Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte 9783110232134, 9783110230109

Anti-Jewish sentiments and prejudices are no longer fringe-group phenomena. Judeophobic ideas have in recent years been

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German Pages 260 Year 2010

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Inhalt
Aktueller Antisemitismus als ein Phänomen der Mitte – Zur Brisanz des Themas und der Marginalisierung des Problems
Erscheinungsformen alltäglicher Judenfeindschaft
„Ich habe gar nichts gegen Juden! “Der „legitime“ Antisemitismus der Mitte
Halbierte Empathie – Antisemitische Schuldprojektion und die Angst vor der eigenen Vergangenheit
Israelkritik und Antizionismus in der deutschen Linken: ehrbarer Antisemitismus?
Expliziter und impliziter Verbal-Antisemitismus in aktuellen Leserbriefen
Die Wahrheit unter Beschuss – der Nahostkonflikt und die Medien
Aktion und/oder Reaktion – funktionale Konvergenz von medialen Diskursen und antisemitischen Äußerungsformen
Aktuelle jüdische Judeophobie: Juden gegen Israel
Israel-Kritik und (neuer) Antisemitismus seit der Zweiten Intifada in Deutschland und Großbritannien im Vergleich
Aktuelle Judenfeindschaft: Ein Vergleich zwischen den USA und Deutschland
Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen – ein Phänomen der Mitte
Zusammenfassung der Podiumsdiskussion „Antisemitismus: eine globale Gefahr?!“ am 23. April 2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte
 9783110232134, 9783110230109

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Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte

Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte

Herausgegeben von Monika Schwarz-Friesel, Evyatar Friesel und Jehuda Reinharz

De Gruyter

Diese Publikation wurde durch einen großzügigen Zuschuss des Sarnat Center for the Study of Anti-Jewishness an der Brandeis University, USA, ermöglicht.

ISBN 978-3-11-978-3-11-023010-9 e-ISBN 978-3-11-978-3-11-023213-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Monika Schwarz-Friesel / Evyatar Friesel / Jehuda Reinharz Aktueller Antisemitismus als ein Phänomen der Mitte – Zur Brisanz des Themas und der Marginalisierung des Problems . . . . . . . . 1 Wolfgang Benz Erscheinungsformen alltäglicher Judenfeindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Monika Schwarz-Friesel „Ich habe gar nichts gegen Juden!“ Der „legitime“ Antisemitismus der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Samuel Salzborn Halbierte Empathie – Antisemitische Schuldprojektion und die Angst vor der eigenen Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Martin Kloke Israelkritik und Antizionismus in der deutschen Linken: ehrbarer Antisemitismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Holger Braune Expliziter und impliziter Verbal-Antisemitismus in aktuellen Leserbriefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Esther Schapira / Georg Hafner Die Wahrheit unter Beschuss – der Nahostkonflikt und die Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Robert Beyer / Eva Leuschner Aktion und/oder Reaktion – funktionale Konvergenz von medialen Diskursen und antisemitischen Äußerungsformen . . . . . . 133 Evyatar Friesel Aktuelle jüdische Judeophobie: Juden gegen Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Helga Embacher / Margit Reiter Israel-Kritik und (neuer) Antisemitismus seit der Zweiten Intifada in Deutschland und Großbritannien im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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Inhalt

Jehuda Reinharz Aktuelle Judenfeindschaft: Ein Vergleich zwischen den USA und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Andreas Zick Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen – ein Phänomen der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Zusammenfassung der Podiumsdiskussion „Antisemitismus: eine globale Gefahr?!“ am 23. April 2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Aktueller Antisemitismus als ein Phänomen der Mitte – Zur Brisanz des Themas und der Marginalisierung des Problems Monika Schwarz-Friesel / Evyatar Friesel / Jehuda Reinharz In den letzten Jahren fanden bereits zahlreiche Veranstaltungen zum Thema aktueller Antisemitismus statt. Außerdem sind hierzu viele Bücher und Artikel veröffentlicht worden (s. das Literaturverzeichnis). Dies belegt, wie brisant und präsent das Thema ist, zumindest für die unmittelbar Betroffenen sowie die Antisemitismusforscher/-innen. Warum legen wir nun noch einen weiteren Band vor?1 Weil bislang offensichtlich all diese Aktivitäten, Analysen und Aufsätze wenig in der breiten Öffentlichkeit, in der Gesellschaft und in der Politik bewirkt haben. Weil noch immer nicht das Bewusstsein für die Brisanz der Lage geweckt, keine Sensibilisierung für das bestehende Gefahrenpotenzial erzielt werden konnte. Weil zwischen den Erkenntnissen der Antisemitismusforschung und den Handlungen der Verantwortlichen eine eklatante Asymmetrie besteht. Antisemitismus ist weder primär als historisches Phänomen noch vorrangig als eine Einstellung von Extremisten zu bewerten. Antisemitismus ist kein Phänomen von Randgruppen, sondern stellt ein spezifisches Vorurteilssystem dar, dessen Stereotype und negative Abwehrgefühle auch in weiten Teilen der bürgerlichen Mitte verankert sind. Die Erfahrung und Aufarbeitung des Zivilisationsbruchs Auschwitz hat auch gebildete Teile _____________ 1 Die Beiträge dieses Sammelbandes basieren größtenteils auf Vorträgen, die im Rahmen eines internationalen Symposiums zum aktuellen Antisemitismus vom 23. bis 24. 04. 2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfanden. Die wichtigsten Ergebnisse der Podiumsdiskussion sind komprimiert am Ende des Bandes zusammengefasst. Das Symposium wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit finanziert. Wir danken der Stiftung für die großzügige Unterstützung. Besonders herzlich danken wir ihrem Vertreter vor Ort, Nils Wiegert, der alles getan hat, damit die Tagung erfolgreich stattfinden konnte.

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der Gesellschaft nicht immun gegenüber pauschalen Dämonisierungen und Stereotypzuordnungen gemacht. Im Gegenteil: Der aktuelle Antisemitismus hat zu großen Teilen gerade in der Abwehrhaltung vieler Deutscher sein emotionales Fundament. Schamverdrängung und Erinnerungsabwehr führen defensiv wie offensiv zu judenfeindlichen Einstellungen bzw. verstärken deren kognitive Verankerung in der Mehrheitsgesellschaft (vgl. hierzu auch Benz 2008). Die vergangenen Jahrzehnte der offiziellen Verurteilung von Antisemitismus, die Jahrzehnte der Aufklärungsarbeit, der Erinnerungskultur und des Bemühens der Regierenden, antisemitischer Gewalt und Einstellung entgegenzuwirken, haben nicht überall in der Bevölkerung die gewünschte Wirkung erzielt. Der Einstellungsantisemitismus ist noch immer und seit einigen Jahren schon wieder zunehmend ein Besorgnis erregendes Phänomen, doch fand bislang keine intensive Auseinandersetzung mit dem „Antisemitismus der Mitte“ auf Regierungsebene statt.2

Gibt es einen Neuen Antisemitismus? Das Ausmaß physischer und vor allem verbaler Aggressionen gegen Juden und jüdische Institutionen hat in den letzten Jahren zu einer weltweiten Diskussion über den sogenannten „neuen Antisemitismus“ geführt (vgl. u. a. Faber et al. 2006, Goldhagen 2004, Klug 2004, Rabinovici 2004, U. S. Department of State 2008, Wistrich 2005, 2007). Der Terminus ist semantisch unglücklich gewählt (und entsprechend schon in neu-alt o. Ä. modifiziert worden), denn neu impliziert, dass es dieses Phänomen vorher nicht gegeben habe. In dieser Bedeutung darf man den aktuellen Antisemitismus nicht verstehen, denn auch die derzeitigen Manifestationsformen der Judenfeindschaft basieren maßgeblich auf tradierten stereotypen Konzeptualisierungen. Diese Form der Judenfeindschaft bedient sich im Wesentlichen derselben Vorurteile wie eh und je, sie werden jedoch den zeit_____________ 2 So bleibt Antisemitismus z. B. in den Verfassungsschutzberichten auf den extremistischen Bereich beschränkt. Auch bei der öffentlichen Anhörung zum Thema „Antisemitismus in Deutschland“ am 16.06.2008 im Deutschen Bundestag (vgl. http:// www.bundestag.de/ausschuesse/a04/anhoerungen/Anhoerung14/index.html (Zugriff am 28.07.2009) standen Rechtsextremismus und Islamismus im Vordergrund. Diese Fokussierung lässt wichtige Tendenzen anti-jüdischer Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft unberücksichtigt.

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geschichtlichen Entwicklungen und aktuellen Begebenheiten angepasst und entsprechend in ihren Manifestationsformen modifiziert, um sie offen artikulieren zu können. Neu sind aber quantitativ das Ausmaß, d. h. die Zunahme des Antisemitismus im öffentlichen Kommunikationsraum, und qualitativ einerseits die Intensität der Manifestationsform des extremen Anti-Israelismus sowie andererseits die Akzeptanz dieser anti-jüdischen Formvariante in breiten Teilen der Gesellschaft. „Neu“ meint dementsprechend vor allem, dass 1. nicht mehr nur die traditionell mit Antisemitismus assoziierten Rechtsextremen die sozial relevanten Träger antisemitischen Gedankenguts sind, dass 2. Israel als primärer Bezugsrahmen und Projektionsfläche der Judenfeindschaft dient und dass 3. die Hemmschwelle, antisemitische Inhalte auch öffentlich zu verbalisieren, gesunken ist. Die Ausweitung des Sagbaren ist signifikant, denn dadurch verändert sich entsprechend das Meinungsklima hinsichtlich der Akzeptanz von Antisemitismen (vgl. hierzu bereits Bergmann/Heitmeyer 2005, die seinerzeit Auswirkungen in Bezug auf Tabugrenze und Kommunikationslatenz antizipierten, die heute als gegeben konstatiert werden können). Eine (mancherorts gezogene) Parallele zu den dreißiger Jahren der NSZeit ist allerdings verfehlt (vgl. Foxman 2003): Der Antisemitismus unter Hitler war Teil der offiziellen Ideologie, war öffentlich und amtlich propagierte Weltanschauung, bewusst von den Machtinstitutionen gefördert und entsprechend im institutionellen wie politischen Sprachgebrauch usuell. Der Antisemitismus heute kommt dagegen „von unten“, aus der Mitte der Bevölkerung und wird gerade gegen die offizielle und öffentliche Haltung der Bundesregierung populistisch kommuniziert und als eine Art „außerparlamentarischer Widerstand“ konzeptualisiert und instrumentalisiert. Es gibt aber eindeutige Indikatoren dafür, dass dieser „subversive“ und bislang primär privat kommunizierte Antisemitismus die öffentliche Diskursebene erreicht hat und dort auf ein hohes Maß an Akzeptanz bzw. Gleichgültigkeit stößt.

Semantische Radikalität im öffentlichen Kommunikationsraum Die Tabuisierung antisemitischer Äußerungen ist in unserer Gesellschaft auf ein auffallend niedriges Niveau gesunken. Bestimmte Typen von Antisemitismen, die bisher fast ausschließlich im rechtsextremistischen

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Sprachgebrauch vorkamen und in der Regel öffentlich sanktioniert wurden, haben sich mittlerweile auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft im öffentlichen Kommunikationsraum ausgebreitet und werden als eine Form der „Meinungsfreiheit“ artikuliert.3 Das offizielle Deutschland sagt dem Antisemitismus zwar immer wieder turnusmäßig zu Gedenkveranstaltungen den Kampf an – im Bundestag wurde Ende 2008 dazu eine Erklärung verabschiedet –, doch richten sich die Bemühungen nicht gegen das (für das gesellschaftliche Klima) wirklich ernsthafte Gefahrenpotenzial.4 Die brisanten Grenzüberschreitungen kommen nicht vom Vulgär- und Gewaltantisemitismus der Rechts- und Linksextremisten, der staatlich beobachtet und in der breiten Öffentlichkeit weitgehend verpönt ist, sondern vom Antisemitismus der sogenannten Mitte. Dieser „bürgerliche und gebildete“ Antisemitismus manifestiert sich nicht über Gewaltparolen oder Holocaustleugnung, sondern über Kommunikationsstrukturen, die das Thema Israel und Nahostkonflikt als „kritische Auseinandersetzung“ behandeln, tatsächlich aber antijüdische Stereotype und israelfeindliche Dämonisie_____________ 3 Vgl. z. B. Udo Steinbach bei „Hart aber fair“ des WDR vom 21.01.2009 unter http://www.wdr.de/tv/hartaberfair/sendungen/alle.php5?alle=1 (Zugriff am 27.01.2009) oder Kersten Knipp: „Vom Nutzen des Tabus“ (am 21.04.2009 unter: http://www. dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/952817/). Unter der Überschrift „Schürt der Zentralrat der Juden den Antisemitismus in Deutschland?“ erschien in der Hannoverschen Zeitung am 30.01.2009 ein Artikel, in dem der Verfasser nicht nur implizit für ein Ende der Erinnerungskultur plädiert („Aber dieses Verbrechen wurde vor 60 Jahren begangen und es ist langsam an der Zeit den Toten ihre Ruhe zu gönnen.“); er bedient zudem explizit das Vorurteil, Juden seien für Antisemitismus selbst verantwortlich („es müsste ihr [Charlotte Knobloch, die Verf.] doch auffallen, das sie mit ihren permanenten, kritischen Aussagen einen neuen Antisemitismus heraufbeschwört.“). Zugleich wird die Zunahme und Brisanz des tatsächlichen Antisemitismus in der Gesellschaft geleugnet („in Deutschland gibt es keine Basis für einen fundierten Antisemitismus“). Solche Formen des VerbalAntisemitismus fand man bis vor einigen Jahren nur in rechtsextremen Pamphleten, der Nationalzeitung oder der Jungen Freiheit (s. z. B. Michael Wiesberg: „Die Grenzen akademischer Freiheit“ in Junge Freiheit vom 19.05.2009 unter http://www. jungefreiheit.de/Single-News-Display.154+M548a9a7cbd9.0.html). 4 Die Erklärung zum Kampf gegen Antisemitismus wurde am 04.11.2008 verabschiedet, vgl. unter http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2008/22659755_kw45_plenum/ index.html. Doch die Einsetzung des im November 2008 beschlossenen Gremiums gegen Antisemitismus dauerte fast ein Jahr. Nachdem im Juli 2009 jüdische Organisationen die Bundesregierung aufgefordert hatten, endlich die Resolution umzusetzen, berief Bundesinnenminister Schäuble im August 2009 nach dem Beschluss ein zehnköpfiges Team von Fachleuten, die Berichte erstellen sollen.

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rungen verbreiten. Damit werden Antisemitismen, die im rechtsextremistischen Diskurs dominant sind, vom Rand in die Mitte getragen. Ein kognitiv verzerrender und emotional enthemmender Anti-Israelismus (der nichts mit legitimer und konstruktiver Kritik an israelischer Politik gemeinsam hat)5 wird als „Meinungsfreiheit“ verteidigt, Antisemitismus so (teils intentional, teils nicht-intentional)6 in politisch korrekter Form artikuliert. Nur die Form ist anders als bei den Rechtsextremen, die Radikalität der Semantik nicht. Solche als „legitime Kritik“ vorgetragenen Äußerungen haben das Potenzial, alte und neue Vorurteile zu aktivieren bzw. zu reaktivieren: Sie tragen stereotype radikale Inhalte in das kollektive Bewusstsein und konstituieren eine Dimension der verbalen Radikalität, die nach der „Erfahrung Auschwitz“ überwunden zu sein schien.

_____________ 5 Eine strikte Abgrenzung und klare Trennlinie, die von den „Israel-Kritikern“ stets bestritten wird, ist ohne Probleme möglich: Anti-Israelismus basiert auf einer antisemitisch motivierten Negativ-Konzeptualisierung des jüdischen Staates und hat nichts gemeinsam mit Israel-Kritik. Legitime Israel-Kritik ist nicht destruktiv, sie fordert ausgewogene Lösungen, sie verdammt nicht einseitig und irreal nur Israel, sie berücksichtigt beide Konfliktparteien, sie verzichtet auf Dämonisierung, Doppel-Moral und NS-Vergleiche. Sie wird nicht mit Wut, Hass und überschäumender Empörung vorgetragen. Trotz aller Differenzierungsmerkmale durch die Antisemitismusforschung halten die Verfechter anti-israelischer Positionen jedoch unbeirrt an dem Vorwurf fest, man wolle ihnen das Recht auf freie Meinungsäußerung und kritische Stellungnahme nehmen. 6 Die „neue kritische Kommunikation“ zeigt sich u. a. auch in Manifesten und offenen Briefen an die Bundesregierung: Zuletzt forderte die Organisation ‚Ärzte gegen den Atomkrieg‘ in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel (per Online-Petition), zwei bestellte U-Boote und weitere Rüstungsgüter nicht nach Israel zu liefern. Als Grund wurden die „jüngsten militärischen Drohungen Israels gegenüber dem Iran“ genannt (s. http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/briefmerkeliran240709. pdf). Nicht erwähnt wurde das international kritisierte Atomwaffenprogramm des Iran sowie die andauernden Vernichtungsdrohungen des iranischen Präsidenten gegenüber Israel.

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Anti-Israelismus als antisemitische Manifestationsform Anti-Israelismus ist eine Form der Judenfeindschaft, die den ganzen Staat Israel stigmatisiert und diffamiert.7 Israel, das wichtigste moderne Symbol jüdischen Lebens, auf einem intellektuell und emotional atavistischen Niveau mittels NS-Vergleichen anzugreifen und zu stigmatisieren, argumentativ mittels Feindbildrhetorik und anti-jüdisch assoziierter Topoi zu charakterisieren: Dies legt und untermauert die Basis für die Verstärkung antisemitischer Ressentiments in der gesamten Bevölkerung.8 Mit jedem öffentlich nicht energisch widersprochenen Brachialvergleich erhält diese Kommunikationsform einen usuellen Status, finden Normalisierung sowie Legitimierung statt. Antisemitismus wird dann mittels der verbalen ReKlassifikationsstrategie zu „legitimer Israel-Kritik“ und damit zu einem alltäglichen Kommunikationsphänomen. Israel als der kollektive Jude, Israel als der Jude unter den Staaten der Welt – das sind die auffälligen und Besorgnis erregenden Konzeptualisierungen, die in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen sind. Gegenüber Israel sind verbale Grenzüberschreitungen mittlerweile auf nahezu allen Ebenen des öffentlichen Diskurses anzutreffen: In Zeitungsartikeln, Leserbriefen, Talkshows, Rundfunksendungen und Internetforen artikulieren Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Religion und Medien anti-israelische Parolen und antisemitische Stereotype, ohne dass es zu ernsthaften Reaktionen kommt _____________ 7 Zeitgleich zu unserem Symposium in Jena erschien in der April-Ausgabe der Studentenzeitschrift Unique Nr. 47 das Interview mit dem Hamas-nahen Journalisten Khalid Amayreh „Widerstand ist eine moralische Verpflichtung“. In diesem Gespräch, das von dem „Redakteur“ Fabian Köhler, der bereits in früheren Ausgaben der Unique mit fragwürdigen und einseitigen Kommentaren zum Nahost-Konflikt aufgefallen ist, geführt und in keiner Weise kritisch kommentiert wurde, wird offen das Existenzrecht Israels in Frage gestellt, es werden Terroraktionen legitimiert und antisemitische Stereotype verbreitet (s. Unique Nr. 47, April 2009, 20–22. Als PDF-Ausgabe unter: http://www.unique-online.de/ausgaben/unique_ausgabe_47.pdf). Fabian Köhler ist noch heute Chefredakteur des Blattes. 8 Diese Vorstellung wurde am 16.07.2009 von oberster Regierungsstelle durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für Felicia Langer legitimiert. Langer fällt seit vielen Jahren durch extrem einseitige, verzerrte Pauschalverurteilungen israelischer Politik, monokausale Schuldzuweisungen und verbale Stigmatisierungen des Staates Israel auf. Die Auszeichnung setzt (sicherlich nicht-intentional, aber deshalb nicht weniger ostentativ) ein brisantes Signal: dass Anti-Israelismus nicht nur legitim, sondern auch (preiswürdig) nachahmenswert sei.

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(vgl. Schwarz-Friesel 2009). Ein grundlegender Reflexionsprozess ist hier vonnöten, der insbesondere auch die Institutionen der Massenmedien einbeziehen muss.

Kontroversen und neue Wege der Antisemitismusforschung Relativierungs- und Marginalisierungstendenzen finden sich nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern durchaus auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass aktueller Antisemitismus kein Randphänomen ist und auch kein Schattendasein führt. Auch in der Mehrheitsgesellschaft gibt es massive antisemitische Ressentiments. Vorurteile gegen Juden sind ein alltägliches Phänomen und die Grenzüberschreitungen im öffentlichen Kommunikationsraum sind sichtbare und hörbare Erscheinungen in unserer Gesellschaft (vgl. Benz 2004: 21; Pallade 2008: 297; Reinfrank 2008: 109; Rensmann 2004: 60, 2006: 44; Schwarz-Friesel 2009). Doch ob die Anstöße eher von rechts, von links, aus bestimmten islamistischen Gruppierungen oder besonders stark aus der Mitte kommen, ob die Manifestationsformen eine neue Quantität und Qualität besitzen oder den tradierten Grundmustern folgen und wie der Einfluss der Medien bei der Verbreitung von Antisemitismen zu bewerten ist, darüber gibt es auch innerhalb der Antisemitismus-Forschung zum Teil heftige Kontroversen (vgl. z. B. Baker 2006, Benz 2004, Bergmann 2008, FRA 2009, Gessler 2004, Holz 2005, Rabinovici 2004 und 2006). Das spiegelt sich auch in diesem Band wider. Methodisch besteht für die Forschung die Notwendigkeit, die quantitativen Erhebungsmethoden durch qualitative Analysen zu ergänzen. Viele relevante Aspekte des Antisemitismus lassen sich nur über inhaltsorientierte Untersuchungen transparent machen. Die folgenden Fragen erachten wir als besonders relevant für die aktuelle Diskussion: Welche Stereotype und Argumente sind zurzeit im antisemitischen Diskurs besonders präsent, welche emotionalen Faktoren und kommunikativen Tendenzen dominant? Als wie stark ist die Rolle der deutschen Schuld- und Erinnerungsabwehr zu bewerten und inwieweit ist diese Abwehrhaltung als antisemitisch zu klassifizieren bzw. an antijüdische Ressentiments gekoppelt? Inwieweit trägt die oft allzu einseitige, stark perspektivierte Berichterstattung deutscher Medien maßgeblich dazu

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bei, dass 1. ein emotional und kognitiv verzerrtes Negativ-Bild von Israel vermittelt wird und dass 2. dieses Bild den Nährboden bzw. das Potenzial für die Aktivierung antisemitischer Vorurteile birgt? Wie ist der Einfluss der Linken und der linken Presse zu bewerten? Wie kann man das uneingeschränkte Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit erhalten, ohne einen Raum zu gestatten, in dem Antisemitismen legitim sind? Warum wird ein extremer Anti-Israelismus (trotz aller bisherigen Diskussionen über eine Abgrenzung von legitimer Kritik an israelischer Politik und dämonisierendem Anti-Israelismus) immer noch unter dem Deckmantel „legitime Kritik“ vorgetragen? Und warum stößt diese Kommunikationsform nicht auf energischen Widerspruch und Widerstand in der Zivilgesellschaft? Warum trifft die Antisemitismus-Forschung mit ihren teilweise brisanten Ergebnissen oft auf erhebliche Einwände und Marginalisierungsversuche (vgl. hierzu Benz 2004: 14 f.)? Und warum führen bspw. öffentliche Expertenvorträge über Anti-Israelismus als einer modernen Variante des Antisemitismus regelmäßig zu provokativen, höchst aggressiven und emotionalen Reaktionen? Wie lässt sich das Phänomen des jüdischen Antisemitismus bzw. der jüdischen Judeophobie erklären? Welche Funktion hat es in aktuellen Debatten zum Anti-Israelismus?9 Wo steht Deutschland im Ländervergleich? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede zu anderen Ländern hinsichtlich antisemitischer Tendenzen lassen sich aus kontrastiven Studien eruieren?10 _____________ 9 Vgl. etwa das jüngste Interview von Alfred Grosser zu Israel und der Nahostpolitik. Grosser, der trotz der exzessiven Kritik, die in den deutschen Medien beständig an Israel geübt wird, von „Israel-Lobby“, Meinungsdiktat sowie Einschüchterung der BRD spricht und entsprechend die Variante des Anti-Israelismus als Antisemitismus bestreitet, beendete das Interview sogar mit der Vermutung, gewisse Kreise könnten Druck auf bestimmte Zeitungsredaktionen ausüben, sein einseitig israelkritisches Buch nicht zu rezensieren: „Aber sicher wird es Druck von interessierter Seite auf die Zeitungsredaktionen geben, damit möglichst wenige Rezensionen erscheinen.“ (Alfred Grosser: „Sofort heißt es: ‘Antisemitismus!’“. Interview, geführt von Tobias Kaufmann. In: Kölner Stadtanzeiger, 18.09.2009, unter http://www.ksta.de/html/ artikel/1246883926032.shtml, Zugriff am 18.09.2009). 10 Dass der vorliegende Sammelband keinen Beitrag zu den Formen des islamistischen Antisemitismus in diesem Symposium enthält, bedeutet nicht, dass wir dessen Einfluss als marginal erachten. Die Frage, welche Rolle weltweit der Antisemitismus aus der islamisch-arabischen Propaganda spielt, wurde in der Podiumsdiskussion angesprochen (s. Synopsis am Ende des Bandes). Das Thema dieser Diskussion war „Anti-

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Die Beiträge in diesem Band sind von Historikern, von Politik- und Sozialwissenschaftlern sowie von Medien- und Sprachwissenschaftlern verfasst, umfassen also eine breite Palette wissenschaftlicher Ansätze: Wolfgang Benz beleuchtet und definiert in seinem Beitrag den Begriff Antisemitismus. Er beschreibt, welche Motive allgemein dem Antisemitismus zugrunde liegen und speziell welche antisemitischen Argumentationsmuster derzeit in Deutschland existieren. Anhand aktueller Beispiele zeigt er sowohl extreme als auch gemäßigte Ausdrucksformen aus der Mitte der Gesellschaft auf und erklärt die Hermetik und Funktion des aktuellen Antisemitismus. Die weitverbreitete Verknüpfung von Israelkritik und Judenfeindschaft wird in ihrer deutschen Ausprägung als Erlösungsantisemitismus und auf globaler Ebene beschrieben. Anhand einer textwissenschaftlichen Korpusstudie (Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Israelische Botschaft aus den Jahren 2002 bis 2009) erörtert Monika Schwarz-Friesel, welche konzeptuellen Stereotype dominant in aktuellen antisemitischen Texten sind, wie diese explizit oder implizit in der Variante des Anti-Israelismus verbalisiert und an welche Argumente sie gekoppelt werden. Es wird gezeigt, wie Rechtfertigungsstrategien von „gebildeten Antisemiten“ genutzt werden, um die anti-jüdischen Inhalte zu legitimieren und um sich zugleich als anti-antisemitisch zu präsentieren. In seiner qualitativen Studie untersucht Samuel Salzborn mittels Tiefeninterviews den latenten Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft. Er arbeitet einen auffälligen Zusammenhang zwischen antisemitischer Schuldprojektion – die einstigen Opfer werden zu Tätern konstruiert – und der Angst vor der eigenen Vergangenheit heraus. Sein Ziel ist es, psychoanalytisch der Tiefenstruktur des Antisemitismus näher zu kommen, die politisch-psychologische Dynamik des Antisemitismus zu entschlüsseln und seine assoziativen Kontexte aufzuzeigen. Martin Klokes Beitrag stellt die ideologischen Zusammenhänge zwischen Israelkritik und Antizionismus in der deutschen Linken heraus. Er zeichnet den historischen Verlauf von der frühen Nachkriegszeit bis heute nach mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen von Radikalität bis hin zu gesellschaftlich akzeptierten Formen. Er geht der Frage nach, wo sich _____________ semitismus – eine globale Gefahr!“. Zum islamischen Antisemitismus vgl. u. a. Küntzel (2007).

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Kontinuitäten und Brüche innerhalb der deutschen Linken finden lassen und welchen Einfluss die verschiedenen Diskurse der deutschen Linken auf die gesellschaftliche Mitte haben. Dabei werden antisemitische Motive in der antizionistischen Israelkritik aufgezeigt und aktuelle Überschneidungen von linker und rechter Argumentation aufgegriffen. Es wird dargelegt, wie derzeit eine monoperspektivische Wahrnehmung Israels einen „antizionistisch camouflierten Antisemitismus wieder zur Alltagskultur“ werden lässt. Die Studie von Holger Braune untersucht antisemitische Äußerungen in Leserbriefen der Jahre 2002 bis 2004, die in etablierten regionalen wie überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen publiziert wurden. Der Fokus liegt auf der Beschreibung primär-, sekundär- und neuantisemitischer Stereotype in der Mitte der Gesellschaft. Die linguistischen Analysen zeigen, dass selbst in Zeitungen der bürgerlichen Mitte explizit antisemitische Leserbriefe, die vor einigen Jahren noch keinesfalls publiziert worden wären, nun unkommentiert veröffentlicht werden. Den Fragen, unter welchen regionalen und medienspezifischen Bedingungen Journalisten im Nahen Osten zu Bildern und Reportagen gelangen und warum Medien sowie deren Nutzer die größtenteils dramatischen und Israel verdammenden Bilder so gern rezipieren, gehen Esther Schapira und Georg Hafner in ihrem Beitrag nach. An zahlreichen Beispielen aus dem journalistischen Alltag zeigen sie auf, wie Bilder manipuliert, Falschmeldungen verbreitet und diese nur selten und wenn, dann mit geringer Medienwirkung, dementiert werden. Der Artikel von Eva Leuschner und Robert Beyer befasst sich mit der Konvergenz medialer Diskurse und antisemitischer Zuschriften an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Deutschland. Er deckt argumentative und konzeptuelle Überschneidungen zwischen öffentlich und (semi-)öffentlich bzw. privat geäußertem Antisemitismus und Israelfeindschaft auf. Welche anti-israelischen Einstellungen, antisemitischen Stereotype und mentalen Wissensbestände zu Israel und Juden in Deutschland verbreitet sind und wie diese kognitive (und zugleich emotionale) Ebene im alltäglichen Medienangebot aufgegriffen, genährt und tradiert und möglicherweise erweitert werden, wird so beobachtet und diskutiert. Im Beitrag von Evyatar Friesel wird das Phänomen der jüdischen Judeophobie historisch rückblickend als ein spezifisch jüdischer Zustand beschrieben, der maßgeblich vom neuzeitlichen Identitätskonzeptproblem

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geprägt wird. Der teilweise extreme Anti-Israelismus einiger ‚nichtjüdischer Juden‘ wird in aktuellen Diskussionen zum Nahostkonflikt von Antisemiten instrumentalisiert und persuasiv genutzt, um anti-jüdische Inhalte zu legitimieren. Im Vordergrund des Aufsatzes von Helga Embacher und Margit Reiter steht die Frage, ob der neue Antisemitismus als globales Problem, das sich am Nahostkonflikt entzündet, mit seiner ausgeprägten Israelfeindschaft und verbunden mit Antisemitismus auch über politische und gesellschaftliche Grenzen hinweg in breiten Bevölkerungsgruppen virulent ist oder nicht doch vielmehr ein randständiges Phänomen bleibt. Die Ergebnisse stehen in Bezug auf Ausmaß und Bedeutung des neuen Antisemitismus in Kontrast zu anderen Forschungsergebnissen. Desweiteren wird diskutiert, ob der neue Antisemitismus generelle – europäische – oder eher länderspezifische Charakteristika aufweist und sich nicht nur Schnittstellen zwischen Anti-Israelismus und Antisemitismus, sondern gleichzeitig und sich bedingend auch Schnittstellen zum Anti-Amerikanismus finden lassen. In seinem Beitrag vergleicht Jehuda Reinharz die historischen politisch-kulturellen Voraussetzungen und Motive der Judenfeindschaft in den USA und Deutschland. Er zeigt auf, dass die verschiedenartigen Entwicklungslinien bis heute nachwirken. In beiden Ländern ist die aktuelle Judenfeindschaft in Form eines vehementen Anti-Israelismus vorhanden, unterscheidet sich aber hinsichtlich der gesellschaftlichen Verbreitung und der öffentlichen Meinungsbildung. Einen innereuropäischen Vergleich von acht Nationen zieht Andreas Zick anhand aktueller Umfragedaten der Studie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)“. Nach wie vor ist eine hohe Zustimmung zu klassischem und sekundärem Antisemitismus zu konstatieren, insgesamt dominiert aber ein NS-vergleichender Antisemitismus, der vor allem in der Mitte der Gesellschaft stärker vertreten wird als klassische Ressentiments. Neben dem Verbreitungsgrad wird der sozialpsychologische Fokus vor allem auf Gefährdungsquellen und Schutzfaktoren in Bezug auf Antisemitismus gerichtet, zu denen u. a. Alter, Bildung, Religiosität und demokratisches Bewusstsein zählen. Im Jahr 2009 sind zudem der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und sozialer Deprivation bzw. der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage und die syndromartige Verbindung zu anderen Vorurteilen von besonderem Interesse.

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Der vorliegende Band ist bewusst interdisziplinär ausgerichtet, weil wir die Annahme vertreten, dass das Phänomen der Judenfeindschaft nur in einer Symbiose von Erkenntnissen verschiedener Disziplinen adäquat zu erfassen und zu bekämpfen ist. Generell sollte sich die zukünftige Forschung insgesamt stärker bemühen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit voranzutreiben und gemeinsame Wege zur Aufklärung sowie zur Abwehr des gesellschaftsfähigen Antisemitismus zu beschreiten. *** Für die redaktionelle Arbeit am vorliegenden Band danken wir Robert Beyer, Eva Leuschner, Judith Malicke und Helge Skirl. Ebenso danken wir Julia Brauch vom De Gruyter Verlag für die angenehme Zusammenarbeit.

Literatur AMADEU-ANTONIO-STIFTUNG (ed.), 2009. „Die Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus. Beispiele, Erfahrungen und Handlungsoptionen aus der pädagogischen und kommunalen Arbeit. Berlin: Amadeu-Antonio-Stiftung. BAKER, Rabbi A., 2006. Sachverständigenaussage zum Antisemitismus in Europa. Aussage vor dem Ausschuss für Auslandsbeziehungen des Senats der Vereinigten Staaten – Unterausschuss für europäische Angelegenheiten, 8. April 2004. In: Faber, Klaus et al. (eds.), 2006, 155–163. BENZ, Wolfgang, 2004. Was ist Antisemitismus? Berlin: Beck. BENZ, Wolfgang, 2008. Der Judenhass kommt aus der Mehrheitsgesellschaft. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 2008/5. Antisemitismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Gegenwart. Handreichung für Lehrkräfte. Bonn: BpB, 5 f. BERGMANN, Werner, 2008. Vergleichende Meinungsforschung zum Antisemitismus in Europa und die Frage nach einem „neuen europäischen Antisemitismus“. In: Rensmann, Lars; Schoeps, Julius H. (eds.), 2008, 473–507. BERGMANN, Werner; Heitmeyer, Wilhelm, 2005. Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? In: Heitmeyer, Wilhelm (ed.), 2005. Deutsche Zustände. Folge 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 224–238. BUNDESMINISTERIUM DES INNERN (ed.), 2008. Verfassungsschutzbericht 2008. Niestetal: Silber Druck oHG. DECKER, Oliver; Brähler, Elmar, 2008. Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008. Mit einem Vergleich von 2002 bis 2008 und der Bundesländer. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin. EUMC (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia), 2004. Manifestations of Antisemitism in the EU 2002 – 2003. Wien: EUMC.

Aktueller Antisemitismus als ein Phänomen der Mitte

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Erscheinungsformen alltäglicher Judenfeindschaft Wolfgang Benz Allein die Tatsache, dass in Berlin ein „Zentrum für Antisemitismusforschung“ existiert, beunruhigt einen älteren Herrn, der sich die Mühe machte, in drei langen handschriftlichen Briefen dem Leiter dieses Zentrums seine Meinung über „die Juden“ mitzuteilen. Unter dem Datum 22. März 2009 kommt er im ersten von 26 Punkten, in die er seine Ausführungen strukturiert hat, auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ zu sprechen und liefert einen Beweis für die Hartnäckigkeit und Zählebigkeit stereotypengeleiteter Überzeugung: „Sie begründen“, schreibt der offensichtlich gebildete Herr, „den Beweis für die Fälschung der Protokolle nur mit einem richterlichen Urteil aus der Schweiz in den dreißiger Jahren. Weil der Prozess offensichtlich von den Juden selbst angeschoben wurde, sollte wohl damit jeder Zweifel ausgeräumt und so Unangenehmes endgültig vom Tisch geschafft werden. Die Möglichkeiten eines Gefälligkeitsurteils oder eines Fehlurteils beleuchten Sie nicht“.1 Der Schreiber bezog sich auf eine Publikation über die „Protokolle der Weisen von Zion“, in der die Wirkungsgeschichte und die Aktualität verschwörungstheoretischen Denkens als eine zentrale Kategorie der Judenfeindschaft betrachtet wurde; so war der Berner Prozess auch nur beiläufig erwähnt (vgl. Benz 2007). Deutlich wird aus der Zuschrift nicht nur die Fixiertheit auf bestimmte Positionen und Argumentationsmuster, deutlich wird vor allem die Kontinuität im alltäglichen judenfeindlichen Diskurs und die Festlegung auf Emotionen: „Allein die Tatsache, dass sich hier bei uns in Berlin ein Zentrum für Antisemitismusforschung befindet, lässt die Vermutungen zu, die der Sache selbst nicht dienlich sein können, wie die mir vorliegenden Ergebnisse nach meiner Meinung zeigen.“2 Die Argumentation, in der vor allem die bekannten Stereotype zum Nah-Ost_____________ 1 Schreiben Ulrich Schulte an den Verfasser, 22.3.2009, Archiv Zentrum für Antisemitismusforschung. 2 Brief Ulrich Schulte vom 25.03.2009.

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Konflikt bemüht werden, läuft darauf hinaus – wie es am Stammtisch landauf, landab artikuliert wird – zu „beweisen“, dass es doch an den Juden liegen muss, dass man sie nicht mag. Die These, dass Judenfeindschaft ein Konstrukt der Mehrheitsgesellschaft ist und instrumentale Funktionen hat, wird mit Empörung zurückgewiesen. Auch das gehört zum Alltag der Antisemitismusforschung. Die Reaktionen auf die Rede des einstigen Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann haben es vor einigen Jahren öffentlich gemacht (vgl. Benz 2004). Das Zentrum für Antisemitismusforschung wird von manchen als Einrichtung gesehen, die amtlichen Charakter hat oder wenigstens von der deutschen Regierung unterstützt wird. Andere denken, es gehöre zu den nicht wenigen Aktivistengruppen, die gegen die Feinde Israels kämpfen. Das Zentrum ist weder das eine noch das andere, es ist ein unabhängiges akademisches Institut an der Technischen Universität Berlin, und sein weltweites Renommee gründet nicht auf politischen Aufträgen, der Teilnahme an Kampagnen oder auf Aktionismus, sondern auf seinen Forschungen. Dazu gehören Studien über die aktuelle Judenfeindschaft von Muslimen (vgl. Benz/Wetzel 2007) ebenso wie Forschungen zum Holocaust (vgl. Benz/Mihok 2009), eine Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager in neun Bänden (Benz/Distel 2005–2009) wie ein mehrbändiges Handbuch des Antisemitismus, das ohne zeitliche und geographische Grenzen Judenfeindschaft von der Antike bis zur Gegenwart, von Martin Luther bis zu Ahmadinedschad in allen Formen und Erscheinungen beschreibt (vgl. Benz 2008). Dass dieses Institut zur Erforschung der Judenfeindschaft in Deutschland errichtet wurde, hat viele Gründe. Die Beobachtung und Analyse des aktuellen Antisemitismus, das Bild Israels in der öffentlichen Meinung gehören zu den Gegenständen des Interesses ebenso wie Grundlagenforschung zum Wesen des Vorurteils (vgl. Benz/Königseder 2002). Zu vermitteln, dass Antisemitismus ein Konstrukt der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft ist, das die Juden (das Individuum wie den Staat Israel) benutzt, um eigene Positionen durch Ausgrenzung, Abwehr und Schuldzuweisung zu definieren und zu stabilisieren, ist die zentrale Erkenntnis der Antisemitismusforschung. Aber dies jenen zu vermitteln, die seit Jahrhunderten von Stereotypen geleitet davon überzeugt sind, es müsse doch „an den Juden“ liegen, dass Ressentiments gegen sie bis zum Hass existierten, gehört zu den besonders schwierigen Dingen. Auch der ein-

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gangs zitierte Briefschreiber äußert diese Überzeugung. Und „als Beweis“ wird vor allem die Politik Israels angeführt. Der Gaza-Krieg bot den Judenfeinden die Gelegenheit, alte Argumente wieder vorzubringen. Auf Demonstrationen gegen Israel Ende Dezember 2008/Anfang Januar 2009 wurde skandiert „Massenmörder Israel“ oder „Kindermörder Israel“ und „Zionisten sind Faschisten“.3 Die israelische Botschaft in Berlin erhält seit Jahren immer gleiche Telefonanrufe, in denen Hass und primitive Weltsicht zum Ausdruck gebracht werden: Die Skala der Unfreundlichkeit reicht von „Massenmörder“ oder „Wir kriegen euch alle!“ bis zu „Ihr sollt von dieser Erde verschwinden!“. Zu den am Telefon oder per E-Mail geäußerten stereotypen Beschimpfungen gehört „Was Sie tun ist das Gleiche, was die Nazis mit euch getan haben“ oder die Frage „Haben sie denn nichts gelernt?“, schließlich die bedauernde Feststellung „Hitler hat seinen Job nicht fertig gemacht!“.4 Die affekthaften Unmutsäußerungen lassen sich nicht quantifizieren und es wäre ein Trugschluss anzunehmen, dass „die Deutschen“ mehrheitlich so dächten wie die Unbelehrbaren und Einfältigen, die Israels Politik aus dem Kontext der Bedrohung durch feindselige Nachbarn gelöst dazu benutzen, einer Judenfeindschaft Ausdruck zu geben, die auf andere Weise in Deutschland sanktioniert ist. In der politischen Kultur der Bundesrepublik ist Antisemitismus verpönt und kriminalisiert, deshalb suchen die Judenfeinde nach solchen Auswegen. Ein Nebeneffekt besteht immer auch in der Linderung des Druckes von Schuld und Scham, den der Holocaust im deutschen Bewusstsein erzeugte. Wenn sie glauben, „die Juden“ unrechtmäßiger Handlungen überführen zu können (die ihrer angeblichen Natur entspringen), dann geht es Briefeschreibern wie diesen besser: „Warum ermorden sie ständig Palästinenser, wie einst die Nazis die Juden? Sie führen den gleichen Propagandakrieg wie einst die Nazis gegen ihre Kritiker. Das arrogante Verhalten von Israel ist für viele Deutsche nicht mehr ertragbar“. In einer anderen Zuschrift an die Israel-Botschaft heißt es „Sie benehmen sich wie die deutsche Wehrmacht 1939 in Polen“ – wieder jemand anderes folgt der gleichen scheinbaren Logik und behauptet „Es gibt wohl nichts Perverseres als faschistisch agierende Israelis! Ihr habt echt gut begriffen wie’s funktioniert. Von dem braunen Bodensatz _____________ 3 Mitteilung Israelische Botschaft. 4 Ebenda.

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im Dritten Reich gelernt, wie man KZ’s schafft… nein, besser, ihr habt’s perfektioniert, ihr baut keine KZ, ihr macht ganze souveräne Staaten zu KZ!“. Die Metapher KZ ist bei Israelkritikern verbreitet; zugleich nimmt deren Zahl zu. Die Zeit arbeitet gegen Israel, solange der Palästinenserkonflikt dauert. Deutschland ist, im Vergleich mit anderen europäischen Staaten, aber nicht israelfeindlicher eingestellt als Frankreich oder Großbritannien, von anderen Ländern ganz zu schweigen. In Nationen, die wie Schweden oder die Niederlande ebenfalls einen erheblichen Anteil muslimischer Zuwanderer haben, ist Antisemitismus in der Form von Israelfeindschaft stärker verbreitet. In Osteuropa, wo traditionelle und wiederbelebte Judenfeindschaft aus religiöser Wurzel wie in Polen, Russland, den baltischen Nationen oder als intellektuelles Erbe wie in Ungarn existiert und sich mit der Hinterlassenschaft eines politisch agierten Antizionismus verbindet, ist Judenfeindschaft an der Tagesordnung – stärker und offener als dies in Deutschland möglich ist. Aber es gibt nichts schönzureden: Eine ziemlich konstante Quote von etwa 5 % der Mehrheitsbevölkerung, die Ressentiments gegenüber Juden hat, die durch Parteinahme für die Feinde Israels sogar ziemlich offen ausgelebt wird, ist auch dann unerfreulich, wenn sie unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Meinungsumfragen zeigen, dass sogar bis zu 20 % der Deutschen in irgendeiner Form Ressentiments gegen Juden haben (woraus manchmal vorschnell der Schluss gezogen wird, jeder fünfte Deutsche sei ein Antisemit). Lassen sich Tendenzen und Trends erkennen? Die Wirtschaftskrise wird die Demokratie und das politische Bewusstsein der Mehrheit der deutschen Gesellschaft wahrscheinlich nicht beschädigen. Dass die Bundesrepublik keine Schönwetter-Demokratie ist, hat sie längst bewiesen, dass politischer Extremismus nur die Möglichkeit hat, Radau zu machen und sich öffentlich unanständig zu benehmen, aber keine Chance, politisch mitzuwirken, erweist sich stets aufs Neue. Derzeit ist unsicher, ob die unanständigste und radikalste politische Gruppierung des Rechtsextremismus, die NPD, ihre Finanzskandale und internen Streitigkeiten überhaupt überlebt. Ein Problem, das den Nachbarn Frankreich und andere Nationen längst erreicht hat, steht Deutschland aber erst bevor: der Protest junger Muslime mit Migrationshintergrund, die sozial deklassiert sind. Die Solidarisierung junger Muslime, denen die deutsche Gesellschaft keine Chancen bietet,

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mit dem arabischen Islamismus ist die Reaktion auf versäumte Integrationsangebote der letzten Jahrzehnte. Diese Solidarisierung, nicht nur in deutschen Schulen erkennbar, ist auch und vor allem eine Demonstration gegen die Idee westlicher Demokratie und deshalb über den Anlass – die Parteinahme gegen Israel, die USA und den Westen generell – hinaus gefährlich. Aufgabe deutscher Politik ist es, diesem Trend entgegenzusteuern durch alle geeigneten Maßnahmen. Die Integrationsbemühungen müssen ernsthaft erkennbar werden, Nachsicht mit der Ablehnung demokratischer Werte wäre jedoch fehl am Platz. Positionen, die unverrückbar sind, zu denen die Solidarität mit Israel gehört, müssen deutlich gemacht werden. Aufgabe der Antisemitismusforschung als Wissenschaft ist es, die Entwicklung zu beobachten und zu analysieren, um der Gesellschaft und der Politik Wege zu weisen, welche Wirkung Vorurteile haben, und Mittel zu finden, sie zu überwinden. Alltägliche Judenfeindschaft äußert sich überwiegend verbal. Antisemitische Gewaltdelikte gegen Personen sind in Deutschland selten, häufiger richtet sich Judenhass im Schutze der Anonymität gegen Friedhöfe und jüdische Kultstätten. Der Diskurs in Familien, am Arbeitsplatz, in der Freizeit entzieht sich im Allgemeinen der Analyse, ist allenfalls in Meinungsumfragen in Annäherungen zu erkennen. Manifestationen im Umkreis von Sportereignissen sind im Einzelnen so schwer fassbar wie die Vorgänge in Schulen. Wir wissen zwar, dass in der jüngsten Generation der Begriff „Jude“ ebenso wie die Metapher „Opfer“ als Schimpfwort gebraucht wird, aber dem analytischen Zugriff sowohl hinsichtlich der Qualität wie der Dimension bleibt solches Geschehen weitgehend entzogen. Eine gute Quellenbasis sind Zuschriften an jüdische Adressen wie Gemeinden, der Zentralrat, die Israelische Botschaft.5 Daraus stammen die folgenden Zitate. Eine alte Dame aus Detmold, Jahrgang 1934, die als 10-Jährige die Flucht vor der Roten Armee aus Ostpreußen erlebte und dies zum Anlass nimmt, sich mit der vor der israelischen Armee fliehenden palästinensischen Zivilbevölkerung zu solidarisieren, schreibt an den Israelischen Botschafter. Sie hat das Bedürfnis, sich als demokratische Bürgerin zu legitimieren und betont, dass sie mit den heranwachsenden Kindern zweimal Bergen-Belsen und andere Gedenkstätten besucht hat, ehe sie mitteilt, dass _____________ 5 Vgl. die qualitative Auswertung in Benz (2004: 27 ff.), die weitere diskursanalytische Studien angeregt hat.

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sie überlege „in Zukunft vom Einkauf israelischer Produkte Abstand zu nehmen“. Der Brief beginnt mit der Frage „darf sich Israel alles erlauben?“ und fügt eine zweite hinzu „Haben nur wir aus unserer Vergangenheit zu lernen (und zu zahlen)?“6 Besonders erschreckend wegen des gesellschaftlichen Status und der Möglichkeiten der Einflussnahme ist die Zuschrift eines Studiendirektors aus München. Rhetorisch elaboriert und inhaltlich abgefeimt durch nahegelegte Assoziationen nimmt er den Gaza-Krieg zum Anlass, um allgemeinen Judenhass im Gewand von Israelkritik, argumentativ zugespitzt auf eine bestimmte Beobachtung, zu artikulieren: „Seit Jahren verfolge ich die Unterdrückungs- und Terrormaßnahmen der israelischen Juden gegenüber den Palästinensern. Seit Wochen verfolge ich, mit welcher Brutalität sie gegen ein wehrloses Volk vorgehen, dessen Land Sie gestohlen haben. Seit Tagen wundere ich mich über Ihre KZ-Maßnahmen gegenüber Kindern, Frauen, UNO. Seit einigen Stunden sieht man am Fernseher, wie israelische Juden (es gibt ja auch Araber in Ihren – besser in deren – Land, aber die sind zu solchen Schweinereien nicht fähig) an die Grenze zu Gaza fahren, um das Morden an der arabischen Bevölkerung per Teleskop und Fernstecher [sic!] zu verfolgen. So tief sind die Deutschen in ihrem [sic!] finstersten Geschichte nicht gesunken, dass sie das Morden in den Ghettos und den KZs auch noch zum Ausflugserlebnis gemacht haben. Ich vermute, Sie werden dieses in der jüdischen Geschichte nicht einmalige, aber besonders dumme und brutale Verhalten bald büßen. Ich werde – durch Aufklärung (was in der Zeit der Unterdrückung durchaus einmal jüdische Leistung war) – das Meine dazu tun, dass Ihre Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. Kein Schalom Unterschrift“

Typisch auch am folgenden Argumentationsmuster ist der mehrfache Rückbezug auf nationalsozialistische Verbrechen, von denen man sich distanziert, die gleichzeitig als moralisches Postulat an die Juden adressiert werden. Der Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland beginnt mit der Feststellung „die Juden und andere Völker haben unter der Naziherr_____________ 6 Schreiben 05.01.2009.

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schaft grausame Leiden und viele zu Tode gefolterte Menschen zu beklagen“. Daraus wird, nachdem der Schreiber versichert hat, dass die Nachkommen der Täter nicht mehr büßen müssten, etwa durch Finanzierung von Kriegsmaterial für Israel, gefolgert „Das jüdische Volk sollte aus der Geschichte gelernt haben“, sei aber tatsächlich ein „Volk von Kriegstreibern“, das Frauen und Kinder morde. Nach der Auflistung von Beweisen wird abermals vermutet, die Juden hätten aus der Vergangenheit nichts gelernt oder wenn, dann nur „die Deutschen zur Kasse zu bitten“. Die Konklusion erweist den vermeintlich israelkritischen Impetus, mit dem der Verfasser auftritt, als antisemitisch, wenn er schreibt „Ich sehe die Juden in Deutschland genauso als Täter, wie die Juden und ihre mörderische kriegstreiberische Regierung in Israel. ... Ich verachte die Israelis. Ihre Kinder und Kindeskinder werden dafür bezahlen, genau wie sie es von den Deutschen verlangen“.7 Das ist stereotypengeleitete Judenfeindschaft, auf die die Antisemitismusdefinition des „European Forum on Antisemitism“ zutrifft: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. ... Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt negative Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“8 Vertiefen und differenzieren wir die Definition von Judenfeindschaft, so lässt sich der Sachverhalt folgendermaßen formulieren: Antisemitismus umfasst alle Formen und Stufen der Ablehnung gegenüber Juden, wie sie manifest durch Diskriminierung und Gewalt, latent durch Ressentiments, als Haltung der Abneigung in Erscheinung treten. Antisemitismus tritt ohne räumliche und zeitliche Begrenzung als Vorurteil von der Antike bis zur Gegenwart auf, er äußerte sich im Mittelalter und in der Neuzeit durch kulturelle, soziale und ökonomische Ausgrenzung der jüdischen Minder_____________ 7 Schreiben J. E. [voller Name bekannt] an Zentralrat 10.01.2009. 8 Working Definiton OSZE/Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) und European Fundamental Rights Agency in der Übersetzung des American Jewish Committee (Berlin: European Forum on Antisemitism). In: ODIHR (2007).

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heit, durch Massaker und Pogrome und erreichte mit neuer Begründung als Rassendoktrin im 19. Jahrhundert den Höhepunkt im Genozid an sechs Millionen Juden unter NS-Herrschaft. In der Gegenwart Deutschlands hat Antisemitismus den Charakter der politischen Ideologie weitgehend verloren, er zeigt sich als verbreitetes individuelles Vorurteil. Der Begriff Antisemitismus ist wörtlich genommen („Semitengegnerschaft“) eine Missbildung, weil er, um Judenfeindschaft mit wissenschaftlichem Anspruch zu verbrämen, die Sprachfamilie der Semiten (Araber, Äthiopier, Akkader, Kanaanäer, Aramäer) als Rasse verstand, dabei jedoch nur die Juden meinte. Der Begriff Antisemitismus entstand 1879 im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr, den Hintergrund bildete die öffentlich diskutierte „Judenfrage“. Dieser Diskurs über die Emanzipation der Juden wurde im 19. Jahrhundert in vielen Ländern geführt, er war weitgehend von sozial und kulturell determinierter Ablehnung bestimmt. 1879/80 war „die Judenfrage“ in Deutschland einerseits Gegenstand eines Gelehrtenstreits, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit Überfremdungsängsten ausgelöst hatte (vgl. Krieger 2003), andererseits wurde sie instrumentalisiert durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, in dessen christlich-sozial argumentierender Kampagne gegen die Arbeiterbewegung. In Österreich vertrat der Wiener Bürgermeister Karl Lueger ähnliche Positionen. Der Begriff Antisemitismus ist zwar ohne Definition und theoretische Herleitung als modische Neubildung eingeführt, aber rasch als Programm verstanden worden. Antisemitismus dient heute als Oberbegriff für alle politisch, sozial, religiös, kulturell oder emotional begründete Judenfeindschaft. Antisemitismus in diesem Sinne ist auf Grund seiner Tradition, die in die Antike zurückreicht, das älteste Vorurteil gegen eine Minderheit überhaupt, wenngleich die historische Kontinuität immer wieder neu motiviert und instrumentalisiert wurde, vom Mittelalter bis zur Gegenwart als christlichreligiöser Vorbehalt (Antijudaismus), seit dem 19. Jahrhundert als völkische und rassistische Doktrin („moderner Antisemitismus“), die in die Ideologie des Nationalsozialismus Eingang fand und bis zur Konsequenz der Vertreibung und Vernichtung im Völkermord agiert wurde. Als Reflex auf Schuldgefühle entstand in der Bundesrepublik der „sekundäre Antisemitismus“; als politischer Affekt gegen Israel in der DDR wie in allen Ostblockstaaten der Antizionismus. Antisemitismus enthält als ausgrenzende Ideologie Elemente von Xenophobie und Rassismus, ist aber damit

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nicht gleichzusetzen, da er als übergreifende Weltanschauung und Protesthaltung eigene Charakteristika aufzuweisen hat, die über stereotype Vorurteile, mit irrationalen Einstellungen und Vorbehalten Feindbilder konstruiert, die über eigentliche Judenfeindschaft hinaus der Welterklärung dienen und vielfältig instrumentalisiert werden können. Antisemitismus sieht den Juden als feindliches Konstrukt, als Projektion negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Antisemitismus reagiert entgegen landläufiger Meinung und insbesondere gegenüber der Behauptung von Judenfeinden nicht auf Eigenschaften und Handlungen von Juden, daher ist das Vorhandensein von Juden auch nicht seine Voraussetzung. Konstitutiv für den Antisemitismus als Vorurteil ist es, dass sich das Ressentiment immer gegen den Juden als solchen richtet, d. h. auch, dass die Träger des Vorurteils die Definitionshoheit beanspruchen („wer Jude ist, bestimme ich“). Zu unterscheiden ist manifester Antisemitismus, der sich in Attacken gegen Personen, in Sachbeschädigungen und Propagandadelikten äußert sowie ein latenter Antisemitismus, der sich im Alltagsdiskurs allenfalls als stillschweigendes Einverständnis über „die Juden“ zeigt, der aber überwiegend auf der Einstellungsebene bleibt, also vor allem bei Meinungsumfragen in Erscheinung tritt. Die meisten in Deutschland zur Verfolgung kommenden Straftaten sind Akte von Volksverhetzung. Unter den anderen Delikten sind es Friedhofschändungen und Anschläge auf Synagogen. Sie dienen häufig auch als Hintergrund ausländerfeindlicher und rassistischer Bekundungen. Die Motive für latenten Antisemitismus, wie er in Meinungsumfragen und in Briefen an Medien und jüdische Repräsentanten zum Ausdruck kommt, sind vielfältig. Den Anlass bilden oft Auftritte jüdischer Prominenz bzw. damit im Zusammenhang stehende Presseveröffentlichungen über meist unangenehme Ereignisse wie rechtsextreme Exzesse, Synagogen- oder Friedhofschändungen. Die Respondenten wollen nicht identifiziert werden mit den Tätern, wollen keinem mit Argwohn beobachteten Kollektiv von mutmaßlichen Rechtsextremisten oder Neonazis oder zumindest Unbelehrbaren angehören und fühlen sich deshalb von Vertretern der Minderheit in toto zu Unrecht gebrandmarkt. Das wehren sie als Anmaßung ab und bemühen sich, das auslösende Ereignis als marginal und die jüdische Reaktion darauf als überproportional darzustellen.

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Als häufig erkennbares Motiv erscheint ein unspezifischer Unmut über Regierung, Volksvertreter, politische und ökonomische Verhältnisse, über die unerfreulichen Zeitläufe ganz allgemein. Solcher Verdruss, der nicht auf unmittelbare Handlungen oder Reden von Vertretern der Minderheit reagiert, wird gern an die Adresse der vermeintlich Begünstigten und Privilegierten gerichtet, denen unverhältnismäßiger Einfluss auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens zugeschrieben wird. Den Juden wird die traditionelle Sündenbockfunktion zugeschrieben. Sozialneid schließt sich unmittelbar an. Gespeist aus langer Tradition dienen stereotype Vorstellungen vom jüdischen Reichtum, von jüdischer Geschäftstüchtigkeit und Geldgier der Überzeugung, Juden würden materiell bevorzugt, sie erhielten unzulässige Restitutionsleistungen oder unerhörte Subventionen. Ein wichtiges Motiv ist kleinbürgerliche Überfremdungsangst, die das Eigene bedroht sieht und die Juden zu Fremden macht. Die Juden werden in eine Stellvertreterrolle gedrängt und finden sich ausgegrenzt mit allem, was als fremdartig Angst macht und Unbehagen erzeugt. Antisemitismus wird oft als Mittel zum Zweck. Nur eine kleine Minderheit wird sich als ideologisch festgelegte Gruppe von Judenfeinden im traditionellen Sinne ausmachen lassen; die Mehrheit derer, die mit antisemitischen Vorurteilen, Stereotypen, Klischees hantieren, hat bestimmte politische, in der Regel deutschnational-patriotische Absichten. Der sekundäre Antisemitismus, der aus Schuldgefühlen gegenüber Juden artikuliert wird, kann sich aufladen zu einem Erlösungsantisemitismus. Gemeint ist die Befreiung vom Schuld- und Leidensdruck, der durch das Bewusstsein vom Völkermord verursacht ist. Voraussetzung der Erlösung ist eine Schuld der Juden, die Opferfunktion der Juden muss dazu außer Kraft gesetzt werden: Juden, die als Täter wahrgenommen werden, erlauben es, Gefühle der Empathie, des Schuldbewusstseins, des Unbehagens durch Parteinahme gegen die Juden zu ersetzen. Dazu braucht es Gründe: etwa die Politik Israels, Schuld gegenüber den Palästinensern, als willkommener Ansatzpunkt für Ablehnung, für den Entzug von Empathie, für Zuwendung an die arabische Seite. Israelkritik dient damit als Ventil für generelle Judenfeindschaft, die anders nicht ungestraft zu artikulieren ist. Antisemitismus funktioniert als hermetisches System. Dem entspricht die Argumentationsstrategie der Behauptung von „Tatsachen“, deren Unbeweisbarkeit in Verschwörungsphantasien als Beweis dargestellt wird. Die

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Argumentation bleibt damit intellektuell und emotional unerreichbar für logische Einwände. Das soll abschließend noch einmal an einigen drastischen Beispielen aus dem Alltagsdiskurs demonstriert werden, wieder sind es Zuschriften an die Israelische Botschaft oder den Zentralrat der Juden. Aber im Gegensatz zu den bisher zitierten namentlich gezeichneten und oft mit Beruf, stets mit Adresse versehenen Texten handelt es sich im Folgenden um anonyme Verlautbarungen. Sie sind entsprechend eindeutig, grob und obszön. Die Texte lassen aber Rückschlüsse zu, was auch – ohne je dokumentiert zu werden – im Alltagsdiskurs am Arbeitsplatz oder bei trivialen Gelegenheiten verhandelt wird. Das erste Beispiel enthält neben Kraftausdrücken, Beschimpfungen und Drohungen, gegen deren Wiedergabe sich alles sträubt, diese Sätze: „Man könnte Bücher mit Euren ständigen Verbrechen füllen. Man merkt auch, dass es sehr viele Menschen auf der Welt gibt, die Euch HASSEN! ... Keiner mag Euch. Überall ist Gott sei Dank der Hass zu spüren. Ihr seid Schmarotzer und wollt nur Geld für Euren Verbrecherstaat und damit Ihr die Nachbarn mit Tod und Gewalt übersähen könnt.“ Das nächste Beispiel hat folgenden Wortlaut: „Ich war immer der Meinung, dass dies, was die Nazi den Juden angetan haben, ein Verbrechen ist. Diese Meinung hat sich nun radikal geändert. Die Israeli/Juden haben nichts gelernt. Aber auch gar nichts!“ In eindeutig neonazistischer Diktion heißt es im dritten Exempel (unter dem Absender „Vertreter Adolfs auf Erden“): „Die neueste Geschichte mit den aktuellen Vorfällen zeigt es wieder in aller Deutlichkeit: Ihr Juden verteidigt ‚euer‘ gestohlenes Land indem Ihr die rechtmäßigen Eigentümer ermordet, euch der Rest der Welt egal ist und eure Marionette Angelika Euch dafür auch noch die blutigen Stiefel leckt... Nur schade, dass Adolf euch nicht alle erwischt hat!!! Sieg Heil!!“ Und schließlich, im vierten Beispiel, mit eindeutiger Konnotation: „Jud Ade, Zyklon tut nicht weh. Der Tag naht an dem das Welt Judemtum endlich ausgerottet ist. Wir vernichten Euch alle aber vorher müsst Ihr noch richtig leiden, erst dann werden wir Euch alle restlos vernichten.“ Das sind Formen alltäglicher Judenfeindschaft in Deutschland.

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Literatur BENZ, Wolfgang, 2004. Was ist Antisemitismus? München: Beck. BENZ, Wolfgang, 2007. Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung. München: Beck. BENZ, Wolfgang (ed.), 2008. Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. München: Saur. BENZ, Wolfgang; Distel, Barbara (eds.), 2005–2009. Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. 9 Bde. München: Beck. BENZ, Wolfgang; Königseder, Angelika (eds.), 2002. Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung. Berlin: Metropol. BENZ, Wolfgang; Mihok, Brigitte (eds.), 2009. Holocaust an der Peripherie. Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940–1944. Berlin: Metropol. BENZ, Wolfgang; Wetzel, Juliane (eds.), 2007. Antisemitismus und radikaler Islamismus. Essen: Klartext. KRIEGER, Karsten (Bearb.), 2003. Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Kommentierte Quellenedition. München: Saur. OFFICE FOR DEMOCRATIC INSTITUTIONS AND HUMAN RIGHTS (ODIHR); European Fundamental Rights Agency, 2007. Adressing Antisemitism: Why and How? A Guide for Educators, OSCE, ODIHR, Yad Vashem. Berlin: American Jewish Committee (European Forum on Antisemitism).

„Ich habe gar nichts gegen Juden!“ Der „legitime“ Antisemitismus der Mitte Monika Schwarz-Friesel Einleitung In diesem Artikel werden erste Ergebnisse eines zurzeit laufenden Forschungsprojekts1 zu Konzeptualisierungs- und Verbalisierungsformen des aktuellen Antisemitismus in Deutschland vorgestellt. Untersucht werden die expliziten und impliziten Manifestationen des gegenwärtigen antisemitischen Sprachgebrauchs sowie deren kognitive und emotionale Basis. Grundlage der Analysen ist eine umfassende, qualitativ ausgerichtete textwissenschaftliche Korpusanalyse von aktuellen Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland (ZJD) und die Israelische Botschaft in Deutschland (IBD),2 welche die zugrundeliegenden Stereotype und emotionalen Einstellungen der Sprachbenutzer transparent macht und im Kontext ihrer Argumentation als judenfeindliche Vorurteile erklärt.

Korpus und Korpusanalyse: Briefe und E-Mails an ZJD und IBD Das Korpus besteht aus ca. 10.000 E-Mails und Briefen an den ZJD und die IBD in Berlin, die in den Jahren 2002 bis 2009 an diese Institutionen geschickt wurden. Es handelt sich hierbei i. d. R. um Schreiben, die Reaktionen auf Pressemitteilungen oder Interviews des ZJD oder der IBD und/oder mediale Berichterstattungen und Meldungen sind, u. a. auf die Debatte um Günther Oettingers Rede zu Filbinger sowie den Libanon- und _____________ 1 Das Forschungsprojekt wird in Kooperation mit dem Sarnat Institute (Center for the Study of Anti-Jewishness) der Brandeis University (Waltham, MA) realisiert und von ihm finanziert. 2 Ich danke dem ZJD und der IBD für die Bereitstellung der Schreiben für unsere wissenschaftlichen Untersuchungen.

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Gaza-Konflikt. Das Korpus ist nicht selektiv auf antisemitische Zuschriften ausgerichtet, sondern erfasst alle Zuschriften (also auch die positiven Sympathie- und Unterstützungsschreiben, wenngleich deren Anzahl quantitativ deutlich geringer ist als die der negativen und feindseligen Texte). Die Schreiber artikulieren meist spontan ihre Meinung; sie schreiben unaufgefordert und unbeeinflusst von vorgegebenen Fragen. Dieses Korpus hat daher den Vorteil, eine echte Dokumentation natürlicher, unbeobachteter und weitgehend spontaner Kommunikation zu liefern. Die sprachlichen Äußerungen werden unvermittelt und anders als bei Umfragen ohne vorherige Priming-Fragen (wie „Denken Sie, dass Juden zu viel über den Holocaust reden?“) produziert, die den Gefragten u. U. in eine bestimmte Richtung weisen. Effekte sozialer Erwünschtheit (die bei Meinungserhebungen mittels Fragebögen oder Telefonbefragungen zu verzerrenden Ergebnissen führen können) spielen hier ebenfalls keine Rolle. Bei der Datenauswertung werden quantitative und qualitative Analysen koordiniert und aufeinander bezogen, um die Charakteristika des aktuellen antisemitischen Sprachgebrauchs umfassend beschreiben und erklären zu können.3 Die qualitative Analyse steht im Vordergrund, da nur über eine genaue kognitionslinguistische Untersuchung der Texte4 eruiert werden kann, welche spezifischen Konzeptualisierungen vermittelt werden und wie diese im Hinblick auf Evaluierungsaspekte zu bewerten sind. Auch die Einbettung _____________ 3 Das Korpus liegt als digitalisiertes Dokument vor: Nur so lässt sich die umfangreiche Textmenge angemessen bearbeiten und auch statistisch auswerten. Mittels bestimmter Suchoperationen (z. B. das Auffinden von häufigen Lexemen und Lexemverbindungen) sowie umfassender Klassifikationsprozesse lassen sich für das Gesamtkorpus dann quantitative Aussagen machen (der Art „in xx Prozent aller Schreiben taucht das Kompositum Auschwitzkeule auf“ oder „xx Prozent der Texte sind als rechts- bzw. linksextrem einzustufen“). Dagegen werden Argumentationsketten und Konzeptualisierungsmuster, die auf der Textoberfläche sehr unterschiedlich formuliert sein können, nur über qualitative Analysen adäquat erfasst. 4 Ergänzt wird die Korpus-Analyse durch die Untersuchung repräsentativer Sprachgebrauchsbeispiele aus dem öffentlichen, massenmedialen Diskurs (z. B. anhand der Textsorten Leserbriefe, Zeitungsartikel, Plakattexte, Blogeinträge). Diese stichprobenartig erhobenen Daten belegen, dass die Stereotype und Argumentationsmuster keineswegs auf die Textsorte E-Mail/Brief (in unserem Korpus) beschränkt, sondern typisch für weite Teile der öffentlichen Kommunikation sind (vgl. Beyer/Leuschner, Schapira/Hafner, Braune, in diesem Band, sowie Schneider 2009). Zwei in Arbeit befindliche Dissertationen untersuchen zudem das antisemitische und anti-israelische Potenzial von Pressetexten (s. Beyer, in Arbeit) bzw. den Einfluss massenmedialer Texte auf den alltäglichen Sprachgebrauch (s. Leuschner, in Arbeit).

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des Stereotypengebrauchs in argumentative Strategien lässt sich nur auf diese Weise ermitteln.

Zur Rekonstruktion von antisemitischen Konzeptualisierungen: Sprachliche Äußerungen als Spuren kognitiver Prozesse Die Fragen, die sich vorrangig bei der textwissenschaftlichen Analyse der Korpusdaten stellen, beziehen sich auf die verbalen Charakteristika des antisemitischen Sprachgebrauchs5 sowie die ihnen zugrundeliegenden mentalen Einstellungsmuster: Welche (tradierten) antijüdischen Stereotype spiegeln sich in den aktuellen Texten explizit und/oder implizit wider und in welchen (neuen) Konzeptkombinationen treten sie auf? Welche emotionalen Einstellungen liegen der Verbalisierung judenfeindlicher Gesinnungen zugrunde? Mittels welcher argumentativen Strategien werden antisemitische Inhalte artikuliert und rechtfertigt? Bei allen Analysen gehen wir von der Grundannahme der Kognitiven Linguistik aus, dass sprachliche Äußerungen Spuren der kognitiven Aktivität derjenigen sind, die sie produziert haben.6 Texte geben entsprechend Aufschluss über die Denkstrukturen, Einstellungen und Vorurteilsmuster ihrer Verfasser. Antisemitismus wird hierbei fokussiert als mentale Ein_____________ 5 Neben der Erfassung der Charakteristika des Verbal-Antisemitismus ist es auch ein Ziel des Forschungsprojekts, Klassifikationsindikatoren hinsichtlich der Frage: „Wann ist eine sprachliche Äußerung antisemitisch?“ soweit zu präzisieren, dass wir exakte sprachwissenschaftliche Kriterien erhalten. Angesichts der immer wieder aufs Neue geführten Debatten, der zahlreichen Beleidigungsklagen und sogar Gerichtsprozesse (s. zuletzt den Prozess Broder vs. Hecht-Galinski), ist es von nicht unerheblicher Relevanz, wenn die Wissenschaft klar Auskunft darüber geben kann, wann eine Äußerung als antisemitisch einzustufen ist. Zurzeit wird bei nahezu jedem „sprachlichen Delikt“ nach einer Ausrede oder Umdeutung gesucht, gerieren sich die Sprachproduzenten oft als Opfer einer angeblichen „Antisemitismus-Keule“. Eine gesellschaftlich auf breiter Basis bekannte, wissenschaftliche Klassifikation von VerbalAntisemitismus könnte hier hilfreich sein. 6 Die Kognitive Linguistik ist eine interdisziplinäre sprach- und kognitionswissenschaftliche Theorie, die sich in den letzten 20 Jahren als der einflussreichste Ansatz der modernen Sprachwissenschaft entwickelt und etabliert hat. Sie basiert auf den Annahmen, dass Sprache ein repräsentationales und prozedurales Kenntnissystem ist, welches mit anderen Wissenskomponenten interagiert und dass sprachliche Äußerungen Aufschluss über geistige Struktur- und Prozesskomponenten geben (s. Schwarz 3 2008).

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stellung, als kognitive und emotionale Haltung gegenüber Juden betrachtet. In der Regel liegt einer antisemitischen Haltung eine von negativen Emotionen und Stereotypen determinierte Konzeptualisierung (im Sinne einer geistigen Vorstellung) von JUDEN7 zugrunde. Über die Sprache artikuliert sich dann eine solche Konzeptualisierung explizit oder implizit als Verbal-Antisemitismus.

Verbal-Antisemitismus: sprachliche Manifestationen der Judenfeindschaft Verbal-Antisemitismus liegt vor, wenn eine Äußerung explizit oder implizit judenfeindliche Konzeptualisierungen vermittelt. Diese Konzeptualisierungen werden maßgeblich von (zum Teil bereits seit langem tradierten) Stereotypen8 geprägt. Die negative Stereotypzuordnung ist eines der konstitutiven Kennzeichen für mentalen und verbalen Antisemitismus. Es lassen sich verschiedene Typen von Verbal-Antisemitismen unterscheiden: z. B. klischeeverbreitende Floskeln und Phrasen wie „jüdischer Wucher“ und „Juden und Deutsche“ (die nicht notwendigerweise intentional juden_____________ 7 Konzeptualisierungen stellen kognitive Repräsentationen im Sinne von mentalen Vorstellungsmustern dar, die zu einem bestimmten Welt-Bereich, z. B. einer Person(engruppe) gebildet und gespeichert werden (s. Schwarz-Friesel 2007: 81 f., 329 f. und Schwarz 32008: 114 f.). Den Konventionen der kognitionswissenschaftlichen Darstellungsweise folgend, werden konzeptuelle Entitäten und Strukturen mittels Großbuchstaben angezeigt. 8 Um den heutigen Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, ist es unabdingbar, die tradierten, seit langem überlieferten Stereotype der Judenfeindschaft zu kennen (vgl. Benz 2004, s. zu einem Überblick Schoeps/Schlör 1999). Ein Stereotyp ist nach unserer Definition eine mentale Repräsentation im Langzeitgedächtnis, die als charakteristisch erachtete Merkmale/Eigenschaften eines Menschen bzw. einer Gruppe von Menschen abbildet und dabei durch grobe Generalisierung bzw. Simplifizierung eine reduzierte, verzerrte oder falsche Repräsentation des Repräsentierten darstellt. Linguistisch betrachtet ergibt sich bei den meisten Stereotypen ein Missverhältnis zwischen Bedeutungs- und Referenzebene: Die Bedeutungsrepräsentationen mit ihren mentalen Attributen werden den tatsächlichen Referenten nicht gerecht. Bei der Stereotypbildung werden die Vielfalt, die Heterogenität innerhalb einer Gruppe weitgehend missachtet, die Individualität des Einzelnen außer Acht gelassen. Im Rahmen unserer Forschung wird klar unterschieden zwischen den Stereotypen als kognitiven Repräsentationseinheiten und den unterschiedlichen sprachlichen Manifestationen dieser stereotypen Einheiten (s. hierzu Schwarz-Friesel 2007: 336 f.).

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diskriminierend geäußert werden, aber dennoch stets über ihre Semantik als stereotyptransportierend und -festigend fungieren), generische AllAussagen wie „Alle Juden hängen am Gelde“ bis hin zu Aufrufen wie „Juden raus aus Deutschland!“.9 Antisemitisches Gedankengut kann explizit über die wortwörtliche Bedeutung vermittelt werden oder implizit über Schlussfolgerungen, sogenannte Implikaturen, die sich zwar aus der Bedeutung ergeben, aber nicht expressis verbis artikuliert werden. In einer Äußerung wie „an den Holocaust muss man glauben; wer Zweifel erkennen lässt, verschwindet hinter Gittern“10 wird die Implikatur transportiert, der Holocaust sei eine reine Glaubenssache und somit kein Fakt. Zudem wird indirekt Kritik an der Gesetzeslage der Bundesrepublik bezüglich der Holocaustleugnung geübt. Diese Formen der indirekten Kodierung radikaler Inhalte sind aufgrund unserer Rechtsprechung besonders häufig im öffentlichen Diskurs anzutreffen, da sich die Sprecher/Schreiber so vor gesellschaftlichen Sanktionen sicher sein können. Impliziter VerbalAntisemitismus schützt jedoch nicht nur vor Strafverfolgung, sondern hat auch das (persuasive) Ziel, Zuhörer/Leser zu erreichen, die vor allzu aggressiven, zu Gewalt aufrufenden Äußerungen zurückschrecken würden. Radikales Gedankengut wird so sprachlich entradikalisiert und damit für ein größeres Publikum präsentabel (und akzeptabel) gemacht.

Der gebildete Antisemitismus der Mitte Auffällig ist in den Texten des Korpus, dass nicht die extremen, radikalen Formen des expliziten Verbal-Antisemitismus dominieren (wenngleich auch diese als Hassparolen und Vulgärbeschimpfungen anzutreffen _____________ 9 Zu einer differenzierten Beschreibung der verschiedenen Varianten des VerbalAntisemitismus s. Schwarz-Friesel (2007: 347 ff.) und (im Druck). 10 Vgl. Günther Zehm alias Pankraz: „Zivilreligionen und die Abschaffung der Politik“. In: „JUNGE FREIHEIT“ 9/2000 vom 25.02.2000 (Archiv unter http://www. jungefreiheit.de). Die rechtspopulistische „JF“ vermittelt seit Jahren in ihren Texten qua Implikaturen Ideen der Holocaustrelativierung; vgl. auch die folgende Passage: „Derzeit deutet alles darauf hin, daß Irving für eine bloße Meinung bestraft wird.“ Hier wird die Holocaust-Leugnung des britischen Historikers mit dem Verweis auf die verfassungsrechtliche Meinungsfreiheit verteidigt (vgl. Thorsten Thaler: „Argumente für Freiheit“. In: „JUNGE FREIHEIT“ 02/2006 vom 06.01.2006).

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sind),11 sondern vielmehr die Manifestationen der sozioökonomischen Mitte (s. hierzu Herbert-Quandt-Stiftung 2007, Zick/Küpper 2006), der „gebildeten Antisemiten“, d. h. von Schreibern, die gesellschaftlich keiner Randgruppe angehören, sondern die einen bestimmten Bildungsgrad oder Beruf haben. Ärzte, Professoren, Schüler, Studierende, Anwälte, Journalisten, Pfarrer und Lokalpolitiker (die z. T. Kopien ihrer Texte an die Bundesregierung und/oder Zeitungsredaktionen senden, um ihre Meinung auch öffentlich kundzutun) gehören zu den Verfassern. Viele der Schreiber versehen ihre E-Mails und Briefe mit Namen, Anschrift sowie Fax- oder E-Mail-Adresse und ersuchen z. T. ausdrücklich um eine Antwort. Dies ist ein Indikator dafür, dass sie von der Rechtmäßigkeit ihrer Argumente und ihrer Gesinnung überzeugt sind und zugleich keine ernsthaften negativen Konsequenzen fürchten (wenngleich viele von ihnen auf das angebliche Meinungsdiktat der Juden und die damit verbundenen Sanktionen in Deutschland verweisen). Diese sich selbst als „besorgte und verantwortungsbewusste Bürger“ bezeichnenden Schreiber äußern sich wohlartikuliert, oft eloquent. Sie „lehnen Rechtsextremismus entschieden ab“ und weisen „jeden Verdacht, antisemitisch eingestellt“ zu sein, energisch von sich. Doch in ihren Texten an den ZJD oder die IBD manifestieren sich sowohl klassische antijüdische Stereotype als auch anti-israelische Ressentiments. Auch Tendenzen zu strikten unflexiblen Klassifikationsmustern, eingeengten Perspektiven auf komplexe Sachverhalte und (die vorgetragene Meinung legitimierenden) Bezügen auf Autoritäten sind festzustellen. Die pseudo-rationale Argumentation offenbart eine irrationale Radikalität und emotionale Aggressivität, die sich oft nur wenig vom extremistischen Gedankengut unterscheidet. Allerdings wird die radikale Semantik vom Antisemiten der Mitte bislang mit „verbalen Samthandschuhen“ artikuliert. Betrachtet man vergleichend die Texte von 2002 bis 2009 fällt jedoch auf, dass über den Zeitverlauf hinweg der Ton schärfer, die Argumentation radikaler und die diffamierenden Verbalformen frequenter und damit usueller werden.

_____________ 11 Vgl.: „Man sollte Euch Scheiss Juden auch die Kehle durchschneiden, aber da käme an Stelle von Blut nur Stinkende Scheisse raus.“ [ZJD_04.05.2007_Mau_001] oder „Wird wieder einmal Zeit das richtige Arier den Gashahn aufdrehen!“ [IBD_19.01.2004_ano_001].

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Stereotype Konzeptualisierungen: Juden als nicht-deutsche unversöhnliche Störenfriede und Holocaust-Ausbeuter In den Korpustexten werden zahlreiche Stereotype des primären und sekundären Antisemitismus12 entweder explizit oder implizit verbalisiert: JUDEN SIND KEINE DEUTSCHEN, JUDEN SIND UNVERSÖHNLICH UND NACHTRAGEND, JUDEN NUTZEN SONDERRECHTE AUS UND ERPRESSEN EIN MEINUNGSDIKTAT, JUDEN BEUTEN DEN DEUTSCHEN STAAT AUS, JUDEN PROVOZIEREN DURCH IHR VERHALTEN SELBST ANTISEMITISMUS. Auffällig oft manifestiert sich die Konzeptualisierung von deutschen Juden als die NICHT-DEUTSCHEN, die FREMDEN wie in (1) bis (3): (1) „Betreff: Sie sind die absolut Letzten die ein Recht haben uns Ratschläge zu geben! So bedauerlich rechtsradikale Übergriffe in Deutschland auch sein mögen, Ihr Land ist das absolut Letzte das ein Recht hat andere Länder anzuprangern, weil Ihr Land, sprich ISRAEL permanent regelrecht Staatsterrorismus betreibt und sowas wie Menschenrechte nicht mal kennt…“ [ZJD_25.10.2006_Sch_001]13

Die Kontrastierung Sie versus uns drückt bereits die Abgrenzung deutscher Juden von den „genuin Deutschen“ aus und beinhaltet eine kognitive Polarisierung. Expressis verbis werden durch den Zusatz „Ihr Land, sprich _____________ 12 In der Antisemitismusforschung spricht man bis zum Jahre 1945 vom primären Antisemitismus, wobei dieser primäre Antisemitismus jedoch nicht rein zeitlich gebunden zu verstehen ist, sondern als hermetisches Deutungssystem der Judenfeindschaft (s. Benz 2004). Die vorherrschenden Stereotype sind die der Juden als Jesus-Mörder, als heimatlose Wanderer und Fremde, als Geldleute, Wucherer, Schacherer und Verschwörer, als Rachsüchtige und Demagogen (vgl. hierzu Benz 2004 und ausführlich Schoeps/Schlör 1999). Der Antisemitismus nach 1945 wird in der Forschung als „sekundärer Antisemitismus“ bezeichnet und wird charakterisiert als Judenhass nicht trotz, sondern wegen Auschwitz (s. Bergmann/Erb 1991, Wistrich 1999, Benz 2004). Dieser sekundäre Antisemitismus betrifft die Erinnerung an die Shoah, den Umgang mit deutscher Verantwortung und die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“. Im sekundären Antisemitismus findet sich als Kernaussage, dass Juden den Holocaust ausnutzen, um den deutschen Staat moralisch und finanziell unter Druck zu setzen. Die Termini ‚primärer‘ und ‚sekundärer‘ Antisemitismus sind eher unglücklich gewählt, werden aber in diesem Aufsatz in Ermangelung anderer Begriffe benutzt. 13 Die angegebenen Signaturen verweisen auf die Katalogisierung unseres Korpus. Die Abkürzungen ZJD bzw. IBD geben an, welcher Institution die Zuschrift zugesandt wurde, darauf folgen das Datum sowie Kürzel, die der internen Arbeit in der Projektgruppe dienen. Schreibfehler in den Beispielen entsprechen den Originaldokumenten.

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Israel“ JUDEN ALS ISRAELIS kategorisiert. Deutschen Juden wird somit in dieser Argumentation der Status „deutsch“ aberkannt. In (2) wird dasselbe Stereotyp in veränderter Form realisiert:14 (2) „sie sind als gast in diesem land, also benehmen sie sich auch wie ein solcher und beenden sie ihre ständig wiederkehrende impertinente hetze gegenüber dem gastgebenden volk.“ [ZJD_22.03.2007_ano_001]

Mit dieser E-Mail an die ZJD-Vorsitzende Charlotte Knobloch ist außerdem die direkte Aufforderung verbunden, die vom Verfasser als unangemessen empfundenen (durch „impertinente hetze“ extrem negativ attribuierten) Verhaltensweisen zu unterlassen. Implizit, mittels einer rhetorischen Frage, wird das Stereotyp JUDEN SIND KEINE DEUTSCHEN in (3) vermittelt: (3) „ich frage mich, was sie diese trauerrede angeht.“ [ZJD_16.04.2007_Moh_001]

Implikatiert wird, dass (deutsche) Juden nicht dem deutschen Volk angehörig sind und daher auch kein Recht haben, die Rede eines „echten Deutschen“ (in diesem Fall geht es um Oettingers Rede anlässlich Filbingers Tod) zu kommentieren. Die Ab- und Ausgrenzung von Juden als Fremde ist zudem oft gekoppelt an die konzeptuelle Gleichsetzung von JUDEN und ISRAELIS, die sich im Sprachgebrauch als Synonymverwendung der Wörter Juden und Israelis zeigt. (4) „Die Taten die Deutschland im Krieg begangen hat, berechtigt die Juden nicht mit den Palästinensern jetzt das Selbe zu tun!“ [IBD_30.07.2006_Son_001]

In den Texten des Korpus finden sich auffällig oft Attribuierungen von Eigenschaftsstereotypen mittels sprachlicher Lexeme und Phrasen, die seit dem 19. Jh. kontinuierlich benutzt wurden, um Juden zu diffamieren (und die z. B. in der NS-Zeit besonders in den Reden Hitlers, Goebbels oder im „Stürmer“ anzutreffen waren). Insbesondere die Lexeme frech und Hetze in der Kombination jüdische Hetze und jüdische Frechheit werden häufig benutzt, um die Adressaten moralisch zu diskreditieren. _____________ 14 Vgl. auch die folgende Manifestationsvariante: „Ja, wenn sich die Juden und Ausländer benehmen in menschlichen Sinne, habe ich nichts entgegenzusetzen.“ [ZJD_06.04.2002_Klo_001].

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(5) „Was Sie [Paul Spiegel, MSF] als jüdischer Mitbürger praktizieren ist – gelinde gesagt – eine Frechheit. Ihre Arroganz und Unverschämtheit wird nur noch von Ihrem dümmlichen Stellvertreter übertroffen. Wann hören Sie endlich mit Ihren Hetzparolen und Schuldzuweisungen gegen die deutsche und jetzt lebende Generation auf?“ [im Anhang: Unterschriften von Freunden und Bekannten; ZJD_24.06.2002_Pin_001]

Dabei finden sich diese Lexem-Kombinationen von Hetze und frech weitaus häufiger in den Zuschriften an den ZJD als in den Sendungen an die IBD. Diese Verwendungshäufigkeit korreliert offensichtlich mit im mentalen Lexikon abgespeicherten Wortverbindungen bzw. assoziativen Verknüpfungs- und Kollokationsmustern der Art FRECHE JUDEN. Signifikant ist, dass auch diese (in der NS-Zeit usuelle) Sprachpraxis sich nicht primär bei Schreibern aus der rechtsextremen Szene findet, sondern vielmehr bei Verfassern, die der gesellschaftlichen Mitte zuzuordnen sind. Viele der Textproduzenten gerieren sich als wahre Humanisten, die sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzen (vgl. hierzu die Legitimierungsstrategien), sich aber von den „arroganten, frechen“ Juden provoziert oder gestört fühlen. So schreibt ein Chirurg an den ZJD: (6) „Eindringlich möchte ich Sie bitten, Herr Paul Spiegel, Ihre verdammte Arroganz abzulegen. Sie waren und sind arrogant und oberflächlich. … Ich bin Jahrgang 46. War in Jerusalem und habe dort einen Friedensbaum gepflanzt. Sie zerstören alles wieder. Wie soll ich ihr fehlverhalten meinen Kindern erklären?“ [ZJD_01.03.2005_Sch_001]

Der ehemalige Vorsitzende des ZJD Paul Spiegel wird moralisch diskreditiert (weil er sich für Solidarität mit Israel ausgesprochen hat), während der Verfasser sich gleichzeitig mittels positiver Selbstdarstellung legitimiert. Dies schafft die Basis für die Stigmatisierung und Verurteilung des „arroganten Juden“. Häufig spiegelt sich in solchen Texten zugleich auch das Stereotyp des UNVERSÖHNLICHEN und des NACHTRAGENDEN JUDEN wider: (7) „Für Leute wie Sie ist das Leben nur Kampf. Würden Sie sich versöhnen, wüssten Sie nicht mehr, was Sie tun sollen. Sie tun mir leid.“ [ZJD_18.05.2005_Ben_001]

In dieser E-Mail findet sich zudem die Unterstellung, dass Versöhnung der jüdischen Lebensweise konträr gegenübersteht. Sehr oft werden (wie in (8) von einer 37-jährigen Lektorin und Journalistin) mehrere Stereotype verbalisiert und argumentativ aneinandergereiht:

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(8) „Das deutsche Volk hat über Generationen hinweg genug Buße tun müssen – in Form von erdrückenden Steuergeldern für die Juden. Was gibt’s da also zu beschweren? Euch geht’s doch bestens – auf Kosten des Staates, auf Kosten von mir und meinem Mann z. B. als Steuerzahler! Ist das denn immer noch nicht genug?“ [ZJD_04.05.2005_Kar_001]

Neben den implizit vermittelten Konzeptualisierungen JUDEN ALS NICHT-DEUTSCHE und JÜDISCHE GIER manifestiert sich auch das Stereotyp der HOLOCAUSTAUSBEUTUNG. Oftmals wird dabei argumentiert, die Erinnerungskultur werde nur gepflegt, um über moralischen Druck Geld zu erpressen.15 Das Zurückweisen einer Erinnerungskultur gegenüber den Opfern des Holocaust ist gekoppelt an die Verweigerung eines emphatischen Gedenkens der umgebrachten Menschen. Juden stören allein aufgrund ihrer Existenz und ihres zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisses nach Erinnerung die ersehnte Ruhe der Deutschen vor der Konfrontation mit den NS-Taten. (9) „Tun Sie sich selbst einen Gefallen: … LASSEN SIE DIE VERGANGENHEIT UND DIE TOTEN ENDLICH RUHEN!!! Alles andere wirft auf die Juden nur ein falsches (und keinesfalls günstiges) Bild.“ [ZJD_04.05.2005_Kar_001]

Viele Verfasser wollen den gesellschaftlichen Druck der historischen Belastung, die als Zwang empfundene moralische Entrüstung nicht akzeptieren. So führt einerseits die Rebellion gegen die im staatlichen/offiziellen Diskurs angemahnte Moralverpflichtung, andererseits die emotionale Entlastungsstrategie zu einer teils aggressiven, teils trotzigen Abwehrhaltung. Die Verfasser kompensieren „ihren deutschen Makel“ durch Aggressivität gegen Juden und Israelis. Dann werden mittels der Opfer-Täter-UmkehrStrategie16 dem Opfer Täterprofile zugeschrieben, um das kollektive Schamgefühl zu relativieren. Vgl. hierzu (10) und (11): (10) „Vor allem irritiert mich, dass gerade die Juden, die durch ihre Erfahrung mit dem Hitlerregime sensibilisiert sein müssten, zu Kriegsverbrechern werden.“ [ZJD_31.07.2006_Gla_001] _____________ 15 Holocaustausnutzung und Kritiktabu sind die bei weitem am häufigsten verbalisierten Stereotype in den (bislang analysierten) Texten, deren Verfasser der Mitte zuzuordnen sind. 16 Zur Opfer-Täter-Umkehr-Strategie s. z. B. Bergmann/Erb (1991), Wodak (1990: 352).

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(11) „die Nachkommen der Opfer werden selbst zu unbeschreiblichen Tätern.“ [ZJD_01.08.2006_Bah_001]

Typischer Bestandteil dieses Entlastungsantisemitismus ist auch die Strategie des Leugnens bzw. Relativierens von (deutschem) Antisemitismus, wobei drei unterschiedliche Konzeptualisierungen zu unterscheiden sind: a) JUDEN FÖRDERN GENERELL DURCH IHR VERHALTEN ANTISEMITISMUS (vgl. (12)), b) JUDEN IN DEUTSCHLAND FÖRDERN ANTISEMITISMUS DURCH IHRE POSITIONIERUNG GEGENÜBER ISRAEL (vgl. (13)) und c) ISRAEL(ISCHE POLITIK) IST SCHULD AM ANTISEMITISMUS (IN DEUTSCHLAND; vgl. (14)). So befindet ein Beamter, der seit 30 Jahren bei der Bundeswehr arbeitet: (12) „irgendwie entsteht in der brd ein neuer judenhass – auch dank ihrer mithilfe.“ [IBD_02.05.2007_Moh_001]

Ein Bürger aus Hildesheim verknüpft seine Beschwerde mit einem entsprechenden Vorwurf, der einen direkten kausalen Zusammenhang konstatiert: (13) „Es ist einfach niederträchtig von Ihnen, jedes Wort der Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus gleichzusetzen. Sind Sie sich eigentlich bewußt darüber, dass Sie mit Ihren Äußerungen erst das hervorrufen, was Sie beklagen?“ [ZJD_02.09.2006_Pap_001]

Ein Bedburger gibt die Erklärung expressis verbis formuliert: Antisemitische Aktivitäten resultieren einzig aus dem intolerablen Verhalten aller Israelis. (14) „Und sie beschweren sich über die wachsende Judenfeindliche Handlungen in Europa? Das sind sie selber schuld. … Denn die Israelis betreiben Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz“ [IBD_04.07.2007_Dro_001]

Gleichzeitig werden in diesem Zusammenhang genuine antisemitische Tendenzen geleugnet oder relativiert und damit die Verantwortung abgelehnt bzw. verschoben. (15) „Meine Generation hat den Juden niemals etwas getan und wird es auch nicht. … Ihr Verhalten erzeugt nur weiteren Hass zwischen meiner Generation und den Juden. Wir haben mit unserer Vorgängergeneration nichts zu tun und sind bereit zu jeder Form der Völkerverständigung.“ [ZJD_09.11.2008_Det_001]

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Die Bagatellisierung des „deutschen Antisemitismus“ wird dabei stets durch die Behauptung vorgenommen, dass es keine (oder keine ernst zu nehmende) Judenfeindschaft in der deutschen Mehrheitsgesellschaft gäbe.

Anti-Israelismus: Israel als jüdisches Kollektivsymbol Das auffälligste Merkmal im gesamten Korpus ist die Verknüpfung bzw. Gleichsetzung von negativen israelischen und jüdischen Aspekten. Nahezu jede Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, sei es Rechtsextremismus oder die Rede Oettingers, führt in der textuellen Argumentation zu einer konzeptuellen Verschiebung und Erweiterung auf das mentale Schema ISRAEL. Auch wenn es bei dem Anlass gar nicht um Israel geht, verweisen nahezu alle Schreiber der Briefe/E-Mails auf die israelische Politik und beziehen ihre (extrem) negative Haltung und starke emotionale Bewertung dazu dann auf die jeweilige Person des ZJD oder auf alle Juden. In der sprachlichen Form verschmelzen antisemitische, antizionistische und anti-israelische Referenzbereiche geradezu nahtlos, was sich in der Synonymsetzung der Lexeme Israeli, Jude, Zionist zeigt. Zentralrat und Botschaft (immerhin zwei ganz verschiedene Institutionen)17 wird vorgeworfen, sie unterstützten mit Israel ein „Unrechts- und Apartheidregime“, einen „zweiten NS-Staat“. Israel wird mittels hyperbolischer Dä_____________ 17 Eine Umfrage unserer Forschergruppe unter 20 Botschaften in Berlin hat gezeigt, dass verbale Aggressivität und stereotypes Argumentieren bzw. stereotypes Referieren auf Volksgruppen bei keiner anderen Botschaft auftritt. Nur in Zuschriften an die Israelische Botschaft treten ausschließlich negative Bezugnahmen auf die repräsentierte Nation und generalisierte Vorurteilsstrukturen auf. Die Schreiberintentionen der Zuschriften, die andere Botschaften erreichen, sind eher persönlich-informativer Art, nicht aber aggressiv oder bösartig. In Ausnahmefällen sind Zuschriften aufgetreten, die höchstens die innenpolitischen Faktoren und Ereignisse des repräsentierten Landes kritisieren bzw. humanitäre Standards anzweifeln (so bei China und Ungarn). Zudem wurden viele positive Unterstützungsschreiben registriert. Die Algerische Botschaft verzeichnet beispielsweise eine Vielzahl von E-Mails und Briefen, in welchen die schlechte Situation der Muslime in Deutschland kritisiert wird und somit ein Appell an die Botschaft ergeht, die Situation zu verbessern und sich mehr mit der muslimischen Bevölkerung in Deutschland zu solidarisieren. Muslimfeindliche Stereotype traten jedoch nach Aussage der Mitarbeiter nicht auf. Dies belegt, dass es sich bei den Zuschriften an die Israelische Botschaft um ein spezifisches Problem handelt, und bestätigt den Zusammenhang von Israelfeindschaft und Antisemitismus.

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monisierungen charakterisiert und als ein Grundübel stigmatisiert (vgl. hierzu auch Wistrich 1999): (16) „Israel ist das mit Abstand größte Übel auf der Welt … und jene, die Sie unterstützen, sind auch nur ‘gekauft!’“ [ZJD_25.10.2006_Sch_001]

Die Delegitimierung Israels wird besonders häufig mittels diverser NSVergleiche vorgenommen (vgl. hierzu Eitz/Stötzel 2007: 3, SchwarzFriesel 2007: 195–199): (17) „Israel macht nichts anderes wie es HITLER gemacht hat!“ [ZJD_04.05.2007_Hof_001] (18) „Warum regen Sie sich eigentlich über die Nazis auf? Sie sind doch keinen Deut besser! Kriegsverbrecher!“ [IBD_01.09.2006_002]

Die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr ist hier charakteristisch: Schuld und Schande für den von den Deutschen begangenen Zivilisationsbruch werden abgewehrt bzw. verringert, indem auf israelischer (und gleichzeitig jüdischer) Seite Täterschaft und moralische Verkommenheit konstruiert werden. (19) „Ich jedenfalls werde meinen Mund bestimmt nicht halten und die Verbrechen der Israelis, also der Juden, überall öffentlich machen.“ [IBD_04.07.2007_Dro_001]

Die extreme Negativ-Konzeptualisierung von Israel wird auf alle Juden (bzw. fokussiert auf deutsche Juden) transferiert: Entweder alle Juden werden als Kollektiv für die Politik Israels in die Verantwortung genommen oder der Staat Israel für alle Übel der Welt (nicht nur im Nahostkonflikt) verantwortlich gemacht. Dabei finden sich vermehrt die konzeptuellen Verschmelzungsstereotype JUDEN/ISRAELIS = TÄTER und ISRAEL ALS VERBRECHERSTAAT = JUDEN SIND VERBRECHER. Die Argumentation wird jedoch häufig verteidigt als „legitime Israel-Kritik“ (wobei der Vorwurf des Antisemitismus antizipiert und zurückgewiesen wird): (20) „Nun bitte nicht mit den alten Klischees argumentieren, wer Israel kritisiert, wer Israel eine Mörderregierung bescheinigt, ist ein Antisemit.“ [ZJD_06.04.2002_5]

Diese kommunikative Strategie hat für die Schreiber den Vorteil, Schuld zu projizieren und Täterschaft zu konstruieren, ohne sich dem Verdacht

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auszusetzen, ein Antisemit zu sein. Auf Israel wird verwiesen, tatsächlich aber geht es auf einem verbalen Umweg gegen Juden und Judentum. So verschmelzen vergangenheitsbezogene Erinnerungsabwehr und gegenwartsbezogener Antisemitismus auf der Projektionsfläche Israel. Israel, das als Kollektivsymbol für Juden und Judentum konzeptuell elaboriert wird, dient den Schreibern als kollektiver Jude (s. auch Klug 2003). Diese konzeptuelle Lesart aber wird vehement geleugnet und mit den Stereotypen MEINUNGSDIKTAT (besonders häufig als Auschwitzkeule verbalisiert) sowie TABUISIERUNG von Israel-Kritik verknüpft und als Argument des mutigen Meinungsverfechters vorgebracht (und dadurch als legitim reinterpretiert). Zahlreiche direktive Sprechakte, die oft als Imperative verbalisiert werden, fordern die Adressaten unmissverständlich zu bestimmten Handlungen auf: (21) „Verlassen Sie das Land der Palästinenser!“ [IBD_22.03.2004_Sch_001]

Viele Schreiber fordern zu Sanktionen und Strafmaßnahmen auf. So fordert ein Hamburger, der sich vorher als Friedensaktivist bezeichnet hat: „Deutsche, kauft keine israelischen Früchte“ (ZJD_10.08.2006_Neu_ 001). Derartige Aufforderungen sind verbal strukturidentisch mit den Boykott-Aufrufen in der NS-Zeit. Immer wieder taucht die Frage auf, ob „es nicht erlaubt sei, seine Meinung frei zu sagen?“. Dass kein anderes Land der Welt so oft, so heftig und so öffentlich kritisiert wird wie Israel, wird mit einer klaren persuasiven Absicht ignoriert, denn mittels dieser Frage kann sich der Verfasser als wahrhafter Demokrat und Verfechter der Meinungsfreiheit inszenieren.

„Ich bin ein wahrer Demokrat und Menschenfreund“ – Legitimierungs- und Rechtfertigungsstrategien Die judenfeindlichen Stereotype und anti-israelischen Diffamierungen sind argumentativ fast immer eingebettet in Legitimationsstrategien. Hierbei handelt es sich um kommunikative Strategien, mit denen die Verfasser den

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Inhalt ihrer Schreiben zu rechtfertigen suchen.18 Positive Selbstdarstellungen sind im Textkorpus frequente Muster der (Selbst-)Legitimierung: Die Textproduzenten stellen sich als demokratisch verankerte, politisch korrekte sowie menschlich-moralisch integere Persönlichkeiten dar und rechtfertigen damit die moralische Diskreditierung von Juden bzw. Israelis sowie die vorgebrachte Kritik. Beispiel (22), verfasst von einem Professor, ist hierfür exemplarisch: (22) „… möchte ich als Rechtswissenschaftler, der sich von Haus aus um Ausgleich und Gerechtigkeit bemüht, folgendes bemerken: Der Zentralrat der Juden könnte dem verbreiteten Eindruck, er folge stets der Linie der israelischen Regierung, am besten dadurch entgegenwirken, daß er sich nicht einfach ohne weiteres in allen Punkten mit der israelischen Politik identifiziert … Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen“ [ZJD_25.09.2006_Hip_001]

Die Spannung zwischen dem gesellschaftlichen Druck, beweisen zu müssen, kein Antisemit zu sein, und dem Bedürfnis, Juden mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu konfrontieren, suchen die Schreiber zu lösen, indem sie mittels verbaler Kodierungen Umdeutungen vornehmen, denen zufolge ihre Bewertungen wahrhaftig und gerechtfertigt erscheinen. Benutzt werden daher auch Rechtfertigungsstrategien: Die Schreiber verweisen dann entweder auf israelkritische Medienberichterstattungen und/oder sogenannte „Vorbilder“ (wie Möllemann, Hohmann, Blüm, Steinbach, Neudeck) und/oder auf Juden (wie Grosser, Judt, Chomsky, Langer), die sich kritisch zu Israel und/oder Judentum geäußert haben (s. hierzu Friesel, in diesem Band). (23) „Die deutlichen Worte des Berliner Arbeitskreises Nahost (vgl. Süddeutsche Zeitung, 9.4.2002, S. 12) habe ich daher mit großer Zustimmung gelesen. Völlig richtig erklärt der Berliner Jude Fritz Teppich, daß Kritik an Israel nicht zwangsläufig antisemitisch ist und eine Verpflichtung für den deutschen Staat darstellt – und auch für die Juden in Deutschland.“ [ZJD_09.04.2002_Sto_001]

Diese Verweise auf gesellschaftliche bzw. fachliche „Autoritäten“ dienen der Absicherung und Untermauerung der eigenen Position. In diesem Zusammenhang findet sich auffällig oft die konzeptuelle Kontrastierung _____________ 18 Wodak (1990) hat vor 20 Jahren bei ihren Analysen zu Antisemitismen im österreichischen Diskurs bereits sehr ähnliche Argumentationsmuster und Strategien transparent gemacht.

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GUTE JUDEN versus SCHLECHTE JUDEN. Beispiel (24) aus der Zuschrift eines Berliners ist typisch hierfür: (24) „Die Generation der unverschuldet geschmähten und ermordeten Juden will ich achten und ehren. Aber die jetzigen Juden spielen sich als Herrenmenschen auf(wohl abgeschaut) und um ihren Größenwahn zu befriedigen, führen sie barbarische Kriege und sind Mörder. und gehören auf die Liste der Terroristen.“ [ZJD_30.07.2006_Sur_001]

Die „guten Juden“ sind in diesen Argumentationsmustern entweder tot oder extreme Israelkritiker, die „schlechten Juden“ leben und benehmen sich moralisch verwerflich. Damit wird das Konzept JUDE im positiven Sinne auf nicht mehr lebende OPFER oder im negativen Sinne auf lebende Aggressoren und damit TÄTER reduziert. Die bereits erwähnten Abschwächungs- sowie Vermeidungsstrategien dienen dem Zweck, die radikale Semantik moralisch vertretbar artikulieren zu können. In Beispiel (25), von einem promovierten Soziologen aus Berlin an die IBD geschickt, werden der inadäquate NS-Vergleich (dessen politische Brisanz dem Verfasser wohl bewusst ist) und die moralische Diskreditierung der israelischen Bevölkerung mittels diverser sprachlicher Mittel (Modalpartikel bitte, Emotionsausdruck besorgt, Abschwächung durch Quasi-Entschuldigung sehen Sie mir nach…) entradikalisiert. (25) „Das ist ein Verbrechen und – sehen Sie mir bitte diesen Vergleich nach – diese Art von Attacken erinnern mich leider immer mehr an das Vorgehen der deutschen Nazis gegen die jüdische Bevölkerung in den Ghettos! … Ich hoffe sehr, die israelischen Entscheidungsträger und die Bevölkerung wachsen hinsichtlich moralischer Reife. … Mit entsetzten und äußerst besorgten Grüßen Shalom“ [IBD_12.06.2006_Goe_001]

Zugleich erfolgt eine sprachliche Umdeutung der tatsächlich vollzogenen Sprachhandlung „diffamierende Kritik“, die stattdessen als „besorgte Anteilnahme“ präsentiert wird (zu den Sprechakttypen und ihrer Realisierung im Korpus s. Malicke 2009). Die kommunikativen Absichten der Schreiber, also KRITIK FORMULIEREN, AUFFORDERN oder BELEIDIGEN, werden in Form von Aussagesätzen oder rhetorischen Fragen realisiert und

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so abgeschwächt/entschärft, Diffamierungen und Beschimpfungen als „berechtigte Kritik“ dargeboten.19 (26) „Wie ich hoffe, werden Sie diesen Brief nicht als Kritik verstehen, sondern als Zeichen der Anteilnahme und der Wertschätzung.“ [ZJD_25.09.2006_Hi_001]

Entsprechend wird die Kritik des Verfassers von (26) als „Anteilnahme und Wertschätzung“ deklariert. Solche assertiven Sprechakte (wie sagen, feststellen) haben normalerweise die Funktion, den Wahrheitswert des ausgedrückten Inhalts festzulegen. Bei den Zuschriften an ZJD und IBD drücken diese Sprachhandlungen dagegen Beleidigungen, Diffamierungen und/oder subjektive Einschätzungen aus. Über diese Strategie wird der Wahrheitsanspruch der Aussagen pseudo-objektiv legitimiert. (27) „Heute stelle ich fest: die Gründung des Staates Israel… war angesichts der gerade überwundenen Nazi-Gräuel nicht zu verhindern. Fest steht aber, dass diese Staatsgründung … eine völkerrechtswidrige Handlung war.“ [ZJD_08.11.2007_Wen_001]

Es manifestiert sich in den Texten generell ein großes Bedürfnis der Schreiber, Juden und Israelis Ratschläge zu erteilen: Als Grund werden stets Sorge und Verantwortungsbewusstsein genannt.20 Die Argumentation ist allerdings kontinuierlich durchsetzt von antisemitischen und antiisraelischen Stereotypen. Text (28) ist hierfür ein (proto-)typisches Beispiel: (28) „Sehr geehrter Herr Spiegel, mit zunehmendem Schrecken verfolge ich die Geschehnisse im Nahen Osten … Als Doktorandin der Geschichte und zukünftige Gymnasiallehrerin halte ich es gerade für Deutschland eine besondere Verpflichtung, sich gegen Diskriminierung und Verfolgung zu wenden – gerade auch im Falle des palästinensischen Volkes.“ [ZJD_09.04.2002_Sto_001] _____________ 19 Aus linguistischer Sicht muss hier analytisch eine Re-Klassifikation der Sprachhandlungsfunktionen (Illokutionen) vorgenommen werden. Die Illokution der oben genannten Direktiva wird also u. a. als Assertiv realisiert. 20 Hier ist ausdrücklich zu betonen, dass im Korpus tatsächlich (wenn auch in sehr geringer Anzahl) Zuschriften zu finden sind, die von genuin besorgten Bürgern geschrieben wurden. Diese E-Mails/Briefe weisen keine der beschriebenen VerbalAntisemitismen auf und ihre Verfasser bekunden glaubwürdig Anteilnahme oder Sorge.

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Angeprangert wird der „Staatsterror des angeblich demokratischen Staates Israel“ (mit der Implikatur: ‚Israel ist kein demokratischer Staat‘; angezeigt durch das Adverb angeblich), „der keine einfache Verteidigung gegen Terrorismus ist“ (Implikatur: ‚also keine Notwehr, sondern willkürliche Aggression und zielgerichtete Gewalt‘). Der Missbrauchsvorwurf an die lebenden Juden fehlt ebenso wenig wie die damit verbundene OpferTäter-Umkehr sowie die konzeptuelle Gleichsetzung von Juden und Israelis: (29) „Warum distanzieren Sie sich nicht von der fatalen Haltung so vieler Juden, die die leidvolle Geschichte ihres Volkes dazu mißbrauchen, eigene Unrechtstaten in der Gegenwart zu verdecken?“ [ZJD_09.04.2002_Sto_001]

Signifikant sind die daran gekoppelten indirekt formulierten Drohungen und Schuldzuweisungen an den ZJD: (30) „Ich möchte Sie auffordern, dies in aller Deutlichkeit ebenfalls zu tun. Kann sich Ihre Organisation hierzu nicht durchringen, werden auch die Juden in Deutschland einen massiven Ansehensverlust erleiden. Mit freundlichen Grüßen“ [ZJD_09.04.2002_Sto_001]

Die Implikaturen sind evident: dass deutsche Juden kollektiv für die israelische Politik mitverantwortlich sind und dass sie aufgrund ihres moralisch verwerflichen Handelns selbst Antisemitismus provozieren. Dem ausgeprägten Hang zur Selbstgerechtigkeit steht die Neigung zur Seite, Juden und/oder Israelis als Sündenböcke abzustempeln bzw. sie zu diskreditieren. Die Aneinanderreihung mehrerer Stereotype und die pseudo-rationale Beweisführung der Verfasserin sind exemplarisch für viele der bislang in unserem Projekt analysierten Korpustexte, hinter denen sich teils offensiv die emotionale Aggressivität, teils defensiv die implizite Schuld- und Erinnerungsabwehr zeigen. Simuliert wird mittels argumentativer Ketten ein kohärentes Netz von Plausibilitätsrelationen, das auf einer geschlossenen judenfeindlichen Konzeptualisierung basiert. Der mit teilweise aufwendigen Schreibprozessen verbundene kognitive Aufwand, ein Argument nach dem anderen niederzuschreiben, belegen die Motivation und das große emotionale Bedürfnis der Verfasser, sich elaboriert rechtfertigen zu wollen. Als Einstieg für Legitimations- und Rechtfertigungsstrategien dient vielen Schreibern die Beteuerung, keineswegs antisemitisch zu sein:

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(31) „Herr Kramer, … ich bin NICHT antisemitisch.“ [ZJD_18.05.2005_Ben_001] (32) „(Ich bin SPD Wähler, schon immer) … Wie gesagt, Ich als Durschnittsdeutscher äußere Ihnen hier meine Gedanken. Ich bin kein Nazi. Kein Rechtswähler und kein Judenhasser.“ [ZJD_2009_Gaza014]

Zusätzlich erfolgt häufig der Verweis, dass der Sprecher nicht allein mit seiner Meinung stehe: Diese Strategie der inklusiven (den Schreiber mit einbeziehenden) Meinungsgeneralisierung dient der Absicherung, dass die negative Haltung nichts Exzeptionelles, sondern vielmehr eine von vielen Deutschen getragene, normale Einstellung sei (vgl. hierzu bereits Bsp. (5)). Die exklusive Variante wie in (33), wo der Schreiber angibt, es handele sich nicht um seine eigene, sondern um die Meinung seiner Bekannten, dient ebenfalls der Absicherung, wird aber primär als Abschwächungsund Entlastungsstrategie benutzt: (33) „Hier hat man den Eindruck die Juden fühlen sich wohler, je mehr Feinde sie um sich haben. Und ich spreche hier nicht von mir, sondern das ist die Reaktion aus meinem Bekanntenkreis. Diese, sonst gemäßigte Rechts- und auch Linkswähler, bekommen in der Diskussion über dieses Thema richtig extremistische Gedanken. Ich bin gespannt, wie Ihre Antwort ausfällt.“ [ZJD_24.03.2005_Dei_001]

Durch diesen Verweis und das Abschieben der Verantwortung für die vertretene radikale Meinung sichert sich der Schreiber gegenüber eventuellen Reaktionen der Adressaten ab, indem er seine feindselige Gesinnung anderen zuordnet. Indem die Verfasser unter Rekurs auf ein allgemeines Meinungsbild die antisemitischen Inhalte als gesellschaftsfähiges Gedankengut verbalisieren und als anti-antisemitisch deklarieren, legitimieren sie ihre Radikalität vor den Adressaten und vor sich selbst.

Emotionale Einstellungen und zweierlei Maß an Empathie Dass Antisemitismus nicht nur als kognitive Kategorisierung, sondern auch als emotionale Einstellung zu bewerten ist, kann in den Texten deutlich konstatiert werden. Die Briefe und E-Mails sind oft sehr emotional gehalten und weisen zahlreiche Verbalformen des (intensiven) Emotionsausdrucks auf (s. hierzu Schwarz-Friesel 2007: 144 ff., 336 ff.). Die

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Schreiber drücken ihre „ohnmächtige Wut und Empörung“, ihren „großen Ärger“ und „unmäßigen Zorn“ aus, wenn es um die „Schandtaten der Israelis“ oder die „freche Komplizenschaft des Zentralrats“ geht: (34) „Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit möchte ich meine Empörung und meine Abscheu über die menschenverachtende und verbrecherische Politik der israelischen Regierung zum Ausdruck bringen.“ [ZJD_31.07.2006_Sch_003]

Sie bekunden „tiefes Mitleid“ mit den „Opfern der jüdischen Brutalität“, und „großen Kummer“ und „aufrichtige Sorge“ angesichts der „tieftraurigen Lage der gequälten Palästinenser“. Unverhältnismäßig weniger intensiv bzw. teilweise komplett ausgeblendet sind dagegen die Gefühle für die Opfer des Holocaust und ihre Nachkommen oder die israelischen Leidtragenden palästinensischen Terrors. Bei solchen E-Mails überwiegt die stark einseitig perspektivierte Evaluation des Nahost-Konflikts: Gewaltverbrechen der Hamas und terroristische Selbstmordattentate finden entweder gar keine Erwähnung oder werden als Notwehr o. Ä. umgedeutet. Israels Militäraktionen gegen die Attentäter oder Reaktionen auf Raketenbeschuss werden als mutwillig böse, moralisch verwerflich, unangemessen und willkürlich dargestellt. Diese Bewertungsasymmetrie zieht sich kontinuierlich durch die Argumentation und geht mit massiven Realitätsverdrängungs- und Ausblendungsprozessen einher. Das Ergebnis ist eine Dämonisierung und kognitive De-Realisierung Israels, welche die Grundlage für die Intensität der extremen Negativemotionen ist. Viele Schreiber empfinden entsprechend „nur Wut und Hass gegen Israel“ und artikulieren (wie die Hausfrau in (35)) sogar Verwünschungen: (35) „… soll auch Israel keine Ruhe finden und in Angst vor den nächsten Attentaten leben.“ [ZJD_24.06.2002_Mau_001]

Drastisch ist der Emotionsausdruck auch, wenn die eigene Erinnerungsund Schamabwehr thematisiert wird: (36) „Aber wir müssen ja wieder an unsere ewige Kollektivschuld erinnert werden. Immer und immer wieder – bis es auch dem letzten zum Hals raushängt und sich antisemitische Gefühle entwickeln.“ [ZJD_01.05.2006_ano_001]

Das Zurückweisen der Erinnerungskultur ist gekoppelt an die Verweigerung eines emphatischen Gefühls. Keinerlei Verständnis wird für das Be-

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dürfnis der Opfernachkommen gezeigt, Erinnerung wachzuhalten. Im Gegenteil: Dieses Bedürfnis wird den Betroffenen als „Ruhestörung“ und „Grund für Antisemitismus“ vorgeworfen (vgl. Bsp. (9)). Es findet sich also zweierlei Maß bei der Empfindung bzw. Bekundung von Empathie: Empathie-Abwehr und -Verweigerung in Bezug auf Juden und Israelis einerseits, andererseits ostentative Empathie für die Palästinenser. Dabei verschmelzen vergangenheitsbezogene Schamabwehr und gegenwartsbezogenes Selbstmitleid (vgl. hierzu auch Salzborn, in diesem Band). Die eigene historische Schande soll durch die aktuellen Verweise auf israelische Menschenrechtsverletzungen minimiert oder relativiert werden. Die scheinbare Identifikation mit den Opfern des „israelischjüdischen Terrors“ basiert tatsächlich auf einer Gefühlsprojektion und transferiert das eigene Selbstmitleid (angesichts der Last der deutschen Vergangenheit) auf eine moralisch wie gesellschaftlich akzeptable Ebene: das Mitgefühl. Das bekundete „Mitleid“ erfüllt den Zweck, mittels Empathieprojektion das eigentlich im Fokus stehende Selbstmitleid zu legitimieren und auf eine Ebene zu transferieren, die den inneren Konflikt umgeht, sich als mitleidlose, egoistische und antisemitische Persönlichkeit zu erkennen. Die Identifikation mit den „Opfern“ dient am Ende stets nur der Empathie mit sich selbst. Dem gebildeten Antisemiten dienen die Schuldzuweisungen einerseits und die Sympathiebekundungen anderseits als Entlastung. In diesem Sinne sind es persuasive Strategien mit einer doppelten Funktion: Sie sind nicht nur auf den Adressaten ausgerichtet, sondern auch selbstbeeinflussend auf den Verfasser des Textes. Er kanalisiert so offensiv wie defensiv seine auf zwei Ebenen ausgerichteten negativen Gefühle.

Fazit Die Zwischenergebnisse der Korpusanalyse zeigen, dass die aktuellen Manifestationsformen des Verbal-Antisemitismus kognitiv durch den konzeptuellen Transfer von antijüdischen Stereotypen und Vorurteilen auf die Projektionsfläche Nahost geprägt sind (was als eine weltweite Tendenz zu konstatieren ist). Emotional sind die Verbal-Antisemitismen stark durch Schamabwehr und Erinnerungsverdrängung sowie projiziertes Selbstmitleid bestimmt: Der vor anderen und sich selbst geleugnete Antisemitismus erhält das Wunschbild des vorurteilsfreien, verantwortungsbewussten

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Bürgers aufrecht. Diese Konstellation ist (aufgrund der besonderen Geschichte) typisch für den deutschen Diskurs. Die Verfasser antisemitischer Schreiben, die der Mitte zuzuordnen sind, verschlüsseln ihre judenfeindlichen Vorurteile oft mittels impliziter oder re-klassifizierter Sprachformen und benutzen verschiedene Typen von Legitimierungsstrategien, um ihre semantisch radikale Argumentation einerseits zu rechtfertigen und anderseits mittels verbaler Kodierung konzeptuell umzudeuten. Die Schreiber präsentieren sich selbst als Anti-Antisemiten, deren Gewissen, moralische Integrität und Verantwortungsbewusstsein es verlangen, Stellung zu beziehen gegen die aus ihrer Sicht moralisch verwerflichen Juden und/oder Israelis. Dieser „Antisemitismus ohne Antisemiten“ gibt sich antirassistisch und ehrbar, bedient sich aber nahezu aller gängigen judenfeindlichen Stereotype und Vorurteile, benutzt dämonisierende NS-Vergleiche und artikuliert sich über einen extremen Anti-Israelismus.

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Halbierte Empathie – Antisemitische Schuldprojektion und die Angst vor der eigenen Vergangenheit Samuel Salzborn „Alles, was damals schon das Wissen, sei es objektiv verhinderte, sei es subjektiv verdrängen ließ, versammelt sich zur Selbstentlastung.“ Theodor W. Adorno (1955: 156)

Im Unterschied zur Erforschung struktureller und funktioneller Aspekte des Politischen gestaltet sich der methodische Zugang zur „Mitte der Gesellschaft“ oftmals schwierig (vgl. Salzborn 2009). Neben den Unschärfen in der Konturierung des konkreten Forschungsgegenstandes ist eine der größten Herausforderungen der Feldzugang. Die Gewinnung von validen Daten über die Prägungen einer politischen Kultur, ihre dominanten und weniger dominanten Züge, wird noch erschwert, wenn das Interesse der Forschung einem Phänomen gilt, von dem die Beforschten (zutreffend oder auch unzutreffend) annehmen, ihre weltanschaulichen Vorstellungen und tagespolitischen Einstellungen könnten in Konflikt mit der Mehrheit der Gesellschaft stehen. Die damit unterstellte soziale Erwünschtheit von bestimmten Positionen und die, ebenfalls angenommene, Ablehnung von anderen, erschwert die Gewinnung von stichhaltigen und substanziellen Aussagen, die Grundlage für eine über Einzelfalldarstellungen oder die Formulierung von Typologien hinausweisende Interpretation wären. Methodisch schwierig ist dabei vor allem die Vermischung von kognitiven und emotionalen, von rationalen und irrationalen Momenten in der Selbstwahrnehmung, die zu Verzerrungen und Rationalisierungen führt. In der Antisemitismusforschung haben vor allem Werner Bergmann und Rainer Erb (1990: 279 ff.), Wolfgang Benz (2004: 27 ff.), Susan Gniechwitz (2006) und Monika Schwarz-Friesel (2007: 327 ff.; 2009a) versucht, Wege zu finden, wie trotz derartiger Verzerrungseffekte valide Aussagen über antisemitische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft

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Samuel Salzborn

getroffen werden können, die auch die emotionale Dimension umfassen und über rein quantitative Angaben hinausgehen, und trotzdem nicht nur bestimmte Eliten, publizierte Meinungen oder anderweitig bereits öffentlich verfügbares Material berücksichtigen. Die Schwierigkeit liegt dabei darin, dass aus der Mitte der Gesellschaft zwar ohne Frage (partei-)politische Eliten, Medien, politische und gesellschaftliche Gruppierungen, kurz: alle Formen organisierter Politik gut erforschbar sind (vgl. Bergmann/Erb 1990; Faber et al. 2006; Frindte 2006; Haury 2002; Kloke 1994; Markovits 2004; Rensmann 2004), diejenigen der politischen Haltungen jenseits des organisierten und medialisierten Interesses sich aber gleichsam fast einer verallgemeinerbaren Aussage entziehen. Muss deshalb der Antisemitismus der gesellschaftlich zumeist gut angepassten, aber nicht explizit politisch aktiven Durchschnittsantisemit(inn)en ausschließlich ein Feld der quantitativen Sozialforschung bleiben, die über Prozentanteile an Zustimmungen oder Ablehnungen zu einzelnen antisemitischen Äußerungen – und damit die weitgehend bewusste, weltanschauliche Dimension des Antisemitismus – hinausgehend zur Aufklärung von latenter Struktur, (psycho-) dynamischer Funktion und emotionaler Interaktion des Antisemitismus der „kleinen Leute“ in der Mitte der Gesellschaft nur begrenzt beitragen kann? Obgleich das methodische Instrumentarium der sozialwissenschaftlichen Forschung an dieser Stelle noch einer erheblichen Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung bedarf, kann im Folgenden eine Studie vorgestellt werden, in der versucht wurde, den latenten Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft und damit den Antisemitismus derer, die zumeist nicht als Antisemit(inn)en gelten wollen (vgl. Marin 2000; Scherr/ Schäuble 2007) zu untersuchen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei auf einer Kontextualisierung des Zusammenhangs von antisemitischer Schuldprojektion und einem mit Angst besetzten Gefühl gegenüber der eigenen Vergangenheit.1 Bisher wurde vor allem die rationalisierende Dimension der antisemitischen Schuldprojektion betont, in der es um die Abwehr der Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah geht, die zuvörderst aus Gründen der psychischen Hygiene (vgl. Grunberger/ Dessuant 1997: 299) vollzogen wird. Entscheidend ist aber, dass die Struktur des Projektionsmechanismus auf der psychodynamischen Ebene weiter geht und – im Sinne einer Persönlichkeitsstrukturierung – zu einer bemer_____________ 1 Vgl. zum Gesamtprojekt und zu einer ausführlichen Diskussion des empirischen Materials: Salzborn 2008a, 2008b.

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kenswerten Entgegensetzung führt: Dass der Antisemit das abstrakte zugunsten des konkreten Denkens verachtet, ist gemeinhin bekannt; diese Haltung gegenüber dem Denken korrespondiert aber überdies mit einer (Un-)Fähigkeit im Fühlen, denn der Antisemit kann zugleich nicht konkret fühlen, sondern nur abstrakt. Das Einzelschicksal wird vernebelt in einer abstrakten Kollektivierung, die zu einer Halbierung von Empathie führt, die Monika Schwarz-Friesel (2009b: 183 f.) auch kürzlich konstatiert hat. Auf diese Weise können Antisemit(inn)en nur noch Mitleid mich sich selbst haben, weil sie – mit Jean-Paul Sartre (1945) gesprochen – den Stillstand lieben und emotional versteinert sind. Der antisemitische Affekt, die mit der Schuldprojektion einhergehende wahnhafte Erregung, in die sich Antisemit(inn)en versetzen, geht einher mit der Unfähigkeit des emotionalen Mitleidens. Die halbierte Empathie besteht somit lediglich in einer ontologischen Trauer um sich selbst, die historisch betrachtet zur Lüge und gesellschaftlich überdies zur aufklärungsresistenten Ideologie wird.

Zum Design der Studie Den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Untersuchung bildete eine repräsentative Erhebung im Jahr 2005, in der neben Fragen zum Antisemitismus auch andere Elemente eines empirisch bestimmten Syndroms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF-Survey) und damit unterschiedliche Formen von Diskriminierung(sbereitschaft) abgefragt wurden. Die repräsentativen Daten des Survey wurden in Telefonbefragungen durch geschulte Interviewer(innen) von Infratest Sozialforschung (tns-Infratest München) erhoben. Befragt wurden insgesamt 2.000 Personen im Alter von 16 bis 94 Jahren, darunter 43,6 % Männer und 56,5 % Frauen. Die Verteilung von Personen aus Westdeutschland lag bei 74,8 % und aus Ostdeutschland bei 25,2 % (vgl. Heitmeyer 2006: 34 f.). In Anlehnung an das von Christian Seipel und Peter Rieker (2003: 243 ff.) beschriebene Integrationskonzept eines Nacheinander von quantitativer und qualitativer empirischer Forschung wurden antisemitische Einstellungen dann im Rahmen einer qualitativen Zusatzstudie untersucht, die als Substichprobe aus der Grundgesamtheit des GMF-Surveys 2005 gezogen wurde. Methodisch besonders geeignet schien hierfür das Tiefeninterview, da es dazu geeignet ist, nicht kommunizierte Motive – seien sie bewusst verschwiegener oder unbewusst verdrängter Natur – aufzudecken.

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Ziel war dabei vor allem, hinter die manifeste Oberflächenstruktur des Antisemitismus zu kommen, seine politisch-psychologischen Dynamiken zu dechiffrieren und seine assoziativen Kontexte herauszuarbeiten. Die Notwendigkeit der Verknüpfung einer quantitativen mit einer qualitativen Methode kann dabei in Anlehnung an und Erweiterung von Philipp Mayring (2001) als kontextualisierendes Vertiefungsmodell beschrieben werden, da einerseits Einzelfälle innerhalb der Grundgesamtheit des GMFSurveys identifiziert und vertiefend analysiert werden können und folglich eine quantitative Studie durch qualitative Analysen weitergeführt werden kann. Damit wurde andererseits auch eine tiefenhermeneutische Kontextualisierung verbunden, die über die von Mayring beschriebene Vertiefung hinausgeht. Bei der Substichprobe aus dem GMF-Survey 2005 handelte es sich um eine verbundene, selektive und geschichtete Stichprobe. Die Verbundenheit ergibt sich aus der beschriebenen Verknüpfung des Surveys mit den Tiefeninterviews, die Selektivität aus der im Survey abgefragten Bereitschaft zur Teilnahme an einer Zusatzstudie und die Schichtung aus der bewussten Auswahl in Bezug auf die Zustimmungswerte beim Antisemitismus. Der Substichprobenumfang ergab sich damit notwendig aus der Kombination von Selektivität und Geschichtetheit: Die Summe potenzieller Proband(inn)en ergab sich aus denen, die im Fragebogen einem zusätzlichen Interview zugestimmt und zugleich mittlere bis hohe Werte beim Schuldabwehr-Antisemitismus aufgewiesen hatten.2 Die bewusste Auswahl derjenigen Personen mit mittleren bis hohen Werten beim Schuldabwehr-Antisemitismus und damit die Schichtung der Stichprobe basiert auf der Annahme, dass die erwarteten Effekte im Tiefeninterview bei dieser Gruppe am größten sein würden. Denn der in den qualitativen Interviews erstrebte Zugriff auf die affektiven und vorbewussten Strukturen der Proband(inn)en sowie in dessen Folge auf die latente Dimension des erhobenen Textmaterials stellt eine wesentliche Basis für die Annahme dar, die Schichtung der Stichprobe so zu konzipieren, dass auch genau die Gruppe von Antisemit(inn)en befragt werden konnte, bei denen die Affektkontrolle relativ hoch und die Phantasie der Existenz eines Kommunikationstabus _____________ 2 Die entsprechenden Items des GMF-Survey 2005 lauteten: „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ und „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“

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antisemitische Einstellungen betreffend relativ ausgeprägt ist – und damit die erwartete Zustimmung zum „klassischen“ Antisemitismus relativ gering. Diese Annahme muss nicht zwingend auf alle Personen mit deutlichen Zustimmungswerten beim Schuldabwehr-Antisemitismus zutreffen, sie trifft aber umgekehrt der Wahrscheinlichkeit nach in dieser Gruppe eher zu, als bei denjenigen Antisemit(inn)en, die ihr Ressentiment offen und ohne Umweg kommunizieren (vgl. Bergmann/Erb 1986; Bergmann/Heitmeyer 2005). Aus der auf diese Weise ermittelten Substichprobe wurde dann eine Zahl von 19 Personen nach dem Zufallsprinzip gezogen;3 alle Interviews wurden nach dem gleichen Prinzip von dem selben (geschulten) Interviewer geführt: Da sämtliche Gespräche in der Woche nach dem Weltjugendtag der Katholischen Kirche im Jahr 2005 geführt wurden, bildete dieser sowie der erstmalige Auftritt von Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. in Deutschland den Hintergrund der Gespräche, sozusagen die Coverstory. Jedes Interview begann mit der Frage nach dem Verhältnis der Befragten zum Thema Glauben und Religion und wurde jeweils mit einer oder mehreren Folgefragen zum Weltjugendtag erweitert, in der Regel mit der Frage danach, ob es ein Ereignis beim Weltjugendtag gegeben hat, das den/die Befragte/n besonders beeindruckt hat. Im übrigen war die Gesprächsführung frei und ohne weitere Vorgaben, wobei der Interviewer darum bemüht war, zwei Grundsätze zu verfolgen, nämlich erstens die Intervention so gering wie möglich zu halten und – wenn überhaupt – die Befragten (im bewussten Unterschied zu narrativen Gesprächsführungsstrategien) zu Selbstlegitimationen zu bewegen (z. B. durch die Nachfrage „Warum?“) und zweitens so weit als möglich das Vokabular der Befragten zu adaptieren, d. h. wenn diese z. B. von „Hitlers Zeiten“ sprachen, diesen Begriff in der weiteren Gesprächsführung aufzugreifen und – weil er durch die personalisierte Individualisierung des Nationalsozialismus eine abwehrende Rationalisierung darstellt – damit nicht in die semantische Struktur der Befragten einzugreifen.

_____________ 3 Alle Personen in der Substichprobe verfügten nach eigenen Angaben – wie auch ihre beiden Elternteile – über die deutsche Staatsangehörigkeit. Sechs Gespräche kamen urlaubs-, termin- oder umzugsbedingt nicht zustande, weitere sechs wurden aufgrund ihrer sehr kurzen Gesprächsdauer nicht in die Auswertung einbezogen.

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Gesamtergebnisse der Studie Die Befragten der Untersuchung stammen aus der Mitte der Gesellschaft, sind nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und in ihrer soziodemografischen Zusammensetzung heterogen. Methodologisch ließe sich darüber diskutieren, ob die Studie auch im empirisch-statistischen Sinn repräsentativ ist; mir scheint es jenseits dieser technischen Frage aber vor allem wichtig darauf hinzuweisen, dass die hier vorgestellten Ergebnisse eine signifikante Relevanz in Bezug auf die Strukturierung und Funktion des Antisemitismus in der Mitte der deutschen Gesellschaft haben. Und in dieser Hinsicht ist bemerkenswert, dass unabhängig von allen demografischen Faktoren wie Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf, Lebenssituation usw. (die standardisiert abgefragt worden sind) alle Befragten in den Gesprächen, wenngleich auch mehr oder weniger direkt und schnell, von sich aus auf das Thema Judentum zu sprechen gekommen sind – sei es mit Verweis auf angebliche Besonderheiten des jüdischen Glaubens, das Verhalten von Juden in Deutschland oder in der internationalen Politik oder, was angesichts des vorgegebenen Themas überraschte, auch mit verbalen Angriffen gegen Israel. Dabei konnten die Befragten oftmals nicht genau sagen, worin ihre Ablehnung des Judentums besteht; es sind mehr Gefühle und Affekte, als wirklich vorhandenes Wissen, was eine der Befragten auf die Formulierung brachte: „Naja, denken, das ist manchmal ein Gefühl auch, da komm ich ja auch auf keinen grünen Zweig mehr“ (ID 9, Zeile 14). Die emotionale Strukturierung des Antisemitismus überrascht vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Antisemitismusforschung zwar nicht wirklich, es wäre aber dennoch denkbar gewesen, dass sich affektive Ablehnung auch mit kognitivem Wissen verknüpft. Die Befragten operieren hingegen mit Schlagwörtern oder Schlagbildern, die sie zumeist nicht genauer erklären oder historisch bzw. politisch einordnen können und hoffen auf eine unbewusste Zustimmung. Fragt man nach, was beispielsweise genau am Verhalten von Jüdinnen und Juden in Deutschland kritisiert wird, dann wehren die Befragten die Frage mehrheitlich ab, versuchen abzulenken, das Thema zu wechseln oder durch das Stellen von Rückfragen auszuweichen. Zudem fällt durch alle Interviews hindurch auf, dass die Befragten auch gleichermaßen unwissend über ihre eigene Vergangenheit sind. Und das betrifft sowohl die ihrer Familiengeschichten, wie auch ihre Vergangenheit als Deutsche (jeweils in Bezug auf den Nati-

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onalsozialismus), wobei auch eine hohes Maß an Empathielosigkeit gegenüber den Opfern festzustellen ist: So schlug eine Probandin unter anderem vor, „Menschen, die die Hitlerzeit auch noch miterlebt haben“ in den Schulunterricht einzuladen, da es da „bestimmt in jeder Familie eine spannende Geschichte über diese Zeit damals“ zu erzählen geben würde. Zusätzlich – also: neben der Einladung von Angehörigen der Tätergeneration – schlug sie vor, „vielleicht auch mal ne jüdische Familie“ in den Schulunterricht einzuladen, die „so was extrem miterlebt hat“ und die dann berichten sollte, dass „ihre Eltern in die Gaskammer kamen und – oder die im KZ waren und erzählen – wie schwer das Überleben da war“ (ID 13, S. 14 f.). Die Passage zeigt auch, dass das Faktenwissen über den Nationalsozialismus ausgesprochen gering ist, wobei auffällig ist, dass die Befragten das Thema oft von sich aus ansprechen, so als wollten sie etwas loswerden, aber von sich aus gar nicht so genau sagen können, was das eigentlich ist. Sie wollen, in der christlichen Metaphorik gesprochen, ihre eigene Vergangenheit beichten und für ihre Vergehen Absolution erhalten, ohne sich dabei überhaupt mit der Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. Es ist somit von einer antisemitischen Angst vor der (Phantasie über die) eigene/n Vergangenheit zu sprechen, der man sich nicht stellen will, die lediglich verdrängt und vergessen werden soll, ohne dass man sie aufgearbeitet hätte. Insofern kann von einer symbolischen Wiederholung des Nationalsozialismus durch Erinnerungsabwehr und Schuldprojektion gesprochen werden. Das Moment der antisemitischen Projektion, das stark mit den von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1947) konzeptualisierten Annahmen bezüglich der Rationalisierung des eigenen Denkens und der Suche von Verantwortlichkeiten bei Dritten korrespondiert, zählt dabei zu denjenigen Aspekten, die am signifikantesten im empirischen Material nachzuweisen sind, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass Rationalisierung und Projektion zur psychodynamischen Kernstruktur des Antisemitismus zählen – so gut wie kein antisemitisches Ressentiment im empirischen Material kommt ohne projektive und/oder rationalisierende Elemente aus. Formen der Projektion finden sich inhaltlich betrachtet bezüglich der Verantwortlichkeiten für Nationalsozialismus und die Massenvernichtung der europäischen Juden sowie der moralischen und historischen Entlastung der Deutschen während des Nationalsozialismus (ID 4, Zeile 117 ff.; ID 6, Zeile 191 ff., 271 ff. u. 322 ff.;

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ID 7, Zeile 136 ff.; ID 9, Zeile 106 ff.), der Interpretation von Versuchen der Aufarbeitung der Vergangenheit als von Dritten initiiert, befördert oder gefordert und der Verlagerung von historisch-politischen Verantwortlichkeiten auf Dritte (ID 4, Zeile 117 ff.; ID 6, Zeile 180 ff. u. 271 ff.; ID 7, Zeile 136 ff.; ID 9, Zeile 106 ff.; ID 10, Zeile 33 ff.; ID 13, Zeile 144 ff., 254 ff. u. 307 ff.), der Unterstellung einer vorurteilsbeladenen Haltung von Juden gegenüber Deutschland (ID 9, Zeile 286 f.) sowie der nationalsozialistischen Analogisierung oder der pejorativen Attribuierung der Politik Israels (ID 6, Zeile 161 ff. u. 322 ff.). Explizite Formen der Verlagerung von Verantwortung und die Zuschreibung von Verantwortlichkeit bei Dritten finden sich in verschiedener Weise. Die Verantwortung für die aktuell in Deutschland geführten Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der NSVergangenheit wird sowohl den Alliierten (ID 6, Zeile 322 ff.; ID 7, Zeile 118 ff. u. 136 ff.; ID 9, Zeile 106 ff.) wie den Juden bzw. Israel (ID 6, Zeile 191 ff.; ID 7, Zeile 59 ff.; ID 9, Zeile 299 ff.) zugeschrieben. Israel wird überdies auch für das Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland verantwortlich gemacht (ID 6, Zeile 161 ff.). Dabei ist es evident, dass in allen Passagen, die die projektive Struktur antisemitischer Ressentiments zeigen, mehr oder minder ausgeprägte Formen von Rationalisierungen aufzufinden sind.

Die Hermeneutik von Projektion und Angst Im Folgenden sollen drei Passagen aus dem Interviewmaterial vorgestellt und genauer diskutiert werden, die einen hermeneutischen Eindruck von den Formen antisemitischer Schuldprojektionen und angsthafter Bezogenheit auf die eigene (familiäre und/oder nationale) Vergangenheit geben.4 _____________ 4 Die interpretative Auseinandersetzung mit dem Interviewmaterial erfolgte im Erstzugriff in einem (tiefen-)hermeneutischen Intervisionsverfahren, bei dem der Verfasser mit Prof. Dr. Burkhard Brosig (Universitätsklinikum Gießen-Marburg) zusammengearbeitet hat, der über psychoanalytische Ausbildung und klinische Praxis verfügt, aber an der Konzeption der Studie und der Datenerhebung nicht beteiligt war. Da sich aufgrund des methodischen Verfahrens der intersubjektiven hermeneutischen Diskussion einzelne Gedanken der Interviewinterpretation retrospektiv nicht mehr eindeutig zuordnen lassen, sei hier explizit betont, dass die Erkenntnisse der Inter-

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„Ich weiß nicht, ob man damit immer auseinander gesetzt werden muss, …“ Die Probandin, 1976 geborene Katholikin aus Nordrhein-Westfalen, ist insgesamt um kontrollierte Antworten bemüht, so dass bei einer ersten Lektüre des Interviewmaterials auffällt, dass der Text oberflächlich betrachtet nur wenig Material zum Themenfeld Antisemitismus zu enthalten scheint. Dennoch ist spürbar, dass die Probandin mit einer gewissen Vorsicht und Bedachtsamkeit an die in Frage stehende Thematik herangeht, was sich im Text auch dadurch manifestiert, dass sie im Umfeld thematischer Annäherungen an Themen wie Fremdheit, Anderssein oder Ausländersein sich mehrfach Zeit für ihre Antworten durch das Einwerfen eines „Ähm“ verschafft. Das Gespräch beginnt mit Ausführungen über den Glauben im Allgemeinen und dem Katholizismus im Besonderen, den die Befragte implizit mit dem Christentum ident zu setzen scheint. Auf die Nachfrage nach anderen „Glaubensgruppen“ (ein Terminus, den die Befragte selbst eingeführt hat), explizit dem evangelischen Christentum, dem Judentum und dem Islam bringt die Befragte selbst – mit Bezugnahme auf den Besuch von Papst Benedikt XVI. in der Kölner Synagoge während des Weltjugendtages – „unsere deutsche Vergangenheit“ ins Spiel. Ihre Ausführungen kreisen dann um die Kritik an Ratzingers Vergangenheit in der HitlerJugend – allerdings ohne dass sie diese explizit ansprechen würde. Diese Leerstelle wird dann in einer Frage explizit gemacht: F: … sondern dass auf der anderen Seite er ja auch kurz nach seiner Wahl im Ausland auch in die Schusslinie geraten ist. Ähm, also dass man ihm vorgehalten hat, er sei Hitlerjunge gewesen. A: Mhm. F: Ähm, das ist ja schon vielleicht eine Sache, mit der man sich auseinander setzen müsste, oder nicht? A: Ich weiß nicht, ob man damit immer auseinander gesetzt werden muss, ähm. Wie lang ähm darf einem noch vorgehalten werden, was in der Geschichte passiert ist. Das ähm denk ich immer so, und es ist ja auch äh nachgewiesen, dass Pius eben in diesem ähm Kriegen ähm in, im Zweiten _____________ viewinterpretation in einem gemeinsamen Prozess entstanden sind. Vgl. Salzborn/ Brosig 2007; Salzborn/Brosig/Schmidt 2009.

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Weltkrieg eben sich auch so gut wie nie zu dem Krieg geäußert hat oder das, was der Nazi hier veranstaltet hat und mit den ausländischen Bürgern. Also – weiß nicht, ob man ihm das jetzt so vorhalten muss. Dass, dass er eben Deutscher war. (ID 4, Zeile 111 ff.)

Die Passage ist insofern interessant, als die Antwort zunächst mit „Ich“ beginnt (Zeile 117), so als fühle sich die Probandin als handelndes Moment der Geschichte. Sie schwenkt dann jedoch auf das Indefinitpronomen „man“ um, womit eine Distanzierung des „Ich“ eingeführt wird, deren Fortsetzung eine grammatikalisch falsche Konstruktion eines aktiven Verbs bildet, bei der die Idee von „Ich weiß nicht, ob ich mich immer wieder damit auseinander setzen muss“ gewendet wird in „ob man damit immer auseinander gesetzt werden muss“ – einer dem Verb inadäquaten Wendung ins Passive. Die Befragte unterstreicht damit die Fremdbestimmtheit der historischen Auseinandersetzung, die letztlich mit ihr selbst, mit dem handelnden Ich nichts zu tun hat, sondern als von außen aufgezwängt empfunden wird. Die Probandin fährt dann folgerichtig fort, dass einem noch vorgehalten werde, was in der Geschichte passiert sei. Sie spricht dann von Pius (gemeint ist der XII.), der sich in „diesem ähm Kriegen“ – einer auf die unterschiedlichen Schuld- und Verantwortungsinterpretationen für den Nationalsozialismus verweisenden konflikthaften Vermengung von Singular und Plural, die sie aber unmittelbar als „Zweiten Weltkrieg“ präzisiert – „so gut wie nie zu dem Krieg“ geäußert habe. Die Infamie dieser Argumentation liegt darin, dass die Probandin dem Papst zugutehält, wofür er gerade kritisiert wird, nämlich zu den nationalsozialistischen Massenmorden und Kriegsverbrechen geschwiegen und diese damit faktisch gestützt zu haben. Das Beschweigen der Verbrechen wird damit zum Positivum gewendet, was die grammatikalischen Inkonsistenzen (Aktiv/Passiv, Singular/Plural) historisch aufgreift durch die hier nun inhaltliche Paradoxie der Argumentation, die zuvor durch sprachliche Vagheiten vorbereitet wurde. Der Papst steht damit gleichsam für die Affirmation einer schweigenden und tolerierenden Haltung gegenüber dem Antisemitismus und der Shoah. Betrachtet man die längere Antwort in der zitierten Passage genauer, so kommt eine Argumentationsfigur zum Tragen, in der zunächst eine aktive Verantwortung und Teilnahme ins Passive gesetzt wird, der singuläre Zweite Weltkrieg in den Plural gewendet und damit relativiert wird, um

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schließlich die Verantwortung der Deutschen zu singularisieren, indem davon gesprochen wird, was „der Nazi hier veranstaltet“ habe. Die bagatellisierende Beschreibung des Nationalsozialismus als Veranstaltung verdoppelt die Singularisierung, da die Shoah einer Normalisierung zur Veranstaltung unterzogen wird, die im Sinne der Probandin auch nur von einer Person vollzogen wurde, so dass gleichermaßen Ausmaß der wie Beteiligung an der Massenvernichtung der europäischen Juden minimalisiert und relativiert werden, bei der die Verantwortung überhaupt nur einer (nicht explizit genannten) Person zugeschrieben wird. Verstärkt wird diese Tendenz noch durch die Fehlleistung „ausländische Bürger“, die Objekt dessen gewesen seien, was „der Nazi“ in Deutschland „veranstaltet“ habe. Der Begriff des „ausländischen Bürgers“ ist staatsrechtlich eine Paradoxie, denn entweder ist ein Mensch Bürger eines Staates und damit Teil dessen Rechtssystems oder er ist Ausländer und ohne Anspruch auf die bürgerlichen Rechte des jeweiligen Staates. In der Fehlleistung „ausländischer Bürger“ klingt damit in verdichteter Form ein geahntes Wissen um die nationalsozialistische Judenverfolgung an, die auch den jüdischen Bürger zum Ausländer machte und seiner bürgerlichen Rechte entkleidete, um ihn der Verfolgung auszusetzen. In den beiden Schlusssätzen der Passage kommt die Befragte wieder auf Papst Benedikt zurück (sie hatte vorher bereits erwähnt, dass der Papst für sie „keiner Nationalität entspricht“) und wendet sich in fragender Form dagegen, diesem „das“ (gemeint ist offenbar eine Verschränkung von Ratzingers persönlicher mit der allgemeinen NS-Vergangenheit) vorzuhalten, wobei sie beides in dem Begriff des Deutschen fusioniert, womit auch eine Kollektivierung von Verantwortlichkeit anklingt. Ratzinger als Papst Benedikt müsse nicht mehr vorgehalten werden, dass er eben Deutscher „war“. Damit setzt die Probandin mittels der Präteritumsform „war“ die Staatsangehörigkeit von Papst Benedikt in die abgeschlossene Vergangenheit, was – bezogen auf das deutsche Staatsrecht – nicht der Realität entspricht, da Ratzinger im Sinne des Abstammungsprinzips immer noch Deutscher ist, obgleich er als Papst auch einem eigenen Staat (dem Vatikan) vorsteht.

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„… die Zeit vor 33, nach dem Krieg …“ Der in Rheinland-Pfalz lebende Befragte ist 1949 geboren und katholisch. Zu Beginn des Interviews ist der Proband gelöst, locker und entspannt. Diese Entspannung könnte etwas damit zu tun haben, dass der Proband in gewisser Weise die Verantwortung für die eigenen Statements abgibt und sich auf den fremd gestaltet wirkenden Prozess des Interviews einlässt (er erklärt gleich zu Beginn: „Na, ich bin vertrauensvoll und Sie machen das schon bestimmt richtig.“), was unmittelbar an massenpsychologische Erkenntnisse erinnert, nach denen das Individuum eigenverantwortliche Funktionen aufgibt, hier: in der scheinbaren Gemeinschaft von Interviewer und Interviewtem. Im fortgeschrittenen Verlauf des Interviews – der Befragte hat bereits ausführlich über Religionen in Deutschland, im Besonderen das Judentum, gesprochen – kommt er wiederholt auf die Rolle der NS-Vergangenheit für die Gegenwart Deutschlands zu sprechen und formuliert dabei eine markante Fehlleistung, die nach bisherigem Forschungsstand als einmalig beschrieben werden muss: A: So wird (..............) Ungele-(...........) heißt dann, jaaa! Das hängt mit der historischen Entwicklung zusammen zwischen Juden und Deutschland und der jetzigen Bevölkerung in Deutschland. Da muss man ne Grenze machen. F: Was meinen Sie mit historischen Entwicklung? A: Ja, einmal die Zeit äh vor 33, nach dem Krieg. Und alles, was damit zusammenhängt, wird immer wieder auch darauf zurückgeführt. Wenn man was sagt gegen Israel, dann kommt der böse Finger und es heißt dann: Ja, aber. – Und ich kann das nicht verstehen, ich, ich weiß nicht, warum das immer wieder aufgekocht wird, wenn man was gegen Israel sagt, dass (........) heißt, da kommt was gegen die, gegen die Juden. (ID 6, Zeile 187 ff.)

Die nationalsozialistische Herrschaft zwischen 1933 und 1945 wird durch die Formulierung „die Zeit äh vor 33, nach dem Krieg“ sprachlich eliminiert und exterritorialisiert, wobei die temporären Eckdaten (1933 und Kriegsende) zwar explizit genannt werden, der beschriebene Zeitraum aber auf den Zeitraum vor 1933 und nach dem Krieg verlegt wird – was zeitlich die gesamte Menschheitsgeschichte mit Ausnahme des Nationalsozialismus erfasst. Die umgangssprachlich allgegenwärtig verwandte Vermei-

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dungsformel, vom Nationalsozialismus als der Zeit zwischen 1933 und 1945 zu sprechen, wird hier aufgegriffen, aber durch das Unbewusste des Probanden redigiert, so dass er zwar den Sprachgepflogenheiten seines gesellschaftlichen Kontextes nach den Begriff Nationalsozialismus vermeidet (was bereits durch die Entkonkretisierung eine erste Form der Relativierung beinhaltet, die der Proband aber mit einer Vielzahl anderer Menschen in Deutschland teilt), diese Vermeidung aber nicht hinreichend genug die historische Realität des Nationalsozialismus verdrängen kann, so dass dieser sprachlich vollständig eliminiert werden muss, was einer totalen Leugnung gleich kommt. Im Kontext mit der Diskussion über den Begriff der „bösen Deutschen“ – der Proband hatte im Vorfeld der Passage eine Dichotomie zwischen „bösen Deutschen“ und „anderen (!) Deutschen“ aufgemacht, wobei öffentlich stets nur von den „bösen Deutschen“ die Rede sei – entsteht durch diese Fehlleistung ein operatives Feld, in dem der Nationalsozialismus gleichermaßen präsent wie verleugnet ist, die antisemitische und völkische Ideologie als Teil deutscher Identität begriffen wird, dies aber nur erträglich zu sein scheint bei ihrer gleichzeitigen kategorischen Ableugnung. Die dabei aufkommende Frage nach der emotionalen Verbindung zwischen diesen beiden an sich paradox wirkenden Argumentationsfiguren des Probanden lenkt die Analyse auf den Begriff des „bösen Fingers“, den der Proband in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner temporären Fehlleistung verwendet (Zeile 193) und auch bereits vorher (Zeile 156) im Zusammenhang mit Ausführungen über Jürgen Möllemann und Paul Spiegel verwandt hatte. Im umgangssprachlichen Gebrauch gibt es den Begriff des „bösen Fingers“ im Grunde nicht, man assoziiert hier entweder den drohenden Zeigefinger oder den „Stinkefinger“, so dass unklar bleibt, ob es sich um den Zeige- oder den Mittelfinger handelt – mit den jeweiligen Konnotationen. Es wirkt so, als sei hier eine Verdichtung aufgetreten mit einer drohenden und einer beleidigenden Seite. Dieser „böse Finger“ wird konkret Paul Spiegel (Zeile 156) zugeordnet, von dem Probanden in einem allgemeinen Sinn als projektiver Verweis auf vergangenheitspolitisches Fehlverhalten der Deutschen verwandt, sprich: Der Proband unterstellt mit dieser Metapher ein Verhalten. Somit wird eine Dichotomie angedeutet zwischen dem bösen Finger und dem bösen Deutschen, dies jedoch nicht weiter ausgearbeitet. Assoziiert man weiter, so hat der böse Finger auch etwas vom langen Finger, also vom übergriffigen Finger, der letztlich ge-

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schlagen gehört, dem man etwas auf die Finger hätte geben müssen. In diesem Kontext bedeutet der Finger einerseits eine phallische Drohgebärde und deutet gleichzeitig die Kastrationsmöglichkeit mit an, denn der böse Finger wird ja üblicherweise „kastriert“, geschlagen. In jedem Falle wird die phallische, sexuelle Dimension mit einbezogen. Gleichzeitig ist der „böse Finger“ auch der onanistische Finger (bei Jungen wie Mädchen, Männern wie Frauen), so dass der „Stinkefinger“ wiederum in Bezirken gewesen ist, die tabuisiert, böse und schmutzig sind. In jedem Falle kulminiert in diesem zunächst eigenartigen Wortbild vom „bösen Finger“ eine Fülle von gegenläufigen Lesarten, wobei deutlich wird, dass die Drohgebärde potenziell kastrationsgefährdet und letztlich auch unsaubere Beiklänge hat. In dieser affektiven Doppelbödigkeit liegt damit scheinbar auch die immanente Logik der vorher skizzierten Ambivalenz begründet. Der Proband spricht im Folgenden in Bezug auf Ratzingers Vergangenheit in der Hitler-Jugend davon, dass jeder als Achtjähriger „so ein Mützchen“ angezogen bekam und „da konnte sich keiner von ausschließen“: F: Jetzt haben sich ja in Deutschland nach der Wahl zum Papstamt viele Menschen gefreut, dass ein Deutscher Papst geworden ist, und im Ausland sind ja einige Stimmen laut geworden, die gesagt haben, dass Kardinal Ratzinger, als er klein war, Hitler-Junge war. A: Ja. F: Ähm, wie würden Sie dazu stehen? A: Note sechs minus. F: (lacht kurz) A: Das ist schon klar. Nach so vielen Jahren dem, das noch mal aufzukochen, und zum anderen – äh, wie alt war der gewesen, das weiß ich gar nicht, ich sag mal 13, 14, so was, oder 15 vielleicht, ich hab das Bild gesehen. Ich weiß es nicht, ich kann das nicht zurückrechnen. Ich weiß nicht, wie alt der (......) war, zu der Zeit. Aber jeder – der ein bisschen clever ist, der weiß, dass es früher so eine Art Muss war, jeder äh Achtjährige fing an und bekam so ein Mützchen angezogen. Mit 16, 17 vielleicht. Da konnte sich keiner von ausschließen. Und der jetzige Papst war damals noch ein Kind gewesen, ein Schüler. Und der war auch mit eingebunden, (.........) und ich fand das sehr schlecht, so was. Und das war sehr negativ. (ID 6, Zeile 271 ff.)

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Damit inszeniert der Proband den Nationalsozialismus als Kasperletheater, bei dem man ein Mützchen aufgezogen bekam, von dem sich aber auch zugleich niemand ausschließen konnte und setzt damit seine bereits begonnen Bagatellisierung der NS-Vergangenheit in massiver Form fort. Die Nachfrage, ob über den Nationalsozialismus bei seinen Eltern oder Großeltern gesprochen wurde, bejaht er, spricht aber davon, dass jeder wisse, dass „die breite Ma-“ – was vermutlich Masse heißen soll – wie auch die Einzelnen das kaum beeinflussen konnten. Durch diese Ineinanderschachtelung von Masse und Einzelnem nimmt der Befragte dem Einzelnen die Verantwortung im Vergleich zur breiten Masse und setzt die Bagatellisierung der NS-Vergangenheit insofern fort, als er davon spricht, dass es „ein bisschen anders wie heute“ war. Jeder Einzelne habe nicht so viel Spielraum gehabt: F: Ja, überhaupt mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich, ähm, hat das ne Rolle gespielt bei Ihnen? – Bei Ihren Eltern, Großeltern. A: Ja, es wurde drüber gesprochen, das ist schon richtig, ne. Aber, es wurde drüber gesprochen, und das war’s denn auch. Jeder weiß, dass die breite Ma- oder dass die Einzelnen das kaum – beeinflussen konnten. Das, wenn jemand – (...........) war bei der Post gewesen. Der wurde auch, hat damals so erzählt, da wurde gesagt, entweder Partei, ja oder nein. Als Beamter eben. (....................) und der Staat war eben damals ein bisschen anders wie heute, in dem (.......) in der Form, und – da gab es nicht so viel Spielraum. (ID 6, Zeile 293 ff.)

Dabei wird der Nationalsozialismus in vergleichender Perspektive zur Bundesrepublik zum nur leicht differenten Staat erklärt und die verbrecherische Dimension wird – auch in der infantilen Metaphorik des Spielraums in Anknüpfung an das Mützchen – ausgeklammert, wobei aufgrund offenbar nicht vorhandener Empathie für die Opfer (bezüglich der Reichspogromnacht, die der Proband als Beispiel aus seiner Familienerzählung erwähnt, betont er vor allem, dass „man … es nicht aushalten“ konnte, dass „Leute, die praktisch Tür an Tür wohnten, über Nacht sich so ändern konnten“, was jenseits jeder Empathie lediglich ein Mitleid mit sich selbst bezüglich der eigenen Nachbarn festhält; Zeile 306 f. u. 314); es auch tatsächlich sein kann, dass der Proband nur wenig Unterschiede begreift – nämlich lediglich die hinsichtlich des angeblich geringeren Handlungsspielraums für die breite Masse der Deutschen.

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Ihre Fortsetzung findet diese Argumentationsfigur, als der Proband – erneut über Ratzinger als Kind sprechend – darauf Bezug nimmt, dass dieser in einer englischen Zeitung in der Uniform der Hitler-Jugend abgelichtet worden sei, um dies sofort mit einer abwehrenden Projektion zu relativeren und mit der Forderung zu bagatellisieren, dass „sich diese Leute“ auch daran erinnern sollten, „was zum Beispiel jetzt England in Indien angestellt hat“: A: – Ja, ich wünsche mir – dass andere Länder – nicht immer nur sagen, ja, die bösen Deutschen - - dass – dass man eine, eine Linie zieht – aber dass wir in Deutschland auch dran denken müssen, dass es eben Geschichte ist. – Und zum anderen wünsche ich mir, dass wie zum Beispiel, wo Sie eben von sprachen, dass Kind- wie der Herr Ratzinger als Kind, der Kardinal Ratzinger damals als Kind abgelichtet wurde, in einer englischen Zeitung, dass sich diese Leute auch dran erinnern, was zum Beispiel jetzt England in Indien angestellt hat. Dass Frankreich sich über die, und mal Revue passieren lässt, was ist von den eigenen Franzosen in Frankreich während der Kriegszeiten angestellt worden. Kollaboration gibt es ja in Frankreich nicht, komischerweise. Gibt ja nur die bösen Deutschen, die Frankreich überfallen haben. Was hat Amerika in Vietnam gemacht. Und die Spirale geht ja weiter. Von daher bin ich eigentlich dem Ganzen ein bisschen überdrüssig, warum heißt es immer, ja aber die Deutschen, die historische Verpflichtung, zum Beispiel aus Israel gegenüber. Jeder weiß, dass Israel auch nicht immer (...............) mit anderen Leuten umgeht. Palästinenser, andere Minderheiten, die (............) da unten. Und jeder hat irgendwie ne Last zu tragen. Und die Historie ist rausgewachsen, mit übernommen worden, aber immer nur zu sagen, die Deutschen, ja, aber. Jetzt (.............) mit dem Thema (..........) Möllemann, hatte damals so’nen Flyer gemacht, hat gesagt, dies ist also (.........) und dann kam der Herr Spiegel, der Paul Spiegel, und hat gesagt, ja, so geht das ja nicht. Wir sind nach Israel kopflastig verbunden, aus der Historie heraus. Und das fand ich doch sehr weit hergeholt. Und jetzt schließt sich der Kreis, ich weiß nix mehr. (ID 6, Zeile 322 ff.)

Die Assoziationskette von der „englischen Zeitung“ zu „England in Indien“ setzt der Proband mit weiteren projektiven Exterritorialisierungen (Frankreich, Amerika) fort, mit denen er die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit umgeht. Aufschlussreich ist, dass diese Analogiebildung „England in Indien“ und „Amerika in Vietnam“ nicht weiter ausgeführt wird und somit auf Assoziationen beim Interviewpartner angewiesen wäre, dabei aber zugleich eine teleskopartige Verknüpfung zwischen Amerika und Vietnam bzw. England und Indien herstellt, also jeweils in

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der Terminologie von Nationalstaaten gesprochen und somit hier eine kollektive Haftung für England bzw. für Amerika reklamiert wird, die in Bezug auf die deutsche Vergangenheit abgelehnt wird. Durch die Formulierung „Und jeder hat irgendwie ne Last zu tragen.“ (Zeile 338) werden dabei resümierend unterschiedliche verbrecherische Dimensionen von Nationalgeschichte eingeebnet und zudem zur individuellen Bagatelle degradiert, analog der Ausführungen des Probanden zur Reichspogromnacht und den Nachbarn. Überdies wird der paradoxe Zusammenhang von Integriertheit in das deutsche Kollektiv („böse Deutsche“) und der totalen Verleugnung der NS-Verbrechen („die Zeit äh vor 33, nach dem Krieg“) ergänzt um ein manifest projektives Moment, in dem die NS-Verbrechen als solche präsent sind (denn sonst würde der Versuch eines aufrechnenden Vergleichs – zumal noch mit den drei Westalliierten: Frankreich, Amerika und Großbritannien, die in der Analogiebildung des Probanden bezeichnenderweise noch um Israel ergänzt werden – absurd sein), allerdings als trivial angesehen werden, besonders in Relation mit denen anderer Staaten. Der Befragte spricht in der Passage überdies von der Notwendigkeit eine Linie zu ziehen (Zeile 323), dann vom Wechsel der Geschichte als Spirale (Zeile 333) und verwendet später den Begriff des Kreises (Zeile 343), wobei immer mehr einer geometrisch ausgestalteten Vorstellung von Geschichte das Wort geredet wird. Es sind nicht die sozialen Kräfte oder die einzelnen Verantwortungen, die ihm als Movens der Geschichte gelten, sondern spiral- oder kreisförmige mathematische Bewegungen, die so etwas wie ein ewiges Wiederkehren der historischen Bewegungen anzeigen sollen. Somit wird das Geschichtsverständnis auch zu einem naturwissenschaftlichen, in dem soziale und persönliche Verantwortungen generell in Frage gestellt wären.

„… die haben ja dasselbe in Grün gemacht.“ Die Probandin, eine 1963 geborene und in Bayern lebende Katholikin. Da sie auf den Interviewer in ungeordnetem und fast ungebrochenem Wortschwall einredet, scheint sie innerlich sehr erregt zu sein. Das Interview wurde von Seiten der Interviewten mit dem Gestus des Einredens geführt und scheint psychoanalytisch gesprochen dem Primärprozess sehr nahe zu stehen: Es redet aus ihr heraus.

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Nachdem die Probandin am Anfang relativ ausführlich über Einzelheiten des Weltjugendtages gesprochen hat, kommt auch sie auf den Besuch des Papstes in der Kölner Synagoge zu sprechen. Sie begrüßt diesen Besuch, glaubt aber nicht, dass er eine positive Wirkung habe. Nach der Begründung gefragt, erklärt sie: „Und die hacken auch auf die Juden, hacken immer noch auf uns rum.“ (ID 9, Zeile 90 f.) Soweit sich der hermeneutische Sinn des Materials bei der ansonsten gelockerten semantischen Struktur rekonstruieren lässt, verschränkt die Probandin in diesem Satz die Gedanken, dass es manche Menschen gibt, die auf den Juden herumhacken und diese, gemeint sind die Juden, „hacken immer noch auf uns rum“, also eine wechselseitige Bewegung beschrieben wird, die die Probandin letztlich in einer manifesten Kritik an „den Juden“ münden lässt, in der das „uns“ im Gegensatz zu den Juden steht und das „wir“ christlich apostrophiert wird. So entsteht in den Augen der Interviewten eine aggressive Welt der Ausgrenzungen, bei der die Abgrenzungen zwar nicht eindeutig, aber hinsichtlich der für sie bestehenden Abgrenzung gegenüber „den Juden“ doch deutlich ist. In der Nachfrage greift der Interviewer die Aussage der Probandin noch einmal auf: F: Sie haben grad gesagt, die Juden hacken auf uns rum, was meinen Sie damit? A: Ja, weil die nie Ruh geben. Das ist so, äh, zum Beispiel hm, ich mein, wir haben bestimmt viel, was heißt, wir? Ich hab überhaupt nix gemacht. Aber, äh, das im Dritten Reich zum Beispiel, also irgendwann muss mal Ruh sein. Also wir können da gar nix für. F: Mhm. A: Bloß weil irgendwann also ein Ferngesteuerter das eingefädelt hat, da, können wir wirklich nix mehr dafür. Und es gibt andere Länder, es gibt die Russen, es gibt Amerika, die Engländer, die Franzosen und, die haben ja dasselbe in Grün gemacht. (ID 9, Zeile 100 ff.)

Die Probandin bezieht ihren Antisemitismus unmittelbar auf das vergangenheitspolitische Moment und erweitert damit ihre zunächst primär religiös eingefärbte Ablehnung der Juden um das Motiv der Schuldabwehr. Die Behauptung, die Juden würden „nie Ruh geben“, ergänzt die Befragte mit dem abbrechenden Halbsatz „wir haben bestimmt viel“, dem sie – ohne äußere Not und somit statt ihn zu Ende zu sprechen – gleich selbst widerspricht und damit die noch nicht ausgesprochene Schuld bereits mas-

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siv abwehrt: „Ich hab überhaupt nix gemacht.“ Sie kommt dann in eine Rückbewegung abermals in kryptischer Weise auf die Schuld „im Dritten Reich“ zu sprechen, die sie ebenso radikal abbricht, wie ihren ersten Anlauf, diesmal mit einem direkt gegen die Juden gerichteten Befehl, nach dem „irgendwann […] mal Ruh sein“ müsse. Auch hier wird die Bewegung einer anklingenden Schuldannahme und gleichzeitig nachfolgenden schroffen Distanzierung wieder semantisch nachvollzogen in zwei unvollständigen Halbsätzen, die dann münden in: „Also wir können da gar nix für.“ Mit der flüchtigen Art und Weise des Sprechens werden so polare Positionen in den argumentativen Strukturen eingenommen, die dann jedoch, vermittelt über die individuelle Entschuldung als stellvertretende für die nachgeborene Generation zu einer kollektiven Entschuldung führt. Das Aufgeregte und Unheimliche, das im gesamten Interview transportiert wird, wird konkreter mit dem in der Passage folgenden Ausdruck „ein Ferngesteuerter“ (womit Hitler gemeint sein dürfte), der „das“ eingefädelt habe, wofür „wir wirklich nix mehr dafür“ können. Im Grunde kann in dieser Lesart niemand etwas für Nationalsozialismus und Massenvernichtung – die die Befragte nebulös mit den Worten „da“ oder „das“ umschreibt – denn auch Hitler gilt als ferngesteuert, die Deutschen sind aber in jedem Fall zu entschulden. Bemerkenswert ist auch hier die unmittelbar auf die Schuldabwehr folgende kollektivierende Projektion gegenüber den Alliierten („die Russen“, „die Engländer“, „die Franzosen“ – wobei sich in der sprachlichen Differenzierung „Amerika“ statt „die Amerikaner“ noch eine besondere Form der Ablehnung zu verbergen scheint).

Resümee Die hier vorgestellten Auszüge aus den Interviews sind zufällig, aber nicht willkürlich gewählt; sie repräsentieren Tendenzen, die in allen Gesprächen zum Ausdruck kommen und die insofern als signifikant angesehen werden müssen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass jede der hier vorgestellten Interpretationen in Bezug auf die Binnenhermeneutik des einzelnen Subjekts als Einzelfall falsch sein kann, da der Validitätsanspruch lediglich im sozialen Sinn gilt – als Aussage über die Reproduktion eines kulturellen Kontextes oder einer sozialen Verwobenheit mit gesellschaftlichen Strukturen, die zur Integration bestimmter Momente in die bewusste wie unbewusste

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Sprechpraxis der Individuen führt. Insofern ist es durchaus denkbar, dass eine Psychoanalyse der einzelnen Proband(inn)en differierende Ergebnisse zu Tage fördern würde, was aber nichts an der sozialwissenschaftlichen Relevanz der hier vorgestellten Interpretationen ändert: Die Aussagen stehen in der vorliegenden Studie nicht für eine valide Interpretation des Individuums, sondern lesen in den individuellen Strukturen und Aussagen die Gesellschaft und die politische Kultur. Und die politische Kultur lässt sich auch jenseits des Individuums erkennen, da in diesem gesellschaftliche Strukturen wirken, die möglicherweise im Individuum nicht dominant sein mögen, aber dennoch auf die vergesellschaftete Dimension von Individualität verweisen. In dieser vergesellschafteten Perspektive ist jedes Subjekt zwar durch die Gesamtheit seiner psychosozialen Vorstellungen und Verhaltensweisen charakterisiert, jedes einzelne Moment daraus gehört aber zugleich zum Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Insofern ist es dann auch ganz und gar nicht individuell, so dass auch davon gesprochen werden kann, dass in den „faktischen sozialen Situationen […] die Gesellschaft“ erscheint (Adorno 1966: 10). An einem Beispiel gesprochen könnte es somit also durchaus sein, dass sich eine durch die Interpretation einer Fehlleistung eines Probanden gewonnene Erkenntnis durch längere klinische Analyse als nicht dominant für ihn als Subjekt herausstellen könnte, so dass die Interpretation der konkreten Gesprächssituation mit Blick auf die psychodynamische Struktur des Individuums damit in Frage gestellt würde; sofern der exemplarische Proband aber Teil gesellschaftlicher Strukturen ist, hat er mit der fiktiv herausgegriffenen Fehlleistung trotzdem objektive gesellschaftliche Strukturen reproduziert und damit für die sozialwissenschaftliche Forschung zugänglich gemacht, da seine Aussagen selbst Medium historisch generierter gesellschaftlicher Totalität sind und er sozialwissenschaftlich betrachtet mit ihnen nicht das spezifisch Individuelle, sondern die „Welt des tradierten Sinnes“ (Habermas 1965) und damit einen Teil des individualisierten Allgemeinen zum Sprechen bringt (vgl. Lenk/Franke 1987: 19).

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Israelkritik und Antizionismus in der deutschen Linken: ehrbarer Antisemitismus? Martin Kloke An die Nachgeborenen1 Auch der Hass gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein.

1. Antizionismus gleich Antisemitismus? „Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden, dann heißt das ‚Verbrecherstaat Israel‘. Er kann es [aber auch] auf manierliche Art machen und vom ‚Brückenkopf des Imperialismus‘ sprechen.“2 Es war der Schriftsteller Jean Améry, der vor 40 Jahren diese Zeilen der deutschen und europäischen Öffentlichkeit vorhielt – insbesondere ihren linken und „progressiven“ Milieus. Wenn es um den „ordinären“ Antizionismus geht – rabiate Schmähungen, Unterstellungen, Projektionen und Unterstellungen gegen den Staat Israel – können wir vermutlich rasch Einvernehmen erzielen: dass sich schon in seiner aggressiven Wortwahl die Nähe zum antisemitischen Ressentiment manifestiert. Erfreulicherweise befindet sich seit den späten 1980er Jahren jener Radau-Antizionismus, der im Gefolge von Achtundsechzig die „vollständige Zerschlagung des zionistischen Staates“ propa_____________ 1 Brecht, Bertolt. „An die Nachgeborenen“ (Auszug, verfasst zwischen 1938 und 1941). In: Brecht, Bertolt. Werke, Bd. 12: Gedichte 2. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988–1998, 87. 2 Améry, Jean, 1969. „Der ehrbare Antisemitismus. Die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtisch gegen den Staat der Juden“. In: Die Zeit Nr. 30/1969 (25.07.1969), S. 16.

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gierte, auf dem Rückzug. Unter schmerzvollen kathartischen Zerreißproben setzte sich in den letzten 25 Jahren in Teilen der Linken die Einsicht durch, dass der Kampf gegen Unrecht auch monströse Züge annehmen kann: Hießen die ideologischen Leitplanken zuvor „Antifaschismus“, „Neutralismus“ und „Antizionismus“, so prägen heute Stichworte wie „Pro-Israelismus“, „Westbindung“ und „Antitotalitarismus“ den streitbaren Diskurs eines partiell geläuterten linken Milieus. Das heißt nun keineswegs, dass das antisemitische Ressentiment in der Linken endgültig der Vergangenheit angehört: Als Ende 2008 die israelische Militäroffensive gegen die fortgesetzten Raketenangriffe der Hamas im Gazastreifen begann, warf ein Frankfurter „Friedenspfarrer“ den Israelis öffentlich vor, die Palästinenser in Gaza „wie Tiere zu schächten und zu schlachten“.3 Keiner der anwesenden christlichen bzw. säkularen Linksdeutschen widersprach diesem Rückfall in das verbale Arsenal des mittelalterlichen christlichen Antijudaismus. Diese nach allen gängigen Definitionen antisemitisch zu klassifizierende Entgleisung eines fanatischen Antizionisten, der sich als linker Gutmensch geriert, ist kein Einzelfall – sie gedeiht auf einem Humus, der auch in parteipolitischer Hinsicht virulent ist. Insbesondere in der SED/PDS-Nachfolgepartei „Die Linke“ befinden sich noch immer einflussreiche Kräfte in Amt und Würden, die Israel nach den überkommenen Schablonen von Gut und Böse abkanzeln: Ihr außenpolitischer Sprecher Norman Paech, der schon 1975 über „den Zionismus“ als „Staatsideologie und Rassismus“ schwadronierte,4 verstieg sich 2007 zu der wahnhaft anmutenden Forderung, angesichts der israelischen „Aggression gegen die Palästinenser“ müssten die proisraelischen Angehörigen des deutschen Regierungsapparats „in Erziehungshaft“ genommen werden. Paechs Statement kulminierte in der rhetorischen Frage: „Warum sollten die Palästinenser das Existenzrecht eines Staates anerkennen, der seine Grenzen nicht definiert?“ (vgl. Kloke 2008: 131). Seitdem sich in der Linkspartei allerdings seit einiger Zeit auch israelfreundliche Stimmen Gehör ver_____________ 3 Kundgebung der Palästinensischen Gemeinde in Hessen am 31.12.2008, Hauptwache Frankfurt a. M. Redebeitrag von Pfarrer Dr. Ingo Roer. In: http://www.arendtart.de/ deutsch/palestina/Stimmen_deutsch/krieg_mord_in_gaza_demo_frankfurt_2008-1230.htm; siehe auch: http://www.muslim-markt.de/Palaestina-Spezial/demos/frankfurt/ frankfurt_2008.htm (Zugriff am 21.05.2009). 4 Paech, Norman, 1975. „Zionismus – Staatsideologie und Rassismus“. In: 3. WeltMagazin Nr. 5/6, 10-12/1975, S. III.

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schaffen und den jahrzehntelangen antizionistischen Konsens in Frage stellen, äußert sich der Linkspolitiker moderater, indem er konzediert, das „Existenzrecht Israels“ stehe für ihn „außer Frage“.5 Doch wie steht es um die so genannte „manierliche“, d. h. eher verschämte und „moderate“ Form des Antizionismus, die Jean Améry letztlich genauso beunruhigen sollte wie manch unverschämte verbale Entgleisung? Für gewöhnlich orientiert sich ihre verbale Einlaufkurve an folgendem Ablaufschema: Eine „Israellobby“ wolle jegliche Kritik an Israel unter einen antisemitischen Generalverdacht stellen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels unterliege daher einem Denkverbot. Diese und ähnliche Denkfiguren lösen in Deutschland immer wieder reflexartig die Frage aus, ob und wie viel Kritik an Israel „erlaubt“ sei: „Es muss doch in diesem Lande wieder möglich sein ... oder?“ Aufmerksame Beobachter wissen, dass es in Deutschland noch nie ein „Tabu“ gewesen ist, Israel und die israelische Regierung zu kritisieren. Der im rechten politischen Spektrum angesiedelte Ministerpräsident Scharon wurde viele Jahre scharf kritisiert – z. T. noch heftiger als seine Vorgänger Menachem Begin und Benjamin Netanjahu in den 1980er und 1990er Jahren. Als der rechtssäkulare israelische Politiker Avigdor Lieberman im Frühjahr 2009 zum neuen Außenminister des jüdischen Staates avancierte, waren sich die meisten Kommentatoren in der Vorverurteilung Liebermans einig – eine Chance oder gar eine kurze Schonzeit, wie sonst international üblich, wurde dem umstrittenen Politiker nicht gewährt. „Das größte Hindernis für einen Frieden in Nahost heißt Israel“, titelte Anfang April 2009 die linke Wochenzeitung „Der Freitag“6. In Superlativen dieses Kalibers äußert sich das im Gewande der „Israelkritik“ auftretende Ressentiment antizionistischer „Nahostexperten“, die dem jüdischen Staat mit maßlosen Invektiven die Legitimation glauben entziehen zu können. Die Schlüsselfrage lautet insofern nicht, ob „Israelkritik“ hierzulande „erlaubt“ ist – sondern, ob die selbsternannten Kritiker ein faires, kritischdifferenzierendes oder aber verzerrtes Israelbild zeichnen: Es mag gute Gründe geben, Israel im Allgemeinen und Lieberman im Besonderen zu kritisieren – aber verdienen nicht auch andere Länder dieser Welt kritische Begleitung? Selbstkritik ist eine Tugend, die in den israelischen Medien _____________ 5 Paech, Norman, 2008. „Auch Mullahs haben ein Recht auf Schutz“. In: Der Tagesspiegel (14.11.2008), S. 6. 6 Vgl. den Aufmacher In: Freitag (02.04.2009), S. 1.

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jeden Tag aufs Neue praktiziert wird: in Zeitungen, im Fernsehen, Radio und nicht zuletzt in zahllosen Internet-Foren. Wer allerdings Israels Staat und Gesellschaft mit anderen und strengeren Maßstäben als sonst international üblich misst, muss sich fragen lassen, ob eine solche Position nicht von einem Antisemitismus in moralischer Tarnung geprägt ist. Dieser Verdacht stellt sich vor allem dann ein, wenn „Israelkritiker“ das Existenzrecht Israels als jüdischen und demokratischen Staat in Frage stellen (Delegitimierung), immer zuerst „Israel“, der „zionistischen Lobby“ oder gar „den Juden“ die Schuld an der palästinensischen Malaise geben (Dämonisierung) und umstrittene israelische Militäreinsätze mit den Verbrechen der Nazis gleichsetzen (Aufrechnung und „Entsorgung“ der NS-Verbrechen). Es war der Schriftsteller Jakob Wassermann, der 1923, als der Name Adolf Hitler noch kaum bekannt war, entnervt zu Papier brachte: „Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zu Tage. [...] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: Was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul! Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: Der Feigling, er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn dazu. Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu geben. Sie sagen: Was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit? [...] Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Sie sagen: Er ist ein Jude.“ (Wassermann 2005: 127 f.) Ob wir heute im Verhältnis zu Israel, jenem tendenziellen Paria der Weltgemeinschaft, qualitativ viel weiter gekommen sind, mag umstritten sein. Dennoch bin ich überzeugt, dass im kritischen Rückblick auf Etappen des schwierigen Verhältnisses der deutschen Linken zum Staat Israel Lehren gezogen werden können, die für uns heute erhellend sind.

2. Zur Dialektik von Antisemitismus und Philosemitismus vor 1967 Zunächst eine Beobachtung, die überraschen mag: Entgegen dem philosemitischen und proisraelischen Image, das der deutschen Nachkriegsgesellschaft nachgesagt wird, war zunächst alles Jüdische mit einem strengen Tabu belegt. Die Deutschen vermieden nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit, sie ignorierten auch das zionisti-

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sche Aufbauwerk und die jüdisch-arabischen Auseinandersetzungen. Man hatte anderes zu tun – „die Deutschen“, so beobachtete schon wenige Wochen nach Kriegsende die Überlebende Berliner Jüdin Inge Deutschkron, „wurden damals im wesentlichen von einem primitiven Selbsterhaltungstrieb geleitet, der alle Interessen für andere Dinge als ihr eigenes Schicksal ausschloss“ (Deutschkron 1991: 7). Vorherrschende kollektive Befindlichkeit war, nach dem allmählichen Aufwachen aus der narkotisierenden Politparalyse der ersten Nachkriegsjahre, jenes Selbstmitleid, von dem Hannah Arendt 1950 überrascht wurde. Während ihres ersten Deutschland-Aufenthalts seit 1933 wurde die in die USA vertriebene Publizistin und Philosophin Zeugin, wie nichtjüdische Deutsche ihre kriegsbedingten Leiden mit denen der Juden verglichen und aufrechneten (vgl. Arendt 1950).7 Doch aus der Melange aus kollektivem Schweigen und Selbstmitleid sollte keine falsche Schlussfolgerung gezogen werden: Antisemitismus als ein traditionelles Mentalitätsmerkmal der deutschen und europäischen Gesellschaften war mit dem Nationalsozialismus keineswegs untergegangen – nicht einmal in antifaschistischen Kreisen. Kein Geringerer als der im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller Thomas Mann hatte wenige Monate nach Kriegsende nichts Besseres zu tun, als über rassetheoretische Empfindungen zu schwadronieren.8 Selbst eine publizistisch-moralische Ikone wie Marion Gräfin Dönhoff schrieb eine Gleichsetzung der israelischen Regierung mit dem NS-Regime herbei.9 Der katholische Historiker und frühe Protagonist des christlich-jüdischen Dialogs Karl Thieme be_____________ 7 Nicht nur der Tod, auch der Vergleich ist „ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan). Wir erleben dies gegenwärtig in der volkspädagogisch gut gemeinten, aber historischmoralisch verheerenden Manie, um beinahe jeden Preis Analogien zwischen dem Antisemitismus und der sog. Islamophobie herzustellen. 8 „‛Rasse’ ist vollends kompromittiert. Wie soll man sie (die Juden, MK) nennen? Denn irgend etwas ist es mit ihnen und nicht nur Mediterranes. Ist dieses Erlebnis AntiSemitismus? Heine, Kerr, Harden, Kraus bis zu diesem faschistischen Typ Goldberg – es ist doch ein Geblüt“ (Thomas Mann am 27.10.1945, in: Ders. Tagebücher 1944– 1.4.1946. Hrsg. von Inge Jens, Frankfurt a. M. 1986, S. 269). 9 „Man kann nur hoffen, dass der Schock, den der Tod des Grafen Bernadotte für die verantwortlichen Männer der Regierung Israels bedeutet, sie für einen Moment wenigstens innehalten und bestürzt erkennen lässt, wie weit sie auf jenem Wege bereits gelangt sind, der erst vor kurzem ein anderes Volk ins Verhängnis geführt hat“ (vgl. Gräfin Dönhoff, Marion, 1948. „Völkischer Ordensstaat Israel“. In: Die Zeit Nr. 39/1948 (23.09.1948), S. 1).

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hauptete eine jüdische Mitschuld an der „Verewigung des Antisemitismus“, als Alibigeber führte er einen jüdischen Kronzeugen auf (vgl. Thieme 1949: 113) – eine Praxis, die Philosemiten und Antisemiten noch heute eigen ist. Nach den Befunden der empirischen Meinungsforschung lag die Zahl bekennender Antisemiten in Deutschland im August 1949 wieder bei 23 % (vgl. Noelle/Neumann 1956: 128). Eine nachhaltige Verminderung dieser hohen Zahl ist uns – ungeachtet aller staatlichen und halbstaatlichen Bemühungen, zu denen ich auch das Jenaer Symposium zähle – bis heute nicht gelungen. Gleichwohl: Mit dem so genannten Wiedergutmachungsabkommen von 1953 erschien der junge jüdische Staat Israel immer mehr auf dem Radarschirm der veröffentlichten Meinung – nicht zuletzt in der politischen Linken. Der Antizionismus der Vorkriegszeit war gründlich desavouiert, der zionistische Geschichtspessimismus auf furchtbare Weise verifiziert. So war es ausgerechnet die kommunistische Sowjetunion gewesen, die im Mai 1948 den jüdischen Staat – noch vor den USA – völkerrechtlich anerkannt hatte. Ohne tschechische Waffen hätte sich das jüdische Gemeinwesen der arabischen Übermacht nicht erwehren können. Doch in der Sowjetunion war das israelfreundliche Tauwetter schon Ende 1949 an sein Ende gekommen: Die sowjetische Führung unter Stalin entfachte eine antisemitische und antizionistische Kampagne. Ins Fadenkreuz der Verfolger gerieten vor allem Menschen „jüdischer“ Herkunft. Auch die ostdeutsche SED schloss sich in den frühen 1950er Jahren den Säuberungswellen an: Wen das Verdikt „Westemigrant“, „Trotzkist“ und/oder „Kosmopolit“ traf, geriet in den Strudel dubioser Schau- und Geheimprozesse. Selbst langjährige Altkommunisten wurden verfemt. Unter dem Vorwand, „zionistische Agenten“ zu sein, versuchte die SEDFührung, den Unmut der Bevölkerung auf die Juden zu lenken (vgl. Illichmann 1997: 79–132, bes. 108 sowie Timm 1997: 98–126). Erst im Zuge der Entstalinisierung von 1956 nahmen die offenkundigsten Formen des antisemitischen Spuks ein Ende. Kein Wunder, dass der Dissens zwischen demokratischen und kommunistischen Linken auch vom Themenkomplex „Juden, Judentum und Zionismus“ geprägt wurde. Nicht nur in Westdeutschland wurde Ende der 1950er Jahren eine proisraelische Grundeinstellung zum Prüfstein wahrhaft demokratisch-geläuterter Gesinnung. Sozialdemokratische und christliche Linke stellten sich an die Spitze dieses Paradigmenwechsels. Viele

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von ihnen begeisterten sich für Israel, für das fortschrittliche Aufbauwerk in dem „anti-kolonialistischen Pionierstaat“.10

3. Der Sechstagekrieg 1967: ein folgenreicher Paradigmenwechsel Spätestens gegen Ende des so genannten Sechstagekrieges fand die philosemitische Stimmung in der Linken ein Ende. Was war geschehen? Israel suchte sich Anfang Juni 1967 der Einkreisungsstrategie seiner „Nachbarn“, orchestriert von arabischen Vernichtungsdrohungen, durch einen Präventivschlag zu erwehren. Eine Welle der Sympathie erfasste den jüdischen Staat überall in der westlichen Welt, besonders aber in Westdeutschland. Unter dem Eindruck einer monströsen Rhetorik der arabischen Kriegspropaganda schien es, als falle der Linken eine besondere moralische Verantwortung für die Existenz des jüdischen Staates zu. Allerorten kam es zu proisraelischen Demonstrationen und Spendensammlungen, etwa 3.000 Freiwillige boten Israel ihre persönliche Hilfe an. Die Initiative zu beinahe allen proisraelischen Aktivitäten ging von Personen des linken Spektrums aus. Der DGB und seine Jugendorganisationen, die SPD und ihre Parteiuntergliederungen, Evangelische Studentengemeinden und die Aktion Sühnezeichen, Studentenvertretungen einschließlich einzelner Gruppen des Sozialistischen Deutschen Studentenverbandes SDS – sie alle organisierten Schweigemärsche, Infoveranstaltungen, Spendenaktionen und Solidaritätsaufrufe.11 Federführend waren Persönlichkeiten wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt, der Schriftsteller Günter Grass, der marxistisch-evangelische Theologe Helmut Gollwitzer, der marxistisch-atheistische Philosoph Ernst Bloch, der linksprotestantische Alttestamentler Rolf Rendtorff, der Politologe Iring _____________ 10 Vgl. Kaufmann, Julius, 1955. „Israel im Kampf mit Sumpf und Wüste“. In: Frankfurter Hefte (7/1955), S. 510–513; Dirks, Walter, 1957. Vorwort zu: Finbert, Elian-J., 1957. „Pioniere der Hoffnung. Israel. Abenteuer und Wagnis“. Düsseldorf: Rauch, S. 7–13; Gollwitzer, Helmut, 1958. „Zehn Jahre Israel. Deutsche und Juden heute“. In: Der Monat (8/1958), S. 53. 11 Entsprechende Quellenmaterialien (Flugblätter etc.) sind im Archiv „APO und soziale Bewegungen“ der Freien Universität Berlin aufbewahrt; vgl. auch den von A. H. Neliba herausgegebenen Jugendinformationsdienst, Nr. 8 (14.06.1967) sowie Vogel (1967: 329–337).

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Fetscher, der Erziehungswissenschaftler und SDS-Förderer Heinz-Joachim Heydorn, schließlich der schon erwähnte Kulturjournalist und Schriftsteller Jean Améry. Doch die deutsch-israelische Romanze sollte nicht lange währen: Israels qualitativ überlegene und hochmotivierte Truppen hatten sich auf der ganzen Linie durchgesetzt. Die Tatsache, dass der jüdische Staat nicht untergegangen, sondern sich wehrhaft behauptet hatte – dieser „Sündenfall“ war im neulinken Weltbild nicht vorgesehen: Während bürgerlichkonservative Kreise plötzlich Israel-Sympathien zeigten, wechselten weite Teile der radikalen Neuen Linken die Fronten (das innenpolitische Motiv). Binnen weniger Wochen nahmen sie den jüdischen Staat nur noch als „zionistisches Staatsgebilde und als Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahr (das antiimperialistische Motiv). Hinter der Kritik am angeblich „aggressiven“ Präventivschlag verbargen sich zunehmend Zweifel an der Legitimation Israels an sich. An die Spitze des antizionistischen Paradigmenwechsels setzten sich Aktivisten des SDS – die historische Funktion des Zionismus für die nationale und soziale Emanzipation vieler Juden geriet aus ihrem Gesichtskreis. Die SDS-Führung betonte fortan ihre Sympathien mit der Fatah, jener Hausmacht von PLO-Chef Yassir Arafat. Zudem besaß der SDS bald keine Skrupel mehr, die heroisch anmutenden „Militärkommuniqués“ der Fatah über „erfolgreiche“ terroristische Aktivitäten zu übersetzen und ihren Mitgliedern kommentarlos (!) zur Verfügung zu stellen.12 1969 hatten sich die israelkritischen Tendenzen in der Neuen Linken zu einem Antizionismus radikalisiert, der alle Anzeichen eines ideologisch geschlossenen Weltbildes aufwies. Differenzierende Zwischentöne schienen zum Teil sogar jenen Linken nicht länger opportun zu sein, die sich in früheren Jahren noch als proisraelische Autoren ausgewiesen hatten. Keinen Einzelfall stellte der Frankfurter Theologe Hans Werner Bartsch dar, der angesichts aktueller arabischer Vernichtungsdrohungen noch gegen Ende des Sechstagekrieges in einem engagierten Schreiben an den SDS eine „einseitige Stellungnahme für Israel“ für geboten gehalten hatte.13 Anfang 1969 nahm er Israel nur noch als „Aggressor und Handlanger der _____________ 12 Vgl. beispielhaft das SDS-Info Nr. 10 (02.04.1969), S. 13; zum Vergleich siehe die im SDS-Nachlass der FU Berlin archivierten Ausgaben der vom „Information Office“ der Fatah in Beirut herausgegebenen Zeitschrift FATEH. 13 So am 10.06.1967 (vgl. SDS-Nachlass, a. a. O.).

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Kolonialmacht USA“ wahr, dem jede Existenzberechtigung abzusprechen sei.14 Die antiisraelisch motivierte Fixierung auf den palästinensischen „Widerstand“ kannte nun keine Grenzen mehr: Auf Einladung der Fatah bereiste Ende Juli 1969 ein knappes Dutzend führender SDS-Mitglieder mit weiteren internationalen Teilnehmern das Haschemitische Königreich Jordanien. Kursierende Gerüchte über die Aufstellung internationaler Brigaden durch die Fatah15 wurden erst Mitte August dementiert. Die Idee einer anschließenden Erkundungsreise nach Israel zwecks kritischer Überprüfung des eigenen Standpunkts hielt die deutsche Besuchergruppe für abwegig.16 Kontakte zum palästinensischen „Widerstand“ wurden auch in der Folgezeit gepflegt: An einer PLO-Konferenz im Dezember 1969 nahmen 200 ausländische Teilnehmer teil, darunter Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer. Auch wenn das Erinnerungsvermögen einiger deutscher Teilnehmer im Nachhinein getrübt zu sein scheint, wissen wir heute, dass von den Reden in Algier keine Friedenssignale ausgegangen sind. Stattdessen wurde dort der „Endsieg“ über Israel beschworen und eine Atmosphäre der Gewalt verbreitet. Von moralischen Einsprüchen der anwesenden SDS-Delegation ist bis heute nichts bekannt.17 Bis zu seiner Selbstauflösung im Jahre 1970 vertrat der SDS gegenüber Israel eine Politik der revolutionären „Unschuld“, die sich in einer Mischung aus „antiimperialistischen“ Phrasen und Fragmenten eines reaktivierten Antisemitismus unter antizionistischen Vorzeichen äußerte. In einem seiner letzten Flugblätter gegen den Besuch des israelischen Außenministers ließ der Frankfurter SDS verlautbaren: „Der Besuch Abba Ebans, der als Vertreter eines rassistischen Staates in die Bundesrepublik reist, muss zu einer Demonstration und zum Protest gegen den zionistischen, ökonomisch und politisch parasitären [sic! MK] Staat Israel und _____________ 14 Vgl. Bartsch, Hans Werner, 1969. „Die Araber und Israel. Zur zweiten internationalen Konferenz zur Unterstützung der arabischen Völker, Kairo 25.–28. Januar 1969“. In: Stimme der Gemeinde, Heft 5, 01.03.1969, Spalte 153 ff., hier Spalte 154. 15 Vgl. J. P., Manipulation in Israel. In: Agit 883 Nr. 31 (12.9.1969), S. 3. 16 „Nach Israel fahren wir erst, wenn es sozialistisch geworden ist“ (so Bundesvorstandmitglied Hans-Jürgen Krahl, zitiert nach: Süddeutsche Zeitung (14./15.08.1969), S. 3). 17 Vgl. Knapp, Udo, 2001. „Die Reise nach Algier. Mit Joschka Fischer in Nordafrika: Wie es war, was uns bewegte“. In: FAZ (15.01.2001), S. 12.

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seine imperialistische Funktion im Nahen Osten werden [...]. Der palästinensische Kampf ist ein Bestandteil des Kampfes aller unterdrückten Völker der Dritten Welt gegen den Imperialismus [...]. Nieder mit dem chauvinistischen und rassistischen Staatsgebilde Israel.“18 Kein Geringerer als der APO-Forscher Wolfgang Kraushaar war in dieser Zeit (von 1968 bis 1970) Mitglied des Frankfurter SDS und danach (1974/75) AStAVorsitzender.19 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob sein Versuch, „Grenzmarkierungen“ zu ziehen, um den SDS im Besonderen und die APO als Ganzes vor dem Verdacht des Antisemitismus in Schutz zu nehmen, nicht auch persönlichen Motiven geschuldet ist. Kraushaar hat sich nach eigenem Bekunden „in dieser gesamten Zeit [...] weder schriftlich noch mündlich zu Israel, zu den Palästinensern oder zum Nahostkonflikt insgesamt geäußert“. Er kann sich „auch an keine einzige Veranstaltung erinnern, die in irgendeiner Weise mit dem Nahostkonflikt zu tun hatte“. Von den „antiisraelischen Ausfälle(n)“ des Jahres 1969, an denen auch der Frankfurter SDS aktiv beteiligt war, weiß der Autor „nur aus der Literatur“. Im Oktober 1970 (nach der Selbstauflösung des SDS), zog sich Kraushaar für zwei Jahre, wie er allen Ernstes schreibt, in die „innere Emigration“ zurück.20 – Ähnliche autobiografische Selbstrechtfertigungen kennen wir auch aus anderen geschichtlichen Epochen. Handlungsorientierter als die verkopften SDS-„Außenpolitiker“ mit ihren agitatorischen Sandkastenspielen verhielten sich die Sympathisanten der linksradikalen Stadtguerilla: In immer neuen Variationen beschworen sie die „großartige Wahrheit“ des bewaffneten Widerstandes palästinensischer Fedayin,21 „weil das Gewehr die einzige Ausdrucksmöglichkeit aller _____________ 18 „Teach in zum Besuch des israelischen Außenministers Eban“. Unterzeichner des Flugblatts: SDS, GUPS, ISRACA/D, Trikont, Vereine der arabischen, iranischen und afghanischen Studenten, Frankfurt a. M. (18.02.1970) (vgl. SDS-Nachlass, a. a. O.). 19 Vgl. Kloke, Martin, 2005. „Antisemitische Obsessionen“. In: Die Tageszeitung taz (18.07.2005), S. 16 (Kritische Nachbemerkungen zu Kraushaar 2005) sowie Kloke (2006). 20 Vgl. Kraushaar, Wolfgang, 2006. Leserbrief. In: TRIBÜNE Nr. 179, (3/2006), S. 205 f. (veröffentlichte Zweitfassung; eine geringfügig abweichende Erstfassung liegt dem Autor vor); siehe dazu Martin Kloke: „Im Hause des Henkers ...“ Antwort an Wolfgang Kraushaar. In: TRIBÜNE. Nr. 180 (4/2006), S. 211–214. 21 N. N., Emanzipatorische Bewegung der Palästinenser. In: Agit 883 Nr. 29 (28.08.1969), S. 8.

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Unterdrückten ist – überall“.22 Sie agitierten unter dem Motto „Schlagt die Zionisten im eigenen Land!“23 Doch beschränkten sich linke Schreibtischtäter nicht auf eine revolutionsromantisch verklärte Ästhetisierung von Gewalt: Im Oktober 1969 reisten fünf Aktivisten der „Tupamaros Westberlin“ um Dieter Kunzelmann in ein palästinensisches Ausbildungslager in Jordanien, durchliefen eine paramilitärische „Schulung“ und begegneten mehrfach u. a. Yassir Arafat. Mit „dem totalen Willen zu kämpfen sind die Leute dann aus Palästina zurückgekommen“, erinnert sich Michael „Bommi“ Baumann, einer der ersten Szene-Aussteiger. Ideologisch und waffentechnisch neu zugerüstet, organisierten die jungdeutschen antizionistischen Rückkehrer ausgerechnet am 9. November 1969 einen antijüdischen Anschlag – während einer Gedenkfeier zum Jahrestag der Reichspogromnacht. Die Bombe, die sie im jüdischen Gemeindehaus WestBerlins deponierten, zündete wegen einer Fehlfunktion allerdings nicht (vgl. Kloke 1990: 163 ff., Kraushaar 2005). Sieben Jahre später begann ein weiterer Höhepunkt antisemitischer Gewaltpraxis die antizionistische Selbstgewissheit in der neulinken Palästina-Solidarität in Frage zu stellen: Im Sommer 1976 brachte ein deutschpalästinensisches Kommando aus Mitgliedern der „Revolutionären Zellen“, der „Bewegung 2. Juni“ und der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ ein französisches Passagierflugzeug in ihre Gewalt und dirigierte die Maschine nach Entebbe (Uganda) um. Der Deutsche Wilfried Böse organisierte die räumliche Trennung der jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren. Erst jetzt war der Schock über Affinitäten zwischen rechtsgerichteten und linksradikalen antijüdischen Ressentiments so nachhaltig, dass sich das Ende des antizionistischen Meinungsmonopols in der Linken ankündigte (vgl. Kloke 1994: 168–176). Gelegentlich taucht in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob nicht auch Otto Schily, der in den 1970er Jahren regen Umgang mit der linksradikalen Szene pflegte, zeitweise dem „internationalistisch camouflierten Antisemitismus der Neuen Linken“ erlegen sei – etwa in seiner Funktion als RAF-Anwalt. Doch selbst Schilys kritischer Biograf Stefan Reinecke kommt nicht um das Fazit herum: „Schily hat ihn [den linken Antisemitismus, MK] nicht geteilt, und er hat _____________ 22 N. N., Alle politische Macht kommt aus den Gewehrläufen. In: Agit 883 Nr. 59 (07.05.1970), S. 9. 23 So das „Kommando Michéle Pirk“ in einem Schmähartikel gegen den BfG-Bankier Walter Hesselbach. In: Agit 883 Nr. 59, a. a. O., S. 4.

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sich dafür nicht sonderlich interessiert. Er ist ihm nicht aufgefallen. Die Achtundsechziger, sagt er heute, ‘waren für mich Antifaschisten. Vielleicht hat man manches damals nicht so scharf gesehen wie heute’.“ (Reinecke 2003: 276 sowie 115–122). Zum politischen Erbe des SDS und der 1968er gehört im anschließenden „Roten Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) die Entstehung kleiner marxistischleninisti-scher und zumeist maoistisch orientierter Kaderparteien – aber eben auch die Herausbildung jener zahllosen sogenannten PalästinaSolidaritätsgruppen und -komitees, die das antizionistische Vermächtnis der Studentenbewegung zu ihrem Lebensthema machten. Zu Zentren deutscher „Palästina-Solidarität“ wurden Universitätsstädte, in denen sich Anhänger des neulinken Spektrums zum Sprachrohr der Palästinenser machten. Unwidersprochen verbreiteten sie auch antisemitisches Gedankengut. Das Bonner Palästinakomitee suggerierte in seinen Statuten die ominöse Existenz eines „jüdischen Kapitals“;24 andere agitierten gegen „USImperialismus und Weltzionismus“;25 die Leitung des Kommunistischen Bundes rief auf zum Kampf gegen den „internationalen Zionismus“26 – eine nicht erst heute irritierend klingende Wortwahl. Weite Teile der 1968er sind in den späten 1970er Jahren mit der grünalternativen Bewegung verschmolzen und haben sich in diesem Prozess bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dennoch: Als die israelische Armee im Sommer 1982 in den Libanon einmarschierte, um dort befindliche PLOBasen zu zerstören, die Teile des libanesischen Staates fest im Griff hatten, wurde Israel in seltener Einmütigkeit des „Völkermords“ an den Palästinensern bezichtigt. Nicht zuletzt linksalternative Publizisten erlagen der Faszination begrifflicher Tabubrüche; triumphierend witterten sie die Gelegenheit, Antifaschismus und Antisemitismus miteinander zu versöhnen. Auch Journalisten der Berliner „tageszeitung“ beteiligten sich an jener historisch-psychologischen Entlastungsoffensive, bei der die betroffenen Palästinenser als die „neuen Juden“ bezeichnet und die israelischen Invasoren mit den Nazis verglichen wurden. Die gezielte Vermischung historischer Ebenen gipfelte im Vorwurf des „umgekehrte(n) Holocaust(s)“ und einer „Endlösung der Palästinenserfrage“ (Kloke 1994: 220–229). _____________ 24 Vgl. Al-thaura Nr. 1/1971, S. 4. 25 Privatarchiv d. Verf. 26 Vgl. Arbeiterkampf Nr. 35 (11/1973), S. 16.

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„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, heißt es in einem Diktum von Friedrich Hölderlin:27 Und tatsächlich sollte das unausgegorene Nahost-Engagement radikaler Linker und links-alternativer Aktivisten in den späten 1980er Jahren zunehmend Unbehagen erzeugen. Insbesondere die Grünen wurden von „kathartischen Zerreißproben“ erschüttert – sie waren die Folge erbitterter innerparteilicher Auseinandersetzungen: Dort sind antizionistische Töne inzwischen nur noch selten zu hören. Gelähmt von den riesigen weltpolitischen Veränderungen seit 1989 begann eine orientierungslos gewordene Linke zur Subkultur zu werden – mit allen Symptomen der Versektung, aber auch der ideologischen Diversifizierung. Hat sich mit dem Zerfall der 1968er auch der antizionistische Antisemitismus verflüchtigt – unter den Erben der Neuen Linken und ihren Milieus?

4. „Israelkritik“ und Antizionismus im Namen der Menschenrechte: neuer Antisemitismus? Die Partei „Die Linke“ ist sich bis heute uneins über ihr Verhältnis zu islamistischen Israelfeinden, die sich insbesondere in der Achse Hamas, Hisbollah und dem Teheraner Mullah-Regime verorten lassen. Es ist kein Geheimnis, dass in der Linken (Wolfgang Gehrke, Oskar Lafontaine, Christine Buchholz) Sympathien mit der Hisbollah als angeblich „antikolonialer Befreiungsbewegung“ virulent sind. Dieses Weltbild kann offenbar auch vom antiisraelischen Vernichtungsdrang arabischer Islamisten nicht beeinträchtigt werden. Die Gretchenfrage ist doch: Liegt hier ein antisemitischer Indikator vor oder „nur“ Verdrängung und politische Ignoranz? Während Politiker wie Oskar Lafontaine unter wohlgefälligem Nicken der NPD nach gemeinsamen „Schnittmengen“ fahnden und mit anderen Linkspartei-Vertretern (insbesondere der Linksruck-Fraktion) den Dialog mit Islamisten suchen, haben Vertreter des sächsischen Landesverbandes und Mitarbeiter der Rosa Luxemburg-Stiftung einen nach innen gerichteten Aufruf verfasst, unter dem Motto „Hamas raus aus den Köp_____________ 27 Vgl. Hölderlin, Friedrich. Patmos. Dem Landgrafen von Homburg. In: Hölderlin. Sämtliche Werke, 2. Bd.: Gedichte nach 1800. Im Auftrag des württembergischen Kultusministeriums hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1953, S. 187–191, hier S. 187.

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fen“.28 Spätestens seit der programmatischen Kritik von LinkeFraktionschef Gregor Gysi am traditionell linken Antizionismus29 und der offensiven Israelsolidarität des linksjugendlichen Bundesarbeitskreises „Shalom“30 gehört der antizionistische Konsens des Parteiestablishments der Vergangenheit an. Seit einigen Jahren erfreuen sich antiisraelische Boykottaufrufe globalisierungskritischer, gewerkschaftlicher und kirchennaher Einrichtungen, die in linken Traditionszusammenhängen stehen, einer gewissen Beliebtheit: Als 2003 eine deutsche Attac-Gruppe zum Boykott israelischer Waren aufrief, konnte dies noch als ein Randphänomen gedeutet werden – eine Unterschriftensammlung wurde nach öffentlichen Protesten wieder zurückgenommen.31 Doch nicht erst seit dem Gaza-Krieg hat sich auch in Deutschland der Ton verschärft: Im Mai 2007 forderten linke Christen in der Evangelischen Akademie Bad Boll, „Produkte aus Israel so lange nicht zu kaufen, bis die Besatzung beendet ist“.32 Linke Antizionisten protestierten im August 2007 gegen eine Israel-Woche des Berliner Kaufhofs, dem Nachfolger des unter den Nazis arisierten jüdischen Kaufhauses Wertheim, da dort auch Waren aus den israelischen Siedlungen im Westjordanland feilgeboten würden.33 Heute – 2009 – treibt in globalisierungskritischen Milieus einschließlich der Linkspartei eine weltweit agierende antiisraeli_____________ 28 Vgl. Fischer, Jörg, 2007. „Bedingungslos für die Hamas?“. In: Jüdische Zeitung, März 2007, S. 5. 29 Gysi, Gregor, 2008. „Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel“. Vortrag auf einer Veranstaltung „60 Jahre Israel“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 14.04.2008 (unveröffentl. Ms.); vgl. auch Berg, Stefan, 2008. „Gysi geißelt linken Antizionismus“. In: Spiegel online (15.04.2008); Gessler, Philipp; Medick, Veit, 2008. „Kampf in Linke um Haltung zu Israel. Gysis Machtwort irritiert Genossen“. In: taz (19.04.2008). 30 Vgl. beispielhaft den Kommentar von Gründungsmitglied Sebastian Voigt („An Israels Seite“. In: Der Tagesspiegel (20.05.2008), S. 6). 31 Vgl. Braun, Matthias, 2003. „Antisemitismus-Streit bei Attac“. In: taz (05.09.2003), S. 8; Strohschneider, Tom, 2003. „Klärungsbedarf in Sachen Antisemitismus. In der globalisierungskritischen Szene wird über Palästina-Solidarität und Finanzmarktkritik gestritten“. In: Neues Deutschland (19.11.2003). 32 So die „Forderungen aus den Arbeitsgruppen“ während der Tagung „Jenseits von Frieden? Deutsches Engagement im Israel-Palästina-Konflikt“, 11. bis 13. Mai 2007 in Bad Boll (Privatarchiv d. Verf.). 33 Vgl. Uni, Assaf, 2007. „Germans protest sale of food from West Bank settlements“. In: www.haaretz.com (19.08.2007).

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sche und z. T. sogar offen antijüdisch motivierte Boykottbewegung ihr Unwesen.34 Für Boykottaufrufe gegen die chinesische Regierung wegen der Besetzung Tibets oder Maßnahmen gegen Regierungen anderer Länder wegen vergleichbarer Menschenrechtsverletzungen interessieren sich die eifernden Israel-Boykotteure indes nicht. Woher also rührt das Faszinosum eines Boykotts gegen die Wirtschaft des jüdischen Staates – bei Linken, die die Nazi-Parole „Deutsche wehrt Euch, kauft nicht bei Juden“ mindestens aus dem Geschichtsunterricht kennen müssten? Wann immer die israelische Armee gegen Zentren palästinensischer Terrorangriffe vorgeht, vermitteln Nachrichten und Kommentare Bilder eines angeblich „biblischen Krieges“: „Auge um Auge“, „Vergeltungsschläge“ und „alttestamentarische Racheaktionen“ – reflexhaft tauchen die alten Klischees des christlichen Antijudaismus wieder auf: So etwa, wenn Israels Selbstverteidigungsanstrengungen als „Vergeltung“ missverstanden oder in dramatischen Zuspitzungen dämonisiert werden. Zahllose Demonstranten skandierten hierzulande „Tod Israels“; das Berliner Verwaltungsgericht erlaubte das Zeigen von Hamas-Flaggen, während proisraelische Demonstranten mit Polizeigewalt daran gehindert wurden, die Flagge Israels zu zeigen. In Duisburg drang die Polizei gar in die Wohnung eines Israel-Sympathisanten ein, der es gewagt hatte, am Fenster seiner Wohnung eine blauweiße Fahne anzubringen.35 „Ganz Gaza“ liege in Trümmern, hören wir allenthalben.36 „Völkermord“ und „Holocaust in Gaza“ schreit der antiisraelische Mob auf der Straße. Schauen wir uns die Fakten genauer an, so erfahren wir, dass während der dreiwöchigen Kämpfe ca. 1.330 Palästinenser getötet (etwa 0,08 % der Bevölkerung) und ca. 4.000 Häuser zerstört worden sind (1 bis 2 % aller Häuser im Gazastreifen). Diese Zahlen dürfen nicht herunter geredet werden – in der Tat gibt es unschuldig zwischen die Fronten geratene Palästinenser; israelischen Presseberichten zufolge zirkulieren sogar Gerüchte, _____________ 34 Vgl. N. N., 2009. „Italiens Gewerkschaft ruft zum Boykott jüdischer Geschäfte auf“. In: Der Standard (09.01.2009); Klein, Naomi, 2009. „Enough. It’s time for a boycott“. In: The Guardian (10.01.2009); Altmeyer, Martin, 2009. „Antisemitismus von links“. In: taz (23.01.2009); Meisner, Matthias, 2009. „Delegierte entzweit über Boykottaufruf. Antisemitismusstreit verfolgt die Partei“. In: Der Tagesspiegel (01.03.2009), S. 4. 35 Vgl. Herzinger, Richard, 2009. „Hass auf Israel. Offener Antisemitismus bedroht Europa“. In: Die Welt (27.01.2009). 36 Beispielhaft Gehlen, Martin, 2009. „Nach den Bomben das Nichts“. In: Der Tagesspiegel (24.01.2009), S. 3.

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wonach einzelne Soldaten Kriegsverbrechen verübt haben sollen. Doch ist dies kein Grund, sich den Blick für Proportionen vernebeln zu lassen und den Propagandisten auf den Leim zu gehen: Selbst die israelkritische ZDFKorrespondentin Karin Storch berichtete nach ihrem Besuch im Gazastreifen im Januar 2009: „Großflächigere Zerstörungen hatte ich erwartet. Die israelischen Streitkräfte haben höchst gezielt Polizeistationen und Moscheen angegriffen.“37 In der Tat: Die israelischen Militärschläge richteten sich nicht gegen die Zivilbevölkerung, sondern gegen die terroristische Infrastruktur, um den Raketenterror der Hamas und anderer extremistischer Gruppen zu stoppen, dem die Bevölkerung im Süden Israels seit Jahren ausgesetzt ist. Während der Bodenoffensive warnte die israelische Armee lokal betroffene Palästinenser per Flugblätter, Handy-Anrufe und SMS vor, um das Risiko unschuldiger Opfer zu minimieren. Demgegenüber hatten und haben die Terrortrupps der Hamas keine Skrupel, israelische Zivilisten, Kindergärten und Schulen wahllos zu beschießen sowie Stellungen und Waffendepots in Wohnsiedlungen und Moscheen zu platzieren. Auch das Gerücht von der „humanitären Blockade“ ist mit einem großen Fragezeichen zu versehen: Der französische Philosoph BernardHenri Lévy notierte während seiner fact-finding-mission in der Kriegsregion: „Jeden Tag passieren ihn [den Kontrollpunkt von Kerem Shalom, MK] Hunderte Lastwagen, genau beobachtet von Vertretern der Nichtregierungs-organisationen: Mehl, Medikamente, Babynahrung, Decken. [...] Mehr als zwanzigtausend Tonnen sind unter der Schirmherrschaft der UNICEF oder des World Food Program nach Gaza geliefert worden, seit der Militäreinsatz begann.“38 Es wäre nicht nur sinnlos, sondern auch moralisch fragwürdig, Opfer der einen gegen die Opfer auf der anderen Seite aufzurechnen. Gleichwohl muss es erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass die Zahl getöteter Zivilisten in Gaza proportional weitaus geringer ausgefallen ist als in vergleichbaren Kriegen, die von alliierten Streitkräften im Kosovo oder in Afghanistan ausgetragen worden sind oder noch werden – ganz zu schweigen von den _____________ 37 „Israel hat sich unklug verhalten“. Karin Storch im Interview mit Joachim Huber. In: Der Tagesspiegel (23.01.2009). 38 Lévy, Bernard-Henri, 2009. „Ich gebe hier mein Zeugnis ab“. In: FAZ (24.01.2009). Das Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe diagnostizierte zu Beginn der Zweiten Intifada bereits ein anderer namhafter französischer Philosoph, vgl. Glucksmann, André, 2000. „Zweierlei Maß“. In: Cicero. Magazin für politische Kultur (September/2000).

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zehntausenden Toten, die die russische Armee in Tschetschenien verursacht hat, nicht zu reden von den 200.000 ermordeten Muslimen Darfurs, die bis heute von arabischen Muslimen abgeschlachtet worden sind. Selbst die Massaker und Pogrome im zerfallenden Kongo oder im Norden Sri Lankas haben kaum jenes Minimum an Betroffenheit erzeugt, das für humanitäre Gegenreaktionen unerlässlich gewesen wäre. Warum interessiert sich die UNO, wenn überhaupt, nur halbherzig für diese und ähnliche genozidalen Exzesse? Warum gibt es darüber keinen Sitzungsmarathon und keinen Verurteilungsmechanismus? Warum zeigen sich die Medien, warum zeigt sich die Welt nur dann entsetzt, wenn Juden an einem Konflikt beteiligt sind? Woher kommt diese keineswegs nur „linke“ Obsession, Israel als Paria der Völkergemeinschaft hinzustellen? Die im April 2009 stattgefundene internationale „Antirassismus“-Tagung in Genf (Durban II) bildet in diesem Kontext ein vorerst letztes Glied in der weltweiten Kette antizionistischer Obsessionen. Mit Bezug auf die Schoah wird den Juden gern vorgeworfen, sie seien „wie Schafe zur Schlachtbank“ gegangen. Heute dagegen praktizieren die Israelis den alten APO-Spruch „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ – und prompt heißt es, sie reagierten „unverhältnismäßig“. Warum werden die Verteidigungsanstrengungen Israels mit anderen und strengeren Maßstäben als sonst international üblich gemessen? Ich fürchte, die Firnis der Zivilisation ist noch immer dünn: Der jahrhundertelange Antisemitismus hat sich 1945 nicht einfach verflüchtigt, sondern prägt nach wie vor das kollektive Unbewusste der Weltgemeinschaft. Außerdem hat diese Weltgemeinschaft immer noch ein schlechtes Gewissen: Sie verzeiht den Juden Auschwitz nicht – und giert nach Exkulpation und moralischer Kompensation wegen ihres Versagens in der Nazi-Zeit. Je „böser“ die Israelis gezeichnet werden, desto „besser“ können „wir“ uns fühlen – dann war der Holocaust, wenn wir ihn schon nicht leugnen können, wenigstens nicht einzigartig. In diesem Gedankenkonstrukt mutieren ausgerechnet die ehemaligen Opfer zu Tätern eines neuen Holocausts – und wir Deutschen, Europäer etc. avancieren zu den Guten. So „darf“ sich sogar die Berliner Republik zum Praeceptor Judaeorum aufschwingen: Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. „Die Juden sind unser Unglück!“, war die Überzeugung des renommierten nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. „Der Staat Israel ist das Problem!“, hören und

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lesen wir heute. Haben wir uns daran gewöhnt, dass ein antizionistisch camouflierter Antisemitismus wieder zur Alltagskultur gehört? Sollte die Linke, die um ihre Daseinsberechtigung kämpft, versucht sein, auf dem Antisemitismus-Ticket wieder Fuß zu fassen? Könnte sich im Rahmen eines globalisierungskritischen Volksfrontbündnisses eine orientierungslos gewordene Linke daran gewöhnen, „die Juden“ bzw. „den Staat Israel“ als Verkörperung abstrakter (umhervagabundierender) Kapitalflüsse wahrzunehmen – und diese für jene sozialen Verwerfungen verantwortlich zu machen, die aus der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise herrühren? Die entsprechenden Metaphern liegen längst bereit; erinnert sei an die so genannte „Heuschrecken“-Kampagne (= Ungeziefer): Ikonographisch wurden die Heuschrecken u. a. in der Zeitung der IG Metall als jüdischamerikanisch gebrandmarkt – als ob es keine deutschen Unternehmen gäbe, die international operieren, investieren und wieder verkaufen, wie es ihnen gefällt. Gregor Gysi, als gelernter Marxist und DDR-Bürger wahrlich kein 1968er, erkannte hellsichtiger als andere Linke: „Die Gedanken- und Gefühlswelt in Bezug auf Israel und die arabischen Länder ist in meiner Generation unklar, wirr und widersprüchlich“.39 Offenbar liegt hier keineswegs ein nur linkes, sondern ein gesamtdeutsches Problem vor. Ein Brückenschlag auf dem Weg zur dringend erforderlichen SelbstAufklärung könnte die Erkenntnis sein: Wenn Deutsche und auch Linke über Juden, Israel und Zionismus sprechen, reden sie immer auch über sich selbst – viele ihrer Sprüche und Parolen künden von historisch bedingten Entlastungsbedürfnissen und Schuldabwehr-Projektionen. So aporetisch es im Einzelfall sein mag, „Israelkritik“ und Antizionismus von Antisemitismus zu unterscheiden oder gar die Protagonisten des antijüdischen Ressentiments dingfest zu machen – zumal sich die Kontrahenten häufig anschließend vor Gericht wiedersehen: Der Antisemitismus ist und bleibt eine schwärende Wunde in der Seele dieser Gesellschaft – einerlei, ob sich die Ausdrucksformen dieses alten, aber zähen Ressentiments „links“, „liberal“, „konservativ“ oder sonst wie gerieren. Erinnern wir uns an das hoffnungsfrohe Hölderlin’sche Bekenntnis: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.40 Es ist unsere Verpflichtung, alles zu tun, damit diese Vision im 21. Jahrhundert kein leeres Gerede bleibt. _____________ 39 Vgl. Gysi, Gregor, 2006. „Weder neutral noch ‘normal’“. In: Freitag (29.09.2006). 40 Vgl. Fußnote 27.

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Expliziter und impliziter Verbal-Antisemitismus in aktuellen Leserbriefen Holger Braune Verbal-Antisemitismus liegt vor, „wenn in einer Äußerung eine generelle und/oder spezifisch judenfeindliche Einstellung ausgedrückt wird. Diese […] kann explizit oder implizit ausgedrückt werden“ (Schwarz-Friesel 2007: 347). Die Vielfalt und Vitalität von verbalem Antisemitismus sollen in diesem Artikel mit Blick auf die Textsorte Leserbrief mittels linguistischer Analysen empirisch nachgewiesen und erläutert werden. Betrachtet werden Auszüge aus Leserbriefen, die in den Jahren 2002 bis 2004 in etablierten regionalen wie überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen publiziert wurden.1 Mit den Leserbriefanalysen ist ferner der Nachweis verbunden, dass in Zeitungen der bürgerlichen Mitte selbst explizit antisemitische Leserbriefe durchaus eine Chance auf Publikation haben. Dieses Phänomen ist insofern erwartbar, als die empirische Sozialforschung wiederholt feststellte, dass in Deutschland die Hemmung stetig sinkt, öffentlich antisemitische Inhalte zu kommunizieren (vgl. Salzborn/Schwietring 2003; Rensmann 2004; Möller 2006) und eine allgemeine Zunahme an Toleranz gegenüber Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu konstatieren ist (vgl. Heitmeyer 2004). Diese Entwicklung2 soll schließlich in ihren vielfältigen Auswirkungen auf die Leserbriefkommunikation beleuchtet werden. Die sprachwissenschaftlichen Textanalysen berücksichtigen dabei neben explizit vermittelten antisemitischen Inhalten auch implizite Muster. _____________ 1 Nimmt man den Aktualitätsanspruch von Zeitungen als Maßstab, ist der Rückgriff auf das Adjektiv aktuell gewagt. Bildet hingegen die Geschichte des Antisemitismus als „[…] älteste heute noch existierende Gruppenfeindschaft“ (Bauer 1992: 80) den Maßstab, scheint mir aktuell nicht unangemessen. 2 Die Antisemitismusforschung spricht von einer Erosion der Kommunikationslatenz (vgl. Rensmann 2004: 78 ff.).

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Antisemitische Inhalte basieren größtenteils auf tradierten antisemitischen Stereotypen (zum Stereotypbegriff aus kognitionslinguistischer Perspektive s. Schwarz-Friesel 2007: 336 ff.; vgl. auch Schoeps/Schlör 1996, 1999, die eine grundlegende Übersicht zu den tradierten anti-jüdischen Stereotypen geben). Das Hauptaugenmerk des Beitrages liegt daher auf der qualitativen Untersuchung der in den Leserbriefen vorkommenden wesentlichen primär-, sekundär- und neuantisemitischen Stereotype.3

1. Juden als Verursacher des Antisemitismus Die folgenden Punkte 1 bis 3 stellen aktuelle Verbalisierungsformen von Stereotypen in den Vordergrund, die in der Forschung dem modernen bzw. primären Antisemitismus zugerechnet werden. Diese etablierten sich im 19. Jahrhundert auf der Basis vorhandener religiös geprägter Stereotype, die derart modifiziert und erweitert wurden, dass sie den Nationalsozialisten zur Quasilegitimation ihrer letztlich eliminatorischen Judenpolitik dienten (ausführlich hierzu Rensmann 2004: 72 ff., Benz 2004: 83 ff.). Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erfüllt der radikale wie gemäßigte Antisemitismus zunehmend die Funktion eines Erklärungsmodells. Dieses soll „das Begreifen einer rasch sich verändernden Welt erleichtern, indem es eine Analyse der bestehenden Umstände mit einem Rezept für die Lösung sämtlicher drängender Probleme verbindet“ (Volkov 2000: 18, vgl. Rürup 1975: 91 f.). Schuld an allen nur denkbaren Missständen haben „die Juden“. Aus diesem antisemitischen Erklärungsmodell heraus ist es nur konsequent, die Verantwortung für den Antisemitismus ebenfalls Juden zuzuweisen (vgl. Faber et al. 2006: 13). Auf der kognitiven Ebene verdichtet sich dieses Erklärungsmodell zum Stereotyp JUDEN ALS VERURSACHER DES ANTISEMITISMUS,4 das auch in aktuellen Leserbriefen verbalisiert wird: (1) Vielleicht hätte die Möllemann-Worte ein Herr Genscher oder Graf Lambsdorff bringen sollen, es wäre weniger Aufsehens wert gewesen. Die Politik der Israelis, und das mit allen Vorbehalten, ist wohl in vielen _____________ 3 Wie ich an anderer Stelle bereits nachwies, lassen sich in aktuellen Leserbriefen weitere antisemitische Stereotype finden (vgl. ausführlich hierzu Braune 2008: 145 ff.). 4 Konzepte und Konzeptualisierungen stelle ich, wie in der Kognitionswissenschaft üblich, durch die Schreibung in Großbuchstaben dar.

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Punkten angreifbar. Und wenn es Antisemitismus in Deutschland geben sollte, muss der Zentralrat der Juden überlegen, inwieweit er damit dazu beiträgt und beigetragen hat. (Die Welt, 05.06.2002)

Der Produzent nimmt Bezug auf Jürgen W. Möllemanns verbale Angriffe gegen Michel Friedman und Ariel Scharon, deren antisemitischer Gehalt nachgewiesen wurde (vgl. Benz 2004: 146 ff., Rensmann 2004: 446 ff.). Die Möllemann-Affäre thematisch aufgreifend, fungiert in (1) der Zentralrat der Juden als Bezugsobjekt des Stereotyps JUDEN ALS VERURSACHER VON ANTISEMITISMUS. Dem Zentralrat der Juden in Deutschland rät der Produzent für den Fall, dass es Antisemitismus in Deutschland geben sollte, zu überlegen, inwieweit er damit dazu beiträgt und beigetragen hat. Die Empfehlung setzt produzentenseitig die Gewissheit eines kausalen Zusammenhangs zwischen Handlungen des Zentralrats und dem Antisemitismus voraus, die der Produzent allerdings nicht explizit verbalisiert. In diesem Zusammenhang wirft das Adverb damit Fragen auf. Worauf bezieht es sich? Resultiert die Unbestimmtheit der Kausalitätsrelation aus einer unmarkierten Redigierung der Leserbriefredaktion? Oder liegt fehlerhafte Textproduktion vor? Gleich welcher Fall zutreffen mag, der publizierte Leserbrief enthält das Potenzial, bei seiner Rezeption auf das hier behandelte Stereotyp zurückzugreifen: Nicht an Antisemiten, sondern an den Zentralrat der Juden in Deutschland ergeht ohne Angabe von Gründen die Forderung nachzudenken, welchen Beitrag diese Organisation der Opfer von Antisemitismus zum Antisemitismus leistet. Und nur ein Rezipient, der bei der Rezeption von (1) das Stereotyp JUDEN ALS VERURSACHER VON ANTISEMITISMUS aktiviert, kann den Leserbrief kohärent interpretieren.

2. Jüdischer Sonderstatus Träger des Stereotyps JÜDISCHER SONDERSTATUS missdeuten den ausschließlich auf die jüdische Religion beschränkten Erwählungsglauben, indem sie ihn unzulässig auf nicht-religiöse Bereiche ausweiten. Die dadurch empfundene Zurücksetzung und Abgrenzung verdichtet sich zu der Überzeugung, dass Juden als Auserwählte bestimmte, vorrangig soziale Privilegien genießen. Aus einer vermeintlichen Benachteiligung/Opferrolle heraus wird so Antisemitismus als von Juden und im Judentum selbst angelegt gedacht: Erst die außerreligiös unterstellte jüdische Absonderung

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qua Auserwählung sät Feindseligkeit, Neid, Misstrauen etc. der NichtJuden wider die Juden (vgl. Buber 1986: 252). (2) Antisemitismus ist eine Abneigung gegen die religiöse und soziale Sonderstellung der Juden im Gastland. (Die Welt, 30.05.2002)

Explizit verbalisiert der Produzent von (2), dass nicht nur eine religiöse, sondern zugleich soziale Sonderstellung der Juden besteht. Belege für seine Behauptung liefert der Produzent nicht. Auch lässt er den monokausalen Schluss seiner Antisemitismus-Definition unbewiesen. Demzufolge resultiert aus der Sonderstellung der Juden eine Abneigung gegen Juden, die ihrerseits mit dem Begriff Antisemitismus erfasst wird. So erscheint Antisemitismus als legitime Reaktion auf die unzulässig unterstellte Selbsterhöhung der Juden. Vorliegender Versuch einer Evidenzvermittlung ist nicht innovativ. Die alttestamentarische Lehre missachtend verkürzten bereits im antisemitischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts Antisemiten den Erwählungsglauben als unrechte Erhöhung der Juden über andere Völker. Zur Illustration sei auf Richard Wagner verwiesen (vgl. für weitere Belege Braune 2008: 50 f.). Anders verhält es sich da, wo die Politik zur Frage der Gesellschaft wird: hier hat uns die Sonderstellung der Juden seit ebenso lange als Aufforderung zu menschlicher Gerechtigkeitsübung gegolten, als in uns selbst der Drang nach sozialer Befreiung zu deutlicherem Bewusstsein erwachte. (Wagner 1888: 67)

3. Juden als Nicht-Deutsche Seit vorchristlichen Zeiten sehen sich Juden mit der Unterstellung konfrontiert, Fremde zu sein5. An Vehemenz kaum zu übertreffen, ist mit Blick auf Deutschland die explizite Verbalisierung des Stereotyps JUDEN ALS NICHT-DEUTSCHE in dem Zeit-Programm der DAP und späteren Programm der NSDAP aus dem Jahre 1920: _____________ 5 „Als die Griechen die Juden im alten Alexandria angriffen, benutzten sie den Slogan, daß die Juden Fremde seien, um den ägyptischen Mob aufzuwiegeln. Das war eine Lüge: Die Juden waren nicht mehr Fremde als die Ägypter. Alexandria war nicht ägyptisch; bei seiner Gründung wurden sowohl die Juden als auch die Ägypter angesiedelt, und beide waren sie Fremde. Gleichwohl, der Slogan setzte sich fest; die Juden waren Fremde“ (Horkheimer 2002: 30).

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4. Nur Volksgenossen können Staatsbürger sein. Nur wer deutschen Blutes ist, kann Volksgenosse sein. Juden können darum keine Volksgenossen sein. 5. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen. (zitiert nach Maser 1973: 469)

Jahrhundertelanges Zusammenleben in Europa, die erwiesene Falschheit der Rassenlehre und der Holocaust scheinen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht auszureichen, um Juden generell als Staatsbürger ihres Landes anzuerkennen (vgl. Benz 1995: 366). Auch der Produzent von (3) grenzt mit Blick auf die Möllemann-Affäre explizit Juden aus der Gruppe der Deutschen aus: (3) Die Antisemitismus-Debatte […] könnte durchaus eine positive Wirkung haben. Vielleicht bringt sie endlich konstruktive Vernunft in das schon seit langem so verkorkste Verhältnis zwischen „den“ Deutschen und „den“ Juden. Von einer tief im deutschen Volk verankerten Abneigung gegen Juden […] kann doch keine Rede sein. Die Sprecher der jüdischen Minderheit in Deutschland, die Herren Spiegel und Friedman, samt einigen pflichteifrigen Medien wären gut beraten, wenn sie diese Zeichen der Zeit erkennen, richtig deuten und sich selbst in ihren überzogenen Belehrungen und Einmischungen mäßigen würden. Dann würde die Antisemitismus-Debatte tatsächlich den Weg für eine echte deutsch-jüdische Freundschaft freigemacht haben. Darauf hoffe ich. (Die Welt, 05.06.2002)

Beharrlich behandelt der Produzent von (3) die sozialen Gruppen Deutsche und Juden als einander ausschließende Kategorien. Er referiert auf das verkorkste Verhältnis zwischen „den“ Deutschen und „den“ Juden, statt das verkorkste Verhältnis zwischen „den“ Nicht-Juden in Deutschland und „den“ Juden in Deutschland zu thematisieren. Eine im deutschen Volk verankerte[…] Abneigung gegen Juden negiert er, statt eine Zurückweisung dieser Abneigung deutscher Nicht-Juden gegenüber deutschen Juden zu verbalisieren. Schlussendlich hofft er auf eine echte deutsch-jüdische Freundschaft, statt eine Freundschaft zwischen Deutschen jüdischen Glaubens und Deutschen nicht-jüdischer Konfession zu wünschen. Wohlmeinend könnte man dem Produzenten eine gewisse Unsensibilität unterstellen, die zu dem Kategorienfehler führte. Doch das Nomen Einmischungen irritiert und versieht implizit die vom Produzenten angestrebte Freundschaft mit einem Fragezeichen: Mit jenem Nomen wird u. a.

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auf Handlungen der Sprecher der jüdischen Minderheit in Deutschland Bezug genommen, die gemäß der lexikalische Bedeutung von Einmischungen die Einmischenden nicht betreffen bzw. nichts mit ihnen zu tun haben. Der Produzent verschweigt, an was für Einmischungen er denkt. Die Kontextmarkierungen durch das Bindestrichkompositum Antisemitismus-Debatte einerseits und durch Referenz auf den Präsidenten sowie Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland andererseits verweisen auf die Möllemann-Affäre. Diese Kontextinformationen berücksichtigend legt der Leserbrief die Schlussfolgerung nahe, dass sich nach Einschätzung des Produzenten die Herren Spiegel und Friedman am Diskurs zur Antisemitismus-Affäre durch überzogene Belehrungen beteiligten. Wobei er deren Möllemann-kritisches Eingreifen in die Antisemitismus-Debatte als Einmischungen deklariert. Vor dem Hintergrund der stereotypbasierten Trennung zwischen Deutschen und Juden erachtet der Produzent offenbar die Möllemann-Affäre als eine rein deutsche Debatte. Insbesondere die beiden Sprecher der jüdischen Minderheit in Deutschland evaluiert der Produzent als nicht berechtigt, um sich in die Antisemitismus-Debatte [e]inmisch[en] zu dürfen. Hier nun schließt sich der Kreis: [D]ie Herren Spiegel und Friedman fallen aus der Gruppe jener heraus, die an dem innerdeutschen Problem mitdiskutieren dürfen. Abschließend sei kurz an Textbeispiel (2) erinnert: Die darin entfaltete antisemitische Antisemitismusdefinition thematisiert nicht nur explizit jüdischen Sonderstatus, sondern weist Juden ebenfalls den Status von Gästen in einem Gastland zu.

4. Jüdische Unversöhnlichkeit In den Punkten 4 bis 6 treten Stereotype des sekundären Antisemitismus in den Fokus der Betrachtung. Dieser entwickelte sich nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Er ist eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Verbrechenskomplex und die damit verbundene historische Schuld Deutschlands (Bergmann 1995, Benz 2004: 116 ff., 137 ff.). Entschädigungszahlungen an Israel, partielle Rückgabe arisierten Vermögens, Errichtung von Mahnstätten an den Holocaust und Denkmälern für dessen Opfer, Schaffung von Gedenktagen, Entnazifizierung, historische Aufarbeitung der Geschichte des Dritten Reichs – aus diesen und

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weiteren Handlungen leiten einige nicht-jüdische Bürger der Bundesrepublik die bizarre Forderung ab, dass eine Versöhnung, Vergebung und Beendigung steter Erinnerung an den Holocaust von jüdischer Seite zu erfolgen habe. Aus dieser Haltung erwächst in der deutschen Postholocaust-Ära das Stereotyp von der jüdischen Unversöhnlichkeit. Juden, so lautet der Vorwurf, nehmen die nicht-jüdischen Deutschen noch immer als Täter wahr und weigern sich, nach der zur Versöhnung ausgestreckten Hand zu greifen. Sie lassen die versöhnungsbereiten nicht-jüdischen Deutschen unter der historischen Schuld leiden, setzen diese moralisch und ggf. finanziell unter Druck. 18 % der Deutschen glauben, dass Juden sich bemühen, aus dem Holocaust Vorteile zu ziehen (vgl. Benz 1995: 367). (4) Es ist schlimm, was im 2.Weltkrieg den Juden angetan wurde. Aber wir haben uns so oft entschuldigt, die Schuldigen verurteilt, die Juden durch Wiedergutmachung entschädigt, Denkmäler, Mahnmäler und Ehrenmäler errichtet. Kann man nicht endlich dieses Thema mal beenden? Wie lange müssen noch wir, unsere Enkel, Enkel und Urenkel um Vergebung bitten? (Frankfurter Neue Presse, 15.11.2003)

Als schlimm evaluiert der Produzent die Verbrechen der Nazis an den Juden, wobei der komplexe Ausdruck was im 2. Weltkrieg den Juden angetan wurde euphemistisch und unspezifisch auf den Holocaust verweist. Einseitig und verkürzt thematisiert der Produzent die Wiedergutmachung sowie juristische und memorable Aufarbeitung einer Wir-Gruppe, der er sich selbst zuordnet. An diese Sachverhaltsdarstellung anknüpfend fragt der Produzent rhetorisch: Kann man nicht endlich dieses Thema mal beenden? Die Nominalphrase dieses Thema bezieht sich auf den Ausdruck was im 2.Weltkrieg den Juden angetan wurde. Das Subjekt der Beendigung dieses Thema[s] bleibt aufgrund des verwendeten Indefinitpronomens man unbestimmt. Allerdings legt die Textstruktur nahe, dass im Rezeptionsprozess das Personalpronomen wir im vorangegangenen Satz unter Nutzung von Weltwissen zur NS-Zeit und deren Folgen auf die nicht-jüdische WirGruppe der Deutschen zu beziehen ist: Da sich diese Wir-Gruppe so oft entschuldigt hat für das, was den Juden angetan wurde bzw. gegenwärtig um Vergebung bitte[t], und dieses Verhaltensmuster prototypisch auf nicht-jüdische Deutsche zutrifft, ist zu schlussfolgern, dass die WirGruppe den noch lebenden Teil der Tätergenerationen des Dritten Reiches sowie v. a. deren nicht-jüdische Nachgeborene umfasst.

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Kann man nicht endlich dieses Thema mal beenden? – Hier nun ersetzt das Indefinitpronomen man das bisher verwendeten Personalpronomen wir. Dies legt nahe, im Rezeptionsprozess für das Subjekt der Beendigung dieses Themas einen Referenten außerhalb der Wir-Gruppe zu suchen. Unter Berücksichtigung des Kontextes lässt sich schlussfolgern, dass Juden als Opfer des Holocaust dieses Thema beenden sollen. Übrigens: Wie stark der Produzent dieses Ansinnen ersehnt, verrät das emotionsausdrückende Kommentaradverb endlich. Der betrachteten rhetorischen Frage schließt sich eine zweite rhetorische Frage an. Sie sichert die eben vollzogenen Schlussfolgerungen zu wir und man ab: Wie lange müssen noch wir, unsere Enkel, Enkel und Urenkel um Vergebung bitten? Um zu klären, wer mit wir gemeint und wer das Subjekt des Vergebens ist, muss der Rezipient lediglich die schon zuvor geschlussfolgerten Personengruppen einfügen. Was aber hat all dies mit dem Stereotyp JÜDISCHE UNVERSÖHNLICH-KEIT zu tun? Alle bisher geleisteten Schlussfolgerungsprozesse führen auf dieses Stereotyp zu und erlangen zugleich durch dieses eine Absicherung: Einer erfolglos um Vergebung bittenden Wir-Gruppe deutscher Nicht-Juden steht kontrastiv eine zu erschließende jüdische IhrGruppe gegenüber, welche das Verzeihensgesuch aufgrund jüdischer Unversöhnlichkeit bis dato ausschlägt. Ob der Produzent Juden kategorial Unversöhnlichkeit zuspricht, ist aufgrund der Textstruktur von (4) nicht sicher zu beweisen. Zweifelsohne aber sind im Leserbrief semantische Lücken enthalten, deren Füllung der Rezipient leisten muss. Alternative Möglichkeiten, die Lücken bei der Erstrezeption zu füllen, blockiert die Textstruktur. Vielleicht mag eine längere Beschäftigung mit Textbeispiel (4) zu einem alternativen Füllungsvorschlag führen, allerdings entspräche dies nicht den üblichen Rezeptionsgewohnheiten von Leserbriefen. Eine weitere sprachliche Realisation des Stereotyps JÜDISCHE UNVERSÖHNLICHKEIT liefert der Produzent von (5). Hierbei bezieht er das Stereotyp auf einen einzelnen Juden: (5) Verlangt Herr Friedmann mit dem Wunsch nach einer zweiten Chance nicht etwas zu viel von den Menschen in Deutschland? Hat er ihnen jemals eine Chance gegeben? Für ihn sind doch noch heute alle Deutschen Nazis. (Saarbrücker Zeitung, 17.07.2003)

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Mit dem Zitat Wunsch nach einer zweiten Chance erzeugt der Produzent von (5) Intertextualität zu einem Artikel der „Saarbrücker Zeitung“, der eine Pressekonferenz Friedmans vom 08.07.2003 zum Thema hat. Auf dieser gestand Friedman seinen Drogenmissbrauch ein, bedauerte diesen, trat öffentlich von Ämtern wie Ehrenämtern zurück und bat um eine zweite Chance.6 Der Produzent fragt rhetorisch, ob Friedmans Wunsch nicht etwas zu viel von den Menschen in Deutschland abverlangt. Die mangelnde Informativität, weshalb der Produzent den an die Menschen in Deutschland adressierten Wunsch Friedmans als unangemessenes Verlangen evaluiert, neutralisiert dieser in der erneut rhetorischen Frage, ob Friedman den Deutschen jemals eine Chance gegeben hat. Dass der Produzent im Kontext und Kotext von Friedman und den Menschen in Deutschland das Lexem Chance verwendet, indiziert die Aktivierung des textexternen Wissens, dass Friedman ein Jude ist und Deutschland den Holocaust zu verantworten hat. Allein der Rückgriff auf diese Informationen befähigt den Produzenten, seinen Leserbrief als kohärent einzustufen. Indem der Produzent generalisierend unterstellt, dass noch heute Friedman alle Deutschen mit Nazis gleichsetzt, verneint er die zweite rhetorische Frage und evaluiert Friedman als unversöhnlich: In Verwendung des Adverbs noch entfaltet er eine Zeitbewertung bezogen auf das deiktische Adverb heute. Unter Beachtung der bisherigen Informationen vertritt der Produzent die Auffassung, dass Friedman über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende zwischen Deutschen und Nazis nicht trennt. Die Unterstellung, Deutsche kategorial als Nazis wahrzunehmen, spricht Friedman jedwede Form von Versöhnungsbereitschaft ab. Dennoch enthält (5) keinen manifesten Sekundärantisemitismus, da Friedman nicht explizit als Jude eingeführt wird. Trotzdem greift der Produzent auf das Stereotyp JÜDISCHE UNVERSÖHNLICHKEIT zurück. Nur dessen Aktivierung und das Wissen um Friedmans Konfession „plausibilisiert“ produzentenseitig den Vorwurf, Friedman identifiziere generell Deutsche als Nazis. Nachfolgendes wie abschließendes Textbeispiel aus derselben Ausgabe belegt, dass (5) kein Einzelfall ist:

_____________ 6 In „Bußfertigkeit – mit Pathos garniert“ berichtet die Saarbrücker Zeitung über die Pressekonferenz und informiert, dass Friedman bat, „[…] ihm eine zweite Chance einzuräumen“ (Saarbrücker Zeitung vom 09.07.2003).

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(6) Friedman hat, so meine ich, stets und ständig unser ganzes Volk samt seiner Religion unter Verdacht und üble Anklagen gestellt. (Saarbrücker Zeitung, 17.07.2003)

5. Jüdische Unangreifbarkeit Schon Wilhelm Marr zeigte sich als Träger des Stereotyps JÜDISCHE WELTVERSCHWÖRUNG besorgt um eine vermeintliche kommunikative Macht „der“ Juden: Die bärenhäutige germanische Indolenz, der germanische Geiz, der germanische bequeme teutonische Phrasenhochmut ist Schuld daran, dass es soweit gekommen ist, dass das flinke, kluge Israel zu entscheiden hat, was man reden soll und was nicht. (Marr 1879: 46)

Marrs Sorge unterscheidet sich nur geringfügig von derjenigen heutiger Träger des Stereotyps JÜDISCHE UNANGREIFBARKEIT. Allerdings führen letztgenannte ihre Befürchtungen auf andere Ursachen zurück: Wer in der deutschen Postholocaust-Ära öffentlich antisemitische Inhalte kommuniziert, hat mindestens mit dem erhöhten Risiko eines drohenden moralischen Achtungsentzugs zu rechnen. Vor diesem Hintergrund teilen Träger dieses Stereotyps die Überzeugung, dass eine von Nicht-Juden vorgebrachte Kritik an Juden, Judentum und Sachverhalten, die in einem Zusammenhang zu Juden und Judentum stehen, von jüdischer Seite per se mit dem Vorwurf zurückgewiesen wird, diese sei antisemitisch. Die häufigen antisemitischen Attacken der letzten Jahre (vgl. Benz 2004: 146 ff., Rensmann 2004: 442 ff.) zwangen deutsche Juden in einen kritischen Diskurs gegen diese Angriffe. Ein inflationärer Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs war die Folge. Entsprechend den Gesetzen der Inflation erlitt der Antisemitismusvorwurf einen Verlust an Wirksamkeit als Sanktionierungsmittel. Hinzu kommt, dass die vermehrte Kommunikation des Stereotyps JÜDISCHE UNANGREIFBARKEIT die Grenzen des Sagbaren ausweitet. Unter dem quasidemokratischen Vorwand für die Meinungsfreiheit zu kämpfen, wird auf das hier behandelte Stereotyp zurückgegriffen. Dabei schwingt die Hoffnung mit, in der Öffentlichkeit die Toleranz gegenüber antisemitischen Äußerungen auszubauen (vgl. Salzborn/ Schwietring 2003: 64, Bergmann/Heitmeyer 2004: 226).

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(7) Seine [Friedmans, HB] intoleranten, gehässigen (Möllemann)-Auftritte, seine gegenüber „Gesprächspartnern“ gezeigte Arroganz und Impertinenz bleiben dank seiner Unangreifbarkeit, die er durch sein Herkommen und die damit verbundene Möglichkeit, seine Gegner mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu lähmen, ohne Folgen. (Saarbrücker Zeitung, 17.07.2003)

Explizit wird Friedman Unangreifbarkeit zugeschrieben, die sich aus Friedmans Herkunft ableitet. Durch Wissensaktivierung zu Friedman muss der Rezipient das Nomen Herkommen nicht geographisch, sondern konfessionell deuten. Die Spezifizierung, dass Friedmans Herkommen ihn in die Lage versetzt, Gegner mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu lähmen, zwingt zur konfessionellen Deutung von Herkommen. Fakultative kohärente Rezeptionsresultate bestehen nicht. Es sei denn man erkühnt sich anzunehmen, dass ein durchschnittlicher Rezipient Herkunft tatsächlich geographisch deutet, über das Wissen verfügt, dass der deutsche Staatsbürger Friedman in Paris zur Welt kam, und schlussendlich das individuelle wie innovative Stereotyp FRANZÖSISCHE UNANGREIFBARKEIT besitzt. Angeregt durch Martin Walsers Friedenspreisrede7 skizziert der Produzent von (8) unter Fortführung der expressiv und negativ konnotierten Keulenmetaphorik die Konsequenzen einer Verletzung der Kommunikationslatenz. Allerdings stehen die in (8) prognostizierten Repressalien in keinem Verhältnis zu den tatsächlich im politischen Betrieb erwartbaren Konsequenzen bei Missachtung von Tabuzonen (vgl. Rensmann 2004: 446 ff.). (8) Fest steht, dass es immer noch Tabuzonen gibt, die von deutschen Politikern nicht öffentlich betreten werden dürfen. Wer dieses missachtet, läuft Gefahr, umgehend durch die Antisemitismus-Keule erschlagen zu werden. … Jeder von uns weiß, dass weder Jürgen W. Möllemann noch der ehemalige Grüne Jamal Karsli Antisemiten sind […] Bei genauem Hinsehen hatte keine einzige ihrer Äußerungen wirklich antisemitischen Charakter. Trotzdem wurden sie für das klare Ansprechen unangenehmer Wahrheiten von Paul Spiegel und Michel Friedman auf arroganteste Art in eine gesellschaftliche Ecke gestellt, die Assoziationen zu den fürchterlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte herstellt. Der Vorwurf _____________ 7 „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohungsroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder Pflichtübung“ (Walser 1998: 20, ausführlich zum antisemitischen Potential der Walser-Rede vgl. Lorenz 2005: 446 ff., Rensmann 2004: 356 ff.).

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des Antisemitismus muss nur lange genug wiederholt werden, damit er (aus Angst?) von niemandem mehr öffentlich hinterfragt wird. (Süddeutsche Zeitung, 07.06.2002)

6. Juden als Moralapostel Wie das zuvor betrachtete Stereotyp der JÜDISCHEN UNANGREIFBARKEIT enthält auch das Stereotyp von JUDEN ALS MORALAPOSTEL den Vorwurf, dass Juden durch Instrumentalisierung der Geschichte einen Opferstatus zu Lasten nicht-jüdischer Deutscher durchsetzen und ausnutzen. Im Stereotyp JUDEN ALS MORALAPOSTEL konkretisiert sich dieser Vorwurf in der Unterstellung, Juden setzen nicht-jüdische Deutsche moralisch unter Druck. (9) Der Zentralrat der Juden sollte sich politisch auf die Ebene der christlichen Kirchen in Deutschland begeben und endlich aufhören, sich als Moralapostel des angeblich deutschen Antisemitismus aufzuführen. Antisemitisch sind in Deutschland nur wenige […]. (Die Welt, 29.05.2002)

In einem an den Zentralrat der Juden in Deutschland gerichteten direktiven Sprechakt fordert der Produzent von (9) das Gremium auf, sich nicht als Moralapostel des angeblich deutschen Antisemitismus aufzuführen. Auf diese Weise verbalisiert der Produzent explizit das Stereotyp JUDEN ALS MORALAPOSTEL. Statt über Belege zu konkretisieren, durch welche Handlungen das unterstellte Aufführen als Moralapostel zum Ausdruck kommt, beschränkt sich der Produzent darauf, das Moralisieren des Zentralrats der Juden in Deutschland auf den angeblich deutschen Antisemitismus zu beziehen. Durch Verwendung des adjektivischen Attributs angeblich zu Antisemitismus bezweifelt der Produzent dessen Existenz. Obgleich der Produzent sich selbst widersprechend relativiert, dass es in Deutschland nur wenige Antisemiten gibt, untersagt er dem Zentralrat der Juden in Deutschland, gegen jene Bedrohung einzuschreiten, welche unmittelbar und existenziell dessen Mitglieder gefährdet. Explizit fordert der Produzent vom Zentralrat die Beendigung politischer Einflussnahme. Der von jüdischer Seite praktizierte Lobbyismus stellt eine gängige Praxis im Dialog zwischen staatlichen und religiösen Instanzen dar. Man denke bspw. an die familien- oder bildungspolitische Einflussnahme beider christliche[r] Kirchen im Interesse ihrer Mitglieder

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– ein legitimer Lobbyismus, den der Produzent allerdings übersieht, ignoriert, apolitisch deutet oder allgemein mit anderen Kriterien bewertet. Welcher Fall auch immer zutreffen mag, der Produzent von (9) verbalisiert in seinem Leserbrief explizit das Stereotyp JUDEN ALS MORALAPOSTEL, indem er den Widerstand des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen Antisemitismus als Aufführen von Moralapostel[n] diffamiert.

7. Juden als Israelis / Israelis als Juden Die folgenden Abschnitte 7 bis 9 handeln von Stereotypen des neuen Antisemitismus.8 Das Neue besteht darin, dass Israel als Bezugsobjekt antisemitischer Stereotype die bisherige Position von Juden und jüdischen Individuen einnimmt (vgl. Schwarz-Friesel/Braune 2007: 19 f.). Neuantisemitische Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen zielen also nicht unmittelbar auf Juden ab. Sie gelten vielmehr zunächst Israel und seinen Bürgern. Da jedoch Israelis kategorial als Juden und umgekehrt Juden als Israelis wahrgenommen werden, wirken neuantisemitische Stereotype über den Kontext Israel und Nahost-Konflikt hinaus und diskriminieren mittelbar Juden in der Diaspora (vgl. Bergmann/Heitmeyer 2004: 227; Eckmann 2005: 110). Neuer Antisemitismus liegt dann vor, wenn als Kritik getarnte Diskriminierungen von Israel und Israelis de facto auf Juden und Judentum abzielen und/oder Juden in der Diaspora generell eine Verbindung zu Israel unterstellt wird. (10) Zum Thema jüdische Mitbürger ist der Fall Michael Friedmann in all seinen Facetten durch die Medien gegeistert. Meine Überlegung: Herr Friedmann täte eine echte Buße, wenn er zum Beispiel überlegt, seinen Landsleuten gegenüber echte Reue zu zeigen und für ein circa Jahr in seine Heimat zu gehen, um dort zu erleben, was diese Menschen durchmachen; und zwar täglich! Hier lebt er doch wie im Paradies. (Idsteiner Zeitung, 15.07.2009)

Zunächst erstaunt in (10) die thematische Einordnung vom Fall Michael Friedmann als Paradigma des Themenkomplexes jüdische Mitbürger. Passender scheinen zu dem auf die Friedman-Affäre bezogenen Leserbrief _____________ 8 Die Frage, ob der als neu bezeichnete Antisemitismus tatsächlich eine neue Variante ist, diskutiert die Antisemitismusforschung seit einigen Jahren kontrovers (vgl. Rabinovici et al. 2004).

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Bezeichnungen wie beispielsweise „Drogenkonsum von Prominenten“ oder „Zwangsprostitution in Deutschland“.9 Die Überlegungen der Produzentin von (10) führen zu dem Resultat, dass Friedman erst dann aufrichtig büßt, wenn er sich entschlösse, seinen Landsleuten gegenüber echte Reue zu zeigen und für ein circa Jahr in seine Heimat […] geh[t], um dort zu erleben, was diese Menschen durchmachen […]. Hier lebt er doch wie im Paradies. Ein duales Szenario wird erzeugt: Dem deiktischen dort, das mit seine Heimat koreferiert, steht kontrastiv das deiktische [h]ier gegenüber. Zwar erfährt hier keine Lokalisierung, doch zumindest eine positive Evaluation – wie im Paradies. Der Rezipient muss die Deixis durch Schlussfolgerungsprozesse bestimmen. Ohne größeren kognitiven Verarbeitungsaufwand lässt sich [h]ier auf das außersprachliche Objekt Deutschland beziehen, das Friedman für ein Jahr verlassen soll. Die Thematisierung des israelischen Alltags im Bezugstext10 des Leserbriefes stützt diese Inferenz: Verglichen mit der Terrorgefahr in Israel nimmt sich der Alltag in Deutschland paradiesisch aus. Eine erfolgreiche Rezeption von (10) macht die Aktivierung des Stereotyps JUDEN ALS ISRAELIS/ISRAELIS ALS JUDEN zwingend erforderlich. Demnach bezieht der Rezipient die Ausdrücke dort auf Israel, Landsleuten auf Israeli und was diese Menschen durchmachen auf den palästinensischen Terror in Israel, dessen Erleben für ein Jahr dem jüdische[n] Mitbürger Friedman zur Buße gereichen soll. Alternative Deutungsansätze mit Sinn blockiert die Textstruktur. Produzentenseitig ist von einer Aktivierung von JUDEN ALS ISRAELIS auszugehen. Einzig dies kann die Produzentin nach Abschluss ihrer Überlegungen zu der Einschätzung veranlassen, dass Friedman erst dann aufrichtig bereut, lebte er für einige Zeit statt hier wie im Paradies dort bei seinen Landsleuten. Der Produzentin genügt es nicht, dass Friedman öffentlich von allen Ämtern zurücktrat und eine Strafe zahlte. Nur wenn sich Friedman der Terrorgefahr in Israel aussetzt, erkennt die Produzentin echte Buße, die echte Reue demonstriert, was den Rückschluss beinhaltet, dass die bisherigen Konsequenzen Friedmans nicht aufrichtig waren. _____________ 9 Die Absurdität der Kategorisierung demonstriert die hypothetische Probe, Überlegungen zu einem hohen evangelischen Repräsentanten, der des Drogenmissbrauchs und des Kontaktes mit Zwangsprostituierten überführt würde, unter das „Thema evangelische Mitbürger“ einzuordnen. 10 „Hoffen auf einen Langweiligen Tag“, Idsteiner Zeitung vom 11.07.2003.

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8. Israelis als Nazis Träger dieses Stereotyps werfen Israel bzw. seiner Bevölkerung oder Armee Verbrechen vor, die sie in ein Ähnlichkeits- oder Gleichheitsverhältnis zum nationalsozialistischen Verbrechenskomplex stellen.11 Über die Hälfte der Deutschen glaubt, dass die israelische Palästinapolitik mit der Judenpolitik Nazi-Deutschlands vergleichbar sei (vgl. Heitmeyer 2004: 4). Diese weit verbreitete Überzeugung verursacht erstens eine Neudimensionierung des Holocaust, da Gleichsetzungen des Agierens Israels im Nahost-Konflikt mit der nationalsozialistischen Judenvertreibung und Judenvernichtung das Ausmaß des Holocaust verharmlosen. Zweitens führt dies neben einer Überwindung des unikalen Status des Holocaust zu einem entlastenden Schuldtransfer zulasten einer Stigmatisierung israelischer Besatzungspolitik (vgl. Pallade 2006: 51). Drittens bewirkt der Vergleich parallel zur Holocaustbagatellisierung, dass die israelische Palästinapolitik inklusive der Besatzung um ein Vielfaches übertrieben dargestellt wird, was wiederum neuantisemitisch getränkte Israelkritiken freisetzt. Viertens wird die Autorität Israels als warnende Instanz bei antisemitischen Entwicklungen in Deutschland und weltweit unterminiert. Fünftens schließlich erzeugen derartige Vergleiche einseitige Wahrnehmungen und Darstellungen des Nahost-Konfliktes, was mit einer Marginalisierung oder Neutralisierung der palästinensischen Schuld an diesem Konflikt einhergeht. (11) Wir Deutschen haben im Dritten Reich Unrecht getan, indem wir zu den Verbrechen an den Juden schwiegen. Heute erwarten Michel Friedman, Paul Spiegel und andere von den Deutschen, dass sie zu den israelischen Verbrechen an den Palästinensern schweigen. (Süddeutsche Zeitung, 27.05.2002)

In expliziter Verbalisierung adressiert der Produzent in (11) an Israel den Vorwurf, Verbrechen an Palästinensern zu begehen. Dieser Verbrechensvorwurf erfährt genauere Bestimmung, indem ein Vergleich zwischen den comparata zu den Verbrechen an den Juden schwiegen und zu den israelischen Verbrechen an den Palästinensern schweigen gezogen wird. Die historische Eingrenzung im Dritten Reich zwingt, den komplexen Ausdruck Verbrechen an den Juden auf den Holocaust zu beziehen. Mit Blick _____________ 11 Schwarz-Friesel erörtert die kognitiven und emotionalen Auswirkungen von NSVergleichen auf der Rezipientenseite (vgl. 2007: 195 ff.).

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auf den komplexen Ausdruck Verbrechen an den Palästinensern erfolgt – durch Kontext und Kotext verursacht – eine Deutungsbeschränkung auf die israelische Palästinapolitik. Die lexikalische und syntaktische Ähnlichkeit beider Sachverhaltsdarstellungen legt im Rezeptionsprozess den Rückgriff auf dieses Stereotyp nahe: So wie die Nazis einst Verbrechen verübten, zu denen die Deutschen schwiegen, vollziehen heute die Israelis Verbrechen, zu denen nach Willen von Friedman und Spiegel Deutsche schweigen sollen. Die Aktivierung von ISRAELIS ALS NAZIS im Rezeptionsprozess wird durch die oben benannte weite Verbreitung dieses Stereotyps in der deutschen Bevölkerung nicht unwahrscheinlicher. Doch die lexikalische und syntaktische Ähnlichkeit beider Sachverhaltsdarstellungen ist auch mit Blick auf den Produzenten bedeutsam. Die nahezu identische Verbalisierung der verglichenen Sachverhalte indiziert, dass der Produzent bei der Verschriftlichung seines Leserbriefes höchstwahrscheinlich ISRAELIS ALS NAZIS stereotypisierte. Abschließend soll kurz die Aufmerksamkeit auf eine weitere Verwendung des betrachteten Stereotyps gelenkt werden. Unter unzulässiger Berufung auf eine UN-Resolution gerieren sich hierbei Antisemiten vordergründig als antirassistisch und greifen Juden und Israelis als Zionisten und den Zionismus als rassistische Ideologie an. (12) Kritik an israelischer Regierungspolitik ist Kritik am Zionismus – der politischen und sozialen Bewegung zur Errichtung des jüdischen Staates in Palästina, die 1975 in einer Resolution der UN als „eine Form von Rassismus und rassischer Diskriminierung“ verurteilt worden war. (Die Welt, 30.05.2002)

Der Produzent zitiert im Anschluss an seine Gleichsetzung von israelischer Regierungspolitik und Zionismus die UN-Resolution Nr. 3379 aus dem Jahre 1975. Darin ist zu lesen: „Der Zionismus ist eine Form des Rassismus und der rassistischen Diskriminierung.“12 Im Jahre 2001, und damit _____________ 12 Getragen durch die Stimmen vieler Dritt-Welt-Staaten, arabischer Staaten und der antiwestlichen, propalästinensischen Ostblock-Staaten nahm die UNO 1975 einen Vorschlagsentwurf als Resolution Nr. 3379 mit 72 gegen 35 Stimmen (bei 32 Enthaltungen) an. Damit warf die UNO offiziell dem Staat Israel einen rassistisch motivierten Zionismus mit Kolonialcharakter vor. Für die Resolution votierten auch Staaten, die oppositionelle Gruppen bzw. Parteien und ethnische Minderheiten z. T. äußerst gewaltsam unterdrück(t)en: Indonesien, Türkei, Ruanda, Afghanistan, Kongo, Pakis-

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deutlich vorzeitig zum Produktionszeitpunkt des vorliegenden Leserbriefs, erklärten die Vereinten Nationen auf der „Durbaner Regierungskonferenz“ die UN-Resolution Nr. 3379 für ungültig und verurteilten jedwede Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus (vgl. Eckmann 2005: 103). Zwar trägt der Produzent von (12) keine Verantwortung für den Inhalt der zitierten UN-Resolution. Dennoch fällt ihm die Schuld zu, sich auf eine Resolution zu berufen, die zum Produktionszeitpunkt obsolet ist.

9. Israelkritik als Verbot Ungeachtet des oben behandelten Wirksamkeitsverfalls des Antisemitismusvorwurfs als Sanktionierungsmittel besteht nach wie vor für Antisemiten das Risiko, mit dem entsprechenden Vorwurf konfrontiert zu werden. Dies bewirkt eine kritische Themenerweiterung bzw. Themenverschiebung in Richtung Nahost. Damit wird einerseits der Raum des Sagbaren in der Öffentlichkeit zu vergrößern versucht, andererseits bietet die vermeintliche Kritik an Israel eine günstige Tarnung für antisemitische Angriffe (vgl. Schwarz-Friesel 2009). Doch nicht das Ob, sondern das Wie der Israelkritik indiziert produzentenseitig neuantisemitische Einstellungen und provoziert so den Antisemitismusvorwurf. Dennoch klagt das antisemitische Lager, dass ein vermeintlich drohender Antisemitismusvorwurf jedwede Kritik an Israel vereitle. Hierzu kombinieren Antisemiten das Stereotyp JÜDISCHE UNANGREIFBARKEIT mit der Gleichsetzung von Jude und Israeli. Als selbsternannte Kämpfer für die Meinungsfreiheit beziehen sie dies dann auf Israel. (13) Warum aber darf ich den Staat Israel nicht kritisieren, ohne als Antisemit zu gelten. (Tagesspiegel, 26.05.2002)

Explizit verbalisiert der Produzent von (13) das Stereotyp ISRAELKRITIK ALS VERBOT. Er spannt eine Kausalität zwischen der Kritik am Staat Israel und der Konsequenz, als Antisemit zu gelten. Die Konstruktion dieses Zusammenhangs setzt notwendig das Stereotyp Juden als Israelis/Israelis als Juden voraus, da ausschließlich gegen Juden gerichtete Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unter das Phänomen _____________ tan, Sri Lanka, Indien etc. (vgl. Orland 1995: 287, Volkov 2000: 85, Broder 2006: 250).

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Antisemitismus fallen. Nur unwesentlich schwächer formuliert der Produzent von (14). (14) Warum erkennt man nicht endlich, dass Israel seit 53 Jahren das schlechte Gewissen der Deutschen zu einseitigen politischen Interessen ausnutzt und uns glauben zu machen versucht, dass Kritik an Israel gleich Antisemitismus sei. (Süddeutsche Zeitung, 27.05.2002)

Während in (13) offen bleibt, wer das Verbot der Israelkritik verursacht, wird der Produzent von (14) deutlicher: Israel hat ein Interesse an dem Verbot und versucht dieses mit Verweis auf das schlechte Gewissen der Deutschen durchzusetzen. Damit wird auf eine Struktur zurückgegriffen, wie sie auch im Stereotyp JÜDISCHE UNANGREIFBARKEIT enthalten ist.

10. Fazit In expliziter wie impliziter Form werden in aktuellen Leserbriefen antisemitische Stereotype kommuniziert. Man könnte auch zugespitzter formulieren: Selbst Produzenten explizit antisemitischer Leserbriefe können sich beste Chancen ausrechnen, dass ihre Ausführungen in Zeitungen der bürgerlichen Mitte veröffentlicht werden. Längst hat sich der VerbalAntisemitismus aus den einschlägigen Zeitungen am rechten Rand in die Mitte ausgebreitet. Der regelmäßige Blick in die Leserbriefsparten etablierter Zeitungen konfrontiert Rezipienten mit Stereotypen, deren Ursprünge bis ins 19. Jahrhundert reichen. Andere Leserbriefe belegen infolge der Gleichsetzung von Jude und Israeli den Einzug des neuen Antisemitismus in die Mitte der bundesdeutschen Printmedien. All dies mag mit Meinungspluralismus vom Standpunkt der Leserbriefredaktionen aus begründet werden. Wo aber sind die Leser dieser Texte, welche den expliziten und impliziten Antisemitismus wahrnehmen und in einem Leserbrief als solchen benennen? Wo sind die Leserbriefredakteure, die im Sinne des Meinungspluralismus diese warnenden Zuschriften dann abdrucken?13 Die größtenteils ausbleibende Entrüstung gegenüber antisemitischen Äußerungen deckt sich auf eindrückliche Weise mit der allge_____________ 13 In meinen umfangreichen Analysen findet sich lediglich ein einzelner Leserbrief, der kritisch auf Antisemitismus in einer publizierten Zuschrift hinweist (vgl. Braune 2008).

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meinen Zunahme an Toleranz gegenüber Antisemitismus in unserer Gesellschaft.

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Die Wahrheit unter Beschuss – der Nahostkonflikt und die Medien Esther Schapira / Georg M. Hafner Stimmungsmache gegen Israel Vorab möchten wir uns bei allen entschuldigen, die den Witz schon kennen, aber er drückt einfach zu gut das Dilemma aus, um auf ihn zu verzichten: „Schmuel, was hast du denn bei dem Radiosender gemacht?“ „Mi-mi-mich uum die Sch-sch-stelle des A-a-a-ansagers beworben.“ „Und? Hast du sie bekommen?“ „N-n-nein! Da-da-das s-sind alles A-a-antisemiten!“

Selbstironisch macht der Witz auf die Gefahr aufmerksam, selbstgerecht unliebsame Wahrheiten als „Antisemitismus“ abzuwehren. Und genau das ist der immer wiederkehrende Vorwurf, sobald Kritik an Israel als antisemitisch aufgeladen zurückgewiesen wird. „Natürlich bin ich kein Antisemit, aber…“ lautet die Einleitung, die sämtliche Alarmglocken klingen lassen muss. Wieso sollte es ausgerechnet in Deutschland natürlich sein, nicht durch den Antisemitismus der Tätergeneration geprägt worden zu sein? Tatsächlich gibt es Antisemitismus weltweit, er ist so verbreitet wie Schnupfen, und selbstverständlich sind Journalisten gegen Erkältungen nicht immun. Vielleicht ist es einfach so, dass sich Juden zu sehr bewährt haben als Sündenböcke, um auf sie verzichten zu können. Ein stinkiger Bodensatz an Antisemitismus ist wohl unvermeidlich. Es kann also nur darum gehen, genaue Antennen dafür zu entwickeln, wann der Grad des Antisemitismus die kritische Masse erreicht, wann er wirksam wird und wo. Hier kommt ganz wesentlich der islamische Antisemitismus ins Spiel. Es gibt wohl nur wenige Beispiele so gelungenen „Brain-Washings“ wie im Fall des Umgangs mit Antisemitismus. Den islamistischen und arabischen Opinion-Leadern ist es nämlich gelungen, dem verdrucksten europäischen Unwohlsein einen politisch korrekten Ausweg zu bieten: Israelhass.

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Vermeintlich geht es um eine politische Lösung für die Palästinenser. Tatsächlich aber geht es um Stimmungsmache gegen „die Zionisten und ihre Lobby“, also Juden weltweit. In schönster Eintracht verbinden sich hier alte Ressentiments mit neuem Hass. Es sind eben nicht die alten „A-aantisemiten“, sondern respektable Organisationen wie die Vereinten Nationen, die die Bühne dafür schaffen – nicht zuletzt mit Hilfe der Medien. Bestes Beispiel: die sogenannte UN-Rassismus-Konferenz in Genf im April 2009: Würde es einen Oscar geben für die erfolgreichste PR-Arbeit in eigener Sache, dann würde er ohne Zweifel an den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad gehen. Kein anderer hat es besser verstanden, die öffentliche Meinung zu dominieren. Keine Agentur, keine Zeitung, keine Fernsehanstalt weltweit kam umhin, eines der aggressivsten Staatsoberhäupter der Welt auf Seite eins zu haben oder als Aufmacher der Abendnachrichten zu präsentieren. Millionenfach kam seine Botschaft unter die Leute: ISRAEL MUSS WEG. Da mögen sich die Guten empören und Zeter und Mordio rufen, aber Ahmadinedschads Anhänger sind begeistert von dem Mediencoup und davon, wie er eine ganze UN-Konferenz als Geisel nahm. Fast alle sind sie ihm auf den Leim gegangen, insbesondere der UNGeneralsekretär Ban Ki Moon, dem es am Ende auch nichts half, dass er Krokodilstränen vergossen hat über die üble Rede des iranischen Ehrengastes, dabei hatte der doch nur gesagt, was er immer schon sagt und was zu sagen er eingeladen war. Sicher: Viele Staaten haben den Braten schon früher gerochen als Deutschland. Sicher: Es war ehrenhaft, dass sich Delegierte angewidert aus dem Konferenzraum in Genf entfernt haben, aber Ahmadinedschad hatte seine Show und die meisten Delegierten zogen eben nicht aus, sondern applaudierten spontan als er davon sprach, dass „die Anstrengung nicht nachlassen dürfe, um den rassistischen Zionismus auszuradieren“.1 Wer weiß, wie vielen klammheimlichen Sympathisanten, die Israel zum Teufel wünschen und Zionismus mit Rassismus gleichsetzen, er damit aus der Seele sprach. Bis tief in die deutsche Linke werden Sie klammheimliche Claqueure finden.2 _____________ 1 Die Rede Ahmedinedschads bei der UN-Konferenz gegen Rassismus am 21.04.2009 in Genf wurde live von CNN übertragen, der Wortlaut findet sich u. a. unter: http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/8010747.stm (Zugriff am 17.06.2009). 2 Vgl. dazu den Beitrag von Martin Kloke in diesem Band.

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Die Bilder im Kopf sind stärker Dass sich das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern grundsätzlich nicht von dem der Nazis im Dritten Reich gegenüber den Juden unterscheidet, denkt und sagt die Hälfte aller Deutschen, jedenfalls nach einer Studie der Universität Bielefeld (vgl. Heitmeyer 2005, Heyder et al. 2005). Kaum anzunehmen, dass Journalisten sich allesamt auf der Seite derer finden, die diesen Satz ablehnen. OHNE ISRAEL, OHNE DIE JUDEN GÄBE ES FRIEDEN IN NAHOST, heißt die Botschaft, die auch von den Medien immer wieder unterschwellig vermittelt wird. Israel gefährdet den Weltfrieden, mehr noch als Nordkorea, meinen einer Umfrage zu Folge 65 % der Deutschen (vgl. European Commission 2003). Nach einer globalen SympathieUmfrage der BBC liegt Israel auf dem vorletzten Platz, unbeliebter ist nur noch der Iran. Deutschland liegt dagegen auf Platz eins (vgl. BBC 2008). Das Bild Israels in den Medien ist so verheerend wie das Image dieses Landes an jedem deutschen Stammtisch. Besonders eindrucksvoll war das zu erleben während des Gaza-Krieges Anfang 2009. Bei keinem anderen Thema ist die „großmäulige Besserwisserei der Wenigwisser“3, wie Wolf Biermann es nannte, so laut, so penetrant, so heftig. Als die ARD-Sendung „Hart aber Fair“ am 21.01.2009 das Thema „Wie weit geht unsere Solidarität mit Israel?“ angesichts des GazaKrieges diskutierte, brach die Zuschauerresonanz alle Rekorde. Nur ein Bruchteil der Zuschriften fand überhaupt Eingang in das inzwischen geschlossene 107 Webseiten starke Gästebuch. Und die allermeisten Einträge sind von der Qualität der folgenden Kostprobe (abgesehen von jenen, die die Redaktion nicht einstellen konnte, weil sie unter Volksverhetzung fallen): 21.01.2009 23:50 Uhr Bodenbender (55 J) Kritik an Israel unerwünscht!! Immer wieder das gleiche, wenn es um berechtigte Kritik geht, dann werden wir mit unserer Vergangenheit gegeißelt u. als

_____________ 3 Vgl. Biermann, Wolf, 2006. „Deutschland verrät Israel“. In: Die Zeit Nr. 44/2006 (26.10.2006). Biermann schrieb: „Was mich anwidert, das ist die großmäulige Besserwisserei der Wenigwisser in Europa gegenüber dem Nahostkonflikt.“

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antisemitisch bezeichnet. Dieses Maulkorbverhalten sollte endlich Schnee von vorgestern sein.4

Damit lag der Zuschauer genau auf der Linie der beiden Talkgäste Prof. Udo Steinbach und Norbert Blüm. Der Erste, ehemaliger Leiter des Orientinstituts an der Universität Hamburg, setzte früher schon Israelis mit Nazis oder Palästinenser mit den Aufständischen im Warschauer Ghetto gleich.5 Und der Zweite, der CDU-Politiker Norbert Blüm, hielt an seinem Vorwurf fest, dass Israel einen „hemmungslosen Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser führe. Er vermochte auch auf Nachfrage nicht zu erkennen, was an dieser Formulierung skandalös sein mochte, hielt den Vorwurf Naziterminologie zu benutzen für Wortklauberei und sprach damit der Mehrheit der Deutschen aus vollem Herzen: 68 % der Deutschen sagen ebenfalls, Israel führe einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser (Heyder et al. 2005: 150 f.). Was aber heißt das? Planen die Israelis die Vernichtung des palästinensischen Volkes? Werden Palästinenser systematisch ermordet? Ist Ramallah ein Ghetto, in dem die Menschen eingepfercht sind, ausgehungert und wahllos erschossen werden oder auf den Abtransport in ein Vernichtungslager warten? Selbst der sonst so eloquente und scharf nachhakende Moderator Frank Plasberg kam nicht auf diese zwingenden Nachfragen. Sie fielen ihm nicht ein, weil das Vorgetragene so selbstverständlich geworden ist. Und so gab es in derselben Sendung gleich noch ein eindrucksvolles Beispiel für die Langlebigkeit falscher Behauptungen. Blüm nämlich wies zum Beweis seines Vorwurfs auf das „Massaker von Jenin“ hin. Leider wurde diese Faktenverdrehung auch nicht im anschließenden „Online-Faktencheck“ zurechtgerückt. Vielleicht, weil der Redaktion gar nicht in den Sinn kam, dass es hier überhaupt etwas zu checken gäbe. Und so erfuhren die Zuschauer eben nicht, zu welchem Ergebnis die UN_____________ 4 Vgl.: http://www.wdr.de/tv/hartaberfair/gaestebuch/index.php5?buch=748 (Zugriff am 21.06.2009). 5 In einem Vortrag anlässlich des Epiphanias Empfangs der evangelischen Propstei Salzgitter am 06.01.2003, also einen Tag nachdem ein Selbstmordattentäter in Tel Aviv 24 Menschen ermordet hatte, sagte Prof. Dr. Udo Steinbach, der damalige Leiter des Orientinstituts in Hamburg: „Wir müssen dann auch einmal darüber nachdenken, was wir als Terrorismus bezeichnen wollen. Wenn wir sehen, wie israelische Panzer durch palästinensische Dörfer fahren und sich die verzweifelten Menschen mit Steinen wehren, dann müssen wir im Blick auf Warschau und im Blick auf den Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto auch fragen dürfen, war das dann nicht auch Terror?“

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Untersuchungskommission zu dem angeblichen Massaker Anfang April 2002 in Jenin gekommen war. Anstatt der zunächst behaupteten 800 Toten, stellte sich nämlich heraus, dass es „nur“ 22 waren, darunter nur wenige palästinensische Zivilisten, aber auch israelische Soldaten.6 Geschlagene zwei Wochen lang brachte etwa die Süddeutsche Zeitung Schauergeschichten von „500 Toten“, von Männern, die auf der Erde nebeneinander gelegt von Panzern überrollt wurden, von Massengräbern etc. Später wurde dann belustigt der „Fehlschlag“ der israelischen Armee kommentiert, die eben doch nur zwei Dutzend Terroristen erwischt hat. Wie wenig effektiv die Faktenkorrektur war, zeigte sich dann fünf Jahre später bei „Hart aber Fair“. Für die Korrektur fehlen oft die eindrucksvollen Bilder, um das Publikum – zumal das Fernsehpublikum – zu erreichen. Diesmal aber hätte es sogar Bilder gegeben, aufgenommen von einer israelischen Drohne. Zu sehen ist ein Toter auf einer Bahre, getragen von mehreren Männern. Aufgeschreckt durch das Brummen der filmenden Drohne, die sie für einen Kampfhubschrauber halten, lassen die Männer den „Toten“ fallen. Als die Gefahr vorüber zu sein scheint, legt sich der „Tote“ wieder auf die Bahre und wird davongetragen. Das Ganze wiederholt sich. Und wieder hüpft der „Tote“ zurück auf die Bahre, wird zugedeckt und davongetragen. Gefilmt im April 2002 in Jenin, wo angeblich Hunderte von Toten nach einem „Massaker“ beerdigt wurden. Die israelische Armee stellte diese Bilder zur Verfügung, aber sie fanden keine Verbreitung in den Medien. Das Bild im Kopf ist stärker. Die Geschichte des „Massakers von Jenin“ ist kein Einzelfall. Sie reiht sich ein in die Kette erfundener oder maßlos übertriebener Vorwürfe: •



die Bombardierung friedlich Badender am Strand von Gaza im Juni 2006, die sich als Unglücksfall in Folge einer Hamas-Raketenexplosion herausstellte, das „Kriegsmassaker“ im libanesischen Grenzort Hula im August 2006, in dem zunächst von 40 zivilen Opfern berichtet wurde, statt des tatsächlichen einen Opfers,

_____________ 6 Vgl. den UN-Bericht unter: http://www.un.org/peace/jenin (Zugriff am 21.06.2009). Oder auch der Artikel: Jessen, Norbert, 2002. „Israel ist über UN-Bericht zu Jenin erleichtert“. In: Die WELT vom 05.08.2002, verfügbar unter http://www.welt.de/printwelt/article404686/Israel_ist_ueber_den_UN_Bericht_zu_Jenin_erleichtert.html (Zugriff am 22.09.2009).

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ein anderes Beispiel: Eine israelische 500 Kilogramm schwere Bombe hatte am 25. Juli 2006 im Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Libanon und Israel vier neutrale UN-Beobachter zerfetzt. Kofi Annan beschuldigte damals umgehend und medienwirksam Israel wegen dieses „offenbar absichtlichen und koordinierten Angriffs“ auf den UNStützpunkt. Das saß und es war ein weiterer, voller Medienerfolg für die Hisbollah. Dabei musste Annan es eigentlich besser wissen: Sieben Tage vor seinem Tod schrieb nämlich einer der UN-Soldaten eine verzweifelte E-Mail an das UN-Hauptquartier in New York: die Hisbollah würde Raketenstellungen um den UN-Stützpunkt aufstellen und Raketen abfeuern. Er und seine Kameraden, der gesamte Posten, seien aufs Äußerste gefährdet. Aber die UN überließ die Blauhelme ihrem Schicksal.7

Keine einzige Falschmeldung aus dieser Liste wurde in gleicher Aufmachung korrigiert. Und selbst wenn, wäre das Bild aus den Köpfen wohl kaum noch zu löschen gewesen – siehe „Das Massaker von Jenin“. Zu stark ist offensichtlich das Bedürfnis, Israel als den rassistischen Staat bloßgestellt zu sehen, für den man ihn ohnehin hält. Zu heftig das Bedürfnis, endlich sagen zu dürfen, was man schon immer sagen wollte, sich aber nicht zu sagen traute. Dass das Bedürfnis, Menschrechtsverletzungen etwa im Iran, im Sudan oder im Kongo zu geißeln, nicht einmal ausreicht, um eine kleine Demo zu organisieren und mit Sicherheit keine Einschaltquote liefern würde, weshalb wir uns dieser Themen medial kaum annehmen, sei nur am Rand erwähnt.

Journalisten als Bildbeschaffer für die Bilder im Kopf Nehmen wir das offensichtlich vorhandene Bedürfnis, Israel zu kritisieren, als gegeben hin und fragen gleichwohl nach den Argumenten bzw. der Wissensgrundlage für diese Kritik. Die wenigsten kennen Israel aus eigenem Erleben. Die meisten „Kritiker“ dürften auch mit den historischen Grundlagen dieses komplizierten Konflikts nicht vertraut sein. Ihr Wissen _____________ 7 Vgl.: Bericht von Maj Hess-von Kruedener am 26.07.2006 „A Canadian soldier’s report from South Lebanon“. unter: http://www.ctv.ca/servlet/ArticleNews/story/ CTVNews/20060718/mideast_lebanon_UN_060716/20060718/ (Zugriff am 21.06. 2009).

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beziehen sie also vorrangig aus den Medien, allem voran aus den Fernsehbildern. Umso wichtiger ist es, hier besonders sorgfältig zu recherchieren. Nirgendwo sonst drängeln sich auch so viele Kollegen, sind so viele Journalisten akkreditiert wie in Israel (vgl. Hahn et al. 2008: 144 f.). Das Ergebnis aber ist nicht besonders gründliche Recherche, sondern heftiger Wettbewerb um die dramatischsten und schnellsten Bilder. Bilder, die vor allem dann reißenden Absatz finden, wenn sie das Klischee bestätigen, wenn Journalisten einmal mehr erfolgreich waren als Bildbeschaffer für die Bilder im Kopf. Der Versuch, hier vermeintliche Wahrheiten in Frage zu stellen, stößt schnell auf massive Ablehnung. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, kann sogar vor Gericht landen, wer recherchiert und öffentlich zweifelt. So ist es Philippe Karsenty geschehen, weil er die Authentizität gesendeter Fernsehbilder anzweifelte, und daraufhin vom großen staatlichen Fernsehsender France 2 wegen Beleidigung verklagt wurde. Das Verfahren in Paris endete mit einem sensationellen Freispruch für den Zweifler Karsenty. Ausdrücklich bestätigte damit das Gericht, dass es genügend Indizien gibt, die darauf hinweisen, dass es sich um einen der spektakulärsten Medienskandale handeln könnte – und kaum jemand nahm in Deutschland davon Notiz, obwohl auch hier die Bilder überall präsent waren. Es geht um den Fall: Mohammed Al Dura. Der kleine palästinensische Junge verblutete an einer Kreuzung im Gazastreifen, versteckt hinter einem Betonfass, in den Armen seines Vaters – getroffen von israelischen Kugeln. So sah es die Welt, so schrieben es die Zeitungen, so glaubten es die Zuschauer, die Leser und die meisten Journalisten, viele bis auf den heutigen Tag. Schon 2002 hatten wir vor Ort recherchiert und festgestellt, dass es tatsächlich sehr viel komplizierter war. Alle Indizien, die wir zusammentragen konnten, sprachen dafür, dass der Junge von palästinensischen Kugeln getroffen wurde – wenn überhaupt.8 Philippe Karsenty knüpfte da an, wo wir damals aufhören mussten, und er ist nun überzeugt, dass es sich um eine gestellte Propagandaszene gehandelt und France 2 somit eine Fälschung verbreitet habe. Der angegriffene Sender reagiert prompt, allerdings nicht mit Recherche und inhaltlicher Auseinandersetzung mit der Kritik. Vielmehr wurde der Kritiker an den Pranger gestellt und wegen Verleumdung verklagt. Ein Eigentor, nicht _____________ 8 Vgl. den Film „Drei Kugeln und ein totes Kind“ in der ARD-Reihe „Das rote Quadrat“ (am 18.03.2002 um 21.45 Uhr ausgestrahlt von der ARD).

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nur wegen des Freispruchs für Karsenty. Erstmals nämlich musste der Sender das Drehmaterial dieses 30. Septembers 2000 komplett öffentlich vorführen und nun zeigte sich, dass es im Bild keinen Beleg für den Tod des Jungen gibt, dass er im Gegenteil auf den letzten Filmaufnahmen eindeutig lebt. Das war der Moment, an dem wir uns der Geschichte wieder annahmen. Von den Gerüchten, die gesamte Szene sei gestellt, wussten wir von Anfang an, nur die Belege waren noch zu dürftig. Jetzt aber wurden immer neue Fragen zu dem Bild gestellt und immer weniger Fragen konnten schlüssig beantwortet werden. Unser neuer Film „Das Kind, der Tod und die Wahrheit – das Rätsel um den Palästinenserjungen Mohammed Al Durah“ wurde Anfang März 2009 in der ARD ausgestrahlt. France 2, der französische Sender, der die Szene seinerzeit verbreitete, wehrt sich bis heute und auch nach unserer Sendung mit allen Mitteln gegen den Vorwurf, falsch berichtet zu haben und attackiert nun die ARD wegen der Ausstrahlung unseres Films. Schließlich wäre es ein Medienskandal mit dramatischen Folgen: Wegen dieser Szene haben Menschen getötet und sind Menschen gestorben. Auch Al Kaida nutzt die Bilder – in einem Rekrutierungsvideo im Internet. In Freitagspredigten und auf Flugblättern wurden Muslime aufgerufen, Mohammed Al-Durah zu rächen. Ein Aufruf, der grausige Realität wurde mit der bestialischen Enthauptung des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl durch Islamisten. Im Video seiner Hinrichtung wird das „Todesurteil“ als Rache für die „Ermordung“ Mohammed Al-Durahs gerechtfertigt und die berühmte Szene eingespielt. Am Ende kommen wir zu dem Schluss, dass der Tod Mohammeds nicht bewiesen ist und auch die scheinbar objektiven Filmbilder genau dieses nicht belegen: die letzten Sekunden des Originalmaterials zeigen Mohammed, wie er unter seinem Ellenbogen in Richtung Kamera sieht. Aber, und das war uns wichtig: Es gibt auch keinen einzigen Beleg, dass Mohammed noch am Leben ist. Für France 2 sieht das anders aus: Der Sender behauptet trotz allem, an der Szene bestünden nicht die geringsten Zweifel. Eine Beharrlichkeit, die begrüßenswert wäre, würde sie für die Suche nach der Wahrheit eingesetzt und nicht zur Abwehr ungeliebter Kritiker. Zu befürchten ist aber, dass der ehemalige israelische Militärsprecher Olivier Rapovitch Recht behält, der uns schon beim ersten Film sagte: „Words cannot balance pictures – Worte können Bilder nicht aufwiegen“.

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So bleibt vermutlich, selbst wenn die ganze Wahrheit eines Tages ans Licht käme, in den Köpfen die falsche „Wahrheit“ haften, weil sie so plausibel ist, so sehr übereinstimmt mit den eigenen Vorurteilen. Jeder Betrüger profitiert von der Leichtgläubigkeit seiner Opfer. So wie einsame Frauen den Liebesschwüren des Heiratsschwindlers nur zu gern trauen möchten, so nehmen große Teile der Öffentlichkeit – unserer Kundschaft also – jede Gräuelgeschichte für bare Münze, die das schlichte Weltbild bestätigt. Leser und Zuschauer sehen am liebsten bestätigt, was sie ohnehin schon zu wissen glauben. Das sorgt für zufriedene Kundschaft und gute Einschaltquoten.

Israel verliert im Medienkrieg Selten tritt dieser Mechanismus, diese Wechselwirkung, so offen zutage wie im Nahostkonflikt. Und selten sind Journalisten so willig dabei, diese Rolle zu spielen, weil sie vielfach übereinstimmt mit der eigenen Haltung. Der holländische Schriftsteller Leon de Winter, Sohn orthodoxer Juden, die den Holocaust nur knapp überlebt haben, schreibt zu Recht: „Um zu überleben, hat Israel seit 1948 vier bittere Kriege mit der arabischen Welt führen müssen. Doch sein schwerster Krieg scheint der gegenwärtige Öffentlichkeitskrieg zu sein“ und er glaubt, „dass Israel diesen Krieg verloren hat“.9 Ein besonders anschauliches Beispiel für solche medialen Niederlagen Israels war die Berichterstattung über die angeblich dramatische Versorgungslage im Gazastreifen vor dem Krieg. Geschickt konnte die Hamas einen PR-Coup der besonderen Art landen und in fast allen internationalen Medien unterbringen: Israel stellt dem Gazastreifen den Strom ab. Einfach so. Rührende Bilder von Menschen mit Kerzen gingen um die Welt. Bei genauem Hinsehen allerdings wäre zu sehen gewesen, dass das Bild inszeniert war. Dummerweise war nämlich vergessen worden, die Beleuchtung der Straßen und Geschäfte im Hintergrund ebenfalls abzuschalten. Das Parlament tagt bei Kerzenschein – und wieder schaut kaum jemand genau hin. Dummerweise sind nämlich die Fenster nicht vollständig abgedunkelt, das gleißende Tageslicht dringt durch die Vorhänge. Eine Klinik ohne _____________ 9 Vgl. de Winter, Leon, 2003. „Altes Gift im neuen Europa“. In: Die Zeit, Nr. 51/2003 Nr. 44 (11.12.2003), S. 43.

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Strom und ein Frühgeborenes in einem Beatmungskasten, mit der Meldung, dass in den örtlichen Kliniken sechs Patienten wegen des Stromausfalls hätten sterben müssen. Dummerweise wurde vergessen, die Monitore im Hintergrund abzuschalten.10 Dass Israel eines der Kraftwerke, das Gaza versorgt, keineswegs abgestellt, sondern nur um 5 %11 zurückgefahren hatte, ging im allgemeinen Empörungstaumel der Journalisten weitgehend unter. Ebenso der Umstand, dass die Hamas selbst das einzige Kraftwerk in Gaza gekappt hatte, der besseren Bilder wegen. Wir Journalisten werden betrogen, weil wir betrogen werden wollen. Wir leisten dem Betrug Vorschub. Das deutsche Strafrecht nimmt einen dafür sogar in Haftung. Wenn Sie ihre Wohnungstür sperrangelweit aufstehen lassen, den Schmuck auf den Tisch packen und dann anschließend den Diebstahl bei der Polizei anzeigen, wird es ungemütlich. Sie nämlich haben dann zu einer Straftat eingeladen und natürlich zahlt keine Versicherung. Dramatisch wird es dann, wenn der Schmuck einem anderen gehört. Und genau das ist im Nahostkonflikt der Fall. Es geht nicht um den Ruf Deutschlands, sondern um das Image Israels, das – sicher auch durch eigene Politik – aber eben auch ganz erheblich durch falsche Berichterstattung, durch Niederlagen im Medienkrieg gefährlich leidet. Gefährlich, weil so weltweit der Antisemitismus zunimmt, wie auch jüngste Studien wieder zeigen. Auch in Deutschland. Jede Woche wurde im Schnitt im vergangenen Jahr ein jüdischer Friedhof geschändet.12 Der Krieg in Gaza hat diese Entwicklung noch verstärkt. Antisemiten unterscheiden eben nicht spitzfindig zwischen Israelis und Juden. Und ihre Hasstiraden verfangen leicht, angesichts einer uninformierten Öffentlichkeit. Bilder toter Kinder sind die stärkste Munition im Medienkrieg. Wir haben sie gezeigt. Völlig zu Recht. Krieg ist grausam und Kriegsberichterstattung darf diese Grausamkeit nicht schönen. Völlig unbeleuchtet aber blieb die Situation, die zum Boykott, zur Eskalation und schließlich zum Krieg geführt hat: _____________ 10 Siehe Bildervergleich bei „Honestly Concerned“, Presseerklärung 07.02.2008, abrufbar unter: http://honestlyconcerned.info/bin/articles.cgi?ID=PR16908&Category=pr& Subcategory =16. 11 Nach Angaben des israelischen Außenministeriums. 12 Antwort auf schriftliche Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag, Petra Pau: Schriftliche Fragen über „Antisemitisch motivierte Friedhofsschändungen 2008“ in Drucksache 16/12775 vom 24. April 2009, abrufbar unter: http://www.petrapau. de/16_bundestag/dok/down/1612775.pdf.

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Seit der Machtübernahme der Hamas im Gaza-Streifen im Juni 2007 sind bereits über 3.700 Kassamraketen auf Israel abgeschossen worden, die meisten auf Sderot, eine 23.000 Einwohner zählende Kleinstadt, eine Autostunde südlich von Tel Aviv. Aber Nachrichtenwert erlangt der tägliche Raketen-Terror eher selten. Erst während des Gaza-Krieges Anfang des Jahres geriet der Raketendauerbeschuss in den Fokus der Weltöffentlichkeit, aber nicht weil die Journalisten plötzlich Empathie gelernt hatten, sondern weil der Gazastreifen abgeriegelt war und man Bilder brauchte, die man selbst drehen konnte. Erst jetzt (wenn überhaupt) erfuhren viele Zuschauer, dass den Bewohnern Sderots nach dem Raketenalarm noch genau 15 Sekunden bleiben, um sich in Sicherheit zu bringen, und dass die Kindergärten seit Jahren zu Bunkern umgerüstet wurden und die Kinder nicht im Freien spielen können. Doch auch ohne Krieg und ohne Abriegelung gehen nur noch die wenigsten Kollegen wirklich nach Gaza und recherchieren dort. Die Bilder, die uns von dort erreichen, werden in aller Regel von palästinensischen Stringern geliefert, von Kollegen, denen wir vertrauen müssen, weil wir ihre Arbeit nur bedingt überprüfen können. Es sind aber Kollegen, die nicht unabhängig sind. Selbst wenn sie keine eigene politische Agenda vertreten sollten, so arbeiten sie eben doch unter strengen Auflagen der Hamas, gegen die zu verstoßen lebensgefährlich sein kann. So wurde der ARD-Kameramann Sawah Abu Saif im Juli 2008 wochenlang gefangen gehalten und gefoltert. Niemand kann es ihm verdenken, wenn er sich nicht erneut gefährden will. Umso wichtiger ist es aber für westliche Medien, diese Prozesse, also die Bedingungen, unter denen uns Bilder erreichen, transparent zu machen. Das aber geschieht nur in Ausnahmefällen. Die eigene Angst, sich an die Front zu begeben, die Schwierigkeiten, selbst zu recherchieren, der Druck, dennoch Bilder zu liefern, machen Journalisten anfällig für propagandistische Manipulationen, siehe den Fall Al-Durah. Die Bilder damals drehte ein palästinensischer Kameramann, Talal Abu Rahme. Der Korrespondent selbst war nicht vor Ort und doch kommentierte er die überspielten Bilder für seine Zuschauer, als sei er selbst Augenzeuge gewesen, und machte sie so glaubwürdig. Charles Enderlin, der Korrespondent von France 2, ist damit keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Reporter sind nicht vor Ort, weil sie es aus Termindruck nicht sein können, weil Ereignisse überraschend passieren und eben auch, weil sie berechtigte Angst haben. Dass die Einschüchterung von

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Journalisten dabei beileibe keine Erfindung der Hamas ist, zeigt ein früheres Beispiel aus Ramallah: Zwölf Tage nach dem angeblichen Tod Mohammed al Durahs, am 12. Oktober 2000, entstanden im Westjordanland ebenfalls Bilder, die um die Welt gingen. Sie zeigten eine begeisterte Menschenmenge vor dem Polizeigebäude in Ramallah, als ein regloser Körper aus dem Fenster im ersten Stock geworfen wurde. Dann erschien ein Mann, der der Menge mit blutigen Händen triumphierend zuwinkte. Es gab auch Bilder, wie ein zweiter Mann vor dem Gebäude von Menschen zu Tode geschleift wurde. Die Opfer: Zwei Israelis, die sich verfahren hatten und mit ihrem israelischen Kennzeichen versehentlich in Ramallah im Westjordanland gelandet waren. Die palästinensische Polizei hatte sie daraufhin festgenommen und zur Polizeistation gebracht. Dort wurden sie dann gelyncht, durch die Straßen geschleift, bei lebendigem Leib angezündet. Yosi war 38 Jahre alt. Er hinterließ drei kleine Kinder. Vadim war 33 Jahre alt. Er hatte vier Tage zuvor geheiratet. Über sein Handy musste seine Frau mit anhören, wie ihr Mann gelyncht wurde. Yosi und Vadim sind aus dem Gedächtnis der Medienwelt längst entschwunden. Ihr Schicksal wäre auch damals weitgehend unbeachtet geblieben, wenn es nicht die Fernsehbilder gegeben hätte. Die Geschichte von der Verbreitung dieser Bilder erzählt ein eigenes, weitgehend unbekanntes Kapitel der journalistischen Wahrheitsfindung. Gedreht wurden sie vom Kamerateam von RTI, einer kleinen privaten italienischen Fernsehstation. Dieses Team war aber keineswegs das einzige vor Ort. Ein polnisches Team wurde umzingelt und von palästinensischer Polizei geschlagen. Das ZDF-Team wurde ebenfalls attackiert, der Reporter als „Jude“ beschimpft. Erst als er seinen deutschen Ausweis zeigte, ließen sie von ihm ab. Von allen Kameraleuten und Fotografen wurde das Material beschlagnahmt. Kaum einer der Kollegen hat darüber berichtet. Warum nicht? Die Antwort liegt vielleicht in der Reaktion, mit der die italienische Journalistin konfrontiert war, der es als einziger gelang, ihre dramatischen Bilder heraus zu bringen und zu senden. Sie erhielt Morddrohungen, musste die Region verlassen und wurde in Italien unter Polizeischutz gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Journalistin des kleinen Senders RTI weitgehend unbekannt gewesen. Sobald die Rede von einem italienischen Fernsehteam war, dachte jeder an die große staatliche Station RAI und ihren Korrespondenten Ricardo Christiano. So auch diesmal. Vier Tage später druckt die palästinensische Zeitung Al Hayat al Jadidah

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ein Schreiben Ricardo Cristianos mit einer Klarstellung des Vorgangs, gerichtet an „Meine geschätzten Freunde in Palästina.“ Darin heißt es wörtlich: „Wir beglückwünschen Euch und denken, dass es unsere Pflicht ist, Euch über den wahren Verlauf der Geschehnisse am 12. Oktober in Ramallah in Kenntnis zu setzen.“ Es folgt die Beteuerung, dass der private Konkurrent RTI und nicht die RAI, also er, für die Veröffentlichung verantwortlich sei, obwohl zunächst dieser Eindruck entstanden sei. „Wir betonen, dass der Ablauf nicht so war, denn die Regeln der palästinensischen Autonomiebehörde für journalistische Arbeit in Palästina werden von uns immer respektiert (und wir werden auch fortfahren, sie zu respektieren) und wir sind glaubwürdig in unserer präzisen Arbeit. Wir danken Euch für Euer Vertrauen und Ihr könnt sicher sein, dass dieses Handeln nicht unserem Stil entspricht. Wir würden und werden so etwas niemals tun. Bitte akzeptiert meine Segenswünsche.“ Cristiano verlor daraufhin seine Akkreditierung in Israel, wurde von der RAI abberufen und als Vatikanberichterstatter zum Hörfunk versetzt. Unabhängige Berichterstattung kann also gefährlich sein. Und warum sollte man sich dieser Gefahr aussetzen, wenn das Ergebnis ohnehin nicht honoriert wird, denn unsere Kundschaft will mutmaßlich die Bilder sehen, die das Klischee bestätigen. Genau diese Bilder werden günstig und schnell frei Haus geliefert – von der palästinensischen Seite. Hinzu kommt der Zeitdruck und der Nachrichtenwettbewerb. Die Aktualität lässt keine Zeit für eine journalistische Recherche vor Ort. Längst hat der im Medienwettbewerb gewonnen, der die Information am schnellsten liefert. Schnelligkeit geht dabei vor und zwingend auf Kosten der Gründlichkeit. Wenn an nachrichtenstarken Tagen allein sieben Regelsendungen und dann noch zusätzliche Sondersendungen mit Beiträgen beliefert werden müssen, dann hat ein Reporter vor Ort keine Chance, er sitzt am Schneidetisch. Dort muss er sich darauf beschränken, die angelieferten Bilder und Informationen zu bearbeiten, ohne sie zu hinterfragen. Redlicherweise müsste dann aber zumindest die Quelle genannt werden. Das Material wird entweder direkt von der israelischen Armee gedreht oder eben von palästinensischen Kameraleuten vor Ort. Beides ist journalistisch problematisch. Beides wird üblicherweise nicht erwähnt. Vor allem im Krieg fallen Journalisten schnell auf Fälschungen und Propaganda herein. So waren im Gaza-Krieg grausame Bilder zerfetzter Zivilisten zu sehen – Folge eines israelischen Luftangriffs, wie es hieß. Es

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waren Handyaufnahmen, die sich auf einer palästinensischen Website fanden. France 2 strahlte sie aus, ohne zu überprüfen, ob die Angaben stimmten. Tags drauf dann die Korrektur: Es sei ein bedauerlicher Irrtum passiert, erklärte die Moderatorin, die Bilder stammten zwar aus Gaza, aber aus dem Jahr 2005. Was sie allerdings nicht sagte: die Bilder zeigten keine Opfer der Israelis, sondern Opfer einer Raketenexplosion der Hamas. Dass es überhaupt zu dieser, wenn auch unvollständigen Korrektur kam, ist unabhängigen privaten „Medienwächtern“ und Bloggern zu verdanken. Sie deckten den Irrtum auf und wiesen France 2 darauf hin. So wie schon zuvor im Libanonkrieg; da zeigte die Fotoagentur Reuters eine zerstörte Straße nach einem schweren Bombenangriff am 24. Juli. Dasselbe Bild erschien wenige Tage später wieder, in einer leicht variierten Perspektive, dieselbe Straße angeblich nach einem erneuten Angriff am 5. August. Und so wurden aus einem Bild eines einzigen zerstörten Straßenzugs von Beirut Bilder einer restlos vernichteten Stadt, oder wie die Jerusalem Post schrieb: „Es sah aus wie Dresden oder Hamburg am Ende des II. Weltkrieges“.13 Und wo es dann immer noch zu harmlos aussah auf dem Schlachtfeld, wurde z. B. bei der Fotoagentur Reuters elektronisch etwas nachgebessert. Plötzlich steigt nach einem Bombenangriff der Israelis nicht nur dort, wo die Bombe eingeschlagen war, sondern aus allen Ecken und Enden einer Totalansicht von Beirut dicker, schwarzer Rauch auf, Bilder der Verwüstung eben. Als diese Auffrischung durch Internetblogger ruchbar wurde, zog Reuters 920 Fotos allein eines libanesischen (!) Fotografen zurück. Die genannten Beispiele sind Einzelfälle – die bekannt wurden. Sie sind keine Ausnahme. Die kleinen Vorfälle, die kleinen „Irrtümer“ und Falschmeldungen, die es nicht auf die Titelseite, sondern nur zum Einspalter schaffen, werden üblicherweise nie korrigiert. Kleine Geschosse im Medienkrieg mit langer Wirkung.

_____________ 13 „While the slanted comments and interviews are bad enough, the degree of pictorial distortion is even worse. The way many TV stations worldwide are portraying it, you would think that Beirut has begun to look like Dresden and Hamburg in the aftermath of World War II air raids. International television channels have used the same footage of Beirut over and over, showing the destruction of a few individual buildings in a manner which suggests that half the city has been razed.“ Zitiert nach Jerusalem Post, 03.08.2006, Artikel von Tom Gross.

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Plädoyer an den kritischen Zuschauer Zum Schluss sei auf zwei dieser zunächst unscheinbaren, aber doch sehr wirkungsvollen Beispiele hingewiesen.

Abb. 1

Die renommierte Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 3. März dieses Jahres das in Abb. 1 gezeigte Titelbild unter der Überschrift „Hoffnung für Gaza“: Zwei Fensterhöhlen in einer zerschossenen Hausfront. Aus dem einen schaut uns eine bemitleidenswerte Mutter mit ihrem Kind an, in dem anderen flattert passgenau eine weiße Friedenstaube. Zu schön um wahr zu sein. Dieses Bild von der Agentur Reuters (!) war an diesem Tag auf fast allen Blättern genau so abgedruckt, nur die FAZ hegte zarte Zweifel, an der Echtheit dieses Fotos. Zu Recht. Das zweite Beispiel: in schöner Regelmäßigkeit wurde während des Gaza-Krieges behauptet, Gaza sei „das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt“. Alle Agenturen, alle Zeitungen, selbst die gute alte Tagesschau hat diesen Unsinn nacherzählt. Dabei weiß jeder, der jemals in Gaza war, dass das nicht stimmt. Selbst Tel Aviv hat eine doppelt so hohe Einwohnerdichte wie der Gazastreifen, ohne dass es übrigens die Hamas davon abhalten würde, ihre Kassamraketen genau in diese Richtung abzufeuern. Und natürlich ist etwa Mumbai ungleich dichter besiedelt, selbst Basel oder Mün-

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chen verweisen den Gazastreifen auf Platz 54 im Ranking. Die Quelle für die Einwohnerdichte Gazas soll übrigens auf eine Meldung der Palästinensischen Ärzte- und Apothekervereinigung Deutschland e. V. zurückgehen, dort war in einer Pressemeldung zum Gaza-Krieg zum ersten Mal die Rede von dem „dichtesten besiedelten Gebiet der Welt“ und alle haben es nachgebetet, weil es so gut passte. Als Leser, als Zuschauer haben Sie das Recht zu wissen, aus welcher Quelle Sie unterrichtet werden. FRAGEN SIE NACH!

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Aktion und/oder Reaktion – funktionale Konvergenz von medialen Diskursen und antisemitischen Äußerungsformen Robert Beyer / Eva Leuschner Einleitung Die mediale Darstellung des Landes Israel (und des Judentums weltweit) wird kontrovers diskutiert, sie ist in Hinblick auf den Nahostkonflikt immer von aktueller Brisanz und birgt ein hohes Emotionalisierungspotenzial. Sowohl von Medienwächtern wie HonestlyConcerned als auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland werden die Medienberichte zum Nahostkonflikt häufig kritisiert und dafür verantwortlich gemacht, eine israelfeindliche Haltung der Deutschen zu verursachen (bzw. sie zumindest zu begünstigen) oder gar dem Antisemitismus in Deutschland Vorschub zu leisten. Tatsächlich gilt ein Zusammenhang zwischen Anti-Israelismus1 und Antisemitismus als sicher (vgl. Bergmann/Heitmeyer 2005, Kaplan/Small 2006), bzw. die Feindschaft gegen Israel kann heute eine Form des Antisemitismus bilden (vgl. u. a. Benz 2004: 24 f., Harkin 2002, Langehein 2002: 61, Markovitz 2004: 221, Wistrich 1990, 2004 und 2007). Zudem belegen empirische Studien eine eher israelkritische bzw. einseitig perspektivierte Nahostberichterstattung in Deutschland (vgl. Hub 1998, IFEM 2002, Medien Tenor 2003 und 2006). Dass an die Berichterstattung rezipienten- wie produzentenseitig antisemitische Einstellungen und Stereotype gekoppelt werden können, wird als sehr wahrscheinlich erachtet (Jäger/ Jäger 2003). Im Forschungsprojekt „Konzeptualisierungs- und Verbalisie_____________ 1 Hier wird der Ausdruck Anti-Israelismus dem häufig in der Literatur verwendeten Antizionismus vorgezogen, weil letzterer eine ursprünglich innerjüdische Opposition zur Gründung eines jüdischen Staates bezeichnet und daher mehrfach besetzt ist. Anti-Israelismus hingegen benennt die Feindschaft gegen den heute existierenden Staat Israel und damit kein dezidiert jüdisches Phänomen.

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rungsformen des aktuellen Antisemitismus in Deutschland“2 bestätigt sich diese Vermutung deutlich; die gegenseitige Beeinflussung bzw. Konvergenz zwischen Medienberichten und Rezipientenäußerungen ist aus kognitionslinguistischer Sicht klar belegbar und wird im Folgenden anhand qualitativer Beispielanalysen verdeutlicht. Dabei wird einerseits auf eine umfangreiche Sammlung von Medienberichten über Israel und Nahost aus den letzten acht Jahren und andererseits auf Leserbriefe und Zuschriften an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin zurückgegriffen.3 In diesen Zuschriften werden Medien(-berichte) zu Israel bzw. zum palästinensisch-israelischen Konflikt von den Autoren vielfältig erwähnt, kommentiert und zitiert (in Form von intertextuellen Verweisen oder kompletten Texten als DateiAnhängen). Diese Berichte sind für die Mehrheit der Schreiber (und aller Deutschen) zum einen der einzige Zugang zu den Realitätsbereichen Israel und Judentum und bilden daher zum anderen auch die Hauptanlässe für die besagten Zuschriften. Die Brief-, Fax- oder E-Mail-Sendungen sind in ihrer Mehrheit wie die Beispiele (1) und (2) Reaktionen auf medial verbreitete Statements, Berichte u. Ä. und damit sowohl Ausdruck der kognitiv-emotionalen Haltungen zu Israel als auch Spur von Medienwirkungen bei den Rezipienten. (1) „Mit Abscheu und tiefer Verachtung verfolgen wir in den Medien das Massaker Israels in Gaza und im Libanon. Die fadenscheinigen Begründungen für die massiven Angriffe auf zivile Ziele sind mehr als erbärmlich. Blickt man Jahrzehnte zurück, war es immer Israel, das anderen Land weggenommen hat, Städte zerstört und Orte dem Erdboden gleichgemacht hat.“ [ZJD_30.07.2006_Ans_001]

Das zugrunde liegende Material bietet so die Möglichkeit, an direkten Reaktionen auf Medieninhalte (und ergänzend an Zuschriften ohne direkten Medienbezug) konzeptuelle, inhaltliche, argumentative und verbale Ähnlichkeiten und Überschneidungen zwischen Medienberichten und Rezipientenäußerungen zu dokumentieren und zu untersuchen. _____________ 2 Das Forschungsprojekt wird in Kooperation mit dem Sarnat Institute (Center for the Study of Anti-Jewishness) der Brandeis University (Waltham, MA) realisiert und von ihm finanziert. 3 Eine kurze Beschreibung des Korpusmaterials sowie seiner Repräsentativität findet sich bei Schwarz-Friesel, in diesem Band, ausführlicher siehe Schwarz-Friesel/ Reinharz (in Vorb.).

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Durch diese Analysen lassen sich die emotional-kognitiven Überzeugungen der betreffenden Journalisten und Mediennutzer abbilden, der gesellschaftliche Diskurs zu Israel oder/und Juden nachzeichnen und die Thematisierung deutscher NS-Vergangenheit in diesem Themengeflecht prüfen. Es wird transparent, welche Meinungen als gesetzt bzw. als mehrheitsfähig angesehen und deshalb veröffentlicht – zumindest als diskutabel erachtet und nicht tabuisiert – werden. Es wird ersichtlich, welche anti-israelischen Einstellungen, antisemitischen Stereotype und mentalen Wissensbestände zu Israel und Juden in Deutschland verbreitet sind, und wie diese kognitive (und zugleich emotionale) Ebene im alltäglichen Medienangebot aufgegriffen, genährt und tradiert oder möglicherweise erweitert wird.

Reaktivität als Grundphänomen des aktuellen Antisemitismus In Deutschland wird das antisemitische Potenzial nach wie vor bei Rechtsextremen verortet (vgl. die Einführung in diesem Band). Die Bedeutung des rechtsextremen Antisemitismus darf natürlich keinesfalls unterschätzt werden, aber insgesamt scheint sich hier eher eine Marginalisierungstendenz abzuzeichnen: Indem auf Rechtsextreme verwiesen wird, kann man den Antisemitismus der Mitte unter den Teppich kehren bzw. bagatellisieren. Die Ergebnisse unserer Studien zeigen jedoch deutlich, dass antisemitische Äußerungen und Stereotype in allen politischen Lagern und eben auch in der Mitte der Gesellschaft vorzufinden sind. So sind sämtliche der hier angeführten Textbeispiele der sozioökonomischen Mitte zuzuschreiben, und die Medienbeispiele entstammen den sogenannten Mainstreammedien und keinesfalls den extremistischen Low-Power-Medien. Interessanterweise zeigen diese Autoren der Mitte auffällige Charakteristika, die sonst dem Rechtsextremismus zugeschrieben werden. Eines dieser zentralen Merkmale ist laut Pörksen (2000) die Reaktivität (rechts-) extremer Ideologien. Diese zeigt sich jedoch ebenso durchgängig bei den antisemitischen (und den anti-israelischen) Zuschriften aus unserem Korpus und ist demnach nicht auf rechtsextreme Personen beschränkt. Reaktivität bezeichnet dabei das Bestreben, auf die öffentliche Meinung, die Wahrnehmung der eigenen Positionen in den Medien und die Schlagwörter der politischen Gegner zu reagieren, d. h. insbesondere in diesem Kontext den Antisemitismus vom Makel des Verbrecherischen zu befreien

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(Pörksen 2000: 136 f.). Und tatsächlich gerieren sich antisemitisch eingestellte Personen so, als würden sie auf einen Anlass oder einen Reiz schlicht antworten, ansprechen oder eine Auswirkung zeigen, als folgten sie notgedrungen einem Reiz-Reaktions-Schema. In der Regel werden solche Reaktionen zum Anlass oder gar Vorwand, um eine generelle Haltung zu bekunden, die nicht mit dem eigentlichen Schreibanlass in Zusammenhang steht wie in (2): (2) „Sehr geehrter Herr Cramer, in meiner Tageszeitung der Augsburger Allgemeinen Zeitung habe ich Heute einen Artikel gelesen, der mich nachdenklich gestimmt hat. Ich konnte dort lesen, dass 70 % der deutschen Bevölkerung die Jüdische Regierung für den Völkermord im Libanon verantwortlich macht. Zu meiner Verwunderung musste ich feststellen, dass auch ich eine geistige Veränderung durchgemacht habe, von einem Freund der Juden zu einem Gegner. Ich bin nicht dem Braunen Mopp zuzuordnen sondern eher dem liberalen Teil unserer deutschen Bevölkerung, und dieser Tatbestand beunruhigt mich am meisten.“ [ZJD_01.08.2006_Wei_001]

In (2) sind bereits einige auffällig Konzeptualisierungen zu finden, u. a. die Gleichsetzung von JUDEN und ISRAELIS und die Gleichsetzung des LIBANON-KRIEGS mit VÖLKERMORD.4 Desweiteren ist die häufige Legitimationsstrategie der individuellen Antisemitismus-Abwehr realisiert, indem sich der Schreiber explizit von Rechtsextremismus u. Ä. lossagt und eine Selbstverortung innerhalb der politischen Mitte vornimmt. Ausschlaggebend ist in diesem Beispiel der Bezug auf einen Medienbericht, der herangezogen wird, um die eigene Haltung daran zu koppeln und gleichzeitig strategisch abzusichern. Wie dieser Herr aus Bayern fühlen sich die Schreiber häufig durch Medienberichte in ihrer Meinung bestätigt oder herausgefordert. Die Anlässe bzw. Ereignisse, auf die die Schreiber meinen reagieren zu müssen, lassen sich vier Gegenstandsbereichen zuordnen: •

Erstens fühlen sich die Schreiber durch Medien(-berichte) in ihrer Meinung bestätigt oder herausgefordert, weil in diesen ein Kritiktabu gegenüber Juden und/oder Israels Politik festgestellt oder eben bestritten wird.

_____________ 4 Wie in der Kognitionswissenschaft üblich, stellen wir Konzepte und Konzeptualisierungen durch die Schreibung in Großbuchstaben dar.

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Zweitens lehnen Sie die weitere Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit ab und fordern einen Schlussstrich; i. d. R. werden dabei medial vermittelte Gedenkrituale und Verantwortungszuweisungen an Deutsche (insbesondere durch den Zentralrat der Juden in Deutschland) kritisiert, z. B. im Zusammenhang mit Oettingers Trauerrede für Filbinger. Drittens sprechen Schreiber davon, wegen des vermeintlich amoralischen Verhaltens des Zentralrats bzw. wegen der israelischen Politik nicht länger schweigen zu können; hier ist ein extremer AntiIsraelismus kennzeichnend. Viertens sind sie brüskiert über die gesellschaftliche Debatte über den aktuellen Antisemitismus in Deutschland; meist wird dabei ein relevanter Bodensatz antisemitischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung negiert oder zumindest relativiert (gesellschaftliche Antisemitismusabwehr). Mit dem letzten Phänomen geht oft die Tendenz einher, auch sich selbst gegen einen möglichen Antisemitismusverdacht im Voraus zu immunisieren (individuelle Antisemitismusabwehr). An den hier aufgeführten Beispielen wird jedoch deutlich, dass dieser Verdacht bei den meisten Schreibern nicht unbegründet ist.

In jedem Falle versuchen sich die Schreiber als Opfer zu gerieren, indem sie davon sprechen, mindestens durch einen der vier genannten Kontexte emotional belastet zu sein und deshalb reagieren zu müssen. Den Zweck ihres Schreibens sehen sie darin, sich dieses belastenden Zustands zu entledigen bzw. sich davon freizusprechen; ein Phänomen, welches auch Samuel Salzborn in seinen Interviews beobachtet hat (vgl. Salzborn, in diesem Band). Entsprechend dankbar sind die Schreiber, wenn ihre Meinung oder ihr Entlastungsbestreben von den Medien aufgegriffen wird. Entsprechende Medienberichte werden als Autoritätsbeweise zur Legitimierung der eigenen Position herangezogen und wohlwollend kommentiert, bspw. mit wichtig, dass das mal jemand sagt oder …hat nur ausgesprochen, was viele denken. Die (ver)öffentlich(t)e Meinung dient so der Absicherung der eigenen Meinung und macht die vertretene Position für andere akzeptabel bzw. zum mehrheitsfähigen Entwurf weiterer Meinungsbildung (vgl. Merten/Westerbarkey 1994). Der Verweis auf Medieninformationen und -meinungen stellt die eigene Sicht als glaubwürdig und auf fundiertem Wissen beruhend dar und nutzt dabei die Validierungs- und Orientierungs-

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funktion der Öffentlichkeit (vgl. Donges/Imhof 2001). Im Jahresvergleich des uns vorliegenden Korpus steigt die Zahl der als E-Mail-Attachment angehängten bzw. wörtlich zitierten Medienberichte an, die intertextuellen Bezüge nehmen häufig den größten Teil der argumentativen Struktur der Zuschriften ein. Ein zweites Muster der Reaktivität, welches zugleich an das Stereotyp des Kritiktabus anknüpft, ist die moralische Entrüstung über die Politik Israels. Im Duktus des Weltverbesserers und ethischen Humanisten empören sich die Schreiber über vermeintliche Verbrechen der Israelis. Dabei berufen sie sich auf ihr moralisches Empfinden, ihr (historisches) Gewissen oder ihren Antirassismus sowie Antifaschismus und darauf, nicht länger schweigen zu können. Medienberichte über die besetzten Gebiete werden hier zum Auslöser für ein kommunikativ geltend gemachtes Unrechtsbewusstsein; die Schreiber fühlen sich gezwungen, auf die schändlichen Verbrechen der Israelis aufmerksam zu machen (vgl. Schwarz-Friesel 2009: 182). Die eigene ethische Integrität dient, wie einer Lehrerin in (3), als Hintergrund für die anzuprangernden Realitäten in Nahost: (3) „Sehr geehrte Damen und Herren, ich muß sagen, daß ich antifaschistisch erzogen bin, mit Klassen in verschiedenen Konzentrationslagern den Kindern die Verbrechen des Naziregims nahegebracht habe und die Opfer, besonders die jüdischen Opfer betrauert und bedauert habe. Umsomehr entrüstet bin ich, daß Ihre Landsleute die sie umgebenden Staaten nicht in Ruhe lassen können, sie machen genau das was wir bei den Nazis verurteilt haben.“ [ZJD_2009_Gaza796_Koe]

Auf der sprachlichen Ebene wird mittels des Lexems umsomehr der Übergang von der positiven Selbstdarstellung zur vorurteilsbehafteten Äußerung unter Aufrechterhaltung des positiven Selbstbildes explizit markiert. In den Beispielen, in denen die Textproduzenten sich als demokratisch, verantwortungsbewusst und moralisch prädizieren, werden diese gesellschaftlich positiv bewerteten Eigenschaften als Schreibanlass instrumentalisiert, um sich kritisch zu äußern. Als allgemeines Muster gilt dabei: Gerade weil ich x bin, muss ich Folgendes sagen…, wobei x mit den gewählten Selbstattribuierungen gefüllt werden kann. Insbesondere wird bei dieser Strategie auf einen reflektierten, verantwortungsbewussten Umgang mit der NS-Zeit verwiesen; gerade weil man die historischen Sachverhalte der Judenverfolgung kenne und sich vielfältig damit auseinandergesetzt habe, sei man sensibilisiert für unmenschliche Verbrechen und

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müsse sich kritisch äußern. Diese Sensibilität bewahrt die Schreiber jedoch nicht davor, genau diese NS-Verbrechen zu Analogien und Gleichsetzungen heranzuziehen. Diese Argumentation ist innerhalb medialer Berichte verbreitet und wird insbesondere aufgegriffen, wenn sie von Juden selbst gestützt wird (Autoritätsbeweis der klassischen Form: Juden sagen ja selbst…). So äußerte Evelyn Hecht-Galinski im Interview mit Radio WDR 5 am 3. Mai 2008:5 (4) „Es ist kompliziert, aber es muss anders laufen. Mein Vater hat das Motto nach 45 gehabt: Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen. Und was jetzt passiert, seit 60 oder 40 Jahren Besatzung in Israel, ist ein solches Unrecht, das dürfen wir als Deutsche und ich als deutsche Jüdin nicht mehr kritiklos hinnehmen. Da machen wir uns wieder schuldig und aufs Neue und das kann ich nicht mehr unterstützen und will es auch nicht mehr unterstützen.“

Die Argumentation in (3) und (4) ist deckungsgleich, beide Autoren meinen, ein israelisches Fehlverhalten deshalb anprangern zu müssen, weil sie wegen ihres Schuldbewusstseins eine besondere Verantwortung von sich und anderen einfordern. Daran werden dann explizit israelfeindliche Positionen gekoppelt und NS-Vergleiche verbalisiert. Die Judenvernichtung wird zum Referenzobjekt oder Präzedenzfall, an dem die israelische Politik gemessen wird. Gleichsetzungen zwischen der israelischen Politik und dem NS-Regime sind die mit Abstand häufigste Form der vermeintlich verantwortungsbewussten Israelkritik und ein Grundphänomen des aktuellen Antisemitismus. Keine andere Argumentation tritt so deutlich als Strategie auf, welche die eigene Meinung rechtfertigen soll. Die Verbalisierungsformen sind vielfältig: So ist die Rede von einer Endlösung für die Palästinenser, Israel macht nichts anderes als Hitler oder in Israel herrschen Verhältnisse wie zu NS-Zeiten bzw. die Israelis führen sich auf wie die SS. Die allgemein vorausgesetzte Verurteilung der Nazi-Verbrechen bedingt das diffamierende Potenzial solcher Gleichsetzungen: Indem eine Parallele zu Vorgängen oder Handlungen der NS-Diktatur gezogen wird, wird der jeweilige Akteur maximal diskreditiert (vgl. Stötzel 1989, Eitz/Stötzel 2007: 3). Nicht nur in den Zuschriften, auch in den Medienberichten zum Nahostkonflikt tauchen solche NS-Analogien auf, obwohl wesentlich impliziter, ist die Konzeptualisierung ISRAELIS = NAZIS die _____________ 5 Ein Transkript der Sendung vom 03.05.2008 findet sich unter: http://www.israelnetwork.de/node/683#683_2 (Zugriff am 05.11.2008).

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gleiche. In einem Kommentar verweist Peter Philipp (Deutsche Welle)6 auf den Wahlspruch der 68er-Bewegung und realisiert die NS-Analogie über einen intertextuellen Verweis, den der Leser über sein Weltwissen zur Auseinandersetzung mit der NS-Verantwortung auflösen kann. Nach der Beschreibung der andauernden Auseinandersetzungen in Nahost heißt es dort: (5) „So wurde – wenn auch zum Glück in ganz anderen Dimensionen – aus dem ‘Nie wieder!’ nach dem Zweiten Weltkrieg ein ‘Immer wieder’.“

Die NS-Analogie wird dadurch abgeschwächt, dass die Situation in den besetzten Gebieten natürlich ganz andere Dimensionen habe, der Vergleich wird also parallel relativiert und eine Gleichsetzung negiert. Jedoch deutet sich über den intertextuellen Hinweis Nie wieder! bereits die Strategie der doppelten Standards an. Dabei wird von Juden und Israelis aufgrund ihrer Verfolgung eine besondere moralische Verpflichtung oder ein stärkeres Ethos erwartet. Damit wird an sie ein anderer Standard angelegt als an alle anderen sozialen Gruppen. Dieser auf den Holocaust bezogene Doppelstandard (vgl. u. a. Gessler 2004: 15, Pfahl-Traughber 2007: 53 f.) wird häufig mit der rhetorischen Frage verbalisiert, ob die Juden aus der Geschichte nichts gelernt hätten, oder es wird über darauf folgende NSVergleiche angedeutet, dass Juden dem an sie gestellten Anspruch nicht gerecht werden: (6) „Sehr geehrte Damen und Herren, die jüngste politische Entwicklung im Nahen Osten und Ihre Stellungnahme hierzu ist einseitig und skandalös. Als hätten Sie, die übrig gebliebenen Nachkommen der Opfer des Holocaust nicht allen Grund, besonders sensibel auf menschliche Gemeinheit, Unterdrückung und selektives Töten zu reagieren. Können Sie sich vorstellen, wie einem Fünfjährigen aus dem Jahre 1944/45 bei der Betrachtung der gezeigten Fotos aus der Zeitung zumute ist, wenn er selbst noch solche Situationen erlebt hat? Damals saßen Nazis auf den Pferden und Juden mussten die Drecksarbeit machen. Jetzt sitzen Juden auf den Pferden………Schlimm, dass Sie diesen furchtbaren Konflikt von hier aus noch anheizen!“ [ZJD_31.07.2006_Omi_001]

Dass die verbalisierten NS-Vergleiche keinesfalls Entgleisungen sind (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 197 f.), zeigt sich an ihrer metakommunikativen Thematisierung; sowohl in Medienäußerungen als auch in unserem Zu_____________ 6 Vgl. Philipp, Peter, 2009. „Der Gaza-Krieg und die Deutschen“, (18.01.2009). Unter: http://www.dw-world.de/dw/article/0,,3953986,00.html (Zugriff am 20.01.2009).

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schriftenkorpus werden die gezogenen Vergleiche kommentiert bzw. gerechtfertigt. Formulierungen wie z.B.: „ich nehme mir dieses Recht des Vergleiches“ [ZJD_04.05. 2007_Hof_001] oder „ich muss diese Vergleiche wagen“ sowie „man muss schon gewisse Vergleiche ziehen, leider muss man sagen“ (besagtes Interview mit Hecht-Galinski) belegen, dass sich die Produzenten dieser Äußerungen sehr wohl über die Tragweite und Brisanz ihrer Gleichsetzungen bewusst sind. Hier zeigt sich, dass NSAnalogien strategische – also intentional geplante – Verbalisierungen sind (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 197 f.). Ebenso weist die reflexive Thematisierung erneut auf den Duktus der Reaktivität hin, die Autoren sehen sich wegen der akuten Situation in Israel zu diesen Analogien gezwungen. Die besondere Perfidität israelbezogener NS-Vergleiche liegt aber darin, gerade den Opfern des Holocaust bzw. deren Nachkommen vorzuwerfen, auf gleiche Weise zu handeln wie ihre Peiniger.7 Daher ist es bei diesen Vergleichen nicht nur Ziel, Israelis/Juden eine höchstmögliche negative Bewertung zukommen zu lassen, sondern ihnen ihren Status als Opfer des NS-Regimes zu streichen und so die Legitimation für Erinnerung und Trauer zu nehmen (vgl. Kreis 2005: 24). An NS-Gleichsetzungen schließt sich häufig die Strategie der OpferTäter-Umkehr an, wobei die Gleichsetzung von Israel mit Hitlerdeutschland dazu dient, eine im Vorfeld (konstruierte) Schuldzuweisung an die Deutschen oder eine besondere Verantwortung für den Holocaust abzulehnen. Da man sich so reaktiv von einer vermeintlichen Kollektivschuld entlasten will, wird hier auch von Entlastungsantisemitismus bzw. Schuldabwehr-Antisemitismus gesprochen (vgl. Schapira/Hafner 2006, Bergmann 2004). Dieser findet als Grundphänomen des sekundären Antisemitismus mit dem Ziel der Entlastung seine moderne Variante in der Fokussierung auf Israel, indem eine Verbindung zur deutschen Vergangenheit gezogen wird. Ein immer wiederkehrendes argumentatives Muster ist dabei die moralische Diskreditierung von Juden und Israelis. Wenn Juden und Israelis erst einmal als moralisch verwerflich oder als außerhalb der ethischen Werte und Normen stehend dargestellt sind, lassen sich daran vielfältige Argumente anschließen. So können mit diesem unmoralischen Status der Juden/Israelis die deutsche Schuld und Verantwortung für den Holocaust und seine Folgen relativiert und geleugnet, der israelische Staat delegiti_____________ 7 Dem liegt dabei die Gleichsetzung von ISRAELIS und NACHKOMMEN VON HOLOCAUST-OPFERN zugrunde.

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miert sowie antisemitische Einstellungen gerechtfertigt werden. Die vermeintliche Amoralität dient als eine variabel einsetzbare Prämisse für jedwede antisemitischen bzw. anti-israelischen Meinungsäußerungen und Argumentationsketten. Über die Opfer-Täter-Umkehr lassen sich Verantwortung und Schuldgefühle ablehnen, weil Juden ihren moralischen Kredit/ihren Opferstatus verspielt haben. Der NS-Vergleich bildet damit die sprachliche Kurzform für den konzeptuellen ‚Freispruch‘ der folgenden Form: JUDEN SIND WIE NAZIS; DAHER NICHT MEHR OPFER, SONDERN TÄTER; UND DESHALB IST DIE SCHULD DER DEUTSCHEN GETILGT,8 wie er in (7) verbalisiert wird: (7) „RafiEitan Betreff: Minister für Rentenangelegenheiten Die Welt v. 23.11.07 Sehr geehrte Damen und Herren, als ich die Forderung von 60 Milliarden € gelesen habe viel mir nur ein, typisch Jude. Tut mir leid, aber dass muss einmal gesagt sein. … Ich Jahrgang 1942 und 65 Jahre nach dem Unrecht an den Juden, zugegeben eine furchtbare und unfassbare Idee, denke, dass die Israelis auch nicht alles im nahen Osten richtig gemacht haben!“ [IBD_23.11.2007_Poh_001]

Hier wird neben dem (sekundär-)antisemitischen Stereotyp JUDEN NUTZEN DEN HOLOCAUST AUS / ZIEHEN FINANZIELLEN VORTEIL DARAUS, welches sogar explizit als typisch für Juden bezeichnet wird, die israelische Politik über die Konjunktion auch mit der Judenverfolgung auf eine Stufe gestellt. Die Formulierung auch nicht alles richtig gemacht stellt das Unrecht an den Juden euphemistisch als eine Art Fehlverhalten dar. Mit dem Verweis auf eine vermeintliche israelische Täterschaft rechtfertigen Schreiber wie in (8) ihre Forderung, einen Schlussstrich unter die deutsche Geschichte zu ziehen und treten für ein Ende von Verantwortung bzw. Erinnerung ein: _____________ 8 Auffällig ist, dass Israel fast ausschließlich mit der NS-Diktatur, aber nicht mit anderen Schreckensdiktaturen gleichgesetzt wird, wie bspw. mit den spanischen Faschisten unter Franco oder den Jakobinern in Frankreich. Derartige Vergleiche wären nicht dazu geeignet, sich über eine Opfer-Täter-Umkehr von der Vergangenheit loszusagen. Es findet sich lediglich der Vergleich Israels mit dem südafrikanischen Apartheidregime. Dieser ursprünglich aus dem linken Diskurs stammende Vergleich dient der Diffamierung Israels als rassistischem Staat.

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(8) „Sehr geehrte Frau Knobloch, das was ihrem Volk angetan wurde kann man nicht verzeihen. Doch jetzt muß mal mit dem Ganzen Schluß sein. Was ihre Landsleute mit den Palästinenzern da machen ist auch nicht viel besser. Vielleicht sollten sie dieses mal berücksichtigen bevor sie wieder auf Tränentour gehen. Mit freundlichen Grüssen“ [ZJD_25.11.2008_Rei_001]

Diese Forderungen setzen stets voraus, Juden und Israelis seien ein und dasselbe bzw. die Juden weltweit seien mit der israelischen Politik einverstanden und für diese verantwortlich. Die eigene historische Verantwortung für die Verbrechen an den Juden wird dekonstruiert, indem zeitgleich eine Verantwortung aller Juden für die israelische Besatzung der Palästinensergebiete konstruiert wird. Die zugrunde liegende Konzeptualisierung dabei besteht in einer Gleichsetzung von JUDEN und ISRAELIS (vgl. Schwarz-Friesel, in diesem Band). Kommunikativer Ausdruck dieser mentalen Verschränkung ist z. B. der Umstand, dass Zuschriften, in denen die israelische Verbrechen beklagt werden, an den Zentralrat der Juden gerichtet sind. Häufig wird in diesen an Juden adressierten Briefen zudem auf Israelis mit der Nominalphrase ihre Landsleute referiert.9 Auffällig ist in (8) desweiteren die Paradoxie, einen Schlussstrich zu fordern und zugleich zu betonen, dass der Holocaust nicht zu verzeihen sei. Diese Paradoxie ist exemplarisch für häufig auftretende argumentative Fehlschlüsse und Widersprüchlichkeiten innerhalb antisemitischer Äußerungen (vgl. SchwarzFriesel/Braune 2007). Israel wird beständig zum Täter konstruiert, um sich selbst zu entlasten; NS-Vergleiche bilden die sprachlich eindeutigste Form dieser israelbezogenen Schuldabwehr. Dabei führt jedoch die andauernde rhetorische Gleichsetzung zu einer Abstumpfung des Bewusstseins für die NSUntaten. Falsche historische Vergleiche dienen der Unterstellung, „‘die Juden’, in Gestalt der Israelis, seien nicht besser als ihre einstigen Verfol-

_____________ 9 Genauso häufig ist von ihrem Heimatland/ihrem zu Hause die Rede bzw. es wird auf Israelis mit ihre Glaubensgenossen referiert.

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ger, weswegen man ihnen auch keine besondere Ehre der Erinnerung mehr schuldig sei“.10 Dass diese Form der Opfer-Täter-Umkehr vereinzelt von Juden selbst bestätigt wird, greifen Medien bereitwillig auf. So veröffentlicht die Berliner Zeitung am 15. August 2006, also mitten im Libanon-Krieg, ein Interview mit Alfred Grosser. Darin antwortet er auf die Frage nach Israels Existenzrecht wie folgt:11 (9) „Nein, darum geht es eben nicht. Opfer gewesen zu sein, hat noch nie jemanden daran gehindert, Henker zu werden.“

In expliziter Form wird Juden hier die Opferrolle aberkannt, sie seien heute demnach die „Henker“ in Nahost. Eine solche von Juden formulierte harsche Israelkritik dient als ‚gefundenes Fressen‘. Sie wird als klassischer Beweis der Form sie sagen ja selbst… benutzt und trägt gleichzeitig den Nimbus des Exzeptionellen, weil die nicht-jüdische Bevölkerung von Juden offensichtlich von vornherein eine andere – nämlich eine unkritische israelsolidarische – Haltung erwartet. Dass sowohl die Israelis als auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland eine kontroverse Diskussion zur Politik des israelischen Staates führen, wird ausgeblendet bzw. nicht wahrgenommen.12 Nach Mitstreitern für seine Position muss Grosser nicht lange suchen; der durch israelkritische Aussagen bekannte Udo Steinbach steht gern an seiner Seite. Bei der TV-Sendung „Hart aber Fair“ bekommt Steinbach die Chance, Israel zum internationalen Outlaw zu erklären, sowie sich und alle Deutschen als moralisches Opfer der israelischen Verbrechen zu gerieren. Das durch seine Vergangenheit geläuterte Deutschland werde vom unmenschlichen Verbrecherstaat Israel beleidigt und gekränkt. Der so entworfenen ethischen Dichotomisierung zwischen den guten Deutschen und den bösen Israelis versucht Frank Plasberg immerhin beizukommen:13 _____________ 10 Herzinger, Richard, 2009. „Hass auf Israel. Offener Antisemitismus bedroht Europa“. In: WELT-online unter: http://www.welt.de/politik/article3100537/Offener-Antisemitismus-bedroht-Europa.html (Zugriff am 29.01.2009). 11 Vgl. den Wortlaut des Interviews im Textarchiv der Berliner Zeitung unter: http:// www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/0815/politik/0006/ index. html (Zugriff am 16.09.2009). 12 Zur jüdischen Israelfeindschaft vgl. Friesel, in diesem Band. 13 Hier und im Folgenden zitiert nach einem von den Autoren angefertigten Transkript der Sendung.

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(10) „Aber wo liegen unsere Verletzungen? Unsere Verletzungen liegen darin, dass wir nach dem 3. Reich versucht haben, eine neue Ordnung zu gründen, uns in die internationale Ordnung einzufädeln, ins Recht, in die Humanität. Und jetzt erleben wir einen Staat, der sich über all das hinwegsetzt, und [Plasberg: Danke] und da liegt unsere Verletzung [Plasberg will eingreifen], und da liegt auch unser Protest, und deswegen sagen wir [Plasberg: Danke], dass wir verbinden die Israelproblematik, die Gazaproblematik mit der Frage [Friedman wirft ein: Wie pervers] des Ansehens in Deutschland. [Plasberg: Dankeschön…]“

Entsprechend energisch greift Michel Friedman ein, immerhin sagt Steinbach hier explizit, er mache das Ansehen der Juden in Deutschland von der Politik Israels abhängig, und erfüllt damit einen Indikator für antisemitische Israelkritik.14 Friedman wird die vermeintliche Inhumanität Israels, das sich gegen die internationale Ordnung hinwegsetze, vorgeworfen, gerade weil er Jude ist. Auch in Zuschriften an den Zentralrat der Juden wird häufig die vorbildliche Wendung Deutschlands zu Frieden und Gewaltverzicht hervorgehoben, der die israelischen Gräuel entgegenstünden. Auf individueller Ebene bekräftigen die Schreiber ihr antifaschistisches Weltbild und ihr empathisches Gefühl für die NS-Opfer, welches von den Israelis verletzt werde. Dies wurde bereits am Beispiel (3) deutlich, dort findet die Argumentation Udo Steinbachs bei einer protestierenden Lehrerin ihr Pendant. Sie ist entrüstet, eben weil sie die jüdischen Opfer der Vergangenheit betrauert und bedauert habe. Und dies teilt sie dem Zentralrat, also den Juden in Deutschland mit, denn die seien ja die Landsleute der Israelis. Auch hier werden also deutsche Juden für die Politik in Israel verantwortlich gemacht. Woher diese Schuldübertragung auf die Opfer? Ist es kulturelle Kontinuität, wie Scherer (2006: 103) vermutet; vererbt sich hier die Haltung der einstigen Tätergeneration, also die Abwesenheit des Mitempfindens? In jedem Fall zeichnet sich der Widerstand gegen Israel durch die Unwillig_____________ 14 Israelkritik wird antisemitisch, wenn Israel sein Existenzrecht und/oder das Recht zur Selbstverteidigung abgesprochen wird, wenn an Israel im Vergleich zu anderen Ländern ein doppelter Standard angelegt wird, wenn sich mit antisemitischen Stereotypen, Symbolen oder Bildern auf Israel oder Israelis bezogen wird sowie, wenn die israelische Politik oder Israelis mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden oder, wenn Juden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden (vgl. u. a. Bunzl 2005: 278, EUMC 2004: 229, Gessler 2004: 10 u. 15, Heyder et al. 2005: 146 f., Kloke 2005: 22, Schapira/Hafner 2006, Pfahl-Traughber 2007).

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keit bzw. Unfähigkeit aus, sich mit den Gründen desselben auseinanderzusetzen (vgl. Bunzl 2005: 278). Stattdessen wird Israel zum modernen Feindbild, also zu einer äußerst rigiden Agglomeration von Negativvorstellungen; es bleibt stabil, wird kaum modifiziert und fungiert als Orientierungsdiktat (vgl. Pörksen 2000: 38).

Antisemitismus in den Massenmedien Israel und seine Bewohner werden als Bedrohung inszeniert, indem beständig negative Emotionen, einseitige Perspektiven und antisemitische Stereotype generalisierend auf Israel bezogen werden (vgl. SchwarzFriesel 2007: 350). Die destruktive Feindschaft gegen den jüdischen Staat – der Anti-Israelismus – wird genährt durch Simplifizierungen, einseitige Schuldzuweisungen und die Dämonisierung des Landes sowie seiner politischen Vertreter (vgl. Schwarz-Friesel 2009: 184). Und auch Medien sorgen durch fragwürdige Berichte dafür, dass diese Sicht gestärkt wird, indem sie alte antisemitische Stereotype zumindest implizit aufgreifen: Wieso muss beispielsweise der Spiegel (Nr. 15/2002, 08.04.2002) als Aufmacher die Headline „Auge um Auge – der Biblische Krieg“ verwenden und so den Nahostkonflikt mit dem vermeintlich grausamen jüdischen Racheprinzip in Verbindung bringen (vermutlich wohlwissend, dass dieses Bibelzitat von der Mehrheit der Leser derart falsch interpretiert wird)?15 Und warum werden auf diesem Spiegel-Cover zudem eine Kreuzigungsszene und der Kampf zwischen David und Goliath abgebildet? Will man damit auf historische oder mythische Parallelen hinweisen? Oder warum betitelt das Magazin Stern (Nr. 44/2003) ein Bild betender orthodoxer Siedler, die an den Tod von zwölf Sicherheitskräften erinnern, mit den Worten „Beten für den Tod der Feinde“? Ein weiteres Motiv dieser FotoStory zeigt einen israelischen Soldaten, wie er zwei Kinder in Hebron bewacht; ohne erkenntlichen Bezug wird ein Jude zitiert mit: „Unser Hass ist Gottes oberstes Gebot.“ Hier werden etablierte einseitige Sichtweisen auf das Geschehen in Nahost mit dem Stereotyp des rachsüchtigen und amo_____________ 15 Denn die alttestamentarische Formel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist entgegen der üblichen Interpretation gerade ein Aufruf zur Begrenzung und Verhältnismäßigkeit der Rache. Zum Bild Israels sowie antisemitischen Tendenzen im Spiegel vgl. Behrens (2003).

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ralischen Juden verbunden. Ähnlich wird in der Katholischen Sonntagszeitung das Stereotyp der Blutrache aufgegriffen und auf den israelischpalästinensischen Konflikt angewendet. Dort schrieb Dirk Herrmann Voß, die israelische Regierung verhalte sich „wie in einem Blutrausch“, habe sich „vollständig der Logik der Gewalt“ verschrieben, und „die übermächtige Militärmacht Israel“ missachte die Gesetze der Menschlichkeit. Demgegenüber hätten sich die Palästinenser erst „unter jahrzehntelangen unerträglichen Lebensbedingungen“ radikalisiert.16 Auch in der FAZ darf Patrick Bahners im Zusammenhang mit dem Streit zwischen Evelyn Hecht-Galinski und Henryk Broder das Bild des amoralischen und verbrecherischen Israelis zeichnen: (11) „Der Gedanke, dass Israel in sechs Jahrzehnten der Selbstverteidigung möglicherweise doch ein Ethos ausgebildet hat, in dem Töten und Sterben anders gewogen werden als in friedlicheren Weltgegenden, soll nicht ausgesprochen werden dürfen.“17

Sich auf die Meinungsfreiheit berufend und zugleich durch den Titel seines Kommentars ein vermeintliches Kritiktabu konstatierend behauptet Bahners hier, Israelis würden mit dem Tod anders umgehen als der Rest der Welt. Dass dabei natürlich ein leichtfertigerer Umgang mit dem Tod gemeint ist, bleibt zwar implizit, ist aber bewusst intendiert. Der so als kriegslüstern gezeichnete Israeli habe konsequenterweise auch gar kein Interesse am Frieden in Nahost. Das stellt zumindest Ulrich Kienzle (als journalistischer ‚Experte‘) explizit fest, wenn er sich zur Siedlungspolitik Israels wie folgt äußert: (12) Kienzle [auf Steinbachs Ausführungen zur Siedlungspolitik]: „Leider ist es komplizierter, die Palästinenser sind vertrieben worden, das ist der Anfang der Sünde. […] Ich habe das Gefühl, Israelis wollen keinen Frieden mehr, und das ist das, was mich am meisten ??? [unverständlich]“

Dass die Israelis (und hier wird auffälligerweise immer generalisierend von den Israelis und nicht etwa von der israelischen Regierung gespro_____________ 16 Zitiert in WELT-online (23.01.2009) unter: http://www.welt.de/welt_print/article 30775672/Katholischer-Kommentar-zu-Israel-sorgt-fuer-Empoerung.html (Zugriff am 16.09. 2009). 17 Bahners, Patrick, 2008. „Was darf eine Jüdin in Deutschland gegen Israel sagen?“. In: FAZ Nr. 195 (21.08.2008), S. 41.

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chen) grundsätzlich kein Interesse an Frieden und Ruhe in Nahost hätten, wird auch häufig in Zuschriften an die Israelische Botschaft geäußert. Wie in (13) und (14) wird dann konstatiert, Israelis seien nicht friedliebend und wenn sie Friedensangebote unterbreiteten, seien diese nicht ernsthaft bzw. ernst gemeint. Häufig knüpft sich daran, wie es bei Ulrich Kienzle bereits anklingt, die Vorstellung, gerade die Israelis (und Juden) müssten wegen der erlebten Shoah eine besondere Moral oder Ethik zeigen. An Israelis und Juden wird erneut ein doppelter Standard angelegt, dies zeigt sich in Formulierungen wie die israelische Politik sei „nach Ihren eigenen Erfahrungen undenkbar“ oder „die Juden hätten aus ihrer Geschichte (mehr) lernen müssen“. Über diese doppelten moralischen Standards wird Israel als besonders amoralisch charakterisiert und diffamiert: (13) „Verlassen Sie sich nicht nur auf Ihre derzeit überlegenen Luftstreitkräfte, sondern versuchen Sie einmal einen ernsthaften Friedensdialog und pfeifen Sie die nationalistischen Siedler zurück.“ [IBD_18.12.2007_Kel_001] (14) „Dass die Israelis nicht friedliebend sind zeigt sich schon an den regelmäßigen Verletzungen des Luftraums von Lybien und Syrien. … Sie sollten aus ihrer Geschichte etwas mehr gelernt haben und sich nicht darauf verlassen, das Israelis alles dürfen.“ [IBD_07.05.2006_Dro_001]

Die unterstellte Amoralität der Israelis geht gleichzeitig eine mentale wie verbale Symbiose mit der einseitigen Verurteilung bzw. der einseitigen Zuweisung von Verantwortung im Nahostkonflikt ein. Israel wird als alleiniger und damit auch allein verantwortlicher Aggressor im palästinensisch-israelischen Konflikt wahrgenommen und verurteilt. Die Staatsgründung Israels gilt ohnehin als Ursünde bzw. Ausgangspunkt des Konfliktes, vor der die aktuellen Schuldfragen verblassen, wie Ulrich Kienzle weiter ausführt: (15) Kienzle: „Es ist leider die Wahrheit Wir müssen mal wirklich zum Konflikt zurückgehen: die Ursache hat einen ganz simplen Grund; die Israelis – oder die Juden – oder wie immer wir’s nennen wollen, haben die Palästinenser vertrieben. Haben Sie das vergessen?“ Friedman: „Haben Sie vielleicht eine andere Wahrnehmung von Wahrheit? […]“

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Kienzle: „Es geht um die Ursache des Konfliktes 1947, und damals wurden sie vertrieben und Sie [an Friedman gerichtet] lassen sie nicht zurück.“

Hier werden insbesondere Interpretationen und Sichtweisen des Linksextremismus virulent, man solidarisiert sich mit den scheinbar ohnmächtigen Opfern und stellt sich gegen den übermächtigen militärisch hochgerüsteten Aggressor. Underdogs sind die Palästinenser, verantwortlich für deren Situation und damit für deren Reaktionen ist Israel.18 Diese gängige und mehrheitsfähige Interpretation der Machtverhältnisse in Nahost findet sich dann sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die sich nicht unbedingt an ein links orientiertes Publikum richtet. Der Islam-Experte und Redakteur der FAZ Wolfgang Günther Lerch kommentiert19: (16) „Da die palästinensische Seite unter Arafat mit den Oslo-Vereinbarungen die wichtigsten Forderungen schon 1993/94 erfüllt hat, wäre es jetzt an Israel, Konzessionen zu machen – etwa indem mit dem massiven Abriss von Siedlungen im Westjordanland begonnen und die Besatzungsherrschaft gelockert wird. Die Besatzung hat das Land korrumpiert, die Soldaten traumatisiert, und sie verschlingt horrende Summen. Bleiben die Hizbullah, die Hamas und Iran. Sie müssen herhalten, um die harte Haltung Netanjahus (und anderer) zu rechtfertigen. […] Israels Politiker wären gut beraten, wenn sie, wenn schon nicht aus Neigung, so doch aus Einsicht, diese Konstellationen berücksichtigen und durch eine entgegenkommendere Politik in die Friedensoffensive gingen.“

Hier wird ein Ungleichgewicht bei den Friedensbestrebungen konstatiert: Die Palästinenser haben die Vereinbarungen erfüllt, die Israelis dagegen ihre Auflagen missachtet. Israels Siedlungsräumungen unter Sharon finden in dieser Argumentation keinerlei Erwähnung. Monoperspektivisch wird Israel zum kompromisslosen Tyrannen, der lediglich eine Bedrohung durch Hisbollah, Hamas und den Iran konstruiert, um sein militärisches Vorgehen zu rechtfertigen. Der Raketenbeschuss durch die Hamas und die Missachtung des vertraglich vereinbarten Gewaltverzichts sowie die _____________ 18 Vgl. zu den z. T. als traditionell zu bezeichnenden Interpretationen des Nahostkonfliktes in der deutschen Linken den ausführlichen Sammelband von Brosch et al. (2007) sowie Kloke (1994). 19 Kommentar von Wolfgang Günter Lerch: „Die Torheit der Regierenden“ in FAZ (17.03.2009).

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Nichtanerkennung des Existenzrechts Israels werden komplett ausgeblendet, als ob die Gewalt und die Drohungen gegen Israel inexistent wären. Charakteristisch sind eine einseitige Aggressorperspektive und die Konstruktion eines Täterprofils von Israel, welche dann eine ausschließliche Verurteilung Israels legitimieren. Insbesondere in den Headlines und in der Informationsstruktur medialer Texte zeigt sich eine derartige Perspektivierung deutlich.20 So lautet bspw. eine Schlagzeile des Kölner Stadtanzeigers vom 01.03.2009 „Israel droht mit neuen Angriffen“. Israel wird so als aktiver gewaltbereiter Part konzeptualisiert. Dass es sich aber um eine Reaktion auf den Beschuss einer israelischen Schule handelt, bleibt unerwähnt. Faktenorientierter hätte es lauten können: Hamas-Raketen auf israelische Schule gefährden Frieden, womit die tatsächliche Ursache-Folge-Relation zum Ausdruck gekommen wäre. Gleichzeitig würden durch eine solche Headline die Palästinenser nicht aus einer einseitigen und monokausalen Opferperspektive dargestellt. Insgesamt weist die Analyse der Nahost-Berichterstattung, wie sie z. B. im Kölner Stadtanzeiger geboten wird, drei wesentliche Kennzeichen (insbesondere bei der Thematisierung des Trennzauns) auf: Erstens eine Emotionalisierung zugunsten eines Mitgefühls für die Palästinenser, deren Leiden im Fokus stehen, und zuungunsten der Israelis, deren Leiden nicht thematisiert werden. Zweitens erfolgt seitens der palästinensischen Opfer eine Individualisierung, die eine Identifikation und ein Mitgefühl mit den Opfern ermöglicht. Hingegen werden israelische Akteure abstrakt dargestellt und nur im Kontext von Gewalt und Militär thematisiert. Dies begünstigt eher eine soziale Distanz und emotionale Abwehrhaltungen. Drittens wird der Nachrichtenfaktor NÄHE hinsichtlich einer Solidarisierung mit den Palästinensern durch den wiederholten Bezug auf palästinensische Christen oder das Christentum allgemein sowie seine Heiligen Stätten gestärkt. Über diese spezifischen Emotionspotenziale können derartige _____________ 20 Ergänzend sei auf die Einseitigkeit der Bildebene verwiesen, die nicht Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Analysen ist. Auch die bildliche Darstellung – sei es durch Pressefotografien oder Filmberichte im Fernsehen – kennzeichnet eine Asymmetrie der Konfliktgegner. Visuell werden israelisches Militärgerät und palästinensische (Steine werfende) Demonstranten als Konfliktparteien gegenübergestellt. Hier spielt es eine ausschlaggebende Rolle, dass sich das israelisches Militär und dessen Einsätze relativ leicht abbilden lassen, während palästinensische Terrorakte für die Kamera schlichtweg ‚unsichtbar‘ sind (vgl. IFEM 2002).

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Texte eine soziale und emotionale Identifikation mit Israel als größte jüdische Gemeinschaft erschweren oder u. U. sogar verhindern. Die durch einige Medien gesetzte einseitige Perspektive auf den Nahostkonflikt spiegelt sich in den Zuschriften an den Zentralrat und die Israelische Botschaft wider. Auf Medien wird häufig explizit Bezug genommen. Die Medienaussagen bilden den Wissenshintergrund und die Argumentationsbasis für die Schreiber und in den meisten Fällen übernehmen sie diese dann unverändert.21 Im folgenden Bespiel zeigt sich die monoperspektivische Wahrnehmung von Israel als Aggressor, wie sie sich auch im Mediendiskurs findet. Desweiteren ist ebenfalls das Argument des FAZ-Kommentars von Wolfgang Günter Lerch vertreten, wenn Israel vorgeworfen wird, „fadenscheinige Begründungen“ zur Rechtfertigung seiner militärischen Aktionen heranzuziehen. Auch im folgenden Beispiel werden Gewalt und Drohungen gegen Israel ausgeblendet und Israel wird genuin als Täter konzeptualisiert: (17) „Mit Abscheu und tiefer Verachtung verfolgen wir in den Medien das Massaker Israels in Gaza und im Libanon. Die fadenscheinigen Begründungen für die massiven Angriffe auf zivile Ziele sind mehr als erbärmlich. Blickt man Jahrzehnte zurück, war es immer Israel, das anderen Land weggenommen, Städte zerstört und Orte dem Erdboden gleichgemacht hat.“ [ZJD_30.07.2006_Ans_001]

Eine derartige Perspektivierung bildet Basis und Voraussetzung für eine einseitige Solidarisierung mit den Palästinensern:22 Die Palästinenser reagieren lediglich auf den initial agierenden Aggressor und Unterdrücker Israel, auf dessen Verbrechen und Untaten. Dieses Motiv von Aktion und (zwangsläufiger) Reaktion findet sich bspw. in expliziter und auffälliger _____________ 21 Die seit Jahrzehnten etablierte konstruktivistische Einsicht, dass Medien kein Spiegelbild der Realität bieten (können), sondern eine spezifische Medienrealität konstruieren, wird von der Mehrheit ignoriert. Sowohl die Mediennutzer als auch die Journalisten haben einen uneingeschränkten Glauben an die Abbildfunktion der Medien (und insbesondere der Bildmedien). Das Selbstverständnis des Journalismussystems und das Medienbild der Mehrheit basieren nach wie vor auf einem naivrealistischen Weltbild und damit auf einer Wunschvorstellung (vgl. Staiger 2004: 154, Weischenberg/Scholl 1995: 235). 22 Die Frage nach den Ursachen der einseitigen und oft unkritischen Solidarisierung mit den Palästinensern stand auch im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion beim Symposium „Aktueller Antisemitismus in Deutschland – ein Phänomen der Mitte!?“ (siehe Zusammenfassung am Ende dieses Bandes).

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Form im Berliner Kurier vom 03.05.2009 in einem emotional anrührenden Artikel zum Film „Ein Herz aus Dschenin“:23 (18) „Der Palästinenser Ismael Khatib (43), gelernter Automechaniker, leistete jahrelang bewaffneten Widerstand gegen Israel, saß elf Mal für jeweils mehrere Monate in israelischen Gefängnissen. Er hat viel verloren in seinem Kampf: seine Arbeit, sein Haus, seinen Sohn. … ‘Ich dachte’, sagt er, ‘du hast doch so viel versucht als Freiheitskämpfer, doch es hat nichts gebracht. Jetzt ist es Zeit, auf einem anderen Weg zum Frieden beizutragen.’“

Über die positiv konnotierten Lexeme Widerstand und Freiheitskämpfer wird das Verhalten des Palästinensers Khalib als berechtigte oder zumindest verständliche Gegenwehr konzeptualisiert, als berechtigte Antwort auf israelische Brutalität und Willkür. Bewaffneter Kampf bzw. unter Umständen sogar terroristische Aktivitäten werden so zur Friedensaktivität verklärt, Khatib wird zum Märtyrer, der einen hohen persönlichen Preis zahlt und trotzdem den erhofften Frieden nicht erreicht. In der folgenden Zuschrift an die Israelische Botschaft mit Verweis auf die Lübecker Online-Nachrichten ist ein ähnliches Muster zu erkennen. Es erfolgt eine Emotionalisierung, indem die Palästinenser konkret als hilflose Opfergruppe dargestellt werden, denen kontrastiv Israel als abstrakte militärisch überlegene Macht gegenübergestellt wird. Das Bild der notgedrungen verzweifelt und dennoch chancenlos reagierenden Palästinenser findet sich hier wieder: (19) „Die Armee des Mörder-, Folter- und Landraubstaates Israel hat wieder einen gloriosen Sieg über Steine werfende palästinensische Kinder und Jugendliche errungen.“ [IBD_28.03.2004_Wul_001] (20) „Im übrigen kann man die bewaffneten Palästinenser auch als Partisanen betrachten, die gegen den unrechtmäßigen, übermächtigen Besatzer mit verzweifelter Entschlossenheit kämpfen.“ [IBD_12.06.2006_Sch_001]

Die einseitige Sicht auf Israel als Aggressor und Unterdrücker bzw. auf die Palästinenser als Opfer drückt sich ebenfalls häufig über Apartheidvergleiche aus. Israel wird vorgeworfen, eine religiös-ethnisch motivierte Rassen_____________ 23 Vgl. Berliner Kurier (03.05.2009): „Achmed lebt in uns weiter“ unter: http://www. berlinonline.de/berliner-kurier/print/nachrichten/261944.html (Zugriff am 03.05. 2009).

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trennung zu betreiben. Auf lexikalischer Ebene zeigt sich dies an der Referenz auf Israelis mittels der Lexeme Herrenmenschen oder Herrenrasse, die dem nationalsozialistischen Vokabular zugehörig sind. An den Rassismusvorwurf ist oft wiederum das Anlegen eines doppelten Standards gekoppelt. Aus den jüdischen Erfahrungen mit der rassistischen und antisemitischen Ideologie der NS-Zeit wird wiederum der Anspruch an Israel abgeleitet, dass es moralischer handeln müsse als andere Staaten. Insbesondere mehren sich die Apartheidvergleiche, seitdem sich Israel ab 2004 mit der Sperranlage zum Westjordanland schützt, während und nach dem Libanon-Konflikt 2006 sowie aktuell im Gaza-Konflikt 2009. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 20.02.2009 erfolgt der Apartheidvergleich über die Darstellung eines Zukunftsszenarios:24 (21) „Auf lange Sicht gefährdet Netanjahus Eineinhalb-Staaten-Konzept die Existenz Israels. Die Geburtenrate der Palästinenser ist höher als jene der Israelis. In ein paar Jahren werden in Israel und im Westjordanland mehr Palästinenser leben als jüdische Israelis. Israel würde dann zu einem apartheidsähnlichen Staat, in dem eine Minderheit einer Mehrheit grundlegende Menschenrechte vorenthält.“

Ebenso finden sich in den Zuschriften an den Zentralrat der Juden sowie die Israelische Botschaft Apartheidvergleiche. In einer E-Mail an den Zentralrat wird ein solcher Vergleich explizit geäußert und noch zugespitzt als Terror gegen die Zivilbevölkerung konzeptualisiert: (22) „einem Land [Israel], das sich seine ‚Existenz‘ durch brutalen Terror gegenüber der britischen Mandatschaft … und der einheimischen Bevölkerung … herbeiterrorisiert hat Hier ist die Rede von einem brutalen, rassistischen Apartheits-Staat.“ [ZJD_27.10.2006_Kna_001]

An das Konzept von Israel als AGGRESSOR und SCHULDIGEM im Nahostkonflikt werden oftmals klassische judenfeindliche Stereotype gekoppelt, d. h. diese Stereotype werden auf den Staat Israel übertragen. So prädiziert der Autor eines Briefes an die Botschaft während des LibanonKonfliktes 2006 Israel als amoralisch, blutrünstig und hasssüchtig, wie es für Juden aus primärantisemitischen Stereotypen bekannt ist:

_____________ 24 Vgl. ohne Name, 2009. „Stillstand in Israel“. In: Süddeutsche Zeitung online (20.02.2009) unter: http://www.sueddeutsche.de/854389/869/2766633/Stillstand-inIsrael.html (Zugriff am 24.02.2009).

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(23) „für mich, wie für die meisten menschen, ist völlig klar, dass die besatzer- und unterdrückermachtisrael die hauptschuld trägt. es ist ein amoralisches, mittelalterliches regime, das in blut und hass watet.“ [IBD_11.07.2006_Sch_001]

Im medialen Diskurs tritt mit der einseitigen Aggressor- und Schuldperspektive häufig die Anschuldigung auf, Israel nehme für sich einen Sonderstatus in Anspruch und halte sich nicht an internationale Normen. Hier stellt sich die Transformierung des sekundärantisemitischen Stereotyps JUDEN HABEN SONDERRECHTE auf den israelischen Staat heraus ISRAEL HAT EINEN SONDER-STATUS. Im Handelsblatt erschien ein Kommentar anlässlich der Regierungsbildung von Netanjahu und Lieberman.25 Der Vorwurf lautet, dass Israel sich nicht an internationales Recht halte und dass dies in Deutschland nur aufgrund einer falsch verstandenen Solidarität zu Israel folgenlos bleibe: (24) „Das Land muss sich an internationale Spielregeln halten wie andere Staaten. Und auch eine neue israelische Regierung darf nicht ohne Folgen internationale Vereinbarungen und Zusagen ihrer Vorgänger brechen dürfen. Nur hat auch diese Bundesregierung bereits den Fehler gemacht, die richtige und uneingeschränkte Solidarität mit dem jüdischen Staat mit einer falschen Solidarität zu jeder israelischen Regierung zu verwechseln.“

Bei einer derartigen Konzeptualisierung steht Israel explizit als Antagonist außerhalb der anerkannten Wertegemeinschaft, und die antisemitische Figur des Dritten wird bedient (vgl. Holz 2005: 11). Die Bundesregierung betrachtet die Solidarität mit Israel als Staatsräson. Dies steht jedoch in keinem Widerspruch zu einer möglichen Kritik an Israel, wie es der Kommentar im Handelsblatt nahelegt. Kritik an und Bedenken gegenüber der Situation in den Palästinensergebieten und der Politik der israelischen Regierung formulierte die Bundeskanzlerin bspw. bei ihrem Staatsbesuch in Israel 2008. Ähnlich wie bei den Apartheidvergleichen wird ebenfalls im Zusammenhang mit dem Missbrauchsvorwurf an Israel ein doppelter moralischer Standard angelegt. So fordert der Autor einer Zuschrift an die Israelische _____________ 25 Vgl. Rinke, Andreas, 2009. „Israel: Keine falsche Solidarität“. Kommentar im Handelsblatt (06.05.2009) unter: http://www.handelsblatt.com/politik/handelsblattkommentar/israel-keine-falsche-solidaritaet %3B2267090 (Zugriff am 06.05.2009).

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Botschaft in Deutschland, dass Israel aus der Geschichte hätte lernen müssen. Hier ist die Geschichte der Juden in der NS-Zeit gemeint, und es zeigt sich die Verquickung von israelischen Aspekten mit dem Verweis auf die NS-Vergangenheit: (25) „Sie sollten aus ihrer Geschichte etwas mehr gelernt haben und sich nicht darauf verlassen, dass Israelis alles dürfen.“ [IBD_07.05.2006_Dro_001]

Das sekundärantisemtische Stereotyp, bezüglich Juden und Judentum herrsche ein Kritiktabu, findet sich ebenfalls in transformierter Form im Diskurs über Israel. Häufig wird die Behauptung aufgestellt, dass jegliche Israelkritik als antisemitisch verurteilt werden würde. In diesem Kontext wird dann metakommunikativ auch von der sogenannten Antisemitismus-, Auschwitz- oder Empörungskeule gesprochen. Um der gesellschaftlichen Diskreditierung und Sanktionierung durch den Antisemitismusvorwurf als Totschlagargument zu entgehen, erfolgt oftmals eine AntisemitismusAbwehr. Entweder wird explizit betont, kein Antisemit zu sein bzw. es erfolgt eine positive Selbstdarstellung (s. Schwarz-Friesel, in diesem Band), oder es wird im Vorfeld der vorurteilsbehafteten Äußerung expliziert, dass Israelkritik nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. Mit dieser Feststellung leitet bspw. Alfred Grosser im bereits genannten Interview mit der Berliner Zeitung im August 2006 seine antisemitische Äußerung ein, dass Israels Politik den Antisemitismus fördere:26 (26) „Kritik an Israel und Antisemitismus haben nichts miteinander zu tun. Es ist vielmehr Israels Politik, die den Antisemitismus in der Welt fördert. Natürlich gibt es einen latenten Antisemitismus sowohl auf der extrem rechten als auch auf der extrem linken Seite, der dadurch belebt wird. Es ist Israel, das seine Sprache und Haltung verändern muss.“

Hier liegt eine Übertragung des judenfeindlichen Stereotyps JUDEN SIND SELBST SCHULD AM ANTISEMITISMUS auf Israel vor. Wie in sekundärantisemitischen Argumentationen die Juden selbst kollektiv aufgrund ihres angeblichen Fehlverhaltens für ihre Verfolgung und Antisemitismus verantwortlich gemacht werden, gilt hier nun die Politik Israels als verantwortlich für neuerlichen Antisemitismus. Das heißt im Umkehrschluss, Juden werden de-individualisiert als Kollektiv wahrgenommen und für bestehende Zustände verantwortlich gemacht. Die Frage, wie in _____________ 26 Vgl. Fußnote 11.

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Deutschland mit einer Kritik an Israel umzugehen und wie sie zu formulieren sei, wird medial immer wieder diskutiert. Auf die Frage Frank Plasbergs in der besagten Sendung „Hart aber Fair“, ob es in Deutschland eine Empörungskeule gebe, antwortet Udo Steinbach: (27) „Ganz gewiss gibt es die, wer Israel kritisiert, der wird zunächst einmal in eine bestimmte Ecke gestellt, wenn er bestimmte Begrifflichkeiten wählt, wie Norbert Blüm sie gewählt hat … Dann hält man sich an Begrifflichkeiten auf, um der Sachdiskussion zu entgehen [Blüm parallel: So ist es] Denn, wenn man einmal bei den Begriffen ist … da kann man wundervoll der anderen Seite – den Deutschen, der Vergangenheit – den Schwarzen Peter zuschieben, den Ball in den Hof spielen, und ist fein raus … die philologische Diskussion wird nur angefacht, um sich der Sachdiskussion zu entziehen.“

Steinbach konstatiert hier, dass antisemitische Israelkritik – Norbert Blüm sprach 2002 im NS-Jargon vom „hemmungslosen Vernichtungskrieg“27 gegen Palästina – legitim sei. Er wirft der Gegenseite vor, die deutsche Vergangenheit zu instrumentalisieren, um sich jeglicher Kritik zu entziehen und das eigene Handeln nicht rechtfertigen zu müssen. Hier wird das antisemitische Stereotyp JUDEN NUTZEN DIE VERGANGENHEIT FÜR IHRE ZWECKE AUS im Kontext des Nahostkonfliktes geäußert. Die Unverhältnismäßigkeit der Kritik sowie die Aggressor- und Unterdrückerperspektive, die über derartige Äußerungen Israel als amoralisch und unmenschlich stigmatisiert und aus der Wertegemeinschaft ausschließt, bleibt völlig unberücksichtigt. Im Gegenteil, es sei ein Tabubruch nötig, um endlich zu einer „Sachdiskussion“ gelangen zu können, bzw. gebiete es die Lehre aus der deutschen Vergangenheit, als geläuterter Bürger das Kritiktabu zu brechen und nun auf der richtigen Seite – der unterdrückten Palästinenser – zu stehen. Derart argumentiert bspw. auch der Autor einer Zuschrift an den Zentralrat der Juden in Deutschland mit Hilfe eines indirekten NS-Vergleiches: (28) „Zu Recht machen die Juden den Deutschen zum Vorwurf, während des Nazi-Regimes aus Feigheit weggeschaut zu haben. Jetzt verlangen Sie jedoch von uns erneut, wegzuschauen. Dazu bin ich aber nicht bereit.“ [ZJD_01.08.2006_Fle_001] _____________ 27 Zitiert z. B. auf Spiegel-online (04.04.2002) unter: http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,190210,00.html (Zugriff am 16.09.2009).

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Der Schreiber reagiert auf den Aufruf des Zentralrats zur Solidarität mit Israel während des Libanon-Konfliktes 2006. Er interpretiert ihn jedoch als angeblich aktiv eingeforderten Kritikverzicht, sprich als Kritiktabu. Er fühlt sich verpflichtet, sich gegen das scheinbare Unrecht zu erheben, um sich als Deutscher nicht nochmals dem Vorwurf auszusetzen, unmoralisch zu handeln. Hier spiegelt sich der Entlastungsantisemitismus, wie er eingangs beschrieben wurde. Der Kontext des Solidaritätsaufrufs, die Medienkritik des Zentralrats, bleibt vom Autor unberücksichtigt. Er reflektiert nicht, ob die medialen Bilder und Berichte über den Konflikt nicht tatsächlich äußerst einseitig verzerrend, anti-israelisch sein könnten (s. hierzu Schapira/Hafner, in diesem Band). Die Perspektive auf Israel als Aggressor bildet unhinterfragt die Basis für das Schreiben an den Zentralrat. Seine kritischen Anmerkungen zur Berichterstattung sowie der Solidaritätsaufruf sind dann der Anlass für die Artikulation der eigenen Meinung.

Fazit Die Frage, ob die Medienberichterstattung tatsächlich eine israelfeindliche Haltung der Deutschen hervorruft, lässt sich über eine linguistische Analyse nicht beantworten.28 Auf Textebene zeigt sich aber eine deutliche Konvergenz zwischen den sprachlichen Ausdrucksformen von israelfeindlichen und z. T. antisemitischen Konzeptualisierungen in den Medien und privaten Meinungsbekundungen. Sowohl Journalisten als auch Rezipienten bedienen sich gleicher Stereotype und argumentativer Muster. Dazu zählen insbesondere das Anlegen doppelter moralischer Standards, die Dämonisierung Israels als Aggressor und damit alleinigem Schuldigen am Nahostkonflikt, die Thematisierung vermeintlicher Sonderrechte der Juden und Israelis sowie eines angeblichen Kritiktabus in Deutschland und die Verknüpfung aktueller Politik mit der NS-Vergangenheit. Eine Mitverantwortung der Medien für den aktuellen Anti-Israelismus und/oder Antisemitismus ist insofern gegeben, als durch den medialen Diskurs kommu_____________ 28 Hierfür müssen empirische Rezeptionsstudien durchgeführt werden, welche die tatsächliche Emotionalisierung anhand von Rezipientenreaktionen und -äußerungen o. Ä. erforschen. Mittels einer Analyse der Emotionspotenziale von Texten kann jedoch gezeigt werden, dass die medialen Texte durch Perspektivierung und Evaluierung die Basis für die entsprechende Emotionalisierung der Rezipienten bereitstellt (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 210–218).

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nikative Voraussetzungen in Form eines Weltbildes angeboten und damit Wirkungsbedingungen geschaffen werden. Eine funktionale Ergänzung der Textsorten ergibt sich insofern, dass Rezipienten auf Medieninhalte verweisen bzw. diese zur Absicherung ihrer eigenen Haltung heranziehen. Zugleich erkennen sie durch die Akzeptanz der in den Medien gesetzten Perspektiven und Inhalte deren Gültigkeit an und signalisieren den Journalisten Konsens. So ergibt sich eine gegenseitige Absicherung etablierter Vorstellungen und emotionaler Einstellungen gegenüber Juden und Israel. Auffällig ist das Muster der Reaktivität: Der Anlass bzw. der Grund für die eigene Haltung wird externalisiert, d. h. die sich Äußernden handeln mit der Auffassung, sie reagierten lediglich auf bestehende Missstände oder ungerechtfertigte Vorwürfe und Handlungen. Dieses Zurücktreten auf einen reagierenden Part ist mit einer emotional entlastenden Verantwortungsabgabe verbunden – man reagiert auf agierende Juden und Israelis. Dieses Wechselverhältnis von Aktion und Reaktion legitimiert das eigene Aufbegehren und ist an ein Selbstbild, das den Kriterien eines moralisch verantwortungsvollen Gesellschaftsmitglieds entspricht, gekoppelt. Der Duktus der aufgezwungenen Reaktion sucht seine Ursache im Verhalten von Juden oder Israelis und verschleiert den zugrunde liegenden Antisemitismus.

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Aktuelle jüdische Judeophobie: Juden gegen Israel Evyatar Friesel Die Absicht dieses Essays ist es zu zeigen, dass bestimmte Formen der aktuellen Israel-Kritik von Juden ein Ausdruck jüdischer Judeophobie sind. Mit diesem verwirrenden Phänomen, das auch für den aktuellen Antisemitismus relevant ist, sind allerdings nicht diejenigen Juden gemeint, die die israelische Politik oder bestimmte israelische Militäraktionen kritisieren. Dies ist normales und akzeptiertes demokratisches Verhalten. Gemeint sind Juden, die sich gegen den jüdischen Charakter Israels aussprechen oder die sogenannte ‚Abschaffung‘ des jüdischen Staates befürworten. Auch wenn es sich hierbei um relativ wenige Juden handelt, sind ihre Stimmen und ihr Einfluss dennoch bedeutend. Solche Juden weisen zwar empört den Vorwurf zurück, dass sie judeophobe Positionen äußern (obgleich diese als solche offensichtlich sind), aber ihre Meinungen werden oft und gern von nicht-jüdischen Judenfeinden aufgegriffen, um die eigenen anti-jüdischen Ansichten zu legitimieren. Dementsprechend hört man nicht selten: Wenn sogar der bekannte jüdische (oder sogar israelische) Professor Soundso dies und jenes (natürlich Israel-Kritisches) behauptet, dann muss es doch wahr sein… Anti-israelisches Gedankengut wird so besonders wirkungsvoll mittels jüdischer Stimmen artikuliert und damit zugleich rechtfertigt. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Bislang sind zwar bereits eine Reihe von Artikeln und Büchern zum Thema ‚jüdischer Judenhass‘ erschienen; diese beschränkten sich aber im Wesentlichen auf die Beschreibung aktueller Fälle oder legten psychologische Erklärungen vor.1 _____________ 1 Für Versuche, das Thema systematisch zu behandeln, siehe Gilman (1986), Endelman (1999) sowie die Bemerkungen zu Endelmans Beitrag von Mendes-Flohr (1999), die zwar eine nützliche Bibliographie enthalten, sich aber nicht mit den aktuellen antiisraelischen Ausdrucksformen der jüdischen Judeophobie beschäftigen. Für den spezifisch jüdisch-amerikanischen Kontext siehe Glenn (2006). Für weitere bibliographische Hinweise siehe Fußnote 11.

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Ich möchte eine andere Richtung einschlagen und die historischen Wurzeln beleuchten, welche die Grundlagen für das Phänomen darstellen. Jüdische ‚Judeophobie‘ ist untrennbar gekoppelt an das neuzeitliche Konzept der jüdischen Identität. Daher werde ich zunächst erläutern, welche Entwicklungen in der jüdischen Geschichte die Basis für Abwehr- und Ablehnungstendenzen schufen, die bis zum heutigen Tag immer wieder manifest werden. Es schließen sich dann Überlegungen zur aktuellen Judeophobie an. Zur Terminologie der hier durchgeführten Analyse ist vorab Folgendes zu bemerken: Benutzt werden die Konzepte ‚jüdischer Judenhass‘ oder ‚Judeophobie‘ und nicht ‚Antisemitismus‘. Auch das Konzept ‚jüdischer Selbsthass‘ wird bewusst vermieden.2 Außerdem betrifft die Analyse nicht die Juden, die zur ultra-orthodoxen Richtung im modernen Judentum gehören. Viele von diesen Juden haben zwar extrem kritische Meinungen bezüglich der Gründung Israels, diese haben aber nichts mit den ideologischen Fragen und Einstellungen zu tun, die in diesem Essay behandelt werden. Die Wurzeln der aktuellen jüdischen Judeophobie liegen in dem Modernisierungsprozess der jüdischen Gesellschaft, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stattgefunden hat. Die mit der Aufklärung verbundenen politischen und kulturellen Entwicklungen in Westeuropa führten dazu, dass die Juden – welche bis dahin eine abgegrenzte und unterdrückte Minder_____________ 2 Antisemitismus ist ein Phänomen der gesamten Gesellschaft, während der jüdische Judenhass hier als eine innere Erscheinung der jüdischen Gesellschaft analysiert werden soll. Auch impliziert das Konzept ‚Antisemitismus‘ eine rassistische Dimension, die in den aktuellen Spannungen zwischen Nicht-Juden und Juden, anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, keine Rolle spielen kann, gehören doch die Hauptbeteiligten, Juden und Araber, beide der semitischen Gruppe an. Weiterhin ist das Konzept ‚jüdischer Selbsthass‘ höchst subjektiv und es ist zweifelhaft, inwieweit es bei der Erläuterung der hier analysierten jüdischen Lage hilfreich sein könnte. Die vorliegende Untersuchung geht eher in eine sozial-kulturelle Richtung. Sie hat die Absicht, den ideologischen Hintergrund bestimmter Entwicklungen bezüglich der modernen jüdischen Identität zu überprüfen. Die Unterscheidung in einen ‚primären‘ und einen ‚sekundären‘ Antisemitismus, wie sie in der neuen Literatur oft vorkommt, wird in diesem Essay nicht übernommen und als ungenau betrachtet. Antisemitismus (oder Judenfeindschaft/Judeophobie) wird als ein einheitliches Phänomen von geschichtlich weiter Bedeutung verstanden, das nicht in Phasen geteilt werden kann. Es hat über die Jahrhunderte seine Ausdrucksformen gewechselt (und kann so auch heutzutage in der Form des Anti-Israelismus existieren), ohne aber dabei seine Grundvoraussetzungen zu verändern.

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heit am Rande der europäischen Gesellschaft waren – Schritt für Schritt Staatsbürger der verschiedenen europäischen Länder wurden. Juden ließen sich in den wachsenden europäischen Städten nieder und wurden mehr und mehr Teil des sich entwickelnden Mittelstandes, seiner Berufe und Kultur. Sie fanden Arbeit im Handel und in der Industrie, etablierten sich im akademischen Bereich und in den Künsten, ihre Kinder und Enkelkinder studierten an den Universitäten. Es war zu hoffen, dass in einem sozialen Milieu, zunehmend beeinflusst von säkularen Auffassungen, die alten Vorurteile gegen die Juden allmählich verschwinden würden. Im neuen geistigen Klima Europas würden sich die Intellektuellen vielleicht nicht mehr mit den alten theologischen Fragen beschäftigen, die die christlich-jüdische Kontroverse seit dem frühen Mittelalter geprägt hatten: zum Beispiel über die Verantwortung der Juden für die Kreuzigung Jesus Christi oder die Frage, wer – Christen oder Juden – die Träger des ‚wahren Glaubens‘ seien oder, ob Juden behandelt werden sollten wie alle anderen Nichtgläubigen. Schon bald aber wurde klar, dass die Jahrhunderte der Feindseligkeit die antijüdischen Stereotype tief im Bewusstsein der westlichen Gesellschaft eingeprägt hatten und dass solche Vorurteile scheinbar unberührt blieben von den neuen Ansichten im europäischen Leben. Unter den Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, deren intellektuelle Interessen auch Felder abdeckten, die in unseren Tagen zur Politologie gehören, entstanden neue Fragen in Bezug auf die Juden: Was sind die Juden? Eine Sekte? Ein Volk? Eine Religionsgruppe? Wenn als ein Volk aufgefasst, wie hätten sie überleben können ohne eigenes Land, ohne politische Strukturen, unter Bedingungen, die keinerlei Ähnlichkeit zu denen anderer Völker hatten? Wären die Juden aber eine Religionsgruppe, wie passten dann ihr Glaube und ihre religiösen Vorschriften mit dem allgemeinen bürgerlichen Leben zusammen? Diese scheinbar neutral formulierten Fragen waren neu, die dahinterstehende grundsätzlich ablehnende Einstellung gegenüber den Juden aber war die alte. Es entwickelte sich eine säkulare Judenfeindschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem neuen Namen Antisemitismus unvermeidbar das Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden prägte (vgl. Brumlik 2000, Katz 1990, Rose 1990).

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Jüdische Identitäten in der Neuzeit Überlegungen zur jüdischen Identität sind ein typisch modernes Thema. Der israelische Historiker und Soziologe Jacob Katz hat hierzu betont, bis zum Zusammenbruch der alten, in sich eingeschlossenen jüdischen Gesellschaft habe gegolten: „whatever the burdens of Jewish life might have been, a self-questioning skepticism about Jewish identity was not one of them“ (Katz 1977: 48).3 Der neuen jüdischen Identität, die sich in der Neuzeit entwickelte, entsprach das Bewusstsein der Juden in Bezug auf ihre zweideutige Lage in der europäischen Gesellschaft, in welcher Akzeptanz und Ablehnung verbunden waren, mit den Bestrebungen der Juden, sich in der westlichen Welt einzuleben. Das integrierende Judentum war aber keine tabula rasa, kein unbeschriebenes Blatt, sondern eine höchst selbstbewusste Gemeinschaft. Integration bedeutete eine Synthese zwischen den sozialen und kulturellen Konzepten, die von der nicht-jüdischen Umgebung übernommen wurden, und den Werten und Traditionen des Judentums. Alle diese Einflüsse zusammen, von ‚außen‘ (vom westlichen Umfeld) wie von ‚innen‘ (vom jüdischen Erbe), kamen zum Ausdruck in der neuen jüdischen Identität. In Wirklichkeit handelte es sich um verschiedene Identitäten. Die Schwierigkeiten, die den Aufbau dieser neuen jüdischen Identitäten begleiteten, sollen nicht vergessen werden. Dies war ein unüberschaubarer Prozess, der sich nicht unter ruhigen Laborbedingungen entwickelte, sondern unter stürmischen real-life-Umständen: jüdische Wanderungen, Veränderungen in sozialen und kulturellen Bedingungen und dazu noch der unverminderte Druck des Antisemitismus. Es gab keinen Rahmenplan, und die Ergebnisse des Einlebens der Juden in der nicht-jüdischen Umgebung waren oft unerwartet und verwirrend. Die jüdische Modernisierung verlief unterschiedlich von Land zu Land und von einer Sozialschicht zur anderen. Die jüdische Gesellschaft spaltete sich in verschiedene Positionen, beeinflusst von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Einwirkungen. Es entstanden neue jüdische Profile, die meistens nicht statisch _____________ 3 Es ist klar, dass Katz das aschkenasische Judentum meinte. Wissenschaftler erwähnen mit Recht einen früheren Verlauf der Modernisierung und Integration in der nichtjüdischen Umgebung, jene der sephardischen (oder portugiesischen) Juden im späten 16. und 17. Jahrhundert, wo auch höchst interessante Formen jüdischer Identität entwickelt wurden (siehe Kaplan 1999).

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waren. In einer Phase seines Lebens konnte ein Jude strikt religiös sein, in einer späteren säkular. Er konnte ein Zionist werden, oder ein Sozialist, oder eine Mischung von beidem. Jeder dieser neuen Wege im Judentum war verbunden mit einer eigenen Auffassung, was Jude-Sein eigentlich bedeuten sollte, wie man die Juden als Gruppe definiert und dementsprechend, wie man die Gegenwart und die Zukunft des Judentums betrachtet. Unvermeidlicherweise entwickelten sich scharfe innere Konfrontationen in der modernen oder sich modernisierenden jüdischen Gesellschaft, wo nun entgegengesetzte religiöse Auffassungen und diverse jüdische säkulare Programme aufeinanderprallten. Die Debatten zwischen Zionisten und Anti-Zionisten, Orthodoxen und Reform-Juden oder zwischen Zionisten und jüdischen Sozialisten waren oft so bitter wie die Spannungen zwischen Juden und Antisemiten.

Moderne jüdische Identitäten: Die gemeinsamen Kennzeichen Trotzt ihrer Ambivalenzen hatten die meisten der modernen jüdischen Identitäten zwei gemeinsame Kennzeichen, die bis heute vorzufinden und nach wie vor bedeutend sind: Das erste waren bestimmte politische Verbindungen, die Juden in der europäischen und später auch in der amerikanischen Gesellschaft eingingen. Dies hing eng mit den ideologischen Grundlagen zusammen, auf denen die jüdische Integration in der westlichen Welt fußte. Im Wesentlichen waren das die Aufklärung und ihre Grundideen: Vernunft, unantastbare Menschenrechte, ein demokratisches System, politische Gleichberechtigung für alle Bürger, Trennung zwischen Staat und Religion und später auch die Gleichheit zwischen Frauen und Männern. Diese Werte wurden im politischen Leben am stärksten von der sogenannten ‚fortschrittlichen Richtung‘ vertreten. Folglich schlossen sich die meisten Juden den Liberalen, den Links-Liberalen, den Sozialisten oder in Amerika den Demokraten an – was heute verallgemeinernd die ‚progressive‘ oder sogar die ‚linke‘ Tendenz genannt wird.4 Gleichzeitig entwickelten die Juden ein verständliches Misstrauen gegenüber politischen Strömungen, die als konservativ, klerikal oder nationalistisch galten. _____________ 4 Zum spezifischen deutschen Kontext (der auch an anderen Ländern anwendbar war), siehe das Kapitel „Jews and the Crisis of German Liberalism“ in Pulzer (1992: 324– 337).

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Wenn es um die volle Beteiligung der Juden im öffentlich-politischen Leben ging, wurden sogenannte traditionelle Auffassungen und die sie vertretenden Parteien, welche die Zentralität des Volkes und die geschichtliche Bedeutung der Nation hervorhoben, mit Misstrauen betrachtet. Die besondere Betonung der geschichtlichen Wurzeln der Nation und des organischen Charakters des Volkes durch diese Parteien bedeutete implizit (und bald unter Nationalisten und Antisemiten auch explizit), dass bestimmte Gruppen nicht als gleichberechtigt anerkannt wurden. Unter den Gegebenheiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren das hauptsächlich die Juden. Die jüdische Unterstützung für die progressive Richtung im öffentlichen Leben blieb zu dieser Zeit und bis heute unverändert. Dies war das öffentliche Milieu, in dem die Juden eine konzeptuelle und politische Grundlage fanden und sich relativ sicher fühlten. Relativ sicher konnte aber eben niemals absolut sicher heißen. Juden spürten, und zwar mit gutem Grund, dass die Unterstützung ihrer nichtjüdischen politischen Partner nicht bedingungslos war. Viele Liberale und Linke missbilligten zwar den Antisemitismus, aber nur in dem Bewusstsein, dass die meisten Antisemiten auch anti-progressiv waren. Am ehesten kann die Einstellung der Progressiven und Sozialisten zu dieser Zeit als ‚anti-antisemitisch‘ beschrieben werden, was aber noch lange nicht bedeutete, dass sie auch pro-jüdisch waren.5 Das zweite wesentliche Kennzeichen des modernisierten Judentums war sein soziologischer Kurs. Es waren die Juden, die einen Platz in der nicht-jüdischen Gesellschaft suchten, die sich in den verschiedenen modernen Staaten als voll akzeptierte Bürger einleben wollten und dementsprechend die Sitten, Ideen und Ideologien der nicht-jüdischen Welt übernahmen. Der amerikanische, jüdische Schriftsteller Irwing Howe bezeichnete dieses Phänomen als „journeys outward“ (vgl. Howe 1976: Kap. 17). Gemeint sind damit die wachsende Bedeutung der Ideen und Lebensformen der nicht-jüdischen Umgebung für die Juden und der allmählich schwächer werdende Einfluss des jüdischen Milieus.

_____________ 5 Diese Zweideutigkeit wird beschrieben in Suchy (1983). In Bezug auf die Sozialisten siehe Wistrich (1974, 1982).

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Moderne jüdische Identitäten: Der theoretische Rahmen Für die Entwicklung moderner jüdischer Identitäten hat der israelische Historiker Shmuel Ettinger einen theoretischen Rahmen entwickelt, wonach zwei Richtungen unterschieden werden, die das moderne jüdische Leben entgegengesetzt, aber koexistent bestimmten: eine zentrifugale und eine zentripetale Tendenz.6 Die erste beschreibt einen desintegrierenden Verlauf, wobei die alten jüdischen Gesellschaftsformen allmählich ihre Bindekraft verloren und die Juden, angezogen von der europäischen Welt, deren soziale und kulturelle Konzepte übernahmen. Die zweite Tendenz, die zentripetale, verkörperte einen entgegengesetzten Trend ‚nach innen‘, wo Juden neue Wege der jüdischen Kohäsion entfalteten. Nach Ettinger bedeuteten alle Bewegungen im modernen Judentum und alle kulturellen und sozialen Entwicklungen in der jüdischen Gesellschaft spezifische Manifestationen des Zusammentreffens der beiden Tendenzen. Das Ergebnis dieses Prozesses war die jüdische Moderne in ihren verschiedenen Formen. Für Ettinger und seine Generation war der Zionismus der höchste Ausdruck der zentripetalen Richtung. Ettinger betonte den komplexen dialektischen Charakter des Zionismus. Einerseits war er stark ‚nach außen‘ orientiert (zentrifugal), da doch die zionistische Bewegung die modernsten politischen und sozialen Ideen der europäischen Umwelt übernommen hatte, z. B. die nationale Selbstbestätigung, den wirtschaftlichen Umbau der jüdischen Gesellschaft und die kulturelle Neu-Orientierung. Andererseits wurden solche Konzepte dann so umgedeutet, dass sie im Widerspruch zur Hauptrichtung des jüdischen Einlebens in das nichtjüdische Milieu standen: Der Zionismus zielte darauf ab, die Juden aus der nicht-jüdischen Gesellschaft (zentripetal) herauszuführen und sie in einem selbständigen jüdischen Staat in Palästina anzusiedeln. Eines der ideologischen Ergebnisse des zionistischen Erfolgs war im späten 20. Jahrhundert ein ‚neues jüdisches Bewusstsein‘7 verbunden mit dem jüdischen Staat und den neuen sozialen und kulturellen Strukturen, die mit einer jüdischen Staatlichkeit zusammenhingen. Auch wenn hier ein Klang von israelischem Triumphalismus nachhallte, war dies dennoch Ausdruck einer neuen jüdischen Identitätsrichtung. _____________ 6 Das Thema ist eine der leitenden Ideen in Ettingers Deutung der modernen Zeit in der jüdischen Geschichte, siehe die Einführung zu Teil III in Ben-Sasson (1995). 7 So der Untertitel von Almog (1987).

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Eine andere Beschreibung eines modernen jüdischen Prototyps wurde in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem Historiker und Politologen Isaac Deutscher entworfen: der ‚nicht-jüdische Jude‘ (vgl. Deutscher 1968). Deutscher zeichnete (mit klarem autobiographischem Unterton) das Bild eines säkularen, kosmopolitischen Juden, der ideologisch links steht. Mehr als um ein festgelegtes Profil handelte es sich beim nicht-jüdischen Juden eher um eine soziologische Tendenz. Einige seiner Kennzeichen, z. B. der Kosmopolitismus, waren (und sind) auch unter Juden zu finden, die nicht genau zu dem von Deutscher beschriebenen Profil passten. Deutschers Typ entsprach dem, was in der jüdischen Literatur als ein assimilierter oder semi-assimilierter Jude bezeichnet wurde. Ettingers Formulierung folgend: ein Jude, bei dem die zentrifugale Tendenz die dominierende ist. In Deutschers persönlichem Fall gab es zwar eine positive Einstellung zur jüdischen Kultur (hauptsächlich zur Kultur der jüdisch linken Gruppierungen in Osteuropa), aber in der Regel fehlte beim nicht-jüdischen Juden das Interesse an jüdischen Angelegenheiten oder der Kontakt mit dem organisierten jüdischen Leben. In der Verbindung zwischen dem europäischen und dem jüdischen Bewusstsein tendierte der nicht-jüdische Jude, der häufig akademisch gebildet war, stark zur europäischen Seite, und seine jüdischen Wurzeln bedeuteten ihm nur wenig oder gar nichts. Entscheidend ist nun, dass Deutschers ‚nicht-jüdischer Jude‘ heute genauso anzutreffen ist wie vor einem halben Jahrhundert, als Deutscher seine Abhandlung schrieb.

Moderne jüdische Selbstkritik Die Integration der Juden in die westliche Gesellschaft drückte sich in veränderten Verhältnissen zwischen Nicht-Juden und Juden aus, aber gleichzeitig beeinflusste diese Integration auch die Meinungen von Juden gegenüber Juden. Dieser zentrale Aspekt des Einlebens in der westlichen Welt stellt eines der schwierigsten Themen in der modernen jüdischen Geschichte dar. Die Integration ins westliche Milieu bedeutete die Übernahme eines kulturellen Rahmens, in dem auch anti-jüdische Konzepte tief eingebaut waren. Scheinbar war es unvermeidlich, dass auch negative Meinungen über die Juden und das Judentum in die neue jüdische Weltanschauung einflossen. ‚Kulturelles Einleben‘ ist ein Prozess, bei dem die integrierende Gesellschaft kaum die Möglichkeit besitzt, zwischen er-

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wünschten und unerwünschten Kultur- und Sozialwerten zu unterscheiden. Erst im historischen Rückblick kann man diesen Prozess wirklich verstehen. Jedenfalls war das Ergebnis, dass kritische Meinungen über Juden, ihr Benehmen, ihren Einfluss, sowie über Facetten ihres Daseins, auch von anderen Juden übernommen und artikuliert wurden. Die ‚jüdische Frage‘ oder das ‚jüdische Problem‘ wurde zu einem Konzept, das unter Juden wie unter Nicht-Juden kursierte. Sogar in den jüdischen ideologischen Bewegungen der Neuzeit ist der persuasive Einfluss judenfeindlicher Konzepte bemerkbar. Einige der kritischen Bemerkungen der Zionisten oder der jüdischen Sozialisten über den Zustand der jüdischen Gesellschaft hören sich wie antisemitische Vorurteile an. So waren die Väter des Zionismus, Pinsker, Herzl, Ahad Haam und andere, sich einig in ihrer Aufforderung in Bezug auf die ‚Normalisierung‘ der Juden, ein Konzept, das ursprünglich im nicht-jüdischen Milieu entstand (vgl. Hertzberg 1959). Dahinter verbirgt sich die Implikatur, dass die jüdische Gesellschaft ‚anormale‘ Züge habe, die verändert werden sollten. Einige der Äußerungen von Jakob Klatzkin, einem bekannten zionistischen Ideologen, lesen sich wie die Weiterverarbeitung judeophober Vorurteile Richard Wagners. So zum Beispiel der Verweis auf das jüdische Einleben in die europäische Welt: „Sie, die jüdischen Assimilanten, sind gerne Kosmopoliten: Bodenlos, empfinden sie nicht die heimlichen Kräfte des nationalen Genius. Sie sind gerne Vermittler zwischen den vielgestaltigen Nationalkulturen; Vermischer, die die Macht der organischen Geschlossenheit missachten; Buhlerseelen, die die Weihe des Einzigartigen und Einmaligen nicht kennen. Sie sind Vielwisser, vielseitig, vieldeutig; es fehlt ihnen die Begrenzung der Persönlichkeit, die Gebundenheit des Charakters, die Naivität der Unmittelbarkeit, die Enge des Nur-so-sein-Könnens. Sie sind nirgends und überall zu Hause … Sie sind gerne Weltverbesserer. Sie sind gerne die Radikalen und die Modernsten unter den Modernen, sind gerne Verneiner, Umwertler, Umstürzler“.

Ähnlich äußert sich Klatzkin über den Einfluss bestimmter Juden auf die europäischen Nationalkulturen: „Sie erfinden, die Angleicher, Verwandtschaften zwischen Wesensungleichheiten, paaren Unpaarbares, kuppeln Judentum mit Deutschtum, Judentum mit Franzosentum und dergleichen. Sie tun beiden Teilen Gewalt an, verstümmeln sowohl das Judentum als das Deutschtum oder Franzosentum oder ein anderes -tum. So beschneiden sie z. B. das Deutschtum um seinen schauerlich tiefen Mythos, zu dem sie kein echtes Verhältnis zu gewinnen vermögen, heben es von seinen saftigen Schachten des Germanentums ab, entziehen

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ihm die markigen Elemente seiner Kraftvergottung, seiner Heldenverehrung, seines jugendlichen Mutwillens und Übermuts, befreien es von allem, was ihm wuchtigen Ausdruck gibt und ihnen daher ungelegen ist…“ (Klatzkin 1921: 90, 196)

Die angeblichen Widersprüche und Schwächen des modernen Judentums waren ein Kennzeichen der zionistischen Ideologie, immer verbunden mit einem ausgeprägten zionistischen Veränderungsprogramm. Allerdings hatten solche kritischen Bemerkungen, wenn von Juden selbst geäußert, eine andere Bedeutung als wenn sie von Nicht-Juden artikuliert wurden. Bei den Juden waren sie ein Zeichen der Gespaltenheit des modernen jüdischen Lebens, in welcher das Selbstbewusstsein des Einzelnen zwischen Judentum und nicht-jüdischer Welt schwebte und sich in entgegengesetzten Identitäten ausdrückte. Bei Juden, bei denen die Balance zwischen den zentrifugalen und den zentripetalen Einflüssen in die erste Richtung tendierte, konnten auch negative Einstellungen über Juden oder Judentum auftreten. Natürlich gab (und gibt) es hier eine Vielzahl von Haltungen: Viele solcher nichtjüdischen Juden (nach Deutscher) möchten gar nicht als Juden auftreten, werden aber als solche von ihrer nicht-jüdischen Umgebung wahrgenommen, was wiederum ein Grund für Verstimmungen ist. Es kann aber vorkommen, dass ein Teil dieser Juden einen Schritt weiter geht und dass es bei ihnen zu einer aktiven Kritik an anderen Juden oder jüdischen Angelegenheiten kommt. Anders als bei den Zionisten oder den jüdischen Sozialisten bleibt diese Kritik jedoch ohne ein positives Programm in Bezug auf die jüdische Zukunft. Jüdische Judeophobie ist ein Phänomen mit einer langen Geschichte. Es ist, wie ich gezeigt habe, vor allem Ausdruck der Fragen, die das jüdische Einleben oder Zusammenleben mit anderen Kulturen hervorbringt. Oft findet man nuancierte Äußerungen zu dieser Lage bei jüdischen Intellektuellen. Ein bekannter Fall, der auch heute noch Debatten verursacht, sind die bissigen Bemerkungen Hannah Arendts über jüdische und später auch israelische Angelegenheiten.8 Insgesamt ist diese soziologische Erscheinung, mit ihren vielen Varianten und Manifestationen, ein spezifisch jüdischer Zustand und gehört zum Bild des aktuellen jüdischen Lebens. _____________ 8 Siehe die scharfsinnige Analyse von Walter Laqueur (2001), darin hauptsächlich 52– 61.

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Wenn ein nicht-jüdischer Jude also eine ‚negative jüdische Identität‘ entwickelt, geschieht dies gerade aufgrund seiner jüdischen Wurzeln.

Probleme einer modernen jüdischen Selbstdefinierung Wenn die sogenannten ‚nicht-jüdischen Juden‘ als Zugehörige einer breit definierten jüdischen Gesellschaft betrachtet werden, was sind dann ihre jüdischen Kennzeichen? Auf welche Art und Weise drückt sich ihre geschwächte jüdische Identität (oder Anti-Identität) aus? Hier kommen wir zu neuen Problemen: Im modernen Judentum gibt es keine Einigkeit in Bezug auf das Phänomen der positiven jüdischen Identität. Allgemein betrachtet gibt es hier zwei Möglichkeiten, eine in religiöser und eine andere in nationaler Richtung. Die häufigste Deutung, die religiöse, ist gebunden an die Frage: „Wer ist ein Jude?“9 Das ist kaum hilfreich, denn diese Frage führt das Thema in eine überwiegend religiös-orthodoxe Richtung und lässt die Meinungen der Mehrheit der modernen Juden, die sich nicht an einen orthodoxen Zugang gebunden sehen, unbeachtet. Die Lage wird kaum klarer, wenn man die Möglichkeit der nationalen Deutung moderner jüdischer Identität betrachtet. Unter vielen osteuropäischen jüdischen Sozialisten und noch mehr in zionistischen oder zionistisch beeinflussten Kreisen wurde der jüdische Nationalismus für selbstverständlich erklärt als eine axiomatische Präsenz im jüdischen Leben. Tatsache aber war, dass für weite Kreise der modernen jüdischen Gesellschaft der jüdische Nationalismus nie etwas Selbstverständliches war.10 Sogenannte ‚nicht-jüdische Juden‘ halten sich weder an den religiösen noch an den nationalen Weg der jüdischen Selbstidentifikation, sie haben aber unterschiedliche Auffassungen zu beiden Definitionsmöglichkeiten. Nicht-jüdische Juden haben meistens gar kein oder nur sehr wenig Interesse an der religiösen Dimension des Judentums. Manche beteiligen sich gelegentlich am jüdischen Gottesdienst oder beobachten bestimmte jüdi_____________ 9 Unter den zahlreichen Publikationen zu diesem Thema siehe Ben-Raphael (2002). David Ben-Gurion, die führende politische Figur in Israel in den 1950er Jahren, löste damals eine Debatte über die Wer-ist-ein-Jude-Frage aus. Siehe auch Urian/Karsh (1999), Silberstein (2000). 10 Eine aktuelle und inhaltsreiche Analyse über die Verbindung zwischen der zionistischen Idee und dem Nationalismus ist zu finden in Shimoni (1995). Shimonis Meinung wird in Frage gestellt von Friesel (2006).

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sche Rituale. Religiös sind sie jedoch kaum und das Thema ‚jüdische Religion‘ erhält nur wenig Aufmerksamkeit. Anders aber ist es in Bezug auf die nationale Alternative. Im modernen Judentum beziehen die meisten nicht-jüdischen Juden eine klare Stellung: Sie sind vehement gegen eine nationale Identifikation und reagieren meist sehr negativ auf diese Form der Selbstwahrnehmung. Die Idee eines weiterlebenden und aktiven jüdischen Volkes trifft einen Nerv in ihrem persönlichen Selbstbewusstsein, da sie sich als Kosmopoliten und Anti-Nationalisten sehen. Dieses Phänomen verdient im Folgenden eine nähere Betrachtung. Nationalismus, nicht-jüdisch oder jüdisch, war und ist für viele Diaspora-Juden ein Gräuel. Das orthodoxe Judentum wies immer die Idee eines jüdischen Nationalismus zurück (und zwar aus spezifischen religiösen Gründen). Andere Juden sahen den Nationalismus als rückständig, anti-progressiv und als Kennzeichen von Antisemiten. Herausragende jüdische Intellektuelle erklärten sich als Europäer oder als Kosmopoliten, hoffend auf und oft bemüht um eine Welt ohne nationale Grenzen. Viele Juden, auch solche, die zur ideologischen Mitte gehörten und aktiv um jüdische Belange bemüht waren, zählten schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu denjenigen, die man später als ‚Globalisten‘ (im geistigen Sinne) bezeichnen würde. Die Idee einer internationalen Sprache, Esperanto, entwickelt vom polnischen und jüdischen Arzt Ludovic Zamenhof, fand großen Beifall bei vielen Juden. Abgesehen von ihrem idealistischen Glanz, passte die anti-nationalistische Position gut zu den ideologischen Richtlinien der jüdischen Integration in der westlichen Umgebung. Eine ganz eigene Stellung zum jüdischen Nationalismus entwickelte sich im amerikanischen Judentum. Entsprechend ihrer Anpassung an die amerikanisch-politische Kultur, lehnten jüdisch-amerikanische Denker die europäisch beeinflussten nationalen Ideen als eine Basis für die Selbstdefinition des amerikanischen Judentums ab. Juden in den Vereinigten Staaten (beinahe die Hälfte aller Juden der Welt) deuteten sich eher nach dem Konzept „Jewish peoplehood“, welches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen, jüdischen Denker Mordecai M. Kaplan konstruiert wurde (vgl. Kaplan 1967). Im Zionismus und im jüdischen Sozialismus spielte die nationale Idee jedoch eine zentrale Rolle, und die Debatte um den jüdischen Nationalismus wurde zu einer der schärfsten ideologischen Kontroversen im modernen Judentum. Während die jüdisch-sozialistische Bewegung die Umbrü-

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che des jüdischen Lebens im 20. Jahrhundert nicht überlebte, hielt der Zionismus den Veränderungen stand. Mit seinem Erfolg, ausgedrückt in der Gründung Israels 1948, verstummte für einige Zeit die Bitterkeit der vergangenen inneren Auseinandersetzungen und die meisten Juden standen geschlossen hinter dem jungen jüdischen Staat. Dennoch blieb die inhärente Spannung zwischen den zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen im modernen Judentum bestehen. Dort, wo die Auseinandersetzung über jüdischen Nationalismus ein zentrales Thema war, tauchten die alten Kontroversen später wieder auf, allerdings in veränderter Form. Den Streitpunkt im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert bilden die unterschiedlichen Positionen in Bezug auf den jüdischen Staat.

Aktuelle ideologische Spannungen im jüdischen Leben Der Staat Israel bedeutet eine neue Realität im gegenwärtigen jüdischen Leben und stellt Juden überall auf der Welt vor gravierende Identitätsfragen. Als Ausdruck der zionistischen Idee hat Israel eine bedeutende nationale Komponente. Im Einklang mit einem der wichtigsten Grundsätze des Zionismus erklärt sich der jüdische Staat als offen für alle Juden – mehr noch, Juden sind angehalten, nach Israel zu kommen (‚aliyah zu machen‘) und Bürger des jüdischen Staates zu werden. Dies ist das Recht aller Juden, welches juristisch durch das ‚Rückkehrgesetz‘ (hok haschwut) 1950 festgelegt wurde. Theoretisch kann daher kaum ein Jude die Frage vermeiden, wie er zu Israel steht und was ihm der Staat bedeutet. Juden wie Nicht-Juden glauben, dass es eine untrennbare Beziehung zwischen den Israelis (die einen großen und wachsenden Teil des Judentums darstellen) und den Juden der verschiedenen Länder der Welt gibt. Für Juden in der Diaspora verkörpert Israel also ein Angebot, aber auch eine Herausforderung. Dementsprechend ergibt sich eine Lage, welche neue innere Spannungen im Judentum hervorruft und vor allem viele der sogenannten ‚nicht-jüdischen Juden‘ verärgert oder bedrückt. Sie fühlen sich darüber hinaus gereizt von Israelis, die erbarmungslos auf ihre jüdischen zentrifugalen Kennzeichen verweisen. Hinzu kommt, dass in der israelischen Gesellschaft eine ideologische und politische Richtung entstanden ist, die das Verständnis zwischen Juden in Israel und in der Diaspora nicht erleichtert: Die fortdauernde kosmopolitische Tendenz unter Diaspora-Juden findet nur wenig Resonanz bei den Israelis. Im Gegenteil: Viele Israelis bezeich-

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nen sich ohne weiteres als Nationalisten. Die meisten Diaspora-Juden gehören weiterhin dem ‚progressiven‘ Lager an, während sich in Israel eine politische Rechts-Richtung entwickelt hat, die bedeutenden öffentlichen Einfluss besitzt.

Die Linke und der jüdische Staat Das ideologische Bündnis der Juden mit der progressiven Tendenz in der nicht-jüdischen Gesellschaft ist heutzutage schwierig, allein durch die Tatsache, dass sich in diesen liberalen und gemäßigt linken Kreisen neue kritische Positionen entwickelt haben in Bezug auf den vitalsten Ausdruck des modernen jüdischen Lebens – den Staat Israel. In weiten Teilen der europäischen Linken, wie auch unter bestimmten amerikanischen Linksliberalen, sind heute die Meinungen über Israel kritischer und die Kritik ist emotionaler als in der Mitte der westlichen Gesellschaften und in konservativen Kreisen (abgesehen von Rechtsradikalen). Dieses Phänomen wurde in verschiedenen Ländern beobachtet und analysiert und es gibt einen wachsenden Konsens unter Forschern: Die Linke ist – erstaunlicherweise – zu einem bedeutenden Träger einer neuen Form von Judeophobie geworden, die sich in der Form des Anti-Israelismus ausdrückt.11 Diese Entwicklung macht sehr nachdenklich, scheint es doch, dass die Erfahrungen mit der Tragödie des europäischen Judentums im II. Weltkrieg doch nicht tief genug in das Bewusstsein der westlichen Gesellschaft eingedrungen sind. Die tief verwurzelte Macht der judeophoben Vorurteile scheint unveränderlich und die negativen Einstellungen gegenüber Juden und jüdischem Leben existieren weiterhin. Wieder wird das Judentum, diesmal verkörpert durch den jüdischen Staat, nicht akzeptiert wie es ist, sondern ihm wird eine Vorstellung, wie es sein sollte, entgegengesetzt. Israel sollte eigentlich eher eine sekundäre Angelegenheit im Weltbild der Linken sein, deren politische und ideologische Kritik gegen den internationalen Kapitalismus, gegen Globalisierung, Umweltverschmutzung und Unterdrückung gerichtet ist. Es zeigt sich aber, dass die Vorwürfe _____________ 11 Für Beispiele der wachsenden Literatur zu diesem Thema siehe Kloke (1994), Gerstenfeld/Bankier (2003), Iganski/Kosmin (2003), Cesarani (2004), Horowitz (2004), Hödl/Lamprecht (2005), Ottolenghi (2005), Alexander/Bogdanor (2006), Cesarani (2006), Harrison (2006), Gerstenfeld (2007), Rosenfeld (2007), Gerstenfeld (2008), Rensmann/ Schoeps (2008).

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gegen Israel eine ganz bedeutende Rolle bei den Linken spielen. Globalisierung und Klimaveränderungen sind diffuse Themen, bei denen die linken Positionen sich stets verändern können, abhängig von Umständen und Ländern. Israel hingegen ist etwas viel Konkreteres: ein Staat, ein Land und ein Konflikt, getragen von der scharfen Opposition großer Teile der moslemischen Welt gegen den jüdischen Staat. Wie deutet man diese Tendenz vieler Linken, die moslemische Seite im Konflikt mit Israel zu unterstützen? Die Lage ist umso schwerer zu verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die zionistische Entwicklung in Palästina und hauptsächlich die sozialen Gründungen im Land von progressiven und linken Kreisen und Parteien konsistent bewundert wurden (vgl. Gorni 1983). Zu einer Wende kam es erst nach dem israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Linke zur Unterstützung des Schwächeren neigt, und nach dem Krieg waren es die Palästinenser, die in diese Rolle passten. Bald aber hatte sich die Meinung entwickelt, dass Israel der eigentlich Schuldige im Palästina-Konflikt sei. Die Israelis sind demnach die Täter, die Palästinenser die Opfer. Es dauerte nicht lange und im linken Lager erhoben sich Stimmen, die mit großem Nachdruck betonten, dass die Verbrechen der Israelis gegen die Palästinenser so schlimm seien, dass alle Menschen mit einem Gewissen zum aktiven Protest aufgerufen sind. Diese Form der Überzeugung, die den israelisch-palästinensischen Konflikt in schwarz-weiß widerspiegelt (schwarz für die Israelis, weiß für die Palästinenser), trägt alle Kennzeichen des klassischen anti-jüdischen Vorurteils – jedoch im Gewand des Anti-Israelismus: die auffällige Konzentration auf diesen einen Konflikt, gekoppelt mit Gleichgültigkeit gegenüber anderen Konflikten in der Welt, eine übergroße Sensibilität für das Leid der Palästinenser, auf der anderen Seite aber eine Interesselosigkeit für die Sorgen der Israelis, NSVergleiche in Bezug auf die Israelis sowie eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber den aktuellen und immer wiederkehrenden Bedrohungen von moslemischer Seite gegen den jüdischen Staat. Wie in der Vergangenheit erscheinen die neuen judeophoben Verhaltensmuster im Zusammenhang mit einem aktuellen ideologischen Druck, der eigentlich nichts mit Juden oder Judentum zu tun hat. Der klassische judenfeindliche Hintergrund ist vorhanden, benötigt aber einen zeitgemäßen Anlass, der ihn letztlich zum Ausdruck bringt. In diesem Fall handelt

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es sich möglicherweise um die ideologischen Bestrebungen des westlich progressiven und linken Lagers, Verständnisbrücken mit der moslemischen Welt zu bauen. Es ist aber so, dass die politischen und gesellschaftlichen Werte beider Seiten, der Moslems und der Linken, diesen Kommunikationsversuch überhaupt nicht zulassen. In zentralen Themen wie Demokratie, Säkularisierung, Trennung zwischen Staat und Religion, Menschenrechte, Frauenrechte usw. gibt es wenige Übereinstimmungen oder Berührungspunkte zwischen beiden Seiten. Nur bei einer Angelegenheit trifft man sich letztlich doch: gegen Israel zu sein. Die Opposition gegen Israel ist nicht nur ein mächtiges Motiv für ein Übereinkommen, es ist eines der wenigen Themen (ein anderes ist der Anti-Amerikanismus), wo beide Seiten zusammenkommen. Aus welchem Grund auch immer: Bedeutende Teile der gegenwärtigen Linken sind vehement gegen Israel, gegen den Staat als Idee und seine Existenz, und ihre Opposition ist gekennzeichnet von einer hohen Emotionalität und Einseitigkeit, die sehr an die antisemitischen Äußerungen aus jüngerer Vergangenheit erinnern. Man könnte behaupten, dass die heutige Linke ideologisch manipuliert wird von moslemischen Extremisten in ihrem Kampf gegen den jüdischen Staat, die Israel als ein fremdes und schädliches Objekt betrachten in einem Teil der Welt, der von Moslems als ihr Eigentum angesehen wird. Wenn dies so ist, dann lassen sich Teile der westlichen Linken und ähnlich gesinnte Kreise allzu gern manipulieren: Solche neuen judeophoben Einstellungen passen gut zu den tief verankerten anti-jüdischen Vorurteilen, die eine wesentliche Komponente der westlichen Kultur sind. Es scheint, dass bedeutende Teile des progressiven und linken Lagers Träger einer neuen Mutation der alten Judenfeindschaft geworden sind, ausgedrückt in einem negativen Verhalten gegenüber dem wichtigsten Symbol des aktuellen jüdischen Lebens, dem Staat Israel.

Die Juden und die Linke Für bestimmte Teile der jüdischen Gesellschaft, hauptsächlich in der Diaspora, erzeugt die gegenwärtige anti-israelische Tendenz im linken Lager eine verwirrende Situation: Einerseits sind die Progressiven und Linken der Sektor der Gesellschaft, mit dem die Juden seit dem Anfang der jüdischen Modernisierung verbunden sind und von dem sie in bestimmter Weise auch geistig abhängig sind. Andererseits sind Juden heute konfron-

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tiert mit der erwähnten neuen Tatsache, die das jüdische Leben entscheidend prägt: Israel. All dies übt einen geistigen (und emotionalen) Druck auf jenen Teil der jüdischen Gesellschaft aus, der in der Balance zwischen dem Einfluss der nicht-jüdischen Welt und der Verbindung mit dem Judentum mehr in eine nicht-jüdische Richtung tendiert. Dies sind jene Juden, die bereits als ‚nicht-jüdische Juden‘ beschrieben wurden. Meistens kommt diese Spannung nur zurückhaltend zum Ausdruck. Viele der assimilierten oder halb-assimilierten Juden fühlen sich wenig von den an Israel gebundenen Identitätsfragen betroffen. So kommt es eher zu einer passiven Abneigung gegenüber Israel und dem, was Israel von einem jüdischen Standpunkt aus heute bedeuten kann. Es ist nur ein Teil dieser nicht-jüdischen Juden, der von dem anti-israelischen Druck des linken Lagers mitgezogen wird und sich an anti-israelischen Äußerungen beteiligt. Manchmal ist der innere Konflikt in ihren Worten erkennbar. So heißt es in einem offenen Brief von jüdischen Akademikern aus verschiedenen Ländern im März 2009: „Wir sind FriedensaktivistInnen mit jüdischem Hintergrund. Einige von uns definieren sich typischerweise so, andere von uns nicht.“ Der Brief verurteilt die sogenannten israelischen Verbrechen im Gaza-Krieg und unterstützt außerdem einen Boykott israelischer Waren.12 Eine andere Stellungnahme, vom November 2006, nennt sich „Schalom 5767“ oder „Berliner Erklärung“ und wurde von Juden und Israelis unterschrieben, die in Deutschland leben. Darin wird „die seit 1967 andauernde israelische Besetzung palästinensischen Gebiets“ als Grundübel bezeichnet. Die Erklärung bezieht sich im Folgenden dann auf historische Ereignisse und verlangt einen „friedlichen Ausgleich des alten Unrechts, das den Palästinensern mit der Vertreibung von 1948 angetan wurde“.13 Noch weiter geht der englische, jüdische Historiker Tony Judt, der 1967, während des Sechs-Tage-Krieges, noch in der israelischen Armee gedient hatte, dann aber das „wahre Licht“ entdeckte. Israel sei zu spät entstanden, _____________ 12 „On Anti-Semitism, Boycotts, and the Case of Hermann Dierkes: An Open Letter from Jewish Peace Activists“ (30.03.2009) unter http://www.zcommunications. org/znet/viewArticle/21016 (Zugriff am 19.08.2009). Hermann Dierkes, ein linker Politiker, kandidierte 2009 für das Amt des Oberbürgermeisters in Duisburg. In einer Rede beschuldigte er die israelische Regierung, schwere Menschenrechtsverbrechen gegen die Palästinenser begangen zu haben und verlangte einen Boykott israelischer Waren. Die Unterzeichner des offenen Briefes unterstützten die Auffassungen und Vorschläge Dierkes. 13 Vgl. http://www.schalom5767.de/petition.html (Zugriff am 19.08.2009).

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behauptet Judt heute, die Zeit des Nationalstaates sei doch schon längst vorbei. Israel versuche, politische Strukturen des 19. Jahrhunderts in eine Welt zu importieren, die sich bereits weiter entwickelt habe, eine Welt gestaltet von individuellen Rechten, offenen Grenzen und internationalen Vorschriften. „Israel, kurz gefasst, ist ein Anachronismus“ (Judt 2003). Wie mit diesem Anachronismus umzugehen ist, bleibt der Einbildungskraft des Lesers überlassen. Dann gibt es den deutsch-französischen Politologen jüdischer Herkunft Alfred Grosser, der nicht eine Woche vergehen lassen kann, ohne einen neuen Vorwurf gegen Israel – in seinen Augen offensichtlich eine der furchtbarsten Erscheinungen auf Erden – zu erheben. Die scheinbar weitreichendste negative Interpretation der jüdischen Lage in Israel, vergleichbar zu den judeophoben Unterstellungen in Otto Weiningers Buch Geschlecht und Charakter (1903), wurde ausgeklügelt von der jüdischen Professorin Jacqueline Rose aus England. Der Zionismus verkörpert – in ihrer Sicht – einen messianischen Irrgang. Sein Erfolg in Form jüdischer Staatlichkeit trage in sich den Keim seiner eigenen Zerstörung (vgl. Rose 2005). Solche Juden entwerfen ein politisches Bild des Nahen Ostens, das ausgesprochen surrealistisch ist: Eine statische Landschaft, in schwarzweiß gemalt, wo alles still steht und niemand etwas tut oder äußert oder plant, wo keiner verantwortlich ist für irgendetwas – nicht die Araber, nicht die Palästinenser, nicht die Iraner – niemand. Aktiv und verantwortlich sind nur die Israelis, und diese agieren natürlich immer in die falsche Richtung – seit jeher. Die Möglichkeit, den jüdischen Staat als ungeheuren Erfolg zu betrachten, entstanden unter unglaublichen Schwierigkeiten, einen Staat, der sich hochgearbeitet hat zu einem Land der ersten Welt, einer wahren Demokratie, mit einer gut entwickelten Wirtschaft, einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft mit lebhaftem Geist – diese Möglichkeit will keiner dieser Juden in Betracht ziehen. Diese selbsternannten jüdischen Moralisten und Liberalen nehmen Israel und seiner jüdischen Bevölkerung gegenüber eine illiberale und unmenschliche Stellung ein, die so verwerflich ist, wie die der schlimmsten Feinde der Juden. In den politischen und kulturellen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts ist also das Hauptobjekt jüdischer Judeophobie, erklärt mit einer neuen Logik und verfolgt mit großer Leidenschaft, kein anderes als der jüdische Staat – Israel.

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Letztendlich kann man nicht die Frage vermeiden: Was treibt eigentlich diese Juden? Was nährt diese Obsession? Wissen Frau Rose oder Herr Grosser nicht, dass sie sich zu willigen Instrumenten in einem harten und erbarmungslosen politischen Kampf zwischen Israelis und Moslems machen? Können diese Menschen nicht einfach loslassen, auf die fünfeinhalb Millionen Juden heutzutage in Israel einfach schauen wie z. B. auf die Armenier oder die Tartaren? Nein, das können sie offensichtlich nicht. Israel stört sie innerlich. Eine erschreckende Verhaltensweise vieler dieser Menschen ist die Verweigerung, mit andersdenkenden Juden (und insbesondere mit andersdenkenden Israelis) in einen Dialog zu treten. Ich habe z. B. verschiedene Male versucht, die jüdische, extrem anti-israelische Aktivistin Jennifer Loewenstein schriftlich zu kontaktieren, um mit ihr einen sachlichen Ideenaustausch zu führen – ohne je eine Antwort erhalten zu haben. Mit diesen Juden/Ex-Juden/‚nicht-jüdischen Juden‘ kommt es zu höchst spannungs- und emotionsgeladenen Konflikten, die man häufig in problematischen Familien vorfindet. Zwischen den anti-jüdischen Positionen der Nicht-Juden und denen der judeophoben Juden gibt es wesentliche Unterschiede: Für die Nicht-Juden ist der ideologische Angriff auf Israel nur ein zusätzlicher Ausdruck – wenn auch ein sehr bedeutender – einer allgemeinen negativen Einstellung gegenüber Juden, die sich (abhängig von Zeit und Gegebenheiten) auch in anderen kritischen Meinungen äußert (z. B. zu Juden im Finanzleben, zu Juden und ihren Sitten, zu Juden und ihrem politischen Einfluss). Für judeophobe Juden ist die Kritik am jüdischen Staat dagegen Ausdruck einer negativen Dimension in ihrer jüdischen Identität: Israel bedeutet und repräsentiert für diese Juden eine jüdische Besinnung, die ihr eigenartiges jüdisches Selbstbewusstsein stört. Jüdische Angelegenheiten sind niemals einfach oder unkompliziert und so findet man in der aktuellen israelischen Gesellschaft eine Untergruppe, die nach Isaac Deutschers Kategorisierung als ‚nicht-jüdische Israelis‘ bezeichnet werden könnte. Diese sind säkular, meistens ideologisch links orientiert, viele von ihnen sind Akademiker, häufig selbstdefiniert kosmopolitisch, aber doch sozial und kulturell verankert im israelischen Leben. Die meisten sind höchst kritisch in Bezug auf viele Kennzeichen der israelischen Gesellschaft und die Handlungen der israelischen Politik. Überraschenderweise oder vielleicht weniger überraschend als man denkt, kann sich sogar in Israel ein Jude im westlichen Kulturmilieu ‚assimilieren‘.

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Unter diesen ‚nicht-jüdischen Israelis‘ findet man einige, die judeophobe Meinungen äußern, die so extrem sind wie jene, die man bei nichtjüdischen Judenhassern findet. Bei ihnen – mehr als bei Diaspora-Juden – ist anzunehmen, dass ihre anti-israelischen Positionen wohl überlegte und bewusste Entscheidungen sind und zudem oft auch mit einer persönlichen Krise verbunden sind.

Zusammenfassung Die jüdische Judeophobie, aktuell ausgedrückt als Anti-Israelismus, wurde in diesem Essay als ein spezifischer jüdischer Zustand beschrieben und als das Ergebnis eines komplizierten Balanceakts zwischen Assimilationstendenzen und dem Einfluss der tradierten jüdischen Identitätskonzepte. Die meisten Judeophobiker gehören zur Kategorie der ‚nicht-jüdischen Juden‘ oder semi-assimilierten Juden, bei denen die von Ettinger beschriebene Komponente der zentrifugalen Tendenz dominant ist. Ihr teilweise extremer Anti-Israelismus resultiert aus Problemen mit ihrer negativen jüdischen Identität, einer Erscheinung, die immer noch zum breiten Rahmen des modernen jüdischen Lebens gehört. Signifikant ist, dass auch in Israel lebende Juden, also ein Teil der israelischen Gesellschaft selbst, von der erwähnten zentrifugalen Tendenz beeinflusst sein können, dass sich sogar ein israelischer Jude radikal ‚assimilieren‘ kann und eine feindliche Position einnimmt, die letztlich gegen seine eigene kollektive Identität gerichtet ist. So kommt es vor, dass bestimmte israelische Juden anti-jüdische und anti-israelische Parolen übernehmen, die genauso extrem sein können wie anti-jüdische Äußerungen von judeophoben Nicht-Juden. Solche ‚nichtjüdischen Juden‘ werden damit zu ‚anti-jüdischen Juden‘. Jüdische Judeophobie ist aber keineswegs als eine rein innerjüdische Angelegenheit zu betrachten. Wir leben in einer Realität, in der nicht nur islamistische Extremisten, sondern auch selbsternannte westliche Liberale und Humanisten den alten Hass gegen Juden in der Variante des AntiIsraelismus neu ausdrücken und ‚radikale‘ Lösungen für den jüdischen Staat und die dort lebenden sechs Millionen Juden fordern. Die neuen judeophoben Juden sind mit ihren medial inszenierten Äußerungen längst zu einem aktiven Teil dieser Kampagne geworden. Ihr mit großem Eifer vorgetragener Anti-Israelismus wird von Antisemiten überall auf der Welt freudig aufgegriffen und für ihre persuasiven Zwecke genutzt (s. Schwarz-

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Friesel, in diesem Band). Am Ende bieten also die anti-jüdischen Juden dem internationalen Antisemitismus eine besonders wirkungsvolle Argumentationsstütze.

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Israel-Kritik und (neuer) Antisemitismus seit der Zweiten Intifada in Deutschland und Großbritannien im Vergleich Helga Embacher / Margit Reiter Mit dem Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000 mehrten sich Warnungen vor einem neuen Antisemitismus in Europa. Der Antisemitismus-Vorwurf richtete sich vor allem gegen Frankreich, wo es 2000 tatsächlich zu einem eklatanten Anstieg von verbalen und physischen Attacken gegen Juden oder jüdische Institutionen gekommen ist. Aber auch in Großbritannien und Deutschland ist die Zahl antisemitischer Straftaten seit Beginn der Zweiten Intifada angestiegen. Dies hat zu dem Vorwurf geführt, dass der gegenwärtige Antisemitismus ganz Europa gleichermaßen erfasst und die Ausmaße der 1930er Jahre erreicht habe (vgl. Foxman 2003), was unserer Ansicht nach als zu undifferenziert und alarmistisch zurückgewiesen werden muss. Unbestritten ist aber, dass es eine Verbindung zwischen der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten seit 2000 und den antisemitischen Angriffen der letzten Jahre gibt. Das „Neue“ am Antisemitismus wird an der Transformation des Nahostkonfliktes nach Europa und der radikalen Israelfeindlichkeit festgemacht, andererseits aber auch an dem Umstand, dass neue Akteure aufgetreten sind und sich der Antisemitismusvorwurf nicht mehr in erster Linie gegen die extreme Rechte, sondern gegen linke Antizionisten, israelkritische Medien, Globalisierungskritiker und vor allem gegen junge radikale Muslime in Europa richtet.1 Parallel dazu wird auch die Problematik eines nach dem 11. September 2001 und den Kriegen in Afghanistan und Irak erneut europaweit erstarkenden Antiamerikanismus diskutiert. Der amerikanische Soziologe Andrei Markovits hat 2004 beispielsweise eine Studie vorgelegt, worin er den Antiamerikanismus als europäische „lingua franca“ bezeichnet und eine enge Verknüpfung mit dem neuen Antisemitismus konstatiert. Tatsächlich belegen Meinungsumfragen seit dem 11. September 2001 eine _____________ 1 Zur Diskussion um den „Neuen Antisemitismus“ vgl. Rabinovici et al. (2004), Zuckermann (2005), Bergmann/Wetzel (2003), EUMC (2004).

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eklatante Imageverschlechterung der USA in Europa, vor allem in Deutschland, und es gibt durchaus Schnittstellen zwischen der Kritik an Israel und der Kritik an den USA, zwischen dem Phänomen des Antisemitismus und des Antiamerikanismus. Am Beispiel von Deutschland und Großbritannien soll hier der Frage nachgegangen werden, ob tatsächlich von einem europäischen Antisemitismus gesprochen werden kann oder nicht auch weiterhin nationale Besonderheiten beachtet werden müssen. Zudem war für uns von Interesse, ob sich aus der Debatte um einen neuen Antisemitismus neue Formen und Dimensionen herausfiltern und Überschneidungen zwischen Antisemitismus und Antiamerikanismus feststellen lassen. Die Ausführungen sind erste Forschungsergebnisse des vom österreichischen Forschungsförderungsfonds geförderten Projektes „(New) Anti-Semitism – Anti-Americanism. Perceptions of Israel and the USA in Germany, France and Great Britain from the Beginning of the Second Intifada to the Present. A Comparative Study“.

Israel-Kritik und Antisemitismus in Deutschland Die Frage nach einem „neuen Antisemitismus“ hat in Deutschland eine besondere Dimension: die NS-Vergangenheit und deren Weiterwirken in der Gegenwart. Für den ehemaligen „Täterstaat“, der die Verantwortung für die NS-Verbrechen übernehmen musste, galten unter anderem die Abgrenzung vom Antisemitismus und das Verhältnis zu den Juden als Eintrittsbillet in die demokratische Staatengemeinschaft. Das hat in Deutschland zu einem normativen „Antisemitismus-Verbot“ und verschiedenen Formen eines nicht immer unproblematischen Philosemitismus geführt (vgl. Stern 1991). Auch die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel standen immer im Schatten der NS-Vergangenheit (vgl. Deutschkron 1991, Giordano 1992). Die daraus abgeleitete „besondere historische Verantwortung“ wurde und wird oft ganz unterschiedlich interpretiert und argumentiert: Entweder wird daraus eine besondere Solidarität mit Israel abgeleitet, oder aber es wird umgekehrt damit das Eintreten für die Palästinenser, die „Op-

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fer der Opfer“, legitimiert.2 Das Bewusstsein der historischen Schuld war und ist in Deutschland (zumindest auf offizieller Ebene) immer präsent – erst im März 2008 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in Israel bei ihrem Auftritt vor der Knesset die „immerwährende Verantwortung“ für die NSVergangenheit und die daraus resultierenden „besonderen und einzigartigen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Israel bekräftigt.3 In den letzten Jahrzehnten gab es in Deutschland zahlreiche Antisemitismus- und Israeldebatten, die zweierlei zeigen: einerseits, dass Antisemitismus in Deutschland nach der Shoah keineswegs verschwunden war, sondern immer wieder – manchmal offen, häufiger aber subtil in Form eines ressentimentgeladenen und auf Schuldabwehr basierenden „sekundären Antisemitismus“ und einer auf Entlastung abzielenden Israel-Kritik auftritt (vgl. u. a. Bergmann/Erb 1991, Benz 1995, Holz 2005, ZDK 2004). Diese Debatten zeigen unserer Ansicht nach andererseits aber auch, dass es in Deutschland durchaus eine politische öffentliche Gegenkultur und Sanktionen bei einem Verstoß gegen das normative ‚AntisemitismusVerbot‘ gibt und aufgrund der historischen Schuld nach wie vor eine größere Sensibilität und ‚Vorsicht‘ im Umgang mit Juden, Antisemitismus und Israel existiert.4 Diese im Vergleich zu anderen europäischen Staaten signifikante deutsche Besonderheit bestätigte sich auch in den aktuellen Israel-Debatten während der Zweiten Intifada, des Libanonkriegs 2006 und des Gaza-Krieges 2008/09.

_____________ 2 Vgl. exemplarisch: Duve, Freimut, 2000. „Europas ethno-religiöse Tragödie beherrscht jetzt den Nahen Osten“. In: Die Zeit 50/2000, 58. 3 Die gesamte Rede ist abgedruckt in: http://www.bundesregierung.de/Content/ DE/Rede/2008/03/2008-03-18-rede-merkel-vor-der-knesset.html (Zugriff am 17.09. 2008). 4 Vgl. die berechtigte öffentliche Empörung über diverse antisemitische Äußerungen und Skandale, wie z. B. das Fassbinder-Stück 1985, die Möllemann-Affäre 2002 und die Affäre Hohmann 2003, bei denen zumindest von einem Teil der kritischen Öffentlichkeit der dabei zu Tage tretende Antisemitismus scharf zurückgewiesen wurde; vgl. Rensmann (2004). Auch während der Intifada wurden bedenkliche Tendenzen der Israel-Kritik öffentlich thematisiert; vgl. exemplarisch Prantl, Heribert, 2002. „Und wieder sind die Juden schuld“. In: SZ (15.04.2002), 4.

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Perzeptionen der Zweiten Intifada in Deutschland Wie wurde nun die Zweite Intifada in Deutschland wahrgenommen? Kam es tatsächlich zu einem erneuten Israel-Bashing, wie es seit Jahrzehnten anlässlich von Gewalteskalationen im Nahen Osten zu beobachten ist? Wenn ja, wurden dabei die Grenzen zum Antisemitismus überschritten bzw. kann man von einem neuen Antisemitismus in Deutschland sprechen? Gibt es dabei Parallelen zur Wahrnehmung der USA seit dem 11. September 2001 und wird fallweise ein Konnex zwischen Israel und den USA hergestellt, wodurch sich Anknüpfungspunkte zum Antiamerikanismus bieten?

Wahrnehmungen und Zuschreibungen Im Folgenden werden die Ergebnisse unserer systematischen Printmedienanalyse zur Perzeption Israels während der Zweiten Intifada in Deutschland kurz zusammengefasst.5 Israel wird in der deutschen Öffentlichkeit in erster Linie als starke und willkürliche Besatzungsmacht wahrgenommen, die den Palästinensern militärisch weit überlegen ist. Aus dem kleinen, ehemals bewunderten „David“ von 1967 ist längst ein unbezwingbarer „Goliath“ geworden. Die im Zusammenhang mit Israel verwendeten Zuschreibungen sind überwiegend negativ: Israel wird als aggressiv, gewalttätig und auf Unterdrückung der Palästinenser ausgerichtet wahrgenommen. Die Vorstellung eines ungleichen und unfairen Kampfes kommt im viel gebrauchten Sprachbild „Panzer gegen Steine“ zum Ausdruck, das auf der visuellen Ebene durch entsprechende Bebilderungen (Steine werfende Kinder, die israelischen Panzern gegenüber stehen) noch bestätigt wird (vgl. Behrens 2003). Auch jüdische Siedler werden als fanatische Extremisten und somit durchgehend negativ wahrgenommen, und vor allem Ariel Sharon fungiert als Personifikation des „bösen Israeli“ schlechthin. _____________ 5 Die folgenden Ausführungen sind Ergebnisse aus unserem Forschungsprojekt: „(New) Anti-Semitism – Anti-Americanism. Perceptions of Israel and the USA in Germany, France and Great Britain from the Beginning of the Second Intifada to the Present. A Comparative Study“. Vgl. auch Jäger/Jäger (2003), Hafez (2002); diese Studien werden durch unsere Forschungsergebnisse großteils bestätigt, in einigen Punkten und vor allem den daraus resultierenden Schlussfolgerungen müssen sie zum Teil aber etwas relativiert werden.

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Oft wird beklagt, dass der Fokus in der Wahrnehmung auf dem israelischen Militär liegt, wohingegen die „zivile“ Seite Israels in der Berichterstattung kaum vorkommt. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass sich die aktuellen Ereignisse Großteils im militärischen Bereich und in den palästinensischen Gebieten abspielen, was eine derartige Fokussierung zwangsläufig unterstützt und auch für andere Krisenregionen typisch ist. In einigen wichtigen deutschen Leitmedien, wie etwa Die Zeit, erscheinen auch viele differenzierte Artikel über Israel, worin durchaus Verständnis für Israel und sein Bedürfnis nach Sicherheit zum Ausdruck kommt.6 Auch gemäßigte israelische Politiker wie Shimon Peres oder Ehud Barack werden meist positiv bewertet, ebenso wie regierungskritische Israelis, z. B. Uri Avnery oder der Schriftsteller Amos Oz, die in Deutschland besonders begehrte Interviewpartner und Kommentatoren sind. Letztere werden manchmal auch als „Kronzeugen“ für die eigene kritische Position instrumentalisiert, da sie als Juden/als Israelis das sagen können, was man selbst angeblich „nicht darf“.7 Ein ähnliches Phänomen gibt es auch im Zusammenhang mit den USA, wo ebenfalls kritische AmerikanerInnen wie z. B. Susan Sontag, Noam Chomsky und vor allem Michael Moore als „good guys“ fungieren und zur Untermauerung eigener Positionen herangezogen werden. Die Palästinenser erscheinen im Nahostkonflikt als die unterlegene, schwächere Seite, wobei vielfach die Tendenz besteht, sie – obwohl selbst aktiv an der Gewalteskalation beteiligt – ausschließlich als Opfer Israels wahrzunehmen. Auch während der Zweiten Intifada galten die Sympathien der deutschen Öffentlichkeit den Palästinensern, vor allem den jugendlichen Opfern der israelischen Gewalt, verkörpert etwa im tragischen Tod des palästinensischen Jungen Mohamed al Dura, der ungeachtet der ungeklärten Umstände sofort den Israelis zugeschrieben und zu Propagandazwecken instrumentalisiert wurde.8 Trotz ihrer Unterlegenheit werden die ehemaligen Identifikationsobjekte der deutschen Linken aber nicht mehr nur positiv bewertet. Die Kritik richtet sich vor allem gegen Arafat und die _____________ 6 Hervorzuheben ist dabei die differenzierte Berichterstattung der langjährigen IsraelKorrespondentin Gisela Dachs. 7 Ein Beispiel dafür: Avnery, Uri, 2002. „Keine Sonderbehandlung!“ In: Der Spiegel 23/2002 (03.06.2002), 34. 8 Vgl. dazu Jäger/Jäger (2003: 135–193) sowie den Beitrag von Esther Schapira und Georg Hafner in diesem Band.

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PLO-Führung, aber auch – verhaltener – gegen die palästinensische Bevölkerung.9 Diese erscheint medial meist nur als „amorphe Masse“, als eine unkontrollierte Horde von protestierenden Männern, aufgehetzten Jugendlichen und hysterischen Frauen, die rückständig, emotional und fanatisch agieren und somit ebenfalls an der Eskalation der Gewalt mitverantwortlich sind. Die zunehmend kritische Haltung gegenüber den Palästinensern kann unserer Ansicht nach als relativ neues Phänomen bewertet werden und kommt auch im viel gebrauchten Topos von der „Spirale der Gewalt“ (an der bekanntlich immer zwei Seiten beteiligt sind) zum Ausdruck. In letzter Zeit – auch das ist eine neue Entwicklung – wird die Gewalt im Nahen Osten stärker in Verbindung mit dem Islam gebracht: Radikale Gruppierungen wie Dschihad, Hamas und die damit in Verbindung stehenden Selbstmordattentäter werden in fast allen deutschen Medien strikt abgelehnt und als besonders bedrohlich wahrgenommen. Anders als die früheren linken palästinensischen Gruppierungen erscheinen die religiösislamistischen Eiferer und vor allem die Selbstmordattentäter, die von der palästinensischen Bevölkerung als „Märtyrer“ gefeiert werden, nicht zur Identifikation geeignet. Die sich seit Jahren abzeichnende islamische Radikalisierung im Nahen Osten erhielt nach dem 11. September verstärkte Aufmerksamkeit und die Zweite Intifada bot somit einen Anschlusspunkt für die seit dem 11. September 2001 ohnehin stark verbreitete Verknüpfung von Islam und Gewalt. Gleichzeitig ist aber auch eine Verharmlosung palästinensischer Gewalt bis hin zu einer Täter-Opfer-Umkehr festzustellen. Beispiel dafür ist die (Nicht-)Wahrnehmung der vielen palästinensischen Selbstmordanschläge in Israel oder des Lynchmordes an israelischen Soldaten in Ramallah zu Beginn der Zweiten Intifada. Diese Ereignisse, wo Palästinenser die Täter und Israelis die Opfer sind, sind den deutschen Medien kaum jemals eine Schlagzeile auf den Titelseiten wert. Mit großer Regelmäßigkeit wird hingegen zuallererst und umfassend über den Vergeltungsschlag Israels berichtet, wobei erst am Ende des Artikels der Auslöser der israelischen Reaktionen (z. B. ein Selbstmordanschlag oder der permanente Beschuss

_____________ 9 Exemplarisch dafür SZ (14.09.2001), 1; Koenen, Gerd, 2002. „Yassir Arafats Macht schwindet“. In: Die Zeit 10/2002.

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israelischer Gebiete durch die Hamas oder die Hisbollah) erwähnt wird.10 Das heißt, die Tendenz, grundsätzlich den Israelis die Schuld zuzuweisen, und der damit einhergehende Mangel an Empathie für israelische Opfer sind in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitet. Auch hier finden sich strukturelle Ähnlichkeiten zur Wahrnehmung des 11. September 2001, wo es in Deutschland ebenfalls Schwierigkeiten gab, die USA und „die Amerikaner“ auch einmal als „Opfer“ wahrzunehmen bzw. gelten zu lassen.11

Feindbilder In der Wahrnehmung des aktuellen Konfliktes von 2000 war eine starke Personalisierung und Zuspitzung auf die beiden Hauptkontrahenten, Ariel Sharon und Jassir Arafat zu beobachten. Der PLO-Chef Arafat hat trotz aller allgemeinen Solidarität mit den Palästinensern in den deutschen Medien stark an Zustimmung verloren. Sein Nimbus als Revolutionsführer und die Anziehungskraft der mittlerweile an die Macht gekommenen PLO scheinen 2000 stark verblasst. Arafat selbst wird als alter, kranker und wankelmütiger Taktierer gesehen, dessen Autorität zunehmend in Zweifel gezogen wird und der sich im Gegensatz zu früher für kaum jemanden mehr als Identifikationsfigur eignet. So kritisch Arafat auch betrachtet wurde, das Feindbild Nummer eins war jedoch sein israelisches Gegenüber Ariel Sharon. So herrschte in den deutschen Medien Übereinstimmung darüber, dass Sharon mit seinem provokanten Besuch am Tempelberg Ende September 2000 die Intifada ausgelöst und somit als Hauptschuldiger an der Eskalation der Gewalt zu gelten habe. Wenige Monate später wurde er zum Ministerpräsidenten gewählt, wodurch sich die Kritik vollends auf seine Person konzentrierte. Sein Image war durchgehend negativ, wobei sich der Grad der Ablehnung an der Schärfe der Sprache ablesen lässt. Die Palette der negativen Be- und Zuschreibungen reichte von „Hardliner“, „skrupelloser Taktierer“, „Bulldozer“ bis hin zu „Kindermörder“, wobei vor allem letzteres immer wieder bei anti-israelischen Demonstrationen zu hören und zu lesen war. _____________ 10 Exemplarisch dafür: TAZ (05.06.2001), 1; SZ (02.04.2002), 1. Allgemein dazu Jäger/Jäger (2003: 255–312). 11 Beispiele dafür bei Broder (2002).

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Die Fokussierung auf Sharon als Feindbild erklärt sich auch aus seiner Geschichte heraus. Vor allem seit dem Libanonfeldzug von 1982 und dem damaligen Massaker von Sabra und Schatilla (für das er indirekt mitverantwortlich war) galt Sharon als „Schlächter von Beirut“ und als „Kriegsverbrecher“ (vgl. Wetzel 1983, Kloke 1994, Reiter 2001). Schon damals waren sich Arafat und Sharon als unerbittliche Gegner gegenüber gestanden und diese politische Feindschaft wurde nun als „Kampf der alten Männer“ revitalisiert. Wie sehr sich Sharon offenbar als Feindbild anbot, zeigt sich auch im Vergleich mit dem Libanonkrieg von 2006, als Ehud Olmert Ministerpräsident war (da Sharon seit Monaten im Koma lag) und dieser trotz der stark anti-israelischen Haltung in Deutschland niemals dermaßen persönlich angegriffen wurde wie zuvor Ariel Sharon. Auch hier findet sich eine Entsprechung zur USA-Kritik seit dem Irakkrieg, als der amerikanische Präsident George W. Bush als Feindbild schlechthin fungierte. Ebenso wie Sharon bot Bush durch seine Politik und Rhetorik sowie sein Auftreten eine dankbare Angriffsfläche, aber auch bei ihm gingen die negativen Zuschreibungen über eine politische Kritik oft weit hinaus. Während Sharon den „hässlichen Israeli“ verkörperte, wurde Bush mit Attributen aus dem antiamerikanischen Arsenal (ungebildeter, bigotter und schießwütiger „Cowboy“) versehen.12 Bei anti-israelischen Demonstrationen in Deutschland, die sich oft auch gegen die USA richteten, wurden sowohl Sharon als auch Bush als „Kindermörder“ tituliert.

Konnex Israel – USA am Beispiel der Perzeptionen des 11. September 2001 In den Debatten um die Zweite Intifada wurde – wie in allen anderen Israel-Diskussionen zuvor – immer wieder eine Verbindung zwischen Israel und den USA hergestellt. So werden die USA generell für Israels Politik mitverantwortlich gemacht, was sich entweder als Kritik an zu wenig Engagement der USA im Nahen Osten oder aber umgekehrt an der zu großen Einmischung der USA äußert. Gefordert wird jedenfalls eine Änderung der amerikanischen Nahostpolitik, womit fast immer mehr Druck auf Isra_____________ 12 Exemplarisch dafür sind die Covers in Der Spiegel in den Jahren 2002–2004, zum Höhepunkt der Amerika-Kritik im Zusammenhang mit dem Irakkrieg.

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el gemeint ist.13 Diese Argumentationsmuster sind altbekannt und beileibe kein spezifisch deutsches Phänomen. Diese (negative) Verbindung wird aber auch in Kontexten hergestellt, bei denen sich dies nicht zwangsläufig aufdrängt, wie zum Beispiel die Perzeptionen des 11. September 2001. Die Terroranschläge lösten in Deutschland Trauer und eine vorübergehende Solidarisierung mit den USA aus („Wir sind alle Amerikaner“), bald nach dem ersten Schock kippte aber die Stimmung. Sogleich nach den Anschlägen waren eine gewisse Schadenfreude und vorschnelle Schuldzuweisungen gegenüber den USA festzustellen. Es begann die Suche nach den Ursachen der Anschläge, wobei im Wesentlichen drei Hauptschuldige ausgemacht wurden: 1) das Elend in der Dritten Welt, 2) die Außenpolitik der USA und 3) der ungelöste Palästinakonflikt und Israel. Diese Deutungsmuster vermengten sich häufig und gerieten zu einer schleichenden Schuldverschiebung auf „die Amerikaner“ und somit letztendlich zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Auch wenn vordergründig kein direkter Zusammenhang zwischen den Anschlägen in den USA und dem Nahostkonflikt bestand, so wurde dieser doch von vielen Seiten sofort in die Diskussion eingebracht. So vermutete man unmittelbar nach dem Terroranschlag radikale palästinensische Gruppen als mögliche Täter, doch wie sich bald herausstellte, war Osama bin Laden für die Anschläge verantwortlich. Die Fokussierung auf den palästinensisch-israelischen Konflikt verstärkte sich auch durch die Tatsache, dass Teile der Palästinenser die Anschläge freudig bejubelt hatten, was von den deutschen Medien durchgehend verurteilt wurde. Auch von jüdischer/israelischer Seite wurde sogleich nach den Anschlägen eine Verbindung zum Nahen Osten hergestellt, denn man sah Parallelen zu den Selbstmordanschlägen im eigenen Land und erwartete sich nun weltweit mehr Verständnis für die eigene Situation.14 Der ungelöste Palästinakonflikt als eine, wenn nicht sogar die Hauptursache für den islamistischen Terror, wurde bald zum beliebten Erklärungsschema, sowohl im deutschen Expertendiskurs als auch in den Medien. Der Hass der Terroristen sei durch die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel entstanden und Israel somit der „Nährboden des _____________ 13 Exemplarisch dafür: SZ (16.10.2000), 4; SZ (16.09.2001), 13 oder Der Spiegel 39/2001 (24.9.2001), 152 f. 14 Vgl. exemplarisch den Leitartikel von Wolffsohn, Michael, 2001. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 20/2001 (26.09.2001), 1.

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Terrors“.15 Aber nicht nur der Palästinakonflikt selbst, sondern auch die bedingungslose Unterstützung der USA für Israel oder aber deren Untätigkeit im Nahen Osten wurden für die Anschläge mitverantwortlich gemacht. Die einzige Möglichkeit gegen den (mehr oder weniger berechtigten) „Zorn der Muslime“, so eine weit verbreitete Meinung, wäre eine radikale Kehrtwendung der amerikanischen Nahostpolitik. Mit den Schuldverschiebungen gingen immer auch Warnungen vor einer Instrumentalisierung des 11. September durch Israel einher. Unmittelbar nach den Anschlägen befürchteten beispielsweise die Grünen präventiv, dass Israel „im Schatten eines Krieges seine Fronten bereinigen“ könnte,16 und ein Jahr nach den Anschlägen wurde im Spiegel Israel als „Profiteur“ und Sharon als „größter Nutznießer der Zeitenwende“ angesehen, denn seither könne er seine Politik als Teil des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus ausgeben.17 Von der impliziten Frage „Cui bono“, also: Wem nützen die Anschläge?, War es nicht mehr weit zu diversen Verschwörungstheorien zum 11. September, die in diesem Zusammenhang Hochkonjunktur hatten (vgl. Jaecker 2004). So wurde immer wieder an der Täterschaft der Islamisten gezweifelt und entweder die USA selbst und/oder „die Juden“ (sprich: Israel, der Mossad) der Mittäterschaft beschuldigt. Bei diesen Verschwörungstheorien vermischen sich Antiamerikanismus und Antisemitismus wie kaum sonst aufs engste. In ihrer radikalen Ausprägung sind sie unserer Einschätzung nach nur in politisch extremen Kreisen anzutreffen und somit gesellschaftlich nicht sehr relevant. In abgeschwächter, diffuser Form reichen sie aber durchaus in den Mainstreamdiskurs hinein, wie sowohl Verschwörungsbücher auf den deutschen Bestsellerlisten18 als auch Meinungsumfragen bestätigen.

_____________ 15 Vgl. exemplarisch: Rotter, Gernot, 2002. „Woher kommt der Hass?“. In: Windfuhr, Volkhard; Stein, Georg (eds.), 2002. Ein Tag im September. 11.9.2001. Hintergründe, Folgen, Perspektiven. Heidelberg: Palmyra, 30–37. 16 Antje Vollmer zitiert nach Die Zeit 39/2001 (22.09.2001). 17 Der Spiegel 36/2002 (02.09.2002), 100. 18 Siehe z. B. die beiden Publikationen: Wisnewski, Gerhard, 2003. Operation 9/11. Angriff auf den Globus. München: Knaur, und Bülow, Andreas von, 2003. Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste. München: Piper.

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Ein neuer Antisemitismus in Deutschland? Auch wenn in den meisten Reaktionen in Deutschland auf die Zweite Intifada ein ostentatives Bemühen um Ausgewogenheit im Nahostkonflikt zu beobachten ist, so gelingt die angestrebte Äquidistanz gegenüber den beteiligten Konfliktparteien jedoch nicht immer (vgl. das Resümee von Jäger/Jäger 2003: 351 ff.). Zum einen werden beide Seiten negativ bewertet, was nicht automatisch mit Ausgewogenheit gleichzusetzen ist; zum anderen sind bei näherem Hinsehen durchaus Positionierungen für die eine oder andere Seite erkennbar. In dieser Zurückhaltung, die unserer Einschätzung nach ihre Wurzeln in der NS-Vergangenheit und der daraus resultierenden „besonderen historischen Verantwortung“ hat, unterscheidet sich Deutschland grundsätzlich von Frankreich oder Großbritannien, wo viel direkter und offener Position bezogen wird. Trotz des demonstrativen Bemühens um Objektivität überwog aber auch in Deutschland während der Zweiten Intifada eine israelkritische Haltung, wenn auch unserer Ansicht nach nicht in der Einseitigkeit und dem Ausmaß wie oft behauptet.19 Die in einem Teil der deutschen Gesellschaft existierenden tief sitzenden antisemitischen Ressentiments, die sich auch in der oft einseitigen Medienberichterstattung zu Israel widerspiegeln, sollen keineswegs verharmlost werden. Bei dem Vorwurf des einseitigen Israel-Bashing und des Antisemitismus wird aber oft außer Acht gelassen, dass es in Deutschland immer auch differenzierte und proisraelische Positionen gibt, sowohl in der politischen Elite (z. B. innerhalb der CDU, aber auch beim ehemaligen grünen Außenminister Joschka Fischer) als auch in den wichtigen Medien. Unter den deutschen Leitmedien sind vor allem konservative Zeitungen wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und das viel gelesene Boulevardmedium, die Bild-Zeitung als israelfreundlich zu nennen. Die eindeutig proisraelische Linie der in Deutschland sehr wichtigen Springer-Presse geht auf deren Begründer Axel Springer zurück, der als „großer Israel-Freund“ galt. Bei der BildZeitung gehört das Bekenntnis zu Israel sogar zur verpflichtenden Verlagsverfassung. Eine ähnliche eindeutige Positionierung zeigte sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Bezug auf die USA, als auf der Titelseite der Bild-Zeitung die amerikanische Flagge prangte und die _____________ 19 Verwiesen sei hier auf Pauschalvorwürfe etwa in einzelnen Beiträgen in Faber et al. (2006) und in Gessler (2004).

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Mitarbeiter des Boulevardblattes nun auch eine Verpflichtungserklärung für die Solidarität mit den USA abgeben mussten. Außerdem ist es in Teilen der deutschen Linken seit der Wende von 1989 zu einem Reflexionsprozess und zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit ihrer unbedingten Palästinasolidarität und ihrem Antizionismus gekommen (vgl. Diner 1991, Haury 2004, Schneider/Simon 1984). Teilweise sind auffallende Positionswechsel und seltsame Koalitionen zu beobachten, etwa wenn die sogenannten „Antideutschen“, die sich als links, proisraelisch und proamerikanisch verstehen, gemeinsam mit der CDU und dem Zentralrat der Juden für Israel auftreten. Gleichzeitig gibt es aber auch linke antizionistische Gruppierungen, die während der Zweiten Intifada 2002 oder beim Libanonkrieg 2006 gemeinsam mit Rechtsextremen und radikalen Islamisten Demonstrationen gegen Israel organisiert haben.20 Keine Frage, auch in Deutschland gibt es seit 2000 auch offenen Antisemitismus, entweder in aggressiv-verbaler Form, wie z. B. die antisemitischen Israel-Attacken des FDP-Politikers Jürgen Möllemann (vgl. Rensmann 2004: 442–482), oder aber in Form antisemitischer Gewalt- und Straftaten, die seit 2000 laut Verfassungsschutzberichten zugenommen haben, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in Frankreich. Wie die Berichte des Verfassungsschutzes zeigen, haben die wiederholten Friedhofschändungen, Schmieraktionen und Anschläge auf Synagogen zwar manchmal eine zeitliche Koinzidenz mit der Gewalteskalation in Israel (z. B. im Herbst 2000 und im Frühjahr 2002), sie stehen aber nicht immer im direkten Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Vielmehr sind meist innenpolitische Debatten (wie z. B. der antisemitische Wahlkampf von Möllemann oder die Affäre um Michel Friedman usw.) der Auslöser. Die Täter solcher antisemitischer Straftaten, so weit bekannt, sind laut Verfassungsschutz (bisher) hauptsächlich dem rechtsextremen Milieu zuzuordnen, in Einzelfällen waren aber auch Jugendliche mit Migrationshintergrund die Täter, wie z. B. beim Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf im Oktober 2000.21 Dieser entscheidende Unterschied zu Großbritannien und Frankreich hat vor allem mit der spezifischen Migrationsgeschichte Deutschlands zu tun. In Deutschland wurden Anfang der 1960er Jahre, in Zeiten des wirt_____________ 20 Vgl. SZ (15.04.2002), 4; TAZ (13.04.2002), 4. 21 Vgl. Allgemeine Jüdische Wochenzeitung (12.10.2000), 1 und 3.

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schaftlichen Aufschwungs und des erhöhten Arbeitskräftebedarfs, aus Südosteuropa, vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei sogenannte „Gastarbeiter“ geholt, die mittlerweile bereits in der dritten Generation in Deutschland leben. Der größte Teil der rund drei Millionen Muslime in Deutschland sind also Türken, wohingegen MigrantInnen aus dem arabischen Raum eine Minderheit darstellen. Dies führte auch dazu, dass der Nahostkonflikt bisher in der deutschen Migranten-Community keine herausragende Rolle spielt, anders als in anderen westeuropäischen Metropolen, wo der Palästinakonflikt als Stellvertreterkrieg zur Herausbildung einer transnationalen Identität für junge entwurzelte Muslime fungiert (vgl. Kepel 2004 und Roy 2006). Zwar lässt sich auch in Deutschland zunehmend ein Antisemitismus unter Muslimen beobachten, vor allem im semi-öffentlichen Bereich und bei anti-israelischen Demonstrationen, die von Hisbollah-Anhängern dominiert werden.22 Die Hauptträger des Antisemitismus sind aber nach wie vor Deutsche und die Debatten um Israel und Antisemitismus ein vorwiegend „innerdeutscher“ Diskurs. Die Antisemitismus-Debatten seit der Zweiten Intifada sind keineswegs so neu, wie oft angenommen. Schon seit dem Sechstagekrieg von 1967, als es zu einer sukzessiven Imageverschlechterung Israels kam, und vor allem während der Libanon-Invasion 1982, der ersten Intifada und des Golfkriegs 1990/1991 gab es in Deutschland – wohl mehr als in jedem anderen Land – immer wieder heftige Debatten über Israel. Bereits Ende der 1960er Jahre hatte Jean Améry die deutsche Neue Linke wegen ihres radikalen Antizionismus kritisiert und vor einem „ehrbaren Antisemitismus“ gewarnt (vgl. Améry 1990). Dieser Vorwurf wurde später von Henryk M. Broder polemisch zugespitzt, wonach die übersteigerte Kritik an Israel von deutscher Seite letztendlich nichts anderes sei als der altbekannte „Antisemitismus im neuen Kleid“ mit einer massiven Schuldabwehrund Entlastungsfunktion (vgl. Broder 1986). Die Reaktionen auf die Zweite Intifada in Deutschland und die damit einhergehenden Diskussionen stellen unserer Einschätzung nach letztendlich eine (wenn auch modifizierte) Wiederauflage der altbekannten Israel-Debatten der letzten Jahrzehnte dar, sowohl was den Vorwurf-Abwehr-Mechanismus als auch die dabei verwendeten stereotypen Zuschreibungen und Argumente betrifft. _____________ 22 Vgl. hierzu Dantschke (2004) sowie die Beiträge in: Amadeu Antonio Stiftung (2009).

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Die Fixierung auf Israel in Deutschland hat zweifellos mit der Verlängerung der eigenen Geschichte zu tun. Israel dient nach wie vor als Projektionsfläche unaufgearbeiteter Entlastungsbedürfnisse und antisemitischer Ressentiments, die über den „Umweg“ einer Israel-Kritik frei gesetzt werden. Aber nicht jede negative und oft auch überzogene Kritik an Israel kann unserer Meinung nach gleichsam automatisch als „sekundärer Antisemitismus“ („Schuldabwehr-Antisemitismus“) bewertet werden. Dies zeigt der Blick auf Großbritannien oder Frankreich, wo die Kritik an Israel oft wesentlich heftiger ist und sich mittlerweile ganz ähnliche Argumentationen finden. Das zeigt sich z. B. bei den Vergleichen von Israel mit dem Nationalsozialismus, die oft zu unzulässigen Gleichsetzungen werden und in Deutschland vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit meist der Schuld-Entlastung dienen. In Großbritannien oder Frankreich haben derartige NS-Vergleiche oft andere historische (Hinter-)Gründe und Funktionen, die meist im Zusammenhang mit der eigenen unaufgearbeiteten Geschichte des Kolonialismus stehen. Abschließend möchten wir festhalten, dass ein radikaler Antizionismus und Antisemitismus (und auch Antiamerikanismus) in Deutschland mittlerweile nur in politisch extremen Randbereichen propagiert wird und hierbei kein klares Rechts-Links-Schema mehr gültig ist, eine gemäßigt kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Israel ist aber bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft hinein verbreitet, die sich bei Eskalationen der Gewalt im Nahen Osten immer aufs Neue entzündet. Von einem völlig neuen Antisemitismus kann in Deutschland unserer Ansicht nach jedoch nicht gesprochen werden, da im Großen und Ganzen sowohl die Wahrnehmungen und Bewertungen Israels als auch die Argumentationsmuster und Antisemitismusdebatten und nicht zuletzt die daran beteiligten Akteure über die Jahre weitgehend gleich geblieben sind.

Antisemitismus-Debatte in Großbritannien: Linker Antisemitismus – „Salon-Antisemitismus“ Nach Ausbruch der Intifada verzeichnete Großbritannien über 50 Übergriffe auf Synagogen, auf Demonstrationen verbrannten pro-palästinensische Gruppen die israelische Fahne und Flugblätter mit „Kill the Jews

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wherever you find them“ tauchten auf.23 Die Anschläge auf das World Trade Center in New York im September 2001 ließen das Antisemitismusbarometer erneut in die Höhe schnellen und es folgten weitere Zerstörungen von Synagogen und Friedhöfen. Doch erst Anfang des Jahres 2002 setzte in den britischen Medien eine Antisemitismus-Debatte ein, die mit den Kämpfen in Dschenin ihren Höhepunkt erreichte.24 Den Kern der Debatte bildete die Frage, ob Antizionismus mittlerweile zum gefährlichsten Feind aller Juden geworden sei.25 Wie bereits in den 1970er und 1980er Jahren stand die Linke unter Antisemitismusverdacht, kritisiert von Journalisten, Politikern und Vertretern der jüdischen Community, die zum Teil zu den Befürwortern des Afghanistan- und Irakkrieges, einzelne von ihnen auch zu den Kritikern einer liberalen Asylpolitik zählten. Linke und Liberale interpretierten den gegen sie gerichteten Antisemitismusvorwurf somit auch als einen Angriff auf den Liberalismus an sich. Der Problematik eines muslimischen Antisemitismus kam in Großbritannien im Unterschied zu Frankreich erst mit dem Irakkrieg und vor allem mit den Anschlägen britischer Muslime auf die U-Bahn in London im Juli 2005 (7/7) verstärkte Aufmerksamkeit zu, allerdings überschattet von einer Debatte über Terrorismus und Multikulturalismus, den zunehmend auch einige Linke und Liberale sowie einzelne Repräsentanten der muslimischen Community zu hinterfragen begannen und als Weg in die Sackgasse kritisierten (vgl. exemplarisch Malik 2009, Anthony 2007 und Cohen 2007). Wie bereits erwähnt, wird in Großbritannien zu Israel wesentlich direkter und offener Position bezogen. Aussagen wie „Israel simply has no right to exist“, von Faisal Bodi am 3. Jänner 2001 in einem Kommentar im Guardian vertreten, sind in seriösen, auflagenstarken deutschen Zeitungen noch genauso wenig vorstellbar wie Boykottforderungen deutscher Akademiker, wie sie an britischen Universitäten seit 2002 alljährlich zu verzeichnen sind. Von diesen Boykottforderungen ausgehend soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass britischer Antisemitismus und Anti_____________ 23 Vgl. exemplarisch Annual Reports (2000–2002) des Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism in Tel Aviv. Unter: http://www.tau. ac.il/Anti-Semitism/asw20023/general.htm (Zugriff am 05.05.2008); sowie Epstein (2003). 24 Zur britischen Antisemitismusdebatte im Kontext der Intifada siehe Iganski/Kosmin (2003). 25 Shlaim, Avi, 2005. „A debate: Is Zionism today the real enemy of the Jews“. In: Harald Tribune (04.02.2005).

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Zionismus ohne den Kontext Kolonialismus und Dekolonialisierung, der spezifisch britischen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges als eine positive kollektive Erinnerung und die „special relationship“ zu den USA nur schwer zu verstehen sind. Oder anders ausgedrückt: Auch wenn sich während der Intifada herauskristallisierte Images und (antisemitische) Stereotype von Israel, Sharon und Bush mit jenen in Deutschland vielfach deckten, können diesen – und somit auch Antisemitismus und Antiamerikanismus – je nach nationaler Geschichte und Erinnerungskultur unterschiedliche Motive und somit auch unterschiedliche Bedeutungen zugrunde liegen.

Akademische Boykottaufrufe: Eine britische „Besonderheit“ In keinem anderen europäischen Land wurden mit der Intifada Rufe nach einem Israelboykott so laut wie in Großbritannien.26 Am 6. April 2002 – am Höhepunkt der Intifada – forderten 125 Akademiker in einem öffentlichen Brief im Guardian den Boykott aller kulturellen und wissenschaftlichen Forschungsprojekte, die, von der European Social Science Foundation der EU27 finanziert, mit israelischen Einrichtungen durchgeführt werden.28 Unter den Boykottbefürwortern befanden sich auch einige jüdische und israelische Wissenschaftler. Der Boykott sollte, wie die Akteure hofften, Israel zur Einhaltung von UN-Resolutionen zwingen und zu Friedensverhandlungen mit den Palästinensern unter Druck setzen. Aufgrund der Heterogenität der Akteure wurden in einen Boykott unterschiedliche Erwartungen gesetzt, wobei manche nicht verhehlten, dass sie sich letztendlich einen binationalen Staat und somit das Ende eines israelischen Nationalstaates erhofften.29 Während einige den Boykott auf Produkte aus den besetzten Gebieten beschränkten, weiteten ihn andere selbst auf einzelne _____________ 26 Zum britischen Boykott vgl. Gerstenfeld (2007), Levy (2003), Hirsh (2007); Newman (2008). 27 Konkret war damit der EU-Assoziationsvertrag (unterzeichnet am 20.11.1995 und seit 01.06.2000 in Kraft) gemeint, der Israel zollfreien Handel garantiert und als einzigem Nicht-EU-Mitgliedsland die Teilnahme am EU-Forschungsrahmenprogramm ermöglicht. 28 Als Initiatoren gelten die „alten Linken“ Steven P. Rose von der Open University London und seine Frau Hilary Rose, Professorin für Social Policy in Bradford. 29 Vgl. den Leader in Guardian (09.07.2002); Leserbrief in Independent (18.04.2002).

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israelische Staatsbürger aus und ließen in ihrer Israelkritik antisemitische Stereotype einfließen. Die Tatsache, dass verhältnismäßig viele britische Juden zu den Akteuren und Befürwortern zählten, erschwerte zudem die Einschätzung.30 Auf den Jahreskonferenzen von NATFHE (National Association of Teachers in Further & Higher Education) und der britischen Hochschullehrergewerkschaft AUT (Association of University Teachers), die sich 2007 zur College Union (UCU) vereinigten, wurden fortan alljährlich Resolutionen für einen Boykott israelischer Universitäten beschlossen. Insgesamt blieben die politischen Erfolge dieser Resolutionen aus, sie wurden – u. a. auch als Folge von internationalen Protesten – in einer Folgetagung überstimmt und seit 2007 von der UCU-Führung aufgrund gesetzlicher Bedenken zurückgewiesen. Politiker von Tony Blair abwärts und auch linke Medien wie der Guardian und teilweise auch der Independent sprachen sich gegen den Boykott aus. Im Wesentlichen handelte es sich um den Vorstoß einer kleinen, häufig der trotzkistisch ausgerichteten Socialist Workers Party nahestehenden Gruppe, die es verstand, ihre Anhänger zu mobilisieren. Im Sommer 2007 wurde die Resolution beispielsweise mit 155 zu 99 Stimmen angenommen, insgesamt wären aber 120.000 Mitglieder stimmberechtigt gewesen. Was uns an dieser Debatte vor allem interessierte sind die Argumentationsmuster, sowohl auf Seiten der Boykottbefürworter als auch auf jener der Boykottgegner. So fällt auf, dass – abgesehen von jüdischen Organisationen – kaum jemand den Boykott der Nationalsozialisten in Erinnerung rief und Boykottgegner eher „rational“ und keineswegs pro-israelisch argumentierten. Ein Boykott israelischer Universitäten wurde beispielsweise deshalb abgelehnt, weil diese als eine der letzten Bastionen eines liberalen Israels betrachtet wurden. Gerade im Vergleich zu Deutschland erweist es sich auch als interessant, dass die Boykottdiskussion eine völlig veraltet anmutende Antizionismus-Antisemitismus-Debatte aufleben ließ. Während vor allem jüdische Boykottgegner31 im Boykott einen Beweis für einen neuen Antisemitismus sahen, da damit eine Dämonisierung Israels erfolge und letztendlich die Existenz aller Juden in Frage gestellt werde, _____________ 30 Siehe hierzu Hirsh (2007: 110 f.) und Jewish Chronicle (06.12.2003 und 15.06.2007). 31 Für den Historiker Peter Pulzer haben Boykottbefürworter die Grenze einer legitimen Israelkritik überschritten, indem Sanktionen auch unter Anspielungen auf Genozid und Südafrika nur für den jüdischen Staat gefordert werden; vgl. Pulzer (2003).

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wehrten sich Boykottbefürworter massiv gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Sie betrachteten Antisemitismus weiterhin als eine Spielart des Rassismus. Und: Da die Linke aufgrund ihrer antifaschistischen und antirassistischen Tradition gegen Antisemitismus immun sei, könne man lediglich von „Anti-Sharonismus“, einer legitimen Kritik an Sharons kurzsichtiger und gefährlicher Politik, sprechen. Gerade da man die Lehren aus dem Rassismus und Faschismus gezogen habe, fühle man sich zur Kritik an Israel verpflichtet.32 Als Absicherung gegen den Vorwurf des Antisemitismus wurde den Boykottanträgen ab 2005 der Passus, dass Kritik an Israel keineswegs als antisemitisch zu betrachten sei, vorangestellt. Während für Länder wie Russland, China oder dem Iran, deren Menschenrechtsverletzungen außer Zweifel stehen, keine Boykottforderungen in diesem Ausmaß gestellt werden, diente die südafrikanische Anti-Apartheidbewegung als Vorbild,33 womit allerdings ein politisch-historisch schwer haltbarer und auch wenig sinnvoller Vergleich angestellt wurde. Die Journalistin Yasmin Alibhai-Brown untermauert beispielsweise im Independent ihren Boykottaufruf mit den Worten eines südafrikanischen jüdischen Freundes: „I owe it to my father who fought against apartheid and my grandfather who died in Germany, not to let people turn into fascists. So remember to read the label; put it back if it is made in Israel.“34 Auch der langjährige Londoner Bürgermeister Ken Livingston gilt als Paradebeispiel für diese Rechtfertigungsstrategie.35 Wiederholt wies er jeden Vorwurf des Antisemitismus mit dem Verweis auf sein – unbestreitbar – langjähriges Engagement gegen Rassismus und Faschismus und seinen Einsatz für die Interessen der jüdischen Community zurück. Als Verfechter des Multikulturalismus unterstützte er die religiösen und ethnischen Interessen (Schächten, religiöse Schulen) der jüdischen Community sowie den Holo_____________ 32 Vgl. Rose, Steven, 2008. „If not boycott, what?“ Unter: http://commentisfree. guardian.co.uk/steven-rose/2006/if_not_boycott-what.html (Zugriff am 06.05.2008). 33 Vgl. exemplarisch den Boykott-Aufruf von britischen Ärzten im Guardian vom 21.04.2007; den Leserbrief von Steven Rose im Guardian vom 12.04.2002; den Kommentar von Gerald Kaufman, Labour MP for Mancester Gorton, im Guardian vom 12.07.2004. 34 Alibhai-Brown, Yasmin, 2002. „Why I’m boycotting anything ‘made in Israel’“. In: Independent (15.04.2002). 35 Vgl. hierzu Hirsh (2007), insbesondere das Kapitel: The Mayor of London: Deny Anti-Semitism, cry Israel.

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caust Memorial Day und die Holocausterziehung.36 In seiner Kritik an Israel überschritt er allerdings mit NS- und Genozidvergleichen die Grenzen einer legitimen Kritik.37

Schuldumkehr und „Jewish Lobby“ Die Haltung, dass Linke aufgrund ihrer Resistenz gegen Rassismus und Faschismus, keineswegs antisemitisch sein könnten, beschränkte sich allerdings nicht nur auf Akteure der Boykottbewegung, sondern wurde auch von Linken vertreten, die in einem Boykott wenig Sinn sahen, jedoch die Linke an sich vom Verdacht des Antisemitismus reinwaschen wollten. Wie dazu auch der Historiker Peter Pulzer konstatierte, fällt es vielen britischen Linken schwer, Antisemitismus in den eigenen Reihen sowie Antisemitismus in der muslimischen Community als solchen zu benennen. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen wurde der Vorwurf eines linken Antisemitismus lange vehement zurückgewiesen oder zumindest von „geteilter Schuld“ gesprochen, indem Israel und „die“ Juden zur Mitverantwortung gezogen wurden.38 Israel und jüdische Organisationen würden Antisemitismus herbeireden, um Kritiker mundtot zu machen und von den eigenen – auch historischen Verbrechen – abzulenken, so ein häufig vorgebrachtes Argument. Mit der Intifada lebten auch die Vorwürfe des Völkermordes an den Palästinensern während des Krieges von 1948 auf, der letztendlich auf einen Genozid reduziert wurde.39 Und auf der Suche nach den Ursachen für die al-Aksa Intifada begaben sich manche bis in die britische Mandatszeit zurück.40 Als ob sich seit den 1970er und 1980er Jah_____________ 36 Vgl. Jewish Chronicle (21.11.2003), 5 und (30.01.2004), 2 („Livingstone shocked at JC poll findings on Shoah“). 37 Livingstone, Kenneth R., 2005. „This is about Israel, not anti-Semitism“. In: Guardian (04.03.2005); im Oktober 2002 bezeichnete er Sharon „a very unstable leader with a record of war crimes and mass murder“. 38 Vgl. exemplarisch den Leader im Guardian vom 26.01.2002; sowie S. Milne im Guardian vom 09.5.2002 oder P. Beaumont im Oberserver vom 17.02.2002. 39 Vgl. dazu Pilger, J., 2002. „Ethnic cleansing attended the birth of Israel but, more than 50 years later, the country is still in denial about its bloody past“. In: New Statesman (03.06.2002). 40 Vgl. Leserbriefe im Independent am 19.10.2000 und im Guardian am 13.10.2000 und am 03.04.2002.

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ren, dem Höhepunkt der Zionismusdebatte, nichts geändert habe, wurde Israel erneut zur „letzten europäischen Kolonialmacht“ und der palästinensische Aufstand mitunter zum Befreiungskampf.41 Auch Vertreter der muslimischen Community griffen häufig auf den Vorwurf des Kolonialismus zurück. Terroristische Anschläge seitens der Irgun, wie jener auf das King David Hotel mit zahlreichen Toten auch auf britischer Seite, wurden ins Gedächtnis gerufen, um daraus den bedenklichen Schluss zu ziehen: Das mit Hilfe von Terror gegründete Israel ist und bleibt ein Terrorstaat, unterstützt vom größten Terroristen Bush. Derartige Anspielungen und auch die häufig gezogenen Vergleiche mit dem südafrikanischen Apartheidstaat dienen kaum einem besseren historischen Verständnis, sondern sollten zur Emotionalisierung und somit Mobilisierung beitragen. Mit dieser Schuldumkehr bzw. Abwehr des Antisemitismusverdachtes finden sich vor allem im Independent und New Statesman („Kosher Conspiracy“-Titelblatt vom 14.01.2002) auch Anspielungen auf eine „jüdische Lobby“, die sich in Deutschland in dieser Form kaum finden. Demnach würde eine – nie konkret genannte – jüdische Lobby mittlerweile nicht nur amerikanische, sondern auch britische Medien gleichschalten und Journalisten den Mund verbieten. Auffallend häufig spielte Robert Fisk auf die Macht einer jüdischen Lobby an, wozu er neben Juden und christlichen Fundamentalisten in den USA auch Israel zählte. Nicht nur die US-amerikanischen Medien, auch die BBC betrachtete er bereits als gleichgeschaltet, zumal Bush Sharon ohnehin nach dem Mund reden würde. Am 9. Juli 2002 illustrierte seinen Beitrag im Independent eine amerikanische Fahne, die weißen Sterne durch goldene (!) Davidsterne ersetzt.42 Wie auch andere führte er nie aus, wer konkret hinter dieser so machtvollen Israel-Lobby stecken würde. Aber auch der Guardian sprang kurz nach Beginn der Zweiten Intifada auf das Thema der jüdischen Lobby auf: Jemima Khan, die zum Islam konvertierte Tochter des bekannten Milliardärs _____________ 41 Vgl. New Statesman (29.07.2002 und 08.04.2002); Leserbrief im Guardian vom 30.04.2002; David Hirst im Guardian vom 27.01.2001; Vgl. auch Cockburn, Alexander, 2002. „Israel and Anti-Semitism“. In: CounterPunch (16.05.2002) unter http://www. counterpunch.org/cockburn0516.html; Richard Ingrams im Oberserver vom 16.09.2001; Robert Fisk im Independent vom 04.12.2001 und 21.02.2002; Pilger, John. „The Unmentionable Source of Terrorism“. Unter: http://antiwar.printthis. clickability.com/pt/cpt?action=cpt&titl (Zugriff am 22.07.2008). 42 Vgl. Independent vom 16.09.2001, 21.02.2002, 26.06.2002, 04.04.2002, 17.04.2002, 08.04.2002, 09.07.2002, 21.10.2004. Siehe dazu auch Hirsh (2007: 84).

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Sir James Goldsmith,43 durfte in einem Gastkommentar ihre Vorstellungen von der Herrschaft der reichen amerikanischen Juden ausführen. Diese würden als Folge ihres bemerkenswerten Erfolges in den USA die dortigen Medien sowie Hollywood weitgehend kontrollieren und auch mehr als die Hälfte der bedeutendsten Funktionen in der Clinton Administration besetzen. Gegen den Vorwurf des Antisemitismus sicherte sich Khan mit einem Verweis auf ihre vielen jüdischen Freunde und ihre jüdischen Großeltern väterlicherseits ab.44 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Journalisten anstatt sich mit den konkreten Vorwürfen des Antisemitismus auseinander zu setzten, sich zu Opfern einer jüdischen Zensur stilisierten. Mit den Worten: „But actually, I’m getting fed up with being called an anti-Semite. And the more fed up I get, the more anti-Semitic I sound“, brachte D. Orr im Independent eine relativ weit verbreitete trotzige Jetzt-erst-recht-Haltung zum Ausdruck.45

Antisemitismus: Alt oder neu? Wie in Deutschland kann unserer Meinung nach auch in Großbritannien mit Beginn der Intifada nicht von einem neuen Antisemitismus gesprochen werden. Vielmehr lebten Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre mit denselben Argumenten und zum Teil sogar mit denselben Akteuren auf. Trotzkisten, Kommunisten und Alt-Labour Anhängern ist die Unterwanderung der Boykott- und Friedensbewegung (Stop the War Coalition) gelungen, was ihnen im Vergleich zur Mitgliederzahl eine große Öffentlichkeit bot. Als neues Phänomen gilt allerdings die vor allem in der Stop the War Coalition zum Ausdruck gebrachte Zusammenarbeit von traditionellen Linken und der an der Muslim Bruderschaft orientierten, allerdings innerhalb der muslimischen Community nicht besonders einflussreichen Muslim Association of Britain (MAB). Im Unterschied zu Deutschland sind in _____________ 43 J. Goldsmith gründete 1996 die anti-European Referendum Party. Sein Vater war jüdisch, er wurde aber bereits als Katholik erzogen und starb 1997. 44 Khan, Jemima, 2000. „Tell the truth about Israel“. In: Guardian (01.11.2000). 45 D. Orr im Independent vom 21.12.2001. Eine ähnliche „Trotzhaltung“ nahmen Gary Young im Guardian (25.02.2002) oder L. Hilsum im New Statesman (13.05.2002) ein.

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Großbritannien – auch wenn noch immer unterrepräsentiert – Muslime in der Politik und im Medienbereich wesentlich stärker vertreten und nehmen aktiv an Debatten teil. Bereits 1997 wurde das Muslim Council of Britain als offizielle Vertretung der rund 1,8 Millionen britischen Muslime offiziell anerkannt und dient der britischen Regierung als Ansprechpartner. An der britischen Debatte um einen neuen Antisemitismus wurde für uns auch deutlich, dass im Unterschied zu Deutschland oder auch Österreich innerhalb der britischen Linken noch keine tiefgehende Reflexionsphase hinsichtlich eines linken Antisemitismus stattgefunden hat, was u. a. auch darauf zurückzuführen ist, dass Großbritannien keineswegs für den Holocaust verantwortlich gemacht werden kann. Im Unterschied zu Deutschland wird der Zweite Weltkrieg in der kollektiven Erinnerung nicht als „Nie wieder Krieg“, sondern als heroischer Kampf gegen das Böse mit dem Bündnispartner USA erinnert. Die Motive britischer linker Israelkritik sind somit weniger in den Schuldgefühlen gegenüber dem Holocaust zu suchen, sondern in jenen gegenüber dem eigenen Imperialismus. Während das Holocaustbewusstsein in der britischen Gesellschaft nach wie vor schwach ausgebildet ist, werden wie auch in anderen ehemaligen Kolonialländern seit den 1990er Jahren heftige Debatten über die Dekolonialisierung und damit zusammenhängend über den Rassismus im eigenen Land geführt. Und davon blieb die Haltung zu Israel nicht unbeeinflusst. Wie auch unsere Medienanalyse zeigte, beeinflussen noch heute koloniale Schuldgefühle die Wahrnehmung der israelischen Staatsgründung, die als post-koloniales Desaster, als Ergebnis einer politisch und moralisch fehlgeleiteten britischen Großmachtpolitik verurteilt wird. Der umstrittene Linkspopulist Georg Galloway vertrat beispielsweise bei einer Demonstration in London die Meinung, dass Großbritannien endlich Reparationszahlungen für die Balfour Declaration leisten sollte. Einen Boykott Israels betrachtete er dabei als einen ersten Schritt.46 Die Parteinahme für die Palästinenser erhielt somit den Charakter einer längst ausstehenden Wiedergutmachung (vgl. Alderman 2003, Wistrich 2008). Mit Vorsicht ist unserer Meinung nach auch die Einschätzung zu betrachten, wonach in Großbritannien das Ausmaß des Antisemitismus noch nie so stark gewesen sei und an die 1930er Jahre erinnere. Studien des Stephen Roth Institutes in Israel zeigten, dass britische Juden bereits in _____________ 46 Vgl. http://www.jihadwatch.org/archives/2005/05/006275print.html (Zugriff am 29. 07.2006). Siehe Leserbrief im Independent vom 08.12.2001.

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den 1960er Jahren und vor allem in den frühen 1990er Jahren mit einer Welle von Ausschreitungen konfrontiert waren, wobei vorwiegend Rechtsradikale zu den Tätern zählten. Auch auf den Universitäten kam es bereits in den 1990er Jahren durch die Bildung fundamentalistischer muslimischer Studentenorganisationen zu heftigen Ausschreitungen und Konflikten. Und wie in Deutschland ist auch in Großbritannien Skepsis angebracht, wenn von „den“ israelkritischen und antisemitischen Medien gesprochen wird, denn gerade die auflagenstarke Sun sowie Daily Mail gelten als israelfreundlich und pro-amerikanisch und das Leitmedium The Times zumindest als ausgewogen. Insgesamt lesen nur rund 5 % der Briten linksliberale Medien, wobei dem Guardian mit einer Auflage von über 350.000 Exemplaren als Leitmedium links/liberaler Debatten keine unwesentliche Rolle zukommt, der Independent jedoch zunehmend an Auflage und Bedeutung verliert.

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Aktuelle Judenfeindschaft: Ein Vergleich zwischen den USA und Deutschland Jehuda Reinharz Um die aktuellen Spannungen zwischen Juden und Nicht-Juden zu beschreiben, benutze ich in meinen Ausführungen nicht die Bezeichnung Antisemitismus, sondern Judenfeindschaft. Der Terminus Antisemitismus wurde in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch den Publizisten Wilhelm Marr geprägt. Er verbreitete sich schnell und war bald allgemein gebräuchlich. Das zugrundeliegende Konzept spiegelte den sich entwickelnden rassistischen Hintergrund der Zeit wider und wurde mit negativen Meinungen bezüglich der Juden in Deutschland und anderen europäischen Ländern verbunden. Heutzutage aber spielt das Konzept der Rasse in den existierenden Spannungen zwischen Nicht-Juden und Juden kaum eine Rolle. Mehr noch, ein Hauptpunkt des aktuellen Problems sind die politischen und ideologischen Spannungen zwischen Arabern und Israelis, also zweier Gruppen, die vor nicht allzu langer Zeit noch beide als ‚Semiten‘ bezeichnet wurden. Der Terminus ‚Judeophobie‘, oder ‚Judenfeindschaft‘, bezeichnet besser die Realitäten des frühen 21. Jahrhunderts. Zu Beginn muss betont werden, dass die aktuelle Judenfeindschaft in den USA und Deutschland nicht auf offizieller Regierungsebene anzutreffen ist: Juden und der Staat Israel genießen heutzutage in den höchsten amerikanischen wie deutschen Regierungskreisen positive Anerkennung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Feier zum hundertjährigen Jubiläum einer der wichtigsten amerikanisch-jüdischen Organisationen, des American Jewish Committees, in Washington im Mai 2006. Die Liste der Ehrengäste wurde angeführt von Präsident George W. Bush und Kanzlerin Angela Merkel. Wird diese positive Einstellung jedoch auch von der breiten Mehrheit der Bevölkerung in beiden Ländern geteilt? Oder ist sie nicht vielmehr auf die Regierungsebene begrenzt? Gibt es nicht geradezu im Kontrast zur offiziellen Haltung weit verbreitete negative Ansichten über Juden, die auf

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sehr ähnliche Weise – auch öffentlich – in beiden Ländern artikuliert werden? Wie ich zeigen werde, gibt es in diesem Zusammenhang Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen beiden Ländern, die im deutschen Fall auch mit europäischen Tendenzen verbunden sind. Das klare Erfassen dieser Unterschiede kann helfen, verschiedene Ausprägungen von Judenfeindschaft besser zu verstehen. Die aktuelle Judenfeindschaft kann dabei nicht losgelöst von den geschichtlichen Hintergründen beider Länder betrachtet werden: Oft handelt es sich um soziale und politische Unterschiede, die nur indirekt etwas mit Juden zu tun haben und dennoch die Entwicklung der Beziehungen zwischen Nicht-Juden und Juden tief beeinflussten. Von Relevanz waren z. B. die unterschiedlichen Auffassungen von Staat und Nation. Die Konzepte Staat und Nation hatten im deutschen sowie europäischen Kontext neben der politischen Dimension auch eine essenzielle kulturelle Bedeutung. Die kulturellen Eigenschaften des deutschen Volkes und des deutschen Staates wurden als miteinander verbunden verstanden und gedeutet. Der amerikanische Staat dagegen basiert auf anderen politischen und juristischen Grundlagen. Im Vergleich zu Europa fand sich eine größere Aufgeschlossenheit in Bezug auf den kulturellen Charakter der Gesellschaft. Die ideologisch offeneren Grundlagen der amerikanischen Republik spiegeln sich in der amerikanischen Verfassung und ihren ‚amendments‘ wider – sowie in der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten ein Land von Immigranten waren und sind, in dem verschiedenste kulturelle und religiöse Traditionen aufeinander treffen. Diese relative Aufgeschlossenheit der amerikanischen Lebensart war einer der Gründe für die höchst erfolgreiche Integration der Juden in den USA. In Europa dagegen beeinflusste die jahrhundertelange Ausgrenzung und die dann folgende sogenannte ‚Emanzipation‘ der Juden in der Neuzeit auch die Entwicklung des modernen Antisemitismus. Amerika war anders (Halpern 1956: 11–33). In den Vereinigten Staaten gab es keine Emanzipation der Juden aus dem einfachen Grund heraus, dass es nichts gab, wovon es sich zu emanzipieren galt – die damaligen Juden begannen ihr Leben in der amerikanischen Republik von Anfang an als gleichberechtigte Bürger. Eine wichtige Komponente der europäischen Emanzipation war daher im amerikanischen Kontext gar nicht vorhanden: nämlich die Forderung, dass die Juden auf ihre Eigenart als Gruppe verzichten und

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sich als Individuen in die Gesellschaft einfügen sollten. Ganz im Gegenteil: Ein besonderes Kennzeichen der amerikanischen Lebensart war es, die Bildung verschiedener religiöser und ethnischer Gruppierungen zuzulassen. In der früheren amerikanischen Geschichte betraf dies unterschiedliche Kirchen, später auch andere Formen sozialer Organisationen. Im Fall der Juden, die eine reiche Tradition an Gemeinschaftsleben mit nach Amerika brachten, organisierte sich ihr soziales Leben anfangs primär um Synagogen, später auch um Landsmannschaften, Kulturorganisationen und viele andere Verbindungen. Von einem amerikanischen Standpunkt aus waren solche Ausdrucksformen ethnischer Verbundenheit völlig legitim. In Deutschland kritisierte andererseits sogar ein so bekannter Gegner des Antisemitismus wie Theodor Mommsen die vielen jüdischen Organisationen, die ihm in Berlin aufgefallen waren.1 All dies bedeutet aber keineswegs, dass es in Amerika keinen Antisemitismus gab. Da negative Stereotype über Juden und Judentum so tief in der europäischen Kultur verwurzelt waren, war es unvermeidlich, dass diese Vorurteile von den europäischen Immigranten nach Amerika übertragen wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich auch in der amerikanischen Gesellschaft ausgeprägte anti-jüdische Vorurteile, die in den Jahrzehnten der Masseneinwanderung in die USA zunahmen (siehe u. a. Dinnerstein 1994, Gerber 1986). Konfrontiert mit der Feindseligkeit der anderen Immigranten trafen die Juden ebenfalls auf die Abneigung bei der älteren und herrschenden Schicht der amerikanischen Gesellschaft, den ‚White Anglo-Saxon Protestants‘ (WASPs). Die Bedenken der WASPs waren allerdings nicht nur gegen Juden, sondern allgemein gegen Einwanderer gerichtet, obgleich die Basis für antijüdische Vorurteile stärker ausgeprägt war. Zu beachten ist auch der Rassenfaktor, der aber in Amerika eine andere Bedeutung hatte als in Europa. Die schlimmsten xenophoben Einstellungen mit rassistischem Hintergrund wurden im 19. und 20. Jahrhundert vor allem gegenüber Chinesen und anderen Asiaten ausgedrückt. Rassistische Vorurteile (und entsprechende sozialpolitische Konsequenzen) im Land selbst trafen primär die schwarze Bevölkerung. In Bezug auf die Europäer rangierten die Anglo-Saxen und Skandinavier vor den Südeuropäern und Slaven sowie den Juden, die un_____________ 1 „Auch die zahlreichen specifisch jüdischen Vereine, wie sie zum Beispiel hier in Berlin bestehen, erscheinen mir … entschieden vom Übel“ (zitiert nach Boehlich 1965: 224).

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abhängig von ihrer Herkunft als eigene ethnische Gruppe gesehen wurden. Im Süden der USA wurden die Juden gleichgesetzt mit den Weißen, waren also nicht wie die Schwarzen der Diskriminierung ausgesetzt. Dagegen gab es in Deutschland und Europa bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig direkte Erfahrung mit Schwarzen und Asiaten. Aus rassistischer Perspektive standen die Juden hier viel stärker im Fokus als in Amerika. Dennoch waren in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts negative Einstellungen gegenüber Juden auch in Amerika verbreitet. So führten zum Beispiel Elite-Universitäten begrenzende Zulassungsquoten für jüdische Studierende ein. Es gab viele Hotels, die sich weigerten, Juden als Gäste aufzunehmen. Vor allem in der Zeit der Wirtschaftskrise nach 1929 waren antisemitische Parolen oft und offen zu vernehmen. Und trotzdem: Das allgemeine Verhalten des alteingesessenen Amerikas war eher defensiv, das heißt, die etablierte Gesellschaft und ihre führenden Institutionen verschlossen sich teilweise gegenüber den jüdischen Neulingen (auch den Angehörigen der zweiten Generation im Lande). Die anti-jüdische Diskriminierung hatte aber in Amerika nie eine offensive Aggressivität wie der französische Antisemitismus während der DreyfusAffäre oder der deutsche Antisemitismus in der NS-Zeit. Entsprechend konstatierte John Higham, ein bekannter amerikanischer Historiker in den 1960er Jahren, dass für amerikanische Historiker Antisemitismus nie ein wichtiges Thema gewesen zu sein schien: Kein entscheidendes Ereignis, keine tiefe Krise, keine mächtige soziale Bewegung, keine große Persönlichkeit war verknüpft mit Antisemitismus oder primär bedeutend aufgrund von Antisemitismus (s. Higham 1966: 237).

Vom Antisemitismus zur Judeophobie In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in den meisten Ländern zu einem Zusammenbruch rassistisch basierter Ideologien. Ein Grund dafür war die Abscheu gegenüber der Nazi-Ideologie. Ein anderer war die Dekolonisierung, durch welche die sogenannten ‚nicht-weißen‘ Länder in Asien und Afrika zu einflussreichen Teilnehmern im internationalen Leben und politischen Handeln wurden. Innerhalb der USA war die ‚civil rights‘-Bewegung der 1960er Jahre entscheidend. Sie sicherte den Schwarzen volle Bürgerrechte zu und hatte einen starken Einfluss auf die

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öffentliche Meinung hinsichtlich der Rassenangelegenheiten. Allerdings hatten viele dieser Entwicklungen mit Juden gar nichts zu tun, denn ihre Lage hatte sich schon seit den 1950er Jahren sehr verbessert, während sich die diskriminierende Politik gegenüber der schwarzen Bevölkerung erst später änderte. Heute sind die Meinungen über Juden nahezu untrennbar gekoppelt an die Ansichten über den Staat Israel. Die Gründung Israels 1948 wurde sowohl von Amerika als auch von Deutschland begrüßt. In den USA gab es bereits lange vor dem Entstehen des Staates Israel eine breite öffentliche Unterstützung für die zionistischen Bestrebungen in Palästina. An dieser positiven Einstellung hat sich bis heute, trotz einiger Ausnahmen, nicht viel geändert. In Deutschland war die Unterstützung für den jungen jüdischen Staat dagegen vor allem an Gefühle der Reue gebunden sowie an den Wunsch, den furchtbaren Geschehnissen der NS-Zeit etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Das Wiedergutmachungsabkommen von 1952, das eine bedeutende finanzielle Unterstützung für den Staat Israel bot, war Ausdruck dieser offiziellen Haltung, die auch öffentlich in den Kommentaren der Medien zu finden war. Eine Abkehr von dieser positiven, pro-israelischen Einstellung hin zu einer kritischen Haltung ist seit dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 zu verzeichnen. Israel, bis dahin bewundert als der jüdische David im Kampf gegen den arabischen Goliath, trat auf einmal als die bedeutendste Militärmacht des Nahen Ostens in Erscheinung. Die israelische Eroberung des ganzen Landes, insbesondere auch des umkämpften Jerusalems, erzeugte eine neue israelkritische Dimension in dem schwelenden Konflikt zwischen jüdischem Staat und arabischem Nahen Osten, deren Entwicklung heute ganz Europa und vereinzelt auch bestimmte Kreise in den USA prägt, aber nicht in dem Ausmaß, wie dies für Europa zu verzeichnen ist. Hierin besteht ein wichtiger Unterschied, der relevant ist für die aktuelle Judenfeindschaft. Es stellt sich heute die Frage, wodurch und inwieweit diese veränderte Wahrnehmung des Nahost-Konfliktes alte Vorurteile gegenüber Juden verstärkt bzw. reaktiviert oder zur Bildung neuer Stereotype geführt hat. Anders formuliert: Wie ist der Zusammenhang zwischen dem palästinensisch-israelischen Konflikt und den neuen Formen der Judeophobie, die sich in den letzten Jahren in der westlichen Welt vermehrt zeigen, zu erklären? Auf den ersten Blick scheint es kaum eine Verbindung zwischen

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dem Nahost-Konflikt und den alten religiösen und kulturellen Spannungen zwischen Nicht-Juden und Juden zu geben. Antisemitismus-Forscher sind sich aber heute darin einig, dass viele der aktuellen anti-israelischen Äußerungen in Europa ein neuer Ausdruck der alten Vorurteile gegenüber Juden sind. Die Aspekte der heutigen palästinensisch-israelischen Auseinandersetzung werden mit entsprechender Konfliktberichterstattungs-Terminologie dargestellt, aber im Grunde enthalten viele dieser Ausführungen die judenfeindlichen Stereotype und die daran gekoppelten negativen Emotionen früherer Zeiten.2 Der Grund hierfür ist nicht schwer zu verstehen: Der Staat Israel steht für Juden und Judentum, und er ist der bedeutendste Ausdruck aktuellen jüdischen Lebens. So scheint es unvermeidlich, dass er die Aufmerksamkeit all jener auf sich zieht, die sich für jüdische Belange interessieren, sei es aus positiven oder aus negativen Gründen. Oft ist in diesem Zusammenhang bereits die Frage gestellt worden, wie man zwischen berechtigter Kritik an bestimmten Aktionen der Regierung bzw. des Militärs von Israel und dieser neuen Judenfeindschaft unterscheiden soll. Die Antwort ist eigentlich einfach: Wenn das kritische Pathos ausschließlich und einseitig nur gegen Israel gerichtet ist, wenn die Palästinenser nur als Opfer gesehen werden, wenn Israel verteufelt und dämonisiert wird, wenn gar die Meinung geäußert wird, das Entfernen oder Eliminieren der Israelis bzw. des jüdischen Staates würde alle Probleme des Nahen Ostens lösen, dann ist dies nicht mehr politische Kritik, sondern klar und unzweideutig Antisemitismus – in der Variante des Anti-Israelismus. Aktueller Anti-Israelismus zeichnet sich durch eine abstrakte Sichtweise auf die heute in Israel lebende jüdische Gemeinschaft aus: Der jüdische Staat, wird behauptet, war und sei ein Fehler und er solle „verschwinden“, so heißt es in einigen radikalen Formulierungen, und nicht nur bei Mahmud Ahmadineschad. Wenn dann gefragt wird, was mit den sechs Millionen Juden, die heute in Israel leben, geschehen soll, bekommt man in der Regel keine sinnvolle Antwort. Was nicht verwundert: Auch in der Vergangenheit sprach niemand offen über die „Eliminierung“ der Juden, sondern „nur“ über die „Lösung der jüdischen Frage“. Die öffentliche Meinung über Juden und Israel divergiert seit den letzten Jahren zwischen den USA und Europa/Deutschland, und es zeigen sich _____________ 2 Diese Auffassung wird z. B. in den Artikeln des Sammelbandes Rensmann/Schoeps (2008) vertreten.

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wesentliche Unterschiede. Eine vergleichende Analyse könnte uns helfen, die neue Judeophobie zu verstehen, die heutzutage die westlichen Gesellschaften beeinflusst. Umfragen belegen, dass über 20 % der befragten Deutschen judenfeindlich eingestellt sind. Noch schlimmer ist es in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Spanien, wo über ein Drittel aller Befragten judenfeindliche Einstellungen offenbart.3 Die Hälfte der Deutschen denkt, dass deutsche Juden loyaler zu Israel sind als zu Deutschland. 29 % der Deutschen erklären, dass ihre Meinungen über Juden beeinflusst wurden von den Handlungen Israels (25 % sind es unter allen Europäern), und 61 % der Deutschen sagen, dass sich dadurch ihre Meinungen über Juden verschlechtert haben (52 % unter den Europäern). Die Umfrageergebnisse zeigen deutlich den Zusammenhang zwischen Judenfeindseligkeit und Anti-Israelismus bzw. einseitiger israelkritischer Medienberichterstattung. Weitere Umfragen belegen eine zunehmende Diskrepanz zwischen der offiziellen, Israel unterstützenden Haltung der Regierung und der ebenfalls öffentlich artikulierten Meinung der deutschen Bevölkerung, die eher negativ ist (Heyder et al. 2005: 144–165).4 Anti-israelische Äußerungen, die feindlich Bezug auf deutsche Juden nehmen, haben sich in letzter Zeit vom Rand der deutschen Gesellschaft in Richtung der Mitte bewegt (vgl. Schwarz-Friesel 2009). Wenn wir uns nun der amerikanischen Gesellschaft zuwenden, finden wir ein eher niedriges Niveau judenfeindlicher Meinungen, das aber dennoch nicht zu ignorieren ist. Aktuelle Umfragen ergeben, dass 15 % der Befragten „unzweifelhaft judenfeindliche“ Ansichten haben – eine Zahl, die seit Jahren relativ konstant ist.5 Immerhin sind dies 35 Millionen amerikanische Bürger. Parallel ist auch die öffentliche Meinung in Amerika in _____________ 3 ADL poll, 2007 – www.adl.org/PresRele/ASIint_12/5045. Die Befragung wurde in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien sowie Polen durchgeführt. Auch die Daten einer Umfrage unter zwölf europäischen Ländern im Jahr 2005 zeigen ähnliche Ergebnisse. Die erfragten Themen behandelten u. a. die Loyalität zu Israel im Vergleich zum betreffenden Land, jüdische Macht in der Geschäftswelt und internationalen Märkten, Gedenken an den Holocaust sowie die Schuld am Tod von Jesus Christus, aber auch Fragen zum palästinensisch-israelischen Konflikt. Beunruhigend waren vor allem die Ergebnisse in Spanien und Polen, dort drückten 45 % der Befragten eine antisemitische Haltung aus. 4 Jüngere Analysen dieser Daten finden sich in Rensmann/Schoeps (2008) und in Bergmann (2008: 472–507) 5 ADL, 2007. Survey of American Attitudes Towards Jews in America. Unter: www.adl.org/ PresRele/ASUS_12/4680.

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Bezug auf Israel seit 25 Jahren stabil positiv: 40 bis 45 % der Befragten waren und sind pro-israelisch, nur 10 bis 15 % pro-palästinensisch.6 Außerdem gibt es in den USA zusätzliche Einflussfaktoren, die in Europa relativ unbekannt sind, wie z. B. des evangelikalen Protestantismus. Dieser betrachtet einen blühenden jüdischen Staat aus seiner spezifischen religiösen Perspektive als Voraussetzung des „Zweiten Erscheinens“.7 Die öffentliche Meinung in den USA ist dennoch beweglich und amerikanische Ansichten über Juden können sich in unvorhersehbare Richtungen wenden. Ein Beispiel dafür ist die Position der Presbyterianischen Kirche in den Vereinigten Staaten, die in den Jahren 2006 und 2007 widersprüchliche Äußerungen über Juden und Israel veröffentlichte. Die letzte Äußerung ist durch eine Sprache gekennzeichnet, die von jüdischen Organisationen in Amerika als dem Verständnis und dem Dialog zwischen Juden und der Presbyterianischen Kirche schadend kritisiert wurde.8 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die extreme Verknüpfung zwischen Anti-Israelismus und Judenfeindschaft in ganz Europa stark ausgeprägt ist, während sie in der amerikanischen Öffentlichkeit nur in deutlich abgeschwächter Form zu finden ist. Es stellt sich jedoch die Frage, wie stabil die Unterstützung für Israel beim amerikanischen Publikum tatsächlich ist. Ein Indikator hierfür ist die jüngste Debatte über ein Buch zweier anerkannter amerikanischer Akademiker, John Mearsheimer und Stephen Walt, welches sich mit dem angeblichen Einfluss der IsraelLobby auf die amerikanische Außenpolitik im Nahen Osten befasst (Mearsheimer/Walt 2007). Dieses viel verkaufte Buch entfesselte zwar _____________ 6 Jewish Virtual Library, „American Sympathy Toward Israel and the Arabs/Palestinians“, Summary of different polls; „Strong Support for Israel“, Pew Research Center for The People & The Press, August 2006, pp. 2–3, www.people-press.org; eine Studie der Brandeis University (American Attitudes Toward Israel) aus dem Jahr 2002 ergab eine generell „recht hohe Unterstützung“ für Israel in der amerikanischen Gesellschaft, zeigte aber gleichzeitig, dass Zweifel über die Tiefe bzw. Stärke dieser Unterstützung vorhanden sind, vgl. Jewish Virtual Library – Gallup Polls on American Sympathy Toward Israel and the Arabs/Palestinians, 1967–2008. Unter: www.jewishvirtuallibrary.org/US-Israel/gallup. html. 7 Es wurde bereits auch die Frage gestellt, ob die Ansichten mancher dieser evangelikalen Protestanten nicht judeophobe Elemente enthalten, da doch der Staat Israel als Präludium eines christlich apokalyptischen Konzeptes betrachtet wird – siehe Ariel (2002). 8 Statement of the American Jewish Committee, June 13, 2008: „AJC Disappointed by Presbyterian Shift on Jews“. Unter: www.ajc.org/site.

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eine heftige Diskussion, ohne aber zu merklichen Veränderungen der amerikanischen öffentlichen Meinung in Bezug auf Juden und den jüdischen Staat zu führen. Die allgemeine Unterstützung für Israel hat in den letzten Jahren sogar leicht zugenommen. Untersuchungen von 2008 zeigen, dass 71 % aller Amerikaner ein positives Bild von Israel haben.9 Diese Ergebnisse belegen den Unterschied zwischen den USA und Deutschland/ Europa in dieser Frage. Wie kann man diesen Unterschied erklären? Die Forschung zeigt für Europa ein Zusammentreffen zweier sehr verschiedener Strömungen: zum einem die massive Propaganda der moslemisch-arabischen Länder und zum anderen die Positionen der sogenannten ‚Linken‘, die sich in den westlichen Ländern als stolzer Fackelträger des Fortschritts und der geistigen Einsicht darstellt. Beide Richtungen treffen sich, wenn es um AntiAmerikanismus und Anti-Israelismus geht (s. Rosenfeld 2003). Dies ist zweifellos ein sehr seltsames Bündnis, da die ideologischen Einstellungen von Islamisten und säkularen Linken weit auseinander gehen. Dennoch verbinden sich beide auf eine brisante Art und Weise in ihrem negativen Tenor, wenn es um die USA und um Israel geht. Die Forschung hat in den letzten Jahren nachgewiesen, wie stark der Einfluss links-orientierter Meinungen in Deutschland hinsichtlich der negativen Wahrnehmungen Israels im Nahost-Konflikt ist (s. Kloke 21994). Die extrem emotionale Dimension, die sich hier offenbart, ist rational betrachtet schwer zu verstehen: Sowohl Amerika als auch Israel werden mit brachialen Metaphern als die neue Verkörperung des Bösen beschrieben. Unterstellt wird zudem ein Pakt beider Länder, eine Allianz, die einer „besseren“ Weltordnung entgegensteht. Diese Verschwörungstheorie findet auch in den Vereinigten Staaten überzeugte Anhänger, und zwar in den sogenannten ‚progressiven‘ Kreisen, die besonders stark an Colleges und Universitäten vertreten sind. Der intellektuelle Einfluss dieser Gruppen sollte trotz ihrer relativ begrenzten Zahl nicht unterschätzt werden. Die anti-israelischen Campus-Aktivitäten involvieren Boykott-Aufrufe sowie Demonstrationen mit teils extrem antijüdischen Parolen. Besonders in Kalifornien, aber auch an Universitäten anderer amerikanischer Bundesstaaten, etablierte sich ein extremer AntiIsraelismus: Quantitativ und qualitativ hat sich die Lage zugespitzt und _____________ 9 Gallup. Americans’ Most and Least Favored Nations. Unter: www.gallup.com/poll/ 104734.

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geht mit einer erheblich gesteigerten Aggressivität bei der Dämonisierung Israels einher. In diesem Milieu werden anti-israelische Meinungen mit solch irrationaler Leidenschaft geäußert, dass der erfahrene Beobachter hinter den manichäischen Parolen den alten Antisemitismus erkennt, obgleich dieser vehement geleugnet wird (s. hierzu auch Schwarz-Friesel, in diesem Band). Die Erklärung dieses komplexen Phänomens wird durch die Tatsache erschwert, dass einige der lautstärksten Vertreter selbst Juden sind (s. Rosenfeld 2007). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die politischen und sozialen Grundlagen des amerikanischen Staates, die Eigenschaften der USA als ein Land von Immigranten sowie seine kulturelle Offenheit bildeten in der Vergangenheit einen effektiveren Damm gegen judenfeindliche Meinungen als in Europa. Der Anti-Israelismus, der von Islamisten und der westlichen Linken geprägt ist, sich stark mit anti-amerikanischen Parolen verbindet, aber auch von einer klar angedeuteten Kritik bezüglich eines zu großen Einflusses der Juden auf das politische Leben in Amerika begleitet ist, hat die amerikanische öffentliche Meinung nicht überzeugt und die Mitte der Gesellschaft nicht erreicht. Ob dies auch weiterhin der Fall sein wird, bleibt eine offene Frage. In Deutschland liegt die Basis der Judenfeindschaft, wie bereits erwähnt, keinesfalls auf offizieller Seite, denn die Einstellung auf deutscher Regierungsebene ist zweifelsohne positiv. Aber die deutsche Gesellschaft, als integrativer Teil Europas, wird insgesamt stark von europäischen Ansichten beeinflusst. Wenn auch die meisten der europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein eine größere Toleranz in Bezug auf Multikulturalität zeigen, existieren weiterhin die alten negativen Stereotype über Juden. Der oben beschriebene Anti-Israelismus ist eine neue Formvariante der alten Judenfeindschaft, die sowohl in Europa als auch in Amerika um sich greift. Die Katastrophe des europäischen Judentums hat offensichtlich nicht zu einer tief einschneidenden Bewusstseinsveränderung geführt. Juden werden, gestern wie heute, nicht akzeptiert wie sie sind, sondern mit Vorstellungen konfrontiert, wie sie sein sollten. Im Ergebnis werden sogenannte „Alternativen“ vorgeschlagen und gefordert, die in vielen Fällen so extrem und so gefährlich für Juden sind wie jene vor über siebzig Jahren.

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Literatur ARIEL, Yaakov S., 2002. Philosemites or Antisemites? Evangelical Christian Attitudes toward Jews, Judaism, and the State of Israel. Jerusalem: Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism. BERGMANN, Werner, 2008. Vergleichende Meinungsforschung zum Antisemitismus in Europa und die Frage nach einem „neuen europäischen Antisemitismus“. In: Rensmann, Lars; Schoeps, Julius H. (eds.), 2008, 473–507. BOEHLICH, Walter, 1965. Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag. DINNERSTEIN, Leonard, 1994. Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press. GERBER, David A. (ed.), 1986. Anti-Semitism in American History. Urbana et al.: University of Illinois Press. HALPERN, Ben, 1956. The American Jew. New York: Theodor Herzl Found. HEYDER, Aribert et al., 2005. Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus. In: Heitmeyer, Wilhelm (ed.), 2005. Deutsche Zustände. Folge 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 144–165. HIGHAM, John, 1966. American Antisemitism Historically Reconsidered. In: Stember, Charles H. (ed.), 1966. Jews in the Mind of America. New York, London: Basic Books. 237-258. KLOKE, Martin W., ²1994. Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses. Frankfurt a. M.: Haag + Herchen. MEARSHEIMER, John J.; Walt, Stephen M., 2007. The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy. New York: Farrar, Straus and Giroux. RENSMANN, Lars; Schoeps, Julius H., 2008. Einleitung. Antisemitismus in der Europäischen Union: Einführung in ein neues Forschungsfeld. In: Rensmann, Lars; Schoeps, Julius H. (eds.), 2008. Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, 9–40. ROSENFELD, Alvin H., 2003. Anti-Americanism and Anti-Semitism. A New Frontier of Bigotry. New York: American Jewish Committee. ROSENFELD, Alvin H., 22007. „Fortschrittliches“ jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus. Augsburg: Ölbaum-Verlag. SCHWARZ-FRIESEL, Monika, 2009. Der Tatort Sprache in Deutschland. Antisemitismus im öffentlichen Kommunikationsraum. In: TRIBÜNE Nr. 189, Jg. 48 (1/2009), 178– 186.

Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen – ein Phänomen der Mitte Andreas Zick Der Antisemitismus gehört zu den stabilsten und resistentesten negativen Vorurteilen, die wir in Studien der Nachkriegszeit beobachten. Er hat in rechtsextremistisch orientierten Ideologien eine feste Heimat. Er findet aber ebenso weit in der Mitte der Gesellschaft Haftung, weil in der Mitte Ideologien der Ungleichwertigkeit zwischen Gruppen Vorurteilen einen nahrhaften Boden bereiten (s. Zick/Küpper 2006). Der Antisemitismus transportiert und bedient soziale Mythen gesellschaftlicher Ungleichheit und Ungleichwertigkeit, und er gebiert neue Mythen, die Affekte und Einstellungen aus der Gegenwart aufgreifen; aktuelle Diskussionen um den vermeintlichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss des „Weltjudentums“ oder die „Verbrechen der Juden in Israel“ sind einfache Beispiele. Die mythische Kraft ist auch darauf zurückzuführen, dass der Antisemitismus überspringen kann auf andere Vorurteile, weil er eng mit diesen zusammenhängt. Rassistische Parolen der rechtsextremen Fanszene im Fußballstadion, die zwischen den Vorurteilen hin und her wechseln, dokumentieren das allwöchentlich. Vorurteile gegenüber anderen Gruppen können ihn zugleich befördern. Der Antisemitismus ist dabei nicht nur Weltanschauung, Emotion oder Einstellung, sondern hochgradig verhaltensrelevant. Er legitimiert Diskriminierungen und Gewalttaten von Personen, Einrichtungen und Symbolen. Sie sind nach dem „Hate Crime Survey“ von Human Rights First zwischen 2006 und 2008 in Deutschland erneut angestiegen. Auch hier kann die Gewalt vom Antisemitismus auf andere Vorurteile oder Diskriminierungen überspringen. Sie werden Opfer von Gewalt, weil sie ähnlich stereotypisiert werden, gemeinsam als Bedrohung assoziiert werden und weil sie sich aus einer allgemeinen Ideologie der Ungleichwertigkeit speisen. Vorurteile wie der Antisemitismus haben also identische Quellen und Konsequenzen, aber sie sind nicht gleich.

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Dass der Antisemitismus eine Sonderstellung unter den Vorurteilen einnimmt, ist im deutschen Alltag ständig sichtbar in den polizeilichen Bewachungen jüdischer Einrichtungen. Juden, jüdische Einrichtungen und Symbole sind bedroht. Dabei sind die Bedrohungen und damit zusammenhängende Vorurteile zum großen Teil äußerst subtil und versteckt. Ein offen rassistischer Antisemitismus, der Juden als unterlegene und bedrohliche Gruppe markiert, ist im rechtsextremen Spektrum erkennbar. Außerhalb des extremistischen Spektrums ist ein traditioneller und offener Antisemitismus weniger sichtbar, und er ist geächtet. Dort kann er seine Kraft zum großen Teil nur auf Umwegen entfalten. Das tut er, indem er sich in eine angeblich vorurteilsfreie Meinung kleidet, die sich etwa in der Kritik an der israelischen Gewalt gegen Palästinenser zeigt. Stereotype und generalisierte Abwertungen von Juden werden dabei auch unbemerkt vermittelt, indem der Öffentlichkeit vorgehalten wird, dass sie Meinungsfreiheit beschneidet. Das größte Problem antisemitischer Vorurteile in der Gegenwartsgesellschaft ist meines Erachtens, dass sie in traditionellem oder modernem Gewand an Normen und Werten der Gleichwertigkeit ‚kratzen‘ und damit die Integrationsfähigkeit und -potenziale der Gesellschaft gefährden. Zugleich schreibt sich der Antisemitismus damit ständig in das kollektive Gedächtnis und in den Bestand an kollektiven Einstellungen gegenüber Gruppen ein. Mit diesem Bestand an Meinungen und Einstellungen beschäftigt sich der folgende Beitrag. Er fragt: Wie ist es um die antisemitischen Meinungen in der deutschen Bevölkerung bestellt? Was sind traditionelle und moderne Ausdrucksformen, und wie sind sie verbreitet? Was sind wesentliche Gefährdungsquellen und Schutzfaktoren der Mehrheitsmeinung? Der Blick richtet sich dabei auf quantitative Meinungsumfragen und hier insbesondere auf die Studie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF), die seit 2002 jährlich und repräsentativ die Meinungen der BundesbürgerInnen erhebt. Der Blick ist zudem sozialpsychologisch, was bedeutet, dass er auf individuelle Einstellungen gerichtet ist und fragt, wie diese durch Personen- und Umweltfaktoren zustande kommen. Das ist eine eingeschränkte Perspektive, oder eben eine Perspektive unter anderen. Bevor jedoch gleich eine Reihe von Daten zum Ausmaß antisemitischer Einstellungen präsentiert werden, soll der Antisemitismus definiert und die Untersuchungsanlage vorgestellt werden. Dann wird Auskunft über das offene und subtile antisemitische Meinungsklima erteilt. Dabei

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werden die wichtigsten Facetten antisemitischer Meinungen dargestellt, wie sie sich in der Befragung vieler Menschen widerspiegeln.

1. Das antisemitische Vorurteil Die Forschung ist wie der öffentliche Diskurs begleitet von Kontroversen um eine angemessene Definition des Antisemitismus (Nonn 2008). Er wird als Bewegung, Einstellung, pathologischer Hass oder Krankheit, Modernisierungslast und vieles mehr beschrieben (vgl. z. B. Beller 2009; Bergmann/Körte 2004). Dabei ist die Suche nach einer Konsensdefinition schwierig, wenn die eine Definition das Verhalten oder gesellschaftliche Strukturen, und die andere Definition Mentalitäten oder Diskurse beschreibt. Aus einer sozialpsychologischen Perspektive kann der Antisemitismus als ein soziales Vorurteil verstanden werden (Zick 1997). Vier Merkmale kennzeichnen meines Erachtens das antisemitische Vorurteil. Erstens entspricht der Antisemitismus einer generalisierten affektiven, kognitiven und/oder verhaltensorientierten Abwertung von Juden und Judentum oder von jüdischen Personen, weil sie als Mitglieder der Gruppe der Juden wahrgenommen werden. Klug (2003) bezeichnet ihn treffend als eine Feindseligkeit gegen Juden als ‚Juden‘, die anders wahrgenommen werden als sie sind. Antisemitismus kann Grundlage einer Bewegung sein, wie auch eine individuelle Einstellung. Der Antisemitismus ist aber keine Krankheit. Er ist immer sozial, das heißt Individuen sind antisemitisch, weil sie sich mit einer Gruppe identifizieren, die sich von Juden und deren Kultur abgrenzt. Er drückt eine kollektive Feindseligkeit aus, wie jedes andere Vorurteil. Ohne kollektive Übereinstimmung kann er nicht überleben. Zweitens kann sich der Antisemitismus in vielen unterschiedlichen Facetten äußern. Sie zu bestimmen, ist eine wesentliche Aufgabe der Antisemitismusforschung. Im Rahmen einer Meinungsumfrage, wie sie gleich genauer vorgestellt wird, ist der Unterschied zwischen einem offenen, direkten Antisemitismus und versteckten und subtilen Formen besonders relevant, weil letztere versuchen, offizielle Normen zu umgehen, indem sie darauf rekurrieren, Urteile und keine Vor-Urteile zu sein. Dabei hängen traditionelle und moderne versteckte Ausdrucksformen oft eng zusammen. Viele moderne und scheinbar harmlosere antisemitische Einstellungen rekurrieren auf traditionelle religiöse Mythen (‚Christus- und Gottesmör-

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der‘), weltliche Mythen (‚Wucherjude‘, ‚Finanzjudentum‘), politische Mythen (‚jüdische Weltverschwörung‘ oder neuerdings der Verweis auf die israelische Politik) und rassistische Mythen (Charakter, Aussehen, aber auch die Unterstellung von ‚Illoyalität‘ und ‚Kumpanei‘), die im kollektiven Wissen erhalten bleiben, auch wenn sie nicht alle zu jeder Zeit gleichermaßen aktiviert werden und traditionelle Vorurteilsformen überlagert werden. Drittens kennzeichnet den Antisemitismus eine enge Assoziation mit Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen. Vorurteile sind syndromatisch miteinander verbunden, was zugleich ihre Resistenz ausmacht. Viele Studien zeigen, dass Antisemitismus mit religiösen Vorurteilen, Einwandererfeindlichkeit, Sexismus, Vorurteilen gegenüber Menschen mit homosexueller Orientierung und anderen Vorurteilen zusammenhängt (Zick et al. 2009). Viertens beruht der Antisemitismus, wie andere Vorurteile, wesentlich auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, die in Deutschland stark mit einem autoritären Sozialverständnis und -verhalten verbunden ist. Der Antisemitismus gebiert und legitimiert zugleich die Ungleichwertigkeit von Juden und er drängt auf die Unterordnung. Das Verständnis des Antisemitismus als soziales Vorurteil ist Grundlage der Analyse antisemitischer Einstellungen, ihrer Dimensionen und Funktionen. Dass der Antisemitismus viele Merkmale anderer Vorurteile teilt, bedeutet aber keineswegs, dass seine spezifischen Charakteristika zu vernachlässigen oder gar zu verneinen sind. Erst der Vergleich der Vorurteile ermöglicht es, Besonderheiten eines Vorurteils herauszuarbeiten.

2. Antisemitische Meinungen in der Bevölkerung – eine Zustandsbeschreibung Mittlerweile liegen eine Reihe von mehr oder minder systematischen Umfragen von wissenschaftlichen Einrichtungen, aber vor allem auch von Tageszeitungen, Journalen und Nichtregierungsorganisationen vor (vgl. Zick/Küpper 2005). Sie zeigen im aller einfachsten Sinne, dass antisemitische Einstellungen weltweit stark verbreitet und virulent sind. Damit spiegeln sie Befunde von kleineren Erhebungen aber auch qualitativen Analysen wider, die auf die offene und unterschwellige Lebendigkeit

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antisemitischer Kognitionen und Affekte verweisen (das vorliegende Buch dokumentiert das). Um eine etwas genauere Beschreibung des aktuellen Mentalitätsbestandes der bundesrepublikanischen Bevölkerung zu erhalten, werden im Folgenden Ergebnisse der sogenannten GMF-Studie (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) berichtet, die jährlich 1.500 bis 3.000 deutsche BürgerInnen repräsentativ befragt und dabei auch einen kleinen Satz an antisemitischen Vorurteilen prüft.1 Darüber hinaus werden Daten aus unserem GFE-Projekt (Group-Focused Enmity in Europe) berichtet. In dem Projekt wurden je 1.000 repräsentativ ausgewählte BürgerInnen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Polen, Portugal und Ungarn zu einem Satz an antisemitischen Äußerungen befragt.

2.1 Entwicklungen des Antisemitismus Das GMF-Projekt beobachtet seit dem Jahr 2002 in jährlichen repräsentativen Querschnittumfragen die Zustimmungen zu verschiedenen Aussagen, die nach Vor- und Haupttests relativ zuverlässig antisemitische Meinungen repräsentieren. Dabei werden kontinuierlich offene Ressentiments und diskontinuierlich neue Facetten des Antisemitismus erhoben. Drei Aussagen erfassen nach Vortests und Prüfung von verschiedenen Skalen in jedem Jahr zuverlässig einen Antisemitismus, der traditionelle und sekundäre antisemitische Ressentiments umfasst: „Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss. Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig. Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ Hier trifft ein Konspirationsmythos mit einer Opfer-Täter-Umkehr zusammen. Es ist zu beobachten, dass dieser Antisemitismus in signifikantem Zusammenhang zu antisemitischen Stereotypen („geldgierig“, „geizig“) steht. In der repräsentativen deutschen Umfrage von Decker und Brähler (vgl. z. B. 2008) ist die Annahme des besonderen Einflusses eng verbunden mit der Meinung, Juden „arbeiten mehr als andere mit üblen Tricks“ und sie hätten etwas _____________ 1 Die Ergebnisse werden jährlich in der Reihe Deutsche Zustände, hrsg. von W. Heitmeyer, im Suhrkamp Verlag publiziert. Das Projekt wird von der Volkswagen Stiftung, der Freudenberg Stiftung und der Möllgaard Stiftung unterstützt.

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„Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ (Zustimmungen dazu zwischen 14 und 18,5 %). Das sind traditionelle und offene Vorurteile. Unabhängig von den Zustimmungsraten ist aber hierbei auch interessant, dass sich traditionell offene Vorurteile zunehmend mit einem sekundären Antisemitismus vereinigen, der durch die Vorteilsnahme deklamiert wird, d. h. einer Relativierung, Verharmlosung und teilweisen Leugnung von NS-Verbrechen an den Juden (vgl. auch Heyder et al. 2005). Ein Schlussstrich-Appell wurde indirekt über die Aussage erfasst: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“ Das Item wurde in den Jahren 2004 bis 2008 durchweg erhoben. Ebenfalls mehrmals, genauer in den Jahren 2004, 2006 und 2009, wurde ein israelkritischer Antisemitismus2 erfasst, der einen unnötigen Vergleich mit der NS-Zeit zieht: „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“ Bevor Zustimmungsraten genauer betrachtet werden, ist zur Interpretation von Ähnlichkeiten und Differenzen antisemitischer Meinungen zu bedenken, dass alle Facetten des Antisemitismus signifikant miteinander zusammenhängen: Wer traditionell antisemitischen Äußerungen zustimmt, stimmt auch anderen, eher subtilen antisemitischen Äußerungen zu (vgl. Review an Studien von Zick/Küpper 2006). 3 Abbildung 1 zeigt nun die mittleren Zustimmungen für die drei Indikatoren im Trend. Deutlich ist eine Stabilität des Antisemitismus zu erkennen, auch wenn die mittleren Zustimmungen zu allen drei Indikatoren seit 2004 abnehmen. Viele andere Umfragen kommen zu ähnlichen Beobachtungen der Stabilität (vgl. z. B. Zick/Küpper 2006; Wittenberg/Schmidt 2004), und die Befragten selbst scheinen den Abfall zu registrieren. Wittenberg und Schmidt (2004) berichten, dass in Umfragen des American Jewish Committee in neuerer Zeit deutlich weniger BürgerInnen der Meinung sind, dass der _____________ 2 Zur Abgrenzung des israelkritischen Antisemitismus von einer Israelkritik ohne antisemitische Rekurse vgl. Heyder et al. (2005). 3 In 2009 korreliert z. B. der klassische Antisemitismus mit der anti-semitischen Israelkritik signifikant (r = .39, n = 1623).

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Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen

Antisemitismus ein ernstes Problem sei (18,6 % in 2003). Eine leicht andere Beobachtung berichtet das Pew Research Center (2008). Es konstatiert in verschiedenen Ländern einen Anstieg einer offenen Antipathie gegenüber Juden. Zwischen 2004 und 2008 steigt die selbst berichtete Antipathie von 20 auf 25 %.

klass.AS klass.AS

Ärger Ärger (sek.AS) (sek.AS)

NSvglAS NSvglAS

44 3,5 3,5 33 2,5 2,5 22 1,5 1,5 11 2002 2002

2003 2003

2004 2004

2005 2005

2006 2006

2007 2007

2008 2008

2009 2009

Abbildung 1: Klassischer und NS-Vergleichender Antisemitismus sowie Ärger über die Vergangenheit der Verfolgung in den GMF-Umfragen 2002 bis 2009.

Leibold und Kühnel (2009) dokumentieren allerdings auch anhand eines Vergleichs mit anderen Daten, dass die hier dokumentierten Facetten zwischen 1990 und 1999 eher diskontinuierlich als kontinuierlich abnehmen, mit Beginn des 21. Jahrhundert jedoch zunehmen und dann wieder abnehmen. Analysen der GMF-Daten sowie anderer Umfragen zeigen zusätzlich eine deutliche Annäherung der Meinungen von Ost- und Westdeutschen sowie eine Abnahme der Zustimmungen zu den klassisch antisemitischen Aussagen. Ferner zeigen die Trends, dass klassische antisemitische Meinungen, die stärker die kognitive oder ideologiebezogene Facette des Ressentiments widerspiegeln, relativ geringen Zuspruch finden, während die ande-

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ren Aspekte im Durchschnitt stärker befürwortet werden. Der Ärger darüber, dass den Deutschen die NS-Verbrechen vorgehalten werden, scheint besonders stark ausgeprägt. In einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung (2007) stimmten 58 % explizit einem Schlussstrich unter die Vergangenheit zu. Zugleich meinen lediglich 4 % der Befragten, dass die Schuld der Deutschen an der Judenverfolgung alle Deutschen trifft, auch jene, die nach dem Krieg geboren sind, obgleich fast die Hälfte (49 %) einer besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber Juden zustimmt. Die Mehrheit lehnt eine persönliche Schuld ab, zugleich aber fühlt sie sich durch die Verbrechen an den Juden eher beschämt (66 %). Das sei hier hervorgehoben, weil in solchen Meinungsmustern sichtbar wird, wie spannungsgeladen, ambivalent und divergent die affektive Seite des antisemitischen Ressentiments ist. Der Antisemitismus argumentiert mit dem NS-Vergleich, lehnt aber NS-Vergleiche bei der Schuldfrage ab und das geht mit einem Ärger einher, der zum Teil auf Juden attribuiert wird. Diese ideologieanfällige Komposition von Affekten könnte zumindest einen Teil der Latenz des Antisemitismus erklären, die in Umfragen zu beobachten ist.

2.2 Antisemitismus im europäischen Vergleich Das europäische GFE-Projekt ermöglicht einen Vergleich der Mentalitäten in den acht europäischen Ländern Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Polen und Ungarn.4 Abbildung 2 zeigt die prozentuale Zustimmung zum Antisemitismus, der klassische (zu viel jüdischer Einfluss; Ablehnung, dass Juden die Kultur bereichern) und israelkritische (Juden führen Vernichtungskrieg, versuchen Vorteil aus der Vergangenheit zu gewinnen) Aussagen umfasst. Es fällt auf, dass Deutschland einen mittleren Rang einnimmt; die Säule ‚EU‘ zeigt die mittlere Zustimmung über alle Länder, das sind 27,3 % der befragten Europäer. Besonders deutliche Zustimmungen zu antisemitischen Äußerungen finden sich in Polen, Ungarn und Portugal. Weniger _____________ 4 Weitere vergleichende Studien siehe Zick und Küpper (2006) sowie AJC (2005) und Pew Research Center (2008). Letztere Studien berichten jedoch, ohne genauere Skalen- oder Theorienprüfungen vorzustellen.

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Antisemitismus ist in Großbritannien und den Niederlanden zu beobachten. 60

54,7

50 37,3

40 29,5

30 20

50

23,4

27,3 22,2

14,4

12,2

10 0 GB

GE

FR

IT

NE

PT

PO

HU

EU

Abbildung 2: Prozentuale Zustimmung zum klassischen Antisemitismus im europäischen Vergleich (Daten: GFE-Survey; n = 1.000 pro Land)

Der in Europa beobachtete Antisemitismus ist dabei hoch ambivalent (wie schon zuvor mit Blick auf Deutschland festgestellt): Einerseits zeigt sich, dass 62 % der befragten Europäer meinen, dass „Juden unsere Kultur bereichern.“ Zugleich meinen 24,5 %, dass Juden zu viel Einfluss im jeweiligen Land hätten. Insgesamt 31 % der Befragten finden es verdächtig, dass Juden immer zusammen hielten und sich von anderen separierten, während sie zugleich betonen, dass Juden sich um nichts als sich selbst sorgen würden. Immerhin meinen 41,2 %, dass Juden einen Vorteil daraus ziehen würden, dass sie Opfer in der Nazi-Zeit gewesen sind. Die antisemitische Israelkritik wird von vielen Befragten bemüht: 45,7 % meinen, dass Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führt, und 37,4 % finden es angesichts der Israelpolitik verständlich, dass andere etwas gegen Juden haben (Aussagen nicht in Frankreich abgefragt). Alle diese Umfragewerte dokumentieren, dass ein hoher Prozentsatz an Menschen in Europa traditionellen und sekundären Formen des Antisemitismus zustimmt und auch in Europa der Antisemitismus in der Mitte eine feste Haftung hat.

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2.3 Antisemitismus im Krisenjahr 2009 Ein engerer Blick in das Krisenjahr 2009 im deutschen GMF-Projekt zeigt, dass zwar ein offener Antisemitismus weniger Zustimmung findet, die sekundären Anteile und der antisemitische NS-Vergleich dafür aber eher Zustimmung finden. Der Meinung, dass „Juden in Deutschland zu viel Einfluss“ haben, stimmen 16,5 % der Befragten zu und 10,8 % meinen, Juden seien „durch ihr Verhalten an ihren Verfolgungen mitschuldig“. Dagegen stimmten 37,3 % der sekundär antisemitischen Meinung zu, dass „viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ Ebenso hoch ist die Zustimmung zu Indikatoren des antisemitischen NS-Vergleichs: „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser (51,2 %). Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ (33,9 %). Mit engerem Bezug zur Krise zeigt sich, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise den Antisemitismus berührt, wobei sich stärkere Effekte vielleicht erst im Verlauf oder mit dem Ende der Krise zeitigen werden, weil Vorurteile latent nachrücken (vgl. Zick 1997). Die Umfrage der AntiDefamation League im Krisenjahr 2009 weist aus, dass 22 % der (repräsentativ befragten) Deutschen es für „wahrscheinlich wahr“ halten, dass Juden zu viel Einfluss in den internationalen Finanzmärkten haben. In der GMF-Umfrage 2009 zeigt sich, dass der klassische Antisemitismus kaum mit dem Gefühl zusammenhängt, persönlich durch die Krise betroffen zu sein (r = .12, n = 1.691), wohl aber deutlich mit der Zustimmung zu einer krisenbedingten Ungleichwertigkeit einhergeht, die sich in der Meinung ausdrückt, dass es sich Deutschland in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht mehr erlauben könne, Minderheiten besonders zu achten und zu schützen, und zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden müssten (r = .40, n = 1.693). Dieser Zusammenhang zeigt sich auch für andere Facetten der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, wie Fremdenfeindlichkeit, Feindseligkeiten gegenüber Immigranten, Muslimen, Frauen, Obdachlosen usw. Schon viele andere Studien der Nachkriegszeit haben nachgezeichnet, dass die einfache Formel „Krise führt zu Antisemitismus“ nicht durch empirische Daten unterstützt werden kann (Nonn 2008). Es deutet sich an, dass der Antisemitismus eine Konsequenz sozialer Vergleiche „Wir – die Juden“ ist, die wiederum durch die Bewertung der Lage der Ingroup – also der Bezugsgruppe der Antisemiten – geprägt wird. Im GMF-Survey 2009

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zeigt sich das deutlich im Zusammenhang von Antisemitismus und der so genannten Relativen Deprivation. Sie wurde 2009 erfasst durch einen Index der Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage und der wirtschaftlichen Lage der BRD. Abbildung 3 zeigt die mittlere Zustimmung zum traditionellen und NS-vergleichenden Antisemitismus nach dem Ausmaß an Relativer Deprivation (min = -3, max. = +3). Deutlich ist zu erkennen, dass die am wenigsten und am stärksten ‚Relativ Deprivierten‘ – also die ‚Gratifizierten‘ und die (subjektiv) ‚Unterprivilegierten‘ – sowohl eher den Aussagen des traditionell-sekundären als auch des israelkritischen Antisemitismus zustimmen. Solche Deprivationen mögen in Krisenzeiten nahe liegen, aber sie beruhen letztendlich auf intergruppalen Vergleichen, die auch dann gezogen werden, wenn die soziale Lage von Individuen und Gruppen weniger krisenbelastet ist.

Abbildung 3: Traditioneller (links) und israelkritischer Antisemitismus und Relative Deprivation.

2.4 Antisemitismus der Mitte Aus den berichteten Zustimmungen zu den verschiedenen Aussagen ist abzuleiten, dass der Antisemitismus weit in der Mitte der Gesellschaft vorhanden sein muss. Dabei ist die Mitte für die Gesellschaft außerordentlich wichtig, weil sie als Gegenkraft relevant und als Zielgruppe politischer Parteien umworben ist. Dass sie anfällig für Vorurteile ist, deutet sich präziser an, vergleicht man Befragte, die ihre eigene politische Ansicht als „rechts“, „eher rechts“, „genau in der Mitte“, „eher links“, oder „links“ bezeichnen. Abbildung 4 zeigt die mittleren Antisemitismuswerte

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für die Gruppen, wobei der Einfluss von Bildung, Alter und Geschlecht kontrolliert wurde. Die politische Platzierung der eigenen politischen Ansicht im RechtsMitte-Links-Spektrum – die mit einer Verortung der Befragten als gesellschaftliche Mitte einhergeht, wie Zick und Küpper (2006) zeigen – hat einen signifikanten Einfluss sowohl auf den traditionellen Antisemitismus als auch auf israelkritischen Antisemitismus5. Wie deutlich zu sehen ist, findet der klassische Antisemitismus eine geringere Zustimmung als die modernen anti-israelischen Ressentiments. Während sich beim klassischen Antisemitismus das linke und rechte politische Spektrum trennen, verschwimmen die Mittelwertsunterschiede bei der antisemitischen Kritik an Israel.6 3,00 3,00 2,80 2,80

links links

eher eher links links

genau genauMitte Mitte

eher eher rechts rechts

rechts rechts

2,60 2,60 2,40 2,40 2,20 2,20 2,00 2,00 1,80 1,80 1,60 1,60 1,40 1,40 1,20 1,20 1,00 1,00

traditionell traditionell

israel-kritisch israel-kritisch

Abbildung 4: Mittlere Zustimmungen (min. = 1, max. = 4) zu traditionellen und israelkritischen antisemitischen Aussagen nach politischer Ansicht. Daten: GMF-Projekt 2009

_____________ 5 Klassischer AS: F(1, 1023) = 68.42; p < .001; israelkritischer AS: (1, 1023) = 5.36; p