guillaume 203, 206 Conrady, Karl Otto 76 Corso, Lippo di 301 Coster, Samuel 309 Cupido 197, 202 Curtius, Ernst Robert 82 Czarnecka, Mirosława 264
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Personenregister
d’Arpino, Giuseppe 304 Dach, Simon 105, 112, 289 Damman, Thomas 233 Damon (= Martin Kempe) 283 f., 287 f., 291 f. Dante Alighieri 19, 35, 300 Daphne (= Barbara Juliane Penzel) 272, 287, 291–293 Daphnis aus Cimbrien (= Johann Rist) 259 David 122, 124 Der Andächtige (= Christian von Stökken) 277 Der Gezierte (= Matthias Pellicer) 277, 282 Der Scheue (= Friedrich Kogel) 277 Der Zierende (= Johann Georg Pellicer) 277, 282 Detering, Heinrich 76 Diana I. (= Sophia von der Lippe) 259 f., 264, 272 Diana II. (= Maria Dorothea Omeis) 265, 272 Dietwalt 146 Dilherr, Johann Michael 106–108, 127, 178 f., 185, 218–220 Dobenecker, Catharina Margaretha 292 Döhl, Reinhard 80 f., 85 Dorilis (= Maria Catharina Stockfleth) 260, 263, 272, 287, 291 Dorinde (= Dorothea U. C. Stöberlein) 272 Dorus (= Heinrich Arnold Stockfleth) 260, 292 Dosiadas von Kreta 86 Dueller, Thomas 181 Ebeling, Friedrich 62 Eichel, Rüdiger 10 Ernst, Ulrich 96 Erone (= Barbara Helena Kopsch) 264, 272 Eubulus 186 Faber, Johann Ludwig 69, 292 Fabricius, Vincentius 276 Ferdinand I., röm.-dt. Kaiser 224 Ferdinand III., röm.-dt. Kaiser 33 f., 181, 183 Ferdinand IV., röm.-dt. König 222 Ferrando I. (= Johann Ludwig Faber) 292 Filadon (= Joachim Heinrich Hagen) 241, 243 Filemon (= David Nerreter) 292 Finckelthaus, Gottfried 17
Flaccus, Gaius Valerius 289 Fleming, Paul 17 Flood, John 61 f. Floridan (= Sigmund von Birken) 7 f., 21–24, 27–29, 31 f., 35, 80, 186, 219, 260, 262, 273, 283–285, 287–294, 296 Florinda (= Clara Catharina von Birken) 262, 272 Florus, Marcus 64 f. Fontano (Justus Georg Schottelius) 289 Fontano 102 Fra Angelico 301 f. Frank, Horst Joachim 274 Frey, Hermann Heinrich 109 Friderici, Samuel 69, 71 Frischlin, Nicodemus 62 Fürstenau, Moritz 204 Garber, Klaus 267 Gebhard, Johann 242 f., 248 Geller, Rudolf Karl 87, 89 Genette, Gerard 42 f. Gerhard, Johann 110, 143 Gerhardt, Paul 105, 107, 116–118, 120, 124 f., 167 Geuder, Johann 69, 82 f., 100, 292 Giovio, Paolo 95 Gödelmann, Johann Georg 64 Götze, Maria Magdalena 263 f., 272 Gosky, Martin 65 Gotthart 146–148, 150 f., 153 Gottsched, Johann Christoph 204 Grasser, Johann Jacob 64 f. Greflinger, Georg 66 Greiffenberg, Catharina Regina von 42 f., 50–52, 80, 87–89, 163, 167, 259, 261, 271 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 41 Grotius, Hugo 276 Grünthal, Johann Joachim 64 Gryphius, Andreas 163, 190, 289 Hagen, Joachim Heinrich 240–248, 251, 258 Haller, Albrecht von 163–169, 173–175 Hantschmann, Urban 64 f. Harsch-Niemeyer, Robert 10
Personenregister Harsdörffer, Georg Philipp 9, 15, 17–19, 21, 23, 31, 33, 92, 185, 204, 206, 242, 259 f., 263, 266 Heinrich II., König von Frankreich 203 Heinsius, Daniel 289 Helmont, Franciscus Mercurius van 228 f., 232 Helwig, Johann 7, 31 Herberger, Valerius 112 Herdegen, Johannes 262 f. Hildegard 153 Hocke, Gustav René 82 Hoe von Hoenegg, Matthias 64 Höchtel, Franz 216, 220, 224, 228 f., 232 Hoffmann, Friedrich 284 f., 293 Holstein-Glücksburg, Sybilla Ursula 262 Homer 289 f. Hooft, Peter Cornelisz 309 Hoogstraeten, Samuel van 308 Hornmold d. J., Sebastian 64 f. Hrabanus Maurus 85 Hudemann, Heinrich 274 Hütten, Hermann 87 Hundhausen, Felicitas 10 Hylas (= Daniel Bärholz) 269, 283–285, 287 f., 291 f. Hymen 196 Ingen, Ferdinand van 42 Ingolstetter, Andreas 265, 292 Ingolstetter, Helena 272 Jacobi, Friedrich Heinrich 273 Jaehner, Inge 10 Jahn, Bernhard 204 Jakob 180, 182 f. Jennis, Lucas 305 f. Jesus Christus 83, 85, 87, 89, 107, 109–112, 116–120, 130, 132, 144, 149–151, 158 f., 170, 174, 178, 190 f., 241, 247, 250 f., 281 Jöcher, Christian Gottlieb 281 Johannes der Täufer 120, 122 Johannes von Patmos 179 Joseph 183 Jülich-Kleve-Berg, Maria Wilhelmine von 224 Juno 102, 184, 196
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Kaiser, Gerhard 190 Karl V., röm.-dt. Kaiser 228, 299 Karl Gustav, König von Schweden 308 Karl Joseph von Österreich 182–184 Kaufmann, Thomas 179 Kempe, Martin 71, 281, 283 f., 287, 291 f. Kieser, Eberhard 294 Kilian, Wolfgang Philipp 308, 322 Kircher, Athanasius 306 Kirchmair, Jacob Christoph 69 Klaj, Johann 7, 15–19, 21, 31, 80, 87, 90, 92, 245, 289 f. Klemm, Christian 308 Klingner, Friedrich 20 Klinkbeil, Jakob 56, 69, 71 Klopstock, Friedrich Gottlieb 29 Kogel, Friedrich 274, 276–279 Kopsch, Barbara Helena 264, 272 Kornfeld, Theodor 82 f. Krebs, Johann Friedrich 254 Kühlmann, Wilhelm 78, 96 Lanfranco, Giovanni 304 Laufhütte, Hartmut 177, 193, 267 Laura 300–303 Lazarus 127 Le Blon, Christopher 306 Le Blon, Michel 306 Leopold I., röm.-dt. Kaiser 33, 35, 215 f., 222, 225 f. Leopoldina, Kaiserin 180–184, 189 Lerian (= Christoph Arnold) 80 Leube, Hans 144 Leux, Frans 308 Lieboldt, Kilian 294 Lilien, Caspar von 242, 244, 247 f. Limburger, Martin 8, 245, 260, 262, 265, 292 Limburger, Regina Magdalena 265, 272 Lippe, Sophia von der 259, 262, 264, 266, 272 Lippo von Florenz 301 f. Lochner, Carl Friedrich 69 Lochner, Jacob Hieronymus 292 Löhner, Johann 42, 54, 156 Lösch, Johann Achatius 248–253, 258 Lorentz, Johanna 261
326
Personenregister
Lucanus, Marcus Annaeus 289 Ludwig I., Herzog von Bayern und Pfalzgraf bei Rhein 223 Ludwig XIV., König von Frankreich 203 Ludwig, Benjamin 56 f., 68 Lugt, Frits 313 Luther, Martin 108–110, 115, 143, 154, 156 Luz, Christine 97 f. Lysis (= Matthias Pellicer) 277, 282, 284, 292 f., 296
Myrtillus II. (= Martin Limburger) 262, 292
Macaristo (= Christian Betulius) 292 Magdalis (= Regina Magdalena Limburger) 262, 265, 272 Maier, Johann Gabriel 69 Marche, Georges de la 201 Maria 221 Marolles, Michel de 203 Mars 188, 202 Martini, Simone 300 f. Masen, Jacob 202, 207 Maussolos 221 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 219 Maximilian, röm. Kaiser 48 Medici, Katharina de’, Königin von Frankreich 202 Meibom, Johann Heinrich 276 Meister, Wilhelm 171 Meleager (= Gottfried Zamehl) 284 f., 292 Meliboeus 35 Ménestrier, Claude-François 203, 208 Merian d. Ä., Matthäus 306 Messerschmied, Christian 69 Meyfart, Johann Matthäus 117 Möhlich, Gabriel 200 Möller, Gertraud 263 f., 266, 268 f., 272, 284, 292 Molde, Alexander 295 Moller, Johannes 281 Moller, Martin 111, 127 Montano (= Johann Helwig) 80 Morhof, Daniel Georg 78, 206 Mornille (= Gertraud Möller) 263, 272, 284, 292 Müller, Friedrich (gen. Maler Müller) 20 Müller, Heinrich 107, 152, 155–161 Myllus, Johann Daniel 306
Octavian 27 Österreich, Ferdinand Karl von 215 Österreich, Leopold Wilhelm von 307 f. Österreich-Tirol, Sigismund Franz von 215–217, 219 f., 222–226, 228–230 Oettingen, Anna Sophia von 218 Oettingen, Joachim Ernst von 218 Oettingen, Maria Eleonora von 218 Olearius, Adam 87, 89, 100, 200, 207 Omeis, Magnus Daniel 260 f., 265, 277 Omeis, Maria Dorothea 265, 272 Opitz, Martin 7 f., 16–19, 23, 30, 32, 36, 200, 205 f., 275, 289 Orontes (= Johann Salomon Betulius) 284 Orpheus 289 Otto I., Herzog in Bayern 223
Neptun 196 Nerreter, David 68 f., 292 Neukirchen, Thomas 100 Neumeister, Erdmann 78 Newald, Richard 62 Nicolai, Philipp 117 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig 273 Noris 30 f., 35, 186
Pallas Athene 102, 196 Pamela 19, 31 Pan 93–95, 196 Pantaleon, Heinrich 64 Paracelsus (Theophrast Bombast von Hohenheim) 148, 300–307, 316–319 Pareus, Johann Philipp 64 f. Paris 102 Paul, Markus 209, 212 Paullini, Christian Franz 71, 268, 284, 292 Paulsen, Friedrich 58 Paumgartner, Andreas Georg I. 218, 220 Paumgartner, Anna Maria 263, 272 Pellicer, Adolf 280 Pellicer, Johann Georg 273 f., 277, 279–287, 289–294, 296 Pellicer, Matthias 274, 276 f., 280, 282, 284 f., 292–294, 296 Penzel, Barbara Juliane 272, 287, 292
Personenregister Petersen, Johann Wilhelm 274, 276 f. Petersen, Johanna Eleonora 274, 277 Petrarca, Francesco 19, 36, 58, 267, 289, 300–304 Petrophilus (= Johann Wilhelm Petersen) 277 Pfalz-Neuburg, Wolfgang Wilhelm von 308 Pfalz-Sulzbach, Christian August von 215, 218 f., 224, 229 Pfalz-Sulzbach, Hedwig von, geb. von Schleswig-Holstein-Gottorf 218 Pfalz-Sulzbach, Maria Hedwig Augusta von 215, 218 f., 221, 223 f., 226–228, 230–232 Philinde (= Helena Ingolstetter) 272 Phoebe (= Johanna Eleonora Petersen) 277 Piccolomini, Ottavio 239 Pindar 289 Pipenburg, Joachim 102 Pisani, Ottavio 228 Plotke, Seraina 82, 96 Poliander (= Andreas Ingolstetter) 292 Polydor (= Johann Achatius Lösch) 253 Priorato, Galeazzo Gualdo 215, 217, 224, 230 f. Pure, Michel de 203, 207 Rabelais, François 92 Rahel 180–184, 190 Reusner, Nikolaus 64 f. Richter, Christoph Philipp 71 Ridolfi, Carlo 298 f., 314 Rieter von Kornburg, Paul Albrecht 237 Rinkart, Martin 17 Ripa, Cesare 207 Rist, Johann 41, 44, 59–62, 65–67, 70 f., 200, 259, 262, 277, 279, 296 Robusti, Jacopo (gen. Tintoretto) 298 Robusti, Marietta 298 Röling, Johann 69 Rollinger, Claus 10 Roma 19 Ronsard, Pierre de 14, 207 Rosa, Johann Leonhard 249, 254–258 Rosa, Johann 254 Rosidan (= Johann Geuder) 292 Ruarus, Martin 274 Rudolph I., röm.-dt. Kaiser 35, 219, 223, 225
327
Rudolph II., röm.-dt. Kaiser 64 Ryssell, Christian von 197–199, 202, 208 Sachsen, Erdmuth Sophie von 194, 212 Sachsen, Magdalena Sibylla von 276 Saint Hubert, Marie-François de 203 Salomo 115 Sandrart, Jacob von 308, 310 Sandrart, Joachim von 298–300, 302–311, 313, 315, 320 f. Sannazaro, Jacopo 14, 32, 289 Saturn 224 Scaliger, Julius Caesar 83, 98 Schede Melissus, Paul 62, 64–66, 267 Schirmer, David 200 Schlegel, Friedrich 170 Schleswig-Holstein-Gottorf, August Friedrich von 279 Schlosser, Johann Georg 273 Schöne, Albrecht 75 f., 82 Schösser, Christian Theodor 64 f. Schottelius, Justus Georg 87, 89, 102 f. Schottenloher, Karl 72 Schreurs, Anna 300 Schröder, Johann 234 Schütz, Heinrich 200 Schweser, Catharina Margaretha 72, 263, 266, 272 Scudery, Madame de 44 Sechst, Johann 285, 293 Seelmann, Sebastian 69 Senitz, Elisabeth von 264, 266, 270, 272 Silber, Karl Bernhard 193, 202, 205, 210 Silvia (= Catharina Margaretha Dobenecker, geb. Schweser) 68, 263, 272, 292 Simias von Rhodos 91, 100 Siomanta, Lucia 298 Spanien, Margareta Teresa von 225 Spenser, Edmund 14 Stauffer, Hermann 8, 41 Stockfleth, Heinrich Arnold 269, 292 Stockfleth, Maria Catharina 72, 263 f., 269, 272, 287 f. Stockhorst, Stefanie 43 Stöberlein, Dorothea Ursula Catharina 272 Stöberlein, Johann Leonhard 69, 265 Stökken, Christian von 274, 277–279, 282
328
Personenregister
Stolberg, Friedrich Leopold zu 273 Stoltzenberg, Daniel Stoltzius von 306 Strephon (= Harsdörffer, Georg Philipp) 80, 90, 92, 96, 289 Strube, Georg 59–61 Stubenberg, Amalia von 219 Stubenberg, Johann Wilhelm von 33, 44 Tesauro, Emanuele 208 Teutonie 31, 186 Thalia 226 Theokrit 85, 90 f., 93, 101 Thyrsis (= Johann Georg Pellicer) 277, 282–285, 287 f., 292–294, 296 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 273 Tittmann, Julius 210 Tityrus 27, 34 Tizian 298–300, 309, 312–314 Tomaschek, Johann 304 Trunz, Erich 274 f. Tscherning, Andreas 276 Uffelen, Lucas van 298 Unsicker, Karin 286 Uranius (= Christian Franz Paullini) 284, 292 Vasari, Giorgio 301, 304 Veen, Otto van 289 Vega, Garcilaso de la 14
Venus 102, 187, 202 Vergil 19 f., 23, 27, 29 f., 34 f. Veronese, Paolo 298 Volkmann, Adam 197 Vondel, Joost van den 289, 308 f. Voß, Johann Heinrich 20, 273 Vossius, Gerard 309 Voßkamp, Wilhelm 170 f. Vulcanus 196, 202 Vulpius, Melchior 191 Weber, Carl Maria von 273 Weber, Max 180, 191 Weckherlin, Georg Rodolf 8 Weise, Christian 78, 83 Wende, Georg 266 Wessel, Statius 286 Westhovius, Willich 65 Weston, Johanna Elisabeth von 267 Windischgrätz, Gottlieb von 33, 218, 232, 238 f., 252 Württemberg, Sophie Louyse von 212 Zamehl, Gottfried 284, 292 Zeller, Winfried 142, 144 Zesen, Philipp von 17, 22, 65, 70 f., 204, 207, 259, 277, 282, 296 Zwinger, Theodor 158