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German Pages 230 [232] Year 2007
Yul Kim Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin
Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Herausgegeben von Michael Schmausf, Werner Dettloff, Richard Heinzmann, Ulrich Horst Band 51
Yul Kim
Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin
Akademie Verlag
Dissertation an der Universität Regensburg
ISBN 978-3-05-004256-5 ISSN 0580-2091 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der philosophischen Fakultät I der Universität Regensburg als Inauguraldissertation angenommen und danach geringfügig überarbeitet. Die Anregung zum Thema dieser Untersuchung geht auf meinen Lehrer Prof. Dr. Schönberger zurück. Er hat mir während vieler Seminare und persönlicher Gespräche die philosophischen Augen geöffnet und mich beständig zu meinen Forschungsarbeiten über Thomas v. Aquin motiviert. Mein größter Dank gilt also ihm, meinem Doktorvater, ohne dessen großzügige Betreuung meine Studien ohne wirklich nennenswerten Ertrag geblieben wären. Prof. Dr. Schäfer hat die Mühe der Zweitbegutachtung auf sich genommen und mir viele wichtige wissenschaftliche Hilfen und Ermutigungen vermittelt. Dafür möchte ich mich bei ihm aufrichtig bedanken. Mein besonderer Dank gebührt auch Prof. Dr. Horst, der dieses Buch freundlicherweise in die Reihe der Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes aufgenommen hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinen zuverlässigen Kollegen, die mir bei der Korrektur des Manuskripts geholfen haben. Das Manuskript wurde von Dr. Thomas Hösl, von Dr. Stefan Klar und von Stefan Schick gelesen und sprachlich korrigiert. Zudem möchte ich die Hilfe von Fr. Elisabeth Freudling dankend erwähnen. Sie hat sich nicht nur mit großer fachlicher Kompetenz an der Korrektur des Manuskripts beteiligt, sondern auch als meine „deutsche Tante" meinen Aufenthalt in Deutschland menschlich betreut. Ich möchte auch nicht versäumen, Pater Jae Ryong Lee für seinen großzügigen Beitrag zu den Druckkosten meinen herzlichen Dank auszusprechen. Unaussprechlichen Dank bin ich aber natürlich vor allem meiner Familie, besonders meiner Frau schuldig, die für mein Studium unzählige selbstlose Opfer gebracht hat. Diese Erstlingsarbeit widme ich meinem lieben, im Jahre 2002 verstorbenen Vater und meiner lieben Mutter, denen beiden unter allen Menschen mein erster Dank gehört. Möge diese Arbeit der Wahrheit, die der Hl. Thomas von Aquin gesucht und gelehrt hat, dienen. Seoul, April 2006 Yul Kim
Inhalt
Einleitung
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Kapitel I. Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
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1.
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Historischer Hintergrund
1.1. Die Ursprünge und die Entwicklung des Freiheitsbegriffes bis zum 13. Jahrhundert (1) Nikomachische Ethik des Aristoteles (2) Der christliche Ursprung bei den Kirchenvätern (3) Die Entwicklung der Freiheitskonzeption in der christlichen Tradition 1.2. Die theoretische Situation der letzten Hälfte des 13. Jahrhunderts 2.
Theoretischer Hintergrund
2.1. Der aristotelische Begriff der Bewegung (1) Die definitorische Bestimmung der Bewegung (2) Die Negierung des Begriffs der Selbstbewegung und das Bewegungsaxiom 2.2. Die aristotelische Auffassung der seelischen Bewegung (1) Das Verhältnis von Natur und Seele (2) Der Unterschied zwischen der seelischen und der physischen Bewegung (3) Die Seele und die Passivität
21 21 23 25 30 36 36 36 39 44 44 46 48
8
Inhalt
Kapitel II. Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren des 13. Jahrhunderts
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1.
52
Der Wille als Potenz zur Bewegung
1.1. Bestimmung des Willens als rationales Streben (1) Die metaphysische Grundlage für die Bestimmung des Willens: der Begriff der inclinatio (2) Die Entfaltung der inclinatio 1.2. Wille im thomasischen System der Seelenvermögen (1) Die Analyse der Vermögen der menschlichen Seele (2) Wille und sinnliches Streben (3) Wille und Verstand
52 54 59 59 61 63
2.
65
Ursache und Struktur der Willensbewegung
52
2.1. Die Ursachen des Strebens (1) Die allgemeine und metaphysische Betrachtung der Ursächlichkeit im Streben (2) Die Verinnerlichung der Ursächlichkeit beim Streben der erkennenden Wesen 2.2. Die Willensbewegung als Zusammenwirken des Willens und des Verstandes (1) Die Ursächlichkeit des Verstandes und des Willens (2) Die Wechselbewegung des Verstandes und des Willens (3) Das Problem des ersten Anfangs der Wechselbewegung
71 71 74 78
3.
80
3.1. 3.2. (1) (2)
Das Problem der Freiheit des Willens
Der Begriff des liberum arbitrium Begründung des liberum arbitrium im Menschen Indeterminiertheit des Willens in Bezug auf das Mittel Der Grund dafür, dass die Entscheidung des Willens frei ist 3.3. Die Willensfreiheit als die Freiheit der Entscheidung
65 65 68
80 83 83 85 89
Inhalt
9
Kapitel III. Reaktion von voluntaristischer Seite
95
1.
95
Walter von Brügge
1.1. Bestimmung des Willens (1) Der natürliche Wille (voluntas naturalis) und der abwägende Wille (voluntas deliberativa) (2) Der Wille als mächtige Potenz (potentia potestativa) 1.2. Begründung der menschlichen Willensfreiheit (1) Die Analyse der Bedeutungen der Vernunft (2) Die Wechselbewegung des Willens und der Vernunft (3) Das Verhältnis des Willens und der Vernunft (4) Freiheit als das innere Wesen des Willens 1.3. Die Selbstbewegung des Willens (1) Die Problematik bei Walter (2) Begründung der Selbstbewegung des Willens
96 99 102 102 105 109 112 116 116 118
2.
123
Gerhard von Abbeville
2.1. Bestimmung des Willens als aktive Potenz (1) Begründung der Willensaktivität I: aus der Herrschaft der freien Entscheidung (2) Begründung der Willensaktivität II: aus dem Bewegungscharakter von der Seite des Objekts (3) Die Willensaktivität und die Unmöglichkeit der notwendigen Willensdetermination (4) Die Aktivität und die Selbstbewegung des Willens 2.2. Freiheit des Willens
96
125 125 128 130 132 134
Kapitel IV. Selbsterklärung des Thomas
137
1.
138
Die Frage nach der Selbstbewegung des Willens
1.1. Vergleichende Betrachtung: die Freiheitslehre des frühen Thomas und die voluntaristische Freiheitslehre der Zeitgenossen (1) Unterschied bei der Grundlegung der Willensfreiheit
138 138
10
Inhalt
(2) Unterschied bei der Stellungnahme zur Willensbestimmung als eine passive Potenz 1.2. Die Motivation der neuen Fragestellung durch die voluntaristische Reaktion
143
2.
149
Die Willensfreiheit als Selbstbewegung des Willens
141
2.1. Die strukturelle Erschließung der Selbstbewegung des Willens (1) Die Analyse der inneren Struktur des Willensaktes (2) Erweiterung der Perspektive auf die Willensbewegung 2.2. Begründung der Willensfreiheit in der Selbstbewegung des Willens (1) Indeterminiertheit des Willens: Freiheit des Vollzugs und Freiheit der Spezifikation (2) Freiheit des Willens in seinem einheitlichen Wahlakt (3) Rationalität und Freiheit des Wollens
156 160 164
3.
167
Das Problem des ersten Anfangs der Willensbewegung
3.1. Die Selbstbewegung des Willens und der aristotelische Bewegungsbegriff 3.2. Die erste Willensbewegung durch Gott (1) Die Notwendigkeit der Annahme der ersten Willensbewegung durch Gott (2) Die Bedeutung der Willensmotivation durch Gott
149 149 153 156
167 173 173 177
Kapitel V. Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
183
1. Die Interpretationen des Problems
183
2. Versuch einer Interpretation 2.1. Interpretation der frühen Lehre des Thomas von der Willensfreiheit
191 191
Inhalt
11
2.2. (1) (2) 2.3.
195 195 199
Interpretation der Anzeichen der Lehrveränderung Die kausale Bedeutung des Objekts Der Ansatzpunkt der Geistesbewegung durch Gott Inwiefern hat sich die Lehre des Thomas von der Willensfreiheit verändert?
205
Schlussbemerkung
207
Literaturverzeichnis
217
Register
227
Einleitung
Ein Kennzeichen des Lebens besteht in seiner Spontaneität. Spontaneität selbst ist aber kein eindeutiger Begriff. Der Begriff dient manchmal dazu, das Phänomen der Eigentätigkeit im Bereich der ganzen Natur auszudrücken, oder in praktischer Hinsicht die nicht gezwungenen, aus innerem Antrieb erfolgenden Handlungen zu charakterisieren.1 Er wird auch als ein psychologischer Begriff verwendet, um das selbsttätige Moment in der Erkenntnis oder im Streben herauszustellen.2 Als ein wichtiger Begriff, der dem Bedeutungsfeld der Spontaneität nahesteht, gilt die Selbstbewegung. Dieser Begriff, der in der Seelenlehre Piatons erstmals als belangvolles Denkmotiv eingeführt und bei Aristoteles intensiv und energisch untersucht worden ist,3 hat historisch ebenfalls ein sehr umfangreiches Bedeutungsfeld. Als Grund für diese Mehrdeutigkeit kann man zunächst darauf hinweisen, dass zwar der Grundbegriff der Bewegung selbst nicht univok ist, der sachliche Grund aber ist eher in den komplexen Schichten der Gegenstände zu finden, für die der Begriff angewendet wird. So hat z.B. Heinrich von Gent in seinem Quodlibet in Hinsicht der Selbstbewegung die Grade der Bewegung folgendermaßen eingeteilt: JUa autem sex quae dicto modo se habent per ordinem secundum rationem movendi, sunt ista: primum est voluntas divina in volendo; secundum est voluntas creata in volendo ...; tertium est intellectus creatus in intelligendo; quartum est grave aut leve in movendo se ipsum ...; quintum est animal in movendo se ipsum motu progressiva; sextum est generans in movendo aliud extra se separatum ad alicuius generationem."4 Die Selbstbewegung, die im strengsten Sinne nur dem göttlichen Wollen zuzuschreiben ist, betrifft also im jeweiligen Sinne die verschiedenen Arten von Bewegung in der geschaffenen Seele und Natur.
1 2 3 4
Vgl. T. Hoffmann, „Spontaneität", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9,S. 1424. Vgl. ebd. Vgl. T. Hoffmann, „Selbstbewegung", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, S. 347. Henricus de Gandavo, Quodlibet IX, q. 5. (ed. R. Macken, Opera omnia, Bd. 13, S. 1.)
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Einleitung
Der Begriff der Selbstbewegung und ebenso der daran angeschlossenen Begriff der Spontaneität ist für die Theorie des Willens und seiner Freiheit von entscheidender Bedeutung. Die Tätigkeit des Willens ist nichts anderes als eine Ausdrucksform der Spontaneität. Nach Aristoteles heißt Natur das innere Tätigkeitsprinzip eines Wesens und daher kommt jedem natürlichen Wesen gewisse Spontaneität zu, sofern sich das Prinzip seiner Tätigkeit in ihm selbst findet. 5 In der Reihe der Spontaneität, die in der Natur beobachtet wird, hat der menschliche Wille in dem Sinne den höchsten Platz, dass er Freiheit besitzt. Wie kann man aber die Freiheit des Willens metaphysisch begreifen und begründen? Ein gängiger Weg, die Freiheit des Willens zu begründen, wird bei Augustinus und in der von ihm herkommenden Tradition gefunden. Bei Augustinus beruht die Freiheit des Willens auf der Evidenz der Empirie in unserem Bewusstsein.6 Aber das faktische und evidente Freiheitsbewusstsein allein scheint für die vollständige Begründung der Willensfreiheit nicht zu genügen, denn man kann gerade diese Evidenz als etwas annehmen, was auf einen Ursprung zurückgeführt und als falsch oder wahr bewertet werden soll.7 Daher muss man versuchen, über die Anerkennung des Freiheitsbewusstseins hinaus das Phänomen der Freiheit des Willens von ihrer metaphysischen und begrifflichen Grundlage her zu erklären. Dabei kommt es vor allem auf die folgenden Fragen an: Ist diese Grundlage für die Freiheit in der Spontaneität des Willens zu finden? Oder ist die Freiheit eher auf die Rationalität der Erkenntnis zurückzufuhren? Die Positionen angesichts dieser Fragestellung, die geläufig als Voluntarismus und Intellektualismus bezeichnet werden, spiegeln jeweils die miteinander kontrastierenden anthropologischen Perspektiven wider. Die Bedeutung des 13. Jahrhunderts ist darin zu sehen, dass im unmittelbaren Aufeinandertreffen von entgegengesetzten, aber zugleich universellen Weltdeutungen die grundlegenden Probleme der Philosophie untersucht wurden.8 Aus den Problemen wird auch das Problem der Freiheit des menschlichen Willens nicht ausgeschlossen. Einerseits verbreitete sich die Tendenz der de-
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Vgl. E. Gilson, The Spirit of Mediaeval Philosophy, S. 305f. Vgl. De libero arbitrio I, 12, 26 (CCSL 29, S. 228). „Quid enim tarn in voluntate quam ipsa voluntas sita est?"; III, 1, 3 (S. 276). „Non enim quicquam tam forme atque intime sentio quam me habere voluntatem eaque me moveri ad aliquid fruendum; quid autem meum dicam prorsus non invenio si voluntas qua volo et nolo non est mea." Vgl. D. Welp, Willensfreiheit bei Thomas von Aquin, S. 16. Vgl. R. Schönberger, „Rationale Spontaneität. Die Theorie des Willens bei Albertus Magnus", in: Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren: Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven (hrg. von W. Senner), S. 221.
Einleitung
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terministischen Psychologie als eine Folge der Aristoteles-Rezeption, andererseits bildet sich als Reaktion gegen diese Tendenz eine anthropologischtheologische Tradition, welche die Souveränität des Willens besonders betonte. Diese Tradition, die durch die franziskanischen Denker - jedoch nicht ausschließlich durch die Angehörigen des Franziskanerordens - entwickelt wurde, erreicht endlich beim Voluntarismus des Duns Scotus und Wilhelm Ockhams ihren Höhepunkt, worin man die Ansätze für den Wandel des Freiheitsverständnisses zur frühen Neuzeit finden kann.9 Der Brennpunkt der Diskussion um den menschlichen Willen und seine Freiheit liegt aber nicht zuletzt in der Problematik des Verhältnisses zwischen Willen und Verstand. Während die Aristoteliker im Akt des Willens hauptsächlich den Einfluss des erstrebbaren Gegenstandes sehen und den Willen als movens motum bestimmen, wollen ihre Gegner den Willen aus dem naturhaften und intellektualistischen Notwendigkeitszusammenhang befreien. Die voluntaristischen Denker greifen als Ansatzpunkt ihrer Position den Begriff der Selbstbewegung auf und durch diesen Begriff zeichnen sie den Willen vor dem Kausalnexus der Natur aus. Welche Stellung nimmt Thomas von Aquin angesichts der genannten Problematik ein? Von welcher Bedeutung ist der Gedanke des Doctor communis von der Willensfreiheit in dieser Auseinandersetzungssituation des 13. Jahrhunderts? In welchem Sinne und in welcher Weise legt Thomas die Selbstbewegung des Willens dar? Um diese Fragen zu beantworten, muss man die Perspektive auf den historischen und polemischen Kontext des thomasischen Gedankens besonders beachten. Aus dieser Perspektive scheint es aber, dass sich die thomasische Freiheitslehre nicht als ein statisches und geschlossenes System, sondern eher als ein gewisser Entwicklungsvorgang darstellt, der in sich eine Vielfalt des Denkens enthält und durch die zeitgenössische Debatte um die Willensfreiheit geprägt ist. Weisheipl, ein bedeutender Biograph des Thomas, macht uns darauf aufmerksam, dass während des zweiten Aufenthalts in Paris eine ungewöhnliche Entwicklung in der Mentalität des Thomas stattgefunden hat.10 Nach Weisheipl ist die Entwicklung auch daran zu erkennen, dass der zweite Teil der theologischen Summe in eindrucksvoller Weise menschlich, rücksichtsvoll und vielfaltig ist, während der erste Teil kühl metaphysisch, exakt und kurz ist." Die Ent-
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Siehe vor allem: K. Riesenhuber, „Der Wandel des Freiheitsverständnisses von Thomas von Aquin zur frühen Neuzeit", in: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica 66. Vgl. J. Weisheipl, Friar Thomas d'Aquino, S. 244. Vgl. ebd. Weisheipl vermutet, dass diese Entwicklung in der Mentalität des Thomas eine Art mystischen Erlebnisses oder eine plötzliche, neue Einsicht in den apostolischen Cha-
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Einleitung
wicklung in der Mentalität des Thomas, auf die auch andere Thomasforscher hingewiesen haben,12 zeigt sich vor allem im Gedanken von der Willensfreiheit, obwohl die Mentalitätsentwicklung nicht auf das Problem der Willensfreiheit zu beschränken ist. Die Änderung im thomasischen Denken über dieses Problem wurde von Lottin zum ersten Mal entdeckt und seither wird sie weithin trotz des Spektrums der verschiedenen Interpretationen - akzeptiert. Die Frage nach der Entwicklung der Freiheitslehre des Thomas ist nicht nur deswegen wichtig, weil diese Frage für die Erörterung der Bedeutung seiner Freiheitslehre in historischer und polemischer Hinsicht unentbehrlich ist. Sie ist auch im Hinblick auf die Frage wichtig, ob und wie eine einheitliche Beschreibung der thomasischen Freiheitslehre überhaupt möglich ist. Wenn im thomasischen Gedanken von der Willensfreiheit eine solche Entwicklung stattgefunden hat, dass erst in den späten Werken die reife und vollständige Konzeption gefunden werden kann, kann die theoretische Einheit der thomasischen Freiheitslehre nur dadurch dargelegt werden, dass man sich auf die späten Texte als zentrale Grundlage für seine Beschreibung beruft. In dem Fall erweist sich eine Untersuchung als unpassend, die die frühen Werke, wie z.B. De veritate, als Grundtext annimmt und die Analyse dieser Texte mit einigen Kategorien aus den späten Werken ergänzt.13 Ist aber die so genannte Lehrveränderung auf die Weise geschehen, dass in der Entwicklung heterogene und entgegengesetzte Gedanken alternieren, wird die Beschreibung nichts mehr als ein eklektisches Mosaik sein, in der man die frühe und die späte Freiheitslehre des Thomas zusammen darstellt, ohne sie streng voneinander abzugrenzen. Wenn dagegen die
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rakter seines ganzen Wirkens ist. Weisheipl ist mit der Meinung Gauthiers einverstanden, dass Thomas dazu veranlasst wurde, seine bisherige, übertrieben intellektualistische Haltung zu mäßigen. Nach Weisheipl ist diese Entwicklung ein Erlebnis, das alle Schriften des Thomas nach 1270 tiefgreifend beeinflusst und seine Leistungsfähigkeit gesteigert hat. Vgl. ebd.; R. A. Gauthier, „La date du commentaire de saint Thomas sur l'Ethique ä Nicomaque", in: Recherches de theologie ancienne etmedievale (—RTAM) 18 (1951), S. 103. Vgl. Gauthier, ebd., D. Lottin, Psychologie et morale I, S. 252f.; H. D. Simonin, „Autour de la solution thomiste du probleme de l'amour", in: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du moyen age (= AHDL) 6 (1931), S. 190f. Siehe besonders S. 195. Die Untersuchung, die hauptsächlich auf der Lehre der De veritate beruht und dieser Lehre die erst im Spätwerk erstellte Unterscheidung zwischen Freiheit der Spezifikation und Freiheit des Vollzugs hinzufügt, hält Klubertanz fur die „klassische Erklärung über die thomasische Theorie der menschlichen Freiheit." Nach Klubertanz besteht das Charakteristikum dieser „klassischen Erklärung" darin, dass die Freiheit des Willens von der Freiheit des Urteils her verstanden wird und die Wahl exakt auf das Mittel bezogen wird. Vgl. G. Klubertanz, „The Root of Freedom in St. Thomas's Later Works", in: Gregorianum, XLII. 1 (1961), S. 702.
Einleitung
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Entwicklung nur scheinbar und oberflächlich ist und wenn sich die in den frühen Texten dargelegte Lehre trotz des scheinbaren Bruches in einer wesentlichen Kontinuität durch die ganzen Werke hindurch fortsetzt, ist die Unterscheidung der frühen und der späten Phase selbst nicht von Belang und die einheitliche Beschreibung der thomasischen Freiheitslehre ist ohne besondere Rücksicht auf die chronologische Entwicklung möglich. Die Frage nach der Entwicklung im thomasischen Denken bildet das grundlegende Motiv der vorliegenden Arbeit. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die Bedeutung und den Entstehungsvorgang der thomasischen Lehre von der Selbstbewegung des Willens im Zusammenhang mit der historischen Situation der Debatten um die Willensfreiheit in den 60er Jahren des 13. Jahrhunderts zu erörtern. Die Lehre von der Selbstbewegung des Willens wird erst nach 1270, bzw. in der Summa theologiae I—II und in De malo q. 6 intensiv dargelegt. Die Entstehung dieser Lehre des Thomas kann man als ein Ergebnis seines Disputs mit den zeitgenössischen Theoretikern verstehen. Walter von Brügge und Gerhard von Abbeville werden als diejenigen Zeitgenossen angenommen, welche durch die Kritik am frühen Freiheitsgedanken des Thomas auf seine Lehre von der Selbstbewegung des Willens Einfluss ausgeübt haben.14 Wir werden untersuchen, wie sich die Lehre des Thomas von der Selbstbewegung des Willens zu
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Als ein wichtiger Kritiker der thomasischen Freiheitslehre gilt auch John Peckham, der ein zeitgenössischer Magister aus dem Franziskanerorden und der spätere Erzbischof von Canterbury war. Thomas und Peckham haben in den verschiedenen Kontroversen - z.B. in den Kontroversen über die Einheit der substanziellen Form im Menschen oder über die Ewigkeit der Welt - miteinander diskutiert. Aber es scheint nicht, dass Peckham auf die Veränderung der thomasischen Freiheitslehre einen konkreten Einfluss ausgeübt hat. Denn das Werk „ Tractatus de anima", in dem Peckham den Willen und seine Freiheit intensiv thematisiert hat, und das wohl der thomasischen Freiheitslehre ein neues polemisches Denkmotiv hätte geben können, wurde wahrscheinlich erst nach dem Tod des Thomas, d.h. zwischen 1277 und 1279 verfasst. (Vgl. Tractatus de anima loannis Pecham, ed. G. Melani, Introductio XLIXf). Peckham hat aber auch zu Lebzeiten des Thomas - interessanterweise sobald Peckham den Lehrstuhl des franziskanischen Magisters in der theologischen Fakultät an der Pariser Universität übernommen hat - eine kritische Anmerkung gegen die thomasische Willensvorstellung gemacht. (Vgl. Quodlibet I, q. 5, ad 6; ed. G. J. Etzkorn, S. 19, n. 27). Jedoch ist es eben sowenig wahrscheinlich, dass diese Kritik die späte thomasische Freiheitslehre beeinflusst hat. Dafür können wir wohl zwei Gründe nennen: Erstens, die Kritik an der thomasischen Willensvorstellung im Quodlibetum Peckhams ist inhaltlich gesehen sehr fragmentarisch. Überdies ist es auch in zeitlicher Hinsicht nicht ganz sicher, dass Thomas das erste Quodlibetum Peckhams, das in der Fastenzeit 1270 datiert, vor der Abfassung seiner späten Freiheitstraktate - Prima secundae q. 1 - 1 8 und De malo q. 6 - , deren Entstehungszeit vermutlich gegen 1270 ist, gelesen hat.
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Einleitung
seiner frühen Lehre und zu den Lehren seiner Zeitgenossen verhält. Indem wir den inneren und äußeren Kontext der thomasischen Freiheitslehre rekonstruieren, beabsichtigen wir mit der kritischen Würdigung der von Lottin dargestellten Lehrveränderungsthese die Frage zu beantworten, ob und inwiefern sich die thomasische Freiheitslehre verändert hat. Nun skizzieren wir kurz unser Untersuchungsverfahren, bevor wir auf das eigentliche Thema dieser Arbeit eingehen. Zunächst müssen wir durch eine vorbereitende Untersuchung den Hintergrund der thomasischen Lehre von der Selbstbewegung des Willens deutlich machen. Dabei geht es um den geistesgeschichtlichen wie auch den theoretischen Hintergrund. Einerseits muss man die historischen Entwicklungslinien der Freiheitskonzeption nachzeichnen und ebenso in die polemische Situation des 13. Jahrhunderts einen Einblick verschaffen, wo das Problem der Selbstbewegung des Willens diskutiert wurde. Andererseits muss man auch den theoretischen Hintergrund der Debatte um die Selbstbewegung des Willens verstehen. Als dieser Hintergrund gilt vor allem der Bewegungsbegriff und das so genannte Bewegungsaxiom des Aristoteles. Dabei ist es auch wichtig, die aristotelische Konzeption der seelischen Bewegung zu verstehen. Nach den Vorüberlegungen werden wir die folgenden Schritte tun: Im zweiten Kapitel betrachten wir in den früheren Werken des Thomas die Lehre von der Willensbewegung und die Begründung der Freiheit.15 Danach wird im dritten Kapitel die Willenslehre Walters und Gerhards
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Hier müssen wir kurz von der Chronologie der thomasischen Werke reden. Unter den frühen Werken verstehen wir diejenigen, die in den 50er und 60er Jahren des 13. Jahrhunderts geschrieben wurden. Und als die späten Werke nehmen wir diejenigen an, die nach 1270 geschrieben wurden, vor allem Prima secundae und De malo q. 6. Die für diese Arbeit wichtigen Schriften können wir wie folgt chronologisch einordnen. Super I -IV Sententiarum: 1253 - 1 2 5 7 . Quaestiones disputatae de veritate: 1256-1259. Summa contra gentiles: 125 8 - 1 2 6 4 . Erster Teil der summa theologiae: oct. 1266-1268. Sententia libri De anima: dec. 1267-sept. 1268. In Aristotelis librosphysicorum: 1268-1270. Zweiter Teil der summa theologiae: 1271. Sechste quaestio de malo: 1270-1271. Sententia libri Ethicorum: 1271-1272. Diese Einordnung beruht auf dem jüngsten Index der thomasischen Werke in der Leonina Ausgabe. Vgl. Opera omnia 25-2 (Editio Leonina), S. 4 7 9 - 5 0 0 . Es findet sich aber einige Abweichungen bei der Werkliste von Eschmann und bei der von Torrell. Vgl. Gilson, The Christian Philosophy of St. Thomas Aquinas, Appendix, S. 3 8 1 - 4 3 7 . Siehe auch Weisheipl, ebd., 3 5 5 - 4 0 5 ; Torrell, Saint Thomas Aquinas, vol. 1, S. 3 3 0 - 3 6 1 .
Einleitung
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behandelt, die als eine kritische Reaktion auf die frühe Freiheitsbegründung des Thomas angesehen wird. Anschließend wird im vierten Kapitel wieder die Lehre des Aquinaten aufgegriffen. Es wird nämlich über die thomasische Replik im Disput, d.h. über die Lehre von der Selbstbewegung des Willens in den späteren Werken des Thomas, Aufschluss gegeben. Im fünften Kapitel werden wir die bisherigen Interpretationen des Problems der Lehrveränderung überprüfen und die wesentlichen Streitpunkte in den Interpretationen rekapitulieren. Dadurch können wir versuchen, eine relevante Interpretation des genannten Problems vorzuschlagen.
Kapitel I. Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
1. Historischer Hintergrund 1.1. Die Ursprünge und die Entwicklung des Freiheitsbegriffes bis zum 13. Jahrhundert (1) Nikomachische Ethik des Aristoteles Der mittelalterlichen Diskussion um die Freiheit des Willens liegt ein durch sehr komplexe geschichtliche Phasen der unterschiedlichen Traditionen entwickelter Begriff der Freiheit zugrunde. Trotz der ins Grundsätzliche gehenden Variabilität des Freiheitsverständnisses kann der Begriff der Freiheit in allgemeiner Hinsicht von zwei Ursprüngen her erfasst werden: Der eine davon ist die Nikomachische Ethik des Aristoteles, wo er als erster eine theoretische Analyse der menschlichen Handlung aufgestellt hat. In der Nikomachischen Ethik legt er die Grundbegriffe dar, anhand deren man die Eigenart der menschlichen Handlung erfassen kann, wie z.B. Praxis, Streben, Freiwilligkeit, Wählen, Akrasia, Verantwortlichkeit, Tugend. Davon gilt vor allem der Begriff des Wählens (prohairesis) als wichtiger Ansatz fur die mittelalterliche Freiheitskonzeption. Nach Aristoteles ist die Handlung des Menschen deswegen von der Bewegung der anderen Lebewesen unterschieden, weil der Mensch durch die Wahl seine Handlung hervorbringt. Um den Begriff des Wählens zu verstehen, durch welches die Handlung des Menschen zum Gegenstand des Lobens und des Tadels wird, muss man zwei Aspekte der menschlichen Handlung ins Auge fassen. Einerseits schließt sich das Wählen an die freiwillige (hekousion) Handlung, die den aus Unwissenheit (di agnoian) oder unter Zwang (bia) erfolgenden Handlungen gegenübersteht. Damit eine Handlung freiwillig ist, muss das Prinzip für die Bewegung im Handelnden selbst stehen, und der Handelnde
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Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
muss die einzelnen Umstände der Handlung kennen.1 Aber der Begriff des Wählens erschöpft sich nicht in der Freiwilligkeit einer Handlung, denn auch Kinder oder Tiere können ja freiwillig handeln, ohne eine Wahl zu treffen. 2 Damit der Mensch die Wahl trifft, muss er überlegen, welches für ihn der gute Gegenstand ist, und gerade auf dem Wählen im Sinne der bewussten und überlegenden Entscheidung beruht der moralische Charakter einer Handlung. So definiert Aristoteles das Wählen als ein von Überlegung bestimmtes Streben (bouleutike orexis).3 Das Wählen enthält also in sich nicht nur das voluntative und freiwillige Moment, sondern auch das kognitive Moment, d.h. die vernünftige Überlegung des Strebensgegenstandes.4 Diese beiden Momente im Wählen besagen, dass der Mensch ein der natürlichen Form des Menschen zukommendes Streben besitzt und durch die Verknüpfung dieses Strebens mit der Vernunft das Wählen als ein Ausdruck der dem Menschen eigenen Wirkursächlichkeit geschieht. Von diesen Momenten ist die Sicht des Aristoteles grundlegend geprägt: Einerseits wird der Wille als eine bestimmte Form des Naturstrebens angesehen, und das willentliche Wählen drückt die Spontaneität einer bestimmten Natur als inneren Prinzips für die Tätigkeit aus. Aber sofern die willentliche Entscheidung ohne Vernunft undenkbar ist, wird andererseits auch der Unterschied des menschlichen Tätigkeitsprinzips von der entscheidungsunfähigen Natur angedeutet.5 Da der Mensch fähig ist, seinen Strebensgegenstand zu wählen, kann nämlich er nicht nur die Ursache, sondern der Herr (kyrios) seiner Tätigkeit genannt werden, und gerade in diesem Punkt taucht das Spezifikum des Menschen als eines vernünftigen Wesens auf.
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Vgl. Nikomachische Ethik III, c. 3, 111 la22f. Was unter Zwang oder aus Unwissenheit geschieht, wird hingegen als unfreiwillig (akousion) bezeichnet. Vgl. a.a.O. III, c. 1, 1109b35f. Vgl. a.a.O. III c. 4, 111 lb8f. „Das Wählen ist etwas Freiwilliges, fallt aber nicht mit dem Freiwilligen zusammen, sondern letzteres hat einen weiteren Umfang. Das Freiwillige oder Spontane findet sich auch bei den Kindern und den anderen Sinnenwesen, eine Wahl dagegen nicht; und rasche Handlungen des Augenblicks nennen wir zwar freiwillig, sagen aber nicht, dass sie aufgrund vorbedachter Wahl geschehen sind." Vgl. a.a.O. III, c. 5, 1113al0f. „Da also Gegenstand der Entscheidung etwas von uns Abhängiges ist, nach dem wir mit Überlegung streben, so ist auch die Entscheidung ein überlegtes Streben nach etwas, was in unserer Macht steht."; a.a.O. VI, c. 2, 1139b5f.; De motu animalium 6, 700b23. Vgl. Nikomachische Ethik III, c. 4 - 7 ; VI, c. 2. Vgl. Gilson, L 'esprit de la philosophic medievale, S. 286.
Historischer Hintergrund
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(2) Der christliche Ursprung bei den Kirchenvätern Darin, dass der Mensch aufgrund der rationalen Urteilskraft über das gute Mittel entscheiden kann und er in diesem Sinne von der äußeren Welt unabhängiger ist als die anderen Wesen, besteht Gemeinsamkeit zwischen dem aristotelischen und dem christlichen Gedanken. Aber während Aristoteles weder den expliziten Begriff der Freiheit noch den des freien Willens gekannt hat, auch wenn er gelehrt hat, dass der Begriff des Wählens den Begriff des „hekousion" - dieser Begriff steht inhaltlich dem nahe, was wir heute psychologische Freiheit nennen - voraussetzt, wurde die Freiheitskonzeption in der christlichen Tradition als selbstverständlich anerkannt und stark betont.6 Dies ist ersichtlich vor allem im Begriff des „liberum arbitrium (freie Entscheidung)", der von sehr früher Zeit an in der christlichen Tradition bekannt war. Der Terminus des liberum arbitrium tritt eigentlich als lateinische Übersetzung des neuplatonischen Begriffes „autexousion" auf, und wurde seit den frühen Kirchenvätern als ein technischer Terminus gebraucht, der die Fähigkeit des Menschen ausdrückt, frei zu wollen.7 Obwohl im Gedanken der Kirchenväter über die Freiheit die neuplatonischen, stoischen und peripatetischen Einflüsse zu spüren sind, wurde er wesentlich durch die theologische und religiöse Spekulation geprägt. Die Bibel und die Verkündung der Urkirche sind zwar nicht die einzige, aber die wichtigste Quelle für die Freiheitsüberzeugung der Kirchenväter. Während sich die griechische Philosophie begnügt, mit Aristoteles den Freiheitsgedanken auf die Aussage des sittlichen Bewusstseins zu stützen, wird jetzt die Freiheit nicht zuletzt in theologischer Hinsicht begründet.8 Gott hat mit der Erschaffung dem Menschen zwar ein Gesetz gegeben, aber zugleich auch die Freiheit, sich selbst sein Gesetz vorzuschreiben, sodass selbst das göttliche Gesetz den menschlichen Willen keineswegs zwingen kann. Um den Weg zu seinem endgültigen Geschick zu entscheiden, muss sich der Mensch also auf sich selbst stützen, statt von irgendeiner zwangsläufigen äußeren Kraft abhängig zu sein. Er besitzt wahre Unabhängigkeit, wodurch er seinerseits effektiv auf sein eigenes Geschick einwirken kann und somit auch die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen muss. Der Grund dafür, dass die Kirchenväter von den philosophischen Traditionen den Begriff des „autexousion" - das Freiheitliche im Sinne des Unabhängigen - überhaupt aufgenommen haben, ist eigentlich in ihrer Glaubensüberzeugung zu sehen, Gott habe den Menschen deswegen frei
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Vgl. Gilson, a.a.O. S. 287. Vgl. Wittmann, Die Ethik des hl. Thomas von Aquin, S. 122. Vgl. Wittmann, ebd.
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erschaffen, weil Er den Menschen dafür verantwortlich machen will, an sein letztes Ziel zu gelangen.9 So waren die christlichen Denker seit den apostolischen Vätern von der menschlichen Freiheit überzeugt und zwar unter Berufung auf die vielen davon handelnden Bibelstellen.10 Dies war besonders bei Origenes (+254?), Gregor von Nyssa (+395?) und Nemesius (Ende des 4. Jh.) der Fall. Aber der bedeutendste Vater, der im abendländischen Mittelalter tiefgreifend nachwirkt, ist der Heilige Augustinus. Die zentrale Aufgabe seines Denkens liegt darin, das Problem des Bösen zu erläutern, und zwar im Hinblick auf das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wollen. Der Ursprung des Bösen besteht nicht in der von Gott mangelhaft geschaffenen Natur, denn dann gälte Gott selbst als der Urheber des Bösen, sondern nur im freien Wollen des Menschen. Der freie Wille ist an sich gut, sofern er auch von Gott geschaffen ist, aber nicht vollkommen gut, sofern er ein Geschaffenes ist.11 Deswegen war der Abfall des Menschen ja nicht notwendig, aber doch möglich. Der Mensch war aus seinem freien Willen abgefallen, aber damit der Mensch vor dem Bösen gerettet wird, ist der freie Wille nicht ausreichend, sondern dafür braucht der Mensch Hilfe von der Seite Gottes, d.h. die Gnade.12 Die Gnade ist zwar unentbehrlich, aber sie hebt den freien Willen keineswegs auf, denn dann bliebe nichts mehr, was die Hilfe der Gnade aufnehmen kann.13 Die Freiheit des Willens wird aber bei Augustinus nicht nur in theologischer und religiöser Hinsicht, sondern auch empirisch als evident angenommen. Nichts ist nämlich klarer als die Tatsache, dass die Akte, die dem Willen entspringen, dem Willen selbst unmittelbar zur Verfugung stehen.14 Es liegt ja gänzlich in der Macht des Willens, zu wollen
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Vgl. Gilson, a.a.O. S. 284. Vgl. W. Warnach, „Freiheit", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 1076f. Die Bibelstellen, die für das Freiheitsverständnis wichtig sind, finden sich vor allem in Genesis und in den Paulusbriefen, wie z.B. Genesis 3 , 1 - 8 ; 2 Corinth. 3,17. Vgl. H. Seidl, Sittengesetz und Freiheit, S. 7 5 - 8 5 ; K. Niederwimmer, Der Begriff der Freiheit im Neuen Testament, S. 168f. 11 Vgl. De libero arbitrio II, 18, 4 8 - 4 9 (CCSL 29, S. 269-270). 12 Vgl. De libero arbitrio II, 20, 54 (S. 273). „sed quoniam non sicut sponte homo cecidit ita etiam surgere potest, porrectam nobis desuper dexteram Dei, id est dominum nostrum Iesum Christum, firma fide teneamus et exspectemus certa spe et caritate ardenti desideremus."; Retractiones 4. „Voluntas ergo ipsa nisi dei gratia liberetur a Servitute, qua facta est serva peccati..." 13 De libero arbitrio III, 3, 6 - 7 (S. 277-279). 14 Vgl. De libero arbitrio I, 13, 29 (S. 231). „...ut nihil aliud ei quam ipsum velle sit habere quod voluit."; II, 20, 54 (S. 273) „Qui tarnen defectus quoniam est voluntarius in nostra est positus potestate. Si enim times ilium, oportet ut nolis; si autem nolis, non erit. Quid ergo
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oder nicht zu wollen. Sofern der Wille und der Akt des Willens untrennbar sind, wird die Freiheit mit dem Willen selbst zusammengelegt.15 Die Freiheit wird als so identisch mit dem Willen oder mit dem vom Willen durchgeführten Entscheidungsakt angenommen, dass ohne Freiheit der Wille selbst aufgehoben würde. Es kann nämlich den Willen nicht geben, der sich nicht in seiner Macht hat und der Notwendigkeit unterliegt. (3) Die Entwicklung der Freiheitskonzeption in der christlichen Tradition Während die Begriffe der Nikomachischen Ethik des Aristoteles bis zum 13. Jahrhundert nicht im Vordergrund des abendländischen Freiheitsgedanken standen, war der Begriff des liberum arbitrium in der christlichen Tradition als ein Kernwort der Freiheitslehre allgemein bekannt. Aber in Bezug auf die Art und Weise, den Begriff zu verstehen, zeigen sich bei jeweiligen Autoren viele Varianten, wie Gilson sogar einmal sagt, kaum irgendwo schwanke die Terminologie so stark wie bei dem Problem des liberum arbitrium.16 Trotz der ständigen Sinnvariationen können wir aber zunächst zwei wichtige Tendenzen beobachten, welche die ganze christliche Tradition bestimmen. Die erste Tendenz kommt von Augustinus her und findet bei Duns Scotus ihre endgültige Gestalt. Dort wird die Freiheit meist als eine empirisch evidente Tatsache des Bewusstseins angenommen und mit dem Willen selbst gleichgesetzt. Man kann schon in De fide orthodoxa, welches Johannes Damascenus (+749) im Anschluss an Gregor von Nyssa, Nemesius und Maximos dem Bekenner verfasst hat, die Identifikation des Willens und der Freiheit finden, welche in der griechischen Philosophie nicht zu ermitteln war.17 Die augustinisch-voluntaristische Tendenz
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securius quam esse in ea vita ubi non possit tibi evenire quod non vis?"; III, 3, 7 (S. 279). „Quapropter nihil tarn in nostra potestate quam ipsa voluntas est... ,ηοη voluntate autem volumus' quid vel delirus audeat dicere?" Vgl. De libero aribrio III, 3, 8 (S. 280). „Dum autem volumus, si voluntas ipsa deest nobis, non utique volumus. Quod si fieri non potest ut dum volumus non velimus, adest utique voluntas volentibus nec aliud quicquam est in potestate nisi quod volentibus adest. Voluntas igitur nostra nec voluntas esset nisi esset in nostra potestate. Porro, quia est in potestate, libera est nobis." Vgl. Gilson, a.a.O. S. 289. Vgl. De fide orthodoxa, c. 58. „Autexusiotis autem (id est liberum arbitrium) nihil aliud est, nisi voluntas." (Ed. von Buytaert, S. 218) In seinem Werk, das im 12. Jh. durch Burgundio von Pisa ins Lateinischen übersetzt und im lateinischen Mittelalter viel gelesen wurde, definiert Johannes Damascenus den Willen (thelesis, voluntas) Nemesius zufolge als naturhaftes, vitales und rationales Streben, und sieht das Wollen (boulesis) und das Wählen (prohairesis) als Akt des Willens an. Vgl. a.a.O., c. 36. (S. 133f.). Die oben ange-
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beruht aber vor allem auf der Einstellung, den Akt der freien Entscheidung in der spontanen Bewegung des Willens zu sehen. Diese Einstellung wird durch zwei bedeutende Repräsentanten, Anselm von Canterbury und Bernhard von Clairvaux, deutlich verkörpert. Die grundlegende Position, auf der Anselm (+1109) besteht, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Freiheit des Willens weder durch äußere Gewalt überwindbar und noch verlierbar ist, soweit der Wille überhaupt existiert. Die spontane Tätigkeit des Willens, d.h. die Tätigkeit aus dem eigenen Antrieb des Willens, kann keineswegs erzwungen sein; durch die Androhung des Todes kann jemand zwar gezwungen werden, eine Lüge zu äußern, aber nichts kann ihn dazu zwingen, mehr das Leben zu wollen als die Wahrheit.18 Der Wille kann also nicht durch eine Fremdeinwirkung - mag diese sogar die stärkste Versuchung sein - besiegt werden, sondern nur durch seine eigene Macht. Die Freiheit im Sinne der Unbesiegbarkeit durch irgendetwas anderes ist mit dem Willen so untrennbar verknüpft, dass sie dem Willen auch im Zustand der Knechtschaft der Sünde gegeben ist.19 Interessant ist, dass die so dargelegte
führte Stelle gehört zum Zitat von Maximos dem Bekenner (+662); Vgl. Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, S. 601; Lottin, Psychologie et morale I, S. 395. 18 De libertate arbitrii, c. 5. „...et vult mendacium quia propter vitam, et non vult mendacium propter ipsum mendacium, quoniam vult veritatem, et ideo volens et nolens mentitur... quia mentiendo vult earn [= veritatem] deserere propter vitam, secundum quam voluntatem non invitus earn deserit sed volens, de qua voluntate nunc loquimur... Sicut igitur qui mentitur propter vitam, improprie dicitur invitus mentiri, quoniam mentitur volens: ita non proprie dicitur invitus velle mentiri, quoniam hoc non nisi volens vult. Nam sicut cum mentitur, vult ipsum mentiri: sic cum vult mentiri, vult ipsum velle." 19 Dafür führt Anselm das Gleichnis an, dass das Sehvermögen bei fehlendem Sonnenschein nicht schwindet. Vgl. a.a.O. c. 12. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass Anselm die Freiheit nicht als die Fähigkeit, zu sündigen oder nicht zu sündigen, sondern als die Fähigkeit definiert, die Rechtheit (rectitudo) des Willens um ihrer selbst willen zu bewahren. Vgl. a.a.O. c. 1; c. 3. „Ergo quoniam omnis libertas est potestas, illa libertas arbitrii est potestas servandi rectitudinem voluntatis propter ipsam rectitudinem." Bestünde die Freiheit der Entscheidung einfach in der Fähigkeit zu sündigen, würde es besagen, dass Gott und Engel nicht frei wären. Die Freiheit im anselmischen Sinne besitzt der Wille als ein unverlierbares Vermögen immer, da sogar Gott dem Willen die Rechtheit insofern nicht nehmen kann, als der Wille selbst es nicht will. Vgl. a.a.O. c. 8; c. 12. „Potestatem autem servandi rectitudinem semper habet, et cum rectitudinem habet et cum non habet; et ideo semper est Uber."; F. Baeumker, Die Lehre Anselms von Canterbury über den Willen und seine Wahlfreiheit, S. 12ff. Die Ablehnung der damals üblichen Freiheitsdefinition als Fähigkeit zu sündigen oder nicht zu sündigen können wir auch bei Bernhard von Clairvaux beobachten: „Alioquin nec Deus, nec angeli sancti, cum ita sint boni, ut non possint esse et mali, nec praevaricatores
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Position an die geschichtlich belangreiche Einsicht Anselms in die Willensdynamik angeschlossen ist. Nach Anselm wird der Wille in erster Linie als die Kraft definiert, durch welche die Seele will, wie das Instrument zum Gebrauch.20 Aber der Wille als Instrument des Wollens bewegt sich selbst, und zugleich bewegt er die anderen Instrumente, deren man sich von sich aus (sponte) bedient.21 Alle gewollten Akte ergeben sich aus dem Willen als Ursache für diese. Sofern der Wille als selbstbewegendes Instrument seinen Akt determiniert, kann bei den Entscheidungen des Willens die notwendige Kraft von Fremdeinwirkung eigentlich nicht in Frage kommen.22 Die anselmische Bestimmung des Willens als selbstbewegendes Instrument bietet den späteren Scholastikern einen wichtigen Ansatz, welche im Hinblick auf die universale Bewegungsmacht des Willens den Primat des Willens feststellen und dadurch die Freiheit begründen wollen. Schon beim Hl. Bernhard von Clairvaux (+1153), der die von Anselm vertretene augustinische Grundlinie eindrucksvoll wiederholt, taucht die Erkenntnis des Willenprimats auf. Bernhard bezeichnet nämlich die Vernunft als Dienerin (pedissequa) im Verhältnis zum Willen, die jedes Mal ihn begleitet, wenn er sich bewegt, aber keinesfalls ihm Notwendigkeit auferlegt.23 Bernhard will hier betonen, dass für den Willen auf keinen Fall - sowohl in Hinsicht auf die ihn begleitende Vernunft als auch
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item angeli, cum ita sint mali, ut iam non valeant esse boni, liberi arbitrii esse dicentur." De gratia et libero arbitrio, X, 35 (ed. Winkler, Bd. 1, S. 222). Vgl. De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae Dei cum libero arbitrio, III, 11. „Est namque ratio in anima, qua sicut suo instrumenta utitur ad ratiocinandum, et voluntas, quia utitur ad volendum... ita velle est uti voluntate quae est instrumentum volendi, et usus eius est voluntas, quae non est, nisi quando cogitamus quod volumus." ebd. „Voluntas quidem instrumentum movet omnia alia instrumenta quibus sponte utimur, et quae sunt in nobis - ut manus, lingua, visus - , et quae sunt extra nos - ut stilus et securis - , et facit omnes voluntarios motus; ipsa vero se suis affectionibus movet. Unde dici potest instrumentum se ipsum movens." Vgl. De concordia, I, 6. „Nempe sola voluntas determinat ibi quid teneat, nec aliquid facit vis necessitatis, ubi operatur electio sola voluntatis." Vgl. De gratia et libero arbitrio, II, 3 (ed. Winkler, Bd. 1, S. 168). „Habet [voluntas] sane, quocumque se volverit, rationem semper comitem et quodammodo pedissequam: non quod semper ex ratione, sed quod numquam absque ratione moveatur, ita ut multa faciat per ipsam contra ipsam, hoc est per eius quasi ministerium, contra eius consilium sive iudicium... Est vero ratio data voluntati ut instruat illam, non destruat. Destrueret autem, si necessitatem ei ullam imponeret, quominus libere pro arbitrio sese volveret, sive in malum consentiens appetitui aut nequam spiritui... sive ad bonum gratiam sequens.."; Lottin, La theorie du libre arbitre depuis s. Anselme jusqu α 5. Thomas d'Aquin, S. 9f.
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in Hinsicht auf irgendeine äußere Gewalt - Notwendigkeit verträglich ist.24 Die Freiheit von Notwendigkeit {libertas a necessitate) gehört der Natur des Willens zu, und sie wird auch nach dem Sündenfall nicht getilgt.25 Mit der Freiheit von Notwendigkeit kann sich nur der Wille bewegen, und damit kann nur er die lobenswerte oder tadelnswerte Handlung hervorbringen.26 Dies wird durch das liberum arbitrium ermöglicht, das nach Bernhard in der freiwilligen Zustimmung {consensus voluntarii) besteht und als eine Haltung der Seele, die frei über sich verfugt {habitus animi liber sui), bestimmt wird.27 Das liberum arbitrium setzt er als eine die Natur des Willens ausmachende Erfahrungstatsache voraus, statt es zu beweisen. Das liberum arbitrium ist ja dem Menschen als „Freiheit der Natur {libertas naturae)"28 gegeben. Die Feststellung, dass der Wille und seine Zustimmung von Natur aus die Notwendigkeit des Zwangs ausschließen, wird wie folgt lakonisch ausgedrückt: Wo Notwendigkeit ist, ist kein Wille, und wo kein Wille ist, ist keine Freiheit.29
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Dafür wird ein klares Beispiel angeführt, das dem sachlichen Inhalt nach mit dem oben vorgestellten anselmischen Beispiel übereinstimmt: Der Hl. Petrus wird zwar durch das drohende Schwert zur Verleugnung genötigt, aber doch mit seiner Zustimmung „aktiv" genötigt. Dies ist in Wirklichkeit kein Zwang. Vgl. De gratia et libero arbitrio, XII, 40 (S. 194f.). „Est ergo compulsio quaedam etiam activa... Cogebatur christianus negare Christum, et quidem dolens, non tarnen nisi volens... Porro talem esse illam voluntatem convincebat gladius, non cogebat." Dagegen gehen die Freiheit von Sünde (libertas a peccato) und die Freiheit von Elend (libertas a miseria) nach der Sünde verloren, die sich jeweils auf die freie Überlegung (liberum consilium) und auf das freie Wohlgefallen (liberum complacitum) beziehen und jeweils auch als Freiheit der Gnade (libertas gratiae) und als Freiheit der Herrlichkeit (libertas gloriae) bezeichnet werden. Vgl. a.a.O., III, 6 - 8 (S. 170-172); Gilson, Die Mystik des heiligen Bernhard von Clairvaux, S. 81f.; 238f. Die Unterscheidung der dreifachen Freiheit durch Bernhard, wobei der Einfluss von Anselm von Laon (+1117) nicht übersehen werden soll, wurde von vielen Denkern aufgenommen, wie z.B. Johannes de la Rochelle, Philipp der Kanzler und Odo Regaldi. Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 132; S. 80f.; S. 162. Vgl. De gratia et libero arbitrio, II, 5 (S. 169). „De cetero quidquid hanc non habet voluntarii consensus libertatem, procul dubio et merito caret, et iudicio. Proinde universa quae hominis sunt, praeter solam voluntatem, ab utroque libera sunt, quia sui libera non sunt..." Vgl. a.a.O., I, 2 (S. 176). „Diffmitio consensus voluntarii. Est enim habitus animi, liber sui." Hier muss man beachten, dass das liberum arbitrium, bzw. die Freiheit der Zustimmung von der Spontaneität des Willens her erläutert wird. Vgl. ebd. „ubi autem voluntas non est, nec consensus. Non enim est consensus, nisi voluntarius. Ubi ergo consensus, ibi voluntas."; II, 3. „Verum consensus, nutus est voluntatis spontaneus..." a.a.O., III, 7 (S. 171). Vgl. a.a.O., I, 2 (S. 176). „Porro ubi voluntas, ibi libertas. Et hoc est quod dici puto liberum arbitrium."; VIII, 24 (S. 208). „Ubi enim non est voluntas, nec libertas."; II, 5
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Aber in der christlichen Geisteswelt findet sich neben der augustinischvoluntaristischen Tradition eine andere Tradition des Freiheitsverständnisses. Diese Tradition geht von Boethius (+524) aus, der sich als ein berühmter Aristotelesübersetzer mit der aristotelischen Philosophie ausgekannt hat. Gegen die Konzeption begrenzter Freiheit der Stoiker, welche die Freiheit nur in der willentlichen Hinnahme des notwendig determinierten Weltgeschehens sehen, betont er, dass die bloße Willenstätigkeit nicht ausreichend ist, um die vollständige Bedeutung der Freiheit zu erklären.30 Die Freiheit muss im Urteil und in der Überlegung der Vernunft liegen, denn ohne Vernunft kann man im Akt des Willens nur die blinde spontane Bewegung beobachten, und dann wäre der Wille nicht mehr vom Streben der Tiere unterschieden. Da Boethius einsieht, dass diese blinde Spontaneität mit der deterministischen und fatalistischen Weltanschauung ohne weiteres kompatibel ist, stellt er fest, dass der Begriff des liberum arbitrium mehr als Willenstätigkeit bedeuten muss. Eine Entscheidung wird nicht deswegen frei, weil sie vom Willen ausgeht, sondern weil sie dem Urteil der Vernunft untersteht, die die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten miteinander vergleicht und dem Willen vermittelt, die eine sei besser als die anderen. Da die Spontaneität des Willens nur durch den Vernunftakt zur Freiheit wird, besteht das liberum arbitrium nicht im Willen, sondern in dem Urteil der Vernunft.31 Diese Sicht des Boethius, die Gilson als „rationalisme integral"32 bezeichnet, hat im lateinischen Mittelalter ständig nachgewirkt, obwohl diese Nachwirkung im Ganzen gesehen nicht so stark war im Vergleich mit der von Augustinus ausgehenden voluntaristischen Position. Die intellektualistische Tendenz, das liberum arbitrium eher als eine Sache der Vernunft anzusehen, können wir auch am Anfang des 13. Jahrhunderts z.B. bei Magister Praeposi-
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(S. 180). „Potest quidem mutari voluntas, sed non nisi in aliam voluntatem, ut numquam amittat libertatem. Tarn ergo non potest privari illa, quam nec seipsa." Wir werden später sehen, wie tiefgreifend die voluntaristische Gleichsetzung der Freiheit mit dem Willen durch Bernhard den Schüler von Bonaventura, Walter von Brügge, beeinflusst, der sich immer wieder auf die „ubi voluntas, ibi libertas" bezieht. Vgl. In librum Aristotelis Peri Hermeneias, editio secunda, III, c. 9 (P.L.64, 492B; Carolus Meiser, S. 194f.) Vgl. ebd. „Nos autem liberum voluntatis arbitrium non id dicimus quod quisque voluerit, sed quod quisque iudicio et examinatione collegerit. Alioquin muta quoque animalia habebunt liberum voluntatis arbitrium... Sed est liberum arbitrium, quod ipsa quoque vocabula produnt, liberum nobis de voluntate iudicium... Ideo non in voluntate, sed in iudicatione voluntatis liberum constat arbitrium..." Gilson, a.a.O., S. 292.
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tinus und Wilhelm von Auxerre (+1231) finden.33 Überdies stehen auch die ersten dominikanischen Professoren an der Pariser Universität, Roland de Cremona (+1259) und Hugo de Saint Cher (+1263), dieser Tendenz nahe.34 Aber in dieser Zeit hat sich andererseits eine nachhaltige voluntaristische Tendenz durchgesetzt, wie man bei Petrus von Poitiers (+1205) und Wilhelm von Auvergne (+1249), und auch bei den meisten franziskanischen Magistern beobachten kann. 1.2. Die theoretische Situation der letzten Hälfte des 13. Jahrhunderts Nun gehen wir endlich auf das historische Feld ein, auf dem Thomas seine Lehre von der Willensfreiheit entfaltet hat. Da es nicht möglich ist, dass das ganze Spektrum der Freiheitskonzeptionen in der letzten Hälfte des 13. Jahrhunderts hier in Einzelheit dargestellt wird, beschränken wir uns darauf, die wesentlichen historischen Elemente, welche die theoretische Umgebung der Zeit des Thomas bestimmen, zur Sprache zu bringen. Hierbei ist zunächst die sogenannte Aristoteles-Rezeption zu nennen. Wie schon gesagt, wurde dem aristotelischen Ursprung, dessen Text der christlichen Tradition nicht überliefert war, bis zum 13. Jahrhundert relativ wenig Beachtung zuteil, obschon man dabei nicht sagen kann, dass dieser Ursprung in absolute Vergessenheit geraten ist.35 Erst im 13. Jahrhundert wird durch den intensi-
33 Vgl. Verweyen, Das Problem der Willensfreiheit in der Scholastik, S. 94; Lottin, Psychologie et morale I, S. 65. 34 Vgl. Lottin, a.a.O., S. 98f.; S. 105f. 35 Trotz der Abwesenheit des Texts war der aristotelische Ursprung nicht ausgerottet, sondern durch die verschiedenen Schulen wie die Stoa, die Peripathetiker und die Neuplatoniker der christlichen Tradition vermittelt. Dies können wir z.B. bei Nemesius von Emesa sehen, der in seinem De natura hominis in Anlehnung an die aristotelische Prohairesislehre die Unablösbarkeit des freien Entscheidungsvermögens von der geistigen Natur des Menschen nachweist. Vgl. De natura hominis, c. 40. (ed. G. Verbeke, S. 150) „Si enim non dominus fuerit gestionum, ex superfluo habet consiliari. Si vero hoc, ex necessitate assistit rationali liberum arbitrium... dominus autem existens gestionum, omnino liberi arbitrii erit."; Warnach, a.a.O. S. 1080f.; Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, S. 62. Der unmittelbare Einfluss der Nikomachischen Ethik wird aber vor allem in c. 2 8 - 3 3 gefunden: „Ostendit autem et quae in talibus gestionibus fit laus vel vituperatio, quoniam voluntariae sunt; involuntariarum enim operationum nulla laus vel vituperatio est." (c. 29; ed. G. Verbeke, S. 121); „Est enim voluntarium quod neque vi neque propter ignorantiam fit. Et est non vi quidem, cuius causa est in ipsis; non propter ignorantiam vero, si non particularium quid fuerit ignoratum per quae et in quibus est gestio. Componentes igitur alterutrum, determinamus voluntarium ita: voluntarium est, cuius principium est in se ipso scienti singularia in quibus est gestio." (c. 31; S. 125); „Concludi-
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ven Übersetzungsprozess der aristotelischen Texte die Gelegenheit gegeben, dass sich die beiden Ursprünge in der Tradition des abendländischen Freiheitsverständnisses unmittelbar miteinander konfrontieren. Was hierbei die entscheidende Rolle spielt, ist natürlich die Übersetzung der Nikomachischen Ethik. Die ersten lateinischen Übersetzungen der Nikomachischen Ethik erschienen bereits im 12. Jahrhundert und am Anfang des 13. Jahrhunderts, sie waren allerdings noch nicht vollständig. 36 Die vollständigere Übersetzung, welche die meisten Gelehrten im Mittelalter - auch Thomas von Aquin - benutzt haben, kam durch Robert Grosseteste (+1253) erst in den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts - wahrscheinlich 1246 oder 1247 - zustande. Was für eine Wirkung hat dann die Rezeption des aristotelischen Texts dem Freiheitsverständnis der mittelalterlichen Denker gebracht? Mit seinen Begriffen in der Nikomachischen Ethik hat Aristoteles nicht zuletzt beabsichtigt, die Handlungen des Menschen zu charakterisieren und die Bedingungen dafür zu erläutern, dass die Handlung des Menschen zurechenbar wird. Die aristotelischen Begriffe „hekousion" und „prohairesis", wobei es sich eigentlich nicht um einen rein psychologischen Sachverhalt handelt, wird nun von den christlichen Denkern als ein relevanter Ansatz aufgenommen, von dem her der Begriff der alten Tradition, d.h. das liberum arbitrium, zu erklären ist. Dies können wir z.B. am Text des Thomas von Aquin deutlich erkennen, welcher das liberum arbitrium durchaus im Licht des aristotelischen Begriffs des Wählens interpretieren will und die Termini des liberum arbitrium und der electio ohne sachlichen Unterschied gebraucht. Dieser Begriff wird von Aristoteles grundsätzlich zwar auf das Streben bezogen, aber in dem Begriff wird auch die Rolle der
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tur autem ex his, electionem esse appetitum consiliativum eorum quae in nobis; id enim quod excrevimus ex consilio, cupimus eligentes." (c. 32; S. 129) Der Einfluss des aristotelischen Begriffes aus der Nikomachischen Ethik ist offensichtlich auch in De fide orthodoxa des Johannes Damascenus. Vgl. De fide orthodoxa, c. 38. So weist auch Schönberger darauf hin, dass die Lehrtradition der menschlichen Freiheit mit der Überlieferung des Textkorpus nicht ganz kongruent ist. Vgl. Schönberger, „Rationale Spontaneität". Bei Albertus Magnus, in: Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren: Neue Zugänge, Asekte und Perspektiven, S. 223f. Die so genannte „ethica vetus" deckt nur das zweite und dritte Buch ab, und die „ethica nova" enthält das erste Buch und die Fragmente. Vgl. J. T. Mückle, „Greek Works Translated Dirctly into Latin Before 1350", in: Mediaeval Studies 5 (1943), S. 107; G. Wieland, „The Reception and Interpretation of Aristotle's Ethics", in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, S. 657.
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Vernunft besonders hervorgehoben. 37 In der christlichen Tradition seit Augustinus scheint dagegen die eindeutige Lokalisation der Freiheit als ein Vermögen der menschlichen Seele charakteristisch zu sein.38 Der Wille wird an sich als frei angenommen, natürlich sofern er zum geistigen und rationalen Vermögen gehört. Mit der Einführung der aristotelischen Überlegung in die Diskussion um liberum arbitrium tritt nun an die christlichen Denker die Aufgabe deutlich heran - über die allgemeine bloße Erkenntnis hinaus, der Wille, sofern rational, sei frei, oder am freien Wollen sei auch die Vernunft beteiligt - das Verhältnis des Willens und der Vernunft im wirklichen Akt der freien Entscheidung noch präziser herauszustellen. Diese Aufgabe ist dennoch nicht auf das Interesse beschränkt, die psychologisch-metaphysische Konstitution des liberum arbitrium aus Willen und Verstand zu erörtern. Die Aufgabe wird vielmehr deswegen thematisiert, weil man nun die Frage nach der Freiheit und dem freien Akt selbst stellt. Gefragt wird also nicht nur nach der Konstitution oder der Natur der Potenz des liberum arbitrium, sondern auch nach der Eigenart des Aktes des liberum arbitrium.19 Bei dieser Fragestellung hat zweifelsfrei ein anderes Werk des Aristoteles, nämlich De anima eine wichtige Rolle gespielt. Das Streben, auf das Aristoteles in der Nikomachischen Ethik den Begriff des Wählens zurückfuhrt, wird in De anima als eine Bewegung der Seele untersucht. Die aristotelische Lehre von der Bewegung der Seele, und die Einsichten der Physik und der Metaphysik, welche dieser Lehre zugrunde liegen, tun eine neue Perspektive auf, aus welcher der spontane Akt der menschlichen Seele, bzw. die freie Entscheidung erfasst werden kann. Auf diese Auffassung der freien Entscheidung sind nämlich die aristotelischen Grundbegriffe wie Akt, Potenz, Wirken und Leiden,
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Vgl. Nikomachisch Ethik III, c.2, 1112al4; VI, c.2, 1139a31f. Daher drückt Aristoteles selbst seine Zweifel aus, ob das Wählen dem Erkenntnisvermögen oder eher dem Strebevermögen zuzuschreiben ist. Vgl. a.a.O., 1139b4. Vgl. Schönberger, a.a.O., S. 223. Auch Lottin versucht in der Diskussion um die Willensfreiheit im 13. Jahrhundert zwei Themen sorgfältig zu unterscheiden: Das eine Thema sieht er in der Frage nach der Natur des liberum arbitrium, und bemerkt, dass sich die Scholastiker bereits seit dem Anfang des 12. Jahrhundert mit dieser Frage befasst haben. Das andere Thema bezeichnet er als das Problem des Fundaments für die menschliche Freiheit. Dieses Problem, bei dem es auf die Frage nach der Ursächlichkeit des Objekts ankommt, wird nach Lottin erst von Bonaventura und Thomas explizit gestellt. Vgl. Pychologie et Morale I, S. 12; „Rezension zu R. Z. Lauer", in: Bulletin de theologie ancienne et medievale 1 (1954/57), S. 570; Riesenhuber, „Der Wandel des Freiheitsverständnisses von Thomas von Aquin zur frühen Neuzeit", in: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica 66 (1974), S. 948.
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relevant anzuwenden. 40 Angesichts dieser Begriffe wird das Verhältnis zwischen den Bewegungen des Willens und des Verstandes analysiert, die im Akt der freien Entscheidung miteinander verwickelt sind, und dadurch wird auch begriffen, wie sich der Wille zum Objekt verhält. Durch die Analyse des Verhältnisses von Willen und Verstand zielt man also darauf ab, zu erklären, von welcher Art der Einfluss des Objekts auf den Willen ist, und inwiefern dieser Einfluss von den notwendigen - aber nicht zwangsläufigen - Bewegungen zu unterscheiden ist, die in der Natur oder im sinnlichen Streben zu finden sind. In Bezug auf die genannte Fragestellung, die von De anima herrührt, sind die Denkrichtungen auch nicht konvergent. Während manche die aristotelische Theorie der Strebebewegung in De anima für eine annehmbare Alternative halten und ihr anhängen, berufen sich manche erneut auf die überlieferte augustinische Willensvorstellung, nun aber vor allem auf die von Anselm dargestellte Formel, der Wille sei die universale Kraft, die alle anderen Kräfte bewegen kann. Die Nachwirkung von dieser Formel Anselms war immer noch so stark, dass auch Albertus Magnus, der Aristoteles sehr positiv aufgenommen und seine eigene Freiheitslehre als durchaus kompatibel mit der Sicht des Aristoteles angesehen hat, dem Willen die anselmische Konzeption des universalis motor virium zugesprochen hat.41 Neben der Rezeption der aristotelischen Texte müssen wir nun noch ein weiteres Element erwähnen, welches den historischen Hintergrund für die thomasische Freiheitslehre gebildet hat. Dies ist das Auftreten der deterministischen Lehrmeinungen. Ungeachtet der Verschiedenheit der Art und Weise, die Indeterminiertheit des menschlichen Wollens zu verstehen, waren die christlichen Denker in der Überzeugung einig, dass der Mensch von Natur aus den freien Willen als ein unverlierbares Vermögen besitzt. Aber in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beginnt die Ansicht sich zu verbreiten, dass die Manifestation der menschlichen Freiheit nicht mehr als eine Täuschung sei, da dem menschlichen Willen nur die notwendige Bewegung zuzuschreiben sei. Man kann zunächst wohl annehmen, dass diese Meinung selbst ein gewisser Effekt der Rezeption des Aristoteles ist, welche nicht nur die Übersetzung der aristotelischen Texte, sondern auch die Übersetzung der verschiedenen Kommentare der arabischen Philosophen beinhaltet. Aber es ist sehr schwierig, konkret zu identifizieren, wer in welchen Schriften in der Zeit des Thomas die de-
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Also ist das Verständnis der Bewegung, das in der aristotelischen Physik thematisiert wird, für die Behandlung der Freiheit des Willens notwendig ebensowie fur die Ethik. Vgl. Otfried Höffe, Aristoteles, S. 104. Vgl. Super Ethica III, lect. 4, n. 178 (Ed. Col., XIV 1, S. 157); Schönberger, a.a.O., S. 229.
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Vorüberlegungen
zum Hintergrund
des
Problemfeldes
terministische Lehre explizit geäußert hat, die in der A u f h e b u n g der menschlichen Willensfreiheit resultiert. 42 Man kann aus der Verurteilungsliste v o n 1277, die auf den Tag genau drei Jahre nach d e m T o d des Thomas v o m Pariser Bis c h o f Etienne Tempier promulgiert wurde, nur stückweise den Grundriss des deterministischen Standpunktes ablesen. In den Dekreten sind verschiedene Thesen über den Willen enthalten, w i e z.B. „Der Wille des M e n s c h e n wird durch seine Erkenntnis genötigt, w i e das Streben des Tieres genötigt wird" 43 , „Der M e n s c h folgt in allen seinen Handlungen d e m Streben, und zwar immer d e m stärkeren" 44 , „ D i e S e e l e will nichts, außer sie werde dazu v o n e i n e m anderen bewegt. D e s w e g e n ist der Satz falsch: D i e Seele selbst will v o n sich aus" 45 , „Der Wille kann, solange eine Leidenschaft anhält und eine Einzelbeurteilung bestimmt, nicht g e g e n sie handeln" 4 6 , „Wille und Verstand werden in ihrem Akt nicht durch sich selbst bewegt, sondern durch eine e w i g e Ursache, nämlich die Himmelskörper" 4 7 , „Unser W i l l e unterliegt der Macht der Himmelskörper" 4 8 , usw.
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Es wird zwar allgemein gesagt, dass die deterministische Theorie dem sogenannten lateinischen Averroismus zugeschrieben wird, aber Weiteres ist nicht bekannt. Auch Siger von Brabant, der für die repräsentativste Figur der lateinischen Averroismus gehalten wird, hat keinen strengen psychologischen Determinismus vertreten. Vgl. Quaestiones super libros Physicorum, lib. 2, q. 21. (ed. Fernand van Steenberghen, Les Philosophes Beiges XII, S. 197) „Manet etiam ei alio modo libertas in voluntate nostra, quia natura tantum determinata est ad unum... voluntas autem potest agere duo opposita, et ideo ad utrumque se habet, quare est libera et non determinata ad unum." Lottin stellt fest, dass Sigers Lehre vom Willen von den frühen Werken des Thomas - De veritate und Prima Pars - beeinflusst wurde, und auch dass Siger in seinen letzten Werken nicht deterministischer ist als Thomas. Vgl. Psychologie et morale I, S. 265; S. 271. Van Steenberghen scheint mit der Ansicht Lottins einverstanden zu sein. Vgl. Maitre Siger de Brabant (Philosophes Medievaux XXI), S. 386. Auch Flasch spricht der Willenslehre Sigers den Determinismus ab und schreibt, dass sie mit den Verurteilungsthese 1277 nichts zu tun hat. Vgl. Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, S. 242. Artikel 164 bei Hissette, Enquete sur les 219 articles condamnes ä Paris le 7 Mars 1277, 256f.; Artikel 159 bei Flasch, a.a.O., S. 222. Die Numerierung von Hissette entspricht der in inhaltlicher Hinsicht von Mandonnet geordneten Liste. Vgl. Mandonnet, Siger de Brabant et l'Averroisme latin au XIIF siecle. Bd. II, 175ff. Dagegen entspricht die Numerierung von Flasch dem originalen Dokument in Chartularium Universitatis Parisiensis. Vgl. CUP I, S. 543ff. Hissette ar. 158 (S. 250); Flasch ar. 164 (S. 224). Hissette ar. 151 (S. 231); Flasch ar. 194 (S. 241). Hissette ar. 169 (S. 262); Flasch ar. 129 (S. 203). Hissette ar. 153 (S. 237); Flasch ar. 133 (S. 205). Hissette ar. 154 (S. 239); Flasch ar. 162 (S. 223).
Historischer Hintergrund
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Selbstverständlich hat die Position, die Bewegung des Willens als notwendig anzusehen, eine heftige Ablehnung durch christliche Theologen zur Folge gehabt. Diese Position widerspricht nicht nur der christlichen Glaubenslehre, sondern untergräbt auch die Moralphilosophie.49 Gegen die deterministische Position, die in apologetischer Hinsicht nur Entrüstung hervorrufen kann, mussten aber die christlichen Denker in philosophischer Hinsicht doch sachliche Argumente vorlegen. Die Position, mit der sie sich auseinandersetzen, ist in der Tat nicht von der Art, die allzu leicht abzutun ist. Die deterministischen Theoretiker haben nämlich die Willensbewegung nicht für einen Zwang gehalten, obwohl diese trotzdem als eine notwendige angesehen wurde. Sie leugnen nicht, dass das Prinzip der Willensbewegung im Willen selbst liegt, sondern sagen nur, dass diese Bewegung in das Geflecht von Bewegungen, das die Natur kennzeichnet, eingebunden und insofern notwendig ist, wie z.B. die natürliche Bewegung schwerer oder leichter Körper.50 Beim Widerstreit gegen die deterministische Lehre kommt es also hauptsächlich darauf an, zu zeigen, inwiefern die Bewegung des Willens von den auf eines hin festgelegten Bewegungen der Natur abzuheben ist, und demnach darf man auch in der Untersuchung des Willens den Hintergrund der in der Natur beobachtbaren Gegebenheiten nicht verlassen. Die Willenslehre des Thomas entzieht sich nicht der Aufgabe, die sich damals verbreitende deterministische Willensvorstellung zu widerlegen. Die apologetische Verteidigung der Freiheit setzt sich als ein zentrales Motiv in seinem ganzen Gedanken vom Willen fort. Andererseits will Thomas die von den aristotelischen Texten eröffnete neue Perspektive, den Willen und seine Bewegung zu erklären, nicht aufgeben. Die denkerische Bemühung des Thomas, die Frei-
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Abertus Magnus, De XVproblematibus, c. 3 (Ed. Col., XVII 1, S. 35) „...quod voluntas hominis ex necessitate vult et eligit, numquam potuit dicere nisi homo penitus illitteratus, quia omnis ratio et omnis ethicorum schola tarn Stoicorum quam Peripateticorum clamat nos dominos esse actuum nostrorum et ideo laudabiles vel vituperabiles."; Thomas von Aquin, De malo, q. 6, c. „Si enim non sit liberum aliquid in nobis, sed ex necessitate movemur ad volendum, tollitur deliberatio, exhortatio, praeceptum et punitio, et laus et vituperium, circa quae moralis Philosophia consistit. Huiusmodi autem opiniones quae destruunt principia alicuius partis Philosophiae, dicuntur positiones extraneae, sicut nihil moveri, quod destruit principia scientiae naturalis." „Quod voluntas necessario prosequitur, quod firmiter creditum est a ratione; et quod non potest abstinere ab eo, quod ratio dictat. Haec autem necessitatio non est coacti, sed natura voluntatis." Hissette ar. 163 (S. 255); Flasch ar. 163 (S. 224); Vgl. De malo, q. 6, c.; Zimmermann, Thomas lesen, S. 203. Thomas war sich dieses Sachverhalts voll bewusst: „quidam posuerunt quod voluntas hominis ex necessitate movetur ad aliquid eligendum; nec tarnen ponebant quod voluntas cogeretur." (De malo), q. 6, c.
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Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
heit des Willens zu begründen, ist in dem Sinne durchaus geschichtlich, dass er sich das geistige Erbe, das ihm die Tradition und seine Zeit zugänglich macht, ohne Vorurteil angeeignet und auf dieser Basis dem Verständnis der Freiheit seine eigene Bahn gebrochen hat. Die Bemühung des Thomas ist deswegen noch beachtenswerter, weil es damals eine überwiegende Strömung gab, die Aufnahme der aristotelischen Philosophie und die Feststellung der Freiheit des Willens als unvereinbar anzusehen. Der Grund für diese Sicht ist aber in Aristoteles selbst zu finden, nicht zuletzt in seiner Position, den Begriff der Selbstbewegung explizit zu verneinen. Damit wir die theoretische Bemühung des Thomas und ebenso die damalige gegen Aristoteles gerichtete Position nachvollziehen können, müssen wir also zuerst den theoretischen Hintergrund in Betracht ziehen, nämlich das psychologisch-metaphysische Fundament für die thomasische Willenslehre, welches Thomas von Aristoteles übernommen hat. Als dieses Fundament gilt vor allem der Begriff des Strebens, und allgemein gesagt, die aristotelische Theorie der Seelenbewegung. Diese setzt ihrerseits den Begriff der Bewegung im allgemeinen und die Prinzipien, anhand deren die Bewegung definitorisch und begrifflich erfasst wird, voraus. Die Stellungnahme des Aristoteles zum Begriff der Selbstbewegung wird vom Begriff der Bewegung selbst gefolgert. Deswegen müssen wir nun damit anfangen, den aristotelischen Begriff der Bewegung selbst aufzuschließen. Wir wollen durch diese Differenzierung auf die aristotelische Auffassung der seelischen Bewegung kommen.
2. Theoretischer Hintergrund 2.1. Der aristotelische Begriff der Bewegung (1) Die defmitorische Bestimmung der Bewegung Der aristotelische Begriff der Bewegung wird durch die geistige Auseinandersetzung mit der parmenideischen Ontologie gebildet, welche aufgrund des vom Nichtseienden absolut disjungierten und homogenen Begriff des Seienden die Existenz der Bewegung gänzlich verneint. Aristoteles hat die statische Weltanschauung der eleatischen Tradition ernsthaft kritisiert und die Bewegung zu einem Hauptbegriff in seinem ganzen philosophischen Nachdenken gemacht.51
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Nach Aristoteles charakterisiert die Bewegung die Natur, demnach muss der Naturforscher das Seiende in der natürlichen Welt immer im Hinblick auf die Bewegung betrachten und
Theoretischer
Hintergrund
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Die Kritik an denen, welche die Realität der Bewegung verneinen, ist aber erst dann zu vervollkommnen, wenn eine definitive Bestimmung der Bewegung abgeschlossen ist. Um die Definition der Bewegung zu erreichen, fuhrt Aristoteles im dritten Buch der Physik ein Erklärungsmodell für die Bewegung ein, das auf den Grundbegriffen dynamis und energeia beruht. Möglichkeit und Wirklichkeit, die nicht nur für sein physisches, sondern auch für sein metaphysisches System ausschlaggebende Bedeutung haben, sind die Begriffe, die durch einander bestimmt werden und an sich nicht definierbar sind.52 Man kann sie höchstens durch relevante Beispiele verständlich machen. Der Grund für die Undefinierbarkeit dieser Begriffe besteht darin, dass sie im gesamten Seienden, das nicht mehr in eine obere Gattung einbezogen werden kann, koextensiv sind. Sie sind die Grundbedeutungen des Seienden. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Metaphysik VI, wo Aristoteles das der Möglichkeit nach Seiende und das der Wirklichkeit nach Seiende als eine von den verschiedenen Bedeutungen des ,Seienden' angibt.53 Aristoteles sucht nun mit den so verstandenen Begriffen das Wesen der Bewegung zu definieren. Nach seiner berühmten Definition in der Physik heißt Bewegung „die Wirklichkeit (entelecheia, wörtlich: Ins-Ziel-Gekommensein) dessen, was der Möglichkeit nach ist, insofern es derart ist; z.B. die Eigenschaftsveränderung ist die Wirklichkeit des eigenschaftlich Veränderbaren, insofern es eigenschaftlich veränderbar ist, das Wachsen und das Schwinden sind die Wirklichkeit dessen, was wachsen kann, und dessen, was schwinden
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nach den Prinzipien der Bewegung fragen. Vgl. Physik III, c. 1, 200bl2f. Der Begriff der Bewegung spielt aber nicht nur in der Physik, sondern in der ganzen Philosophie des Aristoteles eine fundamentale Rolle. Auf diesem Begriff basieren z.B. das Verständnis des Strebens, eines zentralen Begriffes in der Ethik, und die Erläuterung des Verfalls und der Stabilität der Verfassung, eines wichtigen Themas in der Politik. (Vgl. Höffe, a.a.O., S. 104). Überdies bereitet der Begriff der Bewegung auch einen Ansatz für die metaphysische Fragestellung, denn die Frage nach den Prinzipien der Bewegung führt letztlich dazu, ein endgültiges und einziges Prinzip für die ganze physische Welt des in Bewegung befindlichen Seienden zu suchen. (Vgl. Physik VIII, c. 5 - 1 0 ) In der Metaphysik IX, c. 6 wird die Wirklichkeit als „Bestehen einer Sache nicht in dem Sinne, wie man sagt, es sei der Möglichkeit nach."(1048a30-32) bestimmt. Vgl. Metaphysik, VI, c. 2, 1026a33-b2. Das Seiende kann also gemäß diesem Begriffspaar im zweifachen Sinne aufgefasst werden: ein Same des Eichbaumes „ist" der Wirklichkeit nach kein Eichbaum, aber er „ist" der Möglichkeit nach schon ein Eichbaum. Der Same und der daraus gewordene Eichbaum stehen in unterschiedlichen Zuständen, trotzdem sind sie dieselbe Substanz. Die Kluft zwischen den zwei Zuständen ist mit dem eindeutigen Seinsbegriff der Eleaten nicht zu überbrücken. Das Begriffspaar des Stagiriten hingegen macht es widerspruchslos verständlich, dass der Same und der Eichbaum zwar unterschiedlich, aber dasselbe sind, d.h. dass die Substanz als das Seiende veränderlich ist.
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Voriiberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
kann."54 Die Definition will besagen: Wenn ein Seiendes nicht mehr nur der Möglichkeit nach ist, aber auch noch nicht in die vollendete Wirklichkeit übergegangen ist und deshalb noch nicht aufgehört hat, der Möglichkeit nach zu existieren, wird die Aktualität dieses nach der Möglichkeit Seienden als Bewegung aufgefasst.55 Diese Definition drückt keineswegs einen statischen Zustand des Dinges, sondern eine dynamische Seinsweise aus, die die Konzeptionen ,Tun' und ,Leiden' charakterisieren. Das Wesentliche im Verständnis dieses dynamischen Begriffes der Bewegung ist es, dass man die zwei Instanzen, die im Bewegungsvorgang integriert sind und die ihnen entsprechenden zwei Möglichkeitsmomente erkennen kann. Die entelecheia der Möglichkeit setzt folgende zwei Vermögen oder Möglichkeitsmomente voraus: ein aktives, wirkendes, veränderungsfähiges Moment (z.B. etwas, das anderes in Brand setzen kann) und ein passives, leidendes, veränderbares Moment (z.B. etwas, das brennbar ist). Wenn diese beiden zusammenkommen, d.h. wenn sie in unmittelbaren physischen Kontakt kommen, erfolgt die Bewegung (z.B. Brennen).56 Man muss jedenfalls eine wirkende Instanz und eine die Wirkung erfahrende Instanz
54 Physik III, c. 1, 201al0; Vgl. Physik VIII, c. 1, 251al0. Diese Definition ist sicher von Aristoteles sehr sorgfältig konzipiert, aber klingt im ersten Augenblick rätselhaft: Wir müssen aber genau ersehen, warum die Bewegung hier nicht als der Prozess der Aktualisierung, sondern als die Aktualität selbst bestimmt wird. Wenn die Bewegung als Aktualisierung der Möglichkeit bestimmt wird, kann nämlich formal gesehen diese Definition nicht mehr als Definition adäquat sein; denn dann wird der Begriff der Bewegung wieder durch denselben Begriff definiert, weil Aktualisierung, d.h. Übergang vom möglichen Zustand zum verwirklichten Zustand, in sich selbst schon die Bewegung impliziert. Dieser Ausdruck kann nur die Beschreibung der Bewegung sein, aber nicht die Definition im strengen Sinne. Die Schwierigkeit dieses Ausdrucks gibt auch Thomas in seinem Kommentar zur aristotelischen Physik zu. Vgl. In III Phys., c. 1, lect. II, n. 284. „Circa primum sciendum est, quod aliqui definierunt motum dicentes, quod motus est exitus de potentia in actum non subito. Qui in definiendo errasse inveniuntur, eo quod in definitione motus posuerunt quaedam quae sunt posteriora motu..."; L. A. Kosman, „Aristotle's definition of motion", in: Phronesis 14 (1969), S. 41. 55 Nach dieser Begriffsbestimmung ist z.B. die Aktualität des möglichen Hauses die Erbauung dieses Hauses, nicht aber das schon erbaute Haus. „Denn wenn es das schon erbaute Haus wäre, so würde es sich nicht mehr um die Erbaubarkeit handeln. Das Erbaubare ist aber in der Wirklichkeit (energeia) der Erbauung begriffen. Also muss notwendig der Vorgang des Erbauens die Wirklichkeit sein. Der Vorgang des Bauens ist aber eine Art Bewegung. Vgl. Physik III, c. 1, 201bl lf. 56 Vgl. Physik VIII, c. 1, 251al lf. Diese begriffliche Analyse wird hier als ein Argument für die Ewigkeit der Welt ausgeführt.
Theoretischer Hintergrund
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annehmen, um den konkreten Bewegungsvorgang gemäß der aristotelischen Definition der Bewegung zu verstehen. Der Bewegungsbegriff des Aristoteles setzt also unmittelbar die Existenz eines Prinzips voraus, wodurch das der Möglichkeit nach Seiende, statt nur in der Möglichkeit zu bleiben, zu dessen Wirklichkeit überfuhrt wird. Die Frage nach diesem Prinzip gilt als eine zentrale Aufgabe in der Naturforschung. Aber darüber hinaus fuhrt der Bewegungsbegriff des Aristoteles letztlich dazu, ein Bewegungsprinzip zu suchen, von dem alle Bewegungen ausgehen müssen. Es ist bemerkenswert, dass Aristoteles diese Suche zum Anlass genommen hat, Kritik an der platonischen Theorie der Selbstbewegung auszuüben. Diesen theoretischen Zusammenhang müssen wir jetzt erörtern und anschließend die aristotelische These der Unmöglichkeit der Selbstbewegung aufgreifen. (2) Die Negierung des Begriffs der Selbstbewegung und das Bewegungsaxiom Bevor wir die aristotelische Einstellung zum Begriff der Selbstbewegung untersuchen, beginnen wir damit, den platonischen Gedanken von der Selbstbewegung zu betrachten. Der Gedanke von der Selbstbewegung gilt als der wesentliche Aspekt in der Seelenlehre der späten Philosophie Piatons. Als der wichtigste Beleg für diesen Gedanken gilt Nomoi X, wo Piaton die Priorität der Seele vor den körperlichen Dingen beweist, um den Erweis für die Existenz der Götter zu erbringen. Piaton stellt hier durch die Analyse der Bewegungsformen den Bewegungen, die immer nur andere Dinge bewegen und selbst nur von etwas anderem verändert werden, diejenige Bewegung gegenüber, die sowohl sich selbst als auch etwas anderes bewegt.57 Die letzte Bewegung, d.h. die Selbstbewegung wird als die Ursache aller anderen Bewegungen erklärt, denn es ist nicht möglich, dass am Anfang der Bewegungskette etwas steht, das durch ein anderes bewegt wird, sofern es zuvor keine Veränderung geben kann. Deshalb kann nur etwas, das sich selbst in Bewegung gesetzt hat, als Anfang (arche) oder Ursache der gesamten Bewegung angenommen werden, und in diesem Sinne muss die Selbstbewegung ihrer Entstehung und ihrer Kraft nach doch logischerweise die erste genannt werden. Die Selbstbewegung ist aber nichts anderes als die Seele. Dass etwas durch sich selbst bewegt wird, heißt nämlich, dass es lebt. Nach der Erklärung des Atheners ist die Selbstbewegung die Definition (logos) der Seele, und die Seele die Bezeichnung (onoma) der Selbstbe-
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Vgl. Nomoi X, 8 9 3 b - 8 9 4 d .
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Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
wegung.58 Somit wird die Behauptung, der Seele als der Ursache der Bewegung (iarche kineseos) werde die Priorität vor allem zugeschrieben, begründet.59 Aber Aristoteles schließt den Begriff der Selbstbewegung aus, und zwar in dem Kontext, wo Aristoteles die gesamte Natur auf einer übernatürlichen Substanz zu begründen versucht, d.h. im Beweisgang des unbewegten Bewegers im achten Buch der Physik. Denn der Beweis für die Notwendigkeit, den unbewegten Beweger als das erste Bewegende anzunehmen, setzt zwei Prämissen voraus: die Unmöglichkeit der unendlichen Zurückfuhrung auf den bewegten Bewegenden und die Unmöglichkeit der Selbstbewegung.60 In diesem Zusammenhang beweist Aristoteles das so genannte Bewegungsaxiom, nach dem alles, was bewegt wird, durch etwas anderes bewegt wird.61 Dieses Axiom wird aber aus dem aristotelischen Bewegungsbegriff selbst geschlossen, der in sich schon die Existenz eines Prinzips für die Bewegung enthält. Etwas der Möglichkeit nach Seiendes braucht auf jeden Fall ein wirkendes Prinzip, damit es zu seiner Wirklichkeit überführt wird, statt nur in der Möglichkeit zu bleiben. Wie oben erklärt wurde, wird also der Bewegungsbegriff des Aristoteles vom Verhältnis der zwei Vermögen aus erklärt: Etwas, was bewegt werden kann, wird durch etwas, was das Vermögen hat, jenes zur Bewegung zu bringen, bewegt. In der Realität der Bewegung sind notwendigerweise das Bewegend-sein und das Bewegt-sein integriert.62 Die Bewegung
58 Vgl. Nomoi X, 896a. 59 Die Auffassung der Seele als Selbstbewegung findet sich auch in Phaidros, und zwar im Kontext vom Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Etwas, was sich selbst bewegt, wird als Quelle und Anfang der Bewegung aufgefasst, und demnach wird in ihm das Entstehen und das Vergehen negiert. „Nur eben was sich selbst bewegt, hört niemals auf, bewegt zu sein, weil es sich selbst nie verlässt, und dies ist auch für alles andere, was bewegt wird, Quelle und Anfang der Bewegung. Was Anfang ist, ist unentstanden. Denn aus ihm muss notwendig alles Entstehende entstehen, nicht aber er aus irgend etwas. Denn wenn der Anfang aus etwas entstünde, hätten wir ein Entstehen nicht aus dem Anfang. Da er unentstanden ist, so muss er notwendig auch unvergänglich sein. Denn geht der Anfang zugrunde, so wird weder er selbst je entstehen aus irgend etwas noch anderes aus ihm, wenn ja doch alles aus dem Anfang entstehen muss." (Phaidros, 245). Sofern die Selbstbewegung von innen initiiert wird, existiert sie nämlich nicht phasenweise, sondern immer. Und gerade in der unsterblichen und immerwährenden Selbstbewegung besteht das Wesen und die Begriffsbestimmung der Seele, denn etwas, was die Bewegung von innen, aus sich selbst erhält, wird als beseelt bestimmt, während jeder Körper, der seine Bewegung von außen erhält, seelenlos ist. (Vgl. ebd.). 60 Physik VIII, c. 5. 61 Physik VIII, c. 4. 62 Das Bewegende heißt etwas, wodurch die Bewegung erfolgt, und das Bewegte etwas, worin die Bewegung erfolgt. Dem Bewegenden gehört das Tun, und dem Bewegten das
Theoretischer Hintergrund
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erfolgt zwar als eine einheitliche Realität, aber diese Realität gehört dem Bewegenden und dem Bewegten auf verschiedene Arten. Etwas, was das aktive Vermögen hat, muss nämlich hinsichtlich der betreffenden Bewegung schon in der Wirklichkeit (energeia) stehen, um die Bewegung herbeizufuhren, während etwas, was bewegt wird, in derselben Hinsicht bloß in der Möglichkeit stehen muss, damit es kraft des aktiven Vermögens zur Bewegung aktiviert werden kann.63 Insofern aber die Begriffe der Möglichkeit und der Wirklichkeit konträre Gegensätze sind, kann nichts in derselben Hinsicht zugleich das Bewegende und das Bewegte sein. Das Bewegende und das Bewegte können daher keineswegs dem Sein nach identisch sein. Folglich gibt es etwas wie Selbstbewegendes nicht, soweit von einer numerisch identischen Bewegung die Rede ist. Schwierigkeit bereitet es, dieses begrifflich bewiesene Bewegungsaxiom als auf alle Fälle der Bewegung anwendbar zu bestätigen. Aristoteles war sich dieser Schwierigkeit bewusst, so befasst er sich im vierten Kapitel der Physik VIII mit dieser Aufgabe. Hier kommt es darauf an, zu zeigen, dass diejenigen Bewegungen, die anscheinend als Selbstbewegung angesehen werden, in der Tat durch das vom Bewegten verschiedene Bewegende erfolgen. Diese Aufgabe fuhrt er in der Form des induktiven Beweises fur das Bewegungsaxiom aus. Alle Bewegungen werden nach Aristoteles in drei Arten differenziert: (a) die Bewegung des leblosen Dinges, das seiner Natur zuwider durch äußere Gewalt bewegt wird (z.B. Werfen des Steins nach oben), (b) die Bewegung des Lebewesens und (c) die Bewegung des leblosen Dinges, das gemäß seiner Natur bewegt wird (z.B. freier Fall des Steins). Nur bei der ersten Bewegungsart ist unumstritten, dass sie durch etwas anderes bewegt wird, aber die übrigen brauchen nähere Erklärung, wie sie sich zum Bewegungsaxiom verhalten.
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Leiden. Das Tun und das Leiden sind in Wirklichkeit nichts anderes als die verschiedenen Aspekte der einen und selben Bewegung, wie das Lehren und das Erlemen nicht als zwei verschiedene reale Bewegungen von einander getrennt geschehen können. Die Aussage, dass sich das Bewegende hinsichtlich der betreffenden Bewegung in der energeia befinden muss, darf man nicht missverstehen, als ob es selbst schon in der Bewegung oder im Zielstand der Bewegung stehen muss. Das Bewegende (Y) selbst muss nämlich nicht immer eine bestimmte Qualität (f) haben, um im Bewegten (X) die Veränderung zum Zustand dieser Qualität zu bewirken. Beispiel: Während das Feuer Wärme haben muss, um das Wasser zu erwärmen, muss sich der Mensch nicht unbedingt in örtlicher Bewegung befinden, um einen Stein örtlich zu bewegen. Die Aussage bedeutet also nur, dass das Bewegende in der Wirklichkeit das aktive Vermögen haben muss und streng genommen hinsichtlich der Hervorbringung der Bewegung in der Wirklichkeit stehen muss. In diesem Sinne gilt das aktive Vermögen an sich als das Moment der Möglichkeit. Vgl. Weisheipl, „Quidquid Movetur ab Alio Movetur: A Reply" in: The New Scholasticism 42 (1968), S. 427ff.
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Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
Die Schwierigkeit mit der Bewegung des Lebewesens löst Aristoteles dadurch, dass er im sich selbst bewegenden Lebewesen den bewegenden Teil und den bewegten Teil unterscheidet.64 Wenn auch das Lebewesen im Ganzen sich zu bewegen scheint, wird es in Wirklichkeit durch einen Teil, d.h. die Seele in Bewegung gebracht.65 Sofern im Lebewesen der bewegende und der bewegte Teil getrennt erkennbar sind, ist dem Lebewesen die Selbstbewegung im strengen Sinne abzusprechen. Denn nur etwas, was durch sich selbst als ein Ganzes unmittelbar bewegt wird, würde den strengen Begriff der Selbstbewegung verdienen.66 In der dritten Bewegungsart findet sich nach Aristoteles die höchste Schwierigkeit (malista aporeitai), da es in diesen Fällen gar nicht klar ist, was als das Bewegende gelten soll.67 Der schwere Körper bewegt sich von Natur aus nach unten, und ebenso bewegt sich der leichte von Natur aus nach oben, nicht durch etwas anderes.68 Kann man dann die Natur (physis), aus der die naturgemäße Bewegung hervorgeht, für die wirkende Ursache, bzw. das Bewegende halten? Würde aber die Natur als das Bewegende in dieser Bewegung aufgefasst, so könnten die leblosen Körper nicht mehr von den Lebewesen unterschieden werden. Das Wesen der Lebewesen liegt ja nämlich darin, dass sie selbst streng genommen ein Teil in ihnen - die wirkende Ursache für ihre eigenen Bewegungen wie z.B. Gehen, Fliegen und Schwimmen sind. Daher muss man ein bewegendes Prinzip außerhalb des naturgemäß Bewegten suchen, statt das bewegende Prinzip mit der Natur des in Bewegung stehenden Körpers gleich-
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Vgl. Physik VIII, c. 4, 254b27f. Auf der anderen Seite gibt Aristoteles das Bewegtwerden des Lebewesens durch die umgebende Welt an. Die Bewegung des Lebewesens durch seine Seele trifft nicht auf jede Form der Veränderung, sondern nur auf die Ortsbewegung. Auch in diesem Fall wird die Tätigkeit der Seele, wie Denken oder Begehren, die das ganze Lebewesen zu einer Handlung veranlasst, durch die Umgebung ausgelöst. (Vgl. Physik VIII, c. 2, 253a7f.) Der Sinn der Bewegung der Seele durch die Umgebung kann erst dann vollständig verstanden werden, wenn das Verhältnis zwischen dem Physischen und dem Psychischen behandelt wird. Das Lebewesen kann ja im Vergleich mit den leblosen Dingen das Selbstbewegende genannt werden. Aristoteles selbst sagt vom Lebewesen aus, dass es sich von Natur aus und von sich selbst bewegt. (Vgl. Physik VIII, c. 4, 254b28.) Aber diese Selbstbewegung wird hier nicht in dem schlechthinnigen Sinne gemeint, der dem Bewegungsaxiom widersprechen müsste. Worum es sich im Bewegungsaxiom handelt, ist, ob es etwas gibt, was durch sich selbst als ein Ganzes bewegt wird. Das Lebewesen ist aber ein Ganzes, das durch ein Teil in sich selbst bewegt wird. Auf das durch einen Teil Selbstbewegende, d.h. auf das Lebewesen als ein Ganzes, trifft also das Bewegungsaxiom nicht zu. Vgl. Physik VIII, c. 4, 254b29f. Vgl. De caelo IV, c. 3.
Theoretischer
Hintergrund
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zusetzen.69 Was ist dann als das Bewegende aufzufassen? Die Antwort des Aristoteles, nach der das, was die Hinderung der Verwirklichung der Natur beseitigt (removens prohibens), als das Bewegende gedeutet wird, hat nur Relevanz im akzidentellen Sinne. Laut der eigentlichen Antwort des Aristoteles ist das Bewegende in der naturgemäßen Bewegung der leblosen Dinge dasjenige, das die Natur der Dinge hervorbringt (generans naturae). Das Hervorbringende der Natur fuhrt uns zur Frage nach der wirkenden Ursache fur das substanzielle Entstehen. Aber auf der anderen Seite ist es auch einleuchtend, dass sich die naturgemäße Bewegung der leblosen Dinge insofern im gewissen relativen Sinne als Selbstbewegung darstellt, als sich das Naturding nach einem immanenten Prinzip bewegt. Die Naturdinge stehen nämlich im Kontrast zum Artefakt, das durch ein äußeres Prinzip hervorgebracht wird.70 Somit können wir die mehrfachen Bedeutungsstufen der Selbstbewegung erkennen: Im ersten und lockersten Sinne wird die Selbstbewegung dem Naturding zugeschrieben. Dies ist mit der Hauptbedeutung der Natur - das Wesen der Dinge, die sich nach einem immanenten Prinzip bewegen - unmittelbar verbunden, und steht im Kontrast zur Hervorbringung der Artefakte. Im zweiten Sinne gehört die Selbstbewegung zum Lebewesen, in dem sich das formale und das wirkende Prinzip der Bewegung überschneiden. Aristoteles selbst bezeichnet mehrmals das Lebewesen als das Selbstbewegende. Das ist der einzig mögliche Sinn, den man in Wirklichkeit gebrauchen kann. Aber sofern hier das Bewegungssubjekt nicht als ein kontinuierliches Ganzes existiert, sondern wieder in den bewegenden und den bewegten Teil differenziert werden kann, erreicht dieser zweite Sinn nicht den strengen und absoluten Sinn der Selbstbewegung. Im letzten strengen Sinne sollte sie diejenige Bewegung heißen, in der das Bewegende und das Bewegte ontologisch gar nicht unterschieden werden. Dann wäre sie nicht von der vorausgesetzten physischen kausalen Bedingung abhängig, und daher würde sie spontan geschehen. Nach Aristoteles gibt es keine solche Bewegung; zumindest nicht in der physischen Welt. Die Selbstbewegung in diesem Sinn ist bloß ein Ungedanke, weil dieser Sinn in Widerspruch zum Bewegungsaxiom und somit zum Bewegungsbegriff steht.
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Vgl. Weisheipl, a.a.O., S. 430f. Natur bedeutet nicht zuletzt das Wesen der Dinge, die sich nach einem immanenten Prinzip bewegen, Kunstfertigkeit gilt dagegen nur als äußeres Prinzip. Vgl. Physik II, 192bl3f.; Höffe, Aristoteles, S. 109. Als Gegensatz zur Selbstbewegung in diesem begrenzten Sinne kommt also dem Artefakt die Fremdbewegung zu.
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Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
Was das aristotelische Bewegungsaxiom bestreiten will, ist die Konzeption der Selbstbewegung der teilbaren Dinge. Aristoteles äußert in der Physik VI, dass er seinen Bewegungsbegriff zunächst auf die teilbaren und körperlichen Dinge verwendet. 71 Sie machen den Gegenstandsbereich aus, den Aristoteles in seinen Büchern der Physik untersucht. Sie entsprechen auch dem Anwendungsbereich des Bewegungsaxioms. Nun wird die nächste Frage gestellt: Wie verhält es sich dann mit der so genannten seelischen Bewegung, die Aristoteles in seinen acht Büchern der Physik nicht thematisiert hat? Wir haben uns bisher nur mit derjenigen Bewegung beschäftigt, die man an den körperlichen Dingen betrachten kann, und bestätigt, dass ein teilbares und körperliches Ding unmöglich unmittelbar durch sich selbst als ein Ganzes bewegt werden kann. Es bleibt aber nicht erklärt, wie das, was wir Seelenbewegung nennen, zu verstehen ist. Um das Nachdenken über das Problem der Bewegung und der Selbstbewegung in den psychischen Bereich weiterzufuhren, müssen wir das psychologische Werk des Aristoteles gründlich untersuchen, wobei die erste Aufgabe eine Überlegung über das Verhältnis zwischen dem Physischen und dem Psychischen sein soll.
2.2. Die aristotelische Auffassung der seelischen Bewegung (1) Das Verhältnis von Natur und Seele Der Gegenstand der Naturphilosophie, bzw. der Physik erstreckt sich auf jedes aus Form und Materie bestehende natürliche Seiende.72 Da das Lebendige zum Naturding gehört, kann das Lebewesen der Untersuchung der Naturphilosophen nicht entgehen. Naturphilosophie betrachtet im organischen Leib die verschiedenen Lebensfunktionen wie Ernährung, Zeugung, Wahrnehmung und Denken, und schließt daraus auf ein Lebensprinzip bzw. eine Formursache. Die Form des Lebewesens, durch deren Vollzug und Leistung das Lebewesen vor den anderen toten Naturdingen ausgezeichnet wird, nennt Aristoteles die Seele.
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Vgl. Physik VI, c. 4, 234b 10. Aristoteles überprüft im zweiten Kapitel der Physik II, wo er seinen Begriff der physis entfaltet, die Ansichten, nach denen die Natur jeweils der Materie oder der Form zugeschrieben wird. (Vgl. Physik II, c. 1, 193a9f.; 193a30f.) Nach Aristoteles handelt es sich hier nicht um eine alternative Bestimmung, sondern der Naturbegriff betrifft sowohl die Materie, aus der ein Naturding gemacht ist, als auch die Wesensform, die als das Ziel und der Ursprung aller Bewegungsprozesse in einem Naturding dieses Naturding bestimmt. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Begriff der physis jedenfalls auf die Substanzen in der Körperwelt und deren Prinzipien.
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Nach der bedeutungsschweren Definition des Aristoteles heißt die Seele „die erste Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat."73 Bei der Untersuchung der Seele und der seelischen Beschaffenheit geht Aristoteles vom lebendigen Organismus als Ganzes aus, und weist damit den Dualismus von Seele und Leib zurück. Im ersten Kapitel De anima I legt Aristoteles am Beispiel des Zorns dar, dass die seelischen Prozesse durch bestimmte körperliche Faktoren mit bedingt sind.74 Soweit die Beschaffenheit der Seele von der natürlichen Materie des Lebewesens durch gedankliche Abstraktion nicht getrennt werden kann, gehört die Theorie der Seele grundsätzlich zur Naturphilosophie.75 Obwohl das Lebensphänomen die Besonderheit der Seele im Vergleich mit den Formen der leblosen Seienden andeutet, ist es also schwierig, das Psychische vom Physischen theoretisch abzutrennen. Die Verbundenheit der Seele mit der Körperlichkeit lässt den Begriff der Seele im Bedeutungsfeld des Naturbegriffes verbleiben. Aber Aristoteles weigert sich, die seelischen Prozesse auf die physikalischen zu reduzieren. Die seelischen Prozesse können zwar als physiologische Prozesse der körperlichen Teile beschrieben werden, aber auf diese Weise können sie nie hinreichend erklärt werden.76 Der Zorn involviert ja notwendig das Sieden des um das Herz fließenden Blutes, aber damit wird der wesentliche Aspekt des Zorns noch nicht erkannt. Um das Wesen des Zorns als eine von der Seele herrührende Bewegung zu erklären, muss man sich letztlich an die psychischen Begriffe wie z.B. Streben anlehnen.77 Aristoteles erklärt ebenso die Fortbewegung des Lebewesens, statt diese auf die Natur der Körper zurückzufuhren, mit dem psychischen Begriffe des Vorsatzes und des Gedankens.78 Er ist also davon überzeugt, dass die Seele als Bewegungsprinzip für den Lebensvollzug grundsätzlich keineswegs auf der körperlichen Natur gegründet ist.79 Sofern die Seele als solche nicht körperlicher Natur ist, wird der Seele die Bewegung abgesprochen. Was sich in Bewegung befindet, ist nicht die Seele,
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De anima II, c. 1, 412a27. Vgl. De anima I, c. 1, 403a30f. Vgl. De anima I, c. 1, 403a27; Meteorologie I, c. 1, 338a20f. Aber als Gegenstand der Physik gilt nicht die ganze Seele. Ein Seelenteil, der nicht an den Körper gebunden zu sein scheint, gehört nämlich zum Thema der Metaphysik. (Vgl. De anima III, c. 4 - 5 . ) Vgl. F. Ricken, „Seele", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, S. 5. Vgl. De anima I, c. 1, 403a30. Vgl. De anima I, c. 3, 406b24. Es ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass Aristoteles die materialistischen Theorien der Seele widerlegt, nach denen die Seele nicht mehr als feinste Elemente ist (Vgl. De anima I, c. 2).
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Vorüberlegungen zum Hintergrund des Problemfeldes
sondern nur das Lebewesen.80 Aristoteles behauptet in De anima I, dass die Seele zwar das Bewegungsprinzip ist, sie selbst aber nicht bewegt ist. Das Bewegende muss nicht notwendig auch selbst bewegt worden sein, wie Aristoteles beim Beweis des unbewegten Bewegers in der Physik VIII gezeigt hat.81 (2) Der Unterschied zwischen der seelischen und der physischen Bewegung Wenn der unkörperlichen Natur der Seele die physische Bewegung nicht zukommt, so muss man für die seelische Bewegung eine andere begriffliche Erläuterung suchen als die der physischen Bewegung. Diese Erläuterung ist vor allem im fünften Kapitel De anima II zu finden, wo Aristoteles das Wahrnehmungsvermögen und seine Tätigkeit untersucht, und zwar mit der Absicht, die materialistische Wahrnehmungstheorie des Empedokles zu bestreiten, nach der die Wahrnehmung nichts anderes als der materielle Eindruck des Sinnesorgans durch den Körper des Wahrnehmungsobjekts ist. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Annahme, dass das Tätigsein (energeia) der wahrnehmenden Seele, das Bewegtwerden und das Erleiden dasselbe sind.82 Zu klären ist nun, in welchem Sinne das Tätigsein der wahrnehmenden Seele als das Bewegtwerden und das Erleiden angenommen wird. Dafür führt Aristoteles eine wichtige Differenzierung zweier Stufen von Möglichkeit und Wirklichkeit (entelecheia; Vollendung) ein, und zwar am Beispiel des menschlichen Wissens: wer wirklich das Wissen besitzt, verhält sich zu dem, der zum Wissen fähig ist, aber sich noch nicht das Wissen angeeignet hat, wie die Vollendung zur Möglichkeit. Aber diese erste Vollendung geht in die zweite Vollendung über, indem der, der das Wissen besitzt, aktuell forscht.83 Die erste Vollendung heißt also die Haltung (Besitz des Wissens), und die zweite Vollendung, zu der sich die erste wieder wie die Möglichkeit zur Wirklichkeit verhält, bedeutet die Tätigkeit (Forschen). Der Unterschied, den man nach diesem Beispielsmodell zwischen dem Übergang von der bloßen Anlage
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Vgl. De anima I, c. 4, 408blf. Vgl. De anima I, c. 3, 406a3. Natürlich handelt es sich hier um die physische Bewegung, die ohne Räumlichkeit nicht annehmbar ist. (Vgl. De anima I, 3, 406al7) Aristoteles sagt in 406al3f., dass sich die vier Arten der Bewegung, d.h. Ortsbewegung, qualitative Veränderung, Schwinden und Wachstum im Räume vollziehen. Sie bedeuten die Bewegung, mit der immer die Materialität als das Moment von dynamis gegeben sein muss, wie Aristoteles in der Physik VI deutlich gemacht hat. Die Seele kann sich aber - außer wenn man im akzidentellen Sinne spricht -weder räumlich bewegen, noch hat sie Raum. Vgl. De anima II, c. 5, 417al5f. Vgl. De anima II, c. 5, 417a21f.
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zur ersten Vollendung und dem von der ersten zur zweiten Vollendung merken kann, deutet die zwei differenzierbaren Bedeutungen von Erleiden (paschein) an: mit dem Erleiden wird zum einen im eigentlichen Sinne gemeint, dass, wie beim Übergang von der ersten Möglichkeit zur ersten Vollendung, die Qualität des Erleidenden durch die entgegengesetzte Qualität des Wirkenden ausgetauscht bzw. aufgehoben wird, und zum anderen kann damit auch gemeint sein, dass wie beim Übergang von der ersten zur zweiten Vollendung der Zustand des Erleidenden eher bewahrt und angereichert wird. Die Wahrnehmung, die hier Aristoteles erörtern will, lässt sich als dieses zweite Erleiden verstehen, während das erste Erleiden auf die physische Bewegung zutrifft. Das physische Erleiden, bzw. das Erleiden im eigentlichen Sinne, besagt eine Veränderung, der eine materielle Qualität zugrunde liegt und die als „der Wechsel (metabole) zur gegensätzlichen privativen Verfassungen" 84 bezeichnet wird. Von diesem physischen Erleiden ist das seelische Erleiden begrifflich zu unterscheiden, das als „der Wechsel zu den Haltungen und zur eigentümlichen Natur" 85 bestimmt wird. Die Wahrnehmung muss als Tätigkeit (zweite Vollendung) eines nicht mehr materiellen Sinnesvermögens aufgefasst werden, das wiederum dazu fähig ist, vom Wahrnehmungsobjekt die sinnlichen Formen ohne seine Materie aufzunehmen. Damit wird die empedokleischen Theorie zurückgewiesen, welche den Wahrnehmungsvorgang bloß in der Ebene der physischen Einwirkung und des physischen Erleidens zu interpretieren sucht.86 Wir können also an der psychologischen Untersuchung des Aristoteles erkennen, dass er den Begriff der seelischen Bewegung gegenüber dem der physischen deutlich hervorhebt. Aristoteles nennt in De anima III die seelische Bewegung „eine andere Art von Bewegung". 87 Die physische Bewegung, bzw. die Bewegung im eigentlichen Sinne, erfolgt nur während des schrittweisen Verwirklichungsvorgangs des materiellen Vermögens und hört auf, sobald das Vermögen der Materie vollkommen verwirklicht worden ist und es somit sein Ziel erreicht hat, denn diese Bewegung untersteht der Materie. In dem Sinne, dass die physische Bewegung in sich das eigene Ziel nicht enthält, heißt sie „unvollkommene Tätigkeit".88 Es ist ja nicht möglich, dass einer zu einem bestimmten Zielort geht und gleichzeitig gegangen ist, oder ein bestimmtes Haus
84 85 86 87 88
De anima II, c. 5, 4 1 7 b l 4 - 1 6 . ebd. Vgl. De anima II, c. 4, 416alf.; Metaphysik III, c. 4, 1000b5f. De anima m,c. 7,431 a6. De anima II, c. 5, 417a 17; Physik III, c. 2, 210b31.
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baut und gleichzeitig gebaut hat. Hingegen ist die seelische Bewegung diejenige Tätigkeit, die in sich ihr Ziel enthält und demnach vollkommen genannt werden kann. Die Wahrnehmungstätigkeit, z.B. das Sehen - und der ganze Lebensvollzug - hat kein von sich verschiedenes Ziel, und ihr Ziel bedeutet nicht ihr Ende. Sie entspricht der strengen und schlechthinnigen Bedeutung der Tätigkeit (energeia). 89 Zusammengefasst: Obgleich die seelische Bewegung wie die physische mit dem Begriffsverhältnis von Möglichkeit und Vollendung erklärt werden kann, ist sie grundsätzlich von der physischen verschieden, sofern sie als „die Tätigkeit des Vollendeten", 90 d.h. als die zweite Vollendung dessen, was in der ersten Vollendung steht, bestimmt wird. (3) Die Seele und die Passivität Aus dem bisher Gesagten können wir zuerst die folgende Tatsache feststellen: Die seelische Bewegung ist auf das oben erwähnte Bewegungsaxiom nicht bezogen, weil sie als „eine andere Art von Bewegung" bestimmt wird. Aber auch wenn die seelische Bewegung dem Anwendungsbereich des Bewegungsaxioms entgeht, ist es noch fraglich, ob die platonische Position, nach der die Seele mit der Selbstbewegung gleichgesetzt wird, einfach gerechtfertigt werden kann. Die aristotelische Theorie der Wahrnehmungserkenntnis in De anima II und III hält nämlich fest, dass der Übergang des Wahrnehmungsvermögens zu seiner Entelechie durch ein im Zustand der Wirklichkeit stehendes Ding ausgelöst werden kann.91 Es scheint nach Aristoteles also nicht nur für den Übergang von der ersten Möglichkeit zur ersten Vollendung, sondern auch für den Übergang von der zweiten Möglichkeit zur zweiten Vollendung die Einwirkung von einem in Wirklichkeit befindlichen Prinzip notwendig zu sein. Im Fall der Sinneswahrnehmung ist das ,Einwirkende' nichts anderes als das äußere Objekt,
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Vgl. Metaphysik IX, 1048b28f.; E. Berti, „Der Begriff der Wirklichkeit in der Metaphysik des Aristoteles", in: Metaphysik. Die Substanzbücher (hrg. von Christof Rapp), S. 304f. De anima III, c. 7, 431 a7. Auf diese Überzeugung spielt die Methode der Untersuchung der Seelenvermögen an: Aristoteles bemerkt im vierten Kapitel der De anima II, dass man vor der Untersuchung des Seelenvermögens das Wesen der betreffenden Tätigkeit untersuchen muss aber vor allen Untersuchungen zunächst das Objekt des Seelenvermögens. Die Notwendigkeit dieses Verfahrens wird dann verständlich, wenn wir das Objekt als etwas wie Ursache für die Aktualisierung der Vermögen annehmen, wie in 413al3f. angedeutet ist. (Vgl. Everson, „Psychology", in: The Cambridge Companion to Aristotle, S. 175)
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welches wahrnehmbare Sinnesqualität hat. Wenn das wahrnehmbare Objekt nicht gegeben ist, bleibt das Wahrnehmungsvermögen nur im Zustand der Möglichkeit und nicht tätig. Die grundlegende und charakteristische Sichtweise, von der die ganze Seelentheorie des Aristoteles geprägt ist, zeigt sich darin, dass er die seelische Tätigkeit als ein ,Erleiden' bestimmt. Dies gilt nicht nur für das Erkennen, sondern auch für das Streben. Die Tätigkeit des Strebens kommt nämlich ohne das Einwirkende, d.h. das erstrebbare Objekt nicht zustande. Obwohl die Seele ein nicht materielles Vermögen ist und demnach ihre Tätigkeit nicht mehr im materiellen, bzw. physischen Sinne ,Erleiden' ist, gehören die Wahrnehmung oder das Streben als Tätigkeiten der Seele doch zum ,Erleiden', und demnach wird dem seelischen Vermögen eine ,Passivität' oder eine Rezeptivität zugeschrieben. Trotz der vielfaltigen Zeichen der Spontaneität, die gegenüber allen unbelebten Naturdingen dem Lebendigen zukommt, wird diese Passivität nicht aufgehoben, sofern die Aktualisierung eines Seelenvermögens auf den Veränderungsprozess im körperlichen Organ angewiesen ist. Nun können wir zur Einsicht gelangen, dass das Bewegungsaxiom nicht im schlechthin konträren Verhältnis zur seelischen Bewegung steht, denn es wird in De anima bestätigt, dass die mit dem Körper vereinte Seele nicht fähig ist, sich selbst unabhängig von der Einwirkung der physischen Umgebung zu bewegen. Das besagt aber noch nicht, die ganze Bewegung der Seele müsse immer noch an die Passivität gebunden sein. In der menschlichen Seele gibt es nämlich einen Teil, der ausnahmsweise nicht mit dem Körper verbunden ist. Aristoteles selbst erwähnt in De anima eine Seelengattung, die sich allein abtrennen kann.92 Nun kann man hier die Frage aufwerfen, ob dem geistigen Teil der Vernunftseele die Selbstbewegung zuzusprechen ist. Aber die Erklärung über die Art und Weise der dem intellektuellen Teil eigenen Seelenbewegung wird von Aristoteles nicht ausführlich genug gegeben, und ebenso wenig die explizite Antwort auf die genannte Frage. Deswegen bleibt die Frage nach der Selbstbewegung bei Aristoteles als ein Problem der bloßen Interpretation bestehen. Ob der Begriff der Selbstbewegung im Rahmen der aristotelischen Psychologie anerkannt werden kann und inwieweit mit dem Begriff der aristotelischen Physik und Psychologie das Phänomen der Spontaneität erklärt werden kann, gerade diese Frage wird im Mittelalter der entscheidende Prüfstein dafür, wie die Theologen, die die Freiheit des Willens verteidigen wollen, zu Aristoteles Stellung nehmen. Den theoretischen Hintergrund des aristotelischen Bewe-
92
Vgl. De anima II, c. 2, 413b25f.; III, c. 5, 4 3 0 a l 7 .
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gungsbegriffes und der aristotelischen Auffassung der Seelenbewegung verlässt Thomas durch seine ganze Untersuchung der Willensbewegung hindurch nicht, wobei er aber die Selbstbewegung des Willens nicht preisgeben will. Der thomasische Interpretationsversuch, nach dem der aristotelische Bewegungsbegriff gar nicht im Widerspruch zur Selbstbewegung des Willens steht, ist aber, wie oben gesagt, im historischen Kontext, d.h. unter Berücksichtigung des historischen Diskussionsverhältnisses zu verstehen. Wir werden daher nun vom bisher aufgegriffenen theoretischen Hintergrund ausgehend die thomasische Lehre vom Willen und von seiner Bewegung in Hinsicht auf die Chronologie und die Polemik darstellen.
Kapitel II. Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren des 13. Jahrhunderts
Den ersten Schritt tun wir mit der Untersuchung der Lehre vom Willen und von seiner Freiheit in den frühen thomasischen Werken. Als Frühwerk nehmen wir die Werke an, die Thomas in den 50er und 60er Jahren des 13. Jahrhunderts verfasst hat. In diesem Zeitraum hat Thomas als Sententiarus (1252-56) und als Magister der Theologie (1256-59) an der Pariser Universität gelehrt und danach in Italien seine Lehrtätigkeit weitergeführt, bis er 1268/69 wieder nach Paris kommt. Zu den in diesem Zeitraum geschriebenen Hauptwerken des Thomas, die wir bei der Untersuchung seiner Willens- und Freiheitslehre besonders beachten wollen, zählen der Sentenzenkommentar, Quaestiones disputatae de veritate, Summa contra gentiles und Prima Pars. Auf der Basis dieser Texte versuchen wir eine systematische Darstellung der Willenspotenz und ihrer Bewegung zu erbringen. Wir betrachten zunächst den Willen als eine Potenz und behandeln die thomasische Bestimmung des Willens auf seiner metaphysisch-begrifflichen Grundlage und auch im System der menschlichen Seelenvermögen. Dann gehen wir auf die Bewegung des Willens ein, wobei es darauf ankommt, sie in Hinsicht der thomasischen Ursachenlehre zu analysieren. Durch diese Analyse können wir im Unterschied zu anderen Formen des Strebens die spezifische Struktur der Willensbewegung erkennen. Nach der Erklärung über die Ursache und die Struktur der Willensbewegung greifen wir endlich das Problem der Freiheit des Willens auf. Dadurch, dass wir die Argumentation für das liberum arbitrium in den thomasischen Texten genau nachvollziehen, versuchen wir zur Einsicht in den Grundzug und auch die Grenze der frühen thomasischen Freiheitslehre zu gelangen.
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Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren
1. Der Wille als Potenz zur Bewegung 1.1. Bestimmung des Willens als rationales Streben (1) Die metaphysische Grundlage für die Bestimmung des Willens: der Begriff der inclinatio Den Ausgangspunkt, von dem aus eine definitive Bestimmung des Willens vorzulegen ist, nimmt Thomas im Begriff der Neigung (inclinatio). Es ist sehr wichtig, dass bei Thomas der Wille als ein dem Menschen eigentümliches Seelenvermögen auf einen elementaren und metaphysischen Begriff der Neigung zurückgeführt wird, die jedwedem natürlichen Seienden zukommt.1 Die Beispiele, die Thomas beim Erläutern der Neigung immer wieder anführt, sind die natürlichen Bewegungen des elementaren Körpers: dem Feuer ist von Natur aus die Neigung gegeben, sich nach oben zu bewegen, und dem Stein die Neigung, nach unten zu fallen.2 Bereits im frühen Werke findet sich die Stelle, wo Thomas die Bewegung in der Seele vom Begriff der Neigung her erklärt,3 und in der theologischen Summe wird der Wille deutlich als die einer bestimmten Form folgende Neigung bestimmt.4 Die Auffassung, nach der jede natürliche Form eine bestimmte Neigung im Gefolge hat, beruht auf der teleologischen Ansicht des Aristoteles über die Natur und die Bewegung. Aristoteles war stets der Meinung, dass nicht nur bei Kunstfertigkeit, sondern auch bei dem Naturvorgang etwas wie ein Ziel vorhanden und erfassbar ist, und darum sucht er durch die finale Ursächlichkeit in der Natur die Bewegung zu erklären. Dass Thomas von dieser teleologischen
1
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4
Diese Reduktion des Willens auf die Neigung steht z.B. im grundlegenden Kontrast zur Willensvorstellung der scotischen Tradition, wonach der Wille als etwas Aktives und Freies der Natur im Ganzen gegenübergestellt wird. Vgl. Auer, Die menschliche Willensfreiheit im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, S. 48f.; Wolter, The Philosophical Theology of John Duns Scotus, S. 178f. Vgl. De ver., q. 24, a. 1, c; Sum. theol. I, q. 80, a. 1, c. Vgl. In II Sent., d. 24, q. 3, a. 1, c. „unde in partibus animae motus proprie dicitur inclinatio ad aliquid; et ideo quibus viribus inclinatio non convenit, eis proprie motus non attribuitur. Inclinatio autem est in appetitu, qui movet in aliquid agendum; et ideo actus appetitivarum virtutum, motus vocantur." Vgl. Sum. theol. I, q. 87, a. 4. „actus voluntatis nihil aliud est, quam inclinatio quaedam consequens formam intellectam, sicut appetitus naturalis est inclinatio consequens formam naturalem."; Sum. theol. I, q. 61, a. 2, c.
Der Wille als Potenz zur Bewegung
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Konzeption des Aristoteles grundsätzlich geprägt ist, zeigt sich überall in den thomasischen Werken, aber die ausdrücklichste Erklärung können wir im zweiten Kapitel des dritten Teils von Summa contra gentiles finden. Der Begriff des Zieles wird hier vor allem von der Tatsache bestätigt, dass jede Tätigkeit auf eine bestimmte Wirkung {ad determinatum effectum) hingeordnet ist. Diese Wirkung, nach der das Tätige strebt, und in der das Streben des Tätigen zur Ruhe kommt, wird das Ziel genannt.5 Ohne den Begriff des Zieles kann man sich mit dem Begriff der Neigung nicht zurecht finden. Man gewinnt nämlich den Begriff der Neigung dadurch, dass man die Tätigkeit oder die Bewegung des Seienden, die von seiner Natur ausgeht, in Hinsicht auf das Ziel betrachtet. Nach Thomas wird Neigung als „die der Natur entsprechende Hinordnung eines Seienden auf seinen Ziel (ordinatio aliquorum secundum propriam naturam in suum finem)"6 bestimmt. Welche Bedeutung hat aber dieser Neigungsbegriff in der thomasischen Metaphysik? Der Ursprung der Neigung liegt in der Wesensform des Seienden. Die Form begründet nicht nur das Sein des Seienden, sondern somit auch das Wirken des Seienden. Dass etwas tätig ist, sofern es aktuell ist, zählt zu einer der grundlegenden Einsichten der thomasischen Metaphysik. Das Wirken folgt dem Sein, weil das Wirken in der Form sein Prinzip hat, durch das etwas aktuell ist.7 Aber damit die Form das Prinzip des Wirkens sein kann, d.h. damit die Form das Wirken begründen kann, bedarf die Form einer Vermittlung durch die Neigung, weil die ruhende Form in ihrem Wesen und Begriff nur eine Beziehung zum Sein, nicht aber zum Wirken besagt.8 Neigung als solche ist noch keine Tätigkeit oder Bewegung im strengen Sinne des Wirkens, in dem sich die Vereinigung des Strebenden mit seinem Ziel wirklich vollzieht, obwohl Thomas in der Neigung schon eine gewisse Bewegung sieht, die sich auf die Über-
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6 7
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Vgl. ScG III, c. 2, n. 1875. „Si agens non tenderet ad aliquem effectum determinatum, omnes effectus essent ei indifferentes. Quod autem indifferenter se habet ad multa, non magis unum eorum operatur quam aliud: unde a contingente ad utrumque non sequitur aliquis effectus nisi per aliquid determinetur ad unum. Impossibile igitur esset quod ageret. Omne igitur agens tendit ad aliquem determinatum effectum, quod dicitur finis eius." Dieser Zielbegriff ist so allgemein, dass er sich auf jede Tätigkeit und jedes Wirken in der Natur beziehen kann. Bei der Bestätigung des Zielbegriffes hat es daher keine Bedeutung, ob das Tätige die Erkenntnis besitzt oder nicht. Vgl. ScG III, c. 2, n. 1973; De ver., q. 22, a. 1. InIPhys., lect. 15, n. 138; Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. Vgl. ScG II, c. 47; Sum. theol. I, q. 3, a. 2, c. Also entspricht die Eigenart des Wirkens dem spezifischen Wesen der Substanz, das durch die Form bestimmt ist. Das heißt: den verschiedenen Arten des Seienden, die sich durch verschiedene Formen unterscheiden, kommt ein je verschiedenes Wirken zu, das ebenso der jeweiligen Form entspricht. Vgl. Riesenhuber, Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 266.
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Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren
windung der Nichtidentität mit dem Ziel orientiert.9 Die Neigung übt vielmehr die Vermittlung zwischen der ruhenden Form und dem aktiv ausgreifenden Wirken aus.10 Erst wenn die Vermittlung durch die Neigung angenommen wird, kann man die zwei verschiedenen Funktionen, d.h. die Begründung des Seins und des Wirkens im einheitlichen Zusammenhang nicht getrennt verstehen.11 Deshalb sagt Thomas: „die natürliche Form wird nicht das Prinzip des Wirkens genannt, insofern sie in dem bleibt, dem sie das Sein verleiht, sondern insofern sie die Neigung zur Wirkung hat".12 Die metaphysische Bedeutung, die zwischen Sein und Wirken der Neigung zugeschrieben wird, ist im Kommentar zu De anima II lapidar ausgedrückt: „alles Sein entspricht einer Form... aus jeder entspringt eine gewisse Neigung, und aus der Neigung eine Tätigkeit (operatio)"u (2) Die Entfaltung der inclinatio Um den Begriff des Willens deutlich zu machen, müssen wir nicht nur die allgemeine Bedeutung der Neigung als des begrifflichen Fundaments des Willens, sondern auch das Spezifikum des Willens in der Entfaltung der Neigung zur Sprache bringen. Darum ist es nun die Aufgabe, die differenzierten Stufen der Neigung zu erwägen. Das ist auch die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir in Bezug auf die Begründung der Willensfreiheit die Frage klären können, inwiefern der Wille als mit dem natürlichen und dem sensitiven Streben kontinuierlich, bzw. diskontinuierlich zu erfassen ist. Die Neigung, die Thomas auch als natürliches Streben (appetitus naturalis) bezeichnet, bildet die Gattung des Strebens, das wiederum als der Gattungsbegriff des Willens angesehen wird. Gemäß der Rangordnung des Seinsbereiches teilt Thomas seinen Grundbegriff der Neigung oder des Strebens gewöhnlich in die drei Arten, d.h. das natürliche, das sensitive und das rationale Streben ein. Das natürliche Streben kommt den Lebewesen ohne das kognitive Vermögen
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Vgl. Riesenhuber, a.a.O., 119f.; Aertsen, Nature and Creature, S. 342. Vgl. Riesenhuber, a.a.O., S.229f. Vgl. Riesenhuber, a.a.O., S. 266f. Sum. theol. I, q. 14, a. 8, c. „Sed considerandum est quod forma naturalis, inquantum est forma manens in eo cui dat esse, non nominat principium actionis; sed secundum quod habet inclinationem ad effectum." In II De anima, lect. 5, n. 286. „Sed quia omne esse est secundum aliquam forman... Ex unaquaque autem forma sequitur aliqua inclinatio, et ex inclinatione operatio; sicut ex forma naturali ignis, sequitur inclinatio ad locum qui est sursum, secundum quam ignis dicitur levis: et ex hac inclinatione sequitur operatio, scilicet motus qui est sursum."
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und den leblosen Dingen zu, denen nur die natürliche Form innewohnt. Die natürliche Form „legt jedes einzelne auf das eine ihm eigene Sein fest, welches einem jeden natürlich ist".14 Demnach ist das natürliche Streben, das den der Erkenntnis entbehrenden Wesen zukommt, notwendig auf die eine Richtung festgelegt, die durch die natürliche Form gefordert ist.15 Aber im Streben eröffnet sich mit dem Eintritt eines anderen Vermögens im beseelten Wesen, d.h. mit dem Eintritt des Erkennens eine neue Phase. Die grundlegende Verschiedenheit der erkennenden Wesen von denjenigen, denen die Erkenntnis fehlt, liegt darin, dass sich in jenen nicht nur die natürliche Form, sondern auch eine andere Form dessen, was durch die Sinne oder den Verstand erkannt wird, findet.16 Auf dieser Form, die von der natürlichen unterschieden ist, und die Thomas die Erkenntnisform nennt, gründet ein erworbenes Streben, und in den erkennenden Wesen wird zu dem natürlichen Streben noch das erworbene, der Erkenntnisform entsprechende Streben hinzugefugt. 17 Das besagt: das erkennende Wesen kann nicht nur nach dem streben, wohin es sich aufgrund seiner natürlichen Form hinneigt, sondern auch nach dem, was es als Gutes auffasst. 18 Dass ein Wesen erkennend die Form anderer Dinge aufnimmt, lässt sich daher als eine gewisse Verinnerlichung der bewegenden Kraft des Zieles auslegen. Das Streben der Wesen, zu denen das Erfassen (apprehensio) gehört, heißt das sensitive Streben (appetitus sensitivus).19 Thomas sieht das sensitive Streben als höher an als das natürliche Streben, „wie die Formen in den erkennen-
14 Sum. theol. I, q. 80, a. 1, c. „In his enim quae cognitione carent, invenitur tantummodo forma ad unum esse proprium determinans unumquoque, quod est naturale uniuscuiusque." 15 Vgl. Dever.,q. 22, a. 3, ad 2. 16 Thomas schreibt: „Bei den erkennenden Wesen wird jedes einzelne durch die natürliche Form so auf das eigene natürliche Sein festgelegt, dass es trotzdem die Erkenntnisform anderer Dinge aufnehmen kann." Sum. theol. I, q. 80, a. 1, c; Vgl. Sum. theol. I, q. 14, a. 1, c. 17 Dieser Auffassung, dass die Erkenntnis eine neue Art des Strebens ermöglicht, liegt der folgende Gedanke zugrunde: Erkennen heißt für ein Seiendes, zu gleicher Zeit es selbst und ein Anderes sein. (Vgl. Sertillanges, Der heilige Thomas von Aquin, S. 666) Sofem ein Seiendes durch das Erkennen andere Dinge aufnehmen und sich zu eigen machen kann, kann sich das Seiende gewissermaßen die Vollkommenheiten der anderen Dinge aneignen, und somit wird die Beschränktheit des einzelnen Seienden und dessen Getrenntheit vom anderen etwa gemildert. (Vgl. Zimmermann, Thomas lesen, S. 151 f.) 18 Vgl. Sum. theol. I, q. 80, a. 1, c. 19 Thomas definiert den appetitus sensitivus als das Streben, das der sinnlichen Erkenntnis folgt, und bezeichnet es manchmal auch als „Sinnlichkeit. (sensualitas)" (Vgl. Sum. theol. I, q. 81, a. 1, c; N. Kretzmann, „Philosophy of mind", in: The Cambridge Companion to Aquinas, S. 144)
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den Wesen eine höhere Seinsweise haben als die natürlichen Formen".20 Diese Wertsteigerung ist vor allem an dem Merkmal erkennbar, dass das sensitive Streben nicht mehr auf die eine Richtung festgelegt ist, sondern sich gemäß der Vielzahl der aufgefassten Dinge auf verschiedene Objekte richten kann.21 Während das natürliche Streben mit der Notwendigkeit auf sein Objekt hingelenkt wird, sofern dieses Objekt als sein von der natürlichen Form entsprechendes Ziel gegeben ist, richtet sich das sensitive Streben auf sein Objekt, sofern dieses Objekt vom Erkenntnisvermögen als angemessen und erstrebenswert wahrgenommen wird.22 Da den Tieren bzw. den Wesen mit dem sensitiven Strebe- und Erkenntnisvermögen die verschiedenen Dinge als genussbringend und nützlich erscheinen können, sind die Tiere zunächst im gewissen Sinne davon nicht determiniert, nach einem einzigen bestimmten Ding zu streben, sondern sie haben mehrere mögliche Gegenstände des Strebens.23 Die Fähigkeit, die Formen der anderen Seienden erkennend aufzunehmen und in sich selbst mehrere Prinzipien für das Streben zu behalten, löst also die Tiere von der Notwendigkeit ab, sich auf ein einziges bestimmtes Objekt zu lenken. In diesem Sinne schreibt Thomas den Tieren eine bedingte Freiheit und etwas wie ein Abbild der freien Entscheidung zu.24
20 Sum. theol. I, q. 80, a. 1, c. „Sicut igitur formae altiori modo existunt in habentibus cognitionem supra modum formarum naturalium, ita oportet quod in eis sit inclinatio supra modum inclinationis naturalis, quae dicitur appetitus naturalis." Vgl. Sum. theol. I, q. 14, a. 1, c. „Sed cognoscens natum est habere formam etiam rei alterius, nam species cogniti est in cognoscente. Unde manifestum est quod natura rei non cognoscentis est magis coactata et limitata: natura autem rerum cognoscentium habet maiorem amplitudinem et extensionem." 21 Vgl. De ver., q. 22, a. 3, ad 2. „Et ideo, cum appetitus naturalis sit determinatus ad unum, nec possit esse multiformis, ut in tot diversa se extendat quot animalia indigent; necessarium fuit ut animalibus superadderetur appetitus animalis consequens apprehensionem, ut ex multitudine apprehensorum, animal in diversa feratur."; q. 25, a. 1, c. „Sed quia [sensualitas] non tendit tantum in hanc rem aut tantum in illam, sed in omne id quod est sibi utile vel delectabile, ideo est supra appetitum naturalem; et propter hoc apprehensione indiget, per quam delectabile a non delectabili distinguat. Et huius distinctionis signum evidens est, quod appetitus naturalis habet necessitatem respectu ipsius rei in quam tendit... Appetitus autem sensitivus non habet necessitatem in rem aliquam, antequam apprehendatur sub ratione delectabilis vel utilis." 22 Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. 23 Vgl. De ver., q. 22, a. 3, ad 2. 24 Vgl. De ver., q. 24, a. 2, c. „Et similiter est in eis quaedam similitudo liberi arbitrii, inquantum possunt agere vel non agere unum et idem, secundum suum judicium, ut sic sit in eis quasi quaedam conditionata libertas: possunt enim agere, si iudicant esse agendum, vel non agere, si non iudicant."; Auer, a.a.O., S. 42.
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Die Wertsteigerung hört aber nicht mit dem sensitiven Streben auf. Im Menschen kommt nämlich dem Vermögen des sinnlichen Strebens das Vermögen des rationalen oder intellektuellen Strebens (appetitus rationalis seu intellectivus), das der Wille genannt wird, hinzu. Mit dem Willen eröffnet sich ein wesentlich neuer Horizont der Freiheit, die keineswegs auf die dem sensitiven Vermögen gebührende, beschränkte Freiheit zurückgeführt werden kann. Die animalischen Wesen haben trotz der gewissen Indeterminiertheit zu einem bestimmten Objekt keine Herrschaft über die Neigung selbst, deswegen können sie nicht umhin, etwas zu begehren, was ihnen als etwas Genussbringendes erscheint.25 Sobald ein Gegenstand vom Tier als erstrebenswert erkannt wird, ist also die Indeterminiertheit des sinnlichen Strebens im Hinblick auf den Gegenstand völlig gelöscht.26 Dagegen ist der Wille nicht auf das erfasste Gute festgelegt, weil er aufgrund der Erstrebenswürdigkeit nur auf das absolut genommene Gute selbst geht.27 In diesem Sinne steht beim Menschen die Neigung in seiner Gewalt. Thomas sieht so in der Idee des Willens die freie Neigung, und stellt mit diesem Kriterium deutlich dem naturhaften Streben den Willen gegenüber.28 Den genauen Sinn und den tieferen Grund der Freiheit werden wir im späteren Teil bis in alle Einzelheiten untersuchen. Hier sei nur noch erwägt, aus welchem Grund im Menschen der Wille, die höchste Neigungsform, als ein vom sinnlichen Streben verschiedenes eigenes Vermögen anzunehmen ist. Die Notwendigkeit, das mit dem Erkenntnisvermögen verbundene Streben in die zwei Arten aufzuteilen, besteht zuletzt in der Unterscheidung der menschlichen Erkenntnisarten, d.h. der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnis. Der Mensch kann durch das sinnliche Erkenntnisvermögen das Einzelne mit den wahrnehmbaren Gegebenheiten erfassen, aber er besitzt auch das Verstandesvermögen, wodurch das Allgemeine erfasst wird. Da aber das durch den Verstand Erfasste zu einer anderer Ordnung gehört als der Ordnung, zu der
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Vgl. De ver., q. 22, a. 4, c. „Animal enim ad aspectum delectabilis non potest non concupiscere illud; quia ilia animalia non habent dominium suae inclinationis." Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. „Sed apprehenso quod est delectabile, de necessitate fertur in illud: non enim potest brutum animal inspiciens delectabile, non appetere illud." Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. „Appetitus autem superior, qui est voluntas, tendit directe in rationem appetibilitatis absolute; sicut voluntas ipsam bonitatem appetit primo et principaliter, vel utilitatem, aut aliquid huiusmodi; hanc vero rem vel illam appetit secundario, inquantum est praedictae rationis particeps..." Vgl. De ver., q. 23, a. 1, c. „Sed in natura intelletuali, ubi perfecte aliquid recipitur immaterialiter, invenitur perfecta ratio liberae inclinationis; quae quidem libera inclinatio rationem voluntatis constituit."
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Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren
das durch die Sinne Erfasste gehört, muss das Streben, das sich zum erfassten erstrebbaren Objekt so verhält, wie das Bewegte zum Bewegenden, in das sinnliche und das intellektuelle aufgeteilt werden.29 Daraus ergibt sich, dass in der menschlichen Seele neben dem sinnlichen Strebevermögen eine eigene Potenz zum auf dem Erkennen des Allgemeinen fundierenden Streben, d.h. der Wille, anzunehmen ist. Der Wille hat als rationale und freie Neigung auf der höchsten Neigungsstufe seinen Platz. Er ist der Ausdruck einer bestimmten Neigung, welche die Vernunftseele als die Wesensform des Menschen von sich aus besitzt.30 Laut dieser Auffassung lässt sich der Begriff des Willens unter dem ausgedehnten Begriff der Neigung und zwar durch den Artunterschied der Verbundenheit mit dem intellektuellen Erkenntnisvermögen verstehen. Damit wird der Wille als etwas Zusammengesetztes aus dem Streben und der Rationalität vorgestellt.31 Was mit dieser Zusammensetzung oder Verknüpfung wirklich gemeint wird, muss in erster Linie durch die Untersuchung des Willensaktes erläutert werden. Aber wir müssen zuerst die eigentümliche Bestimmung des Willens in Hinsicht auf seine Potenz noch klären, und zwar indem wir durch die systematische Analyse der inneren Konstitution der Seele das Verhältnis des Willens zu anderen Seelenvermögen erhellen.
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Die Einsicht des Thomas, die der angeführten Argumentation zugrunde liegt, ist: Das erfasste Erstrebbare (appetibile apprehensum) bildet das Bewegende des Strebens, und das Bewegte oder das Erleidende wird nach der Aufteilung des Bewegenden oder des Wirkenden aufgeteilt. So werden der Wille und das sinnliche Streben gemäß dem Unterschied zwischen den Objekten des jeweiligen Strebens unterschieden, die ihm das Erkennen ermöglichen. Vgl. Sum. theol. I, q. 80, a. 2, c. „Potentia enim appetitiva est potenta passiva, quae nata est moved ab apprehenso... Passiva autem et mobilia distinguuntur secundem distinctionem activorum et motivorum... et ipsa potentia passiva propriam rationem habet ex ordine ad suum activum." 30 Die menschliche Seele hat nun die ihr eigene Tätigkeit, die das Leben genannt wird. Die menschliche Seele kann also zunächst als ein Vermögen zum Lebensvollzug aufgefasst werden, welcher aber als ihre zweite Wirklichkeit jeweils von der konkreten Zielstrebigkeit bestimmt und geführt wird. Dem Lebensvollzug dient auch der Wille, sofern der Wille als ein bestimmtes Vermögen, das sich seinem Wesen nach auf die menschliche Zielstrebigkeit bezieht, der Seele angehört. Der Wille ist ein Vermögen zur bestimmten seelischen Bewegung, die das Wollen genannt wird, und das Wollen ist der unmittelbare, wirkende Ursprung, von dem aus die äußere und konkrete Handlung des Menschen ausgeht. 31 Vgl. Auer, a.a.O., S. 46.
Der Wille als Potenz zur Bewegung
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1.2. Wille im thomasischen System der Seelenvermögen
(1) Die Analyse der Vermögen der menschlichen Seele Die Untersuchung der naturhaften Vermögen der menschlichen Seele wird vor allem in der theologischen Summe I q. 7 5 - 8 3 angestellt. Für diese Untersuchung ist zuerst die grundlegende Frage aufzuwerfen, in welchem Sinne in der Seele die verschiedenen Vermögen angenommen werden. Worum es sich in dieser Frage wesentlich handelt, ist die Nichtidentität zwischen dem Vermögen und der Wesenheit der Seele. Die Wesenheit der Seele (essentia animae), die als Form, bzw. als die erste Wirklichkeit des natürlichen Körpers definiert wird, vermag ihrem Begriff nach nicht unmittelbar das Fundament für die zweite Wirklichkeit, bzw. die Tätigkeit der Seele zu sein. 32 Denn dann würde man, abgesehen von vielen anderen Problemen, auf die Schwierigkeit stoßen, dass die Einheit der Seele als der Form mit der Mannigfaltigkeit der Tätigkeit nicht vereinbart werden kann.33 Deshalb muss man in der Seele die pluralischen Vermögen annehmen, die mit der Substanz der Seele nicht gleichgesetzt wer-
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Vgl. Sum. theol. I, q. 77, a. 1, c. „Non enim, inquantum est forma, est actus ordinatus ad ulteriorem actum, sed est ultimus terminus generationis. Unde quod sit in potentia adhuc ad alium actum, hoc non competit ei secundum suam essentiam, inquantum est forma; sed secundum suam potentiam. Et sic ipsa anima, secundum quod subest suae potentiae, dicitur ,actus primus', ordinatus ad actum secundum." Vgl. Auer, a.a.O., S. 58; S. 63. Die Unmöglichkeit der Annahme, dass die Wesenheit der Seele selbst das Vermögen der Tätigkeiten sei, wird außerdem durch die folgende Argumentation in theologischer Hinsicht dargelegt: Nur bei Gott ist seine Tätigkeit mit seiner Substanz identisch, und bei allen Geschöpfen fallt die Tätigkeit nicht unter der Gattung der Substanz, sondern der Akzidentien. Aber Wirklichkeit (actus) und Möglichkeit (potentia) müssen auf dieselbe Gattung bezogen werden. Folglich kann beim Geschöpf das Vermögen (potentia) zur Tätigkeit, die sich der Gattung der Substanz entzieht, keineswegs mit der Substanz oder der Wesenheit selbst gleichgesetzt werden. (Vgl. Sum. theol. I, q. 77, a. 1, c.) Ein anderes Argument beruht interessanterweise auf der Überzeugung der Unmöglichkeit der Selbstbewegung. Wenn die Seelenvermögen mit der Substanz der Seele gleich wäre, könnte ein Seelenvermögens das andere nicht bewegen, weil sich ein und dasselbe nicht in ein und derselben Hinsicht selbst bewegen kann. Also wäre es jedenfalls sinnlos, dass sich die verschiedenen Vermögen bei den konkreten Tätigkeiten, wie z.B. Erkennen oder Wollen, wechselseitig bewegen. (Vgl. spir. creat., a. 11) Überdies fuhrt die Identifizierung von Vermögen und Wesenheit der Seele dazu, dass sich das, was die Seele hat, immer in der wirklichen Lebenstätigkeit befinden müsse, wie das, was die Seele hat, immer lebendig ist. (Vgl. Sum. theol. I, q. 77, a. 1, c.)
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den, sondern vielmehr zur Seele wie als Akzidens angehören sollen.34 Auf diese Weise sind die Vermögen, die der Mannigfaltigkeit der Tätigkeit der Seele entsprechen, als die spezifischen nächsten Prinzipien für die Tätigkeiten, und die einheitliche Wesenheit oder Substanz der Seele als das erste Prinzip für die Tätigkeiten zu verstehen. Die systematische Analyse der vielfaltigen Vermögen der menschlichen Seele wird vor allem in der Prima pars q. 78 a. 1 durchgeführt. Thomas fuhrt die von Aristoteles aufgezählten fünf Gattungen der Seelenvermögen - Ernährungsvermögen, sinnliches Wahrnehmungsvermögen, Strebevermögen, Bewegungsvermögen und Verstandesvermögen - ein, und ordnet diese Gattungen je nach dem Gegenstand, wobei er sich auf den Grundsatz stützt, das Wesen des Vermögens sei von seiner Tätigkeit aus zu erkennen und die Tätigkeit werde wiederum von ihrem Objekt bestimmt.35 Er unterscheidet die Seelenvermögen nach der dreifachen Ordnung, die man in den Gegenständen der Seelenvermögen beobachten kann, wie folgt: (i) Das Vermögen, das einzig den mit der Seele vereinigten Körper zum Gegenstand hat. Hier wäre das Ernährungsvermögen zu nennen, (ii) Dasjenige, das jeden sinnlichen Körper zum Gegenstand hat. (iii) Dasjenige, das allgemein jedes Seiende zum Gegenstand hat.36 Die zweite und die dritte Gattung der Vermögen, die hinsichtlich des Außendinges die Tätigkeit haben, werden wieder unterschieden, und zwar nach der doppelten Weise, in der sich das Außending auf die Seele bezieht. Erstens, sofern sich das Außending durch Erkennen mit der Seele verbunden wird, gibt es zwei Gattungen der Vermögen: Das sinnliche Wahrnehmungsvermögen, das sich zum sinnfälligen einzelnen Körper wendet, und das Verstandesvermögen, das das Allgemeine zum Gegenstand hat. Zweitens, sofern das Außending durch Streben und Tendieren mit der Seele verbunden wird, unterscheiden sich das Strebevermögen und das Bewegungsvermögen je nach dem, ob sich nun das Außending als Ziel {finis) oder als Endpunkt der Bewegung (terminus motus) auf die
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In dem Sinne, dass das Vermögen der Seele weder die Wesenheit noch ein Teil der Wesenheit der Seele ist, stimmt es mit dem Prädikat des Akzidens überein. Aber das Seelenvermögen kann nicht in dem Sinne als Akzidens aufgefasst werden, dass es nur dem Individuum folgt und nicht von den Wesensprinzipien der Art (ex principiis essentialibus speciei) verursacht wird. Vielmehr bestimmt Thomas das Vermögen der Seele als „das Eigentümliche (proprium)", das zwar nicht zur Wesenheit der Dinge gehört, aber vom Wesensprinzip der Art verursacht wird und somit dem Subjekt als innere Bestimmung seiner Wesenheit notwendig zukommt. (Vgl. Sum. theol. I, q. 77, a. 1, ad 5; De princ. nat., c. 2; Auer, a.a.O. S. 64) Vgl. Sum. theol. I, q. 80, a. 2; q. 82, a. 3, c; De ver., q. 22, a. 11. Vgl. Sum. theol. I, q. 78, a. I, c.
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Seele bezieht. So bestimmt und ordnet Thomas die von Aristoteles im zweiten Buch De anima aufgezählten fünf Gattungen der Seelenvermögen nach dem Gegenstand und nach der Weise der Beziehung auf den Gegenstand.37 Gemäß dieser Ordnung der Seelenvermögen müssen wir nun den Willen vom sinnlichen Streben einerseits und vom Verstand andererseits begrifflich abgrenzen, um die präzise Bestimmung des Willens zu erreichen. (2) Wille und sinnliches Streben Der Wille gehört, wie das sinnliche Streben, zur Gattung des Strebevermögens, das sich auf den Gegenstand dadurch bezieht, dass es zum Gegenstand als Ziel hinneigt. Was bei der Scheidung zwischen dem Willen und dem sinnlichen Streben Schwierigkeit bereitet, ist vor allem die Tatsache, dass diese beiden Vermögen ihrem Objekt nach nicht leicht voneinander abgegrenzt werden können, weil sie einen gemeinsamen Gegenstand zu haben scheinen.38 Dieser gemeinsame Gegenstand heißt nach Thomas „etwas, was in der Natur des wirklichen Dinges (in rerum natura) existiert, das in der Weise eines Einzelnen, nicht eines Allgemeinen ist",39 d.h. die dem strebenden Subjekt angemessene und
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Diese Ordnung kann wie im folgenden Schema gezeigt werden. Nach dem Gegenstand des Vermögens
* Nach der Weise der Beziehung zum Gegenstand Sofern die Seele den Sofern die Seele Gegenstand erkennt zum Gegenstand hinneigt (Gegenstand als Ziel)
Sofern die Seele zum Gegenstand hinneigt (Gegenstand als Endpunkt der Bewegung)
Seiendes im allgemeinen
Verstand
Bewegungsvermögen
Jeder sinnliche Körper
Sinnl. Wahrnehmungsvermögen
Der mit der Seele vereinte Körper
Ernährungsvermögen
Strebevermögen : Wille und Sinnl. Strebevermögen
38 Diese Schwierigkeit erwähnt Thomas deutlich in Sum. theol. I, q. 80, a. 2 als zweiten Einwand: „cognitio intellective est universalium, et secundum hoc distinguitur a sensitiva, quae est singularium. Sed ista distinctio non habet locum ex parte appetitvae: cum enim appetitus sit motus ab anima ad res, quae sunt singulares, omnis appetitus videtur esse rei singularis." 39 De ver., q. 22, a. 4, ad 2. „...appetitus semper intendat ad aliquid in rerum natura existens, quod est per modum particularis, et non universalis..."
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außerhalb der Seele stehende partikulare Entität. Sofern auch der Wille das einzelne Ding zu seinem unmittelbaren Gegenstand haben muss, kann man den von Thomas festgestellten Grundsatz, nach dem die Unterscheidung zwischen den Strebevermögen der Unterscheidung zwischen den Erkenntnisarten folgt,40 nicht so verstehen, als ob die Unterscheidung des Willens und des sinnlichen Strebens, wie die Unterscheidung des Verstandes und der Sinne, von der Verschiedenheit der Objekte abhinge. Wie sollte man dann die Bezogenheit der Unterscheidung der Strebevermögen auf die Unterscheidung der Erkenntnisvermögen verstehen? Diese Bezogenheit zeigt sich in der Tätigkeitsweise der strebenden Vermögen, wie Thomas erklärt: „das Streben wird bisweilen durch die Auffassung einer allgemeinen Bedingung in Bewegung gebracht, z.B. erstreben wir dies bestimmte Gut auf Grund einer Erwägung, die uns das Gute schlechthin als erstrebenswert erscheinen lässt; bisweilen durch die Auffassung eines Besonderen in seiner Besonderheit."41 Der Wille kann also als dasjenige Strebevermögen bestimmt werden, in dessen Tätigkeit die vom Verstand aufgenommene allgemeine Form die wesentliche Rolle der inneren Motivation spielt, damit sich die Tätigkeit nach ihrem unmittelbaren äußeren Gegenstand richtet. Dagegen bildet beim sinnlichen Streben die sinnliche Form des bestimmten einzelnen Wahrgenommenen den Grund für die zornmütige und begehrende (irascibilis et concupiscibilis) Tätigkeit. Da das sinnliche und das rationale Streben nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch die Weise des Strebens unterschieden werden, bezeichnet Thomas sie als verschiedene Vermögen innerhalb einer Gattung, während Sinn und Verstand, die jeweils verschiedene Gegenstände haben, als verschiedene Gattungen von Vermögen angesehen werden.42 Die Tätigkeitsweise, die als Kriterium für die Aufteilung des sinnlichen und des rationalen Strebens aufgestellt wird, beruht auf der Beschaffenheit (dispositio) des zutreffenden Strebevermögens,43 wobei es entscheidend ist, auf welches Erkenntnisvermögen es sich bezieht. Diese Bezogenheit darf also nicht als nur erst in der Phase der Tätigkeit akzidentell vorkommendes Phänomen aufgefasst werden. Die Bezogenheit des Strebens auf das Erkenntnisvermögen bildet vielmehr den dem jeweiligen Stre40 41
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Vgl. Sum. theol. I, q. 80, a. 2, c; siehe Anmerkung 29. De ver., q. 22, a. 4, ad 2. „.. .tarnen ad appetendum quandoque movetur per apprehensionem alicuius universalis conditionis: sicut appetimus hoc bonum ex hac consideratione qua consideramus simpliciter bonum esse appetendum; quandoque vero per apprehensionem particularis secundum suam particularitatem." Vgl. De ver., q. 22, a. 4, ad 2; ad 4; De ver., q. 10 a. 1, ad 4. Vgl. De ver., q. 10, a. 1, ad 2. „Modus autem actionis provenit ex dispositione agentis: quia quanto fuerit agens perfectius, tanto est eius actio perfectior."
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bevermögen wesentlich zukommenden Artunterschied innerhalb einer Gattung, und deutet an, woraus das Strebevermögen hervorgeht und worin es seine Wurzel hat. Wenn man den Willen nicht hinsichtlich seines Gegenstandes, sondern hinsichtlich seiner Tätigkeitsweise und somit hinsichtlich seiner Wurzel in der Seele betrachtet, erscheint der Wille als zusammengehörig mit dem Verstand.44 Die Komplikation der intellektuellen Erwägung in der Tätigkeit des Willens kennzeichnet die Zurückfuhrbarkeit des Willens auf den geistigen und immateriellen Seelenteil.45 In der Immaterialität, bzw. in der grundsätzlichen Unabhängigkeit der Willenstätigkeit vom körperlichen Organ, besteht der Sinn der Rationalität, der als der Artunterschied des Willens erwähnt wurde. Im Hinblick auf die Immaterialität, worin der Wille wurzelt, kann man sagen, dass der Wille und der Verstand auf denselben Teil der Seele zurückgeführt werden.46 Die Immaterialität ermöglicht die auf einem allgemeinen Grund (secundum aliquam rationem universalem) erfolgende spezifische Tätigkeit des Strebens, und diese rationale Tätigkeit charakterisiert die sich selbst bestimmende Neigung, die sich zwar auf den einzelnen Gegenstand richtet aber nicht auf einen bestimmten, sinnlich erfassten Gegenstand festgelegt ist.
(3) Wille und Verstand Obwohl Wille und Verstand gleich dem obersten Teil der Seele zukommen, und zwar hinsichtlich der Immaterialität, in der sie wurzeln, werden sie insofern in zwei verschiedene Gattungen aufgeteilt, als sie in ihrer Beziehung zum Objekt betrachtet werden. Thomas hebt hier bekanntlich die doppelte Weise hervor, in der sich das Ding zur Seele verhalten kann: „Etwas ist einmal insofern Objekt der Seele, als es geeignet ist, nicht seiner eigenen Seinsweise, sondern der Seinsweise der Seele nach in der Seele zu sein, d.h. in geistiger Weise... Ferner ist etwas Objekt der Seele, sofern die Seele, gemäß der Weise des in sich
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Vgl. De ver., q. 10, a. 1, ad 2. „ Et ideo, si considerentur huiusmodi potentiae secundum quod egrediuntur ab essentia animae, quae est subiectum earum, voluntas invenitur in eadem coordinatione cum intellectu; non autem appetitus inferior, qui in irascibilem et concupiscibilem dividitur." Vgl. Sum. theol. I, q. 77, a. 7, c; Riesenhuber, a.a.O., S. 81f. Vgl. De ver., q. 22, a. 10, ad 2. „Si vero voluntas consideretur secundum id in quo radicatur, sie, cum voluntas non habeat Organum corporale, sicut nec intellectus, voluntas et intellectus ad eadem partem animae reducentur."; Sum. theol. I, q. 59, a. 2, c; Auer, a.a.O., S. 84.
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Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren
selbst existierenden Dinges selbst, dazu neigt und daraufhingeordnet ist."47 Das Ding kann nur dadurch in geistiger Weise in der Seele existieren, dass es von der Seele erkannt wird. Deshalb wird das Ding in erster Weise im Verhältnis zur Seele als Erkenntnisgegenstand bestimmt. In zweiter Weise wird dagegen das Ding als Strebensziel bestimmt. Man kann also ein jedes Ding, obwohl es der Realität nach ein und dasselbe ist, im doppelten Sinn betrachten, nämlich als das Wahre und als das Gute.48 Entsprechend dieser Verschiedenheit des formalen Sinns der Objekte sind die zwei unterschiedlichen Gattungen der Vermögen anzunehmen, d.h. Erkenntnisvermögen und Strebevermögen, denen jeweils Verstand und Wille angehören. Weil sich das Außending, von der erkennenden Seele assimiliert, durch seine Ähnlichkeit in der Seele befindet, wird der Verstand als das bestimmt, was alles wird, um alles zu sein 49 Aber der Wille wird als das Vermögen bestimmt, das sich auf das Andere bezieht und darin den Charakter der Hinneigung besitzt.50 Diese Gattungsverschiedenheit, die dem Willen und dem Verstand zukommt, sofern dieser apprehensive und jener appetitive Potenz ist, kann auch in ihrer Tätigkeit deutlich bestätigt werden, „denn der Sinn der Objekte bedingt spezifisch verschiedene Betätigung der Potenzen."51 Die Tätigkeiten der beiden Vermögen können nämlich nicht in demselben Sinne als Tätigkeit bezeichnet werden: da die Tätigkeit des Erkenntnisvermögens dadurch vollendet wird, dass die erkannten Dinge im erkennenden Sinne sind, wird nämlich die Tätigkeit des Erkennens mit der Ruhe verglichen, während die
47 De ver., q. 22, a. 10, c. „Et sie obiectum animae est aliquid dupliciter. Uno modo inquantum natum est esse in anima non secundum esse propriam, sed secundum modum animae, id est spiritualiter; et haec est ratio cognoscibils inquantum est cognoscibile. Alio modo est aliquid obiectum animae secundum quod ad ipsum anima inclinatur et ordinatur secundum modum ipsius rei in seipsa existentis; et haec est ratio appetibilis inquantum est appetibile." 48 Das Wahre und das Gute sind die Transzendentalien, die das Seiende im ganzen betreffen und den Sinngehalt vom Begriff des Seienden erschließen. Dass einem und demselben Ding diese verschiedene Bestimmung zugesprochen wird, veranschaulicht Thomas mit dem Beispiel: der Sinn des Feuers wird in Bezug auf die Potenz der Luft, die Wärme des Feuers aufzunehmen, anders aufgefasst als in Bezug auf die Potenz der Luft, das Licht aufzunehmen. Vgl. De ver., q. 22, a. 10, ad 1. 49 Vgl. De ver., q. 1, a. 2, ad 4; In III de anima, lect. 13, n. 790. 50 Vgl. Sum. theol. I, q. 78, a. 1, c. 51 De ver., q. 22, a. 10, ad 1. „distinetio potentiarum non ostenditur ex obiectis secundum rem consideratis, sed secundum rationem: quia ipsae rationes obiectorum specificant ipsas operationes potentiarum."
Ursache und Struktur der Willensbewegung
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Tätigkeit des Strebens, deren Vollendung in der Hinneigung zum erstrebbaren Ding selbst liegt, mit der Bewegung verglichen wird.52
2. Ursache und Struktur der Willensbewegung 2.1. Die Ursachen des Strebens (1) Die allgemeine und metaphysische Betrachtung der Ursächlichkeit im Streben Bisher haben wir den Willen als eine Potenz betrachtet und in dieser Hinsicht eine definitive und begriffliche Bestimmung dessen versucht, was ihn vor anderen seelischen Vermögen auszeichnet. Nun fragen wir nach den Ursachen der Willensbewegung, aber zunächst im Allgemeinen nach den Ursachen des Strebens. Wodurch kommt überhaupt das Streben zustande und wie verhält sich die Ursächlichkeit des Strebens auf den jeweiligen Stufen? Beim Untersuchen der Ursache des Strebens muss man aber nicht zuletzt die Bedeutung des Guten, das als das Objekt oder das Ziel des Strebens bestimmt wird, beachten. Um diese Bedeutung zu ergründen, müssen wir zuerst damit anfangen, wie Thomas das Gute im allgemeinen definiert. Beim Definieren des Guten hält Thomas an der von Aristoteles ausgegangenen Tradition fest, nach der das Gute „das, wonach alle streben" heißt.53 Diese berühmte und von Thomas sehr häufig angeführte Bestimmung darf aber nicht so missverstanden werden, als ob etwas deswegen gut sei, weil es erstrebt werde. Vielmehr wird damit nur gemeint, dass im Wesen des Guten der Grund der Erstrebbarkeit liegt und das Gute von Natur aus das Streben erweckt. Das Wesen des Guten wird in die Relation zum Streben nicht aufgelöst, und damit erschöpft der Charakter des Ziels, den das Gute deswegen hat, weil es erstrebt wird, nicht das Wesen des Guten.54 Das Gute ist ja dem Streben an Rang über-
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Vgl. Sum. theol. I, q. 81, a. 1, c . , A c t u s enim apprehensivae virtutis non ita proprie dicitur motus, sicut actio appetitus: nam operatio virtutis apprehensivae perficetur in hoc, quod res apprehensae sunt in apprehendente; operatio autem virtutis appetitivae perficetur in hoc, quod appetens inclinatur in rem appetibilem Et ideo operatio apprehensivae magis assimilatur quieti, operatio autem virtutis appetitivae magis assimilatur moti." Aristoteles, Nikomachische Ethik I, c. 1, 1 0 9 4 a 2 - 3 ; Vgl. Thomas, In I Eth., lect. 1, n. 9; De ver., q. 1, a. 1 c; ScG III, c. 3; Sum. theol. I, q. 5, a. 1, c; a. 4, c. u.a. Vgl. Aertsen, a.a.O., S. 338; Riesenhuber, a.a.O., S. 40.
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legen, wie die Ursache von höherer Art als ihre Wirkung ist. Das Streben besagt nichts mehr als die Wirkung des Guten, und demnach hat jene Definition den Charakter der Definition aus der Wirkung des zu Definierenden. Die Verhältnisbestimmung des Guten und des Strebens als der Ursache und der Wirkung wird einleuchtend, wenn wir eine andere Definition des Guten, die Thomas auch kennt, in die Überlegung einbeziehen. Nach der Definition, die er von Dionysius Areopagita übernimmt, besteht das Wesen des Guten darin, sich selbst zu verbreiten (diffusivum sui).55 Das bedeutet: aus dem Wirklichsein geht die Wirksamkeit hervor, weil das Wirklichsein etwas Gutes ist.56 Thomas sieht das Wesen des Guten, das dem Streben vorgeordnet und von ihm unabhängig ist, darin, dass etwas in Wirklichkeit ist. In diesem Wirklichsein besteht der Grund der Erstrebbarkeit.57 Sofern das Seiende wirklich ist, ist es nämlich vollkommen, und sofern es vollkommen ist, wird es wiederum erstrebt, „weil alles seine Vollkommenheit erstrebt".58 So begründet Thomas die Erstrebbarkeit des Guten auf dem Vollkommensein, das letztlich auf das Wirklichsein zurückzufuhren ist. Das Wirklichsein ruft als das Wesen des Guten das Streben hervor, und in diesem Sinn verbreitet das Gute sich selbst. Nach dieser metaphysischen Erklärung wird einleuchtend, dass der Zielcharakter, den das Gute aus dem funktionalen Bezug auf dem Streben erhält,59 dem Wesen des Guten konstitutiv ist, obwohl dieser Charakter allein den ganzen Sinn des Guten nicht zu erklären vermag. 60 Das Gute als Ziel wird von der strebenden Tätigkeit an ihrem Ende erreicht, aber es ist im Strebenden schon anfänglich vorgegeben. Auf das Gute wird vom Strebenden von Anfang an abgezielt, und demnach kommt dem Guten als Ziel eine Ursächlichkeit zu, dessentwillen sich ein Strebensfähiges im Akt entfaltet. Wichtig ist hier, dass Thomas die Ursächlichkeit des Ziels auf den Bewegungsbegriff bezieht und dem Ziel im
55 Vgl. In IVSent., d. 46, q. 2, a. lb, c; De ver., q. 21, a. 1, ad 4; ScG I, c. 37; Sum. theol. I, q. 5, a. 4, ad 2. 56 Vgl. Schönberger, Thomas von Aquin, S. 81. 57 Vgl. Sum. theol. I, q. 5, a. 1, c. „Intantum est autem perfectum unumquodque, inquantum est in actu: unde manifestum est quod intantum est aliquid bonum, inquantum est ens." 58 ebd. „Manifestum est autem quod unumquodque est appetibile secundum quod est perfectum: nam omnia appetunt suam perfectionem."; Vgl. Sum. theol. I, q. 5, a. 3, c; a. 3, ad 1. 59 Vgl. Sum. theol. I, q. 5, a. 4, c. „cum bonum sit quod omnia appetunt, hoc autem habet rationem finis; manifestum est quod bonum rationem finis importat."; ScG I, c. 40. „Cum unumquodque appetibile sit propter finem; boni autem ratio consistat in hoc quod est appetibile: oportet quod unumquodque dicatur bonum vel quia est finis, vel quia ordinate ad finem..." 60 Vgl. Riesenhuber, a.a.O., S. 44.
Ursache und Struktur der Willensbewegung
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gewissen Sinne das ,aktive' Prinzip der Bewegung zuspricht. Wenn Thomas sagt, dass Streben (appeti) und Begehren (desiderari) Einfließen von der finalen Ursache heißen,61 meint er damit offensichtlich eine Bewegung des Strebens, die aus dem aktiven Prinzip des Ziels als des Strebensobjekts ausgeht. Aber die so erklärte Zielursache allein reicht nicht dazu aus, die Wirklichkeit des Strebens als Bewegung zu begründen. Bevor das Ziel wirklich erstrebt und durch Erreichung verwirklicht wird, bleibt es noch ja in der Potenz. Das Ziel wird nämlich im Bewegungsvorgang als letztes verwirklicht, und demnach setzt die Ursächlichkeit des Ziels nicht voraus, dass dieses Ziel schon am Anfang als Wirkliches vorhanden zu sein hat.62 Und da die Wirklichkeit der Bewegung nicht durch etwas, was sich in Bezug auf die betreffende Bewegung in Potenz befindet, hervorgebracht werden kann, kann das Ziel aus sich selbst nicht unmittelbar Wirklichkeit der Strebebewegung vermitteln. Damit das zum Ziel ausgerichtete Streben wirklich vorkommt, bedarf das Ziel deswegen eines schon Wirklichen, das durch sein Wirken Wirklichkeit der Strebebewegung hervorbringt. Dieses Wirkliche verursacht die Bewegung, indem es als Wirkursache das potentiell Bewegliche in die Wirklichkeit der Bewegung überfuhrt, während das Ziel in dem Sinne als die Ursache der Bewegung gilt, dass es aufgrund seiner Erstrebbarkeit dem Wirkenden den Impuls der Zielgerichtetheit sendet. Gerade in diesem Sinne bezeichnet Thomas das Ziel als den Grund des Wirkens (ratio agendi).63 So ist sich Thomas voll bewusst, dass es verschiedene Arten der Ursächlichkeit gibt, aufgrund derer die Strebebewegung zustande kommt und demnach der Akt {actio) verschiedene Bedeutungen hat.64 Die Ursächlichkeit des Ziels
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De ver., q. 22, a. 2, c. „Sicut autem influere causae efficientis est agere, ita influere causae finalis est appeti et desiderari." Vgl. ScG III, c. 18. „Finis autem aliquis invernitur qui, etiam si primatum obtineat in causando secundum quod est in intentione, est tarnen in essendo posterius." Vgl. De ver., q. 22, a. 12, c. Wir können ja sowohl vom Ziel als auch vom Wirkenden aussagen, dass es die Bewegung verursacht, d.h. dass es das ,aktive' Prinzip für die Bewegung ist, aber nicht auf dieselbe Weise, „aliquid agere dicitur tripliciter. Uno modo, formaliter, eo modo loquendi quo dicitur albedo facere album... Alio modo dicitur aliquid agere effective: sicut pictor dicitur facere album parietem. Tertio modo, per modum causae finalis: sicut finis dicitur efficere, movendo efficientem." Sum. theol. I, q. 48, a. 1, ad 4; Vgl. Sum. theol. I, q. 88, a. 1 c; In II Sent., d. 26, q. 1, a. 2, ad 4. Die deutliche Erklärung über die verschiedenen Weisen des Verursachens wird schon im von Thomas sehr früh geschriebenen Traktat ,De principiis naturae' gefunden, wobei er Aristoteles zufolge die für die Naturbetrachtung entscheidende Ursachen- und Prinzipienlehre entfaltet. (Vgi.prin. nat., c. 3)
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und die des Wirkenden sind die grundlegenden und unentbehrlichen Prinzipien, die fur die Wirklichkeit der Strebebewegung notwendig vorausgesetzt sind. Sie können keineswegs in eine davon aufgelöst werden, sondern sie machen nur dadurch eine einheitliche Bewegungsrealität aus, dass sie aufeinander übergreifen.65 Die Gutheit des Objekts würde ohne die Wirklichkeitsvermittlung durch Wirkursache kein Erstreben erwecken, und das Wirkende würde seine Tätigkeit nicht ausüben, ohne sich auf ein bestimmtes Ziel zu richten. (2) Die Verinnerlichung der Ursächlichkeit beim Streben der erkennenden Wesen Diese metaphysische Betrachtung über die Ursachen des Strebens ist freilich so allgemein, dass die geklärte Ursächlichkeit nicht nur auf das Streben im engeren Sinne des sinnlichen Strebens als Lebensvollzug der animalischen Wesen, sondern auch bis auf das Naturstreben der leblosen Dinge anwendbar ist. Nun befassen wir uns damit, wie das Streben bei den Lebewesen mit der erkennenden Fähigkeit vorkommt, d.h. wie das sinnliche Streben im Hinblick auf seine Ursachen vom Naturstreben zu differenzieren ist. Als den ersten und offenbarsten Unterschied können wir anfuhren, dass sich beim sinnlichen Streben die Wirkursache im Strebenden selbst befindet, während die Wirkursache des Na-
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Sie können als zwei verschiedene Ursachen deshalb die Einheit der Wirkung hervorbringen, weil sie nicht gleichgeordnet sind. Wenn diese zwei Ursachen gleichgeordnet wären, könnten sie keine einheitliche Wirkung begründen, weil es unmöglich ist, dass eine Wirkung unmittelbar von mehreren Ursachen ausgeht. Vgl. De pot., q. 3, a. 16, ad 8. „non potest unus effectus a pluribus causis immediate procedere." Die Aussage, dass es mehrere Ursachen für die eine Substanz gibt, ist nur insofern sinnvoll, als die Bedeutung der Ursache auf verschiedene Weise verstanden wird. (Vgl. In V Met., lect. 2, n. 773. „quod causae per se sint multae unius, hoc fit manifestum ex hoc, quod causae multipliciter dicuntur.") Dass die Wirkursache der Ursächlichkeit des Ziels untergeordnet ist, legt Thomas in ,De principiis naturae' deutlich dar: obwohl das Wirkende die Wirklichkeit des Ziels auslöst, verursacht das Wirkende keineswegs die Ursächlichkeit des Ziels. Dahingegen verursacht das Ziel die Ursächlichkeit des Wirkenden, mag diese Verursachung nicht die unmittelbare Wirklichkeitsvermittlung bedeuten. Das Ziel ist „die Ursache der Ursächlichkeit", und demzufolge wird es ontologisch als erste Ursache bestimmt. Vgl. deprin. nat., c. 4. „Finis autem non est causa illius quod est efficiens, sed est causa ut efficiens sit efficiens... Unde finis est causa causalitatis efficientis, quia facit efficiens esse efficiens; similiter facit materiam esse materiam et formam esse formam... Unde dicitur quod finis est causa causarum, quia est causa causalitatis in omnibus causis."; Sum. theol. I, q. 5, a. 4 c; In II Phys., lect. 1, c. 5, n. 186.
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turstrebens außerhalb des Strebenden liegt.66 Es ist ja ein wesentliches Zeichen des Lebens, dass das Lebewesen die Wirkursache zur eigenen Bewegung gleichgültig, ob die Bewegung eine physische oder eine seelische ist - in sich trägt. In diesem Sinne hat Aristoteles die Seele als das Prinzip der Lebenstätigkeit bestimmt.67 Diese Bestimmung kann aber das sinnliche Streben vor dem der Erkenntnis entbehrenden Streben nicht vollständig auszeichnen, weil sie auch auf die pflanzlichen Wesen zutrifft. Die Lebewesen auf der pflanzlichen Stufe haben nämlich zwar keine Erkenntnis, aber doch in sich die Wirkkraft zum eigenen Streben, wie z.B. zum Wachstum, sofern sie die Seele als Lebensprinzip besitzen. Der eigentliche Unterschied zwischen dem Streben der empfindungslosen Wesen und dem Streben der Sinnenwesen findet sich nun darin, dass beim sinnlichen Streben nicht nur die Wirkkraft, sondern auch das Ziel seiner Tätigkeit in gewisser Weise verinnerlicht wird. Bei der Bewegung des leblosen Dinges, die gemäß seinem natürlichen Streben erfolgt, oder beim pflanzlichen Streben, das ohne das Erkennen entfaltet wird, bleibt das Ziel als solches dem Subjekt des Strebens äußerlich, soweit das angestrebte Ziel noch nicht erreicht und demnach die Bewegung noch nicht beendet ist.68 Demgegenüber hat die mit dem Erkenntnisvermögen ausgestattete Natur das erfasste Gute {bonum apprehensum) zu seinem Objekt, und auf dieses wird die bewegende Kraft des Ziels zurückgeführt. In dieser Hinsicht weist Thomas als die Eigentümlichkeit des sinnlichen Strebens darauf hin, dass es in sich „etwas Lenkendes (aliquid inclinans)"69 oder „das Bewegende des Strebens (movens appetitum)u70 hat.
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Die Wirkursache des Naturstrebens, d.h. das Bewegende dessen, was in der naturgemäßen Bewegung steht, ist Aristoteles zufolge das, was die Natur des Strebenden hervorgebracht hat. (Vgl. Physik VIII, c. 4) Dagegen gilt als die Wirkursache des sinnlichen Strebens, d.h. als das Bewegende im Lebewesen die Seele. Und in diesem Sinne hat Aristoteles das Lebewesen als selbstbewegend bezeichnet. (Vgl. Physik VIII, c. 2); Siehe Kapitel I, Anmerkung 66. Vgl. De anima II, c. 2, 4 1 3 b l l . Diesen Sachverhalt legt Sertillanges wie folgt dar: „Der Regen strebt nach der Erde, und die Erde wartet auf ihn; allein weder der Regen noch die Erde hat in sich die eigentlich bewegende Kraft des natürlichen Verlangens, das sie treibt. Dies bewegende Kraft ist das Gute, und das Gute ist hier dem Träger der Tätigkeit ganz und gar äußerlich." Sertillanges, a.a.O., S. 668. De ver., q. 22, a. 4, c. Thomas sagt, dass die empfindungslose Natur (natura insensibilis) im Vergleich mit der sensitiven Natur (natura sensitiva) in sich zwar das Prinzip des Lenkens [principium inclinations) aber kein Lenkendes (inclinans) hat. „Natura igitur insensibilis, quae ratione suae materialitatis est maxime a Deo remota, inclinatur quidem in aliquem finem, non tarnen est in ea aliquid inclinans, sed solummodo inclinationis principi-
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Indem das Strebende sowohl die Wirkursache als auch die Zielursache innehat, erfolgt das Streben als Zusammenwirken von Ziel- und Wirkursache in der Weise, dass sich die innerlichen Potenzen des Strebenden, d.h. das Erkenntnisvermögen und das Strebevermögen aufeinander beziehen. Das Erkenntnisvermögen, das nach der Lehre des Aristoteles in seinem Akt dasselbe mit dem wirklich erkannten Gegenstand ist,71 übernimmt die Rolle der Zielursache, und das Strebevermögen wird als die Wirkursache angenommen, die der Erkennisform als dem nicht mehr auf materielle Weise existierenden Objekt entspricht. Die Wechselbeziehung der beiden Seelenvermögen macht die Einheit der Wirkungen von Ziel- und Wirkursache aus, und auf diese Weise kommt das erkenntnishafte, sinnliche Streben im Gang. Daraus ergibt sich, dass es sich beim sinnlichen Streben um die seelische Bewegung im eigentlichen Sinne handelt. Sofern das Objekt durch Erkennen im Strebenden vergegenwärtigt ist, bleibt nämlich das Streben selbst nur als eine immanente, rein seelische Wirklichkeit, bevor es die äußere und körperliche Handlung antreibt. Ohne durch die Handlung den äußeren Gegenstand wirklich zu erreichen, kann das sinnliche Streben bloß als innerseelisches Wirken der Potenzen existieren, obwohl es ja gleich die physikalische Bewegung der sinnlichen Wesen zum äußeren Gegenstand auslösen muss, wenn die Bedingungen, welche die Entfaltung des Strebens in die materielle Welt verhindern, nicht vorhanden sind.72 Im Fall des Strebens der beseelten Lebewesen, die in sich die Wirkursache beinhalten, bedeutet die Bewegung des Strebens nichts anderes als den Übergang des Strebensvermögens als der Wirkursache von der ersten Wirklichkeit zur zweiten Wirklichkeit. Das Strebensvermögen ist zwar bereits als erste Wirklichkeit in der Form des Lebewesens gegeben, aber zunächst nicht tätig, sondern nur als potential. Von der Tätigkeit des Potentialen Wirkvermögens wird die Bewegungsrealität des Strebens ontologisch gesehen nicht unterschieden. Im erkenntnishaften Strebens als rein seelischer Bewegung, in dem auch die Zielursache verinnerlicht wird, übernimmt nun das erfasste Objekt als Ziel
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um... Natura autem sensitiva ut Deo propinquior, in seipsa habet aliquid inclinans, scilicet appetibile apprehensum." De ver., q. 22, a. 3, c. „Similiter appetere, quod quodammado commune est omnibus, fit quodammodo speciale animatis, scilicet animalibus, inquantum in eis invenitur appetitus, et movens appetiitum. Ipsum enim bonum apprehensum est movens appetitum..." Vgl. De anima III, c. 4, 429al7; 430a6; c. 5, 430a20; c. 7, 431al. In diesem Punkt unterscheidet sich das Streben der Pflanzen, das sich unmittelbar das Wachstum als eine physische Bewegung äußert, offensichtlich vom Streben der Tiere. Bei diesen Wesen gibt es nämlich den Raum für die rein seelische Bewegung.
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die Rolle, das Strebevermögen von der ersten Wirklichkeit zur aktuellen Tätigkeit zu erwecken. Ohne die Einwirkung vom Objekt her kann nämlich das Strebevermögen nicht aktualisiert werden.73 In dem Sinne, dass das erfasste Gute dem Strebevermögen als Wirkursache den Grund der Tätigkeit vermittelt, „bewegt" es das Strebevermögen zu seiner Tätigkeit. Im Hinblick auf diese innerseelische Aktualisierung der Strebebewegung wird das Strebevermögen Aristoteles zufolge als „das bewegte Bewegende (movens motum)" bezeichnet.74 Es wird insofern bewegt, als es vom Strebensobjekt zielursächlich den Grund der Tätigkeit aufnimmt, und gleichzeitig ist es bewegend, sofern es als die Wirkursache die Strebebewegung hervorbringt. 2.2. Die Willensbewegung als Zusammenwirken des Willens und des Verstandes (1) Die Ursächlichkeit des Verstandes und des Willens Das wesentliche Charakteristikum des erkenntnishaften Strebens, dass beim Streben des mit dem Erkenntnisvermögen ausgestatteten Wesen sowohl die Wirkursache als auch die Zielursache verinnerlicht sind, gilt auch für die Bewegung des Willens. Auch bei der Willensbewegung werden nämlich die zwei Elemente der Ursache, d.h. das Wirkende (agens) und der Grund des Wirkens (ratio agendi), von den Seelenpotenzen getragen, und die Willensbewegung kommt als Zusammenspiel der Seelenpotenzen, bzw. als eine zunächst rein seelische Realität zustande.75 Nur wenn man die Ursächlichkeit der beiden Potenzen, d.h. die Ursächlichkeit des Verstandes und des Willens zugleich in Betracht zieht, ist die Bewegung des Willens in metaphysischer Hinsicht adäquat erklärbar. Die ursächliche Funktion des Verstandes gegenüber dem Willen besteht darin, dass der Verstand den Grund der Erstrebbarkeit im voraus erfasst und
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Aus diesem Grund äußert Aristoteles die Meinung, dass die Strebebewegung des animalischen Wesen nicht als selbstbewegend im strengen Sinne zu erfassen ist. Er gesteht zwar zu, dass das Sinnenwesen das einzige mögliche ist, das der Bezeichnung „selbstbewegend" würdig ist, aber sofern das Sinnenwesens wie erklärt vom Strebensobjekt die Einwirkung auf sein Streben aufnimmt, spricht er dem Sinnenwesen die Selbstbewegung im strengen und sauberen Sinne ab, welche sich in der Tat im Rahmen des aristotelischen Denkens überhaupt als unmöglich erweist. Vgl. Physik VIII, c. 2. 74 Vgl. In III Sent., d. 27, q. 1, a. 1, c; ScG I, c. 44, n. 373; Sum. theol. I, q. 80, a. 2, c; De pot., q. 6, a. 6, c; Sum. theol. I-II, q. 50, a. 5, ad 2. 75 Vgl. De ver., q. 22, a. 12, c.
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dem Willen vorstellt.76 Dadurch versetzt der Verstand den Willen vom Zustand der potentialen Kraft zum Willensakt, nämlich von der ersten Wirklichkeit zur zweiten Wirklichkeit. Nur wenn der Verstand ein Objekt als gut erkennt, dann ist der Wille in der Lage, eine Willensbewegung hervorzubringen, indem sich der Wille auf das Objekt als Ziel richtet. Da der Verstand durch die im Erkenntnisakt erwirke Präsenz des Objekts den Willen bewegt, kann der Einfluss des Erkennens auf das Wollen nur einen finalen Charakter haben. Thomas betont wiederholt diese finale Ursächlichkeit des Verstandes in der Willensbewegung: „Der Verstand bewegt den Willen nicht auf die Weise der Wirk- und Bewegungsursache, sondern auf die der Zielursache, indem er ihm sein Objekt, d.i. das Ziel vorlegt."77 Demnach handelt es sich bei der Bewegung des Willens durch den Verstand um die Ursächlichkeit von der objektiven Seite, mit anderen Worten: Was den Willen bewegt und dessen Ausrichtung bestimmt, ist nicht der subjektive Vollzug des Erkenntnisaktes, sondern das objektive Ergebnis des Erkenntnisaktes, bzw. der Gehalt des vom Verstand erkannten Objekts.78 Die Notwendigkeit der Annahme der Ursächlichkeit des Verstandes in der Willensbewegung wird von Thomas im folgenden Satz ausgedrückt: „Wir können nicht wollen, was wir nicht erkennen."79 In dem Sinne, dass das Willensvermögen so nur unter dem finalen und objektiven Einfluss vom Verstand zur Bewegung aktuiert werden kann, gilt der Wille als eine passive Potenz. Wie sich der Verstand zu seinem Objekt in dem Sinn passiv verhält, dass er es aufnehmen kann, verhält sich auch der Wille in erster Linie zum erkannten Objekt, bzw. zum Verstand, der im Erkenntnisakt mit dem Objekt zu identifizieren ist, passiv. Der Wille verhält sich zum Verstand, wie das Bewegbare oder das Pas-
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Vgl. ebd. „Unde intellectus movet voluntatem per modum quo finis movere dicitur, inquantum scilicet praeconcipit rationem finis; et eam voluntati proponit."; De ver., q. 24, a. 6, ad 5; In I Sent., d. 35, q. 1, a. 1, c; In II Sent., d. 25, q. 1, a. 1, c; ScG III, c. 25. ScG I, c. 72. „quamvis intellectus, non secundum modum causae efficientis et moventis, sed secundum modum causae finalis, moveat voluntatem, proponendo sibi suum obiectum, quod est finis."; De ver., q. 22, a. 11, ad 5. In diesem Sinne bezeichnet Thomas das Objekt des Willens, d.h. das Gute, welches das Ziel des Wollens ist, als „ratio volendi." Vgl. In II Sent., d. 41, q. 2, a. 1, ad 3; De ver., q. 23, a. 3, ad 5; q. 23, a. 4, c; q. 23, a. 7, c; Sum. theol. I, q. 19, a. 4, ad 3; De malo, q. 2, a. 2, ad 5. Vgl. In III de Anima, lect. 15, n. 821. „Quia enim ipsum appetibile, quod est primum consideratum ab intellectu practico, movet, propter hoc dicitur intellectus practicus movere, quia scilicet eius principium, quod est appetibile, movet." ScG III, c. 26. „nam velle non possumus quod non intellegimus."; Vgl. De ver., q. 14, a. 2, ad 3.
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sive zum Bewegenden oder Aktiven. 80 Die Passivität oder Rezeptivität des Willens gegenüber dem Verstand kann also insofern nicht aufgehoben werden, als die begriffliche Kontinuität zwischen Willen und Streben nicht aufgehoben wird, bzw. als der Wille grundsätzlich immer noch für eine Art des auf Erkenntnis beruhenden Strebe Vermögens gehalten wird. Thomas nennt an vielen Stellen, ebenso wie Aristoteles im dritten Buch De anima, das Strebevermögen deutlich eine passive Potenz.81 Trotz der geringeren Anzahl von Belegen, wo Thomas dem Willen als einem von der Rationalität der Vernunftseele geprägten Vermögen direkt das Prädikat „passive Potenz" zuschreibt, besteht es sachlich gesehen kein Zweifel, dass Thomas im gerade erklärten Sinne den Willen als eine passive Potenz angesehen hat.82 Es ist aber außer Frage, dass von der genannten Passivität des Willens niemals in der Hinsicht der Wirkursache gesprochen werden kann. Den Grund dafür, dass der Verstand den Willen nicht wirkursächlich bewegen kann, findet Thomas im Verstand selbst. Der Verstand bezieht sich auf das Ding in der Weise, wie es sich nicht dem natürlichen Sein nach, sondern als ein geistiges und intentionales Abbild in der Seele befindet. Das hervorbringende Wirken kann aber nicht demjenigen zukommen, der geistigerweise oder intentionalerweise in der Seele steht, wie die Wärme in der Seele nicht wärmt.83 Da also die Objekte
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Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 3, ad 2. „Et hoc modo intellectus est prior voluntate, sicut motivum mobili et activum passivo. Bonum enim intellectum movet voluntatem." Vgl. De anima III, c. 10, 4 3 3 a l 8 - 2 0 ; 433bl7. Vgl. Sum. theol. I, q. 80, a. 2, c. „potentia enim appetitiva est potentia passiva, quae nata est moveri ab apprehenso."; ScG II, c. 47, n. 1240. „activum oportet esse proportionatum passivo, et motivum mobili. Sed in habentibus cognitionem vis apprehensiva se habet ad appetitivam sicut motivum ad mobile: nam apprehensum per sensum vel imaginationem vel intellectum, movet appetitum intellectualem vel animalem."; Sum. theol. I, q. 82, a. 4, c; De ver., q. 22, a. 3, c; q. 22, a. 12; ScG I, c. 72; ScG III, c. 26. Das ist aus dem Kontext offenbar zu erkennen, z.B. an der Stelle, wo Thomas aufgrund des Grundsatzes, das Passive oder das Bewegbare werde nach der Aufteilung des Tätigen oder des Bewegenden aufgeteilt, den Willen und das sinnliche Streben unterscheidet, weil er die beiden Potenzen als passive oder bewegbare annimmt. Vgl. Sum. theol. I, q. 80, a. 2, c. Darüber hinaus bezeichnet Thomas in Sum. theol. I q. 105, a. 4, c den Willen als passiv, und zwar in Bezug auf das universale Gute, „virtus autem passiva voluntatis se extendit ad bonum in universali; est enim eius obiectum bonum universale, sicut et intellectus obiectum est ens universale." Die Bestimmung des Willens als movens motum zeigt sich auch in den Kommentaren zu Aristoteles. Vgl. In XII Met., lect. 7, n. 2520; In III De anima, lect. 15, n. 821-824. Vgl. De ver., q. 22, a. 12, c. „intellectus autem comparator ad res secundum quod sunt per modum spiritualem in anima. Agere autem et moveri convenit rebus secundum esse pro-
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des Verstandes nicht mehr gemäß ihrem eigenen natürlichen Sein bestehen, sofern sie auf den Verstand bezogen sind, können die Objekte vom Verstand dem anderen Seelenvermögen nur ,gezeigt' werden, ohne es im Sinne der Wirkursache zu bewegen. Demnach muss man im Willen selbst die Ursächlichkeit des Wirkenden annehmen, wodurch vom Willen die Willensbewegung, d.h. das Wollen ausgehen kann. Der Wille ist die Fähigkeit, von seiner Vermögensfulle aus die Bewegungswirklichkeit hervorzubringen, sobald ihm eine gewisse Zielbestimmung gegeben wird. In diesem Sinne kann man sagen, dass der Wille sowohl die Aktivität als auch die Passivität hat, die jeweils ihm in verschiedener Hinsicht zugeschrieben werden.84 In dem Punkt, dass der Wille eine Wirkursache für seine Bewegung ist und durch eine zielursächliche Einwirkung vom Erkenntnisvermögen aktuiert wird, ist der Wille aber noch nicht von der anderen Art des erkenntnishaften Strebens, d.h. vom sinnlichen Streben unterschieden. Wie schon gesagt charakterisiert nämlich die strukturelle Bezogenheit der zweifachen Ursächlichkeit durch die unterschiedenen Seelenpotenzen die Strebebewegung der ganzen erkennenden Wesen. Aber wenn wir unser Blickfeld von der bisher betrachteten einfachen Strukturiertheit der zwei Ursachen in der einen Willensbewegung bis zum gegenseitigen Bewegungsverhältnis des Willens und des Verstandes erweitern, taucht der Horizont auf, auf dem die Eigenart des Willensvermögens als eines rationalen und immateriellen Strebensvermögens zu merken ist. Die bisher angestellte Erklärung über die Ursachenstruktur der Willensbewegung trifft bloß auf die Strebebewegung als eine vom komplexen Tätigkeitskontext des menschlichen Seelenlebens zunächst separat und abstrakt betrachtete Bewegungseinheit zu. Aber um den menschlichen Willen im vollen Umfang seiner Tätigkeit zu erörtern, erhebt sich die Aufgabe, die Willensbewegung im gegenseitigen Wirkungsverhältnis mit dem Verstand zu beobachten, worauf Thomas in der Tat ein überwiegendes Gewicht bei seiner Untersuchung legt. (2) Wechselbewegung des Verstandes und des Willens Nun handelt es sich nicht nur um die Bewegung des Willens durch den Verstand, sondern - vielleicht sogar in noch intensiverer Weise - um die Be-
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priam quo in seipsis subsistunt, et non secundum quod in anima per modutn intentionis; calor enim in anima non calefacit, sed in igne." Die Aktivität des Willens wird von Thomas u.a. an den folgenden Stellen erwähnt: In III
Sent., d. 27, q. 2, a. 3, ad 4; De ver., q. 14, a. 2, ad 6; De ver., q. 22, a. 5, ad 10; Sum. theol. I, q. 82, a. 4, c.
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wegung des Verstandes durch den Willen. Mit der oben erwähnten Aktivität des Willens, die zu ihm im Sinne der Wirkursache gehört, beschäftigt sich Thomas in je einem Artikel in Prima Pars und in De veritate, und zwar in der Form, ob der Wille den Verstand bewegen kann.85 Die Behauptung des Thomas wird wie folgt zusammengefasst: Der Wille bewegt ebenso den Verstand, wie der Wille die Willensbewegung verursacht, und diese Bewegung des Verstandes durch den Willen steht keineswegs im Widerspruch zur im finalen Sinne erbrachten Bewegung des Willens durch den Verstand, denn sofern es nur um die Bewegungen im verschiedenen Sinne geht, entsteht nicht die alternative Frage, ob der eine den anderen bewegt oder eher umgekehrt. Der Wille stößt wirkursächlich die Verstandesbewegung an, wie er die Wirkursache für seine eigene Bewegung ist. Aber wenn wir die Wirkursächlichkeit in der dem Willen eigenen Bewegung mit der Wirkursächlichkeit in der Verstandesbewegung durch den Willen im strengen Sinne vergleichen, fallt uns ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden auf. Um den Verstand wirkursächlich zu bewegen, muss nämlich der Wille bereits als eine zweite Wirklichkeit aktuiert sein, während er beim Hervorbringen der Willensbewegung zunächst im Zustand der Potentialität als einer ersten Wirklichkeit steht und erst unter dem finalen Einfluss vom Verstand in die zweite Wirklichkeit versetzt wird. Mit der Bewegung des Verstandes durch den Willen ist also der folgende Sachverhalt gemeint: Der Wille bringt als eine zweite Wirklichkeit, bzw. als ein aktuales Wollen eine solche Denktätigkeit hervor, die wiederum durch eine aktuale Beweglichkeit charakterisiert ist, wie einen bewusst und beabsichtigt erfolgten Urteils- oder Schlussfolgerungsvorgang. Gerade darauf bezieht sich die thomasische Formulierung der empirisch unleugbaren Bewusstseinstatsache: „Wir erkennen nämlich, weil wir es wollen." 86 Die gegenseitigen Bewegungen des Willens und des Verstandes sind deswegen möglich, weil den beiden Potenzen jeweils verschiedene und nicht gleichgeordnete Ursachen zukommen. Aber die Unterscheidung des Ursächlichkeitscharakters verschafft nur die Möglichkeitsbedingung, das gegenseitige Bewegungsverhältnis in logischer Hinsicht widerspruchslos anzunehmen. Sie kann als solche nicht begründen, warum der Wille trotz der Passivität gegenüber der finalen Ursächlichkeit des Verstandes diesen bewegen kann und warum damit die Wechselbewegung zwischen beiden wirklich vorkommen kann. In der Prima Pars ersieht Thomas den eigentlichen Grund für die Bewegung
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Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4; De ver., q. 22, a. 12. ScG I, c. 72. „intellegimus enim, quia volumus"; Vgl. In I Sent., d. 3, q. 4, a. 4, c.
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des Verstandes durch den Willen in der Tatsache, dass der Verstand und sein Akt wie auch sein eigenes Objekt als ein gewisses Gutes im Formalobjekt des Willens eingeschlossen sind.87 Aus diesem Grund kann der Wille, der einen einzelnen Gegenstand in Hinsicht auf den Wesensgrund des allgemeinen Guten (icommunis ratio boni), d.h. auf sein Formalobjekt erstrebt, auch den Erkenntnisakt wollen, bzw. den Verstand bewegen.88 Diese Begründung der durch den Willen bewirkten Verstandesbewegung deutet aber an, dass in umgekehrter Hinsicht auch der Willensakt als eingeschlossen im Formalobjekt des Verstandes betrachtet werden kann. Aus dem gleichen Grund dafür, dass der Wille erkennen wollen kann, kann der Verstand das Wollen des Willens erkennen, sofern der Wille und sein Akt sowie das Ziel des Willens seinerseits unter das Formalobjekt des Verstandes, d.h. unter das Wahre und das Seiende fallen.89 Dieses Argument des gegenseitigen Einschlusses von den Formalobjekten des Willens und des Verstandes legt den reflexiven Bewegungscharakter der
87 Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4. 88 Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 1. „Si vero consideretur voluntas secundum communem rationem sui obiecti, quod est bonum, intellectus autem secundum quod est quaedam res et potentia specialis, sic sub communi ratione boni continetur, velut quoddam speciale, et intellectus ipse et ipsum intelligere et obiectum eius, quod est verum; quorum quodlibet est quoddam speciale bonum. Et secundum hoc voluntas est altior intellectu et potest ipsum movere." In diesem Zusammenhang muss auch das interessante Beispiel vom Befehlsverhältnis des Königs und der Stadtfursten verstanden werden, anhand dessen Thomas die Bewegung des Verstandes durch den Willen zu veranschaulichen sucht. Da die Erkenntnis des Wahren, die das Ziel des Verstandes ist, unter das Ziel oder das Objekt des Willens, d.h. unter das Gute im allgemeinen fällt, kann der Wille wirkursächlich den Verstand bewegen, wie der König durch den Befehl die einzelnen Stadtfürsten bewegen kann, deren Ziel dem Ziel des den ganzen reich regierenden Königs unterliegt. Die Potenz, die um des universalen und höheren Ziels willen wirkt, ist nämlich dazu fähig, die Potenz, deren Tätigkeit um des einzelnen und unterliegenden Ziels willen erfolgt, in wirkliche Tätigkeit zu versetzen, denn die Tätigkeit dieser Potenz selbst ist im Objekt jener Potenz einbegriffen. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4, c. „Cuius ratio est quia omnibus potentiis activus ordinatis illa potentia quae respicit finem universalem movet potentias quae respiciunt fines particulares... Rex autem, qui intendit bonum commune totius regni, movet per suum imperium singulos praepositos civitatum, qui singulis civitatibus curam regiminis impendunt. Obiectum autem voluntatis est bonum et finis in communi. Quaelibet autem potentia comparatur ad aliquid bonum proprium sibi conveniens... Et ideo voluntas per modum agentis movet omnes animae potentias ad suos actus..." 89 Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 1. „Quia sub ratione entis et veri, quam apprehendit intellectus, continetur voluntas ipsa et actus eius et obiectum ipsius. Unde intellectus intelligit voluntatem et actum eius et obiectum ipsius sicut alia specialia intellecta, ut lapidem aut lignum, quae continentur sub communi ratione entis et veri."
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beiden Potenzen nahe, denn die Unendlichkeit des Formalobjekts der immateriellen Seelenpotenz ermöglicht, dass sich der Akt der Potenz auf alle Potenzen der Seele einschließlich sich selbst erstreckt. Thomas erwähnt daher in De veritate die Reflexivität des Willens- und Verstandesaktes: Sowohl der Wille als auch der Verstand reflektieren auf sich selbst und aufeinander wie auch auf alle Kräfte der Seele.90 Der Mensch, der mit dem Willen und dem Verstand als den immateriellen Potenzen tätig ist, kann also erkennen, dass er erkennt und will, sowie auch wollen, dass er will und erkennt.91 Die Wechselbewegung des Willens und des Verstandes impliziert in sich die reflexive Fähigkeit der beiden Potenzen. In dem reflexiven Charakter der sich wechselseitig bewegenden Potenzen zeichnet sich die rationale Eigenart des menschlichen Willens vor der niederen Stufe des erkenntnishaften Strebens aus. Im Fall des sinnlichen Strebens der Tiere kann man nämlich nicht die Wechselbewegung im strengen Sinne zwischen Erkenntnis- und Strebensvermögen, sondern nur die einseitige Determination durch das natürliche Urteil oder die schlichte Sinnenerkenntnis beobachten.92 Die Einsicht in die Wechselbewegung, die von den reflexiven Fähigkeiten der beiden Potenzen geprägt ist, zeigt uns nun zwei mögliche Richtungen der weiteren Untersuchung: Erstens, man kann die Frage anschneiden, was die Reflexivität der Willensbewegung im wechselseitigen Bewegungsverhältnis bedeutet, und auf welche Weise die reflexive Willensbewegung als eine einheitliche und konkrete Bewegung philosophisch zu erklären ist, indem man auf die Einheit der Willensbewegung in der wechselseitigen Bewegungskette seine Aufmerksamkeit richtet. Zweitens, man kann seine Untersuchung eher auf die Rechtfertigung des wechselseitigen Bewegungsverhältnisses selbst konzentrieren und weiter fragen, warum die Wechselbewegung der beiden Potenzen nicht
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Vgl. De ver., q. 22, a. 12, c. „Potentiis autem animae superioribus, ex hoc quod immateriales sunt, competit quod reflectantur super seipsas; unde tarn voluntas quam intellectus reflectuntur super se, et unum super alteram, et super essentiam animae, et super omnes eius vires." Vgl. ebd. „Intellectus enim intelligit se, et voluntatem, et essentiam animae, et omnes animae vires; et similiter voluntas vult se velle, et intellectum intelligere, et vult essentiam animae, et sie de aliis." Dieser Gedanke ist im Grunde genommen in demselben Zusammenhang mit dem in der theologischen Summe niedergeschlagenen Gedanken: „... quare hae potentiae suis actibus invicem se includunt. Quia intellectus intelligit voluntatem velle et voluntas vult intellectum intelligere. Et simili ratione bonum continetur sub vero, inquantum est quoddam verum intellectum, et verum continetur sub bono, inquantum est quoddam bonum desideratum." Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 1. Vgl. De ver., q. 24, a. 1, c; a. 2, c.
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in die Zirkularität oder in die unendliche Zurückfuhrung gerät. Das Interesse des Thomas scheint, soweit wir in seinen frühen Werken beobachten können, hauptsächlich in die zweite Richtung gegangen zu sein. (3) Das Problem des ersten Anfangs der Wechselbewegung Das wichtige Problem, worauf es bei der Rechtfertigung der Wechselbewegung ankommt, ist, wieso der Wille den Verstand, eine dem Rang nach über dem Willen liegende Potenz, bewegen kann.93 Die Antwort auf diese Frage ist bereits dadurch prinzipiell gegeben, dass Thomas die unterschiedlichen Bedeutungen der Bewegung aufgewiesen hat. Wie oben erwähnt, hebt die Unterscheidung der Bewegungsbedeutungen die Notwendigkeit der alternativen Lösung auf.94 In gewisser Hinsicht, d.h. in Hinsicht auf die Hinneigung zum Guten kann nämlich der Wille als die höhere Potenz angesehen werden als der Verstand.95 Bei dieser Lösung versäumt Thomas aber nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass diese der kausalen Bedeutung nach verschiedenen Bewegungen nicht äquivalent sind. Thomas hält die Willensbewegung durch den Verstand für die Bewegung im wesentlichen Sinne, und die Verstandesbewegung durch den Willen für die Bewegung im akzidentellen Sinne. Sofern sich der Wille keinesfalls ohne sein Objekt, d.h. das erfasste Gute bewegt, bewegt der Verstand im ersten Sinne und an sich (primo et per se) den Willen. Dagegen bewegt der Wille den Verstand akzidentell (per accidens), d.h. nur wenn die Bewegung des Verstandes selbst als gut, bzw. als erstrebenswert erfasst wird und demnach als Ziel dem Willen vorgegeben wird.96 Es gibt also eigentlich keinen Raum für das Dilemma der Bewegungszirkularität, sofern man die Unterscheidung der Bewegungen in akzidenteller und wesentlicher Hinsicht beachtet. Aber das Interesse des Thomas ist nicht darauf begrenzt, das Dilemma der zirkulären Bewegung durch den Hinweis darauf zu lösen, dass die Bewegung des Willens durch den Verstand und die Bewegung des Verstandes durch den
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Vom Primat des Verstandes vor dem Willen wird in dem Sinne geredet, dass das Objekt des Verstandes einfacher und abstrakter ist als das Objekt des Willens: „Obiectum enim intellectus est simplicius et magis absolutum quam obiectum voluntatis. Nam obiectum intellectus est ipsa ratio boni appetibilis; bonum autem appetibile, cuius ratio est in intell e c t , est obiectum voluntatis. Quando autem aliquid est simplicius et abstractius, tanto secundum se est nobilius et altius." Sum. theol. I, q. 82, a. 3, c; De ver., q. 22, a. 11. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 2. Vgl. De ver., q. 22, a. 12, c; ad 5; a. 11, ad 5. Vgl. ScG III, c. 26; Riesenhuber, a.a.O. S. 205.
Ursache und Struktur der Willensbewegung
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Willen nicht äquivalent sind. Thomas beabsichtigt nämlich außer der Unterscheidung der Bewegungsbedeutungen noch ein sachliches Argument darzulegen, durch das die Zirkularität der Wechselbewegung abgelehnt werden kann.97 Diese Absicht des Thomas ist im dritten Buch der Summa gegen die Heiden angedeutet, wo er behauptet, dass dem Willensakt der Erkenntnisakt vorausgehen muss, selbst wenn wir von der Bewegung im akzidentellen Sinne sprechen und somit die Verstandesbewegung durch den Willen in Betracht ziehen, „denn niemals würde der Wille danach verlangen, zu erkennen, wenn nicht vorher der Verstand das Erkennen selbst als Gutes erfasst hätte."98 Was Thomas hier herausstellen will, ist die unbestreitbare Tatsache, dass die Willensbewegung ihrem Begriff nach auf jeden Fall einen vorausgehenden Erkenntnisakt voraussetzen muss. Man könnte hier wohl mit der folgenden Gegenfrage zu erwidern versuchen: Ist es doch nicht auch wahr, dass jede Erkenntnisleistung ihrerseits gewollt werden muss, um die nächste Willensbewegung zu verursachen? Der Grund dafür, dass man mit Thomas auf diese Gegenfrage eindeutig verneinend antworten kann, besteht im sogenannten naturhaften Streben des Verstandes nach dem Erkennen. Thomas nimmt im Verstände selbst ein naturhaftes Streben an, wodurch der Verstand zu seinem Akt als seinem Ziel und seiner Vollkommenheit geneigt ist.99 Weil dem Verstand als einer Seelenpotenz solches vom Wollen verschiedene naturhafte Streben innewohnt, braucht der Verstand nicht immer die Wirkursächlichkeit von der Willensbewegung aufzunehmen, um das Erkennen zu vollziehen. Daher schreibt Thomas in der theologischen Summe: „Jeder Willensbewegung geht notwendig ein Erfassen voraus, aber nicht jedem Erfassen geht eine Willensbewegung voraus."100 Nur mit dem natürlichen Streben des Verstandes kann das Phänomen der Wechselbewegung des Willens und des Verstandes letztlich relevant erklärt werden, ohne in regressus ad infinitum zu geraten. Die Suche nach dem ursprünglicheren Bewegenden in der Wechselbewegung muss im naturhaften Erkenntnisstreben des Verstandes letztlich stillstehen, welches als das erste Fundament der weiteren zirkulären Bewegungskette des Willens und des Ver-
97 98
Vgl. Schönberger, Thomas von Aquins {Summa contra gentiles), S. 142f. Vgl. ScG III, c. 26, n. 2092. „numquam enim voluntas desideraret intelligere nisi prius intellectus ipsum intelligere apprehenderet ut bonum." 99 Vgl. De ver., q. 22, a. 5, ad 3; a. 12, ad 2; Sum. theol. I, q. 80, a. 1, ad 3. „unaquaeque potentia animae est quaedam forma seu natura, et habet naturalem inclinationem in aliquid. Unde unaquaeque appetit obiectum sibi conveniens naturali appetitu."; Riesenhuber, a.a.O., S. 197; S. 203; S. 301f. 100 Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3. „Omnem enim motum voluntatis necesse est quod praecedat apprehensio: sed non omnem apprehensionem praecedit motus voluntatis."
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Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren
standes gilt.101 Das sachlich entscheidendere Argument für die Rechtfertigung der Wechselbewegung, auf das Thomas eine große Aufmerksamkeit richtet, liegt nicht in der Unterscheidung der kausalen Bedeutungen der Bewegung, sondern eher im Aufweis des ersten Anfangs der Wechselbewegung. Äußerst bemerkenswert ist aber, dass sich hier Thomas auf eine Stelle in der Eudemischen Ethik des Aristoteles beruft. Nach Thomas ist „Ausgangspunkt des Überlegens und Erkennens ein intellektueller Grund, der höher ist als unser Verstand",102 und dieser ist Gott, wie Aristoteles meint. Demnach scheint Thomas zu der Meinung zu kommen, dass die Einwirkung Gottes zuerst den Verstand bewegt und durch die Vermittlung des Verstandes auch den Willen.103
3. Das Problem der Freiheit des Willens 3.1. Der Begriff des liberum
arbitrium
Nachdem wir die Ursache und die Struktur der Willensbewegung analysiert haben, untersuchen wir nun das Problem der Willensfreiheit, wie es in den frühen Werken des Thomas erscheint. Den Ansatzpunkt für die Untersuchung finden wir im Begriff des liberum arbitrium, der als Kernwort der frühen thomasischen Freiheitslehre gelten soll. Das, was man heute unter Willensfreiheit versteht, wurde im Mittelalter allgemein als , liberum arbitrium (freie Entscheidung)' ausgedrückt und diskutiert.104 Auch Thomas übernimmt diesen Terminus, der seit den frühchristlichen Denkern gebraucht und vor allem von Augus-
101 De ver., q. 22, a. 12, ad 2. „non est procedere in infinitum; Statur enim in appetitu naturali, quo inclinatur intellectus in suum actum."; Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3. „non oportet procedere in infinitum, sed Statur in intellectu sicut in primo." 102 Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3. „sed principium consiliandi et intelligendi est aliquid intellectivum principium altius intellectu nostra, quod est Deus, ut etiam Aristoteles dicit in VII Ethicae Eudemicae."; Vgl. Quodl. I, q. 4, a. 2, c. 103 Dieses Aristoteleszitat bereitet der Interpretation ein schwieriges Problem, und zwar im Vergleich mit den anderen thomasischen Texten, in denen die gleiche Stelle des Aristoteles zitiert wird. Es geht darum, ob sich die erste Bewegung durch Gott in erster Linie dem Verstand oder dem Willen mitteilt. Thomas bezieht nämlich in den späteren Texten unter Berufung auf die gleiche Aristoteles-Stelle die erste Bewegung durch Gott unmittelbar auf den Willen. Dieses Problem werden wir später gründlich betrachten. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, c; De malo, q. 6, c. 104 Vgl. J. B. Korolec, „Free will and free choice", in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy (ed. by Ν. Kretzmann u.a.), S. 630.
Das Problem der Freiheit des Willens
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tinus verbreitet wurde, und sucht dessen Begriff in Anlehnung an die aristotelische Lehre von der prohairesis (Entscheidung) zu klären, die im 13. Jahrhundert durch die Rezeption der Nikomachischen Ethik bekannt wurde.105 Das liberum arbitrium bedeutet nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ein Vermögen der menschlichen Seele, von dem der Akt des freien Wählens, bzw. des freien Entscheidens ausgehen kann.106 Aber es war umstritten, auf welche Weise dieses Seelenvermögen in Beziehung auf den Willen und den Verstand zu interpretieren ist, wie z.B. Albertus Magnus es für ein vom Willen und Verstand unterschiedenes drittes Vermögen gehalten hat, und demgegenüber Bonaventura das liberum arbitrium nicht als ein Vermögen, sondern eher als einen durch die Kooperation des Willens und des Verstandes zustande gebrachten Habitus verstanden hat.107 Thomas distanziert sich von diesen Positionen der zeitgenössischen einflussreichen Denker, und stellt seine eigene Überlegung an: das liberum arbitrium ist nicht ein vom Willen unterschiedenes drittes Seelenvermögen, sondern nur eine Bestimmung, die dem Willen im Hinblick auf den Wahlakt zukommt. 108 Dieses thomasische Verständnis verwischt nicht die Unterscheidung des Wollens und des Wahlakts. Das Wollen, das sich grundsätzlich auf das Ziel bezieht, und das Wählen, das mit dem Mittel zu tun hat, sind freilich zwei verschiedene Akte,109 aber verschiedene Akte müssen nicht auf verschiedene Vermögen zurückgehen.110 Hierfür gibt Thomas in summa theologiae eine komparative Erklärung: Wie beim menschlichen Erkenntnisvorgang Anteiligere' und ,ratiocinarV unterschieden werden, beide aber grundsätzlich aus demselben Vermögen hervorgehen, so werden beim Wollensvorgang ,velle' und öligere' unterschieden, und das Vermögen, das den letzteren Akten zugrunde liegt, wird jeweils voluntas und liberum arbitrium genannt.111
105 106 107 108 109
Vgl. Auer, a.a.O., S. 171. Vgl. De ver., q. 24, a. 4, ad 13. Vgl. Korolec, a.a.O., S. 634f. Vgl. In II Sent., d. 24, q. 24, a. 2; De ver., q. 24, a. 4 - 6 ; Sum. theol. I, q. 83, a. 2 - 4 . Der ursprüngliche Beleg für diese Unterscheidung findet sich in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Vgl. Nikomachische Ethik III, c. 2, 111 lb26; III, c. 4, 1113al6; III, c. 5, 1113blf. 110 Vgl. De ver., q. 24, a. 6, ad 2. 111 Daher bezieht sich das liberum arbitrium auf das Mittel, worauf sich die Wahl richtet, während sich die voluntas auf das Ziel bezieht, worauf sich das Wollen als Streben schlechthin richtet. Vgl. Sum. theol. I, q. 83, a. 4, c. „Ex parte appetitus, velle importat simplicem appetitum alicuius rei: unde voluntas dicitur esse de fine, qui propter se appetitur. Eligere autem est appetere aliquid propter alterum consequendum: Sicut autem se habet in cognitivis principium ad conclusionem, cui propter principia assentimus, ita in appe-
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Im Akt des liberum arbitrium drückt sich ein Zusammenwirken von Willen und Verstand aus.112 Das Wählen enthält den kognitiven Aspekt, weil es die Überlegung voraussetzt, durch welche die Präferenz eines Gegenstandes vor anderen beurteilt wird.113 Aristoteles hat daher in seiner Nikomachischen Ethik das Wählen, welches der Ursprung für menschliches Handeln ist, als „appetitives Erkennen oder intellektives Streben"114 bezeichnet. Gegen diese scheinbare Zweifel, ob das Wählen letztlich dem Erkenntnis- oder dem Strebevermögen zukommen soll, schreibt Thomas das Wählen deutlich dem Willensvermögen zu, indem er auf eine andere Stelle in demselben Werk die Aufmerksamkeit lenkt, wo der Philosoph das Wählen als „überlegtes Begehren (desiderium consiliabile)ii bestimmt hat.115 Das zentrale Argument des Thomas basiert auf der Natur des Objekts der Wahl. Sofern das Mittel, worauf sich die Wahl oder die Entscheidung richtet, ein bestimmtes Gutes ist und das Gute Objekt des Willens ist, ist es nämlich einleuchtend, dass sich liberum arbitrium, ontologisch gesehen, prinzipiell als Akt des Willens darstellt.116 Und die Beteiligung des Verstandesaktes am Wahlakt des Willens ist insofern anzuerkennen, als es nur dem Akt des Verstandes zugehört, einen Gegenstand als ein dem Ziel geeignetes Mittel, d.h. ein bestimmtes Gut in einen Zielzusammenhang einzuordnen und damit zum Wahlobjekt zu machen.117
112 113
114 115 116
117
titivis se habet finis ad ea quae sunt ad finem, quae propter finem appetuntur. Unde manifestum est quod sicut se habet intellectus ad rationem, ita se habet voluntas ad vim electivam, id est ad liberum arbitrium."; q. 83, a. 4, ad 2. Vgl. In II Sent., d. 24, q. 1, a. 2, c. Vgl. Sum. theol. I, q. 83, a. 3, c. „Ad electionem autem concurrit aliquid ex parte cognitivae virtutis, et aliquid ex parte appetitivae; ex parte quidem cognitivae, requiritur consilium, per quod diiudicatur quid sit alteri praeferendum; ex parte autem appetitivae, requiritur quod appetendi acceptetur id quod per consilium diiudicatur." Thomas beruft sich hier auf die aristotelische Lehre von der Entscheidung, die im 6. Buch der Nikomachischen Ethik entfaltet ist. Vgl. In II Sent., d. 24, q. 1, a. 3, c; De ver., q. 22, a. 15, c. Nikomachische Ethik VI, c. 2, 1139b4. Nikomachische Ethik III, c. 3, 1113al 1. „Das Wählen ist das überlegte Begehren von etwas, was in unserer Macht steht." Vgl. Sum. theol. I, q. 83, a. 3, c; De ver., q. 24, a. 6, c. Vgl. In II Sent., d. 24, q. 1, a. 3, c; De ver., q. 22, a. 15, c; Sum. theol. I, q. 83, a. 3, c. Es wird also gesagt, dass das Entscheiden auch ein Wollen ist. „Sed velle prout ratio proponit voluntati aliquid bonum absolute, sive sit propter se eligendum, ut finis, sive propter aliud, ut quod est ad finem: utrumque enim velle dicimur." Vgl. De ver., q. 22, a. 15, c. Vgl. In II Sent., d. 24, q. 1, a. 3, ad 3. „...unaquaeque potentia definitur ex eo quod est per se obiectum eius, et formaliter. Cum autem obiectum voluntatis sit bonum, propter hoc a fine principaliter describitur, quia habet per se rationem boni. Id autem quod est ad finem, non est bonum inquantum huiusmodi absolute, sed ex ordine ad finem; sed tamen secun-
Ursache
und Struktur der
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Willensbewegung
D i e Frage nach der Freiheit des Willens wird nun v o n Thomas in der Form gestellt, ob der M e n s c h ein liberum rum arbitrium De malo liberum
arbitrium
besitzt. D i e Frage nach d e m libe-
kennzeichnet die Freiheitslehre in den Werken des Thomas vor
6 und Prima arbitrium
secundae.
W a s für die Begründung der Fähigkeit des
im M e n s c h e n entscheidende Bedeutung hat, ist, z w i s c h e n
d e m W o l l e n des Ziels und dem W o l l e n des Mittels zu unterscheiden, und die Indeterminiertheit des Willens in B e z u g auf das Mittel zu bestätigen.
3 . 2 . B e g r ü n d u n g d e s liberum
arbitrium
im Menschen
(1) Indeterminiertheit des Willens in B e z u g auf das Mittel Der Wille zielt in seinem Akt auf das Objekt, das v o m Verstand als gut erkannt wird. D a s Objekt des Willens, bzw. das v o m Verstand erfasste Gute, ist aber nicht auf irgendwelche einzelnen D i n g e begrenzt, die in bestimmter Hinsicht als gut erscheinen, sondern das Gute schlechthin oder das Gute i m allgemeinen (bonum
universale),
w i e der Verstand als ein geistiges Erkenntnisvermögen
nicht etwas so oder so B e s c h a f f e n e s , sondern prinzipiell alles Seiende zu sein e m Objekt hat. 118
dum hoc quod participat rationem boni, est obiectum voluntatis, secundum scilicet quod in voluntate est vis rationis ordinantis." 118 Vgl. Sum. theol. I, q. 105, a. 4, c; q. 80, a. 2, ad 2. Hier geht es offensichtlich um die formale Bestimmung des Willensobjekts. Man muss beachten, dass Thomas zwei Perspektiven unterscheidet, aus denen das Strebensobjekt betrachtet werden kann: Mit dem Strebensobjekt kann nämlich einerseits das erstrebte Ding selbst gemeint werden, und andererseits der Grund, weshalb es erstrebt wird. Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. „...quod in quolibet appetibili duo possunt considerari: scilicet ipsa res quae appetitur, et ratio appetibilitatis, ut delectatio vel utilitas, vel aliquid huiusmodi." Ebenso kann auch das Willensobjekt einerseits als Materialobjekt - d.h. das gewollte Ding selbst - und andererseits als Formalobjekt - d.h. der Grund des Wollens - betrachtet werden. Vgl. De ver., q. 23, a. 7, c. „sed in obiecto voluntatis duo sunt consideranda: unum quod est quasi materiale, scilicet ipsa res volita; aliud quod est quasi formale, scilicet ratio volendi, quae est finis..." Der Wille richtet sich zuerst und ursprünglich auf den Grund des Erstrebbarkeit, und abgeleiteterweise auf dieses oder jenes Ding, sofern es am allgemeinen Grund des Guten teilhat. Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. „.. .voluntas tendit directe in rationem appetibilitatis absolute; sicut voluntas ipsam bonitatem appetit primo et principaliter... hanc vero rem vel illam appetit secundario, inquantum est praedictae rationis particeps..."; Sum. theol. I, q. 59, a. 4, c; Sum. theol. I, q. 48, a. 5, c. „manifestum est... quod obiectum appetitus intellectivi, qui voluntas dicitur, est bonum secundum communem boni rationem..."; siehe auch Sum. theol. I, q. 48, a. 5, c. Das Formalobjekt des Willens, das als das Gute im allgemeinen oder das Gute schlechthin bestimmt wird, ist aber mit dem Seienden selbst konvertibel. Denn alles Sei-
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Also ist dem Willen ein unbegrenztes Feld von Objekten eröffnet, auf die er sich richten kann, und demnach wird er nicht so bestimmt, dass er von einer einzelnen endlichen Gutheit notwendig in Gang gesetzt wird.119 Die unendliche Weite des Formalobjekts ermöglicht dem Willen die grundsätzliche Indifferenz gegenüber den einzelnen und materiellen Gegenständen.120 Aber wenn ein Objekt vorgegeben wird, das in jeder Hinsicht als gut zu erfassen ist, dann muss sich der Wille zu diesem mit Notwendigkeit bewegen. Als solches Objekt gilt die Glückseligkeit (beatitudo), die Thomas als das letzte Ziel und das höchste Gut des Menschen bestimmt. Die Notwendigkeit, mit welcher der Wille nach diesem letzten Ziel strebt, besteht in der Natur des Willens selbst.121 Das Streben nach dem letzten Ziel ist so konstitutiv für den Willen, dass diese Neigung nie ausgelöscht werden kann, sofern der Wille selbst nicht beseitigt wird. Der Wille strebt von Natur aus - d.h. nicht durch den äußeren Zwang - nach dem letzten Ziel, und es steht nicht in der Macht des Menschen, dass dem Menschen diese natürliche Neigung gegeben wird.122
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ende ist in irgendeiner Hinsicht, insofern es ist, ein Gutes, bzw. der Gegenstand möglichen Strebens. Vgl. Sum. theol. I, q. 5, a. 1 - 3 ; ScG II, c. 47; De ver., q. 23, a. 4, c. Vgl. A. Zimmermann, Der Begriff der Freiheit nach Thomas von Aquin, S. 138f. Diese unendliche Weite des Formalobjekts und die Indifferenz gegenüber dem einzelnen Guten werden letztlich auf die rationale Natur, welche dem Willen als einem geistigen Vermögen zukommt, zurückgeführt. Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. „.. .et hoc ideo quia natura rationalis est tantae capacitatis quod non sufficeret ei inclinatio ad unam rem determinatam, sed indiget rebus pluribus et diversis: et ideo inclinatio eius est in aliquid commune. .." Vgl. De ver., q. 22, a. 5, c; De ver., q. 23, a. 4, c. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 1, ad 3; Nikomachische Ethik I, c. 12, 1102a3. Sofern die Notwendigkeit, mit der der Wille das letzte Ziel erstrebt, in der Natur des Willens selbst liegt, hebt aber diese Notwendigkeit die Freiheit des Willens nicht auf. Vgl. De ver., q. 22, a. 6, ad 4. Was im Widerspruch zum Wesen des Willens, somit zur Freiheit steht, ist nicht die Notwendigkeit der natürlichen Neigung, sondern nur die Notwendigkeit als Zwang, die Thomas die Notwendigkeit von einem Wirkenden nennt. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 1, c. Hier ist auch eine wichtige Grundeinstellung des Thomas zu bemerken, dass der Wille unter die Natur fällt. Thomas betrachtet die natürliche Neigung des Willens zu seinem eigenen Gut als ein Zeichen dafür, dass der Wille selbst die Natur ist. Vgl. De ver., q. 23, a. 4, c. „Principium quidem volitum est in quod voluntas fertur secundum suam naturam; eo quod ipsa voluntas natura quaedam est, et naturalem ordinem ad aliquid habet."; De ver., q. 22, a. 5. „Natura autem et voluntas hoc modo ordinata sunt, ut ipsa voluntas quaedam natura sit; quia omne quod in rebus invenitur, natura quaedam dicitur. Et ideo in voluntate oportet invenire non solum id quod voluntatis est, sed etiam quod natura est." Genauer gesagt, ist die Natur „die Grundlage des Willens {fundamentum voluntatis)". In De veritate q. 24, a. 10 weist Thomas auf den Begriff der Natur hin, der mit der notwendigen Neigung verbunden ist. Vgl. De ver., q. 24, a. 10, ad 1. „aliquid dicitur naturale
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In Bezug auf das letzte Ziel kommt dem Wille also keine Indifferenz zu, und es kann kein Objekt der freien Entscheidung sein. 123 Aber da das letzte Ziel wegen seiner universalen Gutheit auf unendlich viele verschiedene Weise als gut erkannt und erstrebt werden kann, muss der Wille in der Ausrichtung auf dieses kein bestimmtes Mittel wollen. 124 Von jedem endlichen Guten, das nicht im notwendigen Verhältnis zum letzten Ziel steht, bleibt der Wille prinzipiell völlig indeterminiert. Diese Indeterminiertheit des Willens von jedem endlichen Guten widerspricht nicht der Natur des Willens, von der aus er nach dem letzten Ziel notwendig strebt, sondern auf dieser Natur gründet die Indeterminiertheit des Willens durch das Mittel, weil zur Natur des Willens nichts außer der Neigung zum universalen und höchsten Guten gehört.125
(2) Der Grund dafür, dass die Entscheidung des Willens frei ist Liberum arbitrium beruht darauf, dass der Wille vom endlichen Guten als einem Mittel, das zum Ziel fuhrt, nicht determiniert ist.126 Aber der Hinweis auf die prinzipielle Offenheit des Willens flir das Gute im allgemeinen und die Indeterminiertheit des Willens vom endlichen Guten ist noch nicht ausreichend,
dupliciter. Uno modo cuius principium sufficiens habetur ex quo de necessitate illud consequitur, nisi aliquid impediat... alio modo dicitur aliquid alicui naturale, quia habet naturalem inclinationem in illud..." 123 Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 1, ad 3; q. 83, a. 1, ad 5. 124 Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 2, c; De ver., q. 22, a. 6, c; q. 24, a. 1, ad 16; A. Zimmermann, a.a.O., S. 145f. 125 Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 2, ad 2. „Cum autem possibilitas voluntatis sit respectu universalis boni et perfecti, non subiicitur eius possibilitas tota alicui particulari bono."; De ver., q. 24, a. 1, ad 19. „nisi quod ex ipsa sui natura inest eis necessarius appetitus Ultimi finis,
scilicet beatitudinis, quod non impedit arbitrii libertatem, cum diversae viae remaneant eligibiles ad consecutionem illius finis."; siehe auch: Schönberger, Thomas von Aquin, S. 142. Thomas fasst diese Indeterminiertheit durch jedes endliche Gute als die Bestimmung auf, die dem Willen zukommt, sofern er Wille ist, bzw. als etwas, wodurch sich der Willen vor der anderen Natur auszeichnet. Vgl. De ver., q. 22, a. 5, c. „Unde et voluntati ipsi inest naturalis quidam appetitus sibi convenientis boni. Et praeter hoc habet appetere aliquid secundum propriam determinationem, non ex necessitate; quod ei competit inquantum voluntas est." Dass sich die Indeterminiertheit des Willens gegenüber jedem endlichen Guten und die naturhafte Neigung zum universalen Guten nicht gegenüberstehen, ergibt sich aus der Auffassung des Thomas, dass der Wille letztens in den Begriff der Natur eingeschlossen ist. Aus demselben Grund kann man sagen, dass auch die auf dieser Indifferenz beruhende Fähigkeit zur freien Entscheidung zur Natur des Willens gehört. 126 Vgl. De ver., q. 24, a. 7, ad 2. „non enim aliqua creatura potest habere dominium sui actus, cuius sunt determinatae actiones ordinatae ad bonum particulare."
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die Freiheit der Entscheidung vollständig zu begründen. Die Indeterminiertheit oder die Distanz des Willens zu den endlichen und einzelnen Gütern macht ja noch nicht den eigentlichen Sinn der Freiheit der Entscheidung aus, sondern sie gilt nur als die Möglichkeitsbedingung für die Freiheit.127 Wir müssen also vielmehr noch in der Hinsicht des wirklichen Entscheidungsaktes nach dem Grund für das nicht notwendige Wollen des endlichen Guten fragen. Denn beim Begründen der Freiheit der Entscheidung kommt es darauf an, zu erklären, auf welche Weise vom Willen überhaupt eine Entscheidung für ein bestimmtes endliches Gutes zustande gebracht wird, obwohl der Wille von keinem solchen Guten, dem er wirklich begegnet, determiniert ist.128 Indem wir diese Frage ins Auge fassen und die Struktur des Entscheidungsaktes analysieren, können wir mit Thomas erst auch darauf antworten, weshalb die Entscheidung des Willens, die auf der Indeterminiertheit des Willens beruht, ausgerechnet ,freie' Entscheidung zu nennen ist, bzw. in welchem Sinne die Indeterminiertheit des Willens die Freiheit der Entscheidung bedeuten kann. Der Wille erstrebt das Mittel dadurch, dass er das Ziel erstrebt. Die Entscheidung für ein bestimmtes endliches Gutes wird aber nur deshalb getroffen, weil dieses endliche Gute vom Verstand im Hinblick auf das Ziel als angemessen beurteilt wird und der Wille dem letzten praktischen Urteil folgt, in dem die Angemessenheit des endlichen Guten dem Willen vorgelegt wird. Die Entscheidung, bzw. der konkrete Willensakt zum Mittel setzt also einerseits die der Natur des Willens innewohnende Neigung zum Ziel und andererseits das vom Erkenntnisvermögen erfolgende Urteil über das angemessene Mittel voraus.129 Thomas begründet die Freiheit der Entscheidung auf die Weise, dass er die Eigenart des rationalen Urteils untersucht, das im Entscheidungsakt resultiert: Das rationale Urteil, bzw. das Urteil der Vernunft (judicium rationis) wird dann gegeben, wenn jemand beim Urteilen die Bedeutung des Ziels (ratio finis) und
127 Vgl. Riesenhuber, Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 175. 128 Vgl. Zimmermann, a.a.O., S. 141. In der Untersuchung des Entscheidungsaktes handelt es sich um den wirklichen Determinationsvorgang des Willens. Soweit der Willenszustand der faktischen Indeterminiertheit gegenüber den einzelnen Gegenständen nicht aufgehoben wird, wird nämlich der konkrete Willensakt nicht vollendet. 129 In diesem Sinn schreibt Thomas einmal deutlich: „Facultas autem liberi arbitrii duo praesupponit: scilicet naturam et vim cognitivam." De ver, q. 24, a. 3, c. So kann man in der Entscheidung immer das konstitutive Zusammenwirken vom Strebeund Erkenntnisvermögen sehen, wie im früheren Kapitel vom konkreten Willensakt im allgemeinen gesagt wurde.
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somit die Hinordnung des Mittels zum Ziel erkennt.130 In diesem Punkt tritt der grundsätzliche Unterschied zwischen dem rationalen Urteil des Menschen und dem natürlichen Urteil der Tiere hervor.131 Die Tiere sind nicht dazu fähig, obwohl sie nach einem bestimmten Ziel streben und um des Ziels willen über ein bestimmtes Mittel urteilen, die Bedeutung des Ziels zu erkennen, bzw. das Ziel ,als Ziel' zu erkennen.132 Dagegen: wenn der Mensch ein bestimmtes Ziel will und ein Mittel als diesem Ziel angemessen beurteilt, erkennt er auch die Tatsache, dass er dieses Ziel erstrebt, und dass er sich um dieses Ziels willen fur das Mittel entscheidet. Die Erkenntnis der Bedeutung des Ziels ermöglicht also das reflexive Urteil. Da der Mensch mit der Vernunft die Bedeutung des Ziels erkennt, erkennt er auch, weswegen er so urteilt, so entscheidet und so handelt. Thomas sagt: „Der Mensch, der durch die Kraft der Vernunft über künftige Handlungen urteilt, kann über seine Entscheidung urteilen, sofern er den Grund des Ziels und dessen, was zum Ziel führt, und die Beziehung und Hinordnung des einen zum anderen erkennt."133 Gerade in dem Vermögen, durch das der Mensch über sein Urteil und seine Entscheidung urteilen kann, sieht Thomas den eigentlichen
130 Vgl. In II Sent., d. 25, q. 1, a. 1, c; De ver., q. 24, a. 1, c; q. 24, a. 2, c. 131 Vgl. De ver., q. 24, a. 1, c; q. 24, a. 2, c; q. 25, a. 1, c; Sum. theol. I, q. 83, a. 1, c. In seinem späteren Werk unterscheidet Thomas noch deutlicher die vollkommene Erkenntnis des Ziels, zu welcher nur die rationalen Wesen fähig sind, von der unvollkommenen Erkenntnis des Ziels, die die Tiere durch das Sinnesvermögen und das natürliche und instinktive Schätzungsvermögen erreichen können. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 6, a. 2, c. 132 Vgl. De ver., q. 24, a. 2, c. „Sed hoc iudicium est eis ex naturali aestimatione, non ex aliqua collatione, cum rationem sui iudicii ignorent; propter quod huiusmodi iudicium non se extendit ab omnia, sicut iudicium rationis, sed ad quaedam determinata."; In II Sent., d. 25, q. 1, a. 1, ad 7. Die Unfähigkeit der Tiere zur Erkenntnis der ratio finis ist daran zu merken: sie haben nicht die Fähigkeit, das Ziel als Grund ihrer Taten anzugeben, d.h. sie haben keine Sprachfahigkeit. Nur das Wesen, das den Grund seiner Tätigkeit anzugeben vermag, kann nämlich erkennen, dass es aus diesem Grund seine Tätigkeit ausübt. Nur ein solches Wesen kann die Hinordnung des Mittels zum Ziel und die Hinordnung seiner Tätigkeit zum Ziel iproportio actus adfinem) erkennen, und damit seine Tätigkeit .rational' ausüben. Vgl. A. Kenny, Aquinas on Mind, S. 82f.; „Thomas von Aquin über den Willen", in: Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, S. 121f. 133 De ver., q. 24, a. 1, c. „Homo vero per virtutem rationis iudicans de agendis, potest de suo arbitrio iudicare, inquantum cognoscit rationem finis et eius quod est ad finem, et habitudinem et ordinem unius ad alteram."; Vgl. q. 24, a. 2, c. „Iudicare autem de iudicio suo est solius rationis, quae super actum suum reflectitur, et cognoscit habitudines rerum de quibus iudicat, et per quas iudicat." Die Reflexivität des Urteils wird in der theologischen Summe in Hinsicht der Indeterminiertheit des praktischen Urteils, das auf dem Vergleich der Vernunft beruht, gegenüber den kontigenten Dingen dargelegt. Vgl. Sum. theol. I, q. 83, a. 1, c.
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Die Willenslehre des Thomas in den 50er und 60er Jahren
Grund für die Freiheit der Entscheidung: Das Urteil steht nämlich in der Macht des Urteilenden, sofern er über sein Urteil urteilen kann.134 Nur von dem, der den Grund seines Urteils kennt und somit über sein Urteil urteilen kann, d.h. der in seiner Macht das Urteil trifft, kann man aussagen, dass er nicht nur die Ursache seiner Handlung und seiner Bewegung, sondern auch im eigentlichen Sinne die Ursache seines Urteils ist.135 Thomas bringt hier eine Stelle der aristotelischen Metaphysik, wonach der Sinn von ,frei' als die Ursache für sich selbst (causa sui) bestimmt wird, in Erinnerung.136 Damit kommt Thomas zu dem Schluss, dass der Mensch, der als ein Vernunftwesen das Urteil über seine Entscheidung treffen kann und somit die Ursache seiner Entscheidung zu nennen ist, die freie Entscheidung besitzt. Die Fähigkeit zur freien Entscheidung des Menschen lässt sich vor allem daran erkennen, dass er durch seine Entscheidung etwas tun oder nicht tun kann. In diesem Sinne wird der Mensch als der Herr über seine Tätigkeit bezeichnet. 137 Nach Thomas besteht die Freiheit (libertas) des Menschen gerade in der Fähigkeit zur freien Entscheidung und in der dadurch ermöglichten Herrschaft (dominium) über seine Tätigkeit.138
134 Nach Thomas ist das Urteil insofern in der Macht des Urteilenden, als der Urteilende über sein Urteil urteilen kann. Denn man kann über das urteilen, was in unserer Macht liegt. Vgl. De ver., q. 24, a. 2, c. „Iudicium autem est in potestate iudicantis secundum quod potest de suo iudicio iudicare: de eo enim quod est in nostra potestate, possumus iudicare."; Siehe auch Auer, a.a.O., S. 180f. 135 Vgl. De ver., q. 24, a. 1, c „...et ideo non est solum causa sui ipsius in movendo, sed in iudicando." 136 Vgl. De ver., q. 24, a. 1, c; ScG II, c. 48; Aristoteles, Metaphysik I, c. 2, 982b25f. Siehe auch: Sum. theol. I, q. 21, a. 1, ad 3; q. 96, a. 4, c; ScG I, c. 72; ScG III, c. 112; In II Cor., c. 3, lect. 3, n. 111-112; Sum. theol. II-II, q. 19, a. 4, c. 137 Thomas versteht den grundlegenden Begriff des Herrn (dominus) wie folgt: etwas wird als der Herr seiner Tätigkeit bezeichnet, sofern in ihm die Macht liegt, seine Tätigkeit zu erbringen oder nicht zu erbringen. Vgl. ScG II, c. 47. „... substantia aliqua est domina sui actus, utpote in ipsa existens agere et non agere."; In II Sent., d. 24, q. 1, a. 1, c; d. 25, q. 1, a. 1, ad 1; Sum. theol. I, q. 82, a. 1, ad 3; Siehe auch Auer, a.a.O., S. 174. 138 Vgl. ScG II, c. 48. „Libertatem autem necesse est eas habere, si habent dominium sui actus." Thomas macht an vielen Stellen deutlich, dass die Herrschaft des Menschen über seine Tätigkeit auf die freie Entscheidung des Willens zurückgeführt wird. Vgl. ScG II, c. 47; De ver., q. 24, a. 1, sc 4; q. 25, a. 4, c; q. 26, a. 6, c; In II Sent., d. 25, q. 1, a. 2, sc 2; Sum. theol. I, q. 83, a. 1, ag 4 und ad 4. Somit kann man auch zur Einsicht gelangen, dass Thomas durch den Begriff der freien Entscheidung die menschliche Freiheit, die den Menschen vor anderen Wesen auszeichnet, im tieferen und deutlicheren Sinne bestimmt hat, als die aristotelische Definition von ,frei' als der Ursache fur sich selbst (causa sui). Thomas betont nämlich, dass der Mensch nicht nur in seiner Tätigkeit oder Bewegung, sondern auch im Urteil und in der Wahl frei ist, und darin sieht Thomas die Auszeichnung des Menschen vor Sinnenwesen - auch die Tiere
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3.3. Die Willensfreiheit als die Freiheit der Entscheidung So beweist Thomas die Freiheit der Entscheidung, indem er die Eigenart des rationalen Urteils, das im Determinationsvorgang des Willens zum bestimmten einzelnen Guten die konstitutive Rolle spielt, erörtert. Die so dargelegte Fähigkeit zur freien Entscheidung ist also im freien Urteil begründet, was vor allem am folgenden Gedankengang der Argumentation offenkundig zu merken ist: Weil der Mensch die Ursache seines Urteils ist, ist er ebenso auch die Ursache seiner Entscheidung, die dem Urteil folgt. Daraus können wir einsehen, dass die Freiheit der Entscheidung letztlich auf das Vermögen, wodurch das reflexive und freie Urteil ermöglicht wird, nämlich auf die Vernunft zurückgeführt wird, wie Thomas einmal ausdrücklich schreibt: „Die Wurzel der ganzen Freiheit ist in der Vernunft."139 Die freie Entscheidung kann also nur dem, der über intellektuelle Fähigkeit verfugt, zukommen, und der Mensch besitzt die freie Entscheidung deswegen, weil er ein Vernunftwesen ist.140 Die Argumentation, in der die Freiheit des Willens in der Form des liberum arbitrium dargestellt und hauptsächlich aus der Freiheit des Urteils bewiesen wird, scheint aber in sich den Blickpunkt zu enthalten, wo der Wille und sein Akt im parallelen Verhältnis zum Verstand und dessen Akt vorgestellt werden. Dieser Eindruck wird vor allem in der Summa theologiae I, q.83, a.l deutlich, wo die Wahlfreiheit gegenüber den einzelnen endlichen Gütern in der Parallelität mit dem praktischen Urteil der Vernunft über die kontingenten Dinge betrachtet und aus der Eigenart dieses nicht notwendigen Urteils bewiesen wird.141 Der ähnliche Beweis, der auf die Parallelität zwischen Verstand und werden als frei in ihrer Bewegung und sich selbst bewegend (moventur seipsis) bezeichnet - und den eigentlichen Sinn der Freiheit als Herrschaft. Vgl. De ver., q. 24, a. 1, c; q. 24, a. 1, ad 1; q. 24, a. 2, c. 139 De ver., q. 24, a. 2, c. „Iudicare autem de iudicio suo est solius rationis, quae super actum suum reflectitur, et cognoscit habitudines rerum de quibus iudicat, et per quas iudicat: unde totius libertatis radix est in ratione consitituta." 140 Vgl. In II Sent., d. 25, q. l , a . l , c . „ . . . n e c aliquod agens finem sibi praestituere potest nisi rationem finis cognoscat et ordinem eius quod est ad finem ipsum, quod solum in habentibus intellectum est; et inde est quod iudicium de actione propria est solum in habentibus intellectum, quasi in potestate eorum constitutum sit eligere hanc actionem vel illam; unde et dominium sui actus habere dicuntur: et propter hoc in solis intellectum habentibus liberum arbitrium invenitur, non autem in ίIiis quorum actiones non determinantur ab ipsis agentibus, sed quibusdam aliis causis prioribus." 141 Vgl. Sum. theol. I, q. 83, a. 1, c. „Sed quia iudicium istud non est ex naturali instinctu in particulari operabili, sed ex collatione quadam rationis, ideo agit libero iudicio, potens in diversa fern. Ratio enim circa contingentia habet viam ad opposita, ut patet in dialecticis syllogismis et rhetoricis persuasionibus. Particularia autem operabilia sunt quaedam con-
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Willen angewiesen ist, wird auch in q. 82, a. 2 für die Indeterminiertheit des Willens durch einzelne Objekte vorgelegt.142 Dieses parallele Erklärungsmodell ist aber deswegen möglich, weil im konkreten Entscheidungsakt des Willens der Akt des Verstandes als konstitutiv involviert ist. Die Entscheidung gegenüber den wirkbaren Dingen (operabilia), die als solche die kontingenten Gegenstände des Verstandesaktes sind, wird als ein Zusammenwirken des Willens und des Verstandes zustande gebracht, indem der Wille dem freien Urteil des Verstandes folgt. Dass Thomas an den angeführten Stellen der theologischen Summe das parallele Erklärungsmodell vorbehaltlos als den Beweis für den Freiheitscharakter des Willensaktes geltend macht, weist auf den sehr engen Bedeutungszusammenhang des freien Urteils und der freien Entscheidung hin. In der Tat finden sich viele Stellen, wo Thomas den Terminus der freien Entscheidung ohne Unterscheidung vom freien Urteil zu gebrauchen scheint.143 Thomas definiert einmal die freie Entscheidung sogar als „freies vernunftbestimmtes Urteil {liberum de ratione indicium)".144 Durch die nicht nur untrennbar zusammenhängend, sondern sogar einander überschneidend scheinenden Bedeutungen des freien Urteils und der freien Entscheidung werden wir nun dazu veranlasst, das Verhältnis zwischen dem Akt des Urteils und dem der Entscheidung noch
tingentia. Et ideo circa ea iudicium rationis ad diversa se habet, et non est determinatum ad unum. Et pro tanto necesse est quod homo sit liberi arbitrii ex hoc ipso quod rationalis est."; Otto M. Pesch, „Philosophie und Theologie der Freiheit bei Thomas von Aquin in quaest. Disp. 6 De malo", in: Münchner Theologische Zeitschrift 13, S. 13. 142 Hier wird der Verhältnischarakter des Willens zu den einzelnen endlichen Gütern, die an das letzte Ziel nicht notwendig gebunden sind, durch die Parallelität mit der nicht notwendigen Zustimmung des Verstandes zu den kontingenten Sätzen begründet, die an die ersten Prinzipien der Erkenntnis nicht notwendig gebunden sind. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 2, c. „Sunt autem quaedam intelligibilia quae non habent necessariam connexionem ad prima principia, sicut contingentes propositiones, ad quarum remotionem non sequitur remotio primorum principiorum. Et talibus non ex necessitate assentit intellectus... Similiter etiam est ex parte voluntatis. Sunt enim quaedam particularia bona quae non habent necessariam connexionem ad beatitudinem, quia sine his potest aliquis esse beatus, et huiusmodi voluntas non de necessitate inhaeret."; De ver., q. 22, a. 6, ad 4. „...in scientiis demonstrates conclusiones hoc modo se habent ad principia, quod remota conclusione removetur principium; et sic propter hanc determinationem conclusionum respectu principiorum, ex ipsis prineipiis intellectus cogitur ad consentiendum conclusionibus." 143 Vgl. De ver., q. 24, a. 1, ad 1; a. 4, c; a. 6, c; ScG II, c. 48. „Sola igitur intellectualia se non solum ad agendum, sed etiam ad iudicandum movent. Sola igitur ipsa sunt libera in iudicando, quod est liberum arbitrium habere." 144 Vgl. ScG II, c. 48. „Quod est liberum arbitrium habere, quod definitur esse liberum de ratione iudicium."
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gründlicher zu untersuchen. Man könnte erstens doch die radikale Frage stellen, ob das letzte praktische Urteil und die Entscheidung überhaupt als ontologisch unterschiedene zwei Akte anzusehen sind.145 Der Interpretationsversuch, den Entscheidungsakt einfach mit dem Akt des letzten praktischen Urteils zu identifizieren, kann jedoch wenigstens dann nicht aufrechterhalten werden, wenn man noch im thomasischen Denken bleiben will. Denn Thomas behauptet, dass aus den zwei verschiedenen Potenzen in gleicher Ordnung unmöglich ein einziger Akt hervorgehen kann.146 Die Entscheidung ist also zwar fur einen „einheitlichen" Akt zu halten, in dem der Wille und der Verstand im verschiedenen Sinne zusammenwirken,147 aber auf keine Weise kann sie mit dem Urteilsakt substanziell identisch sein, der unmittelbar und in erster Linie dem Verstand zugeschrieben wird. Mit der scheinbaren Gleichsetzung der freien Entscheidung mit dem freien Urteil beabsichtigt Thomas also nur, den Aspekt des kognitiven Ursprungs für die Freiheit deutlich auszudrücken.148 Die zweite mögliche Frage, die noch wichtiger ist, lautet, ob die Entscheidung notwendig dem Urteil folgt, d.h. ob der Wille notwendigerweise das entscheidet, was der Verstand als das Erstrebenswertere beurteilt und zeigt. Wenn die Entscheidung des Willens dem Urteil notwendig folgt, ist der Wille nicht als solcher frei, sondern nur eine Instanz, die aus einem Urteilsinhalt praktische
145 Vgl. Klubertanz, „The Root of Freedom in St. Thomas's Later Works", in: Gregorianum XLI1, 1 . S . 7 0 4 ; S. 712. 146 Vgl. De ver., q. 24, a. 5, c. „Cum enim actus qui libero arbitrio attribuitur, sit unus specialis actus, scilicet eligere, non potest a duabus potentiis immediate progredi; sed progreditur ab una immediate, et ab altera mediate, inquantum scilicet quod est prioris potentiae, in posteriori relinquitur."; q. 24, a. 5, ad 1. Andererseits schreibt Thomas auch: „ratio et voluntas sunt unum ordine, sicut universum dicitur esse unum; et sie nihil prohibet unum actum esse utriusque: unius quidem immediate, sed alterius mediate." De ver., q. 22, a. 13, ad 8. 147 Vgl. Anmerkung 112. 148 Auch der oben angeführte Ausdruck der freien Entscheidung als „liberum de ratione iudicium" zielt nicht auf die substanzielle Definition, sondern eher auf die Deutung der die Freiheit ermöglichenden Herkunft. Vgl. ScG III, ebd. „Omnia igitur intellectualia liberum voluntatem habent ex iudicio intellectus venientem."; In II Sent., d. 24, q. 1, a. 3, ad 5; De ver., q. 24, a. 2, ad 4. Diesen Ausdruck verwendet Thomas nicht nur in seinem Frühwerk, sondern sogar in Prima secundae. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 17, a. 1, ad 2. „Ex hoc enim voluntas libere potest ad diversa fern, quia ratio potest habere diversas conceptiones boni. Et ideo philosophi difiniunt liberum arbitrium, quod est liberum de ratione judicium, quasi ratio sit causa libertatis." Hier scheint sich Thomas auf die Definition des liberum arbitrium durch Boethius zu beziehen. Vgl. In librum Aristotelis Peri Hermeneias, III, c. 9. Siehe Kapitel I, Anmerkung 31.
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Konsequenzen zieht.149 Damit die Freiheit des Willens im eigentlichen und vollständigen Sinne bejaht werden kann, muss vielmehr wohl die Tatsache anerkannt werden, dass sich der Wille selbst, auch unabhängig vom Urteilsakt des Verstand, zu seiner Entscheidung determinieren kann. Die angegebene zweite Frage thematisiert Thomas in den frühen Werken nicht ausführlich, aber er äußert sich einmal explizit, dass der Wille nicht notwendig der Vernunft folgt.150 Nach Thomas wird der Akt der Entscheidung keineswegs mit dem bloßen Erkenntnisakt durch das Vernunfturteil vollendet, sondern nur mit dem Ergreifen (acceptio) dessen, was durch die Vernunft als Entscheidungsobjekt vorgeschlagen wird.151 Das Ergreifen ist aber, so betont Thomas, nur die Sache des Willens, und in dem Moment des Ergreifens, wodurch die Wahl wirklich
149 Vgl. Schönberger, Thomas vonAquin, S. 138. Lottin interpretiert die frühe Willenslehre des Thomas auf diese Weise: In seinem monumentalen Werk .Psychologie et morale' schreibt Lottin, dass Thomas in De veritate der Meinung war, der Wille folge notwendig dem praktischen Urteil. (Vgl. Psychologie et morale I, S. 231 f.) Im denselben Zusammenhang äußert sich Lottin in seiner anderen Schrift, dass in De veritate eine offensichtlich deterministische Psychologie herrsche und sie in den späteren Werken nachlässt. (Vgl. Lottin, „Liberte humaine et motion divine de S. Thomas d'Aquin ä la condemnation de 1277", in: RTAM1, S. 55f.) Die Interpretation Lottins werden wir später noch präziser überprüfen. 150 Vgl. De ver., q. 22, a. 15, c. „Electio enim est ultima acceptio qua aliquid accipitur ad prosequendum; quod quidem non est rationis, sed voluntatis. Nam quantumcumque ratio unum alteri praefert, nondum est unum alten praeacceptatum ad operandum, quousque voluntas inclinetur in unum magis quam in aliud: non enim voluntas de necessitate sequitur rationem." 151 Wie der Entscheidungs- oder Wahlakt seinen Abschluss oder seine Vollendung erreicht, veranschaulicht Thomas durch eine komparative Erklärung: Wie auf dem spekulativen Gebiet die Untersuchung in der Schlussfolgerung (conclusio), die als ein Ausspruch (sententia) ausgedrückt wird, zu Ende kommt, so liegt auf dem praktischen Gebiet das Ende in der Durchführung (operatio) der Wahl. Vgl. De ver., q. 22, a. 15, ad 2. „practicae inquisitionis est duplex conclusio: una quae est in ratione, scilicet sententia, quae est judicium de consiliatis; alia vero quae est in voluntate, et huiusmodi est electio: et dicitur conclusio per quamdam similitudinem, quia sicut in speculativis ultimo Statur in conclusione, ita in operativis ultimo Statur in operatione." Ein ähnlicher Gedanke fällt uns auch im Sentenzenkommentar in die Augen. „Ita enim electionem praecedit consilium, ut in III Ethicor., cap. ix, dicitur, sicut disputatio conclusionem." In II Sent., d. 24, q. 1, a. 3, c. Wie man durch die Vernunft nach der Diskussion Schlussfolgerung zieht, führt man durch den Willen nach der Überlegung den Wahlakt aus. Die Wahl, bzw. die Entscheidung enthält dem Begriff nach in sich die Überlegung, aber das wesentliche Moment in der Wahl ist dasjenige, in welchem der Wille den Überlegungs- und Urteilsinhalt ergreift und den Wahlakt ausfuhrt. Dieses willentliche Moment wird in Summa theologiae so ausgedrückt: „Ex partem autem appetitivae requiritur quod appetendo acceptetur id quod per consilium diiudicatur." Vgl. Sum. theol. I, q. 83, a. 3, c.
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ausgeführt wird, ersieht Thomas die Fähigkeit des Willens, nicht notwendig dem Urteil der Vernunft zu folgen.152 Angesichts der so angedeuteten Möglichkeit der Selbstdeterminierung des Willens stoßen wir auf die Schwierigkeit, dass die Annerkennung der Willensautonomie gegenüber dem Verstand der Begründung der freien Entscheidung im freien Urteil zu widersprechen scheint. Aber das sorgfaltige Nachdenken über die thomasische Begründung der freien Entscheidung zeigt, dass die beiden, die man jeweils als den voluntaristischen und den intellektualistischen Aspekt ansehen könnte, nicht in einen Widerspruch geraten müssen. Denn wenn Thomas sagt, dass die freie Entscheidung im rationalen Urteil ermöglicht wird und demnach in der Vernunft seine Wurzel hat, ist mit dieser Aussage weder gemeint, dass die Freiheit der Entscheidung mit dem rationalen Urteil ersetzt werden kann, noch dass im Entscheidungsakt der Wille nicht mehr als ein Moment aufzufassen ist, der dem Urteilsinhalt notwendig und „blind" nachgeht. Vielmehr will er damit nur sagen, dass die Entscheidung des Menschen rational und reflexiv sein muss - in dem Sinne, dass der Mensch erkennt, was er will und warum er es will - , damit sie überhaupt eine freie Entscheidung sein kann, und dass die Möglichkeitsbedingung für die rationale und reflexive Entscheidung die Fähigkeit zum Vernunfturteil ist.153 Aber auf der anderen Seite ist es auch wahr, dass die sogenannte intellektualistische Begründung des liberum arbitrium, obwohl sie streng genommen nicht im Widerspruch mit der Anerkennung der Willensautonomie gegenüber dem Verstand im Entscheidungsakt steht, nicht in sich als eine genügende und relevante Erklärung der genannten Willensautonomie gilt. Damit man in der tho-
152 Sofern das Ergreifen Sache des Willens ist, besteht Thomas auf der Position, dass das liberum arbitrium keine vom Willen verschiedene Potenz ist, sondern dem Willen selbst zugeschrieben wird. Vgl. De ver., q. 24, a. 6, c. „Unde liberum arbitrium est ipsa voluntas. Nominat autem earn non absolute, sed in ordine ad aliquem actum eius, qui est eligere." Und mit dieser Position ist die Ansicht verbunden, dass die Freiheit des Urteils im unmittelbaren Sinne auf den Willen selbst zurückzuführen ist. Vgl. ebd. „Liberum arbitrium... est potentia qua homo libere iudicare potest... Sicut grammatica per hoc quod dicitur esse scientia recte loquendi, non dicitur quod sit principium locutionis simpliciter, quia sine grammatica potest homo loqui, sed quod sit principium rectitudinis in locutione. Ita et potentia qua libere iudicamus, non intelligitur ilia qua iudicamus simpliciter, quod est rationis; sed quae facit libertatem in iudicando, quod est voluntatis." Wenn man diese Aussage nicht in die Interpretation der frühen thomasischen Freiheitslehre integriert, ist die Interpretation nur einseitig, denn auch diese Aussage gilt als ein grundlegendes Gedankenelement des frühen Thomas. Das Problem in der Interpretation der frühen thomasischen Freiheitslehre werden wir im Kapitel V noch näher behandeln. 153 Vgl. De ver., q. 24, a. 1, ad 17; q. 24, a. 5, ad 4; q. 24, a. 6, ad 4.
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masischen Freiheitslehre die scheinbare Kluft überwinden und die strenge theoretische Kohärenz anerkennen kann, muss nämlich die Entscheidung des Willens, selbst wenn sie abweichend vom letzten praktischen Urteilsinhalt getroffen wird, bzw. wenn der Wille dem Urteil der Vernunft nicht folgt, immer noch als derjenige Vorgang erläutert werden können, welcher die Beteiligung der Vernunft nicht gänzlich ausschließt, sondern wiederum irgendwie auf der Vernunft beruht. Aber der Vorgang der Selbstdeterminierung des Willens und der Grund für die Autonomie des Willens gegenüber der Vernunft bleiben noch nicht vollständig erhellt, weil Thomas in seinen frühen Werken dieses Thema nicht in den Vordergrund gestellt hat.154 Mit aller Deutlichkeit können wir den zentralen Punkt der thomasischen Lehre nur so zusammenfassen: die Freiheit des Willens wird ausdrücklich als die Freiheit der Entscheidung gegenüber den Mitteln, d.h. den einzelnen endlichen Gütern aufgefasst, und sie wird aus dem reflexiven, in seiner Macht urteilenden Urteil bewiesen. Ob sich die Willensfreiheit im vollen Sinne in dem bisher dargelegten Begriff der freien Entscheidung wirklich erschöpft, hängt davon ab, wie wir den thomasischen Gedanken von der Selbstdeterminierung des Willens interpretieren, die von Thomas doch grundsätzlich bejaht, aber nicht intensiv thematisiert wird.
154 Die Gedankenstücke, aus denen der Gedanke von der Willensautonomie rekonstruiert werden kann, sind in vielen Themen verstreut. Die wichtigen Stellen sind vor allem: De ver., q. 22, a. 12; q. 22, a. 15; q. 24, a. 6; Sum. theol. I, q. 82, a. 3; ScG I, c. 72.
Kapitel III. Reaktion von voluntaristischer Seite
1. Walter von Brügge Nun betrachten wir die Willens- und Freiheitslehre der zeitgenössischen Denker, die wahrscheinlich im polemischen Zusammenhang mit der thomasischen Lehre stehen. Walter von Brügge {Gualterus Brugensis, +1307) war ein franziskanischer Magister, der 1267 bis 1269 als Vorgänger von Peckham an der Pariser Universität gelehrt hat. Als Schüler des Hl. Bonaventura gehört er zur ,ersten' Franziskanerschule, und er hat auf die spätere Franziskanerschule einen erheblichen Einfluss ausgeübt.1 Sein Nachdenken über die Freiheit des Willens kann man vor allem in seinen Quaestiones disputatae finden, die Walter während seiner Lehrtätigkeit an der Pariser Universität redigiert haben soll. Diese Quaestiones sind inzwischen von Longpre kritisch ediert worden, 2 und auf dieser Edition beruhen die Zitate und die Stellenangaben in der folgenden Untersuchung.
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Den Einfluss Walters auf die Folgezeit hat Stadter in seiner Studie über die Freiheitstheorie des Zeitraumes zwischen Bonaventura und Duns Scotus herausgestellt. Auch Decorte hat in seiner Abhandlung versucht, den Einfluss Walters auf die Freiheitslehre des Heinrich von Gent konkret darzulegen. Vgl. E. Stadter, Psychologie und Metaphysik der menschlichen Freiheit, S. 321; J. Decorte, „Der Einfluss der Willenspsychologie des Walter von Brügge OFM auf die Willenspsychologie und Freiheitslehre des Heinrich von Gent", in: Franziskanische Studien 65 (1983), S. 2 1 5 - 2 4 0 . Gauthier de Bruges, Quaestiones disputatae, ed. von E. Longpre, Les Philosophes Beiges, Tome X. (Louvain, 1928)
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1.1. Bestimmung des Willens (1) Der natürliche Wille (voluntas naturalis) und der abwägende Wille (voluntas deliberativa) Bei Walter von Brügge können wir zunächst keinen theoretischen Ansatz finden, einen Willensbegriff im systematischen und metaphysischen Zusammenhang zu erörtern, wie es bei Thomas von Aquin der Fall ist. Im Unterschied zu Thomas, der durch die Differenzierung des allgemeinen Neigungsbegriffs gemäß der Seinsordnung den definitiven Begriff des Willens erörtert, hebt Walter in seiner Willenslehre den Begriff der Neigung, die alle Formen zu eigen haben, als metaphysische Grundlage für den Willen nicht hervor. Das bedeutet jedoch nicht, dass Walter in seiner Interpretation von Willen das aristotelische Begriffserbe wie ,inclinatio\ Jinis', ,bonum' völlig außer acht lässt. Auch Walter geht davon aus, dass der Willensbegriff mit dem Ziel als dem Objekt verbunden ist,3 und dabei verwendet er sogar das Erklärungsmodell, in dem die Willensneigung und die Neigung der elementaren Natur analog betrachtet werden.4 Obwohl Walter seinen Willensbegriff niemals explizit als eine spezifische Stufe innerhalb der allgemeinen Neigungsordnung darstellt, ist also noch in seinen Gedanken die Kontinuität des Willens mit dem Bereich der Natur gewissermaßen angedeutet. Diese Andeutung ist nicht zuletzt dann gegeben, wenn Walter den menschlichen Willen nicht nur als rational, sondern auch als naturhafit bestimmt. Er sieht nämlich im menschlichen Willen die rationale und naturhafte Seite, welche durch die Begriffe ,voluntas deliberativa' und ,voluntas naturalis' ausgedrückt werden aber in Wirklichkeit zusammen eine innere Einheit des Willens bilden. Die beiden Begriffe unterscheidet Walter im Hinblick auf die Beziehung des Willensvermögens zum Objekt, d.h. je nachdem, in welchem Sinne das Gute als Objekt des Willens betrachtet wird. Sofern es sich um das Willensobjekt als das Gute im allgemeinen (bonum generale) handelt, richtet sich der Wille ,naturhaft' auf sein Objekt, mit anderen Worten: Dem Willen wohnt immer die Natur inne, das Gute im allgemeinen, bzw. das universale Gute {bonum in universale) zu erstreben. Auf diese Weise strebt der Mensch mit dem naturhaften Willen nach dem letztem Ziel (finis ultimus) und nach dem daran notwendig
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Quaestio disputata, q. 3, I ad 2. (ed. Lonpre, S. 31) „voluntas est primo et per se finis ut objecti." Vgl. ebd. Hier vergleicht Walter die durch die Mittel zum Ziel führende Willensbewegung mit der natürlichen Bewegung des schweren Körpers, der sich durch das Medium auf das Erdzentrum richtet.
Walter von Brügge
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angeschlossenen Gut, zum Beispiel dem Leben, dem Sein oder dem guten Leben. Der Wille kann sich nicht entziehen, sich auf das Gute im allgemeinen hinzulenken, sondern er ist immer auf dieses Objekt mit dem Instinkt der Natur (cum instinctu naturae) festgelegt.5 Deshalb hebt Walter hervor, dass der Wille, sofern er als ein naturhaftes Vermögen betrachtet wird, durchaus der Notwendigkeit unterliegt.6 Aber in Bezug auf das partikulare Gute steht die Sache völlig anders. Der Wille hat das Gute als das Gute (bonum qua bonum) zu seinem Objekt, und unter dieses Objekt fallen unzählbar viele Dinge, bzw. prinzipiell alles Seiende als das partikulare Gute.7 Es verhält sich jedoch nicht so, dass jedes beliebige partikulare Teilgut als möglicher Gegenstand des Willens auf jeden Fall den Willen anziehen muss.8 Der Wille bewegt sich vielmehr dadurch zum partikularen Guten, dass er seinerseits das betreffende partikulare Gute wie ein Mittel im Zusammenhang mit dem Ziel wählt. Sofern sich der Wille auf das partikulare Gute als Mittel zum Ziel bezieht, ist im Akt des Willens das kognitive Moment enthalten und der Wille wird der abwägende Wille genannt. Diesem abwägenden Willen wird nach Walter, im Unterschied zum naturhaften Willen, keine notwendige Determiniertheit zugesprochen. 9 Den anderen Unterschied zum naturhaften Willen sieht Walter darin, dass dem abwägenden Willen die Rationalität angehört. Während im naturhaften Willen die Verbindung mit der rationalen Kraft verneint wird, ist im Akt des abwägenden Willens die Vernunft (ratio) notwendig beteiligt. Walter beruft sich hier auf De anima des Aristote-
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Vgl. Qu. disp., q. 3, c. „... [voluntas] sic semper est ad unum determinata, scilicet ad bonum in universali; velle enim bene vivere est homini naturale... voluntas sic considerata non participat rationem, sed fertur in objectum suum cum instinctu naturae."; q. 3,1 ad 9; q. 3, IV ad 2. Aber wie Thomas, betont Walter zugleich, dass diese Notwendigkeit keineswegs mit dem Zwang (coactio) oder mit der Gewalt (violentia) gleichzusetzen ist, da das Prinzip der Willensbewegung jedenfalls im Willen selbst liegt. Die Notwendigkeit, die dem naturhaften Willen zukommt, nennt Walter die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit (necessitas immutabilitatis), die zur Notwendigkeit des Zwangs (necessitas coactionis) kontrastiert. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 10; ad 15. „Hoc vel illud primo modo appetitur voluntate inclinationis naturalis, necessitate immutabilitatis, non coactionis." Vgl. Qu. cfcp.,q. 3, c. (S. 29) Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 12; ad 14. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 15. „secundo modo appetitur voluntate deliberativa, non necessitate aliqua." Dass sich der abwägende Wille zu seinem Gegenstand nicht mit der Notwendigkeit, sondern mit der Freiheit bewegt, ist die zentrale These, die Walter in seiner Willenslehre ebenso wie Thomas behaupten will aber auf andere Weise zu ergründen versucht als Thomas, was wir im folgenden Teil erörtern werden.
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les, wonach der Wille in der Vernunft ist,10 und in diesem Sinne bezeichnet Walter den abwägenden Willen auch als den rationalen Willen {voluntas rationalis).n Diese zwei Bestimmungen der ,voluntas naturalis' und ,voluntas deliberativa' stellen den inneren und strukturellen Aufbau des menschlichen Willensvermögens dar. Zu beachten ist aber, dass mit diesem Begriffspaar keinesfalls die real verschiedenen Seelenpotenzen gemeint werden, obwohl im Text Walters die beiden Begriffe terminologisch so gebraucht werden, als ob sie dem Sein nach zwei verschiedene substanzielle Gegebenheiten wären. Walter selbst schreibt einmal deutlich: „Der naturhafte Wille und der abwägende Wille sind der Sache nach dasselbe, aber der Bedeutung und dem Gesichtspunkt nach verschieden." 12 Walter beabsichtigt also mit diesem Begriffspaar nur auszudrücken, dass der menschliche Wille als ein und dasselbe seelisches Vermögen je nach der Beziehung auf das Objekt unter verschiedenen Aspekten aufzufassen ist und jeweils in sich die gegensätzliche Elemente, d.h. Freiheit und naturhafte Notwendigkeit einschließt.13 Aber es ist klar, dass Walter den abwägenden Willen, der als rational und frei gilt, für den wesentlichen Aspekt der Willenspotenz des denkenden Menschen hält und auf diesen seine Willensuntersuchung konzentriert. Den konkreten Willensakt, der den Wahl- oder Entscheidungsakt beinhaltet und letztlich die praktischen Handlungen des Menschen ausmacht, löst nämlich immer insofern das Willensvermögen aus, als es mit dem vernünftigen Erkenntnisvermögen zusammenwirkt. Wir könnten nach dem bisher Dargelegten den Eindruck haben, dass der bisher dargestellte Gedanke Walters in mancher Hinsicht dem thomasischen Gedanken sehr nahesteht. Zum Beispiel: Der Unterschied zwischen bonum generale und bonum particulare erinnert uns an den thomasischen Unterschied
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Vgl. Qu. disp., q. 3, c; Aristoteles, De anima III, c. 9, 432b5. Vgl. Qu. disp., q. 3, c. Qu. disp., q. 3,1 ad 1. „non tarnen dico quod sit alia potentia voluntas naturalis et deliberativa, sed eadem secundum rem, diversa secundum rationem et nostram considerationem" Der Grund für die Unterscheidung der Begriffe ,voluntas naturalis' und ,voluntas deliberativa' ist eigentlich in der begrifflichen Unterscheidung des Ziels und des Mittels zu finden. Auf das Ziel bezieht sich der Wille, sofern er ein naturhaftes Vermögen ist, und auf das Mittel bezieht sich dagegen der Wille, sofern er abwägend ist. Vgl. Qu. disp., q. 4. (S. 37, dixit respondens...) „Finem autem, ut beatitudinem et bonum, vult voluntas naturalis necessitate immutabilitatis, non coactionis, ea vera quae sunt ad finem vult voluntas deliberativa, non finem, quia de fine non est deliberatio nec consilium, ut habetur III Ethicorum, et haec quae ad finem sunt vult libere, non aliqua necessitate coactionis vel immutabilitatis."; q. 3, IV ad 2; q. 4, ad 15.
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zwischen dem materiellen und dem formalen Objekt des Strebens.14 Der Hinweis auf die Allgemeinheit oder Unbegrenztheit des Willensobjekts, zu der das Objekt des sinnlichen Vermögens nicht gelangt, findet sich auch bei Thomas.15 Als die unbestreitbar klare und wichtige Gemeinsamkeit in den Willenstheorien der beiden Denker lässt sich aber vor allem die Unterscheidung zwischen den Begriffen des Mittels und des Ziels und der dieser Unterscheidung entsprechende Grundsatz anfuhren, der Wille bewege sich zum Ziel notwendig, aber zum Mittel mit der freien Entscheidung.16 Dieser Eindruck der Gedankenähnlichkeit zwischen beiden mag zwar auf den ersten Blick stichhaltig sein, aber nur in formaler und begrenzter Hinsicht. Wenn wir die Willensbestimmung Walters weiter untersuchen, tauchen nämlich die wesentlichen Unterschiede der beiden bald auf, die noch herausgestellt werden sollen. Diese Unterschiedlichkeit wird nicht zuletzt in der von Walter propagierten, eigentümlichen Bestimmung des Willens als dominierender Kraft im systematischen Gefuge der menschlichen Seelenpotenzen deutlich erkennbar.
(2) Der Wille als mächtige Potenz (poientia potestativa) Auch Walter behandelt den Willen in erster Linie als eine Potenz der menschlichen Seele. Die Bestimmung der Potenz ist aber dem Begriff nach immer mit der Frage nach der Aktivität und Passivität verknüpft, denn die Potenz ist der Begriff, der mit der Bewegung als der Aktualität korrelativ ist, und die Bewegung ist jedenfalls prinzipiell in Rücksicht auf das Bewegte und das Bewegende zu erfassen. Wenn man also den Willen als eine Potenz zur seelischen Tätigkeit annimmt, stößt man auf die Frage, ob sich diese Potenz aktiv - d.h. wie ein Bewegendes - oder passiv - d.h. wie ein Bewegbares - zur Realität der wirklichen Bewegung verhält. Wie wir schon betrachtet haben, sucht Thomas diese Frage dadurch zu lösen, dass er die Bedeutungen der Bewegung - bzw. die Bewegung durch die Zielursache und die Bewegung durch die Wirkursache unterscheidet. Nach der thomasischen Auffassung ist der Wille in Bezug auf das Objekt im Sinne der finalen Ursache als ,passiv' anzusehen, dagegen im Hinblick auf die Wirkkraft des wollenden Subjekts als ,aktiv' zu betrachten. Wie wird die Willenspotenz dann von Walter aufgefasst? Ist der Wille nach Walter eine passive oder eine aktive Potenz? Und inwiefern?
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Vgl. De ver., q. 25, a. 1, c. Vgl. ScG II, c. 47. Vgl. De ver., q. 22, a. 5 - 6 .
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Walter bestreitet zunächst nicht, dass dem Willen in gewisser Hinsicht Passivität zukommt. Aber wenn man den Willen als passiv bzw. als eine Art von ,Leiden {pati)' ansieht, so ist dies zutreffend, so behauptet Walter, nur auf den naturhaften Willen, der das Gefallen des Guten {complacentia boni) notwendigerweise aufnimmt.17 Walter beschränkt so die Passivität auf den naturhaften Willen und stellt es fest, dass der abwägende Wille nur als eine aktive Potenz aufzufassen ist. Dieser grundlegende Standpunkt Walters besagt aber nicht, dass man in jedem Fall sagen muss, der abwägende Wille nehme auf keine Weise den Einfluss vom Objekt als Ziel im thomasischen Sinne auf. Walter selbst gesteht nämlich zu, dass in der konkreten Willensbewegung der finale Einfluss des Objekts in Sinne der Aufnahme des Gefallens des Guten enthalten ist und diese Aufnahme als eine Art von Leiden anzusehen ist. Aber der Punkt bei Walter ist, dass die Aufnahme des Gefallens des Guten noch nicht das Wollen im eigentlichen Sinne bedeutet. Nach der Willensvorstellung Walters wird das Wollen, d.h. die Willensbewegung zum konkreten Guten, nicht als eine passive Bewegung, sondern nur als ein aktives Wirken (agere) gesehen.18 Die Walter'sehe Bestimmung des Wollens als aktives Wirken kann sich nicht durch den aristotelischen und metaphysischen Begriff der Aktivität erschließen. In der Bestimmung Walters handelt es sich nicht um denjenigen Begriff der aktiven Potenz, der je nach Sichtweise mit dem Begriff der passiven Potenz kompatibel ist.19 Es scheint vielmehr, dass Walter den Begriff der Akti-
17 Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 14. „Posito tarnen quod reeipiat necessario boni complacentiam, quod est pati, hoc est verum de voluntate naturali, non deliberativa, cui nec semper nec necessario complacet bonum."; q. 4, ad 16. 18 Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 3; ad 9; ad 14. „Si reeipit complacentiam boni, quod est suum pati, non tarnen adhuc necessario sequitur velle, quod est non pati, sed agere, quia velle dicit motum vel inclinationem totius hominis ad rem, quod est agere, non motum rei vel ejus similitudinis ad voluntatem, quod esset pati."; q. 4, ad 3. Hier kann man den Unterschied zwischen dem Willensgedanken Walters und dem des Thomas merken: während Thomas in Hinsicht auf die finale Bestimmtheit und den spezifischen Inhalt des Wollens den Einfluss des Objekts auf den Willen anerkennt und in diesem Sinne Passivität oder Rezeptivität des Willens bejaht, legt Walter auf die Passivität im thomasischen Sinne keine Bedeutung, weil Walter letztlich auf demjenigen Begriff des Wollens besteht, der nicht mit dem passiven Aufnehmen des objektiven Einflusses im thomasischen Sinne gleichgesetzt werden kann. Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 244f. 19 Falls man den Willen einfach in dem Sinne als aktive Potenz versteht, dass der Wille in sich die Wirkkraft als ein Prinzip der Tätigkeit zu eigen hat, dann kann man den Willen zugleich ohne Widerspruch als passive Potenz bestimmen, sofern in der Hinsicht der Zweckbestimmung das Objekt des Willens als das Prinzip der Willenstätigkeit gilt. Aber von diesem Verständnis, das zu Aristoteles und Thomas gehört, ist die Walter'sehe Bestimmung der mächtigen Potenz weit entfernt. Vgl. Stadter, a.a.O., S. 47.
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vität unmittelbar auf das Vermögen zur nicht notwendigen Bewegung und den Begriff der Passivität ebenso auf die notwendige Bewegung bezieht.20 Dieser spezielle und technische Sinn der Aktivität wird vor allem an der Stelle deutlich erkennbar, wo Walter den Willen als die aktive Potenz {potentia activa) im Sinne der mächtigen und freien Potenz {potentia potestativa et libera) ausdrückt.21 Der abwägende Wille wird deswegen als eine aktive oder eine mächtige Potenz bestimmt, weil er durch den finalen Einfluss des Objekts nicht notwendig bewegt wird und die überwältigende Kraft, eine notwendige Bewegung auszulösen, besitzt. Es ist klar, dass Walter mit dem Begriff der mächtigen Potenz {potentia potestativa) kaum darauf abzielt, das Prinzip der Bewegungsaktualität spekulativ und metaphysisch zu erklären. Der Begriff orientiert sich eher an der Erfahrung des Bewusstseins. In dem Augenblick, wo ein Mensch mit abwägendem Willen ein bestimmtes Objekt will, erfahrt er seinen Willen, der der Ursprung der Willenstätigkeit ist, als eine gegenüber dem inhaltsbestimmenden Einfluss von der objektiven Seite freie und zwar an der Machtfülle anderen Seelenpotenzen überlegene Wirkkraft. Das im Seelenphänomen so erfahrene Willensvermögen schließt zwar nicht die Rezeptivität oder die Passivität im thomasischen Sinne aus, welche die prinzipielle Beziehung zur Wirkung des Objekts widerspiegelt, aber verträgt sich keineswegs mit der Passivität im Sinne von notwendigem Bewegtwerden. So ist immer zu beachten, dass die mächtige Potenz als ein für die Walter'sehe Willenslehre eigentümlicher Begriff einen deskriptiven und emotionalen Sinngehalt hat.22 Was sich mit diesem Begriff der mächtigen Potenz erhebt, ist die Stellung des Willens im ganzen System der menschlichen Seele, während die oben erörterten Begriffe des naturhaften Willens und des abwägenden Willens den inneren strukturellen Aufbau des Willensvermögens darstellen. Der Wille als mächtige Potenz besitzt die Vorherrschaft gegenüber den übrigen Potenzen der menschlichen Seele, und deshalb wird er von Walter auch als ,dominierende Kraft {dominativa potestasy bezeichnet.23 Diese Bedeutung der mächtigen Potenz wird vor allem dann offenbar, wenn wir daran denken, dass Walter in seinen Werken durch die verschiedenen bildhaften Vergleiche die hervorragen-
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Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 14. Vgl. ebd. „sed voluntas est magis potentia activa vel potestativa et libera, quae non reeipit ab objecto suo nisi velit." Vgl. Stadter, a.a.O., S. 46f. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 8.
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de und herrschende Stellung des Willens im Reich der Seelenkräfte (regnum virium animae) veranschaulicht.24 Nun ist die Frage gestellt, ob und wie die bisher erklärten Bestimmungen des Willens den Sinn der menschlichen Willensfreiheit ausmachen kann. Auf dem unmittelbaren Fundament der Willensbestimmungen entfaltet Walter relativ gründlich seine Lehre von der Freiheit, indem er den wirklichen Vorgang des Willensaktes im Zusammenhang mit den anderen seelischen Potenzen untersucht. Die unentbehrliche Voraussetzung dafür, die Freiheit des Willens zu begründen und auch sogar die Bedeutung der Freiheit klarzumachen, ist die Analyse des Bewegungsverhältnisses zwischen dem Willen und der Vernunft. Durch diese Analyse kann auch die Bedeutung des etwa fremdartig klingenden Ausdrucks der mächtigen Potenz in vollem Umfang ans Licht gebracht werden. 1.2. Begründung der menschlichen Willensfreiheit (1) Die Analyse der Bedeutungen der Vernunft Um das Bewegungsverhältnis des Willens und der Vernunft zu erörtern, müssen wir zuerst mit Walter die vielfachen Bedeutungen der Vernunft {ratio) differenzieren. Die sorgfaltige Abgrenzung der Bedeutungen der Vernunft findet man in der fünften Diskussionsfrage, wo Walter auch die Funktion der Vernunft im Willensakt systematisch analysiert. Das Argument in dieser Diskussionsfrage rechnet als solches zur Begründung der Freiheit des Willens. Zuerst unterscheidet Walter die verschieden gebrauchten Bedeutungen der Vernunft, nämlich die Vernunft als Wesenheit {ratio ut essentia) und die Vernunft als Potenz {ratio ut potentia). Manchmal wird die Vernunft im weiteren Sinne wie eine Wesenheit angenommen, und in diesem Fall versteht man unter der Vernunft den ganzen Geist, der den Willen und den Verstand umfasst und im Kontrast zur sinnlichen Seele steht. Aber wenn die Vernunft als eine Potenz verstanden wird, dann besagt die Vernunft das spezielle Vermögen zur rationalen Erkenntnis innerhalb der geistigen Seele. Also fällt der Wille selbst insofern unter die rationalen Potenzen, als man mit der ,ratio' die Wesenheit der
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Vgl. Qu. disp., q. 4, c. „sie et in regno virium animae voluntas omnibus praesidet et se et omnes movet prout libet..." Walter vergleicht den Willen z.B. mit dem König eines Reiches, mit dem Papst der Kirche, mit der Herrin des Hauswesens und mit dem Befehlshaber des Heeres. Vgl. Qu. disp., q. 4, c; q. 6, c; q. 6, ad 5; Stadter, „Die Seele als ,minor mundus' und als ,regnum'". in: Miscellanea mediaevalia 5 (1968), S. 59.
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menschlichen Seele meint, aber der Wille steht dann streng der Vernunft gegenüber, wenn man die ,ratio' im engeren Sinne einer Potenz gebraucht. Diese semantische Unterscheidung des Vernunftbegriffes wird die Grundlage fur die Analyse der funktionellen Bedeutungen der Vernunft, die am konkreten Willensakt erkennbar sind. Im Anschluss an die Unterscheidung zwischen ,ratio ut essentia' und ,ratio ut potentia' teilt nämlich Walter die Vernunft gemäß dem zeitlichen Verhältnis zum Willensakt in die dem Willen vorausgehende (ratio praecedens), die den Willen begleitende {ratio concomitans) und die dem Willen folgende Vernunft (ratio sequens) ein.25 Diese Einteilung der Vernunft überschneidet sich aber inhaltlich mit der ersten semantischen Unterscheidung. Die dem Willen vorausgehende und die dem Willen folgende Vernunft decken sich nämlich der Sache nach mit der Vernunft als Potenz,26 und die den Willen begleitende Vernunft ist, vom Inhalt her betrachtet, von der Vernunft als Wesenheit nicht verschieden. Die dreifache Einteilung, die auf der Analyse der verschiedenen Tätigkeitsphasen des Willens beruht, erstellt Walter vor allem deswegen, weil er durch diese Einteilung die Funktion und den Anteil der Vernunft am Willensakt klären will. Darüber hinaus will Walter durch diese Einteilung der funktionellen Bedeutung der Vernunft erklären, in welchem Sinne der Vernunft die Freiheit zuzusprechen ist. Skizzieren wir nun nach der Einteilung Walters die Funktion und die wesentlichen Merkmale der Vernunft. Als ein dem Willen gegenüberstehendes Vermögen hat die Vernunft vor dem Willensakt die Funktion, die verschiedenen Gegenstände zu vergleichen und abzuwägen und dem Willen diese verschiedenen Gegenstände als die möglichen Willensobjekte vorzulegen. Überdies trifft die Vernunft vor dem Willensakt das Urteil über die Gutheit der Gegenstände, und teilt dem Willen ihr Urteil mit.27 Bemerkenswert ist die Ansicht
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Vgl. Qu. disp., q. 5, c. „Nota tarnen quod est ratio vel actus rationis voluntatem praecedens, et est ratio voluntatem concomitans vel potius ei coexistens, et est ratio, id est actus ejus, rationem sequens..." Man darf dies nicht so missverstehen, als ob die ,ratio praecedens' und die , ratio sequens' zwei substanziell' unterschiedliche Potenzen bedeuten würden. Sie sind vielmehr die Bezeichnungen, die im Hinblick auf den Wirkungszusammenhang mit dem Willen den zwei Aspekten der Vernunfttätigkeit gegeben werden. Walter stellt fest, dass ohne diese vorausgehende Tätigkeit der Vernunft der Wille nicht in Bewegung gesetzt werden kann. Dafür fuhrt Walter hier eine Stelle in De gratia et libero arbitrio von hl. Bernhard an: „Voluntas nunquam sine ratione movetur." (Qu. disp., q. 5, c) Natürlich nimmt Walter mit diesem Zitat noch keine Rücksicht auf den ganzen Umfang der Wechselwirkung des Willens und der Vernunft. Hier wird nämlich davon abgesehen, ob und inwiefern die Tätigkeiten der Vernunft ihrerseits wiederum vom Willen beeinflusst
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Walters, dass sich diese dem Willen vorausgehende Vernunft durch Abwägen und Vergleichen auf dies oder auf jenes ,frei' hinwenden kann.28 In diesem Sinn spricht Walter der dem Willen vorausgehenden Vernunft gewisse Freiheit zu. Aber er sieht diese Freiheit der Vernunft nur als halbe Freiheit an, denn während er das Vergleichen als eine freie Tätigkeit charakterisiert, verneint er insofern die Freiheit im Urteilen, als die Vernunft beim Urteilen durch die Regel der Wahrheit (regula veritatis) gebunden ist.29 Mit dem Begriff der den Willen begleitenden Vernunft meint Walter aber weder ein Vermögen zur Erkenntnis noch eine konkrete Tätigkeit des Vermögens, vielmehr will er einfach den Sachverhalt verdeutlichen, dass der Wille in der Vernunft als der Wesenheit der rationalen und geistigen Seele wurzelt und in diesem Sinne mit der Vernunft als einer Wesenheit ,koexistiert'.30 Das wesentliche Merkmal, das Walter in der rationalen Wesenheit der menschlichen Seele sieht, ist die Fähigkeit zu Entgegengesetztem. Weil der Wille der Vernunft als einer Wesenheit angehört, bzw. mit der Vernunft als einer Wesenheit koexistiert, ist der Wille nicht auf ein einzelnes Bestimmtes festgelegt, sondern dazu fähig, sich auch auf das Entgegengesetzte zu richten.31 Die den Willen begleitende Vernunft ermöglicht also dem Willen die Indifferenz zu Entgegengesetztem (indifferentia ad opposita),32 und aufgrund dieser Indifferenz kann man dem Willen gewisse Freiheit zusprechen, die Walter die , Freiheit der Indifferenz (libertas indifferentiaey nennt.33 Aber nach Walter kann die Freiheit
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werden. Diese Frage wird, wie wir bald sehen werden, mit dem Begriff der ,ratio sequens' intensiv in der Quaestio 6 thematisiert. Vgl. Qu. disp., q. 5, c. „Deliberatio rationis, praevia motui voluntatis, potest libere flecti ad hoc vel illud..." Der Schluss des Urteils muss nämlich der Determination gehorchen, die von der intellektuellen Evidenz aufgegeben wird. Vgl. Lottin, a.a.O., S. 245; Qu. disp., q. 5, c. „prima enim libera est semiplene, quia collationem facit libere, sed non judicium, quia confert de volendis ut vult, sed judicat secundum regulam veritatis."; q. 5, ad 15. „ita quod rationis est conferre, et quoad hoc est libera, sed intellectus est apprehendere et assentire, in quibus non semper habet libertatem sicut nec in actu qui est judicare." Vgl. Qu. disp., q. 5, c. „ratio enim coexistens voluntati, ut genus speciei, est ratio quae est essentia." Vgl. Qu. disp., q. 5, c. Vgl. ebd; q. 5,1 ad 4. Walter sagt deutlich, dass der Wille durch die Vernunft die Freiheit der Indifferenz zu eigen hat, sofem die Vernunft im weiteren Sinne, d.h. wie eine Wesenheit gemeint wird. Vgl. Qu. disp., q. 5, II ad 14. „die quod habet libertatem indifferentiae a ratione, ut est nomen essentiae..."; q. 5, c. „omnis autem ratio et secundum ipsam rationalis potentia habet indifferentiam ad opposita, quae est libertas aliqua, quia non est ad unum per aliquem sui actum vel differentiam aretata..."
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der Indifferenz, durch welche die den Willen begleitende Vernunft charakterisiert wird, den vollkommenen Sinn der Freiheit nicht erfüllen, denn die eigentliche und wahre Freiheit ist nur im wirklichen Entscheidungsakt zum bestimmten Gegenstand zu finden. So wird die Freiheit der Indifferenz als unvollkommene Freiheit bezeichnet.34 Besonders bemerkenswert ist die Rolle der dem Willen folgenden Vernunft. Als Erkenntnisvermögen funktioniert die Vernunft nicht nur vor dem Willensakt, sondern auch nach dem Willensakt, wobei die Vernunft auf Geheiß des Willens {ad nutum voluntatis) den Entscheidungsakt durchfuhrt.35 In diesem Akt findet die Vernunft, so behauptet Walter, ihre Freiheit im vollen Sinn. Diese Freiheit der ,ratio sequens' ist aber diejenige, die ursprünglich im Willen gründet, und die wegen der vom Willen beeinflussten Tätigkeit der Vernunft gebührt.36 (2) Die Wechselbewegung des Willens und der Vernunft Durch die schematische Einordnung der funktionellen Bedeutungen der Vernunft bietet sich uns der Ansatz für die weitere Untersuchung des Bewegungsverhältnisses zwischen dem Willen und der Vernunft. Um die wechselseitigen Bewegungen des Willens und der Vernunft zu analysieren und dadurch das Verhältnis der beiden Potenzen relevant zu bestimmen, müssen wir aber noch auf die Begriffe der ,ratio praecedens' und ,ratio sequens' näher eingehen, denn die Art und Weise der gegenseitigen Wirkungen zwischen beiden Potenzen erschließt sich in der Funktion der ,ratio praecedens' und ,ratio sequens'. Die Wirkung der ,ratio praecedens' auf den Willen ist zum einen in der Funktion zu finden, das erfasste Gute dem Willen zu zeigen (ostendere). Der Grund dafür, dass diese Funktion als eine Einwirkung oder als ein Einfluss bezeichnet werden kann, liegt in der Tatsache, dass der gute Gegenstand eine gewisse Reaktion von Seiten des Willens hervorruft. Das von der Vernunft dem
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Wir müssen aber auch beachten, dass die den Willen begleitende Vernunft, bzw. die Vernunft als eine Wesenheit, nicht nur dem Willen sondern auch der Vernunft als dem rationalen Erkenntnisvermögen die Fähigkeit der Indifferenz verschafft. Insofern kann die sogenannte Freiheit der Indifferenz nicht als ein allein dem Willen eigentümliches Merkmal angesehen werden. Vgl. Qu. disp., q. 5, c. „...sed non est libertas perfecta, quia non potest alteram oppositorum praeoptare nec agere de se nisi ad illud applicetur vel juvetur ipsa voluntate..."
35 Vgl. Qu. disp., q. 5, c. 36 Vgl. Qu. disp., q. 5, c. tam."
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Willen als gut vorgelegte konkrete Objekt aktualisiert' nämlich den sogenannten allgemeinen Anreiz ( a f f e c t i o generalis), welcher dem Willen mit der naturhaften Neigung zum letzten Ziel von Natur aus mitgegeben ist, zur konkreten emotionalen Affektivität, bzw. zum bestimmten speziellen Anreiz ( a f f e c t i o determinata vel specialis)?1 Die affectio bzw. das Affiziertwerden ist zwar eine unleugbare emotionale Wirklichkeit, in der sich die menschliche Seele jeweils befindet, und die grundsätzlich im Willensvermögen verwurzelt ist, aber trotzdem ist die affectio keineswegs mit der Willenstätigkeit im engeren Sinn, d.h. mit dem Wollen gleichzusetzen.38 Auch wenn die , a f f e c t i o generalis' durch das konkrete Gute ,aktualisiert' und deshalb zur empirisch noch deutlicher zu empfindenden Wirklichkeit wird, ist der Sachverhalt unveränderlich. Der Anreiz, der vom dem Willen vorgestellten konkreten Guten beigebracht wird, ist bloß als eine ,Vorphase' des Wollens aufzufassen. Der Punkt, der in unserem Zusammenhang mit aller Deutlichkeit festgestellt werden soll, ist die Tatsache, dass aus der emotionellen Vorphase der affectio zwar das Wollen als Tätigkeit des abwägenden Willens hervorgehen kann, aber nicht muss. Die Vernunft bewegt also den Willen dadurch, dass sie ihm das erfasste Gute vorlegt, aber auf jeden Fall ohne ihm die Notwendigkeit zum Wollen aufzuerlegen. Zum anderen bewegt die Vernunft den Willen in der Weise des Rates {consilium)?9 Vor dem Willensakt legt die Vernunft dem Willen nicht nur das erfasste Gute vor, sondern berät auch den Willen durch ihr Urteil, einen ihr als besser erscheinenden Gegenstand zu wählen. Diese Art der Bewegung des Willens durch die Vernunft wird von Walter als ,Überredung (persuasio)' ausgedrückt.40 Der Begriff der Beratung bzw. der Überredung impliziert in sich keine notwendige Bewegung. Walter stellt die Bewegung im Sinne der Beratung oder
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Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 8. In den Texten Walters hebt sich - im Unterschied zu Thomas das emotionale Element in der menschlichen Seelentätigkeit bzw. der Anreiz ( a f f e c t i o ) hervor. Der Walter'sehe Gedanke von der affectio ist nicht in klarer Form dargelegt, aber wir können den Umriß seines Gedankens wie folgt zeichnen: Walter nimmt einen allgemeinen Anreiz ( a f f e c t i o generalis) zum Guten, welcher dem menschlichen Willen mit der naturhaften Neigung zum allgemeinen Guten gegeben ist. Walter bezeichnet diesen allgemeinen Anreiz als das Wohlgefallen des Objekts oder des Guten (complacentia objecti vel boni). Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 8. Wenn aber dem Willen ein konkretes Gutes vorgelegt wird, wird der Wille von der Gutheit des partikularen Gegenstandes affiziert, und dabei entsteht ein spezieller Anreiz in der konkreten und bestimmten Form. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 3. Der kernhafte Unterschied liegt darin, dass nach Walter, wie bereits erklärt wurde, die affectio, die das Gefallen des Guten aufnimmt, als ,patV und dagegen das Wollen streng als ,agere' bestimmt wird. Vgl. Anmerkung 18. Vgl. Qu. disp., q. 5,1 ad 3; q. 6, c; ad 1; ad 5; ad 12. Vgl. Qu. disp., q. 5, II ad 10; q. 6, ad 14.
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der Überredung und die notwendige Bewegung offensichtlich gegenüber.41 Der Wille kann der beratenden Stimme der urteilenden Vernunft folgen, aber unter Umständen kann er sich auch gegen die Beratung der Vernunft bewegen. Hervorzuheben ist hier, dass in beiden Fällen der Wille das letzte Entscheidungsrecht über seinen Akt behält.42 Die Bewegung der Vernunft durch den Willen lässt sich dagegen am Begriff der ,ratio sequens' erkennen. Obwohl die Vernunft durch das Urteil den Willen zum bestimmten Objekt überredet hat, ist die ganze Anteilnahme der Vernunft am Willensakt noch nicht erfüllt. Denn der Willensakt ist erst in dem Augenblick vollendet, wo der Wille der Vernunft befiehlt, sich für ein vom Willen selbst bevorzugtes Objekt zu entscheiden. 43 Die Entscheidung wird von Walter als der Akt der Vernunft gemäß dem Geheiß des Willens (actus rationis ad nutum voluntatis) bezeichnet. 44 Also wird die Entscheidung, die der ratio sequens angehört, vom Urteil der ratio praecedens, das gemäß der Regel der Wahrheit und des Gesetzes (secundum regulas veritatis et legis) erfolgt, begrifflich unterschieden.45 Die Entscheidung kann vom Urteil inhaltlich abgewi-
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Vgl. Qu. disp., q. 5, II ad 10. „ratio non arctat nec terminat necessitatem imponendo voluntati, sed quod melius est ostendendo et persuadendo." Walter behauptet, dass der Willensakt zum konkreten Objekt letztlich nur auf den Willen selbst zurückzufuhren ist, obwohl der Wille der Beratung der Vernunft folgt und somit der Willensakt als ein Zusammenwirken des Willens und der Vernunft erfolgt. Das legt Walter an einem einfachen Beispiel dar: „Ego consulo quod scribas; tu scribis; plus tu es causa scripturae et flus influis illi quam ego. Sic est hie, quia intellectus est prima causa imperandi ut consulens esse imperandum, voluntas vero libere, sicut vult, elicit imperandi actum."(gw. disp., q. 6, ad 8); „Et ego consulo tibi studere et studes; Studium magis attribuitur tibi quam mihi. Sic est in proposito: nam intellectus et voluntas conveniunt ad actum imperandi ita quod intellectus consulit quid imperandum et voluntas imperat. Et ideo die quod intellectus non advenit ultimo ad actum imperandi nisi denuntiando et tunc est quasi
instrumentum."(gu. disp., q. 6, ad 12) 43
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Walter sieht also den wesentlichen Aspekt des Willensakts, in dem der Zustand der Indeterminiertheit des Willens zwischen verschiedenen möglichen Willensobjekten aufgehoben und der Willensakt als eine definitive Realität verwirklicht wird, nicht in der Bewegung des Willens durch die Vernunft, sondern in der befohlenen Bewegung der Vernunft durch den Willen. Vgl. Qu. disp., q. 5, c. „postquam enim ratio praecedens, conferens alteram esse faciendum judieaverit, remanet indifferentia in omni rationali potentia et etiam in voluntate." Vgl. ebd. Vgl. ebd. Auch bei Thomas werden das Urteilen und die Entscheidung als voneinander unterschiedene Tätigkeiten betrachtet. Aber der Grund für diese Unterscheidung liegt bei Thomas bloß darin, dass das Urteilen und die Entscheidung auf zwei verschiedene Potenzen, d.h. Verstand und Willen zurückgehen. Bemerkenswert ist, dass Walter hingegen die Entscheidung als eine Tätigkeit der Vernunft bestimmt. Dann wird die Frage gestellt, wie
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chen sein, da das Urteil der Freiheit des Willens nachgeben und dem Befehl des Willens unterworfen sein muss. Walter fuhrt in diesem Sinn die Sätze des Bernhard von Clairvaux an, wonach Urteilen und die Freiheit geschähen zu-
sich die Entscheidung zum Wollen als Willensakt verhält. Warum nimmt Walter im Willensakt überhaupt einen vom Willen befohlenen Vernunftakt an, statt das Wollen einfach als einen Willensakt zu beschreiben? Warum braucht Walter außer dem Akt der ratio praecedens, bzw. Vorlegen des Guten und Überreden noch den Akt der ratio sequens, bzw. die Entscheidung, um den Begriff des Wollens zu erklären? Angesicht dieser Frage müssen wir Folgendes bedenken: Erstens, die Vernunft folgt grundsätzlich dem Willen. Zweitens, obwohl die Vernunft dem Willen folgt, bedeutet dieser Gehorsam der Vernunft auf keinen Fall, der Akt der Vernunft sei nur die Vorphase oder die Voraussetzung des Willensaktes und für den Willensakt selbst nicht konstitutiv. In dem Augenblick, wo das Wollen als ein vom vorausgehenden Urteil grundsätzlich unabhängiger und einheitlichen Akt erfolgt, muss nämlich die Vernunft als ein kognitives Prinzip gleichzeitig mitwirken. Diese gleichzeitige Mitwirkung ist natürlich etwas anderes als das Urteilen, wodurch der Inhalt der Überredung gebildet wird. Das Urteilen muss ja als ein Akt der ratio praecedens, logisch betrachtet, zeitlich früher kommen als das Wollen, obgleich im konkreten Vorgang des Bewusstseins dieser zeitliche Abstand meistens nicht wahrgenommen wird. Die Entscheidung besteht darin, dass die Vernunft nach dem Befehl des Willens das vom Willen bevorzugte Objekt als das wirklich zu wollende Objekt erkennt. Das besagt: falls ich einen Gegenstand als besser im Vergleich mit den anderen beurteile aber dem Gegenstand einen anderen vorziehe, muss dieser vorgezogene Gegenstand irgendwie als ein wirkliches Willensobjekt in meinem Bewusstsein hervortreten, damit ich diesen Gegenstand wirklich will. Walter schreibt: „licet voluntas exit in actum suum contra rationis judicium, nunquam tarnen aliquid vult nisi per rationis ministerium vel arbitrium, ut dicit ibidem Bernardus, quia nemo aliquid vult nisi prius illud intelligat "(Qu. disp., q. 5, II ad 5) Also kann ich keinen Gegenstand wollen, ohne einen Gegenstand als mein Willensobjekt zu erkennen, obwohl ich den Gegenstand durch die Freiheit des Willens gegen mein vorausgehendes Urteil will, und deshalb befiehlt mein Wille meiner Vernunft eine neue kognitive Tätigkeit, d.h. die Entscheidung. Welcher Art diese vom Urteil der ratio praecedens unterschiedene Erkenntnis ist, wird aber im Text Walters nicht ganz klargemacht. Es scheint nur, dass diese Erkenntnis nicht diejenige ist, die im einmal als weniger gut beurteilten Gegenstand irgendeinen neuen objektiven Grund für das Streben entdeckt oder bildet, sondern etwas wie eine Anerkennung der Ausrichtung des Willens ist. Trotz der teilweisen inhaltlichen Unklarheit ist jedoch auf jeden Fall festzustellen: die Tatsache, dass sich der Wille gegen das Urteil der Vernunft bewegen kann, schließt keineswegs das kognitive Moment in der unmittelbaren Willenstätigkeit aus. Die Entscheidung ist ja ein Vernunftakt, aber kein eigenständiger Akt der Vernunft. Sie ist mehr als ein kognitiver Aspekt in der unmittelbaren Willenstätigkeit auszulegen, welchen Walter um einer logischen und strukturellen Erklärung der Willenstätigkeit willen einfuhrt, denn als ein vom Wollen wirklich und zeitlich verschiedener Seelenakt. Wenn die Bewegung der Vernunft durch den Willen, bzw. die Entscheidung aus dem Wollen ausgeschlossen würde, könnten die Vernunft und der Wille den Zustand der Zwietracht, der aus der Abweichung des Willens vom Urteil hervorgegangen ist, nicht überwinden, und demnach wäre das einheitliche seelische Leben der Person nicht möglich.
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sammen (libertatem concomitatur judicium), und durch die Tätigkeit stehe die Vernunft seinem Urteil gegenüber (ratio facit contra rationis judicium per rationis ministerium).46 Der Grundcharakter der Bewegung der Vernunft durch den Willen wird im Begriff der Entscheidung angezeigt: der Wille bewegt die ratio sequens in dem Sinne, dass er ihr den Befehl gibt (imperare). (3) Das Verhältnis des Willens und der Vernunft Nun sind wir in der Lage, das Verhältnis des Willens und der Vernunft im Sinne der Theorie des Walter von Brügge eindeutig zu bestimmen. Nach Walter bewegt die Vernunft den Willen in der Weise des Ziels {per modum finis), weil sie dem Willen das erstrebenswerte Ziel, bzw. das erfasste Gute präsentiert und dazu überredet, sich auf das Ziel zu richten. Dagegen bezeichnet Walter die Bewegung der Vernunft durch den Willen, d.h. das Befehlen, als die Bewegung in der Weise des Bewirkenden (per modum efficients).47 Dieser kontrastive Unterschied der Bewegungsbedeutung wird im Text Walters auf verschiedene Weise umschrieben: Während die Vernunft als die Urteilende und die Beratende den Willen insofern bewegt, als sie dem Willen die Richtung und Erleuchtung gibt (inquantum est dirigens vel illuminans alios), bewegt der Wille als der Befehlende die Vernunft in der Weise des Ausführenden (per modum facientis) und des Antreibenden (per modum impellentis).48 Der Kern der Walterschen Verhältnisbestimmung zwischen Willen und Vernunft liegt darin, aufgrund des so erläuterten Unterschieds zu beweisen, dass der Wille als eine Potenz zur seelischen Bewegung gegenüber der Vernunft die vorrangige Würde (dignitas) und Autorität (auctoritas) hat. Dieser Beweis für den Vorrang des Willens ist seinerseits aus zwei Argumenten strukturiert: das erste Argument ist, dass die Autorität oder die Vorzüglichkeit (nobi-
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Qu. disp., q. 5, c. Walter meint mit dem ,ministerium' die Tätigkeit der Entscheidung. Er gebraucht das Wort in demselben Sinne des ,arbitrium'. Vgl. ebd. „id est per arbitrium rationis imperatae a voluntate facit contra judicium rationis praecedentis."; q. 5, II ad 5; Bernhard von Clairvaux, De gratia et libero arbitrio, II, 3 (ed. Winkler, Bd. 1, S. 167f.). Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 18. „...quia [voluntas] movet per modum efficientis, intellectus vero movet per modum finis, scilicet consulens voluntati ut se inclinet in bonum apprehensum ut in finem suum..."; q. 6, ad 2. „aliquid dicitur praecipere dupliciter, scilicet vel ut agens vel ut finem desideratum ostendens. Primo modo praecipit vel imperat voluntas, secundo modo intellectus, ratio, prudentia et omne intellectivum in eo huiusmodi." Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 1; ad 5. Siehe auch Qu. disp., q. 3, ad 3; q. 5,1 ad 3.
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Utas) nicht dem Beratenden, sondern dem Befehlenden zukommt.49 Zu dem Argument zieht Walter die definitive Bedeutung von Befehlen (imperare) selbst heran, nach der das Befehlen nichts anderes ist als das Bewegen mit der Würde und Herrschaft (dominatio).50 Das zweite Argument ist, dass das Befehlen im strengen Sinne nur der Akt des Willens ist. Nach der Bedeutungsbeschränkung Walters bezieht sich die Vernunft, wie bereits oben erwähnt wurde, nur insofern auf den Befehlsakt, als die Vernunft wie ein Instrument dem Willen den Befehlsgegenstand (quid imperandutn) anzeigt.51 Es steht außer Frage, dass dieser Akt des Anzeigens (denuntiare) vom eigentlichen Sinn des Befehlens weit entfernt ist.52 So zeigen sich die wechselseitigen Bewegungen zwischen Willen und Vernunft als nicht äquivalente Bewegungen, und bei der Bewegung wird der Vorrang schlechthin der Willenspotenz zugesprochen.53 Demgemäß wird das Ver-
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Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 5. „... movere est dupliciter, scilicet per modum consulentis et per modum impellentis, ut auctoritatem habentis. Hoc secundum movere est nobilius quam primum, moveri vero a consulente non est ignobilitatis, ut patet in Papa et Imperatore, qui habent consiliarios. Sic et voluntas habet moveri per rationem ut consiliariam nec ut auctoritatem habentem supra ipsam." Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 18. „imperare super movere addit aliquid dignitatis et dominationis." Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 12. „... intellectus consulit quid imperandum et voluntas imperat. Et ideo die quod intellectus non advenit ultimo ad actum imperandi nisi denundiando et tunc est quasi instrumentum."; q. 6, c. In der Tat widmet aber Walter diesem zweiten Argument seine ganze sechste Diskussionsfrage. Interessant ist, dass Walter hier in Hinsicht auf das Problem, ob das Befehlen auf den Willen oder auf den Verstand zurückzuführen ist, die „Philosophen" und die „Heiligen" unterscheidet. Die Philosophen pflegen das Befehlen dem Verstand zuzuschreiben, da sie mehr nach der Vollkommenheit der Vernunft trachten als nach der Vollkommenheit des Willens, dagegen schreiben die Heiligen das Befehlen eher dem Willen zu, da sie sich hauptsächlich um die Vollkommenheit des Willens bemühen, wodurch man zum ewigen Leben gelangen kann. Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 2. „Philosophi tarnen frequentius attribuunt imperare intellectivo quam appetitivo et voluntati, tum quia multum solliciti de scientia studebant ad perfectionem rationis magis quam voluntatis. .. Sancti vero nostri plus vacant perfectioni voluntatis, per quam possunt adipisci vitam aeternam, quam voluntatem, quia vident dominari aliis viribus, dant ei imperium melius et magis proprie quam rationi." Nach dieser Auffassung Walters würde die Position des Thomas nicht als die des Heiligen, sondern als die des Philosophen gelten. Vgl. Sum. theol. I II, q. 17, a. 1. Walter teilt z.B. in q. 6, ad 7 den Begriff des Befehlens in Befehlen nach der Autorität (imperare ex auetoritate) und Befehlen nach dem beauftragten Dienst des Anzeigens (imperare ex officio denuntiationis commisso) ein, und schreibt dem ersten den eigentlichen Sinn des Begriffes zu. Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 7. Vgl. Qu. disp., q. 6, c; q. 6, ad 19; q. 5, II ad 7.
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hältnis des Willens und der Vernunft von Walter endlich durch die folgenden bildlichen Begriffspaare bestimmt: „König (rex)" und „Herold (praeco)" oder „Untertan (subditum)",54 „Führer {dux)" oder „Befehlshaber (imperator)" und „Heer (exercitus)", 55 „Leiter (gubernator)" und „unterwürfige Hilfskraft (subserviens)",56 „Papst (papa)" und „konsularischer Beamter (consularis)",57 Aber um ein mögliches Missverständnis dieser nicht äquivalenten Verhältnisbestimmung zu vermeiden, müssen wir jetzt noch erwägen, was der Vorrang (praecellentia) des Willens gegenüber der Vernunft tatsächlich bedeutet.58 Der Vorrang oder die Vorzüglichkeit des Willens besagt keine sogenannte absolute Unabhängigkeit des Willens von der Vernunft, etwa dass der Wille auch ohne den Akt der Vernunft für sich selbst den Willensakt ausführen könnte. Den Sachverhalt, dass der Wille für seinen Akt die Wirkung der Vernunft notwendig voraussetzt, ebenso wie umgekehrt, und demzufolge der Willensakt nur als ein Zusammenwirken der beiden Potenzen zustande kommen kann, stellt Walter als einen unveränderlich gültigen Grundsatz heraus.59 In der nicht äquivalenten Verhältnisbestimmung handelt es sich nur um die Verschiedenheit des modalen Charakters der Bewegungen. Der Wille muss ja vor dem Willensakt immer das Urteil der Vernunft über das gegenständliche Gut im Auge behalten, aber der letztlich entscheidende Faktor im Willensakt besteht im Vorziehen (praeoptatio) des Willens selbst, was vom Urteil der Vernunft nicht notwendig beeinflusst wird. Also impliziert die nicht äquivalente Verhältnisbestimmung nur die Tatsache, dass in einem konkreten Willensakt die Bewegung des Willens durch die Vernunft keine notwendige ist, während die Bewegung der Vernunft durch den Willen in demselben Akt notwendigen Charakter hat. Die wichtige Eigentümlichkeit von Walters Verhältnisbestimmung der beiden Potenzen besteht darin, dass die Wechselbewegungen im Verhältnis der Überlegenheit und der Minderwertigkeit und somit im Hinblick auf die Stärke der Wirkungskraft vorgestellt werden. In diesem Punkt muss auch die Bedeutung der ,potentia potestativa' erfasst werden. Der Wille wird in dem Sinn als potentia potestativa bestimmt, dass er die anderen Potenzen mit überwältigender Wirkungskraft bewegt und dagegen von anderen keine Wirkung mit not-
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Qu. disp., q. 3, c; q. 4, c; q. 6, ad 7; q. 6, ad 19. Qu. disp., q. 6, ad 7; q. 6, ad 19. Qu. disp., q. 6, ad 19. Qu. disp., q. 6, ad 5. Diese Frage thematisiert Walter vor allem im 19. Einwand und dementsprechenden Gegenargument in der sechsten Diskussionsfrage. Qu. disp., q. 5, ad 5; q. 6, c; q. 6, ad 9; q. 6, ad 19.
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wendiger Folge aufnimmt. Sofern die Äquivalenz des Verhältnisses zwischen dem Willen und der Vernunft auf diese Weise geleugnet wird, scheint die Walter'sehe Erfassung der Wechselbewegungen der beiden Potenzen, ebenso wie der Begriff der ,potentia potestativa', vom thomasischen und aristotelischen Gesichtspunkt entfernt zu sein, in dem der Wille und der Verstand keineswegs durch die Verschiedenheit der Wirkungsstärke hierarchisch eingeordnet werden.60 (4) Freiheit als das innere Wesen des Willens Wir haben bisher in Anlehnung an die Einteilung der funktionellen Bedeutungen der Vernunft die Wechselwirkung des Willens und der Vernunft untersucht und dadurch das Verhältnis der beiden Potenzen bestimmt. Die Verhältnisbestimmung der beiden Potenzen und die daran angeschlossene Willensbestimmung als mächtige Potenz ist aber das Fundament, auf das Walter den Begriff der Freiheit zu setzen versucht. Unsere nächste Aufgabe ist es zu untersuchen, wie Walter die Bedeutung der Freiheit versteht, und wie er die Freiheit des Willens begründet. Den ersten Schritt der Untersuchung tun wir mit der Frage: Worin besteht denn die Freiheit? Den Ansatz für die Antwort können wir zuerst in der negativen Erklärung Walters über die Freiheit finden. In der fünften Quaestio erwähnt Walter, was der Gegensatz der Freiheit, d.h. die Unfreiheit, bedeutet, und dadurch sucht er die Voraussetzung der Freiheit aufzuzeigen. Nach Walter ist der offensichtlichste Gegensatz zur Freiheit der Zwang (coactio). So ist der Körper, der gegen seine naturhafte Bewegung bedrängt wird, keinesfalls als frei zu bezeichnen.61 Etwas kann auch dann nicht frei genannt werden, wenn etwas an ein anderes so gebunden wird (colligatur), dass dieses etwas vom Leiden des anderen beeinflusst werden muss. Solch ein Fall liegt vor beim sensitiven Seelenvermögen, das an ein körperliches Organ gebunden ist und deshalb etwas erleidet, sobald das entsprechende Organ etwas erleidet.62 Die letzte Bedeutung
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Walter nimmt bei der Analyse der Wechselbewegungen zwar wie Thomas die Begriffe der finalen Bewegung und der effizierenden Bewegung an, aber der metaphysische Sinngehalt der Begriffe wird in den empirischen und Walter eigentümlichen Sinngehalt der befehlenden (imperans) Bewegung und der anzeigenden (denuntians) Bewegung gewandelt. Vgl. Qu. disp., q. 5, c. „Aliquid dicitur non liberum quia cogitur, ut corpus aliquod a suo motu impeditum." Vgl. ebd. „... secundo quia alii colligatur, ut vires sensitivae organis corporalibus et ideo quando patiuntur Organa et ipsae vires sensitivae patiuntur."
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der Unfreiheit erstreckt sich aber sogar zum geistigen Vermögen des Menschen, das nicht mit der körperlichen Grundlage verbunden ist. Wenn die Bewegung eines Vermögens an irgendein Gesetz, wie an die Regel der Wahrheit, geknüpft ist, trifft nämlich die Freiheit auf dieses Vermögen nicht zu, und in diesem Sinn ist die Vernunft nicht frei, weil sie durch die Regel der ersten Prinzipien notwendig zur bestimmten Folge der Erkenntnis fuhrt. Man kann die Unfreiheit in diesem Sinn auch in der Tätigkeit der praktischen Vernunft betrachten, die durch das göttliche und das menschliche Gesetz notwendig das bestimmte Urteil erreicht, was zu tun oder zu vermeiden ist.63 Was kann man dann gemäß den so angeführten Maßstäben zur Freiheit rechnen? Die zweite Bedeutung der Unfreiheit deckt den sinnlichen Teil der menschlichen Seele ab, und ebenso scheidet die letzte Bedeutung der Unfreiheit das rationale Erkenntnisvermögen aus der Freiheit aus. Dann bleibt nur der Wille als der mögliche Betrachtungsgegenstand übrig, und demnach ist die Bedeutung der Freiheit, so können wir schließen, gerade in der Willenspotenz und in der Bewegung des Willens zu suchen. Walter behauptet, dass nur der Wille als die freie Potenz im eigentlichen Sinne bestimmt werden kann. Aus welchem Grund ist aber der Wille als frei aufzufassen, wenn allein der Wille die drei Maßstäbe der Freiheit erfüllt? Als eine Antwort darauf könnte man wohl zunächst die Fähigkeit der Indifferenz in Betracht ziehen. Walter selbst leugnet nicht, dass die Indifferenz im gewissen Sinn die Freiheit bedeutet und der freie Akt des Willens notwendig die Fähigkeit der Indifferenz voraussetzt.64 Die Tatsache, dass ich weder auf den Gegenstand ,a' noch auf den Gegenstand ,b' festgelegt bin und deshalb beide entgegengesetzten Gegenstände ,a und b' gleichzeitig als mögliche Gegenstände meines Wollens gelten können, ist ja die notwendige Bedingung, die meinen freien Entscheidungsakt zwischen den verschiedenen Objekten ermöglicht. Ohne die Fähigkeit, sich durch die Indifferenz auf das Entgegengesetzte zu beziehen, ist nämlich der Spielraum für den freien Wahlakt des Willens nicht gegeben. Aber wenn wir beachten, dass die Fähigkeit der Indifferenz den ganzen geistigen Seelenteil des Menschen betrifft, kann sie nicht als der letzte
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Vgl. ebd. „...tertio quia necessitate legis alicujus vel regulis veritatis astringitur, ut ratio vel intellectus regulis primorum principiorum astringitur necessario ad talem conclusionem intelligendam, et necessitate legis divinae vel humanae ad judicandum hoc faciendum et illud vitandum."
64 Vgl. Qu. disp., q. 5, c.
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Grund der Freiheit angesehen werden, denn dann käme die Freiheit auch der Vernunft im gleichen Maße zu, was aber Walter nachdrücklich ablehnt.65 Die Freiheit des Willens besteht also nicht in der Indifferenz. Die Indifferenz des Willens kann nur den vagen und indeterminierten Zustand zwischen verschiedenen möglichen Willensobjekten deuten.66 Sie kann als solche keine ausreichende Erklärung für das Phänomen geben, dass der Wille durch seinen Akt endlich zum bestimmten Objekt determiniert wird. Aber gerade im wirklichen Vorgang des Willensaktes, durch den die Indeterminiertheit der Willenspotenz aufgehoben wird und der Wille zum bestimmten von ihm bevorzugten Objekt determiniert wird, ist die Freiheit als eine dem Willen eigene Wesensfahigkeit zu finden. So sucht Walter die wahre Freiheit nicht im bloßen Zustand der Indeterminiertheit des Willens, sondern vielmehr im Vorgang der Determination des Willens.67 Der Begriff der Freiheit des Willens erschließt sich nun als ein konträrer Begriff der oben erwähnten dritten Unfreiheit. Der Wille ist in dem Sinne frei, dass er im Vorgang der Determination bzw. in der Bewegung zum bestimmten Objekt weder an irgendein Gesetz gebunden ist noch einem notwendigen Einfluss von anderen Seelenvermögen untersteht. Walter gesteht zwar die Rolle der Vernunft als einen Faktor zu, der den Willen von außen her determiniert, aber betont zugleich, dass diese Determination durch die Vernunft nur im abgeleiteten Sinne zu verstehen ist.68 Nach Walter kann der Determinationsfaktor im endgültigen Sinne nur der Wille selbst sein, und demzufolge
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Vgl. Qu. disp., q. 5,1 ad 4; q. 5, II ad 13. Walter nennt daher, wie oben erwähnt, die Indifferenz nur die unvollkommene Freiheit, und bleibt durchaus bei der Meinung, dass der rationalen Seelenwesenheit, die dem Willen und der Vernunft die Indifferenz verschafft, nicht die Freiheit im strengen Sinn gebührt. Dass der Wille ein rationales Vermögen ist, genügt nicht, die Freiheit des Willens zu vervollständigen. Qu. disp.,q. 3, IV ad 3. Vgl. Qu. disp., q. 3, IV ad 1; ad 3; ad 4. Nach Walter kann man also entsprechend den differenzierten Bedeutungen der Unfreiheit von der Abstufung der Freiheit sprechen: nämlich der Freiheit vom Zwang, der Freiheit im Sinne der Indifferenz und der Freiheit im Sinne der freien Determination, bzw. der Freiheit der Präferenz. Vgl. Qu. disp., q. 5, c; I ad 4; II ad 14; II ad 15. Walter fuhrt in q. 4 die verschiedenen Determinationsfaktoren des Willens an: Der Wille wird erstens von Gott, der höher ist als die Vernunft und der Wille des Menschen, zweitens von der beratenden Vernunft, drittens von dem dem Willen vorgelegten und den Willen affizierenden erstrebenswerten Gegenstand determiniert und viertens von sich selbst. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 1. „voluntas determinatur multiplicitur: primo a Deo praeveniente... secundo a ratione consulente, quasi ut hoc velit, non illud excitante, non arctante; tertio ab appetibili ostenso ut alliciente; quarto et proprie a seipsa seipsam potestative ad hoc, non ad illud movente."
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kann man vom Willen aussagen, dass der Wille in der konkreten Wahlbewegung sich selbst determiniert. Gerade in der Selbstdetermination besteht die vollkommene und eigentliche Freiheit. Diese Freiheit begründet Walter in der Bestimmung des Willens selbst. Der Grund für die Freiheit als Selbstdetermination ist nämlich nichts anderes als die dem Willen innewohnende Macht, wodurch der Wille die anderen Potenzen mit einer souveränen Autorität notwendig bewegen kann, während er von den anderen Potenzen keineswegs notwendig bewegt wird. Diese Macht, aufgrund derer dem Willen im Verhältnis zur Vernunft der Vorrang gegeben wird, ermöglicht, dass der Wille letztlich sich selbst ausgerechnet zum von ihm vorgezogenen Objekt bewegt. 69 Die Willensfreiheit kann also nicht auf irgendeine Potenz außerhalb des Willens zurückgeführt werden, sondern nur der Wille selbst, der von Walter als mächtige Potenz bestimmt wird, kann sowohl Subjekt als auch Ursprung der Freiheit sein. Daher wird die Freiheit als etwas, was begrifflich mit dem Willen unmittelbar und untrennbar verbunden ist, gesehen. 70 Walter betont an mehreren Stellen die unmittelbare Zugehörigkeit der Freiheit zum Willen, indem er vor allem den hl. Bernhard zitiert: „Ubi voluntas, ibi libertas."71 Dass die Freiheit als das innere Wesen des Willens im
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Die Freiheit des Willens im Sinne der Selbstdetermination des Willens wird nach Walter dadurch mit unbestreitbarer Deutlichkeit bestätigt, dass sich der Wille des Menschen manchmal gegen das vernünftige Urteil bewegt. Man kann nämlich in seinem Bewusstsein erfahren, dass das Wollen und das Erkennen nicht immer übereinstimmen, z.B. wenn man gegen sein Gewissen entscheidet. Als ein klares Beispiel erwähnt Walter den Sündenfall des Adam. Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 14. Der Grund für die Möglichkeit der Spaltung zwischen Wollen und Erkennen liegt darin, dass die Präferenz (praeoptatio) des Willens vom Urteil der Vernunft völlig unabhängig ist. Die Präferenz ist die Instanz der Willenstätigkeit, an der der urteilende Vernunftakt nicht beteiligt ist. Nicht das Urteilen, sondern die Präferenz ist maßgebend für die Entscheidung des Willens, und deshalb kann die Entscheidung des Willens vom Urteilen der Vernunft abweichen. Der Sachverhalt, dass der Wille der Vernunft etwas gegen das Urteil der Vernunft befehlen kann, wird im paradoxen und lapidaren Satz „ratio facit contra rationis judicium per rationis ministerium" formuliert. Vgl. Qu. disp., q. 5, II ad 5. Siehe auch Anmerkung 46. Das kann man am deutlichsten u. a. q. 5, II contra 12 merken, „quod impossibile est moveri, movetur a se; ergo eadem ratione, quod impossibile est separari a voluntate, illud habet a se; libertas autem est huiusmodi; ergo illam a se habet." Qu. disp., q. 5, II contra 1; Vgl. Bernhard von Clairvaux, De gratia et libero arbitrio, I, 2 (ed. Winkler, Bd. 1, S. 167). Der Wille und die Freiheit scheinen also im koinzidenten Bedeutungszusammenhang zu stehen. „Si poterit homo aliquando velle aliquid sine voluntate, potent et voluntas carere libertate." (q. 5, II contra 4) Walter führt auch Gilbert an: „Est libertas sine qua non est voluntas et voluntas sine qua non est libertas." (q. 5, II contra 12)
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Begriff des Willens selbst beinhaltet ist, stellt sich als der grundlegende Charakter der Walterschen Lehre von der Willensfreiheit dar.
1.3. Die Selbstbewegung des Willens (1) Die Problematik bei Walter Der Wille ist die mächtige Potenz, welche in befehlender bzw. bewirkender Weise die anderen bewegt, und diese Mächtigkeit (potestas) kennzeichnet den Willen als dasjenige Vermögen, das in der menschlichen Seele einzig die Freiheit im vollkommenen Sinne besitzt. Wir haben aber bereits erwähnt, dass die Bestimmung des Willens und der wechselseitigen Bewegung zwischen dem Willen und der Vernunft nicht wenig auf empirischen und emotionalen Tatsachen beruht und sachlich vom metaphysischen Gedankeninhalt nach Aristoteles abweicht.72 Nun stellt sich die Frage, wie sich die das empirische Willensphänomen widerspiegelnde kategoriale Bestimmung der mächtigen Potenz durch die metaphysische und wissenschaftliche Sprache beschreiben lässt. Hierfür darf man zunächst nicht übersehen, dass Walter auf das aristotelische Begriffserbe nicht völlig verzichten will, obwohl er in seiner Willenslehre die empirischen und emotionalen Begriffe als wichtige Elemente einführt. Walter gibt nämlich nicht die Bemühung preis, den Willen und die Willensbewegung gemäß den Prinzipien der aristotelischen Metaphysik darzustellen und dadurch eine philosophische Lehre von der Freiheit und der Autorität des Willens aufzustellen. Diese philosophische Bemühung Walters zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er die mächtige Potenz als die Fähigkeit zur Selbstbewegung auslegt und die Selbstbewegung des Willens zu rechtfertigen versucht. Die Freiheit als Selbstdetermination des Willens wird nun durch eine Kategorie der Bewegungsmetaphysik ausgedrückt. Walter bezieht den Begriff der Mächtigkeit des Willens unmittelbar auf die Fähigkeit zur Selbstbewegung, wobei er auf die Willensdefinition des hl. Anselm als „instrumentum seipsum movens" verweist.73 Als mächtige Potenz bewegt der Wille sich selbst und zugleich die anderen Potenzen. Daher wird der Wille, der bildhaft als König des Seelenreiches bezeichnet wird,74 durch den philosophischen Begriff des „universalis motor" definiert.75
72 Vgl. Anmerkung 22. 73 Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 1. „quarto et proprie a seipsa seipsam potestative ad hoc, non ad illud movente; propter quod dicitur ab Anselmo, (instrumentum seipsum movens)." 74 Vgl. Qu. disp., q. 4, c; q. 6, ad 5.
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Die Selbstbewegung des Willens gilt aber an sich bei Walter als ein maßgebendes Argument für die Freiheit des Willens. 76 Wenn der Wille nicht in der Lage wäre, sich selbst zu bewegen, könnte der Wille nicht als der Herr seines Aktes (domina sui actus) angesehen werden, und der Wille würde mit Notwendigkeit bewegt. 77 Bei Walter wird der Sinn der Willensfreiheit mit der Selbstbewegung des Willens gleichgesetzt, und die Selbstbewegung wird der notwendigen Bewegung durch äußerliches Bewegungsfaktor gegenübergestellt. 78 Walter stellt fest, dass der Wille von außen her nicht notwendig bewegt wird, sondern dass der Wille mit seiner Freiheit sich selbst bewegt. Sofern der Wille als instrumentum seipsum movens bestimmt wird, kann er keineswegs als das bewegte Bewegende (movens motum) aufgefasst werden.79 Die aristotelische Bestimmung des ,movens motum' kann sich nicht mit der Freiheit im Walterschen Sinne vertragen. In dem Punkt, dass sich der Wille selbst bewegt, ist der Wille von allen anderen im Natur- und Seelenbereich, die mehr oder weniger der Notwendigkeit der Bewegung unterstehen und deshalb keine Freiheit im vollkommenen Sinne besitzen, grundsätzlich unterschieden. Der Wille stellt sich als eine Gegebenheit eigener Art dar, die weder mit einem anderen Ding innerhalb der geschöpften Welt zu vergleichen noch durch ein anderes zu beschreiben ist.80
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Qu. disp., q. 6, ad 2; Vgl. Qu. disp., q. 3, II ad 5; q. 5,1 ad 3. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5; ad 6. Vgl. q. 4, Einwand 5. „... igitur voluntas non movet se nec est domina sui actus; sed quod non movet se, sed semper ab alio movetur, necessitatur; ergo voluntas necessitatur." Beim Begriff der Selbstbewegung kommt es nur auf die Bewegung im Sinne des Wirkens an, welche Walter die Bewegung in der Weise des Antreibenden (per modum impellentis) und des Bewirkenden (per modum efficientis) nennt. Sofern es sich um die Bewegung in diesem Sinn handelt, kann man vom Willen, so ist Walter überzeugt, keineswegs aussagen, dass der Wille durch etwas anderes bewegt wird. Und etwas, was von einem anderen die Bewegung in diesem Sinn aufnimmt, unterliegt irgendwie einer Notwendigkeit, die ihm vom Bewegenden auferlegt wird. Aber die Bewegung des Willens durch die Vernunft, d.h. die Bewegung im Sinne von Beraten und Vorlegen hat ein ganz anderes, sozusagen abgeleitetes Bedeutungsfeld. Die Stellungnahme Walters gegen die Auffassung des Willens als movens motum findet sich in q. 5, ad 5 und ad 8. Sofern die Auffassung des Willens als movens motum abgelehnt wird, wird der Wille als eine offensichtliche Ausnahme für den aristotelischen Bewegungssatz „omne movetur ab alio movetur" gezählt. Es ist ja für die Denker der franziskanischen Richtung eine typische Position, dass zwar die Angemessenheit dieses Axioms anzuerkennen aber seine allgemeine Gültigkeit in Frage zu stellen ist. Vgl. Schönberger, Thomas von Aquin, S. 138. Vgl. Stadter, Psychologie und Metaphysik der menschlichen Freiheit, S. 69; S. 75.
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Aber obwohl der Wille eine nicht mit einem anderen Ding vergleichbare einzigartige Gegebenheit ist, unterlässt Walter nicht den Versuch, eine rationalen Erklärung für das Willensphänomen zu geben. Walter leugnet nämlich nicht, dass eine Wirklichkeit als ein wirkendes Prinzip fur die Willensbewegung vorhanden sein muss, sofern die Willensbewegung eine Wirklichkeit {actus) ist. Die Potenz kann ja nur durch etwas, was bereits im Zustand der Wirklichkeit steht, zu ihrer Wirklichkeit überfuhrt werden, und gerade darin besteht die kernhafte Einsicht des aristotelischen Begriffsschemas von Akt-Potenz. 81 Wenn man in der Willensbewegung die Kausalität gemäß diesem Begriffsschema und die Frage der Motivation übersieht, ist eine rationale Erklärung für die Willensbewegung nicht möglich.82 So scheint Walter zugleich die doppelte Aufgabe zu übernehmen: einerseits muss er gegen die streng aristotelisch ausgerichteten Denker, welche den Willen nur als ,movens motum' vorstellen und demnach der Willensfreiheit endlich keinen Raum geben, die Selbstbewegung und die daraus folgende Sonderstellung des Willens vertreten. Andererseits versucht er zu zeigen, auf welche Weise die Willensbewegung gemäß der grundlegenden Einsicht des Akt-PotenzSchemas erklärt werden kann.83 Mit dieser doppelten aber miteinander verknüpften Aufgabe befasst sich Walter vor allem in den Stellen, wo er auf den von den Anhängern des Aristoteles vorgelegten Einwand, die Selbstbewegung sei unmöglich, antwortet.84 Nun greifen wir die Antwort Walters auf den aristotelischen Einwand gegen die Selbstbewegung auf, und dadurch betrachten wir den Grundzug des Walterschen Gedankens von der Selbstbewegung des Willens näher.
(2) Begründung der Selbstbewegung des Willens Das zentrale Argument der Aristoteliker gegen die Selbstbewegung des Willens ist, dass nichts in derselben Hinsicht zugleich in Akt und Potenz stehen kann.
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Vgl. Aristoteles, Physik VII, VIII. Dass Walter den Anspruch der rationalen Erklärung der Willensbewegung gemäß den grundlegenden Begriffen der aristotelischen Metaphysik nicht bloß vernachlässigt, ist z.B. daran offensichtlich zu erkennen, dass er die Willensbeschreibung als „ein Wirkendes aus Vorausgesetztem (agens a proposito)" akzeptiert. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 6; q. 6, ad 14. Aber in seiner Erklärung über die Selbstbewegung wagt Walter eine inhaltliche Verwandlung der aristotelischen Akt-Potenz-Lehre, und schließlich werden wir sehen, dass die Lehre Walters von der Selbstbewegung des Willens in der Tat nicht mehr im Rahmen der aristotelischen Metaphysik auszulegen ist. Vgl. Stadter, a.a.O., S. 70. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5; ad 6.
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Walter behandelt in seiner vierten Diskussionsftage dieses Argument und wagt einige verschiedene Lösungsversuche. Der erste Lösungsversuch, der relativ einfach ist, lautet: der Wille befindet sich zugleich in Akt und Potenz, aber insofern nicht in derselben Hinsicht, als der Wille, auch wenn er in Bezug auf das einzelne Gute noch in Potenz steht, in Bezug auf das letzte Ziel bereits im Zustand der aktuellen Affektion steht.85 Was von Walter hier als der Lösungsschlüssel in Erwägung gezogen wird, ist nichts anderes als der sogenannte allgemeine Anreiz {affectio generalis) des Willens. Der Wille ist von Natur aus so determiniert, zum letzten Ziel zu neigen, und diese naturhafte Neigung zum letzten Ziel wird bei Walter durch den emotionalen Begriff des allgemeinen Anreizes widergespiegelt. 86 Walter ist der Meinung, dass sich der allgemeine Anreiz zum letzten Ziel bereits als eine Art von Aktualität des Willens darstellt und diese Aktualität der emotionalen Art als ein wirkendes Prinzip für das mögliche Wollen des einzelnen Guten anzunehmen ist. Der Wille ist also durch die emotionale Aktualität des allgemeinen Anreizes ,bewegend', und zugleich als die Potenz zum Wollen des einzelnen Guten ,bewegt'. Das Verständnis Walters, die Aktualität des allgemeinen Anreizes vermittele die Wirklichkeit der Willensbewegung zum einzelnen bestimmten Objekt, schlägt sich auch an der Stelle ersichtlich nieder, wo Walter schreibt, dass das erste Wollen aus dem allgemeinen Reiz hervorgehe.87
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Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5. „Vel die quod unum et idem est actu et potentia movens et motum, sed non secundum idem, quia est movens per finem ultimum, qui est affectatus naturaliter et actualiter, sed mobile et in potentia ad hoc bonum sub illo ulteriori bono contentum. Der allgemeine Anreiz beruht zwar dem Begriff nach auf der naturhaften Neigung zum letzten Ziel, aber beide können nicht einfach identifiziert werden. Der allgemeine Anreiz, der einen emotionalen Erregungszustand darstellt, ist, wie Stadter in seinem Buch anmerkt, ein schwierig zu interpretierender Begriff, in dem Walter den thomasischen Begriff des Jinis ultimus' und den von Anselm verwendeten Begriff der ,affectio' zusammenzubringen versucht. Über die Schwierigkeit der Interpretation und den geistesgeschichtliche Kontext des Begriffes siehe: Stadter, a.a.O., S. 55f. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 8. „primum velle voluntatis non necessario praecedit aliqua nova informatio vel affectio voluntatis determinata vel specialis, sed forsan generalis, quae dici potest complacentia objecti vel boni." Hier wird gemeint, dass das erste Wollen und die daran anschließenden weiteren Willensbewegungen auf den allgemeinen Anreiz ohne spezifische Inhaltsbestimmung zurückgeführt werden kann. Das besagt aber natürlich nicht, dass die konkreten Willensbewegungen bloß durch den allgemeinen Anreiz unmittelbar hervorgehen können. Die Willensbewegungen werden zwar als Selbstbewegung des Willens letztlich auf den allgemeinen Anreiz des Willens zurückgeführt, wie auf das erste wirkende Prinzip, aber der Anstoß des Wollens durch die Wirklichkeit des vorausgehenden Wirkprinzips erfolgt nicht, ohne dass sich der Wille in der Hinsicht der Zielrichtung
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Aber die Rechtfertigung der Selbstbewegung des Willens anhand des Begriffes der ,affectio generalis' scheint eine Interpretationsschwierigkeit zu bereiten. Es ist nämlich fraglich, wie die emotionale Aktualität der Affektion, die Walter als ,Leiden' charakterisiert hat, das als frei und aktiv gekennzeichnete Wollen bewirken kann. An der Stelle, wo Walter die Aktivität und die Mächtigkeit des Willens anfuhrt, hat er die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen ,affectioi und ,velle' erhoben.88 Die Wirklichkeit der Affektion ist ontologisch gesehen unterschieden von der Wirklichkeit des Wollens, und sie kann nur eine Vorphase des freien Wollens sein. Wie kann die passive Affektion mit der notwendigen Bewegungsqualität als das wirkende Prinzip fur die Bewegung des Willens, deren Wesen in der Freiheit und der Aktivität liegt, angenommen werden?89 Die Antwort auf diese Frage können wir im Text Walters nicht finden, und die ontologische Unklarheit des ersten Lösungsversuches wird nicht beseitigt. Aber wir können zunächst nicht aufgrund dieser ontologischen Unklarheit die Selbstbewegung des Willens ablehnen, denn Walter schlägt neben der ersten Lösung einen anderen Lösungsweg vor, in welchem nun der Raum für die erwähnte Unklarheit nicht mehr gegeben ist. Die zweite Erklärung, wie der Wille sich selbst bewegen kann, ist mehr psychologisch ausgerichtet und hat als ein originärer Gedanke Walters zu gelten. In der zweiten Erklärung richtet Walter seine Aufmerksamkeit auf den Begriff der mächtigen Freiheit (libertas potestativa). Walter schreibt: Der Wille sei gleichzeitig in Akt und Potenz, aber nicht in derselben Hinsicht, denn in der Hinsicht der mächtigen Freiheit sei der Wille bewegend, d.h. im Akt, und in der Hinsicht der konkreten Willensbewegung zum einzelnen Objekt sei er bewegt,
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auf das konkrete Gute bezieht. Da der Wille in der Reihe der Willensrichtungen auf das einzelne Gute sich selbst bewegt, spricht Walter in einer anderen Stelle von der spezifischen Voraussetzung des Willensakts. Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 14. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 3. „Vel die quod voluntas a bono apprehenso per rationem et sibi oblato patitur quadam boni complacentia, quam Anselmus, De gratia et libero arbitrio, vocat commodi affectionem, sed hoc non est velle; velle enim non est pati nec motus ad voluntatem, sed motus ab anima, qui est inclinatio ad rem extra, cuius complacentia prius est reeepta, et sie prius patitur quam agit."; q. 4, ad 14. Der ontologische und begriffliche Unterschied zwischen Wollen und Affektion, der im Kontext des Beweises für die Freiheit und die Aktivität des Willens deutlich gemacht wird, wird im Kontext, wo Walter den Einwand der Aristoteliker gegen die Selbstbewegung des Willens erwidert, nicht hervorgehoben. Wenn man aber in der strengen Hinsicht an dem Unterschied festhält, wäre es mehr sinngemäß zu sagen, dass die Aktualität des allgemeinen Anreizes nur die Aktualität des spezifischen Anreizes hervorbringt.
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d.h. in der Potenz.90 Aber was bedeutet denn die mächtige Freiheit? Es ist einleuchtend, dass es sich bei diesem Begriff um eine Selbsterfahrung der freien und gewaltigen Willenskraft, bzw. um ein grundlegendes Gefühl der Eigenmacht des herrschenden Willens in den menschlichen Handlungen handelt. Dieser Begriff weist auf den Sachverhalt hin, dass der Wille in den einzelnen Handlungen seine Freiheit ausüben und mit seiner Freiheit tätig sein will,91 oder anders gesagt, dass der Wille selber der erste und der höchste im Menschen sein will.92 Walter denkt also: Auch wenn noch keine einzelnen Objekte gewollt werden, werden die Herrschaft und die freie Tätigkeit des Willens bereits gewollt, und die Aktualität dieses ursprünglichen Wollens lässt sich als das wirkende Prinzip für die konkreten Willensbewegungen zum einzelnen Objekt annehmen. Aber wir müssen zugestehen, dass diese an die innere Erfahrung des Bewusstseins und das psychologische Phänomen anlehnende deskriptive Erklärung mit dem eigentlichen Sinn der aristotelischen Akt-Potenz-Lehre wenig zu tun hat.93 Walter ist sich also des Einwands der Aristoteliker gegen die Selbstbewegung voll bewusst und versucht demnach zu beweisen, dass die Selbstbewegung des Willens mit Rücksicht auf die Akt-Potenz-Lehre nicht unmöglich ist, aber dennoch geht er in der Tat in die Richtung, die aristotelische AktPotenz-Lehre aufzugeben und die Allgemeingültigkeit des Bewegungsaxioms abzulehnen, indem er durch seine eigenen psychologischen und empirischen Argumente und Begriffe die Selbstbewegung des Willens vertritt. Die Distanz der Walterschen Lehre von der Selbstbewegung des Willens zum aristotelischen Gedanken, in dem das Willensphänomen in den physischen Nexus eingefügt ist, zeigt sich auch dadurch offenkundig, dass die mit dem Begriff der mächtigen Freiheit erklärte Selbstbewegung des Willens in Form der Reflexion geschieht. Durch die mächtige Freiheit richtet sich der Wille
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Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5. „Vel die quod non respectu ejusdem est in potentia et in actu simul, quia respectu potestativae libertatis suae dicitur in actu et movens, respectu vero actus qui est velle hoc vel illud dicitur esse in potentia non materiae, sed in potentia exeundi ad actum." Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 6. „...scilicet quia [voluntas] vult agere et uti in hoc vel illo sua libertate." Vgl. Qu. disp., q. 6, ad 14. „... quia [voluntas] vult quod voluntas sit primum et supremum in homine." Walter sieht diesen Sachverhalt als die allgemeine Voraussetzung oder Ursache für den Willensakt an, im Kontrast zum einzelnen Guten oder zum Wollen des einzelnen Guten. Vgl. q. 4, ad 6; q. 6, ad 14. Vgl. Stadter, a.a.O., S. 72; Decorte, „Der Einfluss der Willenspsychologie des Walter von Brügge OFM auf die Willenspsychologie und Freiheitslehre des Heinrich von Gent", in: Franziskanicshe Studien 65 (1983), S. 224.
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nämlich zunächst nicht auf die Außendinge, sondern er dreht sich nach innen u m ( c o n v e r s i o sui super
se), und er ist auf sich selbst bezogen. 9 4 Hier veran-
schaulicht Walter den gemeinten Sachverhalt durch ein bildhaftes Gleichnis: W i e die Sonne nicht nur die Außenobjekte erwärmt, sondern die Wärmestrahlen auch sich selbst sendet und damit durch sich selbst erwärmt wird, 9 5 kehrt sich der Wille auf sich selbst, indem er mit der Herrschaft und der Freiheit tätig sein will, und durch die Aktualität dieses reflexiven W o l l e n s wird die konkrete W i l l e n s b e w e g u n g z u m einzelnen Außenobjekt hervorgebracht. 9 6 Sofern es u m die reflexive Selbstbewegung geht, hat Walter endlich den Grund, den B e g r i f f der Potenz in s e i n e m eigenen Sinn zu gebrauchen. W e n n Walter sagt, dass der W i l l e in der Potenz z u m konkreten W o l l e n des einzelnen Guten steht, meint er mit d e m B e g r i f f der Potenz nicht die Potenz im aristotelischen Sinne, sondern eher die Macht des Willens, ohne das v o n ihm selbst ontologisch verschiedene B e w e g e n d e lediglich aus sich selbst die neue Wirklichkeit der B e w e g u n g hervorzubringen. 9 7
94 Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5. 95 Vgl. ebd. „Exemplum esset in sole, qui est calidus effective vel potestative; si esse calidus posset formaliter, radius emissus potestative, si reflecteretur super se, faceret solem calidum formaliter et esset sol movens ad calorem et mobilis vel in potentia ad calorem per idem, non eodem modo sumptum, sed diversimode, scilicet effective et formaliter." 96 Also ist die reflexive Selbstbewegung des Willens aus zwei Bewegungsarten strukturiert, nämlich: erstens, aus der auf sich selbst bezogenen Bewegung und zweitens, aus der sich auf die Außenobjekte richtenden Bewegung. Die erste Bewegung wird von Walter als Bewegung in der formalen Weise (formaliter) bezeichnet, und die zweite wird als Bewegung in der effektiven Weise (effective), welche die Naturkraft charakterisiert, bezeichnet. Vgl. ebd. Indem Walter so in der Willensbewegung die zwei Bewegungsarten unterscheidet, findet er noch eine andere Zuflucht vor dem Einwand der Aristoteliker. Walter behauptet, dass der Wille zugleich und in derselben Hinsicht in Potenz und Akt steht, aber nicht in derselben Weise (non eodem modo). Der Wille steht nämlich insofern im Akt, als er sich in der formalen Weise bewegt, dagegen insofern in der Potenz, als es sich um eine Bewegung in der effektiven Weise handelt. Vgl. ebd. „Ad quintum die quod major est falsa nisi addatur ,et eodem modo'; et tunc non habet locum in proposito, quia una et eadem respectu ejusdem est in actu et in potentia et movens et motum, sed non eodem modo." 97 Dieser Walter'sche Begriff der Potenz als der Macht (potestas) wird als die sogenannte Potenz des Übergangs zum Akt {potentia exeundi ad actum) ausgedrückt, im Unterschied zur Potenz der Materie (potentia materiae) im aristotelischen Sinne, welche nur korrelativ mit dem formalen und wirklichen Aktprinzip aufzufassen ist. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5. Die Potenz des Übergangs zum Akt wird nicht als eine Anlage, vom Bewegenden die Bewegungswirklichkeit aufzunehmen, sondern als eine Übergangsquelle zum neuen Akt verstanden. Vgl. ebd. „De velle enim quasi de potentia vel otio exit vel quasi movetur et mutatur ad velle auod est actus."
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Im Begriff der mächtigen Freiheit und im Gedanken von der reflexiven Selbstbewegung des Willens wird die Freiheitslehre Walters vollständig aufgeklärt. Aufgrund der Fähigkeit zur Selbstbewegung kann der Wille dasjenige wollen, was er vorzieht. Die Fähigkeit des Willens zur Selbstbewegung, d.h. die Fähigkeit, unabhängig von irgendwelchen Einflüssen von außen her aus seiner eigenen Freiheit zu entscheiden und zu wollen, gründet auf der Macht des Willens, die Freiheit und die Herrschaft als seine Wesensbestimmung zu behaupten. In dem Sinn der Freiheit als der Selbstbewegung wird der Wille seinem Wesen nach als mächtige Potenz, die nicht mehr im Sinne des aristotelischen Potenzbegriffes zu verstehen ist, bestimmt, und aufgrund dieser Bestimmung wird der Wille sowohl als die Spitze des Seelenreiches vorgestellt als auch gegenüber dem ganzen an ein naturhaftes Bewegungsgesetz gebundenen geschaffenen Kosmos ausgezeichnet.
2. Gerhard von Abbeville Als ein anderer zeitgenössischer Vertreter der voluntaristisch ausgerichteten Willenslehre gilt Gerhard von Abbeville (Gerardus de Abbatisvilla, +1272). Er war Archidiakon in Ponthieu und ein einflussreicher Theologe an der Pariser Universität. Er spielte eine wichtige Rolle als hartnäckiger Repräsentant der Weltkleriker in der Auseinandersetzung zwischen Mendikanten und Weltklerikern, die vom Anfang der 50er Jahre bis zum Anfang der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts herrschte. Als ein Antagonist des Thomas ist er bekannt vor allem wegen der angeregten Diskussion darüber, ob der Eintritt eines jungen Knaben in den Orden gerechtfertigt werden kann.98 Um das Privileg der Welt-
98
Die Stellung Gerhards in Bezug auf dieses Thema und die Widerlegung des Thomas schlugen sich vor allem in „Contra doctrinam retrahentium a religione" (1271) und in Quodlibeta IV q. 2 3 - 2 4 deutlich nieder. Vgl. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, S. 323; S. 387. Der Streit war aber nicht bloß auf dieses Thema beschränkt, sondern er erstreckte sich auf verschiedene Themen, wie z.B. die evangelische Armut oder den Stand der geistlichen Vollkommenheit. Vgl. Weisheipl, Friar Thomas d'Aquino, S. 2 6 5 267. Als gegen Gerhard verfasste Traktate sind übrigens ,J)e perfectione spiritualis vitae" (1269-70) und die letzten elf Quaestiones der Secunda secundae (1272) bekannt. „Contra impugnates Dei cultum et religionem" war etwas früher (1256) in demselben Disputzusammenhang, aber gegen Wilhelm von Saint-Amour geschrieben worden, der mit Gerhard die Mendikantenorden angegriffen hatte. Der Konflikt mit den mendikantenfeindlichen
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kleriker an der Pariser Universität zu verteidigen, kämpfte er nicht nur gegen Thomas sondern auch gegen die Franziskaner. Seine Figur als ein energischer Polemiker taucht aber nicht nur im Kampf gegen den zunehmenden Einfluss der Mendikantenorden, sondern auch in der Auseinandersetzung mit den Averroisten in der Artistenfakultät auf. Im Zusammenhang unseres Themas ist es besonders auffallend, dass Gerhard ungeachtet der allgemeinen Abneigung gegen Mendikanten in der Debatte um die Freiheit des menschlichen Willens für die augustinisch ausgerichteten Franziskaner Stellung nahm. Er hatte ein Konzept des Willens, das den Vorstellungen der franziskanischen Magister sehr nahe stand, und so ergriff er, wie die franziskanischen Theologen, beim Angriff auf die deterministischen Willenstheoretiker die Initiative. Zunächst ist aber zu bemerken, dass Gerhard in seinen Werken auf die Untersuchung des Willens kein großes Gewicht legte im Vergleich mit anderen theologischen Themen. Er hinterließ nämlich in seinen Quodlibeta nur drei Quaestiones, die sich mit dem Thema des menschlichen Willens beschäftigten." Obwohl der Willensgedanke in diesen Quaestionen nicht so systematisch, sondern nur skizzenhaft und sehr knapp dargelegt ist, bieten diese Quaestiones uns die Gelegenheit, den Grundzug von Gerhards Willens- und Freiheitsvorstellung zu konturieren und ihn mit dem thomasischen Gedanken zu vergleichen. In seiner Untersuchung des Willens setzt sich Gerhard hauptsächlich mit denjenigen auseinander, die in den Irrtum geraten, die menschliche Freiheit zu verneinen, indem sie behaupten, der Wille sei eine passive Potenz und durch das Objekt notwendig determiniert. Also werden die drei Fragen Gerhards wie folgt formuliert: (1) Ist der Wille eine passive oder eine aktive Potenz? (2) Wird der Wille durch das erstrebbare Objekt mit Notwendigkeit bewegt? (3) Ist der menschliche Wille frei?100 Unter diesen Fragen, die inhaltlich miteinander verbunden sind, ist aber die erste Frage von kernhafter Bedeutung, während die weiteren Fragen letztlich auf die erste zurückgeführt werden können. Gerhard
Weltklerikern war so schwer, dass er ein ebenso wichtiger Grund für die Entsendung des Thomas nach Paris 1269 war wie die gefahrliche Verbreitung des Averroismus. 99 Zwei Editionen dieser Quaestiones stehen uns zur Verfügung. Glorieux hat diese Quaestiones aus dem Manuskript in der Pariser Nationalbibliothek ediert, (in: AHDL 39, S. 2 4 3 251) Die Edition von Pattin, nach der in dieser Arbeit zitiert wird, ist aber nach der Numerierung des Manuskripts in der Vatikanischen Bibliothek bearbeitet. (A. Pattin, L 'Anthropologie de Gerard d'Abbeville, S. 110-120: Die zukünftigen Stellen- und Seitenangaben in dieser Arbeit werden nach dieser Edition von Pattin gegeben.) 100 Der ersten und der zweiten Frage entsprechen Quodlibeta XIV q. 4 und q. 5 des Pariser Manuskripts. Aber nach dem Vatikanischen Manuskript betreffen die zwei Fragen jeweils Quodlibet XVIII q. 2 und q. 3, und die dritte Frage betrifft Quodlibet XVII q. 15.
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sucht, wie wir sehen werden, seine Lehre von der Willensfreiheit in der Willensbestimmung als einer aktiven Potenz zu begründen. Nun greifen wir zuerst die Frage nach der Aktivität des Willens auf. 2.1. Bestimmung des Willens als aktive Potenz (1) Begründung der Willensaktivität I: aus der Herrschaft der freien Entscheidung Gerhard sucht den Grund für die Aktivität der menschlichen Willenspotenz zunächst in der Tatsache, dass der Wille von rationaler Natur (natura rationalis) ist. Gerhard argumentiert folgendermaßen: Sofern der Wille nicht einem naturhaften Streben des nicht rationalen Wesens, sondern einer rationalen Fähigkeit des Menschen gehört, muss die Willensbewegung eher für eine aktive Wirkung gehalten werden als für ein passives Bewirktwerden. Hier ist zu beachten, dass Gerhard der nicht rationalen Potenz die rationale Potenz gegenüberstellt und der ersten Passivität und der letzteren Aktivität zuschreibt.101 Der Wille steht als eine rationale Potenz im Kontrast zu den nicht rationalen Wesen, deren Wirkung nur durch den naturhaften Antrieb passiv erfolgt. Damit erhebt sich nun die Frage: Warum bestimmt Gerhard die Aktivität des Willens im Hinblick auf den Unterschied des rationalen vom nicht rationalen Wesen? In welchem Sinne lässt Gerhard die Willensbestimmung als eine aktive Potenz auf der Rationalität als der Wesenheit des Menschen gründen? Die Antwort ist nach Gerhard vor allem in der Fähigkeit des Menschen zur freien Entscheidung zu finden. Nur das mit der rationalen Potenz ausgestattete Wesen, bzw. der Mensch ist imstande, durch die freie Entscheidung seinen Akt zurückzuhalten, anstatt dem naturhaften Antrieb einfach zu folgen. Der menschliche Akt hat nämlich seine Ursache in der Art im Menschen selbst, dass der Mensch dazu fähig ist, durch die freie Entscheidung seinen Akt entweder zu wählen oder nicht zu wählen. In diesem Sinne wird der Mensch als der Herr seiner Tätigkeiten, die durch seine freie Entscheidung geschehen, bezeichnet. 102 Der grundle-
101 Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 114) „Sed liberum arbitrium ut est facultas voluntatis magis agit quam agitur.Hec enim est differentia irrationalium ad naturam rationalem, quia irrationalia per naturam magis aguntur quam agant, rationalia vero e converso per naturam magis agunt quam agantur." 102 Bei der Argumentation wird wiederholt das Werk ,JJe fide orthodoxa" von Johannes Damascenus angeführt, welches im 13. Jahrhundert weit verbreitet war. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 116) „... quia domini sumus actuum nostrorum quorum principium est in nobis, eorum que secundum electionem fiunt, sicut dicit Philosophus et Damascenus probat ij
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gende Sinn der aktiven Potenz besteht nach Gerhard in der Herrschaft des Menschen über seinen Akt. Da die so gemeinte Herrschaft über den Akt die Rationalität der Fähigkeit zu dem Akt voraussetzt, gelangt man zur Erkenntnis, dass die Aktivität der Potenz und der Wirkung nur dem rationalen Wesen zugeschrieben werden kann.103 Um die These zu beweisen, dass der Wille eine aktive Potenz ist, richtet Gerhard überdies seine Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit (operatio) der freien Entscheidung, bzw. die Tätigkeit des Willens. Die Aktivität des Willens wird in verschiedenen Momenten des willentlichen Aktes des Menschen unmittelbar bestätigt: Das erste Zeichen für die Aktivität des Willens liegt darin, dass der libro capitulo XXVII: (ipsum agentem et facientem hominem principium esse propriarum operationum et arbitrio liberum. Si enim non esset principium sui actus, superfluum haberet consiliarum. Ad quid enim uteretur consilio nullius existens dominus actus? Omne enim consilium est actus gratia)." (Vgl. De fide orthodoxa, c. 39. ed. Buyaert, S. 150) 103 Es ist also entscheidender Maßstab für die Aktivität, ob die Potenz rational oder nicht rational ist, und dieser Maßstab wird wiederum darauf zurückgeführt, ob die Potenz anhand der freien Entscheidung tätig ist oder nicht. Die Sicht derartiger Einteilung prägt sich auch im von Gerhard sehr häufig herangezogenen Werk des Damascenus deutlich aus. Vgl. De fide orthodaxa, c. 41. „Igitur inanimata quidem et irrationalia vertuntur secundum praedictas corporales alterationes; rationalia vero secundum electionem... aut enim non erit rationale aut rationale ens, dominus erit actuum et über arbitrio." Übrigens ist hier auch Folgendes anzumerken: Die Gerhard'sche Willensbestimmung als eine aktive Potenz, die mit den Begriffen der freien Entscheidungsfähigkeit und der menschlichen Herrschaft über den Akt verbunden ist, besagt nicht, dass dem Willen in keiner Hinsicht Passivität zuzuschreiben ist. Gerhard leugnet ja nicht, dass im Willen eine bestimmte Passivität enthalten ist. Um die Frage zu beantworten, in welchem Sinne die Passivität den Willen betrifft, muss man aber zunächst mit Gerhard die terminologischen Bedeutungen der Passivität genau differenzieren. Nach Gerhard heißt Leiden (passio), erstens, nichts anderes als Aufnehmen (receptio). Die zweite Bedeutung des Leidens besteht aber in demjenigen Vorgang des Aufnehmens, in dem die Dispositionen des die Wirkung aufnehmenden Subjekts durch die entgegengesetzte Dispositionen des Wirkenden verloren gehen. In diesem engeren Sinne impliziert das Leiden nicht die bloße Rezeptivität, sondern vielmehr den Verlust (abiectio) oder das Vergehen (corruptio). Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, ad 2. (S. 117) „Item nota quod duplex est passio. Est enim passio secundum novas dispositiones que tantum est receptio et fit in recipiendo et sie patitur appetitus ab appetibili et intellectus ab obiecto. Alia est passio secundum contrarias dispositiones que est abiectio et corruptio, sicut in eis que in faciendo et in paciendo naturam determinant secundum generationem, alterationem et corruptionem, et sie non patitur voluntas ab appetibili, sicut nec intellectus ab intelligibili." Gerhard bemerkt, dass das Leiden in diesem Sinne keineswegs die geistige Potenz, sondern höchstens die Bewegung der sinnlichen Potenz betrifft. Wenn man dem Willen als einer vom körperlichen Organ nicht abhängigen geistigen Potenz die Passivität zusprechen will, ist es also nur im ersten Sinne der Passivität möglich. Die Passivität in diesem ersten abgeleiteten Sinne verletzt keineswegs die oben erklärte Aktivitätsbestimmung des Willens.
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Mensch durch die freie Entscheidung den Verdienst (meritorium) vorbereiten kann, bevor er seinen Akt wirklich ergreift.104 Die Aktivität ist dann auch beim Wählen des Aktes selbst zu merken, das nichts anderes als die Tätigkeit der freien Entscheidung ist. Mit der Tätigkeit der freien Entscheidung fallen nämlich, wie Damascenus gesagt hat, verschiedene Tätigkeiten - wie z.B. Überlegung (consilium), Urteilen (iudicium), Absicht (sententia) - zusammen, deren Ursache im Menschen selbst ist, und die demnach auf die aktive Potenz zurückgeführt werden.105 Schließlich wird die Aktivität des Willens dadurch bewiesen, dass im willentlichen Akt durch die freie Entscheidung das sogenannte Zusammenwirken (cooperatio) mit Gott geschieht. Um mit Gott zusammenzuwirken, d.h. „Mitarbeiter Gottes (dei adiutores)" zu sein, müssen wir nämlich anhand der Vernunft unser Streben regulieren, was aber ohne Aktivität des Willens unmöglich wäre.106 Gerhard fasst diese Argumente für die Willensbestimmung als eine aktive Potenz letztlich in dem wichtigsten Argument zusammen, das auf der Herrschaft (dominium) und der Autorität (auctoritas) der freien Entscheidung beruht.107 Wie oben gesagt wurde, impliziert die freie Entscheidung die Fähigkeit, durch rationale Überlegung von sich selbst aus einen Akt zu wählen. Und inso-
104 Nach Gerhard kann der Mensch vor dem Akt auf verschiedene Weise den Verdienst vorbereiten, nämlich dadurch, dass der Mensch die Gelegenheit zur Sünde fernhält, und dass der Mensch gegenüber der Sonne des ewigen Lebens, bzw. gegenüber der Gnade das Fenster der freien Entscheidung nicht schließt, und letztens dass sich der Mensch für die Gnade als tauglich erweist und Hindernisse für das Gute beseitigt. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 115) „Primo ab occasionibus peccati se elongando que tenent et ligant hominem in peccato... Secundo gratiam oblatam non respuendo nec claudendo fenestram liberi arbitrii ad solem vite eterne, qui sol fores non frangit et nulli invicto vim facit... Tercio ad gratiam se habilitando et difficultates ad bonum tollendo..." 105 Diese Faktoren der Willenstätigkeit sind diejenigen, die von unserer eigenen Initiative ausgehen und deshalb im überlegenden Willen als einer aktiven Potenz ihren Ursprung haben. Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 248; Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 115) „Secundo voluntas dicitur potentia activa ratione electionis ipsius actus, quia sicut dicit Damascenus, ij libro, capitulo XXIIII: (in operacione liberi arbitrii concurrunt consilium, iudicium, dispositio sive sententia, electio, appetitus, impetus, usus, que omnia pertinent ad potentiam activam respectu eorum quorum causa est in nobis) (Vgl. De fide orthodoxa, c. 36. ed. Buytaert, S. 138), (que nos sumus liberi arbitrio facere et non facere que per nos voluntarie aguntur. Non enim voluntatis diceretur agi, sed agere actu existente in nobis) (Vgl. De fide orthodoxa, c. 40. ed. Buytaert, S. 150), id est causa actus quem actum sequitur laus vel vituperium..." 106 Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 115f.) „Tertio ratione cooperationis in actu dicitur voluntas vel liberum arbitrium potentia activa, I Corinth. III, 9: (dei adiutores sumus), id est cooperatores, quia naturalis appetitus magis ducitur a rationali quam ducat rationalem." 107 Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 116).
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fern besteht die Tätigkeit der freien Entscheidung darin, den menschlichen Akt zu demjenigen Akt zu machen, dessen Ursache - im strengen Sinne - im Menschen selbst ist, und der deshalb eines Lobens oder eines Tadels würdig ist. Damit ist der Mensch imstande, freiwillig zu wirken und ebenso die Herrschaft über seinen Akt auszuüben.108 Gerade in dem Phänomen, dass der Wille durch seine Tätigkeit die Herrschaft des Menschen über den Akt ermöglicht, sieht Gerhard den eigentlichen Grund für die Bestimmung des Willens als eine aktive Potenz.
(2) Begründung der Willensaktivität II: aus dem Bewegungscharakter von der Seite des Objekts Diese Begründung der Aktivität des Willens durch den Hinweis auf die Herrschaft der freien Entscheidung stellt zwar die wesentliche Sichtweise von Gerhard dar, aber man kann dabei auch den Eindruck haben, dass diese Begründung nicht streng und vollständig ist, denn sie setzt die Tatsache bloß voraus, dass der Mensch die Fähigkeit zur freien Entscheidung besitzt, was aber je nach der entsprechenden Hinsicht seinerseits noch begründungsbedürftig scheinen kann.109 Gerhard legt aber in seinen Antworten auf die möglichen Einwände
108 Wie Gerhard unter Anlehnung an Damascenus sagt, heißt das Freiwillige (voluntarium) dasjenige, dessen Ursache, bzw. dessen Prinzip im wissenden Einzelnen ist, von dem gehandelt wird. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 115) „(Voluntarium enim est cuius principium, hoc est causa, est in ipso sciente singularia per que operator.)" (Vgl. De fide orthodoxa, c. 38. ed. Buytaert, S. 146) Und der Mensch gilt als Herr dessen, was durch die Wahl erreicht wird und so sein Prinzip in dem Menschen selbst hat. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, c. (S. 116) „quia domini sumus actuum nostrorum quorum principium est in nobis, eorum que secundum electionem fiunt..." Hier zieht Gerhard nicht nur Damascenus, sondern auch Aristoteles heran. „... sicut dicit Philosophus et Damascenus probat ij libro capitulo XXVII: (ipsum agentem et facientem hominem principium esse propriarum operationum et arbitrio liberum. Si enim non esset principium sui actus, superfluum haberet consiliarium. Ad quid enim uteretur consilio nullius existens dominus actus? Omne enim consilium est actus gratia.)" (Vgl. De fide orthodoxa, c. 39. ed. Buytaert, S. 150; De anima III, 433b27-30; Metaphysik I, 982b25-26.) 109 Die Tätigkeit und die Herrschaft der freien Entscheidung werden als solche unmittelbar angenommen, und davon gehen die Argumente aus. In Bezug auf diese Begründungweise der Willensaktivität scheint Gerhard der grundlegenden Gedankenrichtung des Augustinus nahe zu stehen, der die freie Entscheidung als eine der wollenden Seele unmittelbar gegebene, empirisch unbestreitbare, evidente Tatsache angenommen hat. Man kann die Fähigkeit zur freien Entscheidung nicht auf irgendeinen Grund, der vom Willen selbst verschieden ist, zurückführen, um zu beweisen, dass uns die freie Entscheidung gegeben ist. Vgl. Augustinus, De libero arbitrio III, 1, 3 (CCSL 29, S. 276). „Non enim quicquam tarn for-
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gegen seine Behauptung die in seinem Kontext ergänzende, aber für uns noch interessantere und aufschlussreichere Begründung der Aktivität des Willens dar, wobei er offensichtlich die Diskussion mit der aristotelischen Sichtweise ins Auge fasst.110 Hier wird die Bestimmung des Willens als aktive Potenz im Hinblick auf das Bewegungsverhältnis des Willens und der Vernunft gerechtfertigt. Bei dem Argument Gerhards kommt es darauf an, den Charakter der Bewegung des Willens durch das Objekt zu erörtern. Gerhard behauptet: Man kann zwar sagen, dass der Wille dem Einfluss von der Seite des Objekts untersteht und durch die Vernunft, welche die Erstrebbarkeit des Objekts erkennt, bewegt wird, aber wenn man so von der Bewegung des Willens durch die Vernunft spricht, wird die Bewegung nicht im wahren Sinne (secundum veritatem), sondern nur im metaphorischen Sinne {secundum metaphoram) ausgesagt.111 Gerhard stellt hier deutlich den Kontrast zwischen der Willensbewegung und derjenigen naturhaften Bewegung an, die durch den Anstoß der Tätigkeit (secundum impetum operationis) erfolgt. Wir können in der Natur betrachten, dass die Bewegung in der Weise geschieht, dass dem Bewegten durch die Tätigkeit des Bewegenden wie durch einen unmittelbaren Anstoß die Bewegungswirklichkeit vermittelt wird. Nach Gerhard trifft aber die in dieser Weise geschehende Bewegung nicht auf die Willensbewegung durch die Vernunft zu, denn die Rolle der Vernunft beschränkt sich darauf, dem Willen das erfasste Gute bloß zu zeigen. Gerhard sagt, dass das erstrebbare Objekt den Willen nur in der Weise des Zeigens und des Anreizes (per modum ostensionis et affectionis) bewegt.112 Durch derartige Bewegung, welche Gerhard im Unterschied zur Bewegung durch den Anstoß der Tätigkeit als Bewegung im metaphorischen Sinne bezeichnet, wird im Willen keine notwendige Bewegung hervorgebracht. So stellt Gerhard fest, dass der Wille, der sich, sofern er eine geistige und rationale Potenz ist, auf verschiedene beliebige Gegenstände beziehen kann, keine notwen-
me atque intime sentio quam me habere voluntatem eaque me moveri ad aliquid fruendum; quid autem meum dicam prorsus non invenio si voluntas qua volo et nolo non est mea."; III, 3, 7 (S. 279). „Non enim posses aliud sentire esse in potestate nostra, nisi quod cum volumus facimus. Quapropter nihil tam in nostra potestate quam ipsa voluntas est."; III, 3, 8 (S. 280). „Non enim negare possumus habere nos potestatem, nisi dum nobis non adest quod volumus... Porro, quia est in potestate, libera est nobis. Non enim est nobis liberum quod in potestate non habemus, aut potest non esse quod habemus." 110 Vgl. Quodl.,XVIII, q. 2 ad 1; ad 2. (S. l l l f ; S. 116f.) 111 Vgl. Quodl., XVIII, q. 2 ad 2 (S. 117) 112 Vgl. Quodl., XVIII, q. 2 ad 1 ; ad 2. (S. 117)
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dige Determination von seinem Objekt annimmt.113 Wenn sich die Sache so verhält, muss das Phänomen, dass der Wille durch seine Bewegung letztlich zu einem bestimmten Objekt determiniert wird, nur von der Aktivität des Willens selbst her erklärt werden. Ohne aktive und spontane Wirkungskraft von sich selbst her könnte der Wille, dem keine notwendige Bewegung vom Objekt auferlegt wird, vom Zustand der Indeterminiertheit zwischen verschiedenen beliebigen Objekten zur konkreten Bewegungswirklichkeit nicht übergehen, in der er sich auf ein bestimmtes einzelnes Objekt wirklich bezieht.114 Angesicht dessen, dass durch die sogenannte „metaphorische" Bewegung von der Seite des Objekts der wirkliche Determinationsvorgang des Willens auf keine Weise durchgeführt werden kann, wird also die Bestimmung des Willens als eine aktive Potenz deutlich gemacht.115
(3) Die Willensaktivität und die Unmöglichkeit der notwendigen Willensdetermination Bei der Begründung der Willensaktivität ist auch an den Tag gekommen, dass der Wille durch sein Objekt nicht notwendig determiniert wird. Obwohl Gerhard dieser zweiten These noch eine eigene Quaestio widmet, kann man hier kein dem Inhalt nach neues Argument beobachten. Auffallend ist nur, dass Gerhard sich beim Begründen der zweiten These auf viele Bibelstellen be-
113 Vgl. Quodl, XVIII, q. 3. (S. 119f.) 114 In diesem Sinne betont Gerhard, dass der Wille, obwohl er auf sein Objekt bezogen ist und unter dem affizierenden Einfluss vom ihm vorgestellten Objekt steht, grundsätzlich durch seine Tätigkeit selbst, d.h. durch seine Überlegung, seine Absicht und seine Wahl bewegt wird. Vgl. Quodl., XVIII, q. 3, ad 1. (S. 120) „Ad primum die quod voluntas rationalis movetur ab appetibili secundum iudicium, consilium, sententiam, electionem..." 115 Man muss beachten, dass der Aktivitätsbegründung aus dem Charakter der Willensbewegung die genaue Analyse der Wechselbewegung zwischen Willen und Verstand fehlt. Gerhard beabsichtigt nämlich nicht, die Willensbewegung von der objektiven Seite im Vergleich mit der vom Willens selbst ausgehenden Bewegungskraft zu charakterisieren, und dadurch die Willensaktivität zu begründen, wie es bei Walter der Fall ist, sondern die Willensbewegung vor allen naturhaften Bewegungen auszuzeichnen, und damit zu behaupten, dass der Wille nicht notwendig, sondern durch sich selbst determiniert wird. Aber obwohl Gerhard den Willen nicht in Hinsicht auf die gegenseitige Bewegung mit dem Verstand, sondern eher in Hinsicht auf die rationale Bewegung, zu der auch die Bewegung des Verstandes gehören soll, betrachtet, kann man daraus nicht schließen, dass die Aktivität oder Freiheit des Willens auf den Verstand zurückzuführen sind, denn Gerhard versteht die Rationalität selbst nicht von einem Erkenntnisvermögen her, sondern er bezieht sie unmittelbar auf die freie Entscheidung selbst.
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ruft."6 Aber das philosophische Argument bleibt grundsätzlich dasselbe mit den Argumenten für die Aktivität des Willens: Wie die Aktivität des Willens wurzelt nämlich auch die Unmöglichkeit der notwendigen Willensdetermination durch das Objekt ursprünglich in der Herrschaft der freien Entscheidung, d.h. in der Fähigkeit des Menschen, durch die Überlegung sein Streben zu regulieren und seinen Akt zu wählen.117 Wir können also entnehmen, dass die Verneinung der notwendigen Einwirkung des Objekts auf den Willen zum wesentlichen Sinngehalt der Willensaktivität gehört. Es ist hier auch bemerkbar, dass Gerhard in seinem Begriffsverständnis der Aktivität dem Gedanken Walters nahe steht, der den Begriff der Passivität unmittelbar auf die notwendige Bewegung bezieht und davon den Begriff der Aktivität streng abgrenzt.118 Wie bei Walter geht es auch in der Willensbestimmung Gerhards nicht um den Begriff der aktiven Potenz als ein allgemeines und metaphysisches Erklärungsprinzip der Bewegung, sondern eher um einen spezifischen und technischen Begriff der Aktivität, der seiner Bedeutung nach nur eine bestimmte modale Art von Bewegung abdeckt.
116 Gerhard zieht zuerst die Bibelstellen heran, in denen deutlich beschrieben wird, in welchem Zustand (conditio) die freie Entscheidung geschaffen wurde, wie z.B Ekklesiastes 15, 14-17 (Deus ab inicio mundi constituit hominem et reliquit illum in manu consilii sui.) Vgl. Jeremias 21, 8. Überdies wird die Stelle angeführt, die das unmittelbare Eingreifen des göttlichen Willens in den menschlichen Willen ausdrückt, wie z.B Josua 7, 13; Sprichwörter 21, 11. Das unmittelbare Eingreifen des göttlichen Willens in den menschlichen Willen wäre nämlich nicht möglich, wenn der menschliche Wille mittels der notwendigen Bewegung vom Objekt determiniert würde. 117 Gerhard sagt also, dass der Wille mit der notwendigen Bewegung nichts zu tun hat, weil der Wille durch Überlegung, Urteil und Wahl, d.h. nicht durch den Antrieb der Natur, sondern anhand der Tätigkeiten der Vernunft bewegt wird. Vgl. Quodl., XVIII, q. 3, ad 2. (S. 120) „Unde non movetur de necessitate ab appetibili, quia movetur per consilium, iudicium et electionem et non per modum nature, sed per imperium rationis, quia cohercere potest appetitum et in ipso est appetere vel non appetere." 118 Vgl. Anmerkung 20. Auch bei Gerhard steht nämlich das Bedeutungsfeld des Aktivitätsbegriffes gerade dem „notwendig Bewegtwerden" gegenüber, und der Begriff der Passivität ist mit der notwendig determinierten Bewegung verknüpft. Damit kommen wir zu der Einsicht, dass die Gerhard'sche Willensbestimmung als eine aktive Potenz von den metaphysischen Begriffe der Passivität und der Aktivität im aristotelischen und thomasischen Sinne abweicht. Bei Gerhard geht es ja hauptsächlich nicht darum, von der metaphysischen Begriffsbasis ausgehend die Struktur der Willensbewegung zu analysieren, sondern vielmehr darum, die mit dem rationalen Vermögen gegebene, gewissermaßen evidente Fähigkeit zur freien Entscheidung zu bestätigen und von dieser Fähigkeit ausgehend den grundlegenden Charakter der Willenspotenz zu bestimmen.
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(4) Der Wille als Potenz zur Selbstbewegung Beim Begründen der Willensaktivität und der nicht notwendigen Willensbewegung kann Gerhard dem Problem des aristotelischen Bewegungsaxioms nicht ausweichen, das auch Walter beschäftigt hat. Das Axiom, dass das Bewegte immer durch das Bewegende bewegt wird, wird nämlich als ein wichtiger Einwand gegen die Gerhard'sche Willensbestimmung als eine aktive Potenz vorgelegt. Gerhard gibt in seinen Quaestiones dieses Problem wie folgt wieder: Aus der Annahme, dass der Wille mehrere beliebige Gegenstände wollen kann, bzw. nicht wollen kann, wird gefolgert, dass der Wille in Bezug auf diese Gegenstände in Potenz steht. Der in Potenz stehende Wille braucht aber ein bewegendes Prinzip, das sich im Akt befindet, weil nichts, was in der Potenz steht, von sich selbst in den Akt übergehen kann. In diesem Sinn wird die Willenspotenz durch das Objekt zum Willensakt überfuhrt, und sofern der Wille durch das Objekt wie durch die Ursache bewegt wird, scheint der Wille eher als passive Potenz denn aktive Potenz.119 Die Antwort Gerhards auf diesen Einwand ist eindeutig. Er versucht den Einwand dadurch zu lösen, dass er den Willen als eine rationale Potenz von der naturhaften Potenz, die in den nicht rationalen Naturwesen zu beobachten ist, abgrenzt. Gerhard behauptet: Das Bewegungsaxiom trifft nur auf die naturhafte Potenz, aber nicht auf die freiwillige oder rationale Kraft (potestas voluntaria vel rationalis) zu.120 Im Gegensatz zur naturhaften Potenz, die auf die Weise der Natur {per modum nature), d.h. durch den Anstoß der Tätigkeit bewegt wird, wird die rationale Potenz durch ihr Objekt auf die Weise des Zeigens (per modum ostensionis) bewegt. Nach Gerhard hat die Bewegung des Willens als einer rationalen Potenz, bzw. die Bewegung, die auf die Weise des Zeigens und des Anreizes erbracht wird, mit dem Bewegungsaxiom nichts zu tun.121 So stellt
119 Vgl. Quodl., XVIII, q. 3, Einwand 2. (S. 113) „... supposita tua ypothesi quod utrumque velle vel non velle, sequitur quod est in potentia respectu utriusque. Sed nichil quod est in potentia reducit se ad actum. Ergo per aliquid quod est in actu reducitur ipsa voluntas de potentia ad actum. Sed omne quod reducit alius de potentia in actum est causa eius. Sed non videtur reduci nisi ab obiecto. Quare patitur ab eodem tamquam ab efficiente illum actum. .."; Quodl., XVIII, q. 2, Einwand 1. (S. 111) „Omne motum in quantum huiusmodi patitur a movente sicut visus a movente colore. Sed bonum appetibile movet non nisi potentia cuius est obiectum. Sed ilia est voluntas. 120 Vgl. Quodl., XVIII, q. 3, ad 2. (S. 120) „...illud quod obicit quod nichil reducit se de potentia ad actum, illud intelligendum est de potentia naturali, non de potestate voluntaria vel rationali..." 121 Gerhard betont wiederholt, dass das Bewegungsaxiom nicht am auf die Weise des Zeigens Bewegenden (movens per modum ostensionis), sondern nur am auf die Weise der Natur
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Gerhard fest, dass der Wille, sofern er eine rationale Potenz ist, durch sich selbst von der Potenz zum Akt übergehen kann. Aber wir können in seinem Text keine weitere Begründung finden, warum der Wille als eine rationale Potenz durch sich selbst bewegt werden kann. Während Walter diesen Ausnahmefall der Willensbewegung aus dem Sachverhalt zu erklären versucht, dass sich der Wille in der jeweiligen Hinsicht sowohl in Akt als auch in Potenz befindet, wagt Gerhard einen solchen Erklärungsversuch nicht, den der dem aristotelischen Akt-Potenz-Gedanken treue Theoretiker wohl erwarten könnte, sondern er geht in die Richtung, aufgrund des bloß metaphorischen Bewegungscharakters des rationalen Willens den unüberbrückbaren Unterschied der Willensbewegung von den übrigen naturhaften Bewegungen nachdrücklich zu betonen. So begrenzt Gerhard streng den Anwendungsbereich des aristotelischen Bewegungsaxioms auf den körperlich bedingten und naturhaften Bereich, und macht so die Selbstbewegung des Willens durchaus geltend. Er beruft sich, wie Walter, an mehreren Stellen auf das sehr berühmte und wichtige Begriffserbe vom Hl. Anselm, „das sich selbst bewegende Instrument (instrumentum movens seipsum)".122 Der Wille kann sich selbst bewegen, ohne Bewegung von außen her passiv zu erleiden, und in diesem Sinne wird der Wille eine aktive Potenz genannt. Zu beachten ist, dass sich der Sinn der Selbstbewegung des Willens und der Sinn der Willensaktivität überschneiden. Gerhard sieht nämlich den Grund der anselmischen Bestimmung wiederum in der Tatsache, dass der Wille nicht durch den Antrieb der Natur, sondern durch Überlegung, Urteil und Wahl bewegt wird und demnach sein Streben rational regulieren kann.123 Der Wille bewegt insofern sich selbst, als er ,aktiv' von sich selbst eine rational regulierbare, nicht notwendige Bewegung ausgehen lassen kann. Bei Gerhard ist also die Selbstbewegung des Willens der kernhafte begriffliche Ausdruck, in dem die Aktivität und die Freiheit des Willens artikuliert wird.
Bewegenden (movens per modum nature) erkannt werden kann. Zu den Bewegungen, die sich dem Bewegungsaxiom entziehen, gehört nicht nur die Willensbewegung, sondern auch die Verstandesbewegung, die durch das Objekt auf die Weise des Zeigens und der Erkenntnis (per modum ostensionis et cognitionis) erbracht wird. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, ad 1. (S. 117) „Item ad illam propositionem: (omne motum patitur a movente), responde distinguendo, quia illud intelligitur de movente per modum nature, sed non de movente per modum ostensionis et cognitionis, sicut intelligibile movet intellectum per modum ostensionis et cognitionis, et appetibile movet appetitum per modum ostensionis et affectionis, sed non per modum necessitatis...". 122 Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, ad 2 (S. 118); q. 3, ad 2 (S. 120); Anselm, De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae Dei cum libero arbitrio III, 11. 123 Vgl. Anmerkung 117.
134
Reaktion von voluntaristischer Seite
2.2. Freiheit des Willens Die dritte Frage, die wir mit Gerhard aufwerfen, ist, ob der menschliche Wille frei ist. Obwohl Gerhard die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens in der Form einer eigenen Quaestio stellt, wurde diese Frage, inhaltlich gesehen, bereits in den bisherigen Erklärungen über die Aktivität des Willens behandelt und aufgeklärt. Wir können aber in dieser Quaestio die Aufgliederung der mehrfachen Bedeutungen der Willensfreiheit und den grundlegenden Sichtpunkt Gerhards, in dem er die Freiheit des Willens entschieden vertritt, noch deutlicher betrachten. Gerhard nimmt seinen Ausgang davon, dass der Wille eine rationale Potenz ist. Die rationale Potenz bezieht sich auf das Entgegengesetzte, während die naturhafte Potenz auf das Eine festgelegt ist.124 Wenn die schlichte Indifferenz des Willens als einer rationalen Potenz vorausgesetzt wird, so können wir im Willen eine dreifache Freiheit annehmen. Erstens, der Wille ist in dem Sinn frei, dass er nicht von etwas anderem gezwungen werden kann. Sofern er von innen her bewegt wird, ist er nämlich im Hinblick auf den Zwang (coactio) absolut frei.125 Die Freiheit vom Zwang folgert Gerhard aus dem christlichen Menschenbild, nach dem der Wille als das Abbild des freien Schöpfers geschaffen ist.126 Zweitens, der Wille wird wegen seiner Indifferenz und Umkehrbarkeit vom Guten und Bösen (propter indifferenciam et vertibilitatem tam a bono quam a malo) als frei bezeichnet. Hier erwähnt Gerhard auch die christliche Glaubenslehre, nach der der Mensch so geschaffen wurde, dass er sich sowohl auf das Gute als auch auf das Böse beziehen kann.127 Die dritte Bedeutung der Willensfreiheit ist aber nichts anderes als die freie Wahl, bzw. die freie Entscheidung. Für diese Freiheit legt Gerhard hier keine weiteren Beweise vor, sondern er fuhrt nur den Satz des Damascenus an, dass der Wille frei wählt und will.128 124 Vgl. Quodl., XVII, q. 15. (S. 110) „Potestates rationales sunt ad opposita, sicut potestates naturales sunt ad unum." 125 Vgl. ebd. „primo dicitur libera respectu coactionis absolute. Per se enim quantum ad motum interiorem cogi non potest..." 126 Vgl. ebd. „...cum sit creata ad ymaginem conditoris a quo libere est expressa nisi a solo Creatore. Qui solus secundum substantiam illabitur et presidet anime. 127 Vgl. ebd. „Secundo dicuntur libera propter indifferenciam et vertibilitatem tam a bono quam a malo. Ecclesiastici, XV, 14: (Deus ad inicio constituit hominem et reliquit eum in manu consilii sui) et infra 18: (ante hominem vita et mors, bonum et malum, quodcumque placebit ei dabitur illi) et in eodem 17: (apposuit tibi aquam et ignem et ad quodcumque volueris porrige manum tuam)." 128 Vgl. ebd. (S. 111) „Tercio dicitur libera propter liberam electionem, quia (libere elegit et libere vult), sicut dicit Damascenus."
Gerhard von Abbeville
135
Bemerkenswert sind der Einwand gegen die so dargelegte menschliche Willensfreiheit und die Antwort Gerhards. Der Einwand geht davon aus, dass der rationale Wille nach den jeweiligen Gegenständen insofern strebt, als sie in den Grund des Guten fallen. Das ist gültig, so lautet der Einwand, selbst wenn der Mensch das scheinbar Gute erstrebt, und weil der Wille so auf das eine festgelegt ist, gibt es keinen Spielraum für die Freiheit.129 Zur Erwiderung verwendet Gerhard nicht die Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Guten und dem partikularen Guten, die wir beim Argument des Thomas erwarten könnten. Die Antwort Gerhards beruht nicht darauf, dass der Wille von partikularen Teilgüter nicht notwendig in Gang gesetzt wird, sondern dass die Wahl des Willens der Stimme der unterscheidenden Vernunft nicht folgen muss. Der Mensch kann nämlich das scheinbar Gute wählen, auch wenn die vernünftige Unterscheidungsfähigkeit (discretio) sagt, dass das scheinbare Gute in der Tat das Böse schlechthin ist.130 Das Freiheitsargument durch die Abweichungsmöglichkeit zwischen der vernünftigen Unterscheidung und der willentlichen Wahl deutet gerade die Freiheit im oben genannten dritten Sinne an. Die freie Wahl, bzw. die freie Entscheidung stellt sich als die vollständige und wesentlichste Bedeutung der Freiheit unter den oben angeführten drei Bedeutungen dar. Der Ausschluss des Zwangs oder die bloße Indeterminiertheit gelten nicht als der zureichende Grund für die Freiheit des menschlichen Willens. Die freie Entscheidung besagt, dass der Wille vom Zustand der Indeterminiertheit als der Voraussetzung für die Freiheit zum bestimmten und wirklichen Gegenstand sich selbst determiniert, ohne vom Einfluss des Objekts notwendig bewegt zu werden. Der menschliche Wille ist insofern frei, als er sich selbst aktiv bewegt und determiniert. Also muss die Willensfreiheit im Sinne der freien Wahl von der Aktivität des Willens her verstanden werden, und das Zeichen dieser Freiheit muss offensichtlich in der Selbstbewegung des Willens gefunden werden.
129 Vgl. ebd. „Et ostendebat quod non sit libera, quia omne quod voluntas rationalis appetit bonum est in ratione boni et ita determinata est ad unum... Si enim appetit id quod malum est appetit ipsum in ratione apparentis boni..." 130 Vgl. ebd. „ad argumentum die quod in voluntate sunt duo, scilicet electio et discretio. Licet autem electio sit respectu apparentis boni, tarnen discretio dictat ei quod illud apparens bonum simpliciter est malum..." Gerhard und Walter sind darin einig, dass sie das Abweichen der willentlichen Wahl vom vernünftigen Urteil als ein Beweis fur die Freiheit des Willens ansehen. Siehe auch Anmerkung 69.
Kapitel IV. Die Selbsterklärung des Thomas
In d i e s e m Kapitel behandeln wir die Freiheitslehre des Thomas in seinen späten Werken. D i e wichtigen Werke, auf die wir unsere Blicke richten wollen, sind vor allem die sechste Quaestio De malo und die ersten 18 Quaestiones in der Prima
secundae.
Thomas ist im Winter 1 2 6 8 / 6 9 in Paris wieder angekommen,
und angesichts d e s damaligen geistigen Konflikts an der Pariser Universität hat er energisch seine wissenschaftliche Tätigkeit weitergeführt. 1 D i e genannten Texte scheinen in dieser Zeit geschrieben worden zu sein. 2
1
2
Als Grund dafür, dass Thomas von den Oberen seines Ordens nach Paris zurückgeschickt wurde, fuhrt man die Situation an der Pariser Universität an: den zunehmenden Angriff der Weltkleriker gegen die Mendikantenorden und die Verbreitung des Averroismus in der Artistenfakultät. Mandonnet nimmt den zweiten Grund als den wichtigeren an, aber Weisheipl weist dies zurück. Vgl. Mandonnet, Siger de Brabant et l'Averroisme latin au XHIme siecle, Bd. 1, S. 88f.; Weisheipl, a.a.O., S. 237f. Ohne entscheiden zu wollen, welcher der unmittelbarere und dringendere Grund für den Rückruf des Thomas nach Paris war, ist es für uns wichtig, dass der überwiegende Teil der Tätigkeit des Thomas während seines zweiten Aufenthalts in Paris auf die Auseinandersetzung mit den beiden Tendenzen gerichtet war. Auch den jetzt zu untersuchenden Schriften - De malo q. 6 und Summa theologiae I-II q. 1 - 1 8 - liegt im Grunde genommen das polemische Interesse zugrunde, die averroistische Tendenz zu widerlegen. Was das Problem anbelangt, welcher von beiden Texten früher verfasst wurde, gibt es aber Meinungsverschiedenheiten. Lottin meint, dass De malo q. 6 früher datiert als Prima secundae. (Vgl. Lottin, „La date de la question disputee De malo de Saint Thomas d'Aquin", in: Revue d'histoire ecclisiastique 24 (1928), S. 373-388; Psychologie et morale I, S. 252) Weisheipl ist damit einverstanden. (Vgl. Weisheipl, a.a.O., S. 254) Pesch behauptet jedoch, dass De malo q. 6 nach den entsprechenden Quaestiones der Prima secundae geschrieben wurde, weil in De malo q. 6 der endgültige Ausdruck der voluntaristischen Freiheitsbegründung zu finden ist. (Vgl. Otto M. Pesch, „Philosophie und Theologie der Freiheit bei Thomas von Aquin in quaest. disp. 6 De malo", in: Münchner Theologische Zeitschrift 13 (1962), S. 18f.) Wir gehen hier auf dieses Problem nicht ein. Aber auf jeden Fall kann man sagen, dass der zeitliche Abstand zwischen beiden Texten sehr klein ist und beide Texte gegen 1270 verfasst wurden. Vgl. M.-D. Chenu, Das Werk des Hl. Thomas von Aquin, S. 321; Glorieux,
138
Die Selbsterklärung des Thomas
Unsere Aufgabe ist es nun, auf dem Fundament dieser Texte die Fragestellung und den Lösungsversuch der späten thomasischen Freiheitslehre gründlich zu analysieren. Aber bevor wir eine inhaltliche Untersuchung der späten Freiheitstraktate anstellen, ist zunächst der theoretische Kontext zu vergegenwärtigen, in dem sie geschrieben worden sind. Von welcher Bedeutung sind die bisher dargelegten Theorien Walters und Gerhards flir Thomas? Ist es stichhaltig anzunehmen, dass sie auf die Lehre des Thomas gewissen Einfluss genommen haben? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir noch einen skizzenhaften Vergleich zwischen der Freiheitslehre des frühen Thomas und der Lehre Walters und Gerhards anstellen.
1. Der Kontext der Frage nach der Selbstbewegung des Willens 1.1. Vergleichende Betrachtung: die Freiheitslehre des frühen Thomas und die voluntaristische Freiheitslehre der Zeitgenossen (1) Unterschied bei der Grundlegung der Willensfreiheit Wir können durch die vergleichende Betrachtung zwischen der frühen Freiheitslehre des Thomas und den franziskanisch ausgerichteten Freiheitslehren seiner Zeitgenossen zwar Gemeinsamkeiten, aber überwiegend beträchtliche Unterschiede finden. Es ist offensichtlich, dass beide von der Indifferenz des Willens gegenüber den partikulären Gütern ausgehen, welche ihm als einem geistigen Vermögen zukommt und ihn vor den übrigen naturhaften Strebensformen auszeichnet. Aber wie schon mehrmals dargestellt wurde, besteht der wesentliche Aspekt bei der Grundlegung der Willensfreiheit darin, auf welche Weise der Wille vom indifferenten Zustand ausgehend zum durch einen konkreten Willensakt wirklich gewollten bestimmten Gegenstand determiniert wird. Walter und Gerhard sehen in dem Determinationsvorgang die auffallende Fähigkeit des Willens, unabhängig von äußeren möglichen Einflüssen sich selbst hin zum von sich bevorzugten Gegenstand zu determinieren, und gerade in der Selbstdeterminierung des Willens begründen sie den eigentlichen Sinn
„Les Questions disputees de Saint Thomas et leur suite chronologique", in: RTAM 4 (1932), S. 28f.; Preface in Opera omnia S. Thomae de Aquino (ed. Leonina) Bd. 23, S. 4f.
Der Kontext der Frage nach der Selbstbewegung des Willens
139
der Willensfreiheit. 3 Als unbestreitbares Zeichen dafür wird das Abweichungsphänomen des Willens vom Urteil der Vernunft dargelegt.4 Wir müssen zunächst zugestehen, dass auch Thomas in seinen frühen Werken im Grunde genommen die Selbstdeterminierung des Willens nicht verneint.5 Aber es gibt eine Schwierigkeit, bei der wir nicht nur von einer Gemeinsamkeit der beiden Seiten reden können. Diese Schwierigkeit ist vor allem darin zu sehen, dass Thomas zwar die Möglichkeit erwähnt, dass die Entscheidung des Willens dem Urteil der Vernunft nicht entspricht, aber diese Erwägung nur wie ein Fragment bleibt, ohne in seinen zentralen Gedankengang eingelegt und systematisch erörtert zu werden, während bei Walter und bei Gerhard die Selbstdeterminierung des autonomen Willens den Kern des Freiheitsbegriffes bildet. In seinen frühen Werken beabsichtigt Thomas ja seinen Begriff der Willensfreiheit, bzw. des liberum arbitrium niemals unmittelbar in der Selbstdeterminierung des Willens schlechthin zu begründen. Stattdessen richtet er seine Aufmerksamkeit auf die besondere modale Eigenart der Determinationsbewegung des Willens. Diese Eigenart, wofür er sich interessiert, ist nichts anderes als die Reflexivität der Entscheidung und die daran angeschlossene Herrschaft des Entscheidenden über seinen Akt, die aber nur mit der zusammenwirkenden Vernunft zu verstehen sind.6 Selbstverständlich sprechen auch Walter und Gerhard von der Rationalität des Willens oder von der Mitwirkung der Vernunft beim Willensakt,7 aber was sie beim Ergründen der Freiheit hervorheben, ist die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die der Wille in der Verbindung mit der Vernunft durchaus aufrechterhält. Der Unterschied, den wir an den Begründungsweisen der Willensfreiheit durch die beiden Seiten erkennen können, geht aber letzten Endes aus ihren verschiedenen Vorstellungen der Willenspotenz hervor. Die Begründung der Freiheit des Willens geht bei Walter davon aus, dass dem Willen gegenüber der Vernunft der Primat zugeschrieben wird. Das Bewegungsverhältnis zwischen Willen und Vernunft wird vor allem in der Hinsicht betrachtet, dass die beiden Potenzen mit den jeweils überlegenen und unterlegenen Bewegungskräften einander bewegen. Die Willensbewegung durch die Vernunft und die Vernunftbewegung durch den Willen haben jeweils nicht nur der kausalen Bedeutung nach unterschiedene Qualitäten, wie es bei Thomas der Fall ist, sondern
3 4 5 6 7
Vgl. Walter, Qu. disp., q. 5, c; Gerhard, Quodl., XVIII, q. 2, q. 3. Vgl. Walter, Qu. disp., q. 6, ad 14; Gerhard, Quodl., XVII, q. 15. (S. 110) Vgl. De ver., q. 22, a. 15, c. Vgl. De ver., q. 24, a. 1; a. 2. Vgl. Qu. disp., q. 5, c; Quodl., XVIII, q. 3, ad 2. (S. 120)
140
Die Selbsterklärung des Thomas
sie werden auch hinsichtlich der Würde oder der Stärke der Wirkungsfahigkeit unterschieden, wobei es gerade darauf ankommt, ob die Bewegung von der einen Potenz her in der anderen eine notwendige Folge hervorbringen kann. In diesem Hinblick hat Walter der „befehlenden" Bewegung vom Willen gegenüber der „anzeigenden" Bewegung von der Vernunft den Primat gegeben.8 Die Freiheit des Willens als freie Willensdetermination geht letztlich auf diese Sonderstellung des Willens selbst zurück. Obwohl Gerhard den Primat des Willens in Beziehung auf die Vernunft nicht explizit hervorhebt, ist er in dem Punkt mit Walter einig, dass er die Freiheit des Willens unmittelbar im Willen selbst zu begründen versucht, der seinem Wesen nach die Fähigkeit zur Selbstdeterminierung zu eigen hat. Sofern der Wille von keinen äußeren Faktoren notwendig bewegt wird, sondern sich selbst determiniert, wird der Willen auch bei Gerhard als etwas Ausgezeichnetes vorgestellt. Sowohl im Walterschen Begriff der mächtigen Potenz als auch in der Gerhard'sehen Bestimmung der Willensbewegung als „aktives Wirken" spiegelt sich die Vorstellung des Willens, dem im Sinne der Selbstdetermination eine gewisse Sonderstellung zugeschrieben wird.9 Aber Thomas ist auch die vom hierarchischen Bewegungsverhältnis bedingte voluntaristische Willensvorstellung völlig fremd. Die sogenannte Sonderstellung des Willens als einer Potenz zum freien Akt ist nach Thomas nicht deswegen anzuerkennen, weil der Wille in seiner Bewegungskraft der
8 9
Vgl. Qu. disp., q. 6, c. u.a. Diese Vorstellung des Willens teilt auch Johannes Peckham, der als Nachfolger Walters an der theologischen Fakultät der Pariser Universität gelehrt hat. Auch zu Lebzeiten des Thomas hat Peckham gegen Thomas seine voluntaristische Willensvorstellung hervorgehoben. Dies kann man in Quodlibet I, q. 5 - 6 beobachten. „Ad sextum dicendum per interemptionem, quia voluntas est altissima et finis animae absentis a sensu usque ad summum animae. Et quod dicit voluntatem moved ab intellectu per se, respondeo quod voluntas ut appetens excitatur ab intellectu, sed ut libera non ab intellectu movetur sed a se. Est enim „instrumentum se ipsum movens." Et postquam excitata est ab intellectu, liberum habet moveri vel non moveri ad id quod ab intellectu praesentatur. Sed intellectus ad id quod voluntas decreverit necessario inclinatur." (Quodlibet I, q. 5, ad 6: ed. Etzkorn, S. 19, n. 27; Vgl. Einleitung, Anmerkung 14) Hier zielt Peckham offensichtlich darauf ab, die thomasische Verhältnisbestimmung zwischen Willen und Verstand im dritten Teil der Summa contra gentiles zu widerlegen. In ScG III, c. 26 äußert Thomas, dass die Verstandesbewegung durch den Willen eine akzidentelle Bewegung ist, die ihrerseits immer die Bewegung durch den Verstand als Zielursache voraussetzen muss, und damit lehnt er die Position ab, die Glückseligkeit bestehe in der Willenstätigkeit. (Vgl. ScG III, c. 26, n. 2092) Peckham versucht an der Stelle gerade diese thomasische Position wieder zu kritisieren. (Vgl. Quodlibet I, q. 5; ed. Etzkorn, S. 15, n. 13)
Der Kontext der Frage nach der Selbstbewegung des Willens
141
Vernunft überlegen ist, sondern vielmehr weil er in seinem Akt immer auf die Vernunft bezogen ist.10 (2) Unterschied bei der Stellungnahme zur Willensbestimmung als eine passive Potenz Der Unterschied bei der Willensvorstellung, mit welchem der Unterschied bei der Grundlegung der Willensfreiheit verbunden ist, wird aber in der Stellungnahme der beiden Seiten zu dem Problem, ob der Wille als eine passive Potenz gilt, am deutlichsten aufgezeigt. Um den Unterschied im Hinblick auf dieses Problem deutlich zu machen, betrachten wir nun die konkrete Art und Weise ihrer Erwiderung gegen das Argument, das durch die passive Bestimmung des Willens die freie Willensbewegung zu verneinen versucht. Walter behandelt in seiner vierten Quaestio diesen Einwand, und beharrt auf dem Standpunkt, dass der Wille ausschließlich als eine aktive Potenz anzusehen ist." Sein Argument beruht auf der oben erwähnten berühmten Unterscheidung des Willens von der bloßen affektiven Reaktion, das Gefallen des Guten aufzunehmen. Die aristotelische Bestimmung des Strebens als passive Potenz in ,J)e anima" kann nur, so behauptet er, auf den Willen als eine naturhafte Potenz (voluntas naturalis), aber nicht auf den überlegenden Willen als eine rationale Potenz (voluntas deliberativa) zutreffen. 12 Auch Gerhard überprüft und widerlegt in seinen Quodlibeta die verschiedenen Einwände, der Wille sei eine passive Potenz. Gerhard gesteht zwar zu, dass der Wille vom Objekt her einen gewissen affektiven Einfluss aufnimmt und in dem Sinne der affektiven Veränderung einen passiven Aspekt hat. Aber die Aufnahme des affektiven Einflusses vom Objekt kann, darin liegt der wesentliche Punkt seiner Argumentation, keineswegs den eigentlichen und vollen Sinn der Willensbewegung abdecken, die durch die Überlegung erfolgt. Der Wille heißt im eigentlichen Sinne eine aktive Potenz, sofern er die Überlegung selbst bewirkt, während der Einfluss, welcher der passiven Willensaffektion entspricht, nur eine metaphorische Bewegung genannt wird.13 So fuhrt das Bestehen der voluntaristischen Willenstheoretiker auf der Sonderstellung des Willens dazu, dass sie die passive Bestimmung des Willens eindeutig bestreiten. Zu dieser franziskanischen Verneinung der Willenspassivi-
10
V g l . Z ) e v e r . , q . 24, a. 2, c.
11 Vgl. Qu. disp., q. 4, ag. 3; ad 3. 12 13
Vgl. ebd.; q. 4, ad 14. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, ad 2. (S. 117)
142
Die Selbsterklärung des Thomas
tät steht die thomasische Position kontradiktorisch entgegen. Die Stellungnahme des Thomas zur passiven Willensbestimmung kann man vor allem in De veritate q. 22, a. 12 beobachten, wo die Willenspassivität als ein Einwand gegen die Bewegung des Verstandes durch den Willen vorgebracht wird. Der Einwand ist wie folgt zu rekonstruieren: Jede passive Potenz wird von ihrem Objekt bewegt. Der Wille ist aber passive Potenz, bzw. das bewegte Bewegende. Deshalb wird der Wille von seinem Objekt, d.h. vom erfassten Guten bewegt. Der Schluss des Einwandes ist also, dass die Erkenntniskraft den Willen bewegt und nicht umgekehrt. 14 In seiner kurzen Antwort bestreitet Thomas nicht die Annahme, der Wille sei eine passive Potenz. Er verdeutlicht nur die finale Bedeutung der Willensbewegung durch den Verstand.15 Wir können dieser Antwort entnehmen, dass Thomas den Begriff der passiven Potenz nicht fur denjenigen gehalten hat, der im Widerspruch zur Aktivität und Freiheit des Willens steht. Der Einwand, der aus der passiven Bestimmung des Willens die Unmöglichkeit der aktiven Bewegungskraft des Willens zu schlussfolgern versucht, wird ja nicht durch die Leugnung der Willenspassivität, sondern durch die strenge Einschränkung der Bedeutung der Passivität widerlegt. Aus dem bislang Dargelegten können wir unschwer erkennen, dass die voluntaristischen Willenstheoriker und Thomas den Begriff der Passivität des Willens nicht auf die gleiche Weise verstehen. Demnach wäre es nur ein oberflächlicher Vergleich, wenn wir uns mit der einfachen Aussage zufrieden geben, dass Thomas die Willensbestimmung als passive Potenz zugestanden hat, aber Walter wie Gerhard sie dagegen abgelehnt haben. Es ist viel wichtiger zu berücksichtigen: Der Begriff der Passivität ist bei Walter und Gerhard insofern nicht mit der aktiven oder freien Tätigkeit einer Potenz verträglich, als er mit der Implikation von notwendigem Bewegtwerden durch eine überwältigende Wirkkraft verbunden ist. Aus der Willensbestimmung als passiver Potenz ergibt sich, so meinen die voluntaristischen Willenstheoretiker, dass es keinen Raum für die Aktivität des Willens im eigentlichen Sinne gibt, oder wenigstens, dass die Aktivität des Willens benachteiligt wird. Einen solchen Begriff der Passivität, deren Ablehnung der entscheidende Punkt der Freiheitsbegründung ist, will
14
15
Vgl. De ver., q. 22, a. 12, ag. 3. „Omnis potentia passiva movetur a suo obiecto. Sed voluntas est potentia passiva; est enim appetitus movens motum, ut dicitur in III De Anima. Ergo movetur a suo obiecto. Sed obiectum eius est bonum intellectum vel apprehensum, ut dicitur in III de Anima. Ergo intellectus, aut alia vis apprehensiva, movet voluntatem, et non converso." Vgl. ebd., ad 3. „...ratio ilia ostendit quod intellectus movet per modum finis; hoc enim modo se habet bonum apprehensum ad voluntatem."
Der Kontext der Frage nach der Selbstbewegung des Willens
143
aber Thomas nicht verwenden. Thomas sieht keinen Grund, die Bestimmung des Willens als eine passive Potenz, bzw. ein bewegtes Bewegendes zu widerlegen, da er die Passivität nicht als inkompatibel mit der aktiven und freien Fähigkeit des Willens ansieht, die Bewegung der anderen Seelenpotenzen seinerseits zu bewirken. Vielmehr ist die Passivität im finalen Sinne sogar unerlässlich vorauszusetzen, um die Verwirklichung der aktiven Wirkungsfahigkeit des Willens metaphysisch relevant zu erklären. So kann man auch zur Einsicht gelangen, dass die Passivität bei Thomas eine konstitutive Bestimmung für die Willensbewegung ist, während bei Walter und Gerhard die annehmbare Passivität nur auf den affektiven Aspekt in der Willensbewegung beschränkt wird. 1.2. Die Motivation der neuen Fragestellung des Thomas durch die voluntaristische Reaktion Wir haben bisher die Unterschiede zwischen der frühen thomasischen Freiheitslehre und der zeitgenössischen voluntaristischen Freiheitslehre in den wichtigen Punkten skizziert. Der so angestellte Vergleich verschafft uns das Fundament, auf dem wir wirklich eine Antwort auf die Frage nach dem historischen Entwicklungskontext der thomasischen Freiheitslehre suchen können. Zunächst gilt es aber zu klären, ob und wie sich die frühe thomasische Lehre der Willensfreiheit durch die Reaktion der voluntaristischen Willenstheoretiker in neue Bahnen bewegt hat. Aber weil wir die Freiheitslehre des Thomas nicht in seinen ganzen Werken untersucht haben, sind wir noch nicht in der Lage, diese Frage in ihrem vollen Umfang zu erledigen. Ob sich die Freiheitslehre des Thomas wirklich verändert hat, und wie sich die Freiheitslehre in den späten Werken des Thomas zur voluntaristischen Freiheitslehre der Zeitgenossen verhält, werden wir erst später behandeln. Unsere Aufgabe ist zunächst, den Zusammenhang der frühen Freiheitslehre des Thomas und der voluntaristischen Reaktion zu veranschaulichen. Diese Aufgabe ist als die folgende doppelte Frage zu formulieren: Erstens, zielt die Freiheitslehre in den Schriften Walters und Gerhards darauf ab, die frühen Werke des Thomas zu kritisieren? Mit anderen Worten: Kann die Freiheitslehre Walters und des Gerhards überhaupt als eine „Reaktion" gegen Thomas angesehen werden? Zweitens, hat Thomas seinerseits die Freiheitstexte Walters und Gerhards als Kritik an sich selbst betrachtet und von ihnen die Motivation rezipiert, die Kritik zu erwidern? Man muss bemerken, dass die jeweiligen Adressaten des Disputs nicht einfach festzustellen ist, da in den Texten der am Disput beteiligten Autoren über die anonymen Einwände hinaus keine explizite Angabe über die aktuellen gegnerischen Schriften gefunden wird. Die Untersuchung, die das konkrete Dis-
144
Die Selbsterklärung des Thomas
putsverhältnis rekonstruieren will, muss daher zunächst auf die chronologische und situative Wahrscheinlichkeit angewiesen sein. In dieser Hinsicht wird behauptet, dass Walter in seinen Quaestiones disputatae gegen die These des Thomas in De veritate polemisiert. Lottin, einer der bedeutendsten Erforscher der thomasischen Freiheitslehre, ist der Meinung, dass Walter den Text von De veritate gehabt hat, als dieser seine Quaestiones disputatae geschrieben hat.16 Das ist zwar im das liberum arbitrium thematisierenden Teil der Quaestiones disputatae Walters nicht genau zu ermitteln, aber Lottin weist darauf hin, dass in der Quaestio des Walters über das Gewissen manche thomasische Thesen von De veritate abgeschrieben sind.17 Wir können der Forschung Lottins zufolge die Annahme für sehr wahrscheinlich halten, dass Walter die Werke des Thomas gelesen hatte und sie ins Auge gefasst hat, als er seine Quaestiones über die Willensfreiheit verfasst hat. Aber uns ist es viel wichtiger, die inhaltliche Bezogenheit der Texte zu analysieren und gerade dadurch die Antwort auf die oben genannte Frage zu suchen. Als Ausgangspunkt der Untersuchung kann die Frage gelten, was der Gegenstand der Kritik der voluntaristischen Willenstheoretiker war. Die Überschriften und die Einwände der Quaestiones Walters zeigen offenbar, dass die Gegner Walters im allgemeinen diejenigen sind, welche die notwendige Willensdetermination durch das Objekt behaupten und demnach endlich die menschliche Freiheit beseitigen. Man kann nun ohne weiteres feststellen, dass der Hauptgegenstand der Kritik Walters - wenn man annimmt, dass Walter die Traktate des Thomas nicht vollkommen missverstanden hat - nicht Thomas sein kann; auch Thomas verwirft in seinen frühen Werken sehr heftig die notwendige Bewegung des Willens beim Entscheiden. Die thomasische Position kann auch bei Gerhard nicht das unmittelbare und hauptsächliche Ziel der Kritik sein, welcher die Position angreift, dass der Wille eine passive Potenz und von seinem Objekt determiniert sei. Thomas hat zwar gedacht, dass der Wille als eine passive Potenz angenommen werden kann, aber seine Konzeption der passiven Potenz fuhrt weder dazu, die Aktivität des Willens zu tilgen oder auch nur zu mindern, noch die freie Determinationsbewegung des Willens zu verneinen, wie Gerhard mit der zu widerlegenden Passivitätsbestimmung gemeint hat. So steht es außer Frage, dass Thomas und die beiden voluntaristischen Willenstheoretiker darin einig sind, im Kampf gegen die deterministische Willenslehre die Freiheit des menschlichen Willen zu vertreten. Das Problem liegt 16 17
Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 243. Vgl. ebd.; Psychologie et morale II, S. 238f.; Quaestiones disputatae, q. 10. (ed. Longpre, S. 91f.)
Der Kontext der Frage nach der Selbstbewegung des Willens
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jedoch darin, dass die Lehre der thomasischen frühen Freiheitstraktate als sekundäres Angriffsziel ins Blickfeld der voluntaristischen Kritiker eintreten konnte, sofern sie durch verschiedene Strategien das gemeinsame Ziel zu erreichen gesucht haben. Die voluntaristischen Willenstheoretiker sehen nämlich die Ursache für den deterministischen Irrtum darin, dass die Gegner den Willen als „movens motum" bestimmen und die Willensbewegung gemäß dem aristotelischen Bewegungsbegriff zu interpretieren versuchen. Nach Walter und Gerhard ist es für die eigentliche Begründung der Freiheit entscheidend, die Selbstbewegung als Wesensmerkmal der Willenspotenz deutlich zu machen und dadurch den Willen aus dem Nexus der Bewegungen, die den aristotelischen Begriff betreffen, herauszuziehen.18 Jede Beschreibung des Willens als passive Potenz erscheint dem strengen franziskanischen Kritiker als ein Irrtum, der den Willen auf das Niveau einer von außen her notwendig angetriebenen physischen Bewegungen degradiert. Die Tatsache, dass Thomas in seinen frühen Werken die passive Willensbestimmung prinzipiell anerkennt und die Selbstbewegung des Willens, wenn er auch diese nicht einmal leugnet, nicht ausdrücklich thematisiert und erklärt, erweckt, so können wir wohl schließen, bei den franziskanisch ausgerichteten Kritikern den Eindruck, als ob Thomas den Prinzipien der aristotelischen Psychologie „kritiklos" anhinge und seine Willenslehre für die vollständige Widerlegung der deterministischen Freiheitsverneinung ungenügend wäre.19 Es ist nicht schwierig zu vermuten, dass Walter und Gerhard mit derjenigen Begründung der Willensfreiheit in De veritate nicht
18
19
Hier müssen wir uns in Erinnerung zurückrufen, dass Walter und Gerhard der Willensbewegung die Gültigkeit des aristotelischen Bewegungsaxioms absprechen. Gerhard behauptet explizit, dass das Bewegungsaxiom nicht allgemeingültig ist. Vgl. Quodl., XVIII, q. 2, ad 1. Und obwohl Walter nicht explizit die Allgemeingültigkeit des Bewegungsaxioms verneint, wird sie inhaltlich gesehen am Ende aufgegeben. Vgl. Qu. disp., q. 4, ad 5. Andererseits können wir wohl annehmen, dass die kritische Atmosphäre unter den Magistern der Theologie gegen den Aristotelismus bereits in den frühen Werken des Thomas auf seine Textbeschreibung einen gewissen Einfluss ausgeübt hat. In den früheren Werken des Thomas fällt nämlich auf, dass er extrem selten den Willen direkt als passive Potenz prädiziert, obwohl sich der Wille im inhaltlichen Kontext zweifelsfrei als passive Potenz darstellt. Vgl. Kapitel II, Anmerkung 82. Den Grund für diese Zögerlichkeit der expliziten und direkten Bestimmung kann man wahrscheinlich in der gerade erwähnten Einstellung der franziskanischen Kritiker sehen. Thomas war sich nämlich wohl bewusst, dass die zeitgenössischen konservativen Theologen ein allgemeines Gegengefühl gegen die Willensbestimmung als passive Potenz hatten, und demnach wollte er darauf aufpassen, dass sein Gedanke nicht in den Verdacht eines deterministischen Aristotelismus gerät. Deswegen hat er sich viel mehr darum bemüht, die Bedeutung der Passivität genau abzugrenzen, als die Willensprädikation der passiven Potenz einfach zuzugeben.
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Die Selbsterklärung des Thomas
zufrieden sein können, welche auf der am reflexiven Vernunfturteil deutlich zu erkennenden Rationalität der Willensbewegung beruht, statt die Selbstbewegung des Willens unmittelbar hervorzuheben. Gerade darin findet man den Grund, die Freiheitstraktate Walters und Gerhards auch als „Reaktionen" gegen Thomas zu interpretieren. Sie haben nämlich durch ihre Kritik an der deterministischen Willenslehre das thomasische Argument für die Willensfreiheit ersetzen wollen, welches ihnen im Grunde genommen die ähnliche Gefahr eines deterministischen Aristotelismus zu enthalten schien. Der fundamentale Standpunkt der franziskanischen Kritiker spiegelt sich in den Thesen der Verurteilung am 10. Dez. 1270 wider, welche Etienne Tempier, der Bischof in Paris, gegen den zunehmenden Einfluss des Averroismus proklamiert hat. Die verurteilte dritte und neunte These lauten: „Der Wille des Menschen will und wählt aus Notwendigkeit", und „Die freie Entscheidung ist nicht aktive, sondern passive Potenz, und sie wird vom Erstrebenswerten notwendig bewegt."20 Es ist im allgemeinen bekannt, dass diese Thesen wie die anderen verurteilten Thesen der Lehrmeinung der averroistischen Meister in der Artistenfakultät an der Pariser Universität entspringen.21 Es wäre ohne Zweifel eine übertriebene Interpretation, wenn man meinen würde, dass mit diesen Thesen die Lehre des Thomas verurteilt wurde, denn Thomas hat nirgendwo eine solchen Thesen entsprechende Meinung geäußert.22 Demzufolge kann auch Thomas seinerseits weder gedacht haben, dass er selbst durch die franziskanischen Kritiker oder durch die Verurteilung 1270 direkt angegriffen wurde, noch dass er seine bisherige Position vollständig umgestalten muss, um sich dem Angriff der Gegner entziehen zu können.23 Allerdings können wir wohl anneh-
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„3. Quod voluntas hominis ex necessitate vult vel eligit." „9. Quod liberum arbitrium est potentia passiva, non activa; et quod necessitate movetur ab appetibili." (Mandonnet, a.a.O., S. 111.) Weisheipl, Friar Thomas d'Aquino, S. 252. Weisheipl stellt auch fest, dass die verurteilte These mit der Lehre des Thomas nichts zu tun hat. Vgl. a.a.O., S. 254f. Dagegen behauptet J. Keenan, ausgehend von der falschen Voraussetzung, dass die genannten zwei verurteilten Thesen zur Lehrmeinung des Thomas gehören, dass Thomas nach der Ankunft in Paris 1269 gemerkt hat, seine Position werde von der Kirche verurteilt und von den Averroisten vertreten. Thomas sei deswegen dazu gezwungen gewesen, so behauptet Keenan, seine frühere Lehre, die averroistisch-deterministisch ausgerichtet war, zur neuen Lehre, die nun in der Linie Gerhards steht, völlig umzuwandeln. Vgl. J. F. Keenan, Goodness and Rightness in Thomas Aquinas's Summa Theologiae, S. 40. Diese übertriebene Interpretation, die dadurch erreicht wird, dass man die sogenannte Lehrveränderungsthese Lottins radikalisiert, beruht aber auf einem einseitigen und nicht relevanten Verständnis der thomasischen Texte, was wir später noch näher diskutieren werden.
Der Kontext der Frage nach der Selbstbewegung des Willens
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men, dass die Reihe der Kritiken am averroistischen Determinismus Thomas eine gewisse neue, und zwar dringende Aufgabe gestellt hat. Angesichts der von der anderen Denkrichtung dargestellten Determinismuskritik, nämlich angesichts der Aufforderung, die Willensbestimmung als eine passive Potenz völlig aufzugeben und den Willen von dem Bereich, auf den die aristotelischen Prinzipien anzuwenden sind, streng zu trennen, muss Thomas seine bisherige Position noch deutlicher machen. Die neue Aufgabe des Thomas ist nichts anderes als eine Selbsterklärung darüber, dass er die Autonomie des Willens gegenüber dem Verstand, bzw. die Fähigkeit des Willens zur Selbstdeterminierung keineswegs bestreitet, sondern auf seine eigene Weise dafür plädiert. Zu der Aufgabe gehört wesentlich auch die positive Erklärung, dass die Anlehnung an die philosophischen Prinzipien des Aristoteles nicht notwendig dazu fuhrt, die Anerkennung der Willensautonomie zu verhindern. Die bloße Abgrenzung der finalen Bedeutung der Willenspassivität ist jetzt nicht zureichend, damit sich die Freiheitsbegründung des Thomas angesichts der voluntaristischen Kritik weiter behaupten kann. Wir haben somit die Antwort auf die oben gestellte zweite Frage: Obwohl Thomas sich nicht selbst als den Hauptgegenstand der voluntaristischen Kritiker verstanden haben kann, hat er infolge der Determinismuskritik Walters und Gerhards die Motivation erhalten, das Problem, das er in De veritate prinzipiell positiv beantwortet, aber noch nicht ausfuhrlich thematisiert hat, deutlich zu erörtern, nämlich das Problem, ob und inwiefern der Wille unabhängig von Vernunfturteil sich selbst bewegen kann.2* Zusammenfassend kann man die
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Die Annahme, dass die franziskanische Determinismuskritik auch Thomas zu einer gewissen Selbsterklärung motivitiert hat, kann durch die situative Wahrscheinlichkeit bekräftigt werden. Die Verurteilung der dreizehn Thesen wurde offiziell im Dezember 1270 promulgiert, aber Weisheipl weist in seinem Buch darauf hin, dass bereits vor der Verurteilung die Liste der bald zu verurteilenden Thesen an der Pariser Universität weit herumgereicht wurde. Vgl. Weisheipl, a.a.O., S. 255. Thomas muss diese Liste und auch die Quodlibeta Gerhards, der damals eine der einflussreichsten und bekanntesten Personen an Pariser Universität war, gelesen haben, als er mit den Quaestiones über den Willen im zweiten Teil seiner theologischen Summe angefangen hat. Glorieux ermittelt, dass die Quodlibeta XIV Gerhards - nach dem vatikanischen Manuskript ist sie als Quodlibeta XVIII numeriert - , die den menschlichen Willen thematisiert, von 1269 datiert, und zwar aufgrund des Vergleichs mit dem thomasischen Werk. Vgl. Glorieux, La litterature quodlibetique de 1260 ä 1320, S. 111; Lottin, Psychologie et morale I, S. 248. Auch die Editor der Leonina Ausgabe stimmt dieser Datierung zu. Vgl. Preface in Opera omnia S. Thomae de Aquino (ed. Leonina) Bd. 23, S. 4. Die ersten fünf Quaestiones der Prima secundae scheinen zwar in Italien verfasst worden zu sein, bevor Thomas nach Paris aufbrach, aber die übrigen Quaestiones der Prima secundae wurden ohne Zweifel nach der Ankunft des Thomas an
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Die Selbsterklärung des Thomas
Entwicklung der thomasischen Freiheitslehre in Hinsicht auf eine doppelte Front auffassen. Thomas muss mit den Schülern Bonaventuras wie mit den Theologen der Kirche gemeinsame Front gegen die heidnischen Lehrmeinung der averroistischen Determinismus machen, um die christliche Glaubenslehre apologetisch zu vertreten. Innerhalb dieser Hauptfront versucht er aber gegen die aristotelesfeindliche Kritiklinie der franziskanischen und voluntaristischen Willenstheoretiker seinen eigenen Weg zu gehen, indem er zeigt, dass die Philosophie des Aristoteles nicht im Widerspruch zur christlichen Glaubenslehre von der menschlichen Freiheit steht. Die Verurteilung 1270 war für Thomas das entscheidende Moment, wodurch sich die zweite Front in den Vordergrund schob, wobei aber auch die erste Fronte natürlich nicht vernachlässigt wurde.25 Nun rückt das Problem der Selbstbewegung des Willens ins Zentrum der thomasischen Erörterung der menschlichen Willensfreiheit.
die Pariser Universität in der Verwirrung des geistigen Konflikts geschrieben, in dem sich Thomas nicht nur mit den lateinischen Averroisten und mit den stark augustinisch ausgerichteten franziskanischen Magistern, sondern auch mit den mendikantenordenfeindlichen Angriff Gerhards auseinandersetzen musste. Außer der situativen Wahrscheinlichkeit, die auf den chronologischen und historischen Daten fundiert ist, überzeugt uns auch die formale Struktur der Summa theologiae von der fraglichen Annahme. In Prima secundae greift nämlich Thomas die Frage wieder auf, die er schon in der Prima Pars erörtert hat. So kann man Quaestio 82 der Prima pars auf Quaestio 10 der Prima secundae beziehen, und Quaestio 83 der Prima pars auf Quaestio 13 der Prima secundae, obwohl die Fragenfelder in den beiden Teilen nicht genau übereinstimmen. Die inhaltlichen Überschneidungen sind wie folgt zusammenzufassen: (1) Sum. theol. I, q. 82, a. 1 [utrum voluntas aliquid ex necessitate appetat] und Sum. theol. III, q. 10, a. 1 [utrum voluntas ad aliquid naturaliter moveatur]. (2) Sum. theol. I, q. 82, a. 2 [utrum voluntas ex necessitate omnia velit quaecumque vult] und Sum. theol. I-II, q. 10, a. 2 [utrum voluntas moveatur de necessitate a suo obiecto]. (3) Sum. theol. I, q. 83, a. 1 [utrum homo sit liberi arbitrii] und Sum. theol. I-II, q. 13, a. 6 [utrum homo ex necessitate eligat vel libere], (4) Sum. theol. I, q. 83, a. 3 [utrum liberum arbitrium sit potentia appetitiva] wie auch a. 4 [utrum liberum arbitrium sit alia potentia a voluntate] und Sum. theol. I-II, q. 13, a. 1 [utrum electio sit actus voluntatis vel rationis]. Diese bemerkenswerten Parallelen - besonders die zweite und die dritte Parallele - deuten wohl an, dass Thomas angesichts der franziskanischen Determinismuskritik seine Argumente für die Freiheit des Willens in neuer Hinsicht wieder gestalten musste. 25 Dieser Zusammenhang zeigt sich auch darin, dass Thomas in seinen späten Werken die 1270 verurteilten Thesen fast wörtlich wieder aufgreift. So lautet die Überschrift der sechsten Quaestio in De malo „utrum homo habeat liberam electionem suorum actuum, aut ex necessitate eligat," und als den siebten Einwand erwähnt Thomas, „voluntas est potentia passiva, et velle est pati... Ergo videtur quod voluntas de necessitate moveatur ab appetibili." Diese entsprechen offensichtlich jeweils der dritten und der neunten These der Verurteilung 1270.
Die Willensfreiheit als Selbstbewegung des Willens
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2. Die Willensfreiheit als Selbstbewegung des Willens 2.1.
Die strukturelle Erschließung der Selbstbewegung des Willens
(1) Die Analyse der inneren Struktur des Willensaktes Um die Selbstbewegung des Willens zu untersuchen, kann man der Frage nach der kausalen Struktur der Willensbewegung nicht ausweichen. Die Frage ist aber schon in De veritate und im ersten Teil der theologischen Summe intensiv thematisiert worden, wobei als Hauptpunkt der Einsicht behauptet wurde, dass die Ursächlichkeit des Willens und die des Verstandes der Bedeutung nach unterschieden sind und diese Unterschiedlichkeit die schlichte Willensbewegung als ein Zusammenwirken der beiden Potenzen und die Wechselbewegung der beiden Potenzen ermöglicht. Diesen Ansatz greift Thomas in De malo q. 6 und in Summa theologiae I-II wieder auf und entwickelt ihn zur deutlicheren Analyse der inneren Struktur des Willensaktes, und zwar unter der expliziten Fragestellung, ob der Wille durch sich selbst bewegt wird. Die thomasische Analyse geht davon aus, dass der Akt des Willens wie jeder Akt der anderen Seelenpotenzen unter zwei Gesichtspunkten, bzw. unter dem subjektiven und dem objektiven Gesichtspunkt betrachtet werden kann. Der Willensakt muss nämlich von der subjektiven Seite vollzogen werden und von der objektiven Seite zum bestimmten Inhalt determiniert werden. Das wirkliche Wollen enthält also immer in sich ein unmittelbares Erwecken oder Hervorbringen der Wirklichkeit selbst und zugleich eine spezifische Orientierung auf ein bestimmtes Objekt. Diesen doppelten Aspekt des Willensaktes drückt Thomas mit den Begriffen „Vollzug oder Ausübung des Aktes (exercitium vel usus actus)" und „Spezifikation oder Determination des Aktes {specificatio vel determinatio actus)" aus.26 Entsprechend diesen zwei Aspekten der Bewegung,
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De malo, q. 6, c. „Considerandum est quod potentia aliqua dupliciter movetur: uno modo ex parte subiecti; alio modo ex parte obiecti. Ex parte subiecti quidem, sicut visus per immutationem dispositionis organi movetur ad clarius vel minus clare videndum; ex parte vero obiecti, sicut visus nunc videt album nunc videt nigrum; et prima quidem immutatio pertinet ad ipsum exercitium actus, ut scilicet agatur vel non agatur aut melius vel debilius agatur: secunda vero immutatio pertinet ad specificationem actus, nam actus specificatur per obiectum."; Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c. „Duplicitur autem aliqua vis animae invenitur esse in potentia ad diversa: uno modo quantum ad agere vel non agere; alio modo quantum ad agere hoc vel illud; sicut visus quandoque videt actu, et quandoque non videt; et quan-
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Die Selbsterklärung des Thomas
bzw. den zwei Weisen der Aktuierung ist auch die Willenspotenz im doppelten Sinne zu verstehen. Dass der Wille in der Potenz steht, kann einerseits „Willensakt ausüben können" und andererseits „auf dies oder jenes Objekt gerichtet werden können" bedeuten. Sowohl die Willenspotenz als auch der davon ausgehende Akt lassen sich also nach Thomas nicht durch einen eindeutigen Begriff der Bewegung auslegen. Die Einsicht in die doppelte Bedeutung der Willenspotenz spielt die konstitutive Rolle in der neunten Quaestio der Prima secundae, wo sich Thomas mit der Frage nach dem Beweggrund des Willens (motivum voluntatis) beschäftigt. Man kann zunächst ohne weiteres feststellen, dass im Sinne der Spezifikation oder der Determination der Beweggrund des Willensaktes keineswegs im Willen selbst zu finden ist, da der qualitative und spezifische Inhalt des Wollens dem Willen nur durch den Verstand vermittelt werden kann. In diesem Sinne wird der Wille offenbar vom Verstand bewegt, was Thomas im ersten Artikel der neunten Quaestio darlegt.27 Aber andererseits kann ein vom Verstand vermittelter objektiver Inhalt nur insofern zum Inhalt des Wollens werden, als der Wille, der das Gute als sein eigentümliches Objekt hat, die Willensbewegung zur Gutheit dieses Inhaltes vollzieht. In dem Sinne des Vollzugs ist also der Grund für die Bewegung nicht anderswo zu suchen als im Träger des Tätigkeitsvermögens, d.h. im Willen selbst. In diesem Sinn kann man zugestehen, dass der Wille sich selbst zu seinem Akt bewegt. Beachtenswert ist es aber, dass diese thomasische Analyse der Beweggründe in der Willensbewegung durchaus auf dem Nachdenken über die metaphysische und kausale Bedeutung der Formalobjekte des Verstandes und des Willens beruht. Mit der Bewegung des Willens durch den Verstand meint Thomas den folgenden Gedanken: Wie bei den Naturdingen der Akt durch die Form determiniert wird, wird die Willensbewegung, die der Akt des Willens als einer geistigen Potenz ist, durch das erfasste Gute (bonum intellectum) zum spezifischen Inhalt bestimmt.28 Der Verstand bewegt also wie eine Formursache den Willen. Der Grund dafür liegt nach Thomas in der Tatsache, dass das Objekt des Verstandes, d.h. das Seiende und das Wahre, als das erste Prinzip im Gattungsbe-
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doque videt album, et quandoque videt nigrum. Indiget igitur movente quantum ad duo, scilicet quantum ad exercitium vel usum actus, et quantum ad determinationem actus; quorum primum est ex parte subiecti, quod quandoque invenitur agens, quandoque non agens; aliud autem est ex parte obiecti, secundum quod specificatur actus." Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c; ad 3. Vgl. De malo, q. 6, c; Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c. „Sed obiectum movet determinando actum principii formalis, a quo in rebus naturalibus actio specificatur, sicut calefactio a calore."
Die Willensfreiheit als Selbstbewegung
des Willens
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reich der Formursache (primum principium in genere causae formalis) gilt.29 Jedes Gute und Erstrebbare wird vom Verstand erfasst, sofern es als eine Form unter das Wahre fällt, und vom erfassten Guten als einer erfassten Form wird der Willen „informiert", worauf er sich richtet. Aber zum anderen gilt das Objekt des Willens, d.h. das Gute, als das erste Prinzip im Gattungsbereich der Zielursache, während das Objekt des Verstandes das erste Prinzip in der Formursache ist.30 Und das Ziel ist das Prinzip für die Bewegung im Sinne des Vollzugs des Aktes, denn der Bewegungsakt wird immer aufgrund des Ziels vollzogen. Deswegen kommt Thomas zur Einsicht, dass der Wille fähig ist, die Seelenpotenzen „auf der Seite des Vollzugs des Aktes (ex parte exercitii actus)" oder „aufgrund des Ziels (ex ratione finis)" zu bewegen. 31 Da das Ziel oder die Vollkommenheit jeder Potenz als ein partikulares Gutes unter das Objekt des Willens fällt, kann der Wille im Sinne der Vollzugs des Aktes die anderen Potenzen bewegen, wie Thomas sagt: „Wir gebrauchen die anderen Seelenpotenzen, weil wir es wollen." 32 Hierfür erwähnt Thomas das bereits in früheren Werken fur die Verstandesbewegung durch den Willen vorgelegte Argument, dass die Potenz, die um des einzelnen und untergeordneten Ziels willen wirkt, durch die sich auf das universale und höhere Ziel beziehende Potenz in Bewegung gesetzt wird.33 Die Selbstbewegung des Willens erfolgt gerade aus diesem
29 Vgl. De malo, q. 6, c. „Si autem consideremus obiecta voluntatis et intellectus, inveniemus quod obiectum intellectus est primum principium in genere causae formalis, est enim eius obiectum ens et verum."; Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c. „Primum autem principium formale est ens et verum universale, quod est obiectum intellectus." 30 Vgl. De malo, q. 6, c. „Sed obiectum voluntatis est primum principium in genere causae finalis, nam eius obiectum est bonum, sub quo comprehenduntur omnes fines, sicut sub vero comprehenduntur omnes formae apprehensae." 31 De malo, q. 6, c. „Si autem consideremus motus potentiarum animae ex parte exercitii actus, sie principium motionis est ex voluntate"; Sum. theol. I-II, q. 9, a. 3, c. „...ad voluntatem pertinet movere alias potentias ex ratione finis, qui est voluntatis obiectum." 32 Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c. „Utimur enim aliis potentiis, cum volumus. Nam fines et perfectiones omnium aliarum potentiarum comprehenduntur sub obiecto voluntatis sicut quaedam particularia bona."; De malo, q. 6, c. „Utor omnibus potentiis et habentibus quia volo." 33 Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c. „Et inde est quod ars ad quam pertinet finis movet suo imperio artem ad quam pertinet ad quod est ad finem; sicut gubernatoria ars imperat navifactivae, ut in Physic, dicitur."; De malo, q. 6, c. „Nam semper potentia ad quam pertinet finis principalis, movet ad actum potentiam ad quam pertinet id quod est ad finem; sicut militaris movet frenorum factricem ad operandum, et hoc modo voluntas movet se ipsam et omnes alias potentias."
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Die Selbsterklärung des Thomas
Grund, d.h. in der Weise, dass das aktuale Wollen des höheren Ziels das Wollen des dem Ziel untergeordneten Mittels erweckt.34 Wenn erklärt wird, dass gemäß dem doppelten Aspekt des Willensaktes der Wille und der Verstand als jeweils verschiedene Ursache für die Willensbewegung funktionieren, so wird es nun einsichtig, dass es sich nicht mehr um die alternative Frage handelt, ob der Wille durch sich selbst oder durch den Verstand bewegt wird. Die Bestimmung der Selbstbewegung und die der passiven Bewegung durch den Verstand sind in einer einheitlichen Willensbewegung nicht unvereinbar zu verstehen,35 ebenso wenig die unterschiedlichen Bewegungen, bzw. die Bewegung des Verstandes durch den Willen und die Bewegung des Willens durch den Verstand.36 Thomas zielt ja mit der Analyse der zwei Aspekte des Willensaktes auf die Erklärung ab, wie sich die wechselseitigen Bewegungen zwischen dem Willen und dem Verstand zum einheitlichen Akt des Wollens vereinigen können.37 Aber ist eine solche Analyse, auf der die thomasische Lehre von der Selbstbewegung des Willens gründet, doch nicht bereits in seinen früheren Werken vorweggenommen worden? Auch in den früheren Werken hat nämlich Thomas die Wechselbewegung des Willens und des Verstandes von ihrem metaphysischen Grund her thematisiert und somit erhellt, dass an der Willensbewegung sowohl der Wille als auch der Verstand mit der jeweiligen Ursächlichkeit beteiligt sind. In welchem Sinn kann man dann die Lehre von der Selbstbewegung des Willens als eine „neue" Lehre ansehen? Worin liegt der Unterschied zwischen der frühen Lehre von der Wechselbewegung des Willens und des Verstandes und der gerade dargelegten späten Analyse der Willensbewegung? Um auf diese Frage zu antworten, müssen wir nun genau untersuchen, wie Thomas nach der franziskanischen Kritik
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Vgl. De malo, q. 6, ebd. „... et hoc modo voluntas movet se ipsam et omnes alias potentias." Thomas legt also auch hier wie in der Prima pars seinem Gedanken von der Wechselbewegung zwischen Willen und Verstand und von der Selbstbwegung des Willens den metaphysischen Grundsatz zugrunde, dass das Wahre und das Gute konvertibel ist. „Unde et ipsum bonum, inquantum est quaedam forma apprehensibilis, continetur vero quasi quoddam verum; et ipsum verum, inquantum est finis intellectualis operationis, continetur sub bono ut quoddam particulare bonum."(ebd.); Sum. theol. I, q. 82, a. 4; Kapitel II, Anmerkung 88. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 3, ad 3. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 4; De ver., q. 22, a. 12. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 1, c und ad 3; q. 10, a. 2, c; De malo, q. 6, c. Nur wenn der Sinn der beiden Bewegungen unterschieden wird, wird es nämlich widerspruchslos erklärbar, dass die verschiedenen Bewegungen nicht zeitlich zirkulär oder sukzessiv, sondern zugleich in einem Akt erfolgen.
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seine frühere Perspektive auf die Willensbewegung verändern musste, um die Selbstbewegung des Willens darzulegen. (2) Erweiterung der Perspektive auf die Willensbewegung Der ausschlaggebende Punkt in der thomasischen Auffassung der Selbstbewegung des Willens, von welchem unsere weitere Untersuchung ausgehen soll, ist die Tatsache, dass der Willensakt zum höheren Ziel einen neuen Willensakt zum Mittel hervorbringt, genauso wie der Wille die Verstandespotenz bewegt.38 Bei der Selbstbewegung des Willens handelt es sich also nicht um ein separat betrachtetes, punktuelles Wollen, sondern eher um ein Wollen im komplexen und kontinuierlichen Erkenntnis- und Strebenszusammenhang des konkreten Menschenlebens. Daher ist es klar, dass die Selbstbewegung des Willens bloß mit dem Erklärungsmodell der einfachen Strukturiertheit aus zwei Ursachen - d.h. Zielursache und Wirkursache - in der einen Willensbewegung nicht mehr vergegenwärtigt werden kann.39 Während es bei diesem elementaren und vereinfachten Modell der Willensbewegung nur um diejenige Wirkursächlichkeit des in der Potentialität als erster Wirklichkeit stehenden Willens geht, die unter dem finalen Einfluss vom Verstand seinerseits die Bewegungswirklichkeit vermitteln kann, wird nämlich in der Selbstbewegung des Willens die sogenannte Wirkursächlichkeit des Willens insofern in Betracht gezogen, als der Wille in irgendeiner Hinsicht bereits aktuiert ist, bzw. als er bereits in zweiter Wirklichkeit steht. Zum anderen kann aber die Selbstbewegung des Willens bloß mit der formalen Anerkennung des wechselseitigen Bewegungsverhältnisses zwischen Willen und Verstand auch nicht vollständig erschlossen werden.40 Bei der Selbstbewegung des Willens wird nämlich der reflexive Bezug des Willens auf sich selbst als wichtig berücksichtigt. Die Anerkennung der Wechselbewegung setzt zwar die Unendlichkeit der Formalobjekte der beiden Potenzen voraus, und insofern deutet die Wechselbewegung in sich die reflexive Fähigkeit der beiden Potenzen an,41 aber die Einsicht in die Selbstbewegung des Willens kann nicht von der Verhältnisbestimmung der Wechselbewegung selbst aufgelöst werden. Erst wenn die reflexive Bewegung des Willens in der wechselseitigen und kontinuierlichen Bewegungskette deutlich hervorgehoben wird, kann
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Dies zeigt sich vor allem in Sum. theol. I-II, q. 9, a. 3, ad 2 offenkundig, „per hunc autem modum [= per actum voluntatis quo vult finem] movet seipsam." Siehe Kapitel II, 2-2, (1) Die Ursächlichkeit des Verstandes und des Willens. Siehe Kapitel II, 2-2. (2) Die Wechselbewegung des Willens und des Verstandes. Vgl. Kapitel II, Anmerkung 90 und 91.
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man die Bewegung des Willens als Selbstbewegung begrifflich erfassen. Die Strukturanalyse des Willensaktes in den späten Willenstraktaten des Thomas, nach der der Wille und der Verstand jeweils der Ziel- und der Formursache entsprechen, dient dazu, die Reflexivität und die Einheit der Willensbewegung im komplexen Ziel- und Willenskontext zu begreifen. Sie kann im Vergleich mit der frühen Perspektive auf die Willensbewegung wohl durch die folgenden Schemata rekonstruiert werden: [i-i] Verständnisschema der frühen Werke: die einfache Struktur der Willensbewegung Willenspotenz -4
Verstand
I Willensbewegung [i-ii] Verständnisschema der frühen Werke: Wechselbewegung der beiden Potenzen Wille +
» Verstand
[ii] Verständnisschema der späten Werken: Selbstbewegung des Willens
In der Erklärung über die Selbstbewegung des Willens wird die Perspektive so erweitert, dass die Willensbewegung nicht nur in ihrer elementaren und vereinfachten Strukturiertheit oder in der formalen Wechselbewegungsbestimmung mit dem Verstand erfasst, sondern im bestimmten Zielzusammenhang und in der darauf angewiesenen Aufeinanderfolge des Wollens besonders die reflexive
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Bezugsrichtung des den Akt vollziehenden Willens betrachtet wird. Die Selbstbewegung des Willens bedeutet nichts anderes als die reflexive Bewegung des Willens im Sinne des Aktvollzugs, die mit der lapidaren Aussage gemeint wird, dass wir wollen, weil wir es wollen.42 Das sogenannte Wollen des Wollens, das aufgrund des unendlichen Formalobjektsbereichs des Willens möglich ist, setzt aber, damit es überhaupt als eine konkrete Willensbewegung verwirklicht wird, das Erkennen dessen voraus, was endlich gewollt werden soll. Das Wollen des Ziels verursacht die Erwägung (consilium), bzw. das Nachdenken des Verstandes über das angemessene Mittel [= b], welche seinerseits für eine bestimmte Dauer erfolgt, und in dem Augenblick, wo wir das Urteil über das Mittel als Schluss der Erwägung erreichen, folgt diesem Urteil das neue Wollen, das aus der reflexiven Vollzugskraft des Willens und der spezifischen Bewegungsrichtung auf das erfasste Mittel besteht. Die Einheitlichkeit des Wollens in der zeitlichen Aufeinanderfolge der substantiell unterschiedenen Willens- und Verstandesakte wird als strenge Koinzidenz der reflexiven Bewegung des Willens [= a] und der Bewegung des Willens durch den Verstand [= c] begriffen. Dass die Ursächlichkeit des Willens- und des Verstandesvermögens, die in den frühen Werken jeweils im wirkenden und im finalen Sinne interpretiert wird, nun in Prima secundae und in De malo auf andere Weise beschrieben wird, ergibt sich aus der gerade dargestellten Erweiterung der Perspektive: Wenn wir eine bestimmte Willensbewegung vom weiteren Strebenszusammenhang separieren und in ihrer elementaren Form betrachten [i-i], muss die Zielursache, die als „Worumwillen" der Grund des Wirkens ist, dem Verstand zugeschrieben werden, der das zu erstrebende Objekt erkennt und es dem Willen vorlegt. Aber wenn wir die Willensbewegung im bestimmten Ziel- oder Strebenszusammenhang betrachten, wird die Zielursache dem Willen selbst, der bereits aktuell das höhere Ziel erstrebt, zugeschrieben, sofern der Wille seine Wirkkraft zum Wollen des Mittels aufgrund des aktuellen Wollens des Ziels hat. Dabei übernimmt der Verstand, indem er im Hinblick auf das gewollte Ziel über das gute und angemessene Mittel urteilt, die Rolle, dem Wirken des Willens die Form zu geben, durch welche dieses in eine bestimmte Richtung determiniert wird. Dass in den späten Willenstraktaten nicht mehr dem Verstand, sondern dem Willen die Zielursache zugeschrieben wird, besagt aber keinen Verzicht des Thomas auf das frühe Verständnis der Willensbewegung, denn die Analyse der Selbstbewegung des Willens enthält in sich sowohl das elementare und abstrakte Bewegungsmodell, nach dem der Wille durch den Verstand be-
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wegt wird, als auch das wechselseitige Bewegungsmodell, nach dem sie gegenseitig eingeschlossen sind. Die explizite Darlegung der Selbstbewegung des Willens deutet also keinen strengen Abbruch der frühen Willenslehre, sondern nur eine erweiterte oder verfeinerte Perspektive auf die Willensbewegung hin.
2.2. Begründung der Willensfreiheit in der Selbstbewegung des Willens (1) Die Begriffe der Freiheit des Vollzugs und der Freiheit der Spezifikation Thomas hat durch die Analyse der inneren Struktur des Willensaktes bisher dargestellt, dass der Wille im Sinne des Vollzugs des Aktes durch sich selbst bewegt wird, und dass im Vorgang der Selbstbewegung dem Willen die Zielursache und dem Verstand die Formursache zugeschrieben werden. Die Lehre von der Selbstbewegung des Willens ist aber der wichtigste Anhaltspunkt, von dem her Thomas in seinen späten Werken die Willensfreiheit in ihrem eigentlichen Sinne begründet. Von der Einsicht in die Selbstbewegung des Willens ausgehend müssen wir nun untersuchen, auf welche Weise die Freiheit des Willens in den späten Werken des Thomas begründet wird. Die Untersuchung kann wohl mit der Frage einsetzen, ob der Wille von seinem Objekt notwendig bewegt wird. In De malo q. 6 und in Prima secundae wird nämlich diese Frage als der rote Faden des ganzen Freiheitsproblems aufgegriffen, und Thomas versucht mit dieser Frage das zentrale Argument für die Willensfreiheit vorzubringen.43 Dabei wird die Indeterminiertheit des Willens, wie wir sehen werden, im Hinblick auf die doppelten Beweggründe des Willens, bzw. im Hinblick auf die doppelten Aspekte des Willensaktes erwiesen. So wie in den frühen Werken geht Thomas auch in den späten Freiheitstraktaten davon aus, dass der Begriff des Willens die naturhafte Neigung zum bestimmten Objekt nicht ausschließt. Wie die Prinzipien der intellektuellen Erkenntnis, bzw. die ersten Prinzipien fur den rationalen Beweisgang naturhaft erkannt werden, gehört auch zum Willen ein naturhaft gewolltes Objekt {aliquid naturaliter volitum) wie ein Prinzip der willentlichen Bewegungen. 44 Der Wille ist also zum Guten im allgemeinen oder zum letzten Ziel naturhaft geneigt, das sich zu den einzelnen Willensobjekten so verhält wie die Prinzipien
43 Vgl. De malo, q. 6, c; Sum. theol. I-II, q. 10, a. 2. 44 Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 1, c. „Et ideo necesse est, quod hoc modo accipiendo naturam, semper principium in his quae conveniunt rei sit naturale. Et hoc manifeste apparet in intellectu; nam principia intellectualis cognitionis sunt naturaliter nota. Similiter etiam principium motuum voluntariorum oportet esse aliquid naturaliter volitum."
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für den rationalen Beweisgang zu den weiteren erkennbaren Dingen.45 Darüber hinaus erwähnt Thomas die weiteren Dinge, nach denen der Wille naturhaft strebt, sofern er die Neigung des ganzen Menschen ist. Zu solchen Dingen rechnet er: das Leben, das Erkennen des Wahren, das Sein, die Gesundheit, die Freundschaft usw.46 Die Neigung zu diesen Objekten ist in erster Linie durch die substantielle Natur des Menschen bedingt. Aber diese Anerkenntnis der naturhaften Neigung des Willens besagt keinesfalls, dass der Wille in seinem Akt vom letzten Ziel notwendig determiniert ist. Der Grund ist zunächst in der Fähigkeit des Willens zu finden, von sich aus seinen Akt zu vollziehen oder nicht zu vollziehen. Wenn das letzte Ziel erkannt ist, das in aller Hinsicht als gut und angemessen erfasst wird, wird in der Hinsicht der Spezifikation des Aktes zwar gefolgert, dass sich der Wille zwar notwendig auf dieses universale Gute (beatitudo) richtet, aber in der Hinsicht des Vollzugs des Aktes ist es gänzlich dem Willen anheim gestellt, ob der Wille überhaupt einen Willensakt zu einem solchen Guten wirklich hervorbringt. Der Wille ist nämlich fähig, ein solches Gut nicht zu wollen, indem er darauf verzichtet, an es zu denken.47 Der Grund dafür, dass der Wille an das universale Gute nicht denken zu wollen vermag und somit ein solches Objekt nicht wirklich zu wollen vermag, liegt in der Tatsache, dass jeder Akt der Erkenntnis und des Willens als solcher etwas einzelnes und begrenztes Gutes ist, das den Willen nicht dazu nötigen kann, es zu wollen.48 Nach Thomas kann also die erwähnte Notwendigkeit in der Hinsicht der Spezifikation des Aktes bloß bedeu-
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Vgl. ebd. „Hoc autem est bonum in communi in quod voluntas naturaliter tendit, sicut etiam quaelibet potentia in suum obiectum, et etiam ipse finis ultimus, qui hoc modo se habet in appetibilibus, sicut prima principia demonstrationum in intelligibilibus." Vgl. ebd. „Non enim per voluntatem appetimus solum ea quae pertinent ad potentiam voluntatis, sed etiam ea quae pertinent ad singulas potentias et ad totum hominem. Unde naturaliter homo vult non solum obiectum voluntatis, sed etiam alia quae conveniunt aliis potentiis; ut cognitionem veri, quae convenit intellectui; et esse et vivere, et huiusmodi alia, quae respiciunt consistentiam naturalem."; Sum. theol. I-II, q. 1, a. 6, ad 1; ad 2; q. 5, a. 4, ad 2; Surrt, theol. III, q. 18, a. 1, ad 3; q. 18, a. 3, c. Vgl. De malo, q. 6, c. „Dico autem ex necessitate quantum ad determinationem actus, quia non potest velle oppositum; non autem quantum ad exercitium actus, quia potest aliquis non velle tunc cogitare de beatitudine."; Sum. theol. I-II, q. 10, a. 2, c. „Primo ergo modo voluntas a nullo obiecto ex necessitate movetur; potest enim aliquis de quocumque obiecto non cogitare, et per consequens neque actu velle illud." Vgl. De malo, q. 6, c. „.. .quia etiam ipsi actus intellectus et voluntatis particulares sunt."
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ten, dass der Wille etwas der Glückseligkeit Entgegengesetztes, bzw. etwas wie Elend nicht wollen kann.49 Somit ist es deutlich geworden, dass das letzte Ziel den Willen zwar in der Hinsicht der Spezifikation notwendig bewegt - in dem Sinne, dass der Wille die Glückseligkeit nicht nicht wollen kann, wenn sie erkannt ist - aber in der Hinsicht des Vollzugs keinesfalls notwendig bewegt - in dem Sinne, dass der Wille das Denken an sie auch nicht wollen kann.50 Wie verhält sich es dann mit dem einzelnen und endlichen Guten, d.h. mit dem Mittel, welches nicht das Objekt der naturhaften Zugerichtetheit, sondern das Objekt der präferentiellen Wahl ist? Dieses Objekt muss im Gegensatz zum letzten Ziel auch dann nicht gewollt werden, wenn seine Gutheit relevant überlegt und ausfindig gemacht wird. Gegenüber diesem Objekt ist daher der Willensakt nicht nur im Gesichtspunkt des Vollzugs des Aktes, sondern auch im Gesichtspunkt der Spezifikation des Aktes völlig indeterminiert. Auch wenn ein bestimmtes endliches Gut erkannt wird, ist es immer möglich, dass etwas anderes gewollt wird, weil jedes endliche Gute in irgendeiner Weise Mängel an Gutheit und Angemessenheit besitzt und demnach in gewisser Hinsicht etwas anderes als gut und angemessen erscheinen kann.51 Das konkrete Entscheiden oder Wählen wird also dadurch ermöglicht, dass verschiedene alternative Objekte, die nicht gleichwertig sind, gleichzeitig im Betrachtungsfeld auftreten. Aber wichtig ist, dass Thomas beim Erklären des spezifizierenden Wahlaktes die subjektive Rolle des Willens hervorhebt. Thomas macht nämlich hier deutlich, dass das Ergreifen (accipere)
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Vgl. De pot., q. 2, a. 3, c. „sicut voluntas humana non potest non velle beatitudinem, nec potest velle miseriam." Die naturhafte Neigung des Willens zum letzten Ziel nötigt also nicht als solche den Willen, den wirklichen Willensakt zu diesem Objekt dadurch zu vollziehen, dass er an dieses Objekt wirklich denken will. In diesem Punkt taucht ein bedeutender Unterschied zwischen der frühen und der späten Phase der thomasischen Freiheitsdarlegung auf. Während in den frühen Werken die Freiheit des Willens nur in Bezug auf die Entscheidung zwischen einzelnen Wahlmöglichkeiten thematisiert und demnach hauptsächlich in der Form der Entscheidungsfreiheit, bzw. in der Form des liberum arbitrium dargestellt wird, wird in den späten Werken zur Sprache gebracht, dass dem Willen die Möglichkeit offen ist, das letzte Ziel nicht wirklich zu wollen. Daher werden nun auch das letzte Ziel oder die Objekte des naturhaften Wollens offensichtlich in den Bereich der Willensfreiheit hineingezogen, was als ein charakterisches Merkmal des thomasischen Freiheitsgedanken in der späten Phase gelten kann. Vgl. Klubertanz, „The Root of Freedom in St. Thomas's Later works", in: Gregorianum XLII, 1 (1961), S. 714ff. Vgl. De tnalo q. 6, c. Der Mensch ist z.B. fähig, das Medikament nicht einnehmen zu wollen, obwohl es hinsichtlich der Gesundheit als gut und angemessen erkannt wird. Denn z.B. hinsichtlich des Genusses kann das Medikament, das ein endliches Gut ist, mangelhafter erscheinen als ein anderer Gegenstand.
Die Willensfreiheit als Selbstbewegung
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der objektiven Gutheit dem Willen zugeschrieben wird und demnach der Wille dem ihm vom Verstand vorgelegten Guten, sofern es nicht in jeder Hinsicht nur als gut anzusehen ist, zustimmen oder es zurückweisen kann.52 Dass etwas nur unter dem Gesichtspunkt des Guten im allgemeinen Sinne erfasst wird, ist nach Thomas nicht zureichend dafür, den Willen wirklich zu bewegen. Damit das Objekt den Willensakt artlich determinieren kann, muss es nicht nur als gut, sondern auch als angemessen für das strebende Subjekt im Einzelnen erscheinen.53 Außer dem letzten Ziel, das in jeder annehmbaren einzelnen Hinsicht als ein angemessenes Gut zu erfassen ist, sind also keine Objekte zur notwendigen Spezifikation des Willensaktes fähig, obwohl sie als etwas Gutes vom Verstand dem Willen vorgelegt werden. 54
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 2, c. „Alia autem quaelibet particularia bona inquantum deficiunt ab aliquo bono possunt accipi ut non bona; et secundum hanc considerationem possunt repudiari vel approbari a voluntate, quae potest in idem fern secundum diversas considerationes." Um zu begründen, dass der Wille in der Hinsicht der Spezifikation indeterminiert ist, kommt es also in erster Linie auf die Unterscheidung zwischen der allseitigen und allumfassenden Gutheit des Ziels und der begrenzten und endlichen Gutheit des Mittels an. Vgl. De malo, q. 6, c. „Unde si aliquod bonum proponatur quod apprehendatur in ratione boni, non autem in ratione convenientis, non movebit voluntatem. Cum autem consilia et electiones sint circa particularia, quorum est actus, requiritur ut id quod apprehenditur ut bonum et conveniens, apprehendatur ut bonum et conveniens in particulari, et non in universali tantum." Pesch weist daraufhin, dass das Objekt des Willens in thomasischen Texten sehr selten als „bonum et conveniens"' ausgedrückt wird, und will in der einschlägigen Stelle der 6. Quaestio des De malo ein voluntaristisches „Sondergut" sehen, welches sogar in Sum. theol. I-II nicht gefunden wird. Vgl. Pesch, a.a.O., S. 15f. Während der in den anderen Texten verwendete Begriff des conveniens nur die metaphysische Bezogenheit des Guten auf ein Streben impliziert, wird nur in De malo, wie Pesch zurecht anmerkt, durch die Wendung „bonum et conveniens" ein gewisser Gegensatz konstatiert, der aufgrund dessen besteht, ob ein Objekt für den Willen bewegungsmächtige Bedeutsamkeit besitzt oder nicht. Die sorgfaltige Erklärung über das „Sondergut" durch Pesch, durch das De malo q. 6 noch voluntaristischer aufgefasst wird als Sum. theol. I-II, ist als solche zwar sehr stichhaltig, aber wir möchten hier eher die strenge Inhaltsparallelität der beiden Texte betonen. Trotz einigen nicht übersehbaren Besonderheiten in De malo handelt es sich nämlich in beiden Texten um ein prinzipiell gleiches Argument in demselben Kontext, und die Besonderheiten in De malo sind nur insofern von Bedeutung, als sie dazu dienen, dieses gemeinsame Argument - genauer zu sagen, das Argument für die Indeterminiertheit des Willens in Hinsicht der Spezifikation des Aktes - zu bekräftigen und zu erweitern. Ebd. „Si ergo apprehendatur aliquid ut bonum conveniens secundum omnia particularia quae considerari possunt, ex necessitate movebit voluntatem... Si autem sit tale bonum quod non inveniatur esse bonum secundum omnia particularia quae considerari possunt, non ex necessitate movebit etiam quantum ad determinationem actus." Im gleichen Zu-
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(2) Freiheit des Willens in seinem einheitlichen Wahlakt Der Schluss aus dem bisher Dargelegten kann wie folgt zusammengefasst werden: Von keinem Objekt - d.h. weder vom letzten Ziel noch von den Mitteln wird dem Willen die Notwendigkeit auferlegt, es wirklich wollen zu müssen. Dem Willen kommen sowohl die sogenannte Freiheit des Vollzugs - in Bezug auf das universale Gute und in Bezug auf das endliche Gute - als auch die Freiheit der Spezifikation - in Bezug auf das endliche Gute - zu. Dieser doppelte Begriff der Freiheit, welcher der späten Freiheitslehre des Thomas im Ganzen zugrunde liegt, stellt die zwei wesentlichen Aspekte der Freiheit dar, die im konkreten Wahlakt dem Willen gegeben ist. Der Wille ist also gegenüber den möglichen Wahlobjekten sowohl in dem Sinne frei, dass er den Wollensakt überhaupt vollziehen oder nicht vollziehen kann, als auch, dass er dies oder jenes wollen kann. Um die Bedeutung des thomasischen Begriffs der doppelten Freiheit vollständig zu erfassen, haben wir aber den folgenden Punkt zu beachten. Der Punkt lautet, dass in diesem thomasischen Begriff nicht nur die prinzipielle
sammenhang sagt Thomas auch in Sum. theol. I-II q. 10, a. 2, c: „Unde, si proponatur aliquod obiectum voluntati quod sit universaliter bonum et secundum omnem considerationem, ex necessitate voluntas in illud tendit si aliquid velit; non enim poterit velle oppositum. Si autem proponatur ei aliquod obiectum quod non secundum quamlibet considerationem sit bonum, non ex necessitate voluntas fertur in illud." In Bezug auf die sogenannte Spezifikationsfreiheit gegenüber den partikulären Gütern legt Thomas in De malo q. 6 eine interessante Erklärung vor, warum ausgerechnet diese Gutheithinsicht - anstatt einer anderen Gutheithinsicht - zum Entscheidungsgrund des Willens wird. Thomas erwähnt folgende drei Gründe: Erstens, wenn eine Gutheithinsicht das Obergewicht hat, wird der Wille einfach der Vernunft entsprechend bewegt. Zweitens, man kann diesen besonderen Umstand des Ziels bedenken und nicht einen anderen. Ein solches Bedenken kommt häufig und zufallig aus inneren und äußeren Anlässen vor. Drittens, auch die Verfassung des Menschen kann die Gutheithinsicht bestimmen. Vgl. De malo, q. 6, c. „Et quod voluntas feratur in id quod sibi offertur magis secundum hanc particularem conditionem quam secundum aliam, potest contingere tripliciter. Uno quidem modo inquantum una praeponderat, et tunc movetur voluntas secundum rationem... Alio vero modo inquantum cogitat de una particulari circumstantia et non de alia; et hoc contingit plerumque per aliquam occasionem exhibitam vel ab interiori vel ab exteriori, ut ei talis cogitatio occurrat. Tertio vero modo contingit ex dispositione hominis... Unde aliter movetur ad aliquid voluntas irati et voluntas quieti, quia non idem est conveniens utrique..." In dieser Erklärung über die drei Determinationsfaktoren sieht Pesch die voluntaristischen Züge des späten thomasischen Denkens, nämlich „das vermehrte Interesse am Erfahrbaren und Konkreten", und „die Bemühung, den Willen und seinen Vollzug so weit wie möglich in sich selbst und ohne Analogien aus dem nicht-willentlichen Bereich zu betrachten und zu erhellen." (Pesch, a.a.O., S. 18.)
Die Willensfreiheit als Selbstbewegung des Willens
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Indeterminiertheit des Willens gegenüber den einzelnen Objekten dargelegt, sondern auch von der autonomen Bewegungsfähigkeit des Willens gegenüber dem Verstand die Rede ist. Der Wille stellt sich als die Fähigkeit dar, die im Wahlakt weder in der Hinsicht des Vollzugs noch in der Hinsicht der Spezifikation gegenüber dem vom Verstand als gut vorgelegten Objekt notwendig determiniert wird. Dieser Sachverhalt kommt unmittelbar zur Sprache, wenn man die früher schon erwähnte, ausschlaggebende These anführt, dass der Wille in seinem Akt nicht notwendig dem Urteil des Verstandes folgt.55 Wir müssen hier aber zunächst anerkennen, dass dieser Sachverhalt nicht einfach zu bestätigen ist. Man könnte nämlich bezüglich des Begriffes der Freiheit der Spezifikation folgenden Zweifel hegen: Kann dem Willen überhaupt die Freiheit der Spezifikation im strengen Sinne der an den Verstand ungebundenen Selbstdetermination zugeschrieben werden, obwohl Thomas schon festgestellt hat, dass der Wille im Sinne der Spezifikation nicht durch sich selbst, sondern durch den Verstand bewegt wird? Dabei könnten manche eher die Position einnehmen, dass die Indeterminiertheit des Willens gegenüber den spezifischen Objekten, d.h. die sogenannte Freiheit der Spezifikation bloß durch den Verstand ermöglicht würde. Wenn die Freiheit der Spezifikation nur kraft des Verstandes dem Willen zukommen würde, wäre es eine viel exaktere und relevantere Aussage, dass die Freiheit des Willens eher dem Verstand, aber nicht dem Willen als solchem zuzuschreiben wäre. Daraus würde gefolgert werden, dass dem Willen streng genommen nur die Freiheit des Vollzugs gehören würde, und dass man zwar von der Selbstbewegung des Willens - im Sinne des Vollzugs - sprechen, aber nicht von der Selbstdetermination des Willens - im Sinne der Spezifikation - sprechen könnte. Dem angegebenen Zweifel und der daran angeschlossenen Trennung zwischen der Selbstbewegung und der Selbstdetermination des Willens entgeht man aber deswegen nicht, weil man darauf nicht aufmerksam wird, dass der Vollzug und die Spezifikation als solche noch keine realen Akte bedeuten, und dass sie bei einem Akt nicht sukzessiv vorkommen. Der Wahlakt als ein Willensakt heißt diejenige Wirklichkeit, die in sich das Erkenntnismoment enthält, d.h. diejenige, die nur als ein strenger Zusammenhalt des Vollzugs und der Spezifikation erfolgen kann. Im Wahlakt spielen der Wille und der Verstand ihre Rolle nicht getrennt oder sukzessiv, sondern sie müssen gleichzeitig aktu-
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Siehe Kapitel II, 3-3. Die Willenfreiheit als die Freiheit der Entscheidung.
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Die Selbsterklärung des Thomas
iert werden. 56 Einem Willensakt kann natürlich ein Erwägungsakt und ein anderer Willensakt zeitlich vorausgehen, dennoch muss das letzte praktische Urteil, das den Akt des Willens artlich bestimmt, gleichzeitig mit dem Willensakt selbst - genauer gesagt als ein konstitutives Moment des Willensaktes - erfolgen. Gerade dies wird gemeint mit der sogenannten Einheit des Willensaktes, bzw. des Wahlaktes.57 Daher wird es ersichtlich, dass es sich bei der Frage, ob der Wille dem Urteil des Verstandes notwendig folgt, nicht um eine zeitliche, sondern nur eine modale Implikation handelt. In der Einheit des konkreten Wahlaktes als Koinzidenz der spezifizierenden Funktion durch den Verstand und der vollziehenden Funktion durch den Willen können wir nun eine bestimmte Doppelseitigkeit betrachten. Einerseits, was das Urteil des Verstandes zum letzten Urteil macht, ist nichts anderes als der Wille selbst, der seinerseits das vom Verstand als gut und angemessen vorgelegte Objekt endgültig ergreift. Und insofern erschließt sich, dass der Wille nicht notwendig zu dem bewegt wird, was der Verstand als gut beurteilt, denn der Wille ist fähig, das, was einmal vom Verstand als gut beurteilt wird, auch nicht zu ergreifen und demnach als etwas nur Überlegtes bleiben zu lassen, anstatt es zum wirklichen Wollensobjekt zu machen. Andererseits aber, wenn der Wille das vom Verstand zunächst als gut beurteilte Objekt ablehnt und eher sich einem anderen alternativen Objekt zuneigt, muss er einen neuen Urteilsakt bewirken, in dem nun dadurch das fragliche alternative Objekt vorgezogen wird, dass auf die Mängel des abzulehnenden Objektes und den relativen Vorzug des alternativen Objektes Aufmerksamkeit gerichtet wird. Kein Objekt kann nämlich vom Willen wirklich gewollt werden, ohne dass es vom Verstand in gewisser Hinsicht letztlich als gut und erstrebenswert beurteilt wird.58 Der Wille muss auf jeden Fall in dem Augenblick dem letzten Urteil des Verstandes entsprechen, wo er einen wirklichen Willensakt zum bestimmten Objekt hervorbringt.59
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Das ist nur insofern möglich, als dem Willen und dem Verstand jeweils im unterschiedlichen Sinne die Ursächlichkeit für die Bewegung zukommt. Vgl. Riesenhuber, Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 53f. Diese Einheit der Wirkung ist aber keineswegs auf die begriffliche Identität des konkreten Wollens und des letzten praktischen Urteils zurückzuführen. Vgl. Kapitel II, Anmerkung 146. Dies gilt sogar für den Fall, in dem sich der Wille entscheidet, etwas nicht zu wollen, d.h. seinen Akt aufzuhören. In diesem Fall muss nämlich das Nichtwollen (non νeile) selbst vom Verstand im gewissen Sinne als etwas Vorzüglicheres beurteilt werden. Wenn die vorläufige Abweichung des Willens von dem Urteil des Verstandes auch im wirklichen Wahlakt endgültig nicht aufgehoben würde, würde die wahre Einheit des inne-
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Durch die Einsicht in diese Doppelseitigkeit des Wahlakts kann die oben angeführte, an der Spezifikationsfreiheit des Willens zweifelnde Frage endgültig gelöst werden. Sofern der Wille nicht allein von sich aus seinen Akt vollziehen kann, ohne vom letzten Urteil des Verstandes seine spezifische Determination aufzunehmen, wird der Wille in Hinsicht der Spezifikation durch den Verstand bewegt. Aber in dem Sinne, dass der Verstand nur deswegen durch sein Urteil die Willensbewegung determinieren kann, weil der Wille den Verstand zu dem Urteilsakt bewegt und das so vorgelegte spezifische Objekt ergreift, gehört dem Willen zweifelsfrei die Fähigkeit zur Selbstdetermination und die Freiheit der Spezifikation zu. Dem Willen kommt nämlich zwar nicht in dem Sinne die Freiheit zu, dass der Wille beim konkreten Wahlakt vom letzten Urteil des Verstandes einfach „abgewichen" bleiben kann, aber das bedeutet keineswegs, dass der Willensakt immer dem unterstehen muss, was der Verstand als gut beurteilt. Die Doppelseitigkeit im Wahlakt - d.h. der Willensakt ist vom Urteil des Verstandes nicht unabhängig, dennoch als eine selbstdeterminierende Bewegung aufzufassen - führt zu keiner Widersprüchlichkeit, weil der Vollzug und die Spezifikation als Bewegungen von den verschiedenen Potenzen gleichzeitig einen Akt ausmachen. Wenn die Einheit des Willens- bzw. des Wahlaktes als Koinzidenz des Vollzugs und der Spezifikation übersehen wird, kann man die wahre Position der thomasischen Freiheitslehre nicht erfassen, die in der Mitte zwischen den voluntaristischen und intellektualistischen Polen steht.60 Wenn die gegenseitige Bewegung auf sukzessive Weise vorgestellt und somit die Willensaktuierung wie ein Glied innerhalb der sukzessiven Kette verstanden wird, kann man nämlich im Wählen als Willensakt endlich nur die strenge und unversöhnliche Alternative, d.h. entweder die von der konstitutiven Rolle des regulierenden Verstandes getrennt einseitig und spontan erfolgte Willensbewegung - diese würde endlich vom willkürlichen Antrieb nicht unterschieden oder die dem vernünftigen Urteil durchaus unterstehende Willensbewegung diese wäre nichts mehr als eine ausführende Instanz des Urteils - sehen.
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ren seelischen Lebens einer Person nicht bestehen, und man könnte dann sogar die Identität der Person nicht gewährleisten. Vgl. Kapitel III, Anmerkung 45. Vgl. Gilson, L'Esprit de laphilosophie medievale, S. 2 9 3 - 2 9 4 ; Sertillanges, Der heilige Thomas von Aquin, S. 726f. Die These, dass die thomasische Freiheitslehre in der Mitte zwischen den beiden Polen steht, werden wir am Schluss noch aufgreifen.
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Die Selbsterklärung des Thomas
(3) Rationalität und Freiheit des Wollens Wollen heißt die von der erkannten Form ausgehende, d.h. durch den Verstand „informierte" oder „spezifizierte" Neigung. Wie die Naturtendenz von der substantiellen Form des Naturdings determiniert wird, so wird das Wollen von der erkannten Form (forma intellecta) determiniert. Thomas verzichtet auch in De malo nicht darauf, die menschliche Willensbewegung in der Kontinuität mit der naturhaften Neigung zu erfassen.61 Beim Begründen der Willensfreiheit kommt es nun darauf an, den Charakter der Formursache für die Willensbewegung, bzw. den Charakter der Determination des Willens zu verstehen. Das Charakteristikum der Formursache für das Wollen, durch welche dieses von den Neigungen in niedrigen Stufen unterschieden wird, kann zunächst von der Seite des Verstandes betrachtet werden. Während die Form des Naturdings, die in der Materie völlig herabgesunken und durch die Materie vereinzelt ist, nur die auf eines hin bestimmte Neigung verursacht, ist die Neigung des Willens nicht auf ein bestimmtes Objekt determiniert, sofern die vom Verstand erkannte Form etwas Allgemeines ist, was verschiedene Einzeldingen umfassen kann.62 Die Form der Willensbewegung wird durch das vernünftige Urteil gesetzt, das darin besteht, von der Allgemeinheit des erkannten Guten her die verschiedenen wirkbaren Einzeldinge zu vergleichen und die relative Präferenz zu erkennen.63 Bei seinen Äußerungen über den Charakter der Formursache für die Willensbewegung fasst Thomas vor allem die Tatsache ins Auge, dass die Wahl als eine Willensbewegung nach der Ordnung der Vernunft (secundum ordinem rationis) getroffen wird. Das konkrete Wollen im Wahlakt geschieht nur im Hinblick auf das höhere Ziel und um dieses Ziels willen, d.h. sofern das zu wählende Objekt auf das Ziel hingeordnet ist. Aber was bedeutet denn für den
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Vgl. De malo, q. 6, c. „Quod quidem principium partim convenit cum principio activo in rebus naturalibus, partim ab eo differt. Convenit quidem, quia sicut in rebus naturalibus invenitur forma, quae est principium actionis, et inclinatio consequens formam, quae dicitur appetitus naturalis, ex quibus sequitur actio; ita in homine invenitur forma intellectiva, et inclinatio voluntatis consequens formam apprehensam, ex quibus sequitur exterior actio." Vgl. ebd. „Sed in hoc est differentia, quia forma rei naturalis est forma individuata per materiam; unde et inclinatio ipsam consequens est determinata ad unum, sed forma intellecta est universalis sub qua quibus nullum est quod adaequet potentiam universalis, remanet inclinatio voluntatis indeterminate se habens ad multa: sicut si artifex concipiat formam domus in universali sub qua comprehenduntur diversae figurae domus, potest voluntas eius inclinari ad hoc quod faciat domum quadratam vel rotundam, vel alterius figurae..." Vgl. Sertillanges, a.a.O., S. 695f.
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Willen, dass der Wahlakt im geordneten Verhältnis zum Ziel, d.h. „rational" erfolgt? Das muss vor allem bedeuten, dass sich der Wille zugleich auf das wirklich gewollte Ziel und auf das Objekt des möglichen Wahlaktes beziehen kann. Wenn dies nicht vorausgesetzt wäre, wäre es nicht möglich zu sagen, dass der Wille um eines höheren Zieles willen nach einem Gegenstand strebt. Aufgrund der Fähigkeit, sich zugleich auf verschiedene Objekte zu beziehen, die letztlich auf die Immaterialität der Willenspotenz zurückgeht, kann der Wille durch sich selbst vom wirklichen Wollen des Ziels zu einem neuen Wollen des Mittels bewegt werden. Aber andererseits bezieht sich der zum Ziel geneigte Wille deshalb zugleich - d.h. ohne mit der Neigung zum Ziel aufzuhören auf das als Mittel geltende Wahlobjekt, weil der Verstand dieses als etwas, was um des Ziels willen zu erstreben ist, im geordneten Verhältnis zum Ziel vergegenwärtigt.64 Die Selbstbewegung des Willens kann daher nur durch die vermittelnde Erwägung (mediante consilio) geschehen, in der die Gutheit und Nützlichkeit der möglichen Wahlobjekte im Hinblick auf das bereits gewollte Ziel überprüft und beurteilt werden.65 Sofern der Wahlakt nach der Ordnung der Vernunft getroffen wird, d.h. sofern der Willensbewegung jeweils eine vernünftige Erwägung folgt, können wir sagen, dass er im formhaften Sinne {formaliter) der Vernunft gehört.66 Natürlich gilt es zu betonen: der durch das vernünftige Erwägen und Urteil dem Willen als erstrebenswert vorgelegte Gegenstand wird aber deswegen endlich zum Objekt des wirklichen Wollens, weil der Wille die Gutheit und die Angemessenheit des vorgelegten Gegenstandes ergreift. 67 Was soll aber dieses „Ergreifen" des Willens eigentlich bedeuten? Das wird sachlich gesehen davon ja nicht unterschieden, dass der Wille den gegebenen Gegenstand wirklich will. Gerade durch die Vollzugskraft, bzw. die Wirkungskraft, mit der der Wille sowohl seinen Akt selbst will als auch den vorausgehenden Erwägungsakt gewollt hat, beteiligt sich der Wille daran, die Formursache für seine Bewegung
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 13, a. 1, c. „Manifestum est autem quod ratio quodammodo voluntatem praecedit et ordinat actum eius, inquantum scilicet voluntas in suum obiectum tendit secundum ordinem rationis, eo quod vis apprehensiva appetitivae suum obiectum repraesentat." Daher muss der Begriff der Selbstbewegung des Willens als ein Inbegriff verstanden werden, zu dessen Konnotation nicht nur Selbstaktuierung, sondern auch die Selbstdetermination gehören. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 13, a. 1, c. „Sic igitur ille actus quo voluntas tendit in aliquid quod proponitur ut bonum, ex eo quod per rationem est ordinatum ad finem, materialiter quidem est voluntatis, formaliter autem rationis." Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 2, c.
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zu setzen.68 Obwohl der Wahlakt durch den Verstand artlich bestimmt wird, d.h. obwohl er vom Verstand als der Formursache ausgeht, ist er nichts anderes als die (Selbst-)Bewegung des Willens zum gewählten Guten, und deshalb wird er im substantiellen oder materiellen Sinne nur dem Willen zugeschrieben.69 Diese thomasische Erklärung des Wahlaktes nach dem Modell der MaterieForm-Zusammensetzung bietet uns den Ansatz, von dem her die Rationalität und die Spontaneität des Wahlaktes überlegt werden können. Sofern der Wahlakt von der durch die Vernunft erkannten Form ausgeht, ist er rational, und zwar in dem Sinne, dass wir vom Grund des Ziels her darüber eine gewisse Erklärung geben können, warum wir das bestimmte Objekt wählen bzw. wollen. Aber sofern er substantiell gesehen die Bewegung des Willens ist, sehen wir in ihm die Spontaneität des Willens, der durch sich selbst aktuiert und determiniert wird. Die Freiheit des Willens setzt einerseits die Rationalität seines Aktes voraus, wie der Begriff der Selbstbewegung die Vermittlung der Vernunft mit impliziert, aber sie wird niemals in die Rationalität selbst aufgelöst, wie die Selbstbewegung des Willens nicht auf die Selbstbewegung des Verstandes zurückzufuhren ist. Der Rest des Willensaktes, der durch die Vernunft letztlich nicht erhellt werden kann, ist die Vollzugskraft des Willens, die zunächst nur auf die Wirklichkeit des bereits aktuierten Wollens zurückkommt. Die Vollzugskraft des Willens ist die höchste Form der Spontaneität, die weder auf die Rationalität des denkenden Geistes noch auf die elementaren und niedrigen Formen der Spontaneität zu reduzieren ist. Den „endgültigsten" Grund für die Freiheit des Willens muss man in dieser Vollzugskraft sehen. Wenn wir etwas wählen, können wir über unseren Willensakt Rechenschaft ablegen, indem wir die verschiedenen Gründe des Urteils nachträglich anführen. Aber nichts davon kann die Notwendigkeit des Wollens, d.h. warum das fragliche Wollen als eine Wirklichkeit existieren musste, vollständig erklären. Die von der Rationalität der Erkenntnis erreichten Gründe für die mögliche Wahl des bestimmten Objekts machen als solche keineswegs die Wirklichkeit des Wollens als eine bereits zustande gebrachte Existenz aus. Der Vollzug des Wollens, für das kein notwendig determinierender Grund gefunden werden kann, kommt „aus den weiter nicht mehr erfragbaren und befragbaren Tiefen
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Die sogenannte Freiheit der Spezifikation besagt daher nicht, dass der Wille in sich so etwas wie ein Erkenntniskraft beinhaltet. Der Wille ist nur diejenige Potenz, die mit seiner Vollzugskraft eine Strebenswirklichkeit hervorbringen kann, und zwar in der strengen Wirkungseinheit mit der von ihm unterschiedenen Erkenntnispotenz. 69 Vgl. Sum. theol. I-II, q. 13, a. 1, c. „Et ideo electio substantialiter non est actus rationis, sed voluntatis: perficitur enim electio in motu quodam animae ad bonum quod eligitur."
Das Problem des ersten Anfangs der Willensbewegung
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der Person."70 Die Freiheit des Willens ist also dergestalt rational, dass sie die rationale Erklärung über das Wollen des gewählten Objekts prinzipiell nicht ausschließt, aber nicht dergestalt, dass das rational erklärte und begründete Urteil über die Erstrebbarkeit des Objekts zureichend wäre, das freie Wollen automatisch zu erwecken. Wenn die ursprüngliche Vollzugskraft des Willens durchaus aus der Schlussfolgerung der Vernunft erklärbar wäre, bestünde der endgültige Grund fiir die Freiheit des Willens nicht mehr.
3. Das Problem des ersten Anfangs der Willensbewegung 3.1. Die Selbstbewegung des Willens und der aristotelische Bewegungsbegriff Wer die Prinzipien der aristotelischen Philosophie geltend machen will, stoßt aber angesichts des thomasischen Freiheitsargument durch die Selbstbewegung des Willens auf ein unübersehbares Problem. Das Problem lautet, ob der Begriff der Selbstbewegung nicht im Widerspruch zum in der aristotelischen Physik bestätigten Bewegungsaxiom steht. Das Bewegungsaxiom, omne quod movetur ab alio movetur, wird aus dem Bewegungsbegriff des Aristoteles notwendig gefolgert, nach dem alle Bewegung prinzipiell als Einheit des bewegenden und des bewegten Moments zu begreifen ist.71 Stünden der Begriff der Selbstbewegung des Willens und das Bewegungsaxiom so im Widerspruch, dass die Annahme der Wahrheit des einen die Ablehnung des anderen bedeuten müsste, würde die thomasische Lehre von der Selbstbewegung des Willens als ein offensichtliches Beispiel der Abweichung von der aristotelischen Philosophie gelten. Und in diesem Punkt schiene es, als ob die Position des Thomas nicht weit von der Linie der franziskanischen Theoretiker entfernt sei. Thomas versucht aber in der Prima secundae wie auch in De malo darzustellen, dass durch die Anerkennung der Selbstbewegung die Gültigkeit des Bewegungsaxioms nicht ausgeschlossen wird, d.h., dass die beiden Gedanken nicht in Widerspruch geraten müssen.72 Um das Argument des Thomas zu ver-
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Vgl. Pesch, a.a.O., S. 24. Vgl. Aristoteles, Physik VIII, c. 1. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 3, ad 1; De malo, q. 6, c.
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Die Selbsterklärung des Thomas
stehen, müssen wir zunächst den Grund des aristotelischen Bewegungsaxioms wieder aufgreifen. Warum ist Aristoteles eigentlich zum Schluss gekommen, alles, was bewegt wird, werde von einem anderen bewegt? Antwort: Es ist nur durch etwas Wirkliches, dass etwas Mögliches zu seiner Wirklichkeit überfuhrt wird [erste Prämisse], und dieses Mögliche ist ein anderes als jenes Wirkliche [zweite Prämisse], Wieso sind dann das Mögliche und das Wirkliche, wodurch dieses Mögliche aktuiert wird, nicht dasselbe? Weil in der Veränderung nichts in derselben Hinsicht zugleich in der Potenz und im Akt stehen kann. Die erste Prämisse, die von der aristotelischen Bewegungsdefinition unmittelbar abgeleitet wird, gilt als die grundlegendste Einsicht des Bewegungsbegriffs. 73 Sie hat eine solche allgemeine Tragweite, dass sie nicht nur den körperlichen Bereich, sondern den ganzen Bereich der Bewegung, zu dem auch die Bewegung der Seele gehört, betrifft. Hinsichtlich der zweiten Prämisse ändert sich jedoch das Verhältnis. Bei der Bewegung der Seele kann nämlich der Fall vorkommen, in dem das mögliche Aufnehmende und das aktuelle Wirkende dem Sein nach dasselbe ist. Aber wieso? Weil die Vernunftseele, die in der einen Hinsicht in Potenz steht, durch ihre Wirklichkeit, in der sich die Seele schon in der anderen Hinsicht befindet, aktuiert werden kann. Beispielsweise kann das potentielle, aber noch nicht wirkliche Wollen zum Einnehmen des Medikaments durch das wirkliche Wollen zur Gesundheit aktuiert werden. 74 Hier wird in verschiedener Hinsicht das Wollen ausgesagt, aber es geht doch offensichtlich um die Akte
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Die genaue Bedeutung dieser ersten Prämisse darf aber nicht missverstanden werden: Mit der Prämisse wird nicht gemeint, das Bewegende müsse die Eigenschaft „F" schon wirklich haben, damit es das Bewegte dazu bewegen kann, die Eigenschaft „F" zu haben. Dies ist am Fall der Ortsbewegung klar zu erkennen, nämlich am Fall, dass jemand ein Ding verschiebt oder wirft. Die genannte Prämisse besagt nur, dass das Bewegende die wirkliche Kraft haben muss, die Bewegung zur Eigenschaft „F" hervorzubringen, damit es etwas Mögliches hinsichtlich der Eigenschaft in die Wirklichkeit überführt. Also kann der Terminus „Wirklichkeit" beim Erklären des Bewegungsaxioms verschiedene Bedeutungen haben. Er wird zunächst im Sinne des Zielpunkts des Bewegbaren oder im Sinne der Bewegungsrealität selbst gebraucht. Aber man kann auch die aktive Kraft des Bewegenden als Wirklichkeit verstehen, wodurch das Mögliche in die fragliche Bewegungsrealität oder in den Zielpunkt der Bewegung versetzt wird. Vgl. Weisheipl, „Quidquid movetur ab alio movetur: A Reply" (Comment on the Article by N. Lobkowicz) in: The New Scholasticism 42 (1968), S. 428f. Auch Thomas versteht gerade in diesem letzten Sinn den Begriff der Wirklichkeit, wenn er schreibt: „Omne autem quod movet est in actu, inquantum huiusmodi: quia nihil agit nisi secundum quod est in actu." ScG I, c. 13, n. 89; Vgl. Sum. theol. I, q. 2, a. 3, c. „Nihil enim movetur, nisi secundum quod est in potentia ad illud ad quod movet. Movet autem aliquid secundum quod est actu." Vgl. De malo, q. 6, c. „... sicut per hoc quod vult sanitatem, movet se ad volendum sumere potionem."
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eines dem Sein nach selben Willens. Deswegen behauptet Thomas, dass der Wille durch sich selbst bewegt werden kann, ohne in derselben Hinsicht zugleich im Akt und in der Potenz zu stehen. Der Punkt des thomasischen Arguments ist also: Die Selbstbewegung des Willens besagt nicht, dass der Wille in derselben Hinsicht zugleich im Akt und in der Potenz steht.75 Der ontologische Grund für die Selbstbewegung ist, dass der Wille unter verschiedener Rücksicht zugleich aktiv und potentiell sein kann, ohne seine Einheit und Identität zu verlieren. Daher verletzt die Selbstbewegung des Willens nicht die Gültigkeit des aristotelischen Bewegungsaxioms, auch wenn das Phänomen der Selbstbewegung nicht auf dieses Axiom zutrifft. Aber hier muss man den Sinn der Aussage, dass die Selbstbewegung des Willens nicht im Widerspruch zum aristotelischen Bewegungsaxiom steht, eindeutig erfassen. Man kann nämlich von Nicht-Widersprüchlichkeit in den folgenden zwei Fällen sprechen: erstens, wenn die Inhalte der beiden Thesen als solche konsistent und vereinbar sind, und zweitens, wenn sich die Anwendungsbereiche der beiden These selbst nicht überschneiden, sondern die Thesen eigentlich jeweils nur auf unterschiedene Bereiche anwendbar sind. Wenn wir nun sagen, dass die Selbstbewegung des Willens nicht im Widerspruch zum Bewegungsaxiom steht, trifft es offenbar auf den zweiten Fall zu. Während die Möglichkeitsbedingung für die Selbstbewegung, d.h. die ontologische Identität des potentiellen Bewegten und des aktiven Bewegenden nur im Bereich der Seelenbewegung zu erfüllen ist, beschränkt sich das Bewegungsaxiom auf die körperlichen Dinge.76 Dieser Grenze des Bewegungsaxioms, bzw. des aristotelischen Bewegungsbegriffes war sich Thomas wohl bewusst, was vor allem am Gottesbeweis der Summa contra gentiles deutlich zu merken ist. Er merkt nämlich im Kapitel des Gottesbeweises einmal explizit an, dass der aristotelische Begriff der Bewegung im eigentlichen Sinne nur Teilbaren und Körpern zukommt, und unterscheidet diesen Begriff von dem noch allgemeineren, platonischen Begriff, welcher jede Tätigkeit (quaelibet operatio) wie auch Erkennen und Meinen beinhaltet.77
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Vgl. De malo, q. 6, c. „... primo quidem manifestum est quod voluntas movetur a seipsa... Nec propter hoc sequitur quod voluntas secundum idem sit in potentia et in actu."; q. 6, ad 20. „... idem secundum idem non movet seipsum; sed secundum aliud potest seipsum movere; sic enim intellectus, inquantum intelligit actu principia, reducit seipsum de potentia in actum quantum ad conclusiones; et voluntas inquantum vult finem, reducit se in actum quantum ad ea quae sunt ad finem." Vgl. Physik VI, 234b 1 Of. Vgl. ScG I, c. 13, n. 90. „Sciendum autem quod Plato, qui posuit omne movens moveri, communius accepit nomen motus quam Aristoteles. Aristoteles enim proprie accepit mo-
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Wenn der begrenzte Anwendungsbereich des aristotelischen Bewegungsaxioms festgestellt ist, stellt sich die Frage: Ist die Selbstbewegung - obwohl sie dem Bewegungsaxiom nicht widerstreitet - mindestens im Rahmen des aristotelischen Bewegungsgedankens nicht unerklärbar? Stellt sie sich letztlich nicht als ein Aristoteles fremder und heterogener Gedanke dar? Die Position, die Selbstbewegung des Willens habe mit dem aristotelischen Bewegungsbegriff nichts zu tun und sie sei demnach im Rahmen des aristotelischen Gedankens endgültig nicht erklärbar, gehört gerade den franziskanischen Denkern zu. Diese Denker verblieben in der pauschalen Vorstellung über den Aristotelismus, der Angelpunkt der aristotelischen Willenslehre bestehe im Begriff des movens motum, der aber im eigentlichen Sinn nur auf die physische Bewegung zutreffen soll.78 Für die franziskanischen Denker bedeutet die Anwendungsgrenze des Bewegungsaxioms die Grenze des aristotelischen Gedankens selbst, und die Selbstbewegung des Willens ist ein offenbares Beispiel, woran man die Unzulänglichkeit des Aristotelismus erkennen kann. Für sie bedeutet Aristotelismus nichts mehr als eine Theorie der Natur, die für die Untersuchung des Willens nicht mehr relevant ist.79 Daher lässt bei den franziskanischen Denkern
tum, secundum quod est actus existentis in potentia secundum quod huiusmodi: qualiter non est nisi divisibilium et corporum, ut probatur in VI Physic. Secundum Platonem autem movens seipsum non est corpus: accipiebat enim motum pro qualibet operatione, ita quod intelligere et opinari sit quoddam moveri." Da das Wort „Bewegung" bei Piaton eine allgemeinere Bedeutung hat als der aristotelische Bewegungsbegriff, kommt Thomas zur Einsicht, dass es zwischen dem platonischen Verständnis des sich selbst bewegenden Ersten und dem aristotelischen Verständnis des gar nicht beweglichen Ersten keinen bedeutenden Unterschied gibt. Für Thomas sind nämlich die beiden Weisen, den Bewegungszustand des Ersten zu verstehen, insofern nicht widersprüchlich, als es sich in den beiden Fällen um jeweilig verschiedene Bewegungsbegriffe handelt. Vgl. ebd. „Secundum hoc ergo dicebat primum movens seipsum movere quod intelligit se et vult vel amat se. Quod in aliquo non repugnat rationibus Aristotelis: nihil enim differt devenire ad primum quod omnino sit immobile, secundum Aristotelem."; In I Sent., d. 45, q. 1, a. 1, ad 3; Schönberger, Thomas von Aquin, S. 145. 78 Vgl. Stadter, Psychologie und Metaphysik der menschlichen Freiheit, S. 5. 79 Das besagt aber nicht, dass die franziskanischen Willenstheoretiker die Autorität des Philosophen gänzlich vernachlässigt haben. Sie haben nämlich viele Ansätze der aristotelischen Philosophie aufgenommen, wie wir bei Walter von Brügge und auch bei den nachfolgenden Franziskanern wie z.B. Petrus Johannis Olivi und Wilhelm de la Mare beobachten können. Vgl. Stadter, a.a.O., S. 70; S. 178; S. 241. Aber sie wagen in der Lehre von der Willensbewegung von Aristoteles abzuweichen und glauben, dass die Freiheit des spontanen und autonomen Willens letztlich nicht im Rahmen der aristotelischen Kategorie erfasst werden kann. So ist es nicht nur bei Walter von Brügge und Gerhard von Abbeville der Fall, sondern auch bei Johannes Peckham und Petrus Johannis Olivi. Vgl. Stadter, a.a.O., S. 72; S. 136; S. 186.
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die Bemühung nach, die Bewegung des Willens gemäß den Prinzipien der aristotelischen Philosophie zu erklären. Demgegenüber wird Thomas durch die Position ausgezeichnet, dass die Bewegung des Willens immer noch im Rahmen der aristotelischen Begriffe erklärt werden kann. Thomas erkennt nämlich, dass auch dem Aristoteles die Bewegung als Tätigkeit im platonischen Sinne nicht fremd ist. Als wichtigen Beweis dafür weist er auf eine Stelle in De anima III hin, wo Aristoteles „eine andere Art von Bewegung" erwähnt als die Art von Bewegung, die im körperlichen Bereich zu beobachten ist.80 Diese andere Art von Bewegung, die Aristoteles erwähnt hat, um die Tätigkeit der Seele wie Wahrnehmen und Erkennen zu erklären, lässt sich nicht als Übergang von einem zum Gegensätzlichen interpretieren, sondern eher als Akt eines Vollendeten (actus perfecti).81 Diesem Akt, nämlich dem Akt eines Vollendeten, ent-
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Vgl. De anima III, 431 a6; ScG I, c. 13, n. 90. „... Quem etiam modum loquendi Aristoteles tangit in III De anima."; Sum. theol. I-II, q. 109, a. 1, c „Usus autem quilibet quemdam motum importat: large accipiendo motum quod intelligere et velle motus quidam esse dicuntur, ut patet per Philosophum in III De anima." 81 Vgl. In III De anima, lect. 7, n. 766. „Et quia motus, qui est in rebus corporalibus, de quo determinatum est in libro Physicorum, est de contrario in contrarium, manifestum est, quod sentire, si dicatur motus, est alia species motus ab ea de qua determinatum est in libro Physicorum: ille enim motus est actus existentis in potentia... Et quia omne, quod est in potentia, inquantum huiusmodi, est imperfectum, ideo ille motus est actus imperfecti. Sed iste motus est actus perfecti: est enim operatio sensus iam facti in actu, per suam speciem. Non enim sentire convenit sensui nisi in actu existenti; et ideo iste motus simpliciter est alter a motu physico." Dass sich Thomas der aristotelischen Unterscheidung zwischen dem Akt eines Unvollendeten (actus imperfecti) und dem Akt eines Vollendeten (actus perfecti) in De anima voll bewusst war, zeigt sich bereits in der Gotteslehre im ersten Teil der summa theologiae deutlich, wobei Thomas mehrmals die genannte Unterscheidung auf die Erörterung der Eigenschaften Gottes anwendet. Vgl. Sum. theol. I, q. 14, a. 2, ad 2. „Ad secundum dicendum quod moveri et pati sumuntur aequivoce secundum quod intelligere dicitur esse quoddam moveri vel pati, ut dicitur in III de anima. Non enim intelligere est motus qui est actus imperfecti, qui est ab alio in aliud, sed actus perfecti, existens in ipso agente..."; Sum. theol. I, q. 18, a. 1, c. „... sive accipiatur motus proprie, sicut motus dicitur actus imperfecti, idest existentis in potentia; sive motus accipiatur communiter, prout motus dicitur actus perfecti, prout intelligere et sentire dicitur moveri, ut dicitur in III de anima..."; Außerdem: In I Sent., d. 19, q. 2, a. 1, c; ScG II, c. 43; c. 82; In VII Phys., lect. 1; Sum. theol. I, q. 50, a. 1, ad 2; Sum. theol. I, q. 59, a. 1, ad 3. Aber am deutlichsten erwähnt Thomas diese Unterscheidung in De ver., q. 24, a. 1 in Bezug auf die Frage, ob der Mensch das liberum arbitrium besitzt. Vgl. De ver., q. 24, a. 1, ad 14. „...moveri dupliciter dicitur. Uno modo proprie, prout Philosophus definit motum in III Physic. Dicens, quod motus est actus existentis in potentia secundum quod huiusmodi... Alio modo dicitus motus large operatio quaelibet, sicut intelligere vel sentire. Et sie accipiendo motum Philosophus dicit in III de Anima, quod motus est actus perfecti... Mentes autem rationales dicuntur esse mobiles non primo modo motus, quia talis motus est solum corporum, sed
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spricht nach Thomas der Begriff der Tätigkeit (operatio) im engeren Sinne.82 Ihr kommt kein Erleiden im strengen Sinne zu.83 Sie ist nichts anderes als die Bewegung, die Piaton von der sich selbst erkennenden und liebenden Seele ausgesagt hat.84 Sofern Aristoteles für die seelische Bewegung „die andere Art der Bewegung" prädiziert und sie nicht außer acht lässt, kann man Aristoteles nicht für einen bloßen Naturtheoretiker halten. Unter die andere Art der Bewegung, auf die Aristoteles in De anima aufmerksam gemacht hat, fallt auch die Bewegung des Willens. Daher besteht Thomas darauf, dass man die Selbstbewegung des
secundo. Sic etiam Plato posuit primum movens movere seipsum, inquantum vult se et intelligit se, ut Commentator dicit in lib. VIII Physic." 82 Vgl. In III De anima, lect. 7, n. 766. „Et huiusmodi motus dicitur proprie operatio, ut sentire et intelligere et velle." Der Begriff der Tätigkeit (operatio) im engeren Sinne deckt die seelische Bewegung ab, die kein von ihrer Aktualität selbst verschiedenes Ziel besitzt. Dieser Begriff ist nichts anderes als der aristotelische Begriff der energeia in ihrem engeren Sinne, der mit der Bewegung im engeren Sinne (kinesis) kontrastiert. Aristoteles bringt diesen engeren Sinn der energeia, bzw. den Begriff der Tätigkeit als Akt eines Vollendeten in c. 6 des neunten Buches der Metaphysik zur Sprache. Vgl. Metaphysik IX, c. 6, 1048b28f.; E. Berti, „Der Begriff der Wirklichkeit in der Metaphysik des Aristoteles", in: Metaphysik. Die Substanzbücher, hrg. von Christof Rapp, S. 304f. 83 Thomas weist Aristoteles zufolge auf die Zweideutigkeit von Erleiden hin: erstens, Erleiden wird im engeren Sinn, d.h. im Sinn der Aufhebung eines entgegengesetzten Zustandes gebraucht, und zweitens, es wird im weniger eigentlichen Sinn, d.h. im Sinn der Aufnahmefähigkeit gebraucht. In diesem zweiten Sinn ist auch die Tätigkeit der Seele - sogar die Tätigkeit des geistigen Seelenteils - als Erleiden zu bezeichnen. Vgl. De anima II, c. 5, 417b2f.; III, c. 4, 429b24f.; In II De anima, lect. 11, n. 365-366. „Dicitur enim pati uno modo, secundum quamdam corruptionem, quae fit a contrario. Passio enim proprie dicta, videtur importare quoddam decrementum patientis, inquantum vincitur ab agente... Alio modo passio communiter dicitur et minus proprie, secundum scilicet quod importat quamdam receptionem... et ideo hoc modo dicitur passio, non secundum quod fit quaedam corruptio patientis, sed magis secundum quod fit quaedam salus et perfectio eius quod est in potentia, ab eo quod est in actu."; In III De anima, lect. 9, n. 722. „... idest hoc quod est pati commune est ad passionem quae est in contrarias dispositiones, quae communicant in materia: et est aliquod pati, quod dicitur secundum receptionem tantum."; In III De anima, lect. 12, n. 765. „Et hoc est quod subdit, quod sensitivum neque patitur neque alteratur a sensibili, passione et alteratione proprie accepta, secundum scilicet quod est ex contrario in contrarium"; ebd. n. 767. „Dicit ergo primo, quod cum sensibile reducat in actum sensitivum sine passione et alteratione, sicut de intellectu supra dictum est." 84 Vgl. Phaidros, 245CE; Timaios, 30A; 34B; In III De anima, lect. 7, n. 766. „Et secundum hunc motum anima movet seipsam secundum Platonem, inquantum cognoscit et amat seipsam."; Sum. theol. I, q. 18, a. 3, ad 1. „...secunda autem actio est perfectio agentis... huiusmodi autem actio est actus perfecti, idest existentis in actu... et per hunc modum etiam Plato posuit quod deus movet seipsum, non eo modo quo motus est actus imperfecti."; ScG I, c. 13.
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Willens auch erklären kann, ohne Aristoteles zu verlassen. In diesem Punkt kontrastiert die Einstellung des Thomas, die auf der aristotelischen Philosophie beruht und diese rechtfertigt, mit der Einstellung der franziskanischen Willenstheoretiker, die nicht an das Begriffserbe des Aristoteles gebunden bleiben wollten. 3.2. Die erste Willensbewegung durch Gott (1) Die Notwendigkeit der Annahme der ersten Willensbewegung durch Gott Die aristotelische Einstellung des Thomas beruht eigentlich in seinem strengen Versuch, die grundlegende Einsicht des aristotelischen Bewegungsbegriffes, das Mögliche werde nur durch das aktive Prinzip eines Wirklichen in Wirklichkeit überfuhrt, in der Untersuchung der Willensbewegung durchaus geltend zu machen. Thomas kann trotz des aristotelischen Bewegungsaxioms auf der Selbstbewegung des Willens bestehen, nicht deswegen, weil er beim Erklären der Willensbewegung die Wahrheit des Bewegungsaxioms und die diesem Axiom zugrunde liegende genannte Einsicht vernachlässigt, sondern nur, weil er in der Bewegung des Willens die geistige Eigenart deutlich erfasst, wodurch das Bewegte und das aktive Bewegende ontologisch identisch sein können.85 Diese aristotelische Einstellung fuhrt notwendig dazu, sich mit der aufschlussreichen Frage nach dem ersten Anfang der Willensbewegung zu konfrontieren. Sofern man davon ausgeht, dass der Wille bereits aktuiert sein muss, um sich selbst zu bewegen, muss man nämlich zugestehen, dass die Bewegungen des Willens letzten Endes auf die erste Bewegung durch das äußere Bewegende zurückgeführt werden. Der Punkt ist, dass es ein äußeres Bewegendes geben muss, damit der Wille überhaupt einmal aktuiert wird und demzufolge sich selbst bewegen kann. Wenn man die erste Willensbewegung selbst als eine
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Dass -Thomas das aristotelische Argument für die Unmöglichkeit der Selbstbewegung nicht abstreitet, zeigt sich offenkundig in der Unterscheidung der Seelenpotenzen von der Seelensubstanz (essentia animae). Als einen Beweis dafür, dass die Substanz der Seele als solche nicht ihre Potenz sein kann, legt Thomas nämlich vor: wenn die Potenzen der Seele mit der Seelensubstanz identisch wären, wäre es unmöglich, dass eine Potenz die andere bewegt, denn nach Aristoteles kann nichts in ein und derselben Hinsicht sich selbst bewegen. Vgl. De spirit, creat., a. 11, c. „Invenitur enim quod una aliam movet, sicut ratio irascibilem et concupiscibilem, et intellectus voluntatem; quod esse non posset si omnes potentiae essent ipsa animae essentia: quia idem secundum idem non movet seipsum ut probat philosophus. Relinquitur ergo quod potentiae animae non sunt ipsa eius essentia."; J. Auer, Die menschliche Willensfreiheit im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, S. 63.
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Selbstbewegung annimmt und sagt, dass der Wille von sich selbst anfinge, sich zu bewegen, dann geriete das in den schlechthinnigen Widerspruch zum aristotelischen Prinzip, für die Verwirklichung des Möglichen sei etwas Wirkliches immer vorausgesetzt. Daher muss man zwei Gesichtspunkte unterscheiden, von denen aus die Willensbewegung zu betrachten ist: Der Wille kann zwar von sich selbst anfangen, sich selbst zu bewegen, aber nur in Hinsicht auf bestimmte Objekte, d.h. nur sofern er in bestimmter Hinsicht bereits als aktuiert und tätig existiert. In Hinsicht auf die absolut betrachtete Aktualität des Willens selbst kann man dagegen keineswegs aussagen, dass ihm die Selbstbewegung zukommt. Falls der Wille in jeder Hinsicht nur noch potentiell ist, d.h. falls der Wille überhaupt erst etwas zu wollen beginnen muss, kann der Wille also nur von außen her zu seiner Tätigkeit bewegt werden. 86 Wenn der Anfang der Selbstbewegung nur noch durch dieses Selbstbewegende erklärt wird, bleibt der ganze Vorgang der Selbstbewegung unbegründet, und das gehört nicht mehr zur wissenschaftlichen Erklärung. Die Notwendigkeit, einen äußeren Erstanstoß der Willensbewegung anzunehmen, beweist Thomas gründlich in Prima secundae aus der Wechselwirkung zwischen dem Willen und dem Verstand. Wir haben schon erwähnt, dass das konkrete Wollen als Selbstbewegung des Willens in Wirklichkeit mit der Bewegung des Verstandes gleichzeitig geschieht. Die Selbstbewegung des Willens setzt also die Erwägung voraus, wodurch der vorausgehende Willensakt das neue Wollen eines bestimmten Gegenstandes hervorbringen kann. Und die Erwägung, der Akt des Verstandes, setzt wiederum ein vorausgehendes Wollen, da auch der Verstand ohne Mitwirkung des Willens nicht sich selbst bewegt.
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, ad 3. „...quod voluntas quantum ad aliquid sufficienter se movet, et in suo ordine, scilicet sicut agens proximum; sed non potest seipsam movere quantum ad omnia, ut ostensum est, unde indiget moveri ab alio, sicut a primo movente." Thomas betont, dass der von außen her bewegende Faktor am ersten Anfang der Willensbewegung das freiwillige Wesen der Willensbewegung nicht aufhebt, denn die freiwillige Bewegung setzt zwar voraus, dass das nächste Prinzip ein inneres ist, aber aus der Bedeutung des Freiwilligen (voluntarium) ist nicht unbedingt zu schließen, dass das erste Prinzip ein äußeres ist. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, ad 1. „...ergo dicendum quod de ratione voluntarii est quod principium eius sit intra, sed non oportet quod hoc principium intrinsecum sit primum principium non motum ab alio. Unde motus voluntarius, etsi habeat principium proximum intrinsecum, tarnen principium primum est ab extra..."; ScG I, c. 68, n. 574. „Dominium autem quod habet voluntas supra suos actus, per quod in eius est potestate velle vel non velle, excludit determinationem virtutis ad unum, et violentiam causae exterius agentis: non autem excludit influentiam superioris causae, a qua est ei esse et operari. Et sie remanet causalitas in causa prima, quae Deus est, respectu motuum voluntatis."
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Wenn man annimmt, dass es am ersten Anfang der Willensbewegungen nicht einen von außen her bewegenden Faktor, sondern nur noch eine Selbstbewegung gebe, muss man zu dem absurden Schluss kommen, dem angeblichen Anfang der Willensbewegungen gehe wiederum eine vermittelnde Erwägung voraus, die ihrerseits noch einen Willensakt voraussetzt. Um die unendliche Zurückfuhrung zu vermeiden, muss ein erstes Bewegendes angenommen werden, das von diesen wechselseitig bewegenden beiden Potenzen unterschieden ist.87 Es ist nicht schwierig zu erfassen, dass in diesem Beweis die früher behandelte Problematik des ersten Anfangs der Wechselbewegung der beiden Potenzen wieder aufgegriffen wird.88 Lassen wir das Thema zunächst beiseite, wie sich der hier formulierte Gedanke von der ersten Willensbewegung zu dem früheren Gedanken vom ersten Anfang der Wechselbewegung der beiden Potenzen inhaltlich verhält. Hier gehen wir eher auf die nächste Frage des Thomas ein, was das von außen her Bewegende am ersten Anfang der Willensbewegungen sein soll. Dabei setzt sich Thomas vor allem mit der damals von gewissen Leuten vertretenen Meinung auseinander, die Himmelskörper nähmen unmittelbar auf den menschlichen Willen Einfluss.89 Mag der Wille des Menschen auch unter der Wirkung von Himmelskörper stehen, dann ist das nur so, sofern der Wille auf akzidentelle Weise durch das emotionale und sensitive Streben bewegt werden kann. Wenn es nach dem jahreszeitlichen Verlauf der Himmelskörper kalt wird, entscheidet der Mensch sich am Feuer zu wärmen, aber diese Entscheidung kommt nur deswegen vor, weil der Einfluss der Himmelskörper die Disposition der körperlichen Organen und die sensitive Kraft des
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, c. „Et si quidem ipsa moveret seipsum ad volendum, oportuisset quod mediante consilio hoc ageret ex aliqua voluntate praesupposita. Non autem est procedere in infinitum. Unde necesse est ponere quod in primum motum voluntatis voluntas prodeat ex instinctu alicuius exterioris moventis..."; De malo, q. 6, c. „Sed cum voluntas non semper voluerit consiliari, necesse est quod ab aliquo moveatur ad hoc quod velit consiliari; et si quidem a seipsa, necesse est iterum quod motum voluntatis praecedat consilium, et consilium praecedat actus voluntatis; et cum hoc in infinitum procedere non possit, necesse est ponere, quod quantum ad primum motum voluntatis moveatur voluntas cuiuscumque non semper actu volentis ab aliquo exteriori, cuius instinctu voluntas velle incipiat." Vgl. Kapitel II, 2-2. (3) Das Problem des ersten Anfangs der Wechselbewegung. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 5, c. „Sed eo modo quo voluntas movetur, quantum ad exercitium actus, ab aliquo exteriori agente, adhuc quidam posuerunt, corpora caelestia directe imprimere in voluntatem humanam." Diese Auseinandersetzung des Thomas kann man übrigens noch in folgenden Stellen beobachten: De ver., q. 5, a. 10; q. 24, a. 1, ad 19; Sum. theol. I, q. 105, a. 4; ScG III, c. 85; Compendium theologiae, lib. 1, c. 129.
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Menschen bewegt, durch die wiederum der Wille beeinflusst wird.90 Das hauptsächliche Argument des Thomas beruht auf dem Prinzip, dass die körperlichen Dinge nicht fähig sind, auf das immaterielle Wesen unmittelbar zu wirken, welches jenen an Form und Allgemeinheit überlegen ist.91 So kommt Thomas in De malo zu dem Schluss, dass das, was den Willen und den Verstand am ersten Anfang ihrer Bewegungen anstoßen kann, etwas den Willen und den
90 Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 5, ad 2. „... motus corporales humani reducuntur in motum caelestis corporis sicut in causam, inquantum ipsa dispositio organorum congrua est ad motum aliqualiter ex impressione caelestium corporum; et inquantum etiam appetitus sensitivus commovetur ex impressione caelestium corporum; et ulterius inquantum corpora exteriora moventur secundum motum caelestium corporum, ex quorum concursu voluntas incipit aliquid velle, sicut adveniente frigore incipit aliquis velle facere ignem." 91 Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 5, c. „Unde reliquitur quod voluntas sit potentia omnino immaterialis et incorporea. Manifestum est autem quod nullum corpus agere potest in rem incorpoream, sed potius e converso, eo quod res incorporeae et immateriales sunt formalioris et universalioris virtutis quam quaecumque res corporales. Unde impossibile est quod corpus caeleste imprimat directe in intellectum aut voluntatem"; De malo, q. 6, c. „Cum enim voluntas sit in ratione, secundum Philosophum in III de anima, ratio autem intellectus non sit virtus corporea, impossibile est quod virtus corporis caelestis moveat ipsam voluntatem directe." Der Grund dafür, dass die körperlichen Dinge auf den immateriellen und intellektuellen Seelenteil nicht direkt wirken können, liegt eigentlich darin, dass ein Körper nur durch Bewegung tätig sein kann, aber der intellektuelle Seelenteil für sich genommen außerhalb der Bewegung ist. Die Tätigkeit der intellektuellen Seele, die nicht Wirklichkeit irgendeines körperlichen Organs ist, wird nämlich nicht in der Bewegung, sondern vielmehr im Gegenteil der Bewegung vollendet, wie Aristoteles in seiner Physik erwähnt, dass in der Ruhe von den Bewegungen die Seele Erkenntnis und Wissen findet. Vgl. ScG III, c. 84. n. 2584-85. „Sed ea quae sunt circa intellectum, sunt omnino extra motum, per se loquendo, sicut patet per Philosophum in phys.: quinimmo „per quietem a motibus fit anima prudens et sciens" (Physik VII, c. 3, 247b 10), ut ibidem dicitur... Nihil autem movetur nisi corpus, ut probatur in VI phys. Oportet ergo omne quod recipit impressionem alicuius corporis, esse corpus, vel aliquam virtutem corpoream."; Compendium theologiae I, c. 127. „Nullum corpus agit nisi per motum. Omne igitur quod ab aliquo corpore patitur, movetur ab eo. Animam autem humanam secundum intellectivam partem, in qua est voluntas, impossibile est motu corporali moveri, cum intellectus non sit actus alicuius organi corporalis..." Es kommt also, wie Thomas zu Recht angibt, bei der Ablehnung der Willensbewegung durch die Himmelskörper letztlich darauf an, den sinnlichen und den geistigen Teil der menschlichen Seelenpotenzen zu unterscheiden. Vgl. De malo, q. 6, c. „Ponere autem quod voluntas hominum movetur ex impressione caelestis corporis sicut appetitus brutorum animalium moventur, est autem secundum opinionem ponentium non differe intellectum a sensu."; Sum. theol. I, q. 115, a. 4, c. „Unde si intellectus et voluntas essent vires corporis organis alligatae sicut posuerunt aliqui dicentes, quod intellectus non differt a sensui, ex necessitate sequeretur quod corpora caelestia essent causa electionum et actuum humanorum."
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Verstand Überragendes sein muss, nämlich Gott.92 Bei dem Erweis der Wirkungsmacht Gottes auf den menschlichen Willen können wir wiederum einen interessanten Hinweis auf eine Stelle der Eudemischen Ethik finden, welche er schon im dritten Teil der Summa contra gentiles ebenso wie im ersten Teil der Summa theologiae angeführt hat.93
(2) Die Bedeutung der Willensmotivation durch Gott Wir haben erreicht, dass man den göttlichen Ursprung notwendig annehmen muss, um die Selbstbewegung des Willens überhaupt begründen zu können.
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Vgl. De malo, q. 6, c. „... id quod primo movet voluntatem et intellectum, sit aliquid supra voluntatem et intellectum, scilicet Deus." Vgl. Eudemische Ethik VIII, c. 2, 1248a25-29. „Worauf es uns ankommt, ist dieses: was setzt den Anfang der Bewegung in der Seele? Nun es ist klar: so wie es in der Gesamtheit der Dinge Gott ist (der bewegt), so bewegt er auch alles jene (in der Seele). Denn in gewisser Weise setzt das Göttliche in uns alles (in uns) in Bewegung: des Denkens Anfang ist ja nicht das Denkende, sondern etwas Stärkeres. Was nun wäre sowohl dem Wissen wie der Denkkraft überlegen außer Gott?"; ScG III, c. 89; Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3. Außer diesem Argument, das auf der Immateriallität des Willens beruht, gibt Thomas in Sum. theol. I-II, q. 9, a. 6 noch einen wichtigen Grund an, warum die erste Willensbewegung nur durch Gott verursacht wird. Den Grund sieht Thomas darin, dass die Bewegung des Willens als eine naturhafte Bewegung nur durch etwas verursacht werden kann, was als die Ursache der Willensnatur selbst gilt. Die Ursache der naturhaften Bewegung muss nämlich zugleich der Grund der Substanz sein, die der innere Ursprung der Bewegung ist und durch diese Bewegung vervollkommnet wird. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 6, c. „Quamvis autem rem naturalem possit aliquid movere quod non est causa naturae rei motae, tarnen motum naturalem causare non potest nisi quod est aliqualiter causa naturae... Sic ergo hominem voluntatem habentem contingit moveri ab aliquo principio extrinseco quod non est causa voluntatis, est impossibile."; De malo, q. 3, a. 3, c. „Relinquitur ergo quod causa perficiens et propria voluntarii actus sit solum id quod interius operatur; hoc autem nihil aliud esse potest quam ipsa voluntas sicut causa secunda et Deus sicut causa prima. Cuius ratio est quia actus voluntatis nihil aliud est quam inclinatio quaedam voluntatis in volitum, sicut et appetitus naturalis nihil aliud quam inclinatio naturae in aliquid. Inclinatio autem naturae est et a forma naturali et ab eo quod dedit formam: unde dicitur quod motus ignis sursum est ab eius levitate et a generante quod talem formam creavit. Sic igitur motus voluntatis directe procedit a voluntate et a Deo qui est voluntatis causa, qui solus in voluntate operatur et voluntatem inclinare potest in quodcumque voluerit." Diesen Gedanken kann man schon im ersten Buch der Summa contra gentiles beobachten: „Deus cognoscit, quam essentiam cognoscendo, ad quae sua causalitas extenditur. Extenditur autem ad operationes intellectus et voluntatis: nam cum res quaelibet operetur per suam formam, a qua est aliquod esse rei, oportet fontale principium totius esse, a quo est etiam omnis forma, omnis operationis principium esse." (ScG I, c. 68, n. 569) Vgl. Riesenhuber, a.a.O., S. 308.
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Die Selbsterklärung des Thomas
Der göttliche Ursprung für die menschliche Willensbewegung ist ein konstitutives Gedankenmoment, ohne das sich die späte Freiheitslehre des Thomas letztlich als bodenlos darstellen würde. Aber es ist natürlich kein einmaliger und isolierter Gedanke. Thomas stellte nämlich stets fest und brachte mehrmals zur Sprache, auch in seinen früheren Werken, dass Gott als die Ursache des Wahlaktes des Willens gelten kann.94 Trotz des wohl feststellbaren gedanklichen Zusammenhangs dürfen wir aber die besondere Bedeutung des Gedankens von der göttlichen Motivation des Willens in De malo und in Prima secundae nicht übersehen. In diesen Traktaten wird nämlich der „erste" Übergang der Willenspotenz zum Akt im Ausgangspunkt einer Reihe des Wollens hervorgehoben, während Thomas in den meisten anderen Werken am Einfluss Gottes auf jede Tätigkeit der Natur und des Willens in allgemeiner Hinsicht interessiert ist.95 Nun betrachten wir den göttlichen Motivationsgedanken näher und greifen die Frage auf, was die von Thomas dargelegte Willensmotivation durch Gott konkret bedeuten soll. Dabei müssen wir zuerst das offenbar falsche Verständnis vermeiden, mit dem Gedanken vom ersten Anfang der Willensbewegung meine Thomas nur, dass Gott die Ursache für das Sein des Willens sei. Gott hat zwar die zur intellektuellen Erkenntnis und zur willentlichen Selbstbewegung befähigte Vernunftseele als ein Ganzes mit ihrem Habitus geschaffen. Wie der
94 Als die Stellen, in den sich dieser Gedanke niederschlägt, kann man u.a. die folgenden angeben: In I Sent., d. 37, q. 1, a. 1, ad 4; De ver., q. 5, a. 10; q. 22, a. 8, q. 24, a. 14, c; ScG I, c. 68; III, c. 89; Sum. theol. I, q. 83, a. 1, ad 2 und 3; Sum. theol. I, q. 105, a. 4; q. 106, a. 2; q. 115, a. 4; Quodl., I, a. 7; De malo, q. 3, a. 3. 95 Vgl. Klubertanz, a.a.O., S. 717; De ver., q. 24, a. 14, c. „...cum nulla res possit in naturam operationem exire nisi virtute divina, quia causa secunda non agit nisi per virtutem causae primae, ut dicitur in lib. De Causis. Et hoc verum est tarn in naturalibus agentibus quam in voluntariis." Lottin bemerkt aus diesem Grund, dass die explizite Darlegung der Notwendigkeit der ersten Willensbewegung durch Gott gleichzeitig mit der Unterscheidung zwischen der Vollzugsfreiheit und der Spezifikationsfreiheit des Willens erscheint. Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 257f. Aber als eine wichtige Stelle, wo der Gedanke von der ersten Willensbewegung durch Gott antizipiert ist, muss doch ScG III, c. 89, n. 2651 erwähnt werden. „Argumentatur ad hoc Aristoteles, in VIII Eudemicae Ethicae, per hunc modum. Huius quod aliquis intelligat et consilietur et eligat et velit, oportet aliquid esse causam: quia omne novum oportet quod habeat aliquam causam. Si autem est causa eius aliud consilium et alia voluntas praecedens, cum non sit procedere in his in infinitum, oportet devenire ad aliquid primum. Huiusmodi autem primum oportet esse „aliquid" quod est „melius" ratione. Nihil autem est „melius intellectu" et ratione „nisi Deus". Est igitur Deus primum principium nostrorum consiliorum et voluntatum." Vgl. Schönberger, Thomas von Aquins (Summa contra gentiles), S. 162.
Die Willensfreiheit als Selbstbewegung des Willens
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Verstand eigentlich mit der habituellen Einsicht in die Prinzipien des Denkens ausgestattet ist, ist dem Willen von Natur aus die habituelle Neigung zum universalen Guten eigen. Thomas selbst erwähnt in Sth I-II, q. 9, a. 6, dass Gott die Ursache des Willens ist, und zwar aus zwei Gründen, dass der Wille als eine Potenz der Vernunftseele durch Gott geschaffen und auf das universale Gut, nämlich auf Gott selbst hingeordnet ist.96 Aber es ist hier zu beachten, dass Thomas in dem genannten Text nicht die durch Gott initiierte erste Willensbewegung selbst beschreibt, sondern eher die Möglichkeitsbedingungen für sie herausstellt. Die anfangliche Willensmotivation durch Gott bedeutet mehr als die bloße Erschaffung des Willens mit seiner habituellen Natur durch Gott. Gott ist ja nicht nur die Ursache für das Sein des Willens, sondern auch die Ursache für die Bewegung des Willens. Bei dem Gedanken von der göttlichen Willensmotivation handelt es sich um das Bewegtwerden, durch das und nach dem sich selbst der Wille sofort zum Erwägen und Wollen des bestimmten Objekts weiter bewegen kann. Thomas gibt jedoch keine weiteren ausfuhrlichen Erklärungen, wie dieses Bewegtwerden des Willens empirisch konkret vorzustellen ist. Was man wenigstens sagen kann, ist jedoch wie folgt: am Anfang jeder wirklichen Reihe von zusammenhängenden konkreten Willensakten, die bisher nicht vollzogen wurden, muss es die göttliche Motivation geben. Mit dieser Motivation wird nämlich der Fall erklärt, dass jemand etwas zu wollen anfangt, was er bisher gar nicht wollen konnte.97 Dies besagt aber nicht, dass der Bewegungsanstoß Gottes in jeden Wahlakt zum partikularen Teilgut an sich unmittelbar eingreifen würde. Die Bewegungskausalität, die Gott als dem universalen Gut und dem Erstbeweger eigen ist, besteht darin, den Willen zum universalen Gut zu neigen und die sogenannte Urgewilltheit des Willens zur Glückseligkeit auszulösen, wie Thomas betont.98 Dabei kommt es aber darauf an, dass diese Urgewilltheit, die dem
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 6, c. „Voluntatis autem causa nihil aliud esse potest quam Deus. Et hoc patet dupliciter. Primo quidem ex hoc quod voluntas est potentia animae rationalis, quae a solo Deo causatur per creationem, ut dictum est. Secundo vero ex hoc quod voluntas habet ordinem ad universale bonum; unde nihil aliud potest esse voluntatis causa nisi ipse Deus, qui est universale bonum." Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, c. „Manifestum est autem quod voluntas incipit velle aliquid cum hoc prius non vellet."; Klubertanz, a.a.O., S. 718. Vgl. Sum. theol. I, q. 105, a. 4, c. „Similiter autem et virtus volendi a solo Deo causatur. Velle enim nihil aliud est quam inclinatio quaedam in obiecto voluntatis, quod est bonum universale. Inclinare autem in bonum universale est primi moventis, cui proportionatur ultimis finis; sicut in rebus humanis dirigere ad bonum commune est eius qui praeest multitudini."; ad 1. „...Deus movendo voluntatem non cogit ipsam, quia dat ei eius propriam
180
Die Selbsterklärung des Thomas
Willen als eine natürliche und habituelle Neigung gegeben ist, nicht immer aktuell ist." Es gibt daher den Fall, dass wir bestimmte Teilgüter nicht wollen oder sogar eine Reihe der sinnvollen Wahlakte zu diesen gar nicht wagen, weil wir das universale Gut nicht aktuell wollen und erkennen. Ohne den Bewegungsanstoß Gottes wäre es endlich unmöglich, dass das ursprüngliche Wollen zum universalen Guten jeweils als wirkliches erstes ,Motiv' in einer bestimmten Reihe des Wollens im konkreten Zielzusammenhang in Gang kommt. Indem Gott die nicht aktuelle Neigung des Willens zum universalen Gut jeweils zur wirklichen Bewegung anstoßt, ermöglicht also Gott auch die Wahlakte zu bestimmten Objekten als Selbstbewegung des Willens, und auf diese Weise beeinflusst er zu beliebiger Zeit das konkret wollende und überlegende Geistesleben des Menschen.100 Dieses Eingreifen Gottes in die Willensbewegung des
inclinationem."; Sum. theol. I-II, q. 109, a. 6, c. „...et ideo, cum secundum ordinem agentium sive moventium sit ordo finium, necesse est quod ad ultimum finem convertatur homo per motionem primi moventis, ad finem autem proximum per motionem alicuius inferiorum moventium."; Pesch, a.a.O., S. 20. 99 Sofern der menschliche Wille in sich die Potentialität enthält, kann er nicht immer tätig sein. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 1, ad 2. „Et similiter non oportet quod voluntas, quae de potentia in actum reducitur dum aliquid vult, semper actu velit, sed solum quando est in aliqua dispositione determinata. Voluntas autem Dei, quae est actus purus, semper est in actu volendi." Das ist der Grund, dass Thomas wie folgt schreibt: „Sed quia non semper sanitatem actu voluit, necesse est quod incoeperit velle sanari aliquo movente." Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, c; „Sed cum voluntas non semper voluerit consiliari, necesse est quod ab aliquo moveatur ad hoc quod velit consiliari." De malo, q. 6, c. 100 Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 6, ad 3. „Sed tarnen interdum specialiter Deus movet aliquos ad aliquid determinate volendum, quod est bonum..." Pesch erwähnt in seiner Abhandlung eine nicht eindeutig lösbare Frage, die in Bezug auf die thomasische Lehre von der ersten Willensbewegung gestellt wird. Vgl. Pesch, a.a.O., S. 20f. Die Frage ist, ob Gott die erste Willensbewegung nur hinsichtlich des letzten Ziels auslöst oder auch hinsichtlich des partikularen Guten als Teilziels. Meines Erachtens muss man angesichts dieser Frage zwei mögliche Interpretationsextreme vermeiden, nach denen die göttliche Motivation entweder so verstanden wird, dass diese mit den konkreten Wahlakten nichts zu tun habe, weil sie nur auf das ursprüngliche Wollen des universalen Guten zutreffe, oder dass Gott den Willen zu einzelnen Wahlakten des partikularen Guten direkt bewege. Hierfür können wir zwei Seiten in Betracht ziehen: Einerseits ist es unwahrscheinlich, Gott bewege den Willen des Menschen so, dass der Mensch das Teilgut, welches in sich bestimmte Mängel enthält, wie ein letztes ,Motiv' erstrebt ohne intentionale Bezogenheit auf das universale Gut. Überdies würde dem Willen der Raum der Wahlfreiheit nicht gegeben, wenn Gott den Willen bei einzelnen Wahlakten zum konkreten Wollen der Teilgüter direkt bewegen würde. Andererseits aber erstreckt sich die göttliche Bewegungskausalität, sofern Gott das erste Prinzip für die konkrete Selbstbewegung des Willens ist, jeweils bis zum Vollzug der Wahlakte dessen, was auf das letzte Ziel hingeordnet
Die Willensfreiheit
als Selbstbewegung
des
Willens
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M e n s c h e n ist im theologischen Kontext unter d e m Begriff der Gnade verstehbar. 101 Der Gedankeninhalt der ersten W i l l e n s b e w e g u n g durch Gott wird v o n Thomas in den Gnadentraktaten der Prima bracht.
secundae
wieder zur Sprache ge-
102
D i e letzte wichtige Frage ist nun, ob das Eingreifen Gottes in die Willensb e w e g u n g der Freiheit des Willens nicht widerstreitet. Sofern Gott nicht alle Wahlakte, sondern nur die erste W i l l e n s b e w e g u n g unmittelbar anstoßt, findet man keinen Grund, in der W i l l e n s b e w e g u n g durch Gott die A u f h e b u n g der menschlichen Freiheit zu sehen, denn nachdem der Wille durch Gott dazu bew e g t wird, das universale Gute zu wollen, ist es gänzlich d e m Willen anheim gestellt, zu w e l c h e m konkreten W o l l e n er sich selbst weiter bewegt, und folglich ist er auch verantwortlich dafür. D a s B e w e g t w e r d e n durch Gott als das erste Prinzip hindert den Willen k e i n e s w e g s daran, durch sich selbst als das innerliche und nächste Prinzip b e w e g t zu werden. 1 0 3 Überdies betont Thomas, dass Gott als das erste Prinzip im Willen immer g e m ä ß der Natur und der Eigenart des Willens wirkt. 1 0 4 Und zur Eigenart des
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ist. Wenn es nicht so wäre, würde sich der Wirkungsumfang Gottes, der die erste Ursache für die Tätigkeit aller Dinge ist, als begrenzt darstellen. Vgl. Sum. theol. I II, q. 9, a. 6, ad 3. Die Gnadenlehre des Thomas ist vor allem in Sum. theol. I-II q. 109-113 systematisch dargelegt. In vielen Stellen spiegelt sich der Gedanke von der göttlichen Motivation, der in De malo und in Sum. theol. I-II, q. 9 erörtert wird. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 109, a. 1, c. „Manifestum est autem quod, sicut omnes motus corporales reducuntur in motum caelestis corporis sicut in primum movens corporate; ita omnes motus tarn corporales quam spirituales reducuntur in primum movens simpliciter, quod est Deus."; q. 109, a. 2, c. „...natura humana indiget auxilio divino ad faciendum vel volendum quodcumque bonum, sicut primo m o v e n t e . . . a d 1. „... liberum arbitrium hominis moveatur ab aliquo exteriori principio quod est supra mentem humanam, scilicet a Deo"; Sum. theol. I-II, q. 9, a. 6, c. „Quod autem ad hoc indigeamus auxilio Dei moventis, manifestum est." Die inhaltliche Entsprechung der ersten Willensbewegung durch Gott findet sich vor allem im Begriff der wirkenden Gnade (gratia operans), den Thomas von der theologischen Tradition seit Augustinus rezipiert hat. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 111, a. 2, c. „In illo ergo effectu in quo mens nostra est mota et non movens, solus autem Deus movens, operatio Deo attribuitur: et secundum hoc dicitur ,gratia operans' ... et praesertim cum voluntas incipit bonum velle, quae prius malum volebat. Et ideo secundum quod Deus movet humanam mentem ad hunc actum, dicitur gratia operans." Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, ad 1; De malo, q. 6, ad 4. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 4, ad 1. „...voluntas divina non solum se extendit ut aliquid fit per rem quam movet, sed ut etiam eo modo fiat quo congruit naturae ipsius."; ad 2. „... naturale est unicuique quod Deus operatur in ipso ut sit ei naturale."; De malo, q. 6, ad 3. „... inquantum Deus omnia movet proportionabiliter, unumquodque secundum suum modum."
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Die Selbsterklärung des Thomas
Willens gehört es, sofern er eine immaterielle Potenz ist, in Bezug auf das Mittel indeterminiert zu sein und frei zu wählen, ohne irgendeiner Notwendigkeit zu unterstehen. Deswegen bewegt Gott den Willen nur so, dass dem Willen beim Wählen nicht Notwendigkeit, sondern kontingente Wahlmöglichkeiten gegeben werden.105 Angesichts dieser Kontingenz und Indeterminiertheit vollzieht der Wille durch seine Fähigkeit zur Reflexion frei seinen spezifischen Akt. Die Freiheit des Willens in diesem Sinne wird durch die von Gott angestoßene Bewegung nicht aufgehoben, sondern eher umgekehrt ist sie bereits im Augenblick dieser ersten Willensbewegung gegeben, denn das Bewegtwerden des Willens zum universalen Guten bedeutet für den Willen, dass er nun durch seine Reflexionsfahigkeit entscheiden muss, ob er seinen von Gott bewirkten Akt selbst weiter wollen oder nicht wollen soll.
105 Vgl. De malo, q. 6, c. „...qui cum omnia moveat secundum rationem mobilium, ut levia sursum et gravia deorsum, etiam voluntatem movet secundum eius conditionem, non ut ex necessitate, sed ut indeterminate se habentem ad multa."; ad 3. „...sed propter naturam voluntatis motae, quae indifferenter se habet ad diversa, non inducitur necessitas, sed manet libertas, sicut etiam in omnibus Providentia divina infallibiliter operatur."; Sum. theol. I-II, q. 10, a. 4, c. „Quia igitur voluntas est activum principium non determinatum ad unum sed indifferenter se habens ad multa, sie Deus ipsam movet quod non ex necessitate ad unum determinat, sed remanet motus eius contingens, et non necessarius, nisi in his ad quae naturaliter movetur."; ad 1. „...Et ideo magis repugnaret divinae motioni si voluntas ex necessitate moveretur, quod suae naturae non competit, quam si moveretur libere, prout competit suae naturae."; In II Ep. ad Cor., c. 3, lect. 1, n. 87. „Et hoc est Deus, qui et homines movet et omnia, quae agunt ad actiones suas, sed aliter et aliter. Cum enim huiusmodi motus sit quoddam reeeptum in moto, oportet quod hoc fiat secundum modum suae naturae, id est, rei motae. Et ideo omnia movet secundum suas naturas. Ea ergo, quorum natura est ut sint naturae voluntatis, dominium suarum actionum habentia, movet libere ad operationes suas, sicut creaturas rationales et intellectuales."; In Ep. ad Rom., c. 9, lect. 3, n. 778. „...Deus omnia movet, sed diversimode, inquantum scilicet unumquodque movetur ab eo secundum modum naturae suae. Et sic homo movetur a Deo ad volendum et currendum per modum liberae voluntatis. Sic ergo velle et currere est hominis, ut libere agentis: non autem est hominis ut principaliter moventis, sed Dei."
Kapitel V. Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
Wir haben bisher die frühe und die späte Lehre des Thomas von der Willensfreiheit im polemischen Zusammenhang mit der Lehre der zeitgenössischen Disputanten betrachtet. Die Lehren von der Aktivität und Selbstbewegung des Willens, welche von Walter und Gerhard behauptet wurden, haben offenbar auf den heiligen Doktor einen gewissen Einfluss ausgeübt. Die späte thomasische Freiheitslehre ist als eine sorgfältige Selbsterklärung gegenüber der Reaktion von der zeitgenössischen voluntaristischen Seite anzusehen. Nun wollen wir unsere bisherige Untersuchung unter Rücksicht der zentralen Frage der vorliegenden Arbeit zusammenfassen. Kann man in der thomasischen Freiheitslehre in chronologischer Hinsicht eine inhaltliche Entwicklung oder Veränderung feststellen? Wie soll man die von vielen Forschern vertretene Annahme Lottins beurteilen, die thomasische Freiheitslehre erfahre einen mehr oder weniger grundlegenden Wandel von der intellektualistisch-deterministischen Position zur beachtlich voluntaristischeren, reifen Position? Bevor wir zu dieser Behauptung Stellung nehmen, geben wir zunächst einen kurzen Überblick über die verschiedenen Interpretationen angesichts des sogenannten Lehrveränderungsproblems. Durch diesen Überblick können wir zur Erkenntnis kommen, worin die wesentlichen Streitpunkte bestehen.
1. Die Interpretationen des Problems Der erste, der in der thomasischen Freiheitslehre den inhaltlichen Wandel entdeckt und herausgestellt hat, war Dom O. Lottin. Er hat seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch eine Reihe von Forschungen über die thomasischen Freiheitstraktate die Lehrveränderung zu erweisen versucht.1 Trotz seiner
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Das Ergebnis seiner Forschungen in den zwanziger Jahren ist 1929 in der Form einer Monographie, La theorie du libre arbitre depuis S. Anselme jusqu'ä S. Thomas d'Aquin, erschienen. Siehe vor allem S. 150ff.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen
Freiheitsgedanken
Modifikation der Meinung, wann der Zeitpunkt der Lehrveränderung des Thomas sein soll, bestand er auf der konsequenten Idee, dass im Unterschied zu den früheren Werken des Thomas in De malo q.6 die Aktivität des Willens betont wird, wie bei Walter von Brügge, Gerhard von Abbeville und Albertus Magnus.2 Dies steht in theoretischer Hinsicht im Zusammenhang mit dem Sachverhalt, dass in den thomasischen Texten der Verstand nicht mehr als finale Ursache, sondern als formale Ursache fur den Willensakt dargelegt wird.3 Das Kennzeichen für diese Veränderung kann man darin sehen, dass erst in den späten Werken die Freiheit der Spezifikation und die Freiheit des Vollzugs unterschieden werden und die Lehre von der Willensmotivation durch Gott auftaucht. 4 Als ein weiteres Kennzeichen kann man auch anführen, dass die Terminologie des liberum arbitrium ihre bedeutende Rolle verliert5 und stattdessen die doppelte Freiheit, nämlich „liberte d'arbitre vis-ä-vis des moyens" und „liberte de la volonte vis-ä-vis de la fin derniere elle-meme" in den Vordergrund des Gedanken rückt.6 Aber Lottin behauptet nicht, dass im Entwicklungsvorgang der thomasischen Lehre von der Freiheit nur der strenge Abbruch zu betrachten ist. Er gesteht nämlich eine gewisse Kontinuität zwischen den frühen und den späten Werken zu, die z.B. in den folgenden Punkten zu merken ist: Den Keim der Unterscheidung zwischen der Freiheit der Spezifikation und der Freiheit des Vollzugs kann man bereits in De veritate finden,7 und der Gedanke von der Willensmotivation durch Gott tritt schon in Summa contra gentiles auf. 8 Trotz
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Vgl. Psychologie et morale I, S. 253. „Gauthier de Bruges, Gerard d'Abbeville, Albert le Grand avaient fortement souligne le caractere actif de la volonte. Or, autant qu'eux, saint Thomas l'accentue. A sa maniere toutefois." Vgl. a.a.O., S. 254. Vgl. a.a.O., S. 257. Vgl. a.a.O., S. 225. Siehe auch Lonergan, Grace and Freedom, S. 93; Klubertanz, „The Unity of Human Activity", in: The Modern Schoolman, XXVII. 2 (1950), S. 95. Vgl. a.a.O., S. 261-262. Diese doppelte Freiheit beruht nach Lottin letztlich auf der Selbstdetermination des Willens, die ihrerseits auf der Immaterialität des Denkens fundiert ist. Vgl. La theorie du libre arbitre depuis S. Anselme jusqu'a S. Thomas d'Aquin, S. 153; Psychologie et morale I, S. 258. In diesem Punkt kann man also nicht vom gegensätzlichen Unterschied zwischen der frühen und der späten Lehre reden. „II ne faudrait sans doute pas urger la difference, manifeste d'ailleurs, qui existe entre cet expose du De malo et celui du De veritate. Car la distinction entre liberte d'exercice et liberty de specification qui fournit le cadre ä la question 6 du De malo n'est pas etrangere au De veritate, q. 22, a. 6, oü saint Thomas parle de redetermination de la volonte vis-ä-vis de Γ acte meme de vouloir et de l'objet de cet acte... On ne peut done parier d'opposition, ni meme de diversite de doctrine." Vgl. Psychologie et morale I, S. 258. Siehe vor allem: ScG III, c. 8 8 - 8 9 .
Die Interpretationen des Problems
185
dieser konzessiven Einschränkung führt die Interpretation Lottins aber offenbar dazu, den inhaltlichen Abbruch in der thomasischen Freiheitslehre zu betonen. Nach Lottin herrschte nämlich in De veritate der psychologische Determinismus, der sich aus der Sicht ergibt, dass der Wille dem praktischen Urteil des Verstandes notwendig folgt,9 aber angesichts der Situation, in der sein Text De veritate von den verurteilten Averroisten missbraucht wird, wurde Thomas dazu veranlasst, seine überwiegend deterministisch ausgerichtete, bisherige Lehre zu korrigieren und damit in De malo q.6 und Prima secundae eine neue Freiheitslehre zu gestalten, die ihren Anhaltspunkt in der Selbstdetermination des Willens hat.10 Bernard Lonergan, einer der berühmtesten Theologen des 20. Jahrhunderts, hat in seiner Studie der Gnadenlehre die oben dargelegte Interpretation Lottins treu aufgenommen. Lonergan äußert sich, vom Sentenzenkommentar an bis zur Prima pars stehe der Verstand, der die verschiedenen möglichen Handlungsverläufe erkennt, im Zentrum der thomasischen Freiheitslehre, und erst in De malo und in Prima secundae werde die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass der Wille nicht durch den Verstand determiniert, sondern durch sich selbst bewegt wird." Nach Lonergan ist diese Entwicklung damit verbunden, dass die aristotelische Vorstellung des Willens als passive Potenz zurückgewiesen wird.12 Er schreibt: „Aristotelian passivity of appetite is then transcended and the freedom of man yields place to the freedom of the will".13 Überdies weist Lonergan darauf hin, im Vorgang der genannten Entwicklung werde auch die 9
Vgl. „Liberte humaine et motion divine de s. Thomas d'Aquin a la condemnation de 1277", in: RTAM1 (1935), S. 56. Daher interpretiert Lottin, dass in De veritate die Freiheit nicht auf den aktiven Einfluss des Willens, sondern bloß auf die objektive Indeterminiertheit des vernünftigen Urteils zurückgeführt wird. Vgl. Psychologie et morale I, S. 23lf. Die deterministische Interpretation der frühen Werke durch Lottin wird in seiner Schrift „La preuve de la liberte chez S. Thomas d'Aquin", die nach der Diskussion mit einigen Kritikern verfasst wurde, wieder festgestellt. Vgl. „La preuve de la liberte chez s. Thomas d'Aquin", in: RTAM 23 (1956), S. 326. „Le disaccord est impossible entre le choix et le jugement pratique qui Γ a determine." 10 Vgl. Psychologie et morale I, S. 253. „Et puis les averroistes du temps, qui venaient d'etre condamnes, n'avaient-ils pas abuse du texte du De veritate?"; a.a.O., S. 258. „On con^oit parfaitement que, desireux de separer sa cause de celle des averroistes, saint Thomas, sans d'ailleurs renier sa doctrine anterieure, ait evite de remettre au premier plan la loi psychologique qui, dans le De veritate, fournisssait le cadre de la demonstration." 11 Vgl. Grace and Freedom, S. 96. 12 Vgl. a.a.O., S. 94f. Der urspüngliche Beleg für diese Vorstellung findet sich in De anima: „appetibile apprehensum movet appetitum."(De anima III, c. 10, 433bl2f.) Siehe In III de anima, lect. 15, n. 830. 13 a.a.O., S. 96.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen
Freiheitsgedanken
Konzeption der Freiheit als Ausschluss von Zwang überwunden. Lonergan findet in De veritate, in De potentia und in Prima pars die beiläufigen Aussagen, wonach die Abwesenheit von Zwang notwendige Akte zu freien Akten macht,14 und hält diese Aussagen für einen „Lapsus", der letzten Endes sogar zu einem alles Verdienst und Unverdienst zerstörenden und alle Moralität untergrabenden häretischen Schluss fuhren kann. Diese Aussage und die daran angeschlossene Konzeption der Freiheit als Ausschluss von Zwang stehen also nach Lonergan dem Gedanken nahe, den Thomas selbst in De malo vehement als häretisch angreift, und deshalb muss der Historiker sie als „momentary aberration" ansehen.15 Zu den bedeutenden Vertretern der Lehrveränderung wird überdies Riesenhuber gerechnet, welcher 1971 eine ausgezeichnete Studie über die thomasische Willenslehre veröffentlicht hat.16 Während Lottin und Lonergan trotz der konzessiven Anerkenntnis der teilweise spürbaren Kontinuität zwischen den frühen und den späten Werken die Lehrveränderung des Thomas doch als radikale Kehre der Denkrichtung betrachten, indem sie behaupten, dass sich die Freiheitsbegründung des frühen Thomas von den deterministischen Zügen nicht befreit, betont Riesenhuber den Abbruch nicht dahingehend, dass das frühe Freiheitsargument im gegensätzlichen Verhältnis zur späten Lehre stehen würde. Riesenhuber betrachtet in der frühen thomasischen Lehre von Willen und Freiheit die Ambiguität und Spannung zwischen den intellektualistischen und den voluntaristischen Gedankenmomenten. 17 Durch das unauffällige, jedoch
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Vgl. a.a.O., S. 94. „On the other hand, in the De veritate, the De potentia and the Pars prima one does find incidental statements to the effect that non-coercion makes necessary acts free: of necessity yet freely God wills his own exellence (Vgl. De ver., q. 23, a. 4), the Holy Spirit proceeds (Vgl. De pot., q. 10, a. 2, ad 5), the human will tends to beatitude (De ver., q. 22, a. 5, ad 3), the demonic will is fixed in evil (De ver., q. 24, a. 10, ad 5) and perhaps the sinner is impotent to avoid further sin (Vgl. De ver., q. 24, a. 12, ad 10)." 15 Vgl. ebd. Überdies fuhrt Lonergan als die Lehrelemente, die von Thomas nur in der frühen Phase vorläufig behauptet und danach aufgegeben worden sind, noch die folgenden an: (1) Die Bestimmung des liberum arbilrium als eine dritte sowohl vom Willen wie vom Verstand verschiedene Pozenz. (2) Der Terminus des liberum arbitrium selbst. Die Kritik an dieser Interpretation Lonergans aber wurde bereits 1951 von Childress vorgebracht. Vgl. Marianne M. Childress, „Efficient Causality in Human Actions", in: The Modern Schoolman 28 (1951), S. 201f. Siehe auch die kleine Monographie von Terry J. Tekippe, Lonergan and Thomas on the Will. 16 Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, München, 1971. 17 Diese Ambiguität und Spannung spiegelt die Diversität der Traditionsquelle selbst wieder, die Thomas als Ansatz für sein Denken aufgenommen hat. Vgl. „The Bases and Meaning of Freedom in Thomas Aquinas", in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 48 (1974), S. 100-101; Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 183.
Die Interpretationen
des Problems
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grundlegende Umdenken verschiebt Thomas den Schwerpunkt auf die Autonomie des Willens, in der die Freiheit im eigentlichen Sinne endgültig begründet werden soll. 18 Riesenhuber scheint also auch darüber mit Lottin nicht ganz einig zu sein, was dieses Umdenken ausgelöst hat. Nach Riesenhuber wurde das Umdenken zwar durch die Kontroverse gegen die Averroisten gefordert,19 aber er sagt nicht, dass Thomas selbst vom averroistischen Determinismus Distanz nehmen wollte und deswegen seine frühe Theorie aufgegeben hat. Klubertanz interessiert sich in seiner Untersuchung nicht dafür, den Vergleich zwischen der frühen und der späten Freiheitslehre in isolierten Punkten ipositiones) anzustellen, denn falls der Vergleich in den Kategorien der frühen Werke ausgedrückt wird, wird der belangvolle Unterschied nicht ins Auge fallen. Daher beabsichtigt er vielmehr, die Argumentationen {viae) und die organische Struktur des Gedankens zu überprüfen.20 Der Fokus seiner Untersuchung liegt darin, die innere Ursache zu erörtern, welche der von Lottin entdeckten Lehrveränderung zugrunde liegt. Nach Klubertanz wurde die Veränderung der Positionen dadurch verursacht, dass Thomas über die formale Ursache für das Wollen in metaphysischer Hinsicht nachzudenken beginnt. Ihm zufolge konzentriert sich Thomas in seiner frühen Phase darauf, das Verhältnis des Willens und des Verstandes in der Instanz des Aktes zu erläutern, aber in De malo stellt Thomas seine Analyse des Wollens in metaphysischerer Hinsicht, d.h. in Hin-
„Wenn diese intellektualistische Tendenz oft in voluntaristischen Gegenstößen und gelegentlich überraschenden Umdeutungen urprünglich intellektualistischer Formulierungen abgefangen wird, so zeigt sich darin der noch unausgeglichene Widerstreit von zwei gegensätzlichen Freiheitskonzeptionen, die schon im antiken Denken ausgebildet waren und sich im mittelalterlichen Denken unter mancherlei Wandlungen fortentwickelten." 18 Vgl. „The Bases and Meaning of Freedom in Thomas Aquinas", S. 101. 19 Dies zeigt sich unmittelbar darin, dass in den späten thomasischen Traktaten die averroistisch-deterministischen Argumente als Einwände aufgegriffen und widerlegt werden. Vgl. Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 185, Anmerkung 200 und 201. 20 Dies ist der neuere Versuch des Klubertanz in seiner Abhandlung „The Root of Freedom in St. Thomas's Later Works" in: Gregorianum, XLII. 1 (1961). Vgl. a.a.O., S. 707. Klubertanz scheint sich vor dieser Abhandlung darauf zu beschränken, der Position Lottins und Lonergans zuzustimmen und sie wiederzugeben. Siehe z.B. „The Unity of Human Activity" (1950), The Modern Schoolman XXVII. 2, S. 94ff. Westberg schreibt, dass Klubertanz in der Abhandlung 1961 seine bisherige Zustimmung zu Lottin und Lonergan zurückgenommen oder mindestens mit Zurückhaltung revidiert hat. Vgl. „Did Aquinas Change his Mind about the Will?" in: The Thomist 58 (1994), S. 46. Aber Klubertanz bleibt auch in seiner neueren Abhandlung immer noch ein überzeugter Vertreter der Theorie der Lehrveränderung, die er durch seinen Untersuchungsversuch noch grundlegender darzustellen und zu begründen versucht. Deswegen ist es falsch, wenn Westberg die Untersuchung von Klubertanz als diskrepante Position gegen Lottin anführt.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen
Freiheitsgedanken
sieht der Beziehung der Form auf die Tendenz des Seienden an.21 Indem Thomas in De malo q.6 und in Prima secundae auf die erkannte Form als formale Ursache für das Wollen achtet, wird das Wollen, so behauptet Klubertanz, erst in der Parallelität mit der naturhaften Tendenz vorgestellt.22 Er ist der Meinung, dass die späte thomasische Theorie der Freiheit, die auf dieser metaphysischen Vorstellung gründet, sehr vollkommen und kohärent ist und keineswegs auf Gedanken in den frühen Werken reduzierbar ist.23 Die voluntaristische Kohärenz in De malo q. 6 wird von Pesch grundlegend analysiert und bestätigt.24 Durch die komparative Untersuchung der Prima pars und der De malo q. 6 erreicht er die Erkenntnis: „Die Ia Pars argumentiert in Sachen der Freiheit mit deutlicher Vorliebe aus dem Vergleich des Willens und seiner Bewegung mit dem Intellekt und dessen Vollzug. Mal 6 dagegen hat ebenso deutlich ein Interesse an der Eigenart des Willens in sich genommen und sucht so weit wie möglich die Beweisführung aus dieser Eigenart des Willens selbst zu entnehmen und im Raum seiner eigenen Bezüge als Wille zu halten. .. " 25 Pesch zögert nicht, die sachliche Bedeutsamkeit dieses Voluntarismus in De malo zu unterstreichen, dennoch bezeichnet er ihn als „eine voluntaristische Formulierung der im Grunde sich gleichbleibenden Lehre," da er den vollständigen Bruch zwischen den frühen Werken und De malo q. 6 verneinen will.26 Er erklärt aber in dem Punkt ohne weiteres sein Einverständnis zu Lottin, dass das Beschränken des Einflusses vom Intellekt auf den der formalen Ursache, welches als ein Zeichen des Voluntarismus gilt, „eine Art Rückzug" ist,
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Vgl. „The Root of Freedom in St. Thomas's Later Works", S. 710-711. Vgl. a.a.O., S. 712. So erwähnt Klubertanz am Schluss: „If any one single internal factor can be put at the source of these changes, it is the new metaphysical understanding of animal appetite even as rational and free as parallel to natural appetite." (a.a.O., S. 721). Vgl. a.a.O., S. 721. Vgl. „Philosophie und Theologie der Freiheit bei Thomas von Aquin in quaest. Disp. 6 De malo", in: Münchner Theologische Zeitschrift 13 (1962). Dieser Aufsatz wird von Schenk als vorläufiger Höhepunkt der Forschung über De malo q. 6 angenommen und kommentiert. Vgl. Richard Schenk, Die Gnade vollendeter Endlichkeit, S. 573f. „Philosophie und Theologie der Freiheit bei Thomas von Aquin in quaest. Disp. 6 De malo", S. 12. Hervorhebung nach Pesch. Vgl. a.a.O., S. 15. In diesem Zusammenhang macht Pesch einen Vorbehalt gegen die deterministische Interpretation der frühen thomasischen Freiheitslehre durch Lottin. Pesch weist auf die „voluntaristischen" Gedankenelemente in De veritate q. 22, a. 15 hin, und fragt, „ob man sie übergehen darf zugunsten des sicherlich nicht eindeutigeren Textes in Ver 24,2," und „ob man nicht umgekehrt auf der richtigeren Fährte ist, wenn man ver 24,2 nach den anderen, den (voluntaristischen) Texten interpretiert." a.a.O., S. 15, Anmerkung 49.
Die Interpretationen des Problems
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den Thomas wegen des Angriffs auf seine frühen Äußerungen durch Walter von Brügge und Gerhard von Abbeville antreten musste.27 Während die Lehrveränderungsthese Lottins auch unter den jüngsten Forschern immer noch hartnäckige Anhänger findet,28 scheint der Versuch einer ernsthaften Kritik an dieser Theorie relativ selten zu sein. Die erste Kritik wurde 1954 von Lauer vorgebracht.29 Die Kritik von Lauer lässt sich mit zwei Einwänden gegen die Annahme Lottins zusammenfassen, die kausale Bedeutung des objektiven Einflusses vom Verstand habe sich von der finalen zur formalen Ursache verschoben und darauf gründe die Lehrveränderung. Der erste Einwand ist: Es ist nicht evident, dass die formale Ursächlichkeit dem aktiven Charakter des Willens weniger abträglich ist als die finale Ursächlichkeit.30 Zweitens, die genaue Untersuchung der thomasischen Texte zeigt uns, dass der Verstand nicht nur in den späten Texten als die formale Ursache angenommen wird. Auch in der frühen Phase wird dem Verstand die formale Ursächlichkeit zugeschrieben31 und in den späten Texten wird ihm die finale Ursächlichkeit nicht abgesprochen, mag auch die formale Ursächlichkeit des Verstandes betont werden.32 Daher hat sich die Aussage des Thomas vom kausalen Verhältnis des Willens und des Verstandes bloß in Einzelheiten verändert, und das thomasische Verständnis der Ursächlichkeit des Verstandes scheint, so behauptet Lauer, durch die ganze Texte hindurch dasselbe zu bleiben.33 Lauer bezweifelt also die Annahme, dass Thomas wegen der Verurteilung 1270 seine Position verändern musste.34 Westberg hat ebenfalls eine kritische Untersuchung des Lehrveränderungsproblems geschrieben, in der er die Kontinuität der thomasischen Freiheitslehre hervorzuheben sucht. Er weist als die höchste Schwierigkeit in der Theorie der Lehrveränderung darauf hin, dass sich auch in De veritate die Emphase des Willens findet und in De malo q. 6 die Rolle des Verstandes nicht vernachläs-
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Vgl. a.a.O., S. 11, Anmerkung 36. Dazu zählen: James F. Keenan, Goodness and Rightness in Thomas Aquinas 's Summa Theologiae, Washington D.C., 1992 und Mary J. lozzio, Self-Determination and the Moral Act, Leuven, 1995. Vgl. Rosemary Z. Lauer, „St. Thomas's Theory of Intellectual Causality in Election", in: New Scholasticism 28 (1954). Vgl. a.a.O., S. 301; S. 309. Vgl. a.a.O., S. 307; S. 310; S. 319; De ver., q. 22, a. 12, c; ScGII, c. 47. Vgl. a.a.O., S. 316; S. 318. Vgl. a.a.O., S. 317f. „No matter what terms St. Thomas chooses to apply to the intellect's causality, the thought that ist expressed seems to be consistent throughout his writings." Vgl. a.a.O., S. 319.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
sigt wird.35 Nach ihm hat sich Thomas nirgends geäußert, dass der Wille das Urteil des Verstandes akzeptieren muss, sondern Thomas hat ständig nur auf dem voneinander abhängigen Verhältnis der beiden Potenzen bestanden.36 Von diesem Standpunkt ausgehend nimmt Westberg zu den von Lottin und Lonergan angeführten Anzeichen der Lehrveränderung Stellung: Erstens, im Gegensatz zu Lonergans Annahme, die Konzeption des Willens als passive Potenz werde später durch die Konzeption der aktiven Potenz ersetzt, ist das metaphysische Verständnis der Strebenspotenz bei Thomas unverändert.37 Zweitens, der von Lottin betonte Wechsel der kausalen Bedeutung des Verstandes spiegelt nur den Sachverhalt wider, dass Thomas die begriffliche Verbindung des Guten mit dem Ziel und die des Verstandes mit der Form genauer ausdrücken wollte.38 So kommt Westberg zu dem Schluss, dass man die grundlegende Einheit und Konsistenz der thomasischen Freiheitslehre anerkennen muss und höchstens von einer Verschiebung der Betonung sprechen kann.39 Trotz der ganzen Menge der Argumente fur und gegen die Annahme der Veränderung in der thomasischen Freiheitslehre ist es nicht einfach, den klaren Gegensatz der beiden Seiten auf den ersten Blick zu erfassen. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass auch die Vertreter der Lehrveränderungsthese eine gewisse Kontinuität zwischen der frühen und der späten Phase nicht verneinen, ebenso wenig die Kritiker einen gewissen Wandel. Durch einen bloßen komparativen Einblick in die frühen und späten Texte des Thomas lässt sich ja unschwer erkennen, dass es in der thomasischen Freiheitslehre sowohl veränderte als auch beständige Aspekte gibt. Daher scheint es vernünftig zu sein, nicht von der Fragestellung auszugehen, ob sich die thomasische Freiheitslehre verändert hat oder nicht, sondern eher von der Fragestellung, inwiefern und warum sie sich verändert hat. Die Untersuchung muss also darauf gerichtet werden, die Bedeutung der Lehrveränderung zu begrenzen und darüber hinaus den Grund der Lehrveränderung genau zu erörtern. Nur dadurch wird es überhaupt erst ermöglicht, zwar die Freiheitslehre des Thomas in Hinsicht der Entwicklung zu
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Vgl. „Did Aquinas Change his Mind about the Will?", S. 50. Vgl. a.a.O., S. 51. Vgl. a.a.O., S. 54f. Vgl. S. 56. „The element of final causality seems to be shifted from intellect to will but this is because of unterstanding more precisely the connection of voluntas with bonum, and bonum with finis... Free choice ist a matter of choosing, on the part of both reason and will, the bonum intellectum. This never changes in Thomas. But he came to express more precisely that final causality had to do with the bonum aspect, and formal causality with intellectum." Vgl. a.a.O., S. 58.
Versuch einer Interpretation
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betrachten, aber zugleich die kohärente Identität seiner Lehre als eines Ganzen nicht zu übersehen, die sich durch die Entwicklung hindurch durchsetzt. Diese Untersuchung erschöpft sich nicht darin, die veränderten und die beständigen Lehrelemente bloß nebeneinander anzuführen oder davon ausgehend die Aussagen des Thomas von der Willensfreiheit im Früh- und Spätwerk oberflächlich zu vergleichen. Aus der oben überblickshaft referierten Diskussion können wir nun eine Reihe der wesentlichen Fragen heranziehen, die wir überprüfen müssen, um den inneren Zusammenhang der Lehrentwicklung zu rekonstruieren. Ist es wahr, dass Thomas in den frühen Werken zum intellektuellen Determinismus neigt? Inwiefern kann man von Lehrveränderung reden, auch wenn eine beachtliche Kontinuität zwischen der frühen und der späten Freiheitsdarlegung bleibt? Wie soll man die Anzeichen der Lehrveränderung interpretieren, welche von Lottin und seinen Vertretern angeführt werden? Und schließlich: kann man die thomasische Lehre von der Willensfreiheit, die in De malo und Prima secundae dargestellt wird, als „voluntaristisch" interpretieren? Nun gehen wir direkt auf diese Fragen ein, statt die oben skizzierten Positionen der Disputanten im Einzelnen zu beurteilen.
2. Versuch einer Interpretation 2.1. Interpretation der frühen Lehre des Thomas von der Willensfreiheit Um die wahre Bedeutung der Lehrveränderung zu erörtern, muss man zuerst deutlich machen, welche Bedeutung die frühe Freiheitslehre des Thomas hat. Wie oben gezeigt wurde, beruht Lottins These der Lehrveränderung auf der Interpretation, dass Thomas in seinen frühen Werken im Gedankenkreis des intellektualistischen Determinismus verbleibe.40 Nach dieser Interpretation wird die frühe thomasische Freiheitslehre als diejenige Lehre angenommen, welche
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Vgl. Psychologie et morale I, S. 23lf. Unter dem intellektualistischen Determinismus versteht man die Behauptung: Der Wille verhält sich zum erkannten Objekt passiv und Passivität bedeutet, dass der Wille dem Erkennen notwendig folgt. Dabei wird also die Willensdetermination durch den Umstand erklärt, dass der Wille dem von dem Erkennen erstellten stärksten Motiv notwendig - nach Art eines Zwangs - folge. Vgl. D. Welp, Willensfreiheit bei Thomas vonAquin, S. 170.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
in sachlicher Hinsicht von der Lehre des Siger von Brabant nicht weit entfernt ist.41 Angesichts dieser Interpretation ist aber einerseits zu bemerken: Zu der Interpretation gelangt man nur dadurch, dass man beträchtliche Hinweise des Thomas auf die Willensautonomie zu Unrecht unterschätzt oder vernachlässigt. Die gründliche Untersuchung der frühen Texte des Thomas macht doch erkennbar, dass er von der Autonomie des Willens überzeugt war, welche auf keine Weise mit der deterministischen Willenslehre vereinbar ist. Wie wir bereits oben einmal angeführt haben, schreibt Thomas in De veritate explizit, dass der Wille nicht notwendig der Vernunft folgt.42 Den Grund dafür sieht er in der Tatsache, dass der Wille seinerseits das ergreifen muss, was vom Verstand vorgezogen wird, damit ein Wahlakt überhaupt ausgeführt wird. Ohne dieses Ergreifen, über das der Wille verfugt, wird endlich nichts gewählt, und der Gegenstand, den der Verstand den anderen Gegenständen vorgezogen hat und dem Willen vorgeschlagen hat, bleibt als ein bloßer Erwägungsgegenstand.43 Die dem Willen gegebene Möglichkeit, gegen den Akt der Vernunft hinzuneigen, wird von Thomas auch in einer anderen Fragestellung vorbehaltlos anerkannt: „Die Tätigkeit des Verstandes kann im Gegensatz zur Neigung des Menschen, d.h. zum Willen stehen; z.B. obwohl jemandem eine Ansicht gefallt, wird er wegen der Kraft von Beweisgründen dahin gefuhrt, mit dem Verstand dem Gegenteil zuzustimmen."44 Dass Thomas mit dem intellektualistischen Determinismus nichts zu tun hat, ergibt sich auch aus seinem Nachdenken über die moralische Verantwortlichkeit. Wenn der Wille notwendig durch den Verstand determiniert wäre, wäre der Grund für den Verdienst und die Strafe im eigentlichen Sinne bloß im Verstand zu finden. Aber gegen diese Ansicht erkennt Thomas an, dass im
41 Vgl. Keenan, a.a.O., S. 40. 42 Vgl. De ver., q. 22, a. 15, c. „non enim voluntas de necessitate sequitur rationem." 43 Vgl. De ver., q. 22, a. 15, c; Kapitel II, Anmerkung 151. Die Aussage des Thomas, dass dieses Ergreifen intakt dem Willen angehört, impliziert in sich die Hinneigungsmöglichkeit zu dem, was von der Vernunft zunächst nicht vorgezogen wird. Nur dann, wenn dem Willen diese Hinneigungsmöglichkeit gegeben ist, ist es nämlich notwendig, so scheint Thomas zu denken, dass das Ergreifen als ein vom Vorziehen der Vernunft sachlich unterschiedenes, dem Willen eigenes Moment im Wahlakt angenommen wird. 44 Vgl. De ver., q. 22, a. 5, ad 3. „Sed operatio intellectus potest esse contra inclinationem hominis, quae est voluntas; ut cum alicui placet aliqua opinio, sed propter efficaciam rationum deducitur ad assentiendum contrarium per intellectum." An einer anderen Stelle schreibt Thomas auch: „intellectus regit voluntatem, non quasi inclinans earn in id in quod tendit, sed sicut ostendens ei quo tendere debeat."
Versuch einer
Interpretation
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Willen der Grund für den Verdienst und die Strafe besteht, und zwar, weil der Wille von sich selbst bewegt werden kann.45 Unwissenheit oder Fehler des Verstandes sind an sich gesehen nicht ausreichend, die moralische Verantwortlichkeit zu tragen. Sie sind nur dann moralisch zu tadeln, wenn sie unter dem Einfluss des Willens, d.h. freiwillig entstanden sind.46 Diese Position wäre aber nicht möglich, wenn im Willen nicht die Fähigkeit angenommen würde, sich selbst autonom zu bewegen und damit auch den Verstand zu bewegen. So ist von Thomas beim Nachdenken über Verdienst und Strafe die Autonomie des Willens vorausgesetzt, der auch die Unwissenheit wollen kann oder auf die fehlerhafte Bewegung des Verstandes Einfluss nehmen kann.47 Aber trotz der Belege für die Einsicht des Thomas in die Autonomie des Willens wollen die radikalen Anhänger Lottins die Interpretation nicht aufgeben, die frühe Freiheitslehre des Thomas sei als deterministisch zu charakterisieren. Sie sind der Meinung, dass diese Belege zwar unleugbar voluntaristisch, aber für den ganzen Zusammenhang der frühen Lehre nicht konstitutiv seien und daher die Gültigkeit der deterministischen Interpretation der thomasischen frühen Freiheitslehre nicht bestreiten könnten.48 Nach dieser Meinung bestünden in den frühen Texten des Thomas die grundlegende Tendenz des intellektualistischen Determinismus und die voluntaristische Anerkennung der Autono-
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Sum. theol. I, q. 105, a. 4, ad 3. „... si voluntas ita moveretur ab alio quod ex se nullatenus moveretur, opera voluntatis non imputarentur ad meritum vel demeritum. Sed quia per hoc quod movetur ab alio non excluditur quin moveatur ex se, ut dictum est, ideo per consequens non tollitur ratio meriti vel dementi." Vgl. In II Sent., d. 43, q. 1, a. 1, ad 3. „Error ille ex quo omne peccatum procedit est error electionis, secundum quem Philosophus, ubi supra, omnem malum ignorantem esse dicit. Haec autem ignorantia non causat involuntarium, immo est ex voluntate causata."; In II Sent., d. 39, q. 1, a. I , a d 4 . Vgl. De malo, q. 3, a. 8, c. „Sed rursus voluntatis actus potest praecedere actum intellectus, sicut cum aliquis vult se intelligere, et eadem ratione ignorantia sub voluntate cadit et fit voluntaria... Cum ergo aliquis directe vult ignorare ut a peccato per scientiam non retrahatur, talis ignorantia non excusat peccatum nec in toto nec in parte..." Insofern sagt Thomas, die Unwissenheit sei im Verstand wie im Subjekt, und sie sei im Willen wie in der Ursache: „... ignorantia ornnis quae est peccatum, est in intellectu sicut in subiecto, et in voluntate sicut in causa... unde secundum hoc quod est in intellectu, prout scilicet privat directam scientiam in actu, minuit quantitatem sequentis peccati, nec ex eo habet quod peccatum sit; sed prout est in voluntate, sicut in causa, habet quod peccatum sit." (In II Sent., d. 22, q. 2, a. 2, ad 3.) Vgl. Keenan, a.a.O., S. 27f. „...despite Thomas's assertions, we are hard pressed to find clear evidence for the will's autonomy from reason in any of his works before the prima secundae." Lottin selbst scheint dieser Meinung gewesen zu sein. Vgl. Psychologie et morale, S. 226f.
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mie des Willens nebeneinander. Die Vertreter dieser Meinung interessieren sich nicht für die Kompatibilität der unterschiedlichen Gedankenmomente, sondern sie sehen nur das Schwanken zwischen den extrem gegensätzlichen Linien. Die sachliche Kritik am zentralen Argument für die deterministische Interpretation lassen wir zunächst beiseite. Hier sei nur auf die Schwierigkeit hingewiesen, auf die man bei dieser Interpretation in formaler Hinsicht stoßen muss. Die Schwierigkeit liegt darin, dass diese Interpretation dazu führt, die Möglichkeit der theoretischen Einheit in den frühen Freiheitstraktaten des Thomas gänzlich aufzuheben. Es ist ja äußerst unwahrscheinlich, dass der heilige Doktor sogar in einem Text diese zwei extrem widersprüchlichen Lehre unmittelbar nebeneinander geschrieben habe, wie z.B. in De veritate q. 24, a. 2 die deterministische Lehre dargestellt werde, während in q. 22, a. 15 deutlich die gegensätzliche Ansicht, d.h. die Autonomie des Willens vertreten werde.49 Der Grund dafür, dass die Lottin anhängenden Interpreten auf dieser unwahrscheinlichen Position bestehen und die sachliche Bedeutung der voluntaristischen Belege praktisch vernachlässigen, ist in ihrer übertriebenen Interpretation des intellektualistischen Aspekts in den frühen thomasischen Werken zu sehen. In den Werken des frühen Thomas können wir zwar viele unumstrittene Züge der intellektualistischen Freiheitsbegründung finden: Die Indeterminiertheit des Willens von einzelnen Objekten wird in der Parallelität mit dem praktischen Urteil der Vernunft über die kontingenten Dinge betrachtet,50 und die Freiheit des Willens, die anhand des Begriffs des liberum arbitrium aufgefasst wird, wird aus dem freien und reflexiven Urteil bewiesen.51 Aus diesen Argumentationen werden jedoch keine deterministischen Konsequenzen gezogen. Thomas geht nirgendwo so weit, explizit oder sogar implizit zu meinen, der Wille werde durch das von der Vernunft als gut beurteilte Objekt einseitig und notwendig determiniert. Gegen die deterministische Interpretation der frühen thomasischen Lehre ist hier also zunächst das folgende festzulegen: Auch
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Vgl. De ver., q. 22, a. 15, c. „Non enim voluntas de necessitate sequitur rationem."; q. 24, a. 2, c. „Appetitus enim cognitionem sequitur, cum appetitus non sit nisi boni, quod sibi per vim cognitivam proponitur... totius libertatis radix est in ratione constituta." Als die angeblichen Belege für den intellektualistischen Determinismus gälten außerdem: q. 22, a. 12, c. „Unde intellectus movet voluntatem per modum quo finis movere dicitur, inquantum scilicet praeconcipit rationem finis, et eam voluntati proponit."; q. 14, a. 5, ad 5. „Intellectus enim praecedit voluntatem in via receptionis: ad hoc enim quod aliquid voluntatem moveat oportet quod primum in intellectu recipiatur, ut patet in III de Anima." Vgl. Keenan, a.a.O., S. 26f. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 2, c; q. 83, a. 1, c; Kapitel II, Anmerkung 141. Vgl. De ver., q. 24, a. 2, c.
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wenn in den frühen Werken des Thomas die Ambiguität und Spannung zwischen den intellektualistischen und den voluntaristischen Gedankenmomenten zu betrachten sind, stehen die „intellektualistische Tendenz" und die „voluntaristischen Gegenstöße" 52 als solche nicht im unvereinbaren und widersprüchlichen Verhältnis. Und obwohl in den frühen Werken des Thomas die Autonomie des Willens nicht systematisch und vollkommen erörtert worden ist, ohne in den zentralen Zusammenhang seiner Freiheitsbegründung eingedrungen zu sein, wird die Einsicht in die Autonomie des Willens keinesfalls durch die gegensätzliche Behauptung des intellektualistischen Determinismus abgefangen oder aufgehoben. 2.2. Interpretation der Anzeichen der Lehrveränderung (1) Die kausale Bedeutung des Objekts Aus der Feststellung, dass die frühen Texte des Thomas mit einer deterministischen Position nichts zu tun haben, folgt zunächst: Bei der sogenannten Veränderung der Lehre handelt es sich nicht darum, die bisherige Position aufzugeben und sich zur gegensätzlichen Position zu kehren, sondern eher, den noch unklaren Punkt in der bisherigen Position vollständig aufzuklären. Um die Bedeutung der Veränderung des thomasischen Freiheitsgedankens exakt zu erfassen, müssen wir nun die Punkte überprüfen, welche als Anzeichen fur die Veränderung angeführt werden. Das wichtigste Anzeichen fur die Veränderung lautet: Während in den frühen Werken der Verstand, der das Objekt des Wollens erkennt, offensichtlich als die finale Ursache fur die Willensbewegung dargestellt wird, wird in De malo q. 6 und in Prima secundae dem Verstand die formale Ursache und dem Willen die finale Ursache zugeschrieben. Gerade in dieser Veränderung des Ausdrucks ist auch das zentrale Argument der Interpretation Lottins und seiner Anhänger fundiert: Nach ihrer Interpretation muss dem Verstand die definitive Dominanz gegenüber dem Willen zukommen, sofern sich der Verstand als die finale Ursache auf die Willensbewegung bezieht.53 Der definitive und notwendige Charakter der Willensbewegung durch den Verstand wird erst dann beseitigt, wenn man dem Verstand nur die formale Ursächlichkeit zuschreibt. Nur dadurch, dass die finale Ursache in den Willen selbst gelegt wird, der ursprünglich zum universalen und absoluten Guten als
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Riesenhuber, Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 183. Vgl. Riesenhuber, „The Bases and Meaning of Freedom in Thomas Aquinas", S. 101; Keenan, a.a.O., S. 26; S. 42; M. J. lozzio, Self-Determination and the Moral Act, S. 32.
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dem letzten Ziel hinneigt, und die Rolle des Verstandes darauf beschränkt wird, dem Willen das Objekt bloß vorzulegen, wird endlich Raum für die Autonomie des Willens gegeben. Aber die Annahme, die Bestimmung der kausalen Bedeutung des Verstandes als finale Ursache habe eine notwendige Willensbewegung zur Folge, beruht auf dem Missverständnis des thomasischen Gedankens. Die Aussage des Thomas, dass das vom Verstand erkannte Gute als Ziel des Wollens den Willen bewegt und demnach sich der Wille zum Verstand passiv verhält, impliziert nämlich in sich nicht, dass der Wille in seinem wirklichen Wahlakt notwendig das wollen muss, was vom Verstand vorgelegt wird. Bei der Aussage geht es nicht um eine Feststellung der Bewegungsmodalität, sondern um eine allgemeine und metaphysische Erklärung der ursächlichen Struktur der Willensbewegung als eines Strebens.54 Damit der Wille als ein Strebensvermögen wirklich tätig sein kann, d.h. damit der Wille als eine Wirkursache die Bewegungsrealität hervorbringen kann, muss der Verstand dem Willen das Objekt des Willens, d.h. das erfasste Gute als den Grund der Tätigkeit vermitteln. Gerade und bloß in diesem Sinne hat Thomas dem objektiven Einfluss des Verstandes die finale Ursache zugeschrieben und mit Aristoteles den Willen als „movens motum" bestimmt.55 An diesem metaphysischen Grundverständnis, aus dem allein weder der notwendige Charakter noch der autonome Charakter der Willensbewegung gefolgert werden soll, wird von Thomas nicht nur in den frühen, sondern auch in den späten Werken durchaus festgehalten.56 Die Begründung der Autonomie des Willens hängt daher nicht davon ab, die finale Konzeption des Verstandes als solche zu überwinden oder zu verneinen. Bei der Begründung kommt es vielmehr darauf an, den Sachverhalt deutlich zu erklären, dass die finale Ursache selbst, die im Verstand liegt, ihrerseits durch die Willensbewegung gesetzt wird. Wie kann man diesen Sachverhalt in einem konkreten Wahlakt relevant erfassen? Damit der Verstand im konkreten Wahl-
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Bei der Erklärung über die thomasische Aussage von der finalen Ursächlichkeit des Verstandes betont Keenan den kausalen Primat der Zielursachen vor den anderen Ursachen. Vgl. Keenan, a.a.O., S. 27f.; Sum. theol. I, q. 5, a. 2, ad 1; a. 4, c; Sum. theol. I-II, q. 1, a. 2, c; q. 7, a. 4, ad 2; In II Phys., lect. 5, n. 186. Man muss aber bemerken, dass der von Thomas festgestellte ontologische Primat der Zielursache nicht als solcher mit der konkreten Implikation der dynamischen Modalität in der vom Ziel verursachten Bewegung verknüpft ist. 55 Vgl. Kapitel II, Anmerkung 74. 56 Vgl. In II Eth., lect. 5, n. 291; Sum. theol. I-II, q. 6, a. 4, c; q. 13, a. 5, ad 1; q. 18, a. 2, ad 3; q. 77, a. 1, ad 1; Auer, Die menschliche Willensfreiheil im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, S. 151, Anmerkung 80.
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akt den Willen bewegen kann, muss der Verstand zuerst seinerseits durch den Willen dazu bewegt worden sein, das zu wählende Objekt zu erwägen und es dem Willen zu vermitteln. Der Wille bewegt aber deswegen den Verstand, weil der Wille bereits nach dem höheren Ziel strebt und um dieses Ziels willen ein Teilziel als angemessenes Mittel erkennen und wählen will. Deshalb liegt die finale Ursache des Wahlakts als einer Willensbewegung zwar im das Objekt der Wahl vorlegenden Verstand, aber sie wird nicht auf den Verstand allein zurückgeführt, sondern eher auf die vorausgehende Tätigkeit des Willens. Dies erklärt Thomas in q. 6 von De malo wie folgt: Weil das Objekt des Willens das Gute ist, unter dem alle Ziele zusammengefasst werden, gilt es als das erste Prinzip im Gattungsbereich der finalen Ursache.57 Gerade darin, dass der Wille im bestimmten Zielzusammenhang um seines Objektes willen durch sich selbst den weiteren Erwägungs- und Wahlakt bewirkt, ist die Autonomie des Willens zu betrachten. Diese Perspektive auf die Selbstbewegung des Willens charakterisiert die Freiheitsbegründung in q. 6 De malo und Prima secundae.5S Der finale Grund, der insofern auf den Willen zurückgeführt wird, als dieser zum höheren Ziel geneigt wird, vernichtet aber nicht die ratio agendi im Verstand, die Thomas in den frühen Werken besonders betont hat.59 Obwohl der Wille aufgrund seines aktuierten Strebens nach dem höheren Ziel die finale Ursächlichkeit für den Wahlakt besitzt, kommt nämlich der Wahlakt als eine partikuläre Tätigkeit nur dann in Wirklichkeit zustande, wenn der Verstand dem Willen das unmittelbare Ziel des Wahlaktes vorlegt. Wie ist denn der Wahlakt als eine Einheit der Willensbewegung angesichts der Doppelheit des Ziels zu erklären? Thomas unterscheidet die ursächlichen Bedeutungen von der doppelten Zielbezogenheit: Während der finale Grund im Willen die Wirkkraft bedeutet, durch welche der Wille seine weitere Bewegung, bzw. den Wahlakt vollziehen kann, stellt sich das unmittelbare Ziel, das der seinerseits wegen des ursprünglichen finalen Grundes bewirkte Verstand dem Willen vorlegt, wie ein Faktor dar, welcher den durch den Willen selbst vollzogenen Wahlakt zum bestimmten objektiven Inhalt determiniert. In diesem Sinne wird dem Verstand die Forwursache für den partikulären Wahlakt zugeschrieben, sofern die Wirk-
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Vgl. De malo, q. 6, c. „Movens autem agit propter finem... obiectum voluntatis est primum principium in genere causae finalis, nam eius obiectum est bonum, sub quo comprehenduntur omnes fines..." Wie Thomas diese Perspektive erreicht, haben wir in Kapitel IV betrachtet. Siehe vor allem: Kapitel IV, 2.1. (2) Erweiterung der Perspektive auf die Willensbewegung. Vgl. De ver., q. 2, a. 5, ad 12; q. 22, a. 12, c.
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kraft des Willens aufgrund des höheren Zielgrundes bereits vorausgesetzt wird.60 In der Perspektive auf die Selbstbewegung des Willens wird der Wahlakt als eine Einheit der Willensbewegung erfasst, an welcher die objektive Determination durch das Erkennen und die Selbstaktuierung durch das vorausgehende Wollen gleichzeitig beteiligt sind. Um die ursächliche Struktur des einheitlichen Wahlaktes in dieser Perspektive zu begreifen, sind weder das allgemeine und abstrakte Erklärungsmodell der Willensbewegung, in dem das Erkenntnisvermögen und das Strebevermögen jeweils auf die Ziel- und die Wirkursache zutreffen, noch die formale Anerkennung der Wechselbewegung des Willens und des Verstandes hinreichend. Beim Begreifen der Selbstbewegung geht es nämlich um die Fragen, aus welchem Grund der Wille sich selbst aktuiert und in welchem Sinne das zu wählende Objekt auf den sich selbst aktuierenden Willen Einfluss nimmt. Die Zurückfuhrung der finalen Ursache auf den Willen selbst und die Bestimmung der kausalen Bedeutung des Objekts als Formursache sind nichts anderes als Antworten auf diese Fragen. Die veränderten Ausdrücke für die kausalen Bedeutungen sind auf die veränderte Fragestellung angewiesen, welche wiederum die Folge von der Erweiterung der Perspektive auf die Willensbewegung ist.61 Entscheidend sind also nicht die Ausdrücke selbst. Wenn man den Sinn der genannten Veränderungszeichen bloß vom definitiven Inhalt der ausgedrückten Begriffe selbst - causa formalis und causa finalis - her verstehen will, ohne die erweiterte Perspektive auf die Selbstbewegung des Willens zu beachten, ist ein richtiges Verständnis der Lehrveränderung nicht möglich. Die Bestimmung des Objektes als Form des Aktes deutet nämlich an sich nicht die Kongenialität für
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Vgl. De malo, q. 6, c. „... obiectum intellectus est primum principium in genere causae formalis, est enim eius obiectum ens et verum... Si ergo consideremus motum potentiarum animae ex parte obiecti specificantis actum, primum principium motionis est ex intellectu: hoc enim modo bonum intellectum movet etiam ipsam voluntatem." Keenan scheint diesen Sachverhalt umgekehrt zu erklären: „Because in the earlier writings, Thomas argues that the object presented to the will is the end, he sees no need to posit any other metaphysical argument to explain the will's self-movement: reason's presentation of the object expresses sufficiently and finally the will's movement." Keenan, a.a.O., S. 42. Aber uns scheint die richtige Erklärung zu sein, dass die Perspektive auf die Selbstbewegung des Willens den veränderten Ausdruck für die Kausalität des Objekts herbeigeführt hat. Dieser Unterschied in der Erklärungweise ist nicht trivial, denn die genannte Erklärung Keenans ist mit der Position verbunden, die finale Ursache erlege dem Willen die notwendige Bewegung auf und demnach könne sich die Willenslehre des frühen Thomas dem intellektualistischen Determinismus nicht entziehen. Vgl. Keenan, a.a.O., S. 40f.; Iozzio, a.a.O., S. 30f.
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die Freiheit des Aktes an, ebenso wenig wie der Begriff des objektiven Einflusses als finale Ursache an sich die Freiheit des Aktes benachteiligt.62
(2) Der Ansatzpunkt der Geistesbewegung durch Gott Die deutliche Darlegung der Selbstbewegung des Willens scheint nicht nur in den Ausdrücken der kausalen Struktur der Willensbewegung, sondern auch im Gedanken von der göttlichen Einwirkung auf die Tätigkeit des menschlichen Geistes eine bemerkenswerte Veränderung auszulösen. Als das zweite Anzeichen für die Lehrveränderung wird angeführt, dass in den späten Werken der Ansatzpunkt der Bewegung des Geistes durch Gott vom Verstand in den Willen verlegt wird.63 Dies kann man am leichtesten erfassen, indem man die folgenden beiden Aussagen des Thomas unmittelbar gegenüberstellt.
„... non oportet procedere in infinitum sed Statur in intellectu sicut in primo. Omnem enim voluntatis motum necesse est quod praecedat apprehensio, sed non omnem apprehensionem praecedit motus voluntatis. Sedprincipium consiliandi et intelligendi est aliquod intellectivum principium altius intellectu nostro, quod est Deus, ut etiam Aristoteles dicit in VII ethicae eudemicae. Et per hunc modum ostendit quod non est procedere in infinitum. " {Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3)
„Sed cum voluntas non semper voluerit consiliari, necesse est quod ab alio moveatur ad hoc quod velit consiliari; et si quidem a seipsa, necesse est iterum quod motum voluntatis praecedat consilium, et consilium praecedat actus voluntatis; et cum hoc in infinitum procedere non possit, necesse est ponere, quod quantum ad primum motum voluntatis moveatur voluntas cuiuscumque non semper actu volentis ab aliquo exteriori, cuius instinctu voluntas velle incipiat... Relinquitur ergo, sicut concludit Aristoteles in de bona Fortuna, quod id quod primo movet voluntatem et intellectum, sit aliquid supra voluntatem et intellectum, scilicet Deus. " {De malo, q. 6, c)
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Überdies wird der Versuch, die Bedeutung der Lehrveränderung bloß aus dem Ausdruckswechsel zu schließen, auch an dem einfachen Einwand scheitern, dass Thomas auch in den frühen Werken dem Verstand die formale Ursächlichkeit nicht abgesprochen hat. Vgl. De ver., q. 22, a. 12, c. „Ratio autem agendi est forma agentis per quam agit."; ScG III, c. 73, n. 2489; c. 88, n. 2639. Auch Lottin wollte sich diesem Einwand entziehen. Vgl. Lottin, „Rezension zu R. Z. Lauer", in: Bulletin de Theologie ancienne et medievale 7 (1954/57), S. 570. Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 257; Pesch, a.a.O., S. 12.
200
Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
Die beiden Aussagen berufen sich auf die gleiche Stelle des Aristoteles, scheinen jedoch zu gegensätzlichen Schlüssen zu fuhren. Während Thomas in Prima pars schreibt, dass die wechselseitige Bewegung des Willens und des Verstandes durch die göttliche Bewegung im Verstand anhebt, spricht er nämlich in De malo von der ersten Willensmotivation durch Gott. Wie sind diese zueinander in Kontrast stehenden Aussagen zu interpretieren? An der zitierten Stelle der Prima Pars beabsichtigt Thomas das wechselseitige Bewegungsverhältnis zwischen Willen und Verstand zu rechtfertigen. Hierbei stellt er heraus, dass die Akte des Verstandes und des Willens nicht gleichursprünglich sind. Die Ursprungspriorität des Verstandes vor dem Willen, die im Grunde genommen aus der Ordnung und dem Verhältnis der Formalobjekte der beiden folgt,64 zeigt sich darin, dass der Akt des Willens in sich das Erkennen des zu wollenden Objekts einschließt, aber das Erkennen nicht notwendig das Wollen voraussetzt.65 Insofern scheint es nicht möglich, dass der Wille durch Gott zuerst bewegt wird, ohne das vorausgehende Erkennen vorauszusetzen. Das Ausgangsmoment der Wechselbewegung des Willens und des Verstandes nimmt Thomas also als die Bewegung des Verstandes durch das göttliche Eingreifen an. Aber obwohl der Verstand durch den dem menschlichen Geist überlegenen Beweggrund in die erste Erkenntnis versetzt worden ist, genügt diese nicht, den bisher in aller Hinsicht nur in Potentialität stehenden Willen zum anfänglichen Akt zu bewegen. Damit der Willensakt wirklich erfolgen kann, müssen nämlich nicht nur das erkannte Objekt des Willens, das nur noch der Möglichkeit nach als zielhafter Grund des Wirkens gilt, sondern auch die bewegende und wirkende Kraft vorhanden sein, die dem Willen Wirklichkeit der Bewegung verleiht. Das Erkennen, das als ein in sich selbst ruhender Vollzug gekennzeichnet wird, kann fur sich allein nicht den Willen in seinen Akt versetzen, dessen Wesen in der Bewegung besteht.66 Daher hat Thomas an der oben zitierten Stelle in De malo eine göttliche Motivation als den Beweggrund angenommen, aus dem die vorantreibende und wirksame Bewegung des Willens entspringt.67 Sofern die Annahme der ersten Willensbewegung durch Gott eine notwendige theoretische Folge aus der Fragestellung nach der Selbstbewegung des Willens ist, kann man es zweifelsfrei als ein gewisses Anzeichen für die Lehr-
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Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 3, c; De ver., q. 22, a. 11; Riesenhuber, Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 135f.; 205f. Vgl. ScG III, c. 26, n. 2092; Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3; Riesenhuber, a.a.O., S. 189f. Vgl. Riesenhuber, a.a.O., S. 311. Siehe auch: ScG III, c. 88, n. 2639.
Versuch einer
Interpretation
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Veränderung ansehen, dass Thomas in den späten Werken unter Berufung auf die Stelle der Eudemischen Ethik nicht die erste Bewegung des Verstandes, sondern die erste Bewegung des Willens herausstellt.68 Aber das umstrittene Problem liegt doch darin, wie sich die Aussage von der ersten Willensbewegung in De malo mit dem in den frühen Werken formulierten Gedanken vom ersten Anfang der Wechselbewegung der beiden Potenzen inhaltlich verhält. Hat Thomas auf die Position der oben zitierten Stelle der Prima pars verzichtet,
68 Zur Stelle, wo Thomas im Kontext der Suche nach dem ersten göttlichen Beweggrund für die Tätigkeit des Geistes die Eudemische Ethik anführt, zählen übrigens: ScG III, c. 89, n. 2651; De malo, q. 3, a. 3, arg und ad 11; Quodl. I, q. 4, a. 2, c; Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, c; Sum. theol. I-II, q. 17, a. 5, ad 3; Sum. theol. I-II, q. 109, a. 2, ad 1. Außerdem scheint Thomas im Kommentar zum zweiten Korintherbrief die fragliche Stelle der Eudemischen Ethik ins Auge zu fassen. Vgl. In II Ep. ad Cor., c. 3, lect. 1, n. 87. In Quodl. I (1269 Ostern) und In II Ep. ad Cor. (1259-65) redet Thomas von der Verstandesbewegung durch Gott. Vgl. Quodl. I, q. 4, a. 2, c. „... sed etiam quantum ad interiorem motum, prout Deus cor hominis interius movet ad bonum, secundum illud Prov. XXI, 1: Cor regis in manu Dei; quocumque voluerit, vertet illud. Et quod hoc necessarium sit, probat Philosophus in quodam cap. de Bono fortunae. Hoc enim agit voluntate; voluntatis autem principium est electio, et electionis consilium. Si autem quaeratur qualiter consiliari incipiat, non potest dici quod ex consilio consiliari incipiat, non potest dici quod ex consilio consiliari inceperit, quia sic esset in infinitum procedere. Unde oportet aliquod exterius principium esse quod moveat mentem humanam ad consiliandum de agendis."; In II Ep. ad Cor., c. 3, lect. 1, n. 87. „Hoc etiam Philosophus vult, quod numquam homo per liberum arbitrium potest quoddam bonum facere, sine adiutorio Dei. Et ratio sua est, quia in his, quae facimus, quaerendum est illud propter quod facimus. Non est autem procedere in infinitum, sed est devenire ad aliquid primum, puta ad consilium." Aber In De malo, q. 3 (1266-67) sagt Thomas eher allgemein, dass Gott das universale Prinzip für jeden Erwägungsakt und Willensakt ist. Vgl. De malo, q. 3, a. 3, ad 11. „Deus est universale principium cuiuslibet consilii et voluntatis et actus humani, sicut supra dictum est". Im dritten Buch der Summa contra gentiles (1262-64) geht es dem Kontext nach offensichtlich um die erste Willensmotivation durch Gott, aber im unmittelbaren Argument, das sich auf die Stelle der Eudemischen Ethik beruft, spricht Thomas von Gott als dem ersten Beweggrund in Hinsicht der beiden Potenzen. Vgl. ScG III, c. 89, n. 2651. „Huius quod aliquis intelligat et consilietur et eligat et velit, oportet aliquid esse causam: quia omne novum oportet quod habeat aliquam causam. Si autem est causa eius aliud consilium et alia voluntas praecedens, cum non sit procedere in his in infinitum, oportet devenire ad aliquid primum. Huiusmodi autem primum oportet esse „aliquid" quod est „melius" ratione. Nihil autem est „melius intellectu" et ratione „nisi Deus". Est igitur Deus primum principium nostrorum consiliorum et voluntatum." Dagegen wird an den Stellen der Prima secundae, die zeitlich später (1270-72) datiert, deutlich die Willensbewegung durch Gott hervorgehoben. So scheint es klar, dass sich der Schwerpunkt in der Darstellung der göttlichen Motivation zu der deutlichen Fragestellung der Selbstbewegung des Willens (1270) verschoben hat. Siehe noch Sum. theol. I-II, q. 9, a. 6, c und ad 3; q. 80, a. 1, ad 3; De malo, q. 6, ad 1; ad 3; ad 4; ad 17; ad 21.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
indem er in den späten Werken die erste Willensmotivation durch Gott feststellt? Geht es hier offenkundig um eine Meinungsänderung zwischen den zwei zueinander in Widerspruch stehenden Positionen? Gibt es keine Möglichkeit, die zwei gegenübergestellten Aussagen als vereinbar zu interpretieren? Die Interpretation muss davon ausgehen, dass die thomasische Frage nach dem göttlichen Eingreifen in die Tätigkeit des menschlichen Geistes nicht als eine solche disjunktive Frage zu verstehen ist, ob der erste göttliche Anstoß zur Tätigkeit des menschlichen Geistes entweder im Willen oder im Verstand gegeben wird. Diese disjunktive Fragestellung stößt nämlich auf folgende Schwierigkeit: Wenn die göttliche Einwirkung bloß im Willen ansetzen würde, könnte das so motivierte erste Wollen zwar die Erwägungsakte des Verstandes im diskursiven Fortschritt auslösen, aber es könnte nicht erklärt werden, wie die Erkenntnis des Ziels zustande kommt, die nicht vom Wollen selbst abhängt, sondern eher von diesem Wollen und auch vom Erwägungsakt vorausgesetzt wird. Aber wenn der Ansatzpunkt der göttlichen Einwirkung nur auf die Aktuierung der Ziel- und Prinzipienerkenntnis beschränkt wäre, würde weder die Bewegung des Willens noch die davon abhängigen diskursiven Erkenntnisakte weiter geschehen, wie schon gesagt wurde. 69 Daher ist klar, dass sowohl der Wille als auch der Verstand die Bewegung durch Gott empfangen müssen, damit die Tätigkeit des Geistes als Wechselbewegung der beiden Potenzen überhaupt zustande kommen kann. Die Betonung der ersten Willensmotivation durch Gott in den späten Werken besagt also nicht, dass Thomas auf die Ursprungspriorität des Verstandes vor dem Willen verzichtet hat, die Thomas in den frühen Werken festgestellt hat.70
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Die Einsicht, dass der Verstand allein nicht genügt, die weiteren dynamischen Tätigkeiten der Seele zu bewirken, fehlt auch dem Frühwerk nicht. Vgl. ScG I, q. 72. „Forma per intellectum considerata non movet nec aliquid causat nisi mediante voluntate, cuius obiectum est finis et bonum, a quo movetur aliquis ad agendum. Unde intellectus speculativus non movet; neque imaginatio pura absque aestimatione."; De Caritate, q. un., a. 3, ad 12. (1269-1272?) „dicendum quod intellectus simpliciter est prior voluntate, quia bonum intellectum est obiectum voluntatis. Sed tarnen in operando et movendo prior est voluntas. Non enim intellectus intelligit et movet nisi voluntate accedente; unde etiam ipsum intelIectum movet voluntas, inquantum est operativus: utimur enim intellectu quando volumus. Unde, cum credere sit intellectus a voluntate moti (credimus enim aliquid quia volumus)." Auch in q. 17 der Prima secunda, wo Thomas am deutlichsten den Ansatz der göttlichen Bewegung im Willen darzulegen scheint, geht Thomas nicht so weit, die frühe Einsicht in den ersten Erkenntnisakt durch das göttliche Eingreifen zu verneinen; Dort sagt Thomas zwar, dass die erste Bewegung des Willens nicht aus der Anordnung des Verstandes entspringt, aber damit wird nicht gemeint, dass diese Bewegung als Ursprung der Geistdynamik überhaupt keine Erkenntnis voraussetzen würde. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 17, a. 5, ad 3.
Versuch einer Interpretation
203
Überdies scheint es nicht so, dass Thomas in den späten Werken die erste Bewegung des Willens als denjenigen Ansatzpunkt vorstellt, der dem ersten Erkenntnisakt des Verstandes zeitlich vorausgeht.71 Wir können in der Tat an keiner Stelle, wo sich der Gedanke von der ersten Willensmotivation niederschlägt, die Absicht des Thomas herauslesen, eine zeitliche Reihenfolge der ersten Verstandes- und Willensbewegung durch Gott festzustellen. Ob Gott zuerst den Willen und danach den Verstand bewegt oder umgekehrt, gehört nicht zum Thema der thomasischen Theorie.72 Nach der bisherigen Interpretation können wir also zum Schluss sagen: Im thomasischen Gedanken vom ersten Bewegungsursprung der geistigen Tätigkeit des Menschen ist zwar eine Verschiebung der Betonung zu beobachten, aber keine Meinungsschwankung zwischen zueinander in Widerspruch stehenden Positionen. Thomas sucht nämlich weder in den frühen noch in den späten Werken nach der alternativen Lösung, ob Gott entweder den Willen oder den Verstand bewegt, oder welche von beiden Potenzen durch Gott zeitlich früher bewegt wird. Aber die Verschiebung der Betonung ist an sich so beträchtlich, dass wir daran deutlich erkennen können, dass die Perspektive auf die Selbstbewegung des Willens und demnach die Analyse der inneren Struktur des Willensaktes ins Zentrum der thomasischen Freiheitslehre vorgerückt ist.73
„... cum imperium sit actus rationis, ille actus imperatur qui rationi subditur. Primus autem voluntatis actus ex rationis ordinatione non est, sed ex instinctu naturae, aut superioris causae, ut supra dictum est. Et ideo non oportet quod in infinitum procedatur."; Sie auch In Ep. ad Rom., c. 9, lect. 3, n. 773 (1272-72). 71 Vgl. Seckler, Instinkt und Glaubenswille nach Thomas von Aquin, S. 127. 72 Auch im Frühwerk, wo explizit gesagt wird, dass der regressus in der wechselseitigen und zirkulären Bewegungskette des Willens und des Verstandes letztlich im Verstand als dem Ersten stillsteht (De ver., q. 22, a. 12, ad 2; Sum. theol. I, q. 82, a. 4, ad 3), handelt es sich nicht um die zeitliche, sondern wesenhafte Priorität des Verstandes vor dem Willen. Vgl. Sum. theol. I, q. 82, a. 3, ad 2. „... illud quod est prius generatione et tempore est imperfectius, quia in uno et eodem potentia tempore praecedit actum et imperfectio perfectum. Sed illud quod est prius simpliciter et secundum naturae ordinem est perfectius. Sic enim actus est prior potentia. Et hoc modo intellectus est prior voluntate, sicut motivum mobili et activum passivo. Bonum enim intellectum movet voluntatem."; Riesenhuber, a.a.O., S. 205f. 73 Nur in diesem Sinne kann auch die folgende Aussage Verbekes zugestanden werden: „Dans ses oeuvres anterieures au De malo saint Thomas reconnait une certaine priorite ä l'intelligence sur la volonte dans l'ordre de la perfection et de la causalite; dans le De malo les deux facultes sont mises sur le meme niveau: l'intelligence est premiere dans l'ordre de la specification, la volonte est premiere dans l'ordre de l'exercice." Vgl. Gerard Verbeke, „Le developpement de la vie volitive d'apres saint Thomas", in: Revue philosophique de Louvain 56 (1958), S. 18.
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen Freiheitsgedanken
2.3. Inwiefern hat sich die Lehre des Thomas von der Willensfreiheit verändert? Die bislang behandelten zwei Anzeichen - die Veränderung des Ausdrucks für die Kausalität vom Objekt und die Verschiebung der Betonung in der Darstellung des göttlichen Bewegungsursprungs für die Tätigkeit des menschlichen Geistes - sind die Folge davon, dass Thomas gegen 1270 damit begonnen hat, sich mit dem Problem der Selbstbewegung des Willens intensiv zu befassen. Aber sie deuten keine grundlegende Richtungsänderung in der thomasischen Freiheitslehre an. Der übliche Irrtum derer, welche in den Freiheitstexten des Thomas eine radikale Lehrveränderung beobachten, ist, dass sie die intellektualistischen Züge in der frühen Freiheitsbegründung übertreiben und die unleugbare aristotelische Prägung in der thomasischen Willenslehre als deterministisch interpretieren. Aber auf der anderen Seite steht außer Frage, dass die intellektualistischen Züge in den späten Werken eindeutig nachgelassen haben. Das Problem der Kritiker an der Annahme der Lehrveränderung liegt darin, dass sie bloß von Akzentverlagerung sprechen und den Grund für diese Akzentverlagerung im theoretischen und polemischen Kontext nicht erörtern. Behält man den inneren Zusammenhang der Lehrentwicklung und die äußere Motivation für diese Lehrentwicklung nicht im Auge, so wird der Versuch scheitern, die wahre Kontinuität und Identität der thomasischen Freiheitsgedanken zu begreifen. Die richtige Antwort auf die Frage nach der Veränderung der thomasischen Freiheitslehre ist außerhalb dieser zwei Linien der Interpretation zu suchen. Die Antwort, die wir nun vorschlagen, kann mit den folgenden Interpretationsthesen zusammenfassend dargestellt werden. Die Bedeutung der Lehrveränderung: 1. Die frühe thomasische Freiheitslehre wird dadurch charakterisiert, dass die freie Determination des Willens in der Parallelität mit dem praktischen Urteil der Vernunft über die kontingenten Dinge vorgestellt und aus diesem reflexiven und nicht notwendigen Urteil bewiesen wird. Sofern die Freiheit des Willens, d.h. das liberum arbitrium auf diese Weise begründet wird, steht die strenge Untersuchung der Willensautonomie im Sinne der Selbstdetermination des Willens nicht im Vordergrund der thomasischen Freiheitslehre. 2. Trotz des intellektualistischen Beweises der Willensfreiheit ist aus der frühen thomasischen Freiheitslehre keineswegs die deterministische Konsequenz zu ziehen. Nach Thomas beruht das liberum arbitrium zwar auf der Vernunft, wodurch das freie Urteil ermöglicht wird, aber dies besagt nicht, dass der Wille einseitig und notwendig dem Akt der Vernunft folgt.
Versuch einer Interpretation
205
3. Die Autonomie des Willens gegenüber dem Verstandesakt, die in den frühen Werken prinzipiell bejaht aber nicht begründet worden ist, wird in De malo und in der Prima secundae unter der Fragestellung nach der Selbstbewegung des Willens intensiv untersucht. Der Sinn der Willensfreiheit wird nun durch den Begriff der doppelten Freiheit - Freiheit des Vollzugs und Freiheit der Spezifikation - erfasst, welche ursprünglich in der Fähigkeit des Willens gründen, im Sinne des Vollzugs sich selbst und auch den Verstand zu bewegen. Der Effekt der Lehrveränderung: 4. Indem das wechselseitige Bewegungsverhältnis zwischen dem Willen und dem Verstand in der Perspektive auf die Selbstbewegung des Willens aufgefasst wird, wird der Wille, nicht der Verstand, als finale Ursache für Willensbewegung ausgedrückt. Die Grenze der Lehrveränderung: 5. Mit der Lehre von der Selbstbewegung des Willens wird Thomas nicht dazu gezwungen, seine aristotelische Einstellung aufzugeben. Die Bestimmung des Willens als Fähigkeit zur Selbstbewegung steht nämlich nicht im Widerspruch zur aristotelischen Sicht, wonach sich der Wille als eine Art von passiver Potenz darstellt. Dass Thomas den sich selbst bewegenden Willen immer noch gemäß der aristotelischen Einstellung erörtert, zeigt sich vor allem in der Frage nach der ersten Motivation der Willensbewegung. 6. Die späte Freiheitslehre des Thomas ist also nicht in dem Sinne von der frühen Freiheitslehre unterschieden, dass man daraus jeweils verschiedene praktische Konsequenzen ziehen könnte. Die Veränderung der thomasischen Freiheitslehre bedeutet keine grundlegende Richtungsänderung des Denkens, sondern die Veränderung der Begründungsweise innerhalb einer grundsätzlich konsequenten Denkrichtung. Das soll heißen: Präzisierung der Argumentation, Erweiterung der Analysenperspektive und Verschiebung des Begründungsansatzes. Man kann also in den späten Werken die vollständige und reife Form der thomasischen Freiheitslehre beobachten, aber die späte Freiheitslehre stellt sich nicht als eine dergestalt neue Lehre dar, dass sie die grundlegenden Einsichten der frühen Freiheitslehre nicht umfassen könnte. Der Grund für die Lehrveränderung: 7. Der Grund für diese Veränderung ist in der damaligen polemischen Situation zu finden. Durch die Determinismuskritik von Walter und Gerhard und durch die Verurteilungsthesen 1270 sah sich Thomas dazu aufgefordert, genau zu erklären, ob und wie seine prinzipielle aristotelische Einstellung mit der Autonomie des Willens im Sinne der Selbstbewegung kompatibel ist. Thomas
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Problem der Lehrveränderung beim thomasischen
Freiheitsgedanken
wurde damit auch bewusst, dass die intellektualistische Begründung der Willensfreiheit in den frühen Werken nicht zureichend ist, um die Autonomie des Willens vollständig zu erörtern. Deswegen hat er in seinen späten Werken gezeigt, dass er die Selbstbewegung des Willens nicht bestreitet, und die Freiheit des Willens in seiner Selbstbewegung begründet.
Schlussbemerkung
Es ist nicht schwierig einzusehen, dass die geläufige Behauptung, die Position des Thomas habe sich von einer mehr oder weniger deterministischen und intellektualistischen zu einer voluntaristischen entwickelt, ihrerseits von einer bestimmten philosophischen Einstellung bedingt ist. An Lottins Theorie der Lehrveränderung lässt sich erkennen, dass seiner Interpretation der thomasischen Freiheitslehre eine stark voluntaristische Ansicht anhaftet. 1 Es ist daher nicht überraschend, dass Lottin mit den franziskanischen Willenstheoretikern darin durchaus übereinstimmt, dass die Bestimmung des Willens als passiver Potenz zum Ausschluss der Selbstdetermination des Willens fuhren müsse. Die voluntaristische Einstellung des Interpreten fuhrt auch zur Ansicht, dass die Freiheitslehre des späten Thomas nicht weniger voluntaristisch sei als die der zeitgenössischen franziskanischen Willenstheoretiker.2 Aber die Interpretation, die thomasische Freiheitslehre in De malo und Prima secundae als gleichartig mit der Freiheitslehre Walters und Gerhards anzusehen, scheint ebenso einseitig und oberflächlich zu sein wie die deterministische Interpretation der frühen Freiheitstraktate des Thomas. Denn man kann zwar in dem Punkt von einer Gemeinsamkeit der beiden sprechen, dass Thomas wie die franziskanischvoluntaristischen Zeitgenossen die Selbstbewegung des Willens bejaht hat und in diesem Sinne von der Willensautonomie überzeugt war, allerdings zeigt sich der erhebliche Unterschied zwischen den beiden Seiten in Hinsicht auf das Problem, in welcher Weise die Selbstbewegung des Willens zu verstehen ist. Zunächst ist zu erwähnen, dass bei Thomas der Wille nicht das einzige Vermögen zur Selbstbewegung ist. Die Selbstbewegung gehört nämlich nicht nur dem Willen, sondern auch dem Verstand zu. Thomas erstellt die vergleichende Erklärung, dass der Wille durch sich selbst vom Wollen des Ziels zum
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Vgl. D. Welp, Willensfreiheit bei Thomas von Aquin, S. 168; Westberg, a.a.O., S. 42. Vgl. Lottin, Psychologie et morale I, S. 253; Pesch, a.a.O., S. 11. Auch Wittmann scheint zum Teil zur voluntaristischen Interpretation der späten thomasischen Lehre zu neigen. Vgl. M. Wittmann, Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin, S. 148f.
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Schlussbemerkung
Wollen des Mittels bewegt wird, wie der Verstand durch sich selbst von der Erkenntnis der Prinzipien zur Schlussfolgerung bewegt wird.3 Die Selbstbewegung wird dem Willen, streng gesagt, nicht schlechthin zugeschrieben, sondern insofern er ein immaterielles und geistiges Vermögen ist, welches unter verschiedener Rücksicht zugleich in Akt und in Potenz sein kann.4 Der Unterschied zwischen Wille und Verstand wird bei Thomas nicht in dem Sinne hervorgehoben, dass nicht der Verstand, sondern nur der Wille die selbstbewegungsfähige Potenz sei, sondern eher in dem Sinne, dass der Wille als die Neigung des Menschen selbst anzusehen ist, während dies die Neigung des Verstandes, durch die der Verstand sich selbst bewegt, nicht betrifft.5 Aber im Unterschied zu Thomas schreiben Walter und Gerard die Selbstbewegung prinzipiell nur dem Willen zu. Bei Walter und auch bei den nachfolgenden Franziskanern wird die Selbstbewegung als das Charakteristikum des Willens angesehen, durch das er in der Seele den absoluten Primat besitzt. An Aktivität, durch
3
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 9, a. 4, c. „Manifestum est autem quod intellectus per hoc quod cognoscit principium reducit seipsum de potentia in actum, quantum ad cognitionem conclusionum, et hoc modo movet seipsum; et similiter voluntas per hoc quod vult finem movet seipsam ad volendum ea que sunt ad finem."; De malo, q. 6, c. „Sicut enim homo secundum intellectum in via inventionis movet se ipsum ad scientiam, inquantum ex uno noto in actu venit in aliquid ignotum, quod erat solum in potentia notum; ita per hoc quod homo aliquid vult in actu, movet se ad volendum aliquid aliud in actu."; Riesenhuber, Die Transzendenz der Freiheit zum Guten, S. 166; S. 196. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 1, ad 3. Vgl. Sum. theol. I-II, q. 10, a. 1, c. „Non enim per voluntatem appetimus solum ea quae pertinent ad potentiam voluntatis, sed etiam ea quae pertinent ad singulas potentias et ad totum hominem." Thomas scheint gerade insofern der Meinung zu sein, dass der Tätigkeit des Willens im eigentlicheren Sinne die Freiheit zugesprochen wird als dem Erkennen. Die Selbstbewegung des Verstandes, d.h. die Schlussfolgerung aus den aktuell erkannten Prinzipien, erfolgt gemäß der notwendigen Ordnung des Erkenntnisobjekts, welche Thomas sogar als Zwang bezeichnet. Der Verstand wird nämlich in seiner Selbstbewegung nur zu seinem Ziel, d.h. zur Wahrheit geneigt. Der Wille aber, mit dem der Mensch nach seinem jeweiligen Gut strebt, muss nicht der Tätigkeit des Verstandes entsprechen. Die Neigung des Menschen ist nämlich nicht auf das Ziel des Verstandes beschränkt. Vgl. De ver., q. 22, a. 5, ad 3 . „...intellectus aliquid naturaliter intelligit, sicut et voluntas aliquid naturaliter vult; sed coactio non est contraria intellectui secundum suam rationem, sicut et voluntati. Intellectus enim si habeat inclinationem in aliquid, non tarnen nominat ipsam inclinationem hominis, sed voluntas ipsam inclinationem hominis nominat. Unde quidquid fit secundum voluntatem, fit secundum hominis inclinationem, et per hoc non potest esse violentum."; ad 12. „... non ad eamdem necessitatem pertinet necessitas qua per scientiam aliquid necessario cognoscimus, et necessitas qua de necessitate scientiam appetimus: primum enim potest esse secundum necessitatem coactionis, sed secundum non nisi secundum necessitatem naturalis inclinationis." Siehe auch In II Sent., d. 25, q. 1, a. 2, ad 4.
Schlussbemerkung
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deren Macht die Selbstbewegung möglich ist, kann der Verstand nie dem Willen gleichkommen. Die Selbstbewegung des Willens ist bei Thomas nicht die sogenannte reine Willensbewegung. Wie schon erklärt, ist an der Selbstbewegung des Willens der abwägende und urteilende Verstand konstitutiv beteiligt, und insofern steht die Selbstbewegung des Willens nicht im Widerspruch zum Bewegtwerden durch den Verstand, sondern vielmehr enthält sie in sich dieses Moment des Bewegtwerdens. So besteht Thomas darauf, dass die Freiheit als die Selbstbewegung des Willens materiell oder substantiell dem Willen zugeschrieben, aber formhaft vom Verstand verursacht wird.6 In dem Sinne, dass Thomas trotzdem die notwendige Determination des Willens durch den Verstand nicht zulässt, scheinen zwar die praktischen Konsequenzen der thomasischen Position und der franziskanisch-voluntaristischen Position voneinander nicht weit entfernt zu sein.7 Aber man darf die Uneinigkeit der beiden Positionen in spekulativer Hinsicht nicht unterschätzen. Diese Uneinigkeit wird gerade durch die einfache Tatsache bestätigt, dass die Lehre des Thomas - auch die angeblich voluntaristisch umgewandelte Lehre der späten Werke - in der Tat immer wieder den Kritiken der nachfolgenden franziskanischen Denker ausgesetzt wird. So wendet Wilhelm de la Mare (+1298) 1278 in seinem Correctorium fratris Thomae gegen den heiligen Doktor ein, dass dieser der Souveränität des Willens entsagt. Der Einwand Wilhelms richtet sich gegen Quaestio 17 der Prima secundae, wobei das Befehlen (imperare) als ein Akt der Vernunft bestimmt wird.8 Nach Wilhelm versteht Thomas damit das Machtverhältais des Willens und des Verstandes gerade verkehrt, was letztlich dazu führe, die Freiheit des Willens
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Vgl. Sum. theol. I-II, q. 13, a. 1, c. „Sic igitur ille actus quo voluntas tendit in aliquid quod proponitur ut bonum, ex eo quod per rationem est ordinatum ad finem, materialiter quidem est voluntatis, formaliter autem rationis."; q. 17, a. 1, ad 2. „... radix libertatis est voluntas sicut subiectum; sed sicut causa est ratio." In diesem Sinne äußert sich Welp wie folgt: „Er [Thomas] ist in jenem eigentlichen Sinne des Wortes (Voluntarist), als er dem Willen in allen seinen Akten die Bewandtnis des Freiseins, der Autodetermination zuspricht. M.a.W.: der hl. Thomas gehört gewiß nicht zu jenen Richtungen, gegen die sich der extreme Voluntarismus (in seiner ursprünglichen Form der Franziskanerschule des Mittelalters oder auch in der Thomasinterpretation) wehren zu müssen glaubte." (Welp, a.a.O., S. 169). Vgl. Sum. theol. I-II, q. 17, a. 1, c. „Imperare autem est quidem essentialiter actus rationis; imperans enim ordinat eum cui imperat, ad aliquid agendum, intimando vel denuntiando: sie autem ordinäre per modum cuiusdam intimationis est rationis."; a. 5, c. „Imperium nihil aliud est quam actus rationis ordinantis cum quadam motione ad aliquid agendum. Manifestum est autem quod ratio potest ordinäre de actu voluntatis: sicut enim potest iudicare quod bonum sit aliquid velle, ita potest ordinäre imperando quod homo velit."
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Schlussbemerkung
zu opfern. 9 Besonders bemerkenswert ist aber die Kritik des Heinrich v o n Gent ( + 1 2 9 3 ) , der ein mit d e m Voluntarismus der Franziskanerschule sympathisierender Weltkleriker und einer der einflussreichsten Magister an der Pariser Universität war. Mit seiner Kritik zielt er unmittelbar auf die begriffliche U n terscheidung der Spezifikationsfreiheit und der Vollzugsfreiheit in De malo und Prima
secundae.10
N a c h Heinrich ist die Vorstellung durchaus unsinnig, dass
sich der Wille, der in Hinsicht des V o l l z u g s v o n der Vernunft nicht abhängig ist, in Hinsicht der Spezifikation zur Vernunft passiv verhält. 11 Der Punkt seiner Behauptung ist, dass d e m W i l l e n auch in Hinsicht der Spezifikation genau so w i e in Hinsicht des V o l l z u g s die Selbstbewegung zuzusprechen ist. D i e s behauptet Heinrich daher, w e i l er denkt, dass die Vernunft keine kausale Wirkung - s o w o h l in Hinsicht des V o l l z u g s als auch in Hinsicht der Spezifikation - auf den Willensakt ausübt. D i e d e m Willensakt vorausgehende Tätigkeit der Ver-
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Vgl. Correctorium corruptorii Thomae, In Primam secundae, a. 8. (ed. Glorieux, Les premieres polemiques thomistes: Le Correctorium corruptorii „Quare", S. 233f.) „Haec positio [Thomae] non solum videtur nobis falsa sed erronea... si ratio imperat voluntati, voluntas subditur rationi. Sed quod alii imperat ut subdito, sibi non dat libertatem operandi. Ergo voluntas non est libera nec domina suorum actuum, quod est contra Damascenum... et contra Philosophum... contra Anselmum... contra Bernardum... Voluntas autem ad quodcumque se volverit, habet rationem comitem et quodam modo pedissequam. Inde sie: non est comitis imperare praesidenti et imperanti; sed voluntas est praesidens et imperans."; Stadter, Psychologie und Metaphysik der menschlichen Freiheit, S. 241f.; G. Mensching, „Absoluter Wille versus reflexive Vernunft. Zur theologischen Anthropologie der mittleren Franziskanerschule", in: Miscellanea mediaevalia 27 (2000), S. 96. Diese Position Wilhelms wurde im Grunde genommen bereits von Walter und Peckham vorweggenommen. Vgl. Walter, Quaestiones disputatae, q. 6 (siehe Kapitel III, Anmerkung 51); Peckham, Sent. (Zitat nach H. Spettmann, Die psychologie des Johannes Pecham, S. 58, Anmerkung 7) „Potentia quidem triplex est in genere: ratio praeconsilians, voluntas imperans, potentia rationalis rationi obtemperans. Proprie et active uti est voluntatis, cuius Imperium et dominium, rationis est uti quodam modo materialiter et dispositive, voluntatis imperantis primario et potestative." 10 Vgl. Raymond Macken, „Heinrich von Gent im Gespräch mit seinen Zeitgenossen über die menschliche Freiheit", in: Franziskanische Studien 59 (1977), S. 158; Lottin, Psychologie et morale I, S. 306. 11 Vgl. Quodlibet IX, q. 5. (ed. R. Macken, Opera omnia, Bd. 13, S. 122); Quodlibet X, q. 9. (Bd. 14, S. 242) „Quare... falsum ergo et impossibile est dicere quod, cum ratio cognoscit unum solum, dictat actus determinationem potius quam exercitium; immo manet liberum arbitrium voluntatis et quoad actus determinationem de volendo hoc vel aliud, sicut quoad exercitium actus de volendo vel non volendo hoc."; ebd. (S. 243) „Et sie nullo modo ratio magis dictat actus determinationem quam exsecutionem, propter quod neutrum sie dictat quin maneat omnino liberum arbitrium in voluntate, et quoad actus determinationem, sicut et quoad exercitium circa aliud a summo bono viso."
Schlussbemerkung
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nunft, d.h. das Zeigen des Objektes, bedeutet nicht mehr als eine bloße „causa sine qua non" und der Wille hat die Macht, von sich allein seinen Akt zu vollziehen und zu determinieren.12
12
Vgl. Quodlibet IX, q. 5. (Bd. 13, S. 122f.) „Si primo modo, tunc voluntas nec a bono intellecto nec ab ipso intellectu movetur, quia nihil movetur ab aliquo nisi aliqua impressione facta in se ab illo, et ideo, si movetur ipsa voluntas, a se ipsa movetur, et hoc sive moveatur determinando sibi suum actum et suum obiectum, sive exercendo aut exsequendo suum actum. Ita quod utroque modo maneat plena libertas voluntatis respectu sui actus, nec operator intellectus ad hoc quod fiat in suum actum ipsa voluntatis, nisi ostendendo sive offerendo ipsum obiectum, et hoc non nisi sicut causa per accidens et sine qua non. Ut secundum hoc, si ibi sit aliqua determinatio, illa est ipsius intellectus, qua determinatur passive ab intelligibili agente et determinante. Qua quidem determinatione sua passiva in ipsa praesentatur voluntati obiectum, nullo modo qua ab intellectu agente determinetur passive ipsa voluntas ad actum volendi."; Quodlibet X, q. 9. (Bd. 14, S. 238f.) „Et sie ratio sua determinatione non est respectu actus volendi... nisi sicut causa sine qua non."; Quodlibet X, q. 14. (Bd. 14, S. 290) „[ratio] licet praecedat, numquam tarnen aliter est causa quam sine qua non, quemadmodum et sensus in nobis naturaliter prior est intellectu, non tarnen actio sentiendi est causa actus intelligendi nisi sine qua non."; ebd. (Bd. 14, S. 297) „Et quod arguitur (quod sic, quia voluntas per praesentiam intellectus secundum actum fit in actu et per absentiam non fit), dicendum secundum praedicta quod verum est sicut causa sine qua non, non autem sicut causa propter quam sie." Decorte hat herausgestellt, dass diese Lehre des Heinrich besonders von der Psychologie des Walter von Brügge beeinflusst wurde. Vgl. J. Decorte, „Der Einfluss der Willenspsychologie des Walter von Brügge OFM auf die Willenspsychologie und Freiheitslehre des Heinrich von Gent", in: Franziskanische Studien 65, S. 217f. Von diesem engen Einflusszusammenhang ist auch Macken überzeugt. Vgl. Macken, a.a.O., S. 136f.; S. 152f. Wir müssen hier bemerken, dass das Verständnis der Spezifikationsfreiheit oder der Bedeutung des Verstandeseinflusses auf den Willen entscheidend dafür ist, die sogenannte Abweichungsmöglichkeit des Willens vom Verstand zu verstehen. Das Problem dieser Abweichungsmöglichkeit wird zwar bei Thomas und bei Walter sachlich behandelt, aber nach Gauthier wird es bei Heinrich von Gent erstmals in der scharfen Form der Quaestio explizit gestellt: „Utrum propositis ab intellectu maiori bono et minori, possit voluntas eligere minus bonum." Vgl. R.A. Gauthier, „Trois commentaires „averroistes" sur I'Ethique ä Nicomaque", in: AHDL 16 (1947/48), S. 220 ; Macken, a.a.O., S. 132. Unsere Frage ist nun, worin der eigentliche Unterschied zwischen Thomas und den franziskanischen Voluntaristen in Bezug auf dieses Problem besteht. Die Voluntaristen der Franziskanerschule stellen die Abweichungsmöglichkeit als eine empirisch evidente Tatsache des Bewusstseins fest. Aber auch sie sind sich wohl bewusst, dass im faktischen Wahlakt der jeweilige Zwiespalt des Wollens und des Erkennens irgendwie aufgehoben werden muss. Es würde ja niemand behaupten, dass der Wille auch nach dem faktischen Wahlakt vom Urteil des Verstandes „schlechthin" abgewichen bleibt, und ebensowenig leugnen, dass am Wahlakt nicht nur der Wille, sondern auch der Verstand beteiligt ist. Vgl. Kapitel IV, Anmerkung 59. Der wichtige Punkt liegt aber darin, auf welche Weise das „Zusammentreffen" zustande kommt. Nach dem Voluntarismus der Franziskanerschule geschieht dieses Zusammentreffen auf die Weise, dass eine mächtigere Potenz die andere Potenz notwendig und ein-
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Schlussbemerkung
Die Reihe der Kritik an der thomasischen Begründung der Freiheit ist nicht das Ergebnis einer partiellen oder sporadischen Polemik, sondern sie spiegelt eine wesentlich neue Tendenz der Theologie und der Anthropologie wider, in denen die im indeterminierten Willen bestehende Absolutheit Gottes hervorgehoben und dem Willen und der Freiheit ein bis dahin unübliches Gewicht zugemessen wird.13 Wir können hier nicht ausführlich auf die Freiheitstheorien in dieser Tendenz der Franziskanerschule eingehen, ebenso wenig auf die inhaltlichen Streitpunkte zwischen dem Thomismus und den nachfolgenden franziskanischen Kritikern. Unser Anliegen besteht darin, die Eigenstellung der thomasische Freiheitslehre in der damaligen geistigen Konstellation und im historischen Kontext klar zu machen. Wir haben dargelegt, dass die thomasische Begründung der Willensfreiheit in Konfrontation mit den ersten Repräsentanten der voluntaristisch-franziskanischen Tradition verändert wurde, und dass man in der so entwickelten späten Lehre von der Willensfreiheit den vollständigen und reifen Gedanken des Thomas beobachten kann. Überdies haben wir erwähnt, dass die Lehre des späten Thomas von der Selbstbewegung des Willens nicht als so voluntaristisch zu kennzeichnen ist wie die Lehre der franziskanischen Willenstheoretiker. Die thomasische Lehre von der Willensfreiheit scheint also, wie Gilson einmal schreibt, in der Mitte zwischen dem Intellektualismus und dem Voluntarismus ihren Platz zu haben: Mit den Intellektualisten
seitig determiniert. Durch den notwendigen und einseitigen Befehl des Willens wird die Selbstbestimmung des Willens vollbracht, wobei das vorausgehende Erkennen des möglichen Objektes nur als conditio sine qua non gilt. Bei Thomas verfugt der Wille nicht über die Macht, dem Verstand den Befehl zu geben, sondern nur über die Macht, das vorgelegte Objekt zu ergreifen oder nicht zu ergreifen und eventuell einen neuen Erwägungsakt im Sinne des Vollzugs zu bewirken. Und wenn einmal die Erwägung durch den Willen initiiert wird, ist das Ergebnis der Erwägung, d.h. der Urteilsinhalt gänzlich auf den Verstand angewiesen, der in Hinsicht auf das Ziel die Vorzüglichkeit des fraglichen Objektes mit den anderen Alternativen vergleicht. Die Selbstbestimmung des Willens erfolgt durch das freie, letztliche Ergreifen oder Aufnehmen dieses objektiven Urteilsinhaltes. Um das Phänomen dieser Selbstbestimmung zu erklären, führt Thomas bekanntlich in De malo außer der Vernunft auch die anderen erfahrbaren und konkreten Determinationsfaktoren - circumstantia und dispositio - an. Wie schon erwähnt, hat diese Erklärung in De malo einen beträchtlich voluntaristischen Charakter. Vgl. Kapitel IV, Anmerkung 54; Pesch, a.a.O., S. 15f. Aber diese Lehre des Thomas ist im Vergleich mit dem franziskanischen Gedanken von der Selbstbestimmung durch den Willensprimat nur als eine schwache oder gemilderte Form des Voluntarismus anzusehen. 13 Vgl. Mensching, a.a.O., S. 94f. Diese Tendenz hat in sehr verschiedenen Punkten gegen die thomasische Position umfangreiche Front gemacht. Zum wichtigsten Streitpunkt dieser Front zählt neben dem Problem des Verhältnis zwischen Willen und Verstand bei Gott und bei dem Menschen auch das Problem der Einheit der substantiellen Form im Menschen.
Schlussbemerkung
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ist Thomas darin einig, dass der freie Akt des Willens in der geistigen Erkenntnis und dem reflexiven Urteil fundiert ist, aber er betont, dass die Willensfreiheit selbst die Sache des Willens ist, dessen Tätigkeit von der Tätigkeit der Vernunft real geschieden ist. Mit den Voluntaristen ist er darin einverstanden, dass der Wille durch sich selbst bewegt wird, ohne der notwendigen Determination durch die Vernunft zu unterstehen, aber damit gibt er die Meinung nicht auf, dass die Ursache des freien Aktes des Willens im formhaften Sinne in der Vernunft besteht.14 Lässt sich diese Freiheitslehre des Thomas, die zwar Gemeinsamkeiten mit der intellektualistischen und auch mit der voluntaristischen Position hat, aber zu diesen beiden zugleich Distanz einnimmt, nicht als ein Eklektizismus bewerten? Ein solcher Vorwurf gegen Thomas wird als bodenlos erwiesen, nicht nur wegen der inneren Konsistenz seiner Theorie. Man darf ja nicht vergessen, dass sich die thomasische Lehre von der Selbstbewegung des Willens im historischen Kontext der damaligen theoretischen Polemik als eine originelle Lösung des Problems der Willensfreiheit darstellt. Der erste Stützpunkt, den Thomas als ein christlicher Theologe angesichts dieses Problems ergreifen konnte, liegt im Gedankenerbe, das auf der dogmatischen und biblischen Glaubenslehre der Kirche beruht und durch die Kirchenväter entwickelt wurde. Darüber hinaus zögerte Thomas aber nicht, sich mit dem Zeitgeist der AristotelesWiederherstellung zu konfrontieren, aus dem einerseits auch die für den christlichen Glauben nicht annehmbare Strömung des psychologischen Determinismus hervorgegangen ist. Während die meisten Magister der Theologie glaubten, dass diese unheilvolle Strömung und ihre Wurzel in der aristotelischen Philosophie durch die Betonung der augustinisch-anselmischen Willensbestimmung abgeschwächt werden können, wagte Thomas den Versuch, diese Bestimmung des Willens im Rahmen der aristotelischen Philosophie zu interpretieren und zu begründen. Um die außergewöhnliche Bedeutung dieses thomasischen Wagnisses zu verstehen, müssen wir ins Auge fassen, wie stark und allgemein die Antipathie der meisten Magister der theologischen Fakultät gegen den Einführungsversuch der aristotelischen Philosophie war.15
14 15
Vgl. Gilson, L 'esprit de laphilosophie medievale, S. 293f. Diese Antipathie zeigt sich z.B. deutlich in einem nach dem Tod des Thomas geschriebenen Brief John Peckhams, der, als einer seiner wichtigsten zeitgenössischen Antagonisten, Thomas in verschiedenen Streitpunkten angegriffen hat. „Praeterea noverit ipse, quod philosophorum studia minime reprobamus, quatenus mysteriis theologicis famulantur; sed prophanas vocum novitates, quae contra philosophicam veritatem sunt in sanctorum iniuriam citra viginti annos in altitudines theologicas introductae, abiectis et vilipensis sanctorum assertionibus evidenter..." Peckhams Brief an den Bischof von Lincoln am 1. Juni
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Schlussbemerkung
Aber angesichts des Problems der Willensfreiheit besaß Thomas die klare Einsicht, worin der Punkt des Arguments der franziskanischen Theologen besteht. Der Punkt kommt in der Diskussion zum Ausdruck, inwieweit der aristotelische Begriff der Bewegung und das Bewegungsaxiom gültig sind. Die grundlegende Strategie der voluntaristisch-franziskanischen Willenstheoretiker war es, den Anwendungsbereich des aristotelischen Gedankenguts streng zu begrenzen und den freien Willen in einem anderen Bereich, nämlich im Bereich der Spontaneität der Selbstbewegung, zu verankern.16 Thomas war aber davon überzeugt, dass die aristotelische Philosophie nicht nur in die Naturvorgänge, sondern auch in die Tätigkeit der Seele und des Willens Licht bringen kann. Dies gilt zweifelsfrei als seine eigene Interpretation des Aristoteles. Diese Interpretation besagt aber nicht, dass die Spontaneität der Willenstätigkeit in einen naturhaften und notwendigen Kausalnexus eingebettet wird, sondern vielmehr, dass das Phänomen der Selbstbewegung des freien Willens auch philosophisch - d.h. im Rahmen der Prinzipien der philosophischen Vernunft gerechtfertigt oder erklärt werden kann. Thomas wendet also die aristotelische Philosophie nur insofern auf das Phänomen des Willens an, als sie die vorbehaltlose Bejahung der menschlichen Willensfreiheit in der christlichen Tradi-
1285, ed. F. Ehrle, „John Peckham über den Kampf des Augustinismus und Aristotelismus in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts", in: Zeitschrift für katholische Theologie 13 (1889), S. 186. Nach Weisheipl klagt Peckham in diesem Brief über die Lehre des Thomas. Vgl. Weisheipl, Friar Thomas d'Aquino, S. 288. 16 Siehe Kapitel IV, 3.1. Die Selbstbewegung des Willens und der aristotelische Bewegungsbegriff. Der Standpunkt Gerhards, der durch die Ablehnung der Gültigkeit des aristotelischen Bewegungsaxioms in den rationalen Potenzen die Selbstbewegung des Willens rechtfertigen will, wird von Heinrich von Gent offenbar aufgenommen. Vgl. Quodlibet X, q. 9. „Unde, quandocumque philosophi probant quod nihil seipsum per seipsum movet, loquuntur de motu in corporalibus proprie dicto, propter quod dicta ipsorum circa ilia non valent ad propositum circa voluntatem, nec omnino consimiliter movet voluntas seipsam, et grave et leve, sed multo verius."; Macken, a.a.O., S. 153f.; R. J. Teske, H„enry of Ghent's Rejection of the Principle: ,Omne quod movetur ab alio movetur'", in: Henry of Ghent (ed. by W. Vanhamel), S. 279-308. Ein wichtiger Einwand gegen diese Ablehnung der Allgemeingültigkeit des aristotelischen Bewegungsaxioms wird später von Gottfried de Fontaines erhoben, der die Selbstbewegung des Willens leugnet. Vgl. Quodlibet VI, q. 7. (ed. M. de Wulf und J. Hoffmans, Les Philosophes Beiges Bd. 3, S. 170) „Et ideo quia ex metaphysica hoc scire debemus quod unum et idem non potest esse in actu et potentia et quod illud quod est in potentia ad aliquid non potest se reducere ad actum secundum illud et hoc pertinet ad metaphysicam, quia est commune omni enti, ideo hoc debemus supponere circa angelos et circa animam..."; Lottin, Psychologie et morale I, S. 308f.; Auer, a.a.O., S. 259f.
Schlussbemerkung
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tion nicht verletzt, sondern zur Begründung der Willensfreiheit dient.17 Ohne die kritische Bemühung, die gegensätzlichen Positionen - nämlich den intellektualistischen Aristotelismus und die voluntaristische Reaktion - in einer höheren Synthese zu versöhnen, würde sich Thomas vor den sonstigen Aristoteliker nicht auszeichnen. Man kann wohl erkennen, wie weit diese Bemühung des Thomas z.B. vom Versuch des Duns Scotus entfernt ist, der seinerseits die Begriffe und die Prinzipien des Aristoteles transformiert hat, um in der absoluten Trennung von der Natur die reine Vollkommenheit des Willens zu begründen.18 Nicht zu übersehen ist aber, dass die theoretische Bemühung des Thomas - trotz der im Vergleich zu Scotus größeren inhaltlichen Verwandtschaft seiner Theorie mit Aristoteles - eine ebenso originelle Aneignung des Aristoteles wie bei Scotus vorausgesetzt hat. Gerade diese Originalität des Thomas charakterisiert seine Lehre von der Selbstbewegung des Willens, die keineswegs als eine eklektische Lösung anzusehen ist. Die Originalität der thomasischen Lehre von der Selbstbewegung des Willens wäre aber ohne die Offenheit des Thomas fur das Gespräch mit seinen zeitgenössischen Kritikern nicht möglich. Die „Entwicklung" in der thomasischen Freiheitslehre ist nämlich durch das Gespräch mit seinen Zeitgenossen wesentlich bestimmt, obwohl diese „Entwicklung" als eine Selbsterklärung des Thomas seine Gesprächspartner nicht ganz zufriedengestellt hat. Die Lehre von der Selbstbewegung des Willens gilt also als ein Beweis dafür, dass die wesentliche Größe des thomasischen Denkens nicht in einem geschlossenen System, sondern vielmehr in der geistigen Offenheit zu finden ist.
17
18
Es steht auch außer Frage, dass diese thomasische Einstellung gegenüber der aristotelischen Philosophie wesentlich durch das Selbstverständnis des Thomas als eines christlichen Theologen geprägt ist. Thomas hätte sich selbst gegen die oben angeführte Klage Peckhams vielleicht wie folgt verteidigen können: „... philosophi profitebantur studia litterarum quantum ad saeculares doctrinas. Sed religiosis competit principaliter intendere studio litterarum pertinentium ad doctrinam quae secundum pietatem est, ut dicitur Titus 1: aliis autem doctrinis intendere non pertinet ad religiosos, quorum tota vita divinis obsequiis mancipatur, nisi inquantum ordinantur ad sacram doctrinam." (Sum. theol. II-II, q. 188, a. 5, ad 3) Vgl. Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, S. 365. Vgl. W. Hoeres, Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, S. 275f.; F. Inciarte, „Natura ad unum - ratio ad opposita. Zur Transformation des Aristotelismus bei Duns Scotus, in: Philosophie im Mittelalter (hrg. von J. P. Beckmann u.a.), S. 262f.; S273; W. Kluxen, On Metaphysics and the Concept of Freedom in the Philosophy of John Duns Scotus", in: John Duns Scotus. Renewal of Philosophy (ed. by von E. P. Bos), S. 2f.
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Personen- und Sachregister
A allgemeiner Anreiz (affectio generalis) 106, 119f. aktive Potenz 38, 100, 124, 133 Aktivität 99, 101,208 - des Willens 120, 125-132, 135, 144, 184 Albertus Magnus 33, 35, 81 Anselm von Canterbury 26 f., 116, 133 Aristoteles 13, 21 f., 23, 25, 33, 3 6 - 3 8 , 4 0 - 4 8 , 52, 61, 65, 69f., 80, 82, 116, 118, 147f., 167f., 170-173, 176, 200,214f. Aristoteles-Rezeption 30, 33 Augustinus 14, 24, 128 Autonomie des Willens 93 f., 147, 187, 192 f., 195,205, 207 Averroismus 34, 137, 146, 185
C
Β Befehl (imperium) 108 - 1 1 0 , 140, 209, 212 Bernhard von Clairvaux 2 6 - 2 8 , 103, 108f., 115 Bewegung 33, 60, 65, 99, 122, 131, 214 - aristotelische Definition 3 6 - 3 9 - im eigentlichen Sinne und im platonischen Sinne 169-171 - im wahren Sinne und im metaphorischen Sinne 129 - des Lebewesens 42 - der Seele 32, 44, 4 7 - 4 9 , 70, 168 - des Willens 35, 149, 153, 155, 195 Bewegungsaxiom 4 0 - 4 4 , 4 8 f., 117, 132 f., 145, 167-170, 173,214 Böses 24 Boethius 29, 91 Bonaventura 95, 148
F
causa sine qua non 211
D De anima 97, 171 f. Determinismus 3 3 - 3 5 , 144, 147, 187, 191-195, 198 Duns Scotus 15, 215 Ε Empedokles 46 f. Ergreifen (acceptio) 9 2 f „ 158, 165, 192, 212 Erleiden 38, 46, 47, 49, 120, 172 Erwägung (consilium) 62, 155, 165, 174, 212 Eudemische Ethik 80, 177, 201
Form 54f., 56, 151, 155, 164, 190 Formursache 150f„ 154, 156, 164-166, 187, 189, 195, 197 freie Entscheidung (liberum arbitrium) 23, 25 f., 29, 31 - 3 3 , 8 0 - 8 3 , 85, 89f„ 93 f., 99, 125, 127, 134 f., 139, 146, 158, 184, 186, 194, 204 - Begriff 80 - Konstitution 32, 81, 107 Freiheit 35, 98, 112 f., 123 - Begriff 21, 112 - als Ausschluss von Zwang 186 - bedingte Freiheit der Tieren 56 - im aristotelischen Sinne 88 - der Entscheidung 86, 93 - halbe Freiheit und unvollkommene Freiheit 104 f.
228 - der Indifferenz 104 f. - des Urteils 89 - Freiheit des Vollzugs und Freiheit der Spezifikation 160, 166, 184, 205, 210 - des Willens 24, 26, 83, 89, 92, 102, 117, 134 f., 140, 160 f., 166, 167, 181, 205, 214 - als Selbstbewegung des Willens 156 f., 206,209 - empirische Begründung 14, 24, 28 freiwillig (hekousion, voluntarium) 21-23, 28,31, 128, 174,193
G Gauthier, R. A. 16 generans naturae 43 Gerhard von Abbeville 17,123-135, 138-143, 145, 147, 170,183 f., 189,205, 208, 214 Gilson, E. 14, 22,25f., 28-30, 163,212 Glückseligkeit 84, 157f., 179 Gnade 24, 28, 181 Gregor von Nyssa 24 f. Gutes 62, 64, 76, 135, 159f., 190, 197 - bonum apprehensum 69, 71, 78, 106, 150 f., 164, 196 - bonum universale 83, 85,156f., 179f., 182 - als diffusivum sui 66 - als Ziel des Strebens 65 f.
Η Heinrich von Gent 13, 95, 210f. Himmelskörper 34, 175 f. Herr 22, 117 Herrschaft (dominium) 88, 110, 122, 126, 128, 131
J Johannes Damascenus 25, 31, 125, 128, 134 Johannes Peckham 17, 95, 140, 210, 213
I Immaterialität 63,165,177 Indeterminiertheit des Willens 57, 85 f., 90, 114, 135, 161, 182, 194
Personen- und Sachregister Indifferenz 84, 85, 104, 113,114, 134,138 Intellektualismus 14, 29, 204, 215
Κ Keenan, J. F. 146, 189, 193 f., 196, 198 Klubertanz, G. P. 16,158, 178 f., 184, 187 f.
L Lauer, R. Z. 189 Leben 45, 69 Lonergan, B. 184 f., 190 Lottin, D. O. 16, 18, 26, 28, 32, 34, 92, 100, 137, 144, 146 f., 178, 183 f., 187-191, 194 f., 199, 207, 214
Μ Mächtige Potenz (potentia potestativa) 99, 101, l l l f . , 116 Maximus der Bekenner 25 Möglichkeit 37 f., 41, 45 f., 48 movensmotum 15, 71,117f., 142f., 145, 170, 196
Ν Natur 35,41-44, 52, 84 f., 96 Neigung 52-54, 156f., 164, 179f., 208 Nemesius von Emesa 24 f., 30 Nikomachische Ethik 21 f., 25, 30-32, 82 Notwendigkeit 28, 56, 84, 97f., 117, 124, 146, 157, 160, 166
Ο Objekt 46,48 f., 56, 60,63 f., 67-69, 77, 92, 153, 161 f., 167, 198 - des Verstandes 62, 73, 76, 151 - des Willens 33, 57, 72, 76, 78, 82-84, 96 f., 100,103,106,108,114f„ 124, 128-132,141 f., 149,151,156, 159,165, 194-197 - Formalobjekt des Willens 83 f., 150, 153 - als Ziel 65, 70-72, 96, 101 Origenes 24
229
Personen- und Sachregister Ρ passive Potenz 38, 58, 72f., 124, 141, 144-147, 190, 205, 207 Passivität 7 3 - 7 5 , 99-101, 125 f., 131, 142 f., 191 Pesch, Ο. M. 137, 159f., 180, 188, 212 Petrus Johannis Olivi 170 Piaton 13, 39f., 170, 172 Präferenz 114 f., 164 Pseudo Dionysius Areopagita 66
R ratio agendi 67, 71 Rationalität 14, 63, 97, 125, 130, 139, 146, 164, 166 Reflexion 87, 121, 182 Reflexivität 77, 139, 154 removens prohibens 43 Rezeptivität 100 f. Riesenhuber, K. 15, 32, 53 f., 86, 162, 177, 186 f., 195, 200 Robert Grosseteste 31
S Schönberger, R. 14, 3 1 - 3 3 , 92, 170, 178 Seele 3 4 , 4 0 , 4 4 f . , 48f., 59, 63 - Vermögen der Seele 48, 59 f., 173 Selbstbestimmung 212 Selbstbewegung 14, 48 f., 59, - Grad 13 - Piatons Begriff 39 f. - aristotelische Verneinung 3 6 , 4 0 - 4 4 , 71, - des immateriellen Vermögens 208 - des Verstandes 166, 207 f. - des Willens 116-123, 132f., 145, 146, 149, 151-154, 156, 161, 165-167, 169f., 174, 177, 180, 198, 2 0 3 - 2 0 5 , 209 f., 212-215 Selbstdetermination 93 f., 115, 138, 139, 147, 161, 165, 207 Siger von Brabant 34 Spezifikation des Aktes 149, 157-159, 161, 163,210 Spontaneität 13f., 22, 29, 49, 166, 214 Stadter, E. 95, 100, 117, 119, 121, 170, 210
Streben 21 f., 32, 37, 49, 55, 60, 62, 65 f., 70, 73 - naturhaftes Streben 5 4 - 5 7 , 69 - rationales Streben 53, 57, 62, 74 - sinnliches Streben 55, 57 f., 61 f., 68 f. Sünde 26,28, 127
Τ Tätigkeit (operatio) 48, 169, 171 f. Torell, J.-P. 18
U Überlegung (consilium) 28 f., 92, 127, 131, 202 unbewegter Beweger 40, 46 Urteil 29, 94, 103, 106, 108, 115, 139, 146 f., 155, 161, 164, 167, 185, 190,211 - freies Urteil 90, 93, 194, 204 - letztes Urteil 86,91, 162 f. - naturhaftes Urteil 77, 87 - reflexives Urteil 87 f., 194, 204
V Verantwortlichkeit 193 Vernunft 27, 29, 8 6 - 8 9 , 91, 93f., 103, 106, 108, 115, 155, 161-164, 190, 194, 211 Verstand 3 2 - 3 4 , 62f., 72, 74f., 78f., 9 0 - 9 2 , 149f., 154 f., 159, 162f„ 166, 174, 185, 187, 192f., 195-197, 199f.,202f„ 208f., 211 Verurteilung 1270 146, 148, 205 Verurteilung 1277 34 Vollzug des Aktes 151, 155, 158, 161, 163, 166,210,212 Voluntarismus 14, 141, 143-145, 188, 207, 209-211
W Wahl 21 f. 158 - aristotelischer Begriff (prohairesis) 25, 30f., 81 - Akt 32, 163, 166, 197 f., 211 Wahres 64, 76, 150 f.
230 Walter von Brügge 17, 95,135,138-145, 147, 170,183,189,205,208,210f. Wechselbewegung des Willens und des Verstandes 74f., 79f„ 103, 105, 110, 112, 116, 130, 149, 152f„ 163,174 f., 200 f. Weisheipl, J. A. 15,41,43 Westberg, D. 187, 189 f. Wilhelm de la Mare 170, 209 Wilhelm Ockham 15 Wille 24, 26-28, 32-34, 61-63, 73-75, 78f., 84-86, 90-92, 94, 102, 109f., 113, 119, 121 f., 124, 126, 129f., 132-134, 141 f., 146, 149f., 152, 154f., 157, 161-163,174,179,185,187,191-193, 195-197, 199f., 202f., 205, 208,211 f. - Akt 72, 89, 103, 105, 107 f. - Begriff 25, 57 f. - Natur 28, 84, 181 - Primat 15,27, 111, 115, 140,209 - als selbstbewegendes Instrument 27, 116, 133 - als motor universalis 33, 116 - voluntas deliberativa 9 6 - 9 8
Personen- und Sachregister Willensmotivation durch Gott 80,173 f., 177-182, 184, 199-203 Wirken (agere) 53 f. Wirklichkeit (energeia) 37, 41, 45 f., 48, 59, 70f., 75 Wirkursache 22, 68-71, 74f., 79, 99, 153, 196
Ζ Ziel 47f., 97, 100, 109,151-153, 164f., 190, 208,212 - Begriff 52 f. - letztes Ziel 84 f., 90, 96,106,117,119, 156-158, 180,196 - und Mittel 81-83, 85-87, 98f. 155,197 - ratio finis 86 f. - und Streben 56, 60 f., 65, 67-69 - als Ursache der Ursächlichkeit 68 - des Willens 72, 76 Zielursache 52, 66 f., 70, 75, 99, 140, 151, 153-156, 189, 195-198, 205 Zustimmung (consensus) 28 Zwang 21, 28, 84, 97, 112, 114,134,191
Die Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes ab Band 44 im Akademie Verlag Band 44 Thomas Linsenmann: Die Magie bei Thomas von Aquin Band 45 Martin Thurner: Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues Band 46 Ulrich Horst: Die Gaben des Heiligen Geistes nach Thomas von Aquin Band 47 Georgij Awakumov: Die lateinische Theologie des Hochmittelalters in der Aliseinandersetzung mit dem Ritus der Ostkirche Band 48 Nico laus Cusanus zwischen Deutschland und Italien Herausgegeben von Martin Thurner Band 49 Hubert Schröcker: Das Verhältnis der Allmacht Gottes zum Kontradiktionsprinzip nach Wilhelm von Ockham Band 50 Karl-Heinz Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloudtexten