Analogie bei Thomas von Aquin: Onto-epistemische, semantische und sprachlogische Probleme 9783495995143, 9783495995150


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Abkürzungsverzeichnis
I. Einführung
1.1 analogia – Worterklärung. Einheit als Seins-, Erkenntnis- und Sprachproblem und Analogie
1.2 Historische Bemerkungen zur Ausarbeitung des Analogiebegriffs vor dem Hintergrund der Tradition
1.3 Gestalten der Analogie in der gegenwärtigen Philosophie
1.4 Fragestellung
II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie
2.1 Epistemologische Problematik und Analogie
2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis
2.2.1 Was ist der actus inttelligendi
2.2.2 Intellectus possibilis und intellectus agens: zwei Intellekte?
2.2.3 Epistemisches Problem der getrennten Substanz und der Disposition
2.2.4 Zwischenfazit und Aussicht
2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts
2.3.1 Von der hylemorphischen Entität zur absoluten Wirklichkeit: die Perspektive der Analogie
2.3.2 Substantia composita, das (ontologische) Letzte und die Prinzipien
2.3.3 Substantia composita und Differenzen
2.3.4. Esse proprium, esse commune und die Einheit aller Seienden
2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie und die Frage nach der analogen Struktur des Seins
2.4.1 Proportionsanalogie des duorum ad tertium
2.4.2 Proportionsanalogie des unius ad alterum
2.4.3 Ex creaturis in Dei cognitionem venimus
2.5 Universaliendebatte und Analogie
2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick zur Erschließung weiterer Argumente Hylemorphismus und Analogie betreffend
2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation
2.7.1 Die Ousia und analoge Einheit
2.7.2. Transzendentales Seiende, das Eine und Konvertibilitätsthese
2.7.3 Transzendentale und kategoriale Bestimmungen des Einen und Seienden und Analogizität der Transzendentalien
2.7.4 Esse et essentia und die Einheit des Seienden
2.8 Divisio des Einen und Problematik des Einen und der Vielheit
2.8.1 Eigenschaften, Ähnlichkeit, Relation
2.8.2 Relation als Relation und Relation als Eigenschaft
2.8.3 Typologie der Ähnlichkeitsrelationen
2.8.4 Analogie versus Ähnlichkeitsrelation
2.8.5 Von (der) Ähnlichkeit zur Analogie von Gott und Kreatur
2.8.6 Fazit
2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit
2.9.1 Die Eins, das Eine und die Analogie
2.9.2 Mathematische Proportionalität und Analogie
2.9.3 Fazit
2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme
2.10.1 Mereologische Extensionalität, Intensionalität und Analogie
2.10.2 Arten des Ganzen und Analogie
2.10.3 Ist Gott ein Ganzes?
2.11 Ouod est participare?
2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen
III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas
3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie
3.2 Sein und Seiendes in der Sprache
3.2.1 Sein, Seiendes und Grundstruktur der Sprache
3.2.2 Reales und intentionales Sein und abstrakte Gegenstände
3.2.3 Die Sprache, abstrakte Gegenstände und Gott
3.3 Nomen – ratio/conceptus – res
3.3.1 Relationsarten der dreistelligen Semantik
3.3.2 Personale Supposition und supponierende Namen Gottes
3.4 Wort und Bedeutung
3.4.1 Probleme der Bedeutung: Bedeutung des Wortes
3.4.2 Von der Ousia zur Synonymie, Homonymie oder Analogie?
3.4.3 Paronymie, pros-hen-Relation und Analogie
3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia
3.5.1 Univokation versus Analogie?
3.5.2 Äquivokation versus Analogie?
3.5.3 Analogie auf der Grenze zwischen (Sprach)Logik und Metaphysik
3.6 Fazit
IV. Seinsprädikation
4.1 Prädikation und Analogie
4.2 Aristotelische Prädikationslogik auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik
4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi
4.4 Affirmative und negative Prädikation
4.4.1 Intensionalität als Problem der analogen affirmativen Aussagen
4.4.2 Intensionale Prädikation und Konzept der Akzidens
4.4.3 Intensionale analoge Prädikation und Wahrheit
4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?
4.5.1 Negative Prädikation versus affirmative analoge intensionale Prädikation
4.5.2 Negative Prädikation und Nichtseiendes
4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation
4.6.1 Negative Prädikatenformen und Analogie
4.6.2 Unbestimmtheit, Nichtseiendes und conformitas
4.6.3 Conclusio zur aussagenlogischen Negation
V. Fazit: Analogie: eine erfolgreiche Lösung der ontologisch-epistemischen, semantischen und sprachlogischen Probleme?
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Analogie bei Thomas von Aquin: Onto-epistemische, semantische und sprachlogische Probleme
 9783495995143, 9783495995150

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Valentina Spune

Analogie bei Thomas von Aquin Onto-epistemische, semantische und sprachlogische Probleme

https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

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Valentina Spune

Analogie bei Thomas von Aquin Onto-epistemische, semantische und sprachlogische Probleme

https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2019 ISBN 978-3-495-99515-0 (Print) ISBN 978-3-495-99514-3 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

Vorwort

Für die vergangenen Jahrzehnte kann ein wachsendes Interesse an der mittelalterlichen Erkenntnistheorie und Ontologie, der Sprachlo­ gik und Semantik und insbesondere deren tieferen Zusammenhang miteinander verzeichnet werden. Dies hängt mit unterschiedlichen Motivationen zusammen. Auf der einen Seite wird dies durch den Triumphzug der analytischen Philosophie bestimmt, welche es mit ihrem Instrumentarium und unter Anwendung der Formalisierungs­ methode in Bezug auf die Interpretation mittelalterlicher Texte ermöglicht, ein neues und analytisch vertieftes Verständnis über die verschiedenen Problemlagen zu erlangen. In diesem Zusammen­ hang spielt der Umstand eine große Rolle, dass die wichtigsten ontologischen, erkenntnismetaphysischen, semantischen und sprach­ logischen Diskussionen des 13. und 14. Jahrhunderts erst seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts virulent wurden. Vor diesem Hinter­ grund sind auch jene Forschungen entstanden, die versuchen, die thomanische Sprachphilosophie, Semantik, Erkenntnistheorie und Ontologie neu zu fassen. Auf der anderen Seite behandelte die am Anfang des 20. Jahrhunderts neu belebte Ontologie nur einen Ausschnitt ontologischer Problemstellungen. Trotzdem ergaben sich daraus neue Aspekte für die Rekonstruktion und Interpretation der Thomanischen Seins- und Erkenntnistheorie: Die Frage nach den »Dingen« (real-ontologische Ebene) und die Frage nach dem »Wis­ sen« (begrifflich-semantische Ebene) wurden unter dem Gesichts­ punkt ihres Zusammenhangs behandelt. Diese beiden Motivationen des Interesses an der gesamten mit­ telalterlichen Philosophie und speziell an der thomanischen Erkennt­ nistheorie, Ontologie und Sprachphilosophie1 bilden die Grundlagen

1 Den Ausdruck »Sprachphilosophie« verwendet Thomas nicht. Dennoch können m.E. scholastische Bemühungen um die logische Analyse der Sprache unter dem Begriff »Sprachphilosophie« subsumiert werden.

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Vorwort

für zwei unterschiedliche – wenn auch nicht völlig voneinander unabhängige – Forschungsrichtungen.2 Die eine Forschungsrichtung konzentriert sich auf die epistemi­ sche und ontologische Problematik, die einerseits nach Seins-, ande­ rerseits nach Erkenntnisprinzipien fragt. Bei der Untersuchung des Problems, ob die der Erkenntnis zugänglichen Gegenstände abhängig oder unabhängig von der Sprache existieren und ob sich die Begriffe mittelbar oder unmittelbar auf Gegenstände beziehen, werden vor­ rangig ontologische und epistemische Voraussetzungen diskutiert. Die zweite Forschungsrichtung hat einen sprachphilosophischen Ausgangspunkt und beschäftigt sich primär mit der logisch-semanti­ schen Analyse und der (Sprach)Logik des Mittelalters. Wenn man dieser Forschungsrichtung folgt, befasst man sich mit der thomani­ schen Auffassung von der Semantik der Wörter und der Aussagen sowie der logisch-semantischen Relation (etwa Signifikations- und Suppositionsrelationen, de subiecto- und in subiecto-Prädikationen). In beiden Forschungsrichtungen spielt der Aspekt der Analogie eine besondere Rolle. Der Analogiebegriff – zusammen mit den Begriffen der Univokation und Äquivokation – bildet das strukturbildende Gerüst der gesamten mittelalterlichen Philosophie. Die polnische analytische Philosophie und insbesondere die von den polnischen thomanischen Philosophen Bochenski und Salamucha (Krakauer Kreis) weiterentwickelte mathematische Logik mit einer formalisier­ ten Auffassung der Analogie, ist ein Beispiel für die gegenwärtige Weiterentwicklung dieses Konzepts.3 Unter Analogie-Fragen werde ich im folgenden ein Bündel von zusammenhängenden Fragen verstehen, die sich mit den Beziehun­ Zu diesen Richtungen siehe: S. 27 ff. Siehe dazu: Salamucha J., The proof ex motu for the existence of God. Logical Ana­ lysis of St. Thomas Aquinas Arguments. In: Salamucha J. (Ed.), Knowledge and faith. Amsterdam; New York: Rodopi, 2003, S. 97–135. // Bochenski J. M., Gottes Dasein und Wesen. Logische Studien zur Summa Theologiae I, q.2–11. München: Philosophia Verlag, 2003; Bochenski J. M., Gottes Dasein und Wesen. Mathematisch-logische Studien zur Summa Theologiae I, q.2–13. Freiburg: Typescript, 1989. Das Gemein­ same zwischen dem thomanischen Analogieverständnis und der Logik wurde gerade im Krakauer Kreis thematisch explizit und als Hauptthese von Jan Salamucha in »A possibility of formalisation of the domain of analogical concept« auf dem Krakauer Kongress (1936) ausformuliert. Die von Thomas untersuchten Probleme der analo­ gischen Transzendentalienlehre, die Deutung der Attribute Gottes und der Relation esse-existentia wurden als methodologische Grundprobleme der mathematischen Logik verstanden. 2

3

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Vorwort

gen von »res et intellectus«, »materia et forma«, »subiectum et obiectum«, »substantia et accidentia«, »proportio et proportionali­ tatis«, »nomen-ratio-res«, »unum ad alterum«, »creatura et deus« und »ordo essendi et ordo praedicandi« beschäftigen. Der Auslegung dieser Beziehungen liegen ontologische, epistemische oder logischsemantische Positionen zugrunde. Dabei konzentriere ich mich auf die Untersuchung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit und auf die sprachlichen Formen, durch die die extramentalen Gegen­ stände aufgefasst, erkannt und benannt werden. Hinsichtlich der Analogie-Fragen werde ich in dieser Untersu­ chung nicht nur die Beziehungen zwischen der auf der Ontologie fundierten Epistemologie, Sprachphilosophie und der Sprachanalyse bzw. den sprachanalytischen4 Ansätzen nach Thomas von Aquin ana­ lysieren, sondern gleichsam nach dem Verständnis der Analogie selbst fragen. Eines der Defizite der bisherigen Thomas-Forschung beruht auf der Entscheidung, Thomas’ Philosophie auf einen Standpunkt – einen rein ontologischen, erkenntnistheoretischen oder sprachlogi­ schen – zu verengen. Die Verengung bedeutet aber für das Verständ­ nis der Analogie, dass Thomas’ Bemühungen, die Brücken zwischen einzelnen Bereichen in deren jeweiligen Verschiedenheit der Analogie 4 Man kann fragen, ob es berechtigt ist, den Begriff »analytisch« auf die mittelalter­ liche Philosophie anzuwenden. Nach Wolenski kann jede Philosophie in gewisser Weise als »analytisch« bezeichnet werden; er selbst aber verzichtet darauf, eine ein­ deutige Grenzziehung des »analytischen« vorzunehmen. Michael Dummett ist der Meinung, dass »eine philosophische Erklärung des Denkens durch die philosophische Analyse der Sprache« das ist, was zu erreichen ist, um eine Analyse als »analytisch« bezeichnen zu dürfen. Wenn aber ein Philosoph (Evans ist hier gemeint worden) behauptet, dass das Verhältnis des Denkens sich nur auf Gegenstände bezieht, ist er, so Dummett, »kein analytischer Philosoph mehr«. An dieser Stelle möchte ich auch die Definition von Ernst Tugendhat für das »analytische Verfahren«, besser gesagt das »sprachanalytische Verfahren«, angeben: »sprachanalytisch« bedeutet, dass man »auf die Bedeutung der Worte reflektierend« Bezug nimmt (S. 46). Die »sprachanalytische Philosophie« ist eine Art des Philosophierens, in welcher der Versuch unternommen wird, die »der Philosophie vorgegebenen Probleme lösen zu können oder lösen zu müssen, auf dem Wege einer Analyse der Sprache« (S. 15). Vgl. Tugendhat E., Vorle­ sungen zur Einführung in die Sprachanalytische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, S. 46. // Wolenski J., Kierunki i metody filozofii analyticznej. In: Perzanowski J., Jak filozofowac? Studia z metodologii filozofii. Warszawa, 1989, S. 30– 77, hier: S. 30 ff. // Dummett M., Ursprünge der analytischen Philosophie. Übers. von J. Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 11. Der Hinweis auf das Buch von Evans: Evans G., The Varieties of Reference. Hrsg. von J. McDowell. Oxford: Clarendon Press, 1982. Ich schließe mich der Meinung von Wolenski und Tugend­ hat zu.

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Vorwort

aufzubauen, nicht Genüge getan wird. Ohne das Bemühen um eine, die Bereiche überbrückende Darstellungsweise, verliert man auch die Möglichkeit, den Ort der Analogie in der aristotelisch-thomanischen Philosophie insgesamt zu bestimmen und deren Rolle in scholasti­ schen Diskussionen zwischen den großen Geistesströmungen wie Realismus und Nominalismus bzw. Konzeptualismus aufzuweisen. Es wird die Möglichkeit vertan zu klären, wie (und weshalb) man die Entscheidung für den Analogie-, Äquivokations- oder Univoka­ tions-Weg in philosophischen, theologischen und logisch-semanti­ schen Grundeinsichten trifft oder treffen muss und was diese Ent­ scheidungen für die Lösung der philosophischen und theologischen Fragen bedeuten. Durch die Formalisierungen habe ich nun eine Brücke von Thomas’ Fragestellungen zu denen der analytischen Philosophie auf­ bauen können. Der auf diese Weise methodisch konzipierte Zugang zu der Analogie-Problematik könnte überraschen, da die scholasti­ sche Quastionen-Methode,5 die ich im Folgenden als »analytische Methode« bezeichnen werde, in gewisser Hinsicht dazu führt, dass gerade die analytische Philosophie als »Nachfolgerin« der Ontologie bzw. der Semantik aufgefasst werden kann. Sollte eine derartig (mei­ ner Meinung nach) rekonstruierte Traditionslinie für den Leser als zu kompliziert oder illegitim erscheinen, so kann er diese Hinweise ignorieren, da ihm nichts wesentliches von der Analyse der Analogie­ problematik bei Thomas entgehen wird. Mit dieser Abhandlung können keineswegs alle Antworten auf alle offen gebliebenen Fragen gegeben werden: weder auf dem Gebiet der (ontologischen) Erkenntnistheorie, der Semantik und der Sprach­ In seiner Untersuchung der scholastischen Methode verweist Grabmann zunächst auf die philosophische Bibliothek zu Beginn des 12. Jahrhunderts, die vor allem aus der von Boethius übersetzten und kommentierten aristotelischen Logik bestand. Hier nahm der Entwicklungsgang der scholastischen Methode durch die Rezeption des Aristoteles und der arabisch-jüdischen Philosophie seinen Anfang. Beachtenswert ist die Charakteristik der Bücher der Logik des Aristoteles und die Orientierung auf die Sprachlogik des Chronisten und Geschichtsphilosophen des 12. Jahrhunderts Bischofs Otto von Freising: »Die Prädikamente befassen sich mit den einfachen Termini, Peri­ hermeneias behandelt die Sätze, die Analytica priora erörtern die Anordnung der Sätze zu Syllogismen, wobei das Urteil gereinigt und instruiert wird, die Logik hat die Methoden, den Weg syllogistischen Verfahrens zum Gegenstand, die Analytica pos­ teriora orientieren über das mit Notwendigkeit vorgehende wissenschaftliche Beweis­ verfahren [...].« Grabmann M., Die Geschichte der scholastischen Methode. Bd. 2. Freiburg i. Br.: Herdersche Verlagsbuchhandlung, 1911, S. 68. 5

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Vorwort

logik noch im Bereich der Diskussionen zwischen Nominalismus und Realismus. Hier bedürfte es noch ausführlicherer und spezielle­ rer Untersuchungen. Mit dieser Abhandlung versuche ich auf die Frage zu antworten, an welcher Stelle im Rahmen erkenntnistheoretischer, ontologischer, semantischer und sprachlogischer Erörterungen die Analogie eine Rolle bei Thomas zu spielen beginnt. Ebenso werde ich eine Antwort auf die Frage geben, weshalb die Analogie auch heute von besonderem philosophischem Interesse sein sollte. Die vorliegende Arbeit, die im Wintersemester 2019 für die Erlan­ gung des Doktorgrades an der Universität zu Köln eingereicht wurde und hier in leicht überarbeiteter Fassung vorliegt, ist – mit Worten des dänischen Regisseurs Lars von Trier zu sagen – »breaking the waves« und auf der Grenze des Möglichen, Unmöglichen und Notwendigem entstanden. Ich bin allen dankbar, die der Verwirklichung des Mög­ lichen (akademisch, geistig und finanziell) in das reale Ergebnis – dieses Werk – geholfen haben. Einen Dank für die »Einweihung« in die Welt der Philosophie bin ich Prof. Dr. Gunārs Jansons und Prof. Dr. Oksana Vilnīte schuldig. Für die philosophisch exzellenten Gedankengänge und das Verständnis der scholastischen Thematik bin ich meinen akademischen Beratern Prof. Dr. Georg Wieland, Prof. Dr. Josef Hans Jakob Schneider, Prof. Dr. Iveta Leitane, Dr. Uri Ger­ schowitsch und Dr. Michael Schneider, sowie inspirierenden Werken von Prof. Dr. Peter Schulthess, Prof. Dr. Jennifer Ashworth, Prof. Dr. Eleonore Stump, Prof. Dr. Uwe Meixner, Prof. Dr. Jan Pinborg, Prof. Dr. Arno Anzenbacher, Prof. Dr. Jan Wolenski und Prof. Dr. Stanislav Sousedik dankbar. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Ernst Tugendhat, Prof. Dr. Friederike Schick, Prof. Dr. Anton Koch, Prof. Dr. Thomas Grundmann, Prof. Dr. Jocelyn Benoist und Prof. Dr. Jurģis Šķilters, mit denen ich Gespräche geführt habe und deren Seminare (und Werke) zu der analytischen und kontinentalen Philosophie meine Vorstellungen manchmal »auf dem Kopf« gestellt haben. Für die Bereitschaft, die Bürde des Erstgutachters auf sich zu nehmen und somit die Promotionsmöglichkeit an der Universität zu Köln für mich zu eröffnen, gilt mein Dank Prof. Dr. Dr. Andreas Speer. Ich bedanke mich auch bei dem zweiten Gutachter Prof. Dr. David Wirmer. Ich bin meinen geistigen Lehrern und Beratern – Pfr. Dr. theol. Juris Rubenis, Bf. Mg. Theol. Antons Justs, Pater Janis Budkans für

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Vorwort

das kraftvolle Verbinden meines akademischen Weges mit dem Weg des Glaubens an dem »X, der nicht beweisbar, trotzdem wahr ist« – sehr dankbar. Ich bin einen großen Dank für die finazielle Unterstützung meh­ reren Stiftungen schuldig, vor allem: KAAD, Renovabis, Volkswagen, Erasmus, PBLA (USA). Mein Dank gilt Mg. Robert M. Schneider für das Korekturlesen der ersten Fassung meiner Dissertation; insbesoders gilt mein Dank Dr. Pauline Schubert und Mg. J. P. S. für inhaltliches Interesse bei der Korrekturlesen der letzten Fassung meiner Dissertation. Mein Dank gilt auch Mg. Margarita Liskmane für die Beratung über die Translationsfragen. Ebenso bedanke ich mich Dr. Martin Hähnel für die Begutachtung und Aufnahme meiner Arbeit ins Publikationspro­ gram des Alber Verlags. Mein ergebendster Dank gilt meiner Familie.

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Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

I.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1.1 analogia – Worterklärung. Einheit als Seins-, Erkenntnis- und Sprachproblem und Analogie . . . . .

17

1.2 Historische Bemerkungen zur Ausarbeitung des Analogiebegriffs vor dem Hintergrund der Tradition . .

23

1.3 Gestalten der Analogie in der gegenwärtigen Philosophie

37

1.4 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

2.1 Epistemologische Problematik und Analogie . . . . . .

55

2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Was ist der actus inttelligendi . . . . . . . . . . 2.2.2 Intellectus possibilis und intellectus agens: zwei Intellekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Epistemisches Problem der getrennten Substanz und der Disposition . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Zwischenfazit und Aussicht . . . . . . . . . . . 2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Von der hylemorphischen Entität zur absoluten Wirklichkeit: die Perspektive der Analogie . . 2.3.2 Substantia composita, das (ontologische) Letzte und die Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Substantia composita und Differenzen . . . .

64 65 71 80 83

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88

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94

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101 106

11 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

Inhaltsverzeichnis

2.3.4. Esse proprium, esse commune und die Einheit aller Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie und die Frage nach der analogen Struktur des Seins . . . . . . . . . . 2.4.1 Proportionsanalogie des duorum ad tertium . . . 2.4.2 Proportionsanalogie des unius ad alterum . . . . 2.4.3 Ex creaturis in Dei cognitionem venimus . . . .

112 114 116 119

2.5 Universaliendebatte und Analogie . . . . . . . . . . .

123

2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick zur Erschließung weiterer Argumente Hylemorphismus und Analogie betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation . . . . . . 2.7.1 Die Ousia und analoge Einheit . . . . . . . . . 2.7.2. Transzendentales Seiende, das Eine und Konvertibilitätsthese . . . . . . . . . . . . . . 2.7.3 Transzendentale und kategoriale Bestimmungen des Einen und Seienden und Analogizität der Transzendentalien . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.4 Esse et essentia und die Einheit des Seienden . . 2.8 Divisio des Einen und Problematik des Einen und der Vielheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.1 Eigenschaften, Ähnlichkeit, Relation . . . . . . 2.8.2 Relation als Relation und Relation als Eigenschaft 2.8.3 Typologie der Ähnlichkeitsrelationen . . . . . . 2.8.4 Analogie versus Ähnlichkeitsrelation . . . . . . 2.8.5 Von (der) Ähnlichkeit zur Analogie von Gott und Kreatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 152 154 157 163 167 168 173 175 177 178 183

2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit . . . . . . . . . 2.9.1 Die Eins, das Eine und die Analogie . . . . . . . 2.9.2 Mathematische Proportionalität und Analogie . 2.9.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185 189 200 210

2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme . . 2.10.1 Mereologische Extensionalität, Intensionalität und Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.2 Arten des Ganzen und Analogie . . . . . . . . .

212

12 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

215 223

Inhaltsverzeichnis

2.10.3 Ist Gott ein Ganzes? . . . . . . . . . . . . . . .

227

2.11 Ouod est participare? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen

240

.

III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

249

3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie . . . . . .

249

3.2 Sein und Seiendes in der Sprache . . . . . . . . . . . 3.2.1 Sein, Seiendes und Grundstruktur der Sprache 3.2.2 Reales und intentionales Sein und abstrakte Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Sprache, abstrakte Gegenstände und Gott .

. .

259 261

. .

269 275

3.3 Nomen – ratio/conceptus – res . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Relationsarten der dreistelligen Semantik . . . . 3.3.2 Personale Supposition und supponierende Namen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279 282

3.4 Wort und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Probleme der Bedeutung: Bedeutung des Wortes 3.4.2 Von der Ousia zur Synonymie, Homonymie oder Analogie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Paronymie, pros-hen-Relation und Analogie . .

298 300

3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia . . . . . . 3.5.1 Univokation versus Analogie? . . . . . . . . . . 3.5.2 Äquivokation versus Analogie? . . . . . . . . . 3.5.3 Analogie auf der Grenze zwischen (Sprach)Logik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . .

321 322 326

3.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

IV. Seinsprädikation

355

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1 Prädikation und Analogie

294

310 314

337

. . . . . . . . . . . . . . .

355

4.2 Aristotelische Prädikationslogik auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . .

358

4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi . . . . . . . . . . . .

364

13 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

Inhaltsverzeichnis

4.4 Affirmative und negative Prädikation . . . . . . . . . 4.4.1 Intensionalität als Problem der analogen affirmativen Aussagen . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Intensionale Prädikation und Konzept der Akzidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Intensionale analoge Prädikation und Wahrheit 4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie? . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Negative Prädikation versus affirmative analoge intensionale Prädikation . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Negative Prädikation und Nichtseiendes . . . . 4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation 4.6.1 Negative Prädikatenformen und Analogie . . . . 4.6.2 Unbestimmtheit, Nichtseiendes und conformitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Conclusio zur aussagenlogischen Negation . . .

V. Fazit: Analogie: eine erfolgreiche Lösung der ontologisch-epistemischen, semantischen und sprachlogischen Probleme? . . . . . . . . . . . . .

14 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

377 379 388 395 400 402 407 414 415 418 422

429

Abkürzungsverzeichnis

Die Summa Theologiae, die Summa Contra Gentiles, die Sentenzen­ kommentare, die Aristoteleskommentare werden folgendermaßen zitiert: S.Th.I, q.3, a.13ad5 / C.G.I, 34/ In Sent.I, d.33, q.3, a.5ad4 / In Met.VII, lect.17, n.1658 Die Stellen sind mit der Abkürzungen und Ziffern bezeichnet: a.

articulus

ad5

in responsione ad 5 argumentum

q.

quaestio

ed.

editio

d.

distinctio

lect.

lectio

lib.

liber

n.

numerus

cap.

capitulum

p.

pars

tract.

tractatus

AL

Aristoteles Latinus. Bruges [u.a.] : Desclee de Brouwer, 1939-

AHDLMA

Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen-âge.

HWPh

Historisches Wörterbuch der Philosophie.

BGPhMA

Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters.

HphG

Handbuch philosophischer Grundbegriffe.

JOES

Journal of the American Oriental Society.

LexMA

Lexikon des Mitellalters. München: LexMA, 1977-1999.

MS

Mediaeval Studies.

MM

Miscellanea Mediaevalia.

15 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

Abkürzungsverzeichnis

ThPh

Theologie und Philosophie.

PhR

The Philosophical Review.

PL

Patrologia latina. Ed. J.-P. Migne. Paris, 1841–1879.

TH-LX

Thomas-Lexikon. Sammlung, Übersetzung und Erklärung der in sämtlichen Werken des hl. Thomas von Aquin vorkom­ menden Kunstausdrücke und wissenschaftlichen Aussprüche von Dr. L. Schütz. Paderborn: Schöningh, (2) 1895.

L-DHW

Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen Zusammengetragen und mit besonderer Bezug­ nahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichti­ gung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von K. E. Georges. Bd. 3. Basel; Stuttgart: Schwabe & Co, 1967.

ThGL

Thesaurus Graecae Linguae an Henrico Stephano construc­ tus. Post. ed. C. B. Hase. Bd. VIII. MD LXXII, (Nachdruck) Graz: Akademischer Verlag, 1954.

16 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

I. Einführung

1.1 analogia – Worterklärung. Einheit als Seins-, Erkenntnis- und Sprachproblem und Analogie Die früheren und die neueren begriffsgeschichtlichen und systemati­ schen Forschungen zur mittelalterlichen (und thomanischen) Analo­ gieproblematik stoßen immer wieder auf Schwierigkeiten und weisen Mängel auf. Deshalb scheint es mir vonnöten, eine kurze Erklärung des Wortverständnisses zu geben.6 An dieser Stelle ist auch eine kurze Übersicht sowohl über die traditionelle Auffassung und Anwen­ dung der Analogie als auch über die wenig erforschten Aspekte von Analogie geboten. Dabei werde ich nicht systematisch auf die antike, spätantike und frühscholastische Philosophie eingehen, son­ dern lediglich einzelne relevante Aspekte – insbesondere in Bezug auf Aristoteles, aber auch auf arabische und jüdische Philosophen, einige Vgl. Grabmann M., Einführung in die Summa Theologiae des hl. Thomas von Aquin. Freiburg i. Br.: Herdersche Verlagsbuchhandlung, 1919. // Przywara E., Ana­ logia entis. Bd.1. München: Pustet, 1932. // Lyttkens H., The Analogy between God and the World. An Investigation of its Background and Interpretation of its use by Thomas of Aquino. Uppsala: Almquist & Wiksell, 1952. // Barth T., Zur Geschichte der Analogie. Franziskanische Studien 37/1 (1955), S. 1–97. // McInerny R. M., The Logic of Analogy. An Interpretation of St. Thomas. Hague: Nijhoff, 1961. // Bochenski J. M., Über die Analogie. In: Ders., Logisch-philosophische Studien. Hrsg. von A. Menne. Freiburg: Alber, 1959, S. 107–129. // Jüngel E., Zum Ursprung der Analogie bei Parmenides und Heraklit. Berlin: De Gruyter, 1964. // Puntel B., Analogie und Geschichtlichkeit. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 1969. // Inciarte F., Forma formarum. Strukturmomente der thomistischen Seinslehre im Rückgriff auf Aristoteles. Freiburg; München: Alber, 1970. // Kluxen W., Teilart. Analogie. In: HWPh. Hrsg. von J. Ritter [u.a.]. Bd. 1. Basel: Schwabe, 1971, S. 214–227. // Burrel D., Analogy and Philosoph­ ical Language. New Haven and London: Yale Univ. Press, 1973. // Fiedler W., Ana­ logiemodelle bei Aristoteles. Amsterdam: Grüner, 1978. // Park S.-Ch., Die Rezeption der Mittelalterlichen Sprachphilosophie in der Theologie des Thomas von Aquin. Lei­ den [u.a.]: Brill, 1999. // Stump E., Aquinas. London [u.a.]: Routledge, 2003. // Pannenberg W., Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. 6

17 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

I. Einführung

Vertreter des scholastischen Realismus und Nominalismus sowie einige moderne Interpreten – herausgreifen und erläutern, die für die Fragestellung meiner Arbeit von Bedeutung sind. In dieser Studie beschäftige ich mich zunächst mit allgemeinen Fragen: Was versteht Scholastik mit dem aus der Antike überlieferten polemischen Begriff der Analogie? Welche metaphysischen und ontologischen, epistemi­ schen, semantischen und sprachlogischen Probleme der strukturellen Einheit der Wirklichkeit werden durch die Anwendung der Analogie versucht zu lösen? Was ist der Grund dafür, dass die Analogie zum unentbehrlichen Begriff der Philosophie, Theologie und aristotelisch geprägten Wissenschaftstheorie geworden ist? Jedes Kapitel und jeder Abschnitt dieser Studie stellt die eine oder andere dieser Fragen im Detail vor. Jede zu behandelnde Frage kann auch als Frage nach der Differenzierung der Analogie-Probleme selbst verstanden werden, die ebenfalls dem Analogie-Denken untergeordnet sind bzw. sich diesem fügen. Nachstehend werde ich kurz auf den Analogiebegriff eingehen, um dadurch seine Rolle in bestimmten philosophischen und philosophisch-theologischen Debatten zu exponieren. »Analogie« wird von Thomas als verhältnismäßige Gleichheit (secundum analogiam id est proportionem)7, als Relation8 von Rela­ tionen oder als dasjenige verstanden, das alle Kategorien umfasst und den strukturellen Charakter der Wirklichkeit bzw. die allgemeine Struktur des Seins als analogische Struktur aufweist.9 Es wird auch als eine spezifische Art von Ähnlichkeit begriffen. Doch weshalb sind mehrere Bezeichnungen für diese Relationen nötig? Was lässt sich mit je einer weiteren Bezeichnung für das Verständnis der Analogie gewinnen? Die Grundbedeutung der Analogie – laut der Etymologie des Begriffs – meint: dem Logos entsprechend (»ana« und »logon«), gleiches Verhältnis habend (»analogos«), die Portion (»analogon«) und die Proportion (»analogia«). Analogia bedeutet, im Verhältnis Stehendes als Einheit zu begreifen, wenn also etwas zu einem ande­

7 S.Th.I, q.13, a.5; a.6; a.10ad4; q.5, a.6ad3. / S.Th.I-II, q.20, a.3ad3; q.61, a.1ad1. / De Verit., q.2, a.1 u.a. Vgl. Bochenski I. M., Formale Logik, S. 206. 8 Re-latio geht auf den aristotelischen Begriff pros-ti zurück und meint die in eine Richtung weisende Bezüglichkeit, die als Rück-bezug (re-latio) des Vielfachen zum Einen verstanden wird. Met.Δ15, 1020b25–1021a14. 9 In Sent.I, d.22, q.1, a.3ad2: »Unde cum ens praedicetur analogice de decem generi­ bus, dividitur in ea secundum diversos modos.«

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1.1 analogia – Worterklärung

ren oder mehrere zu einem in ein Verhältnis gebracht werden.10 Thomas vollzieht hier eine Differenzierung: Wenn es um die Einheit von Einem oder die Beziehung eines Dinges zu einem anderen geht, spricht er von »proportio«. In diesem Sinne kann ebenfalls das Verhältnis des Erkenntnisvermögens zum Erkennbaren oder der Kreatur zu Gott bezeichnet werden.11 Wenn man die Einheit von zwei oder mehreren selbstständigen Proportionen bestimmt, die Aristote­ les als Analogie erfasst,12 wird diese von Thomas mit dem Begriff »proportionalitas« bezeichnet.13 Außerdem spricht Thomas auch von der Analogie der Attribution. Die analogia attributionis spielt eine Rolle bei der Behandlung der drei Kausalitätstypen – causa univoce agens, causa analogice agens und causa aequivoce agens. Thomas fällt seine Entscheidung zugunsten des mittleren Kausalitätstyps.14 Im Fall der analogia attributionis stehen zwei technische Termini zur Verfügung: »Analogon«, das die primäre »proprietas« bezeichnet, und »Analogat«, das die sekundäre »proprietas«, die vom ersten verursacht wird, bestimmt. Das Denken in (und von) analogen Relationen, die einen gemeinsamen Logos aufweisen, geht auf die griechische Mathematik Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Ausgearbeitet von K. E. Georges. Bd. 1. Basel; Stuttgart: Schwabe & Co, 1967, S. 414. // Thesaurus Graecae Linquae ab Henrico Stephano constructus. Post. ed. C. B. Hase, Bd. II, M.D.LXXII. (Nachdruck) Graz: Akademischer Verlag, 1954, S. 449–450. // Siehe dazu Schulze W., Zahl, Proportion, Analogie. Münster: Aschendorff, 1978, S. 2 ff. 11 S.Th.I, q.12, a.1ad4: »[…] secundum quod duplum, triplum et aequale sunt species proportionis. Alio modo, quaelibet habitudo unius ad alterum proportio dicitur. Et sic potest esse proportio creaturae ad Deum, inquantum se habet ad ipsum ut effectus ad causam, aut potentia ad actum.« / De Verit., q.23, a.7ad9. 12 Met.N6, 1093b17–21. / De Anima I, 402a1–2; 405b30. 13 De Verit., q.2, a.11. / S.Th.I, q.13, a.6. Track charakterisiert analogia proportionis (attributionis) als einen Ausdruck, der »einem Gegenstand voll […], einem anderen in übertragenem Sinn« zugesprochen wird. Analogia proportionalitatis definiert er als »Verhältnis zwischen zwei Verhältnissen«. Track unterscheidet auch zwischen zwei Arten der analogia proportionalitatis. Wenn es sich um ein äußerlich-uneigentliches Verhältnis »aufgrund eines bestimmten Handelns, Verhaltens oder Zustands« han­ delt, wird es als analogia proportionalitatis extrinsecae bezeichnet. »[W]enn sich die beiden Verhältnisse in einer innerlich-eigentlichen Beziehung zueinander befinden«, spricht man von analogia propotionalitatis intrinsecae. Vgl. Track J., Art. Analogie. In: Müller G. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie. Bd. 2. Berlin; New York: De Gruy­ ter, 1978, S. 628 f. // Für Hinweise auf beide Arten der Analogie siehe auch in: Bruck­ mann F., Die Schrift als Zeuge analoger Gottrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2008, S. 25. 14 S.Th.I, q.13, a.5. 10

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I. Einführung

zurück,15 die von der Proportion und vom Vergleich zweier Propor­ tionen spricht.16 Platon und Aristoteles sind die ersten Denker, die die Analogie als Art und Weise für die Erfassung des einheitlichen Ganzen für wichtig gehalten haben. Außerdem, soweit überliefert, machten sie als die ersten aus dem Bereich der Mathematik den Begriff der Analogie und die verwandten Begriffe »proportio«, »proportiona­ litas« für die Philosophie fruchtbar.17 Der Bezugsbereich der Analogie wird allmählich erweitert: Mehrere medizinische, biologische und sprachwissenschaftliche Fragen (darunter auch der Gebrauch der Metapher18) sowie Fragen der Ästhetik (der Symmetriebegriff wird als die viergliedrige Analogie behandelt) werden unter den Begriff der Analogie subsumiert.19 Die viergliedrige Analogie a:b :: c:d oder 2:4 ::

15 Vgl. Juskevic A. P., Geschichte der Mathematik im Mittelalter. Leipzig: Teubner, 1964. // Hein W., Die Mathematik im Mittelalter: von Abakus bis Zahlenspiel. Darmstadt: WBG, 2010. // Björnbo A. A., Die mittelalterlichen lateinischen Über­ setzungen aus dem Griechischen auf dem Gebiete der mathematischen Wissenschaf­ ten. Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, Bd. I (1909), S. 386–394. // Brentjes S., Two comments on Euclid’s Elements? On the Relation between the Arabic Text attributed to al-Nayrizi and the Latin Text ascribed to Anari­ tius. Centaurus 43 (2001), S. 17–55. // Folkerts M. (Hrsg.), Mathematische Probleme im Mittelalter: Der lateinische und arabische Sprachbereich. Wiesbaden: Harrasowitz, 1996; Folkerts M., Euclid in Medieval Europe. Winnipeg: Overdale Books, 1989. // Lyttkens H., The Analogy between God and the World. An Investigation of its Back­ ground and Interpretation of its use by Thomas of Aquino. Uppsala: Almquist & Wiksell, 1952, S. 27 f. 16 2:4 :: 3:6 oder a:b :: c:d. Es geht um eine viergliedrige Analogie, die als Ähn­ lichkeitsrelation, nicht aber als Identität der zwei Relationen zu verstehen ist. Die viergliedrige analogia als metaphysisch-sprachliche Analogie findet sich erst bei Heraklit. Von Thomas wird die viergliedrige Analogie a:b :: c:d sowohl in Bezug auf den kreatürlichen Bereich als Sehen:Auge :: Verstand:Geist als auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Kreatur – göttliches Sein:Gott :: kreatürliches Sein:Kreatur – aufgefasst und angewandt (sprich: wie sich das Sehen zu den Augen, so auch der Verstand zum Geist verhält oder wie sich das göttliche Sein zu Gott, so auch das kreatürliche Sein zur Kreatur verhält). 17 Vgl. Polit., 257b. Die nach dem Vorbild mathematisch-geometrischer Proportionen gestalteten Analogien werden von Platon als Argumentationsmittel etwa bei dem Vergleich zwischen Wissenschaften und Künsten und zwischen Strukturen des Staates und der Seele verwendet. Vgl. Pol., 368c–369a ff.; 434d ff. 18 Thomas hat zwischen Analogie und Metapher strikt unterschieden. Auf diese Frage werde ich hier aber nicht speziell eingehen. 19 De Anima I, 402a1–2, 405b30. / Met.Λ2 –3, 1070a31–b21; Ν6,  1093b17–2. // 2. Anal., 98a20–23; 99a6–16. Vgl. White R., Talking About God. The concept of analogy and the problem of religious language. Farnham [u.a.]: Ashgate, 2010.

20 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

1.1 analogia – Worterklärung

3:6 ist ein derartiges Modell der Proportionalitätsverhältnisse, das sowohl in der platonischen als auch in der aristotelischen Fassung vorkommt. Aristoteles’ Verständnis der Proportion bzw. Analogie, das auf die allgemeine Proportionstheorie des Eudoxos zurückgeht,20 wird zum Ausgangspunkt der Proportionstheorie des analogen Ver­ hältnisses in der Philosophie des Thomas’. In der aristotelischen Metaphysik, die nach dem Ersten und Einen, nach der »Ousia« fragt, auf das alles Seiende auf analoge Weise bezogen ist, ist bereits die formale Struktur der Analogie vorgegeben.21 Als »analog« werden von Aristoteles sowohl die metaphysischen Prinzipien wie Form und Materie als auch die Seinsmodi »Dynamis« (Seinsmodus der Materie) und »Energeia« (Seinsmodus der Form) verstanden. Über das Verhält­ nis der Begriffe »Dynamis« und »Energeia« hat man versucht, analoge Strukturen zu verdeutlichen, die sich nach Art der Proportionalität a:b :: c:d ausdrücken lassen: Wie die Medizin zur Gesundheit, so verhält sich auch die Baukunst zur Form des Hauses im Verstand des Baumeisters.22 Das Seiende kann nach Aristoteles auf vielfache Zur Diskussion um die Interpretation der diesbezüglichen Aristoteles-Stellen und der Definitionen der Proportion bei Eudoxos, Aristoteles und Euklid siehe: Heiberg J. L., Mathematisches bei Aristoteles. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften. 18. Heft. Leipzig, 1904. // Becker O., Eudoxos-Studien I, (Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik). Bd. 2. 1933, S. 311–333. // Szabó A., Ein Beleg für die voreudoxische Proportionenlehre? Aristoteles: Topik Θ. 3, b29–35. Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 151–171. 21 Met.Δ6, 1016b19–31 f.; 1017a1–3. Das Eine kann der Zahl, der Art, der Gattung oder der Analogie nach eins sein. Die Einheit der Analogie nach ist umfangreicher als die nach Art oder Gattung. Die Analogie ist auch dort die Grundlage für die Einheit, wo die Grenze der Gattungen überschritten wird. Siehe dazu Owen G. E. L., Logic and Metaphysics. In: Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century. Götebοrg: Almquist & Wiksell, 1960, S. 163–190. 22 Met.Λ4, 1070a31 f.; 1070b17–22; 1070b35; 1071a20. // Vgl. Merleau-Ponty M., Das Primat der Wahrnehmung. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von L. Wie­ sing. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 173. Darauf, dass Analogie als metho­ disches Prinzip eine besondere Rolle für die Lösung der Probleme, die sich im Bereich der Grenzfälle, z.B. zwischen Psychologie und Sprachlogik, vollziehen, spielt, haben gegenwärtige Philosophen aufmerksam gemacht. Merleau-Ponty hat auf folgendes psychologische Problem hingewiesen. Der Mensch, der Bewusstseinsstörungen hat, ist nicht imstande, einfache Analogien im Satz »Auge für die Farbe und Licht ist das­ selbe, was die Ohren für Laute« zu verstehen. Die analogen Bedeutungen dieser Rela­ tion, die normalerweise ohne Schwierigkeiten erfasst werden kann, können in diesem Fall aufgrund der theoretisch erklärbaren Inhalte, und auf die Weise einer konzeptu­ ellen Analyse erlangt werden. Noch problematischer wird es, wenn man derartige Ausdrücke auch auf Gott anwendet. 20

21 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

I. Einführung

Weise durch verschiedene Kategorien ausgesagt werden, mit Bezug auf Eines, entweder als Homonymie (Äquivokation) oder Synonymie (Univokation), oder auch Analogie (oder pros-hen-Relation).23 Die Frage, ob das Gemeinsame in allen Kategorien in Bezug auf Univoka­ tion, Äquivokation, Paronymie oder Analogie zu deuten ist, und wie die pros-hen-Relation von der Analogie zu unterscheiden ist, ist in diesem Fall kaum eindeutig zu beantworten. Die Interpretationen ver­ teilen sich auf entgegengesetzte Positionen.24 Das hier entstehende Problem besteht einerseits darin, dass das Sein als das Konstituti­ onsmoment aller Seienden nicht allen Seienden in gleicher Weise zukommt; andererseits besteht es darin, dass Aristoteles nicht immer explizit von der Analogie spricht, bzw. behandelt er die Analogie des Öfteren unter verschiedenen Namen, wie sich dies auch anhand scholastischer Kommentare und Erörterungen schlussfolgern lässt. Das Anliegen dieser Arbeit betrifft also nicht nur Analogie, sondern auch Univokation und Äquivokation, die das Instrumentarium bilden, dessen Aufgabe es ist, eine vollständige strukturelle Erfassung der Wirklichkeit zu ermöglichen. In Kapitel 2 steht der ontologisch-epistemische Aspekt der Ana­ logie im Vordergrund. In Kapitel 3 und Kapitel 4 werde ich mich Met.Γ2, 1003a33: »Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt, aber immer in Beziehung auf Eines (pros-hen) und auf eine einzige Natur und nicht nach bloßer Namensgleichheit […]«, also »in Beziehung auf ein Prinzip.« Vgl. Met.Z4, 1030a21; Met.Z1, 1028a10. 24 Vgl. Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 27–28. Pannenberg weist auf eine andere Stelle (Eth. Nik. A4, 196b25) hin, wo das Gute (entsprechend dem Sein und neben der pros-hen-Relation in der Metaphysik) als analoger Begriff aufgefasst werden kann. Zum Analogiebegriff bei Aristoteles siehe Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z. Einführung, Übersetzung, Kommentar. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012. // Fonfara D., Die Ousia-Lehre des Aristoteles. Untersuchungen zur Kategorienschrift und zur Metaphysik. Berlin; New York: De Gruyter, 2003. // Frede M./Patzig G., Aristoteles »Metaphysik Z«. Text, Übersetzung und Kommentar. 2 Bde. München: Beck, 1988. // Fiedler W., Analogiemodelle bei Aristoteles. Amsterdam: Grüner, 1978. // Hirschberger J., Paronymie und Analogie. Philosophisches Jahrbuch 68 (1960), S. 191–203. // Owen G. E. L., Logik und Metaphysik in einigen Frühwer­ ken des Aristoteles. In: Hager F.-P., Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Darm­ stadt: WBG, 1969, S. 399–435. // Austin J. L., Philosophical Papers. Ed. by J. O. Urmson and G. J. Warnock. Oxford: Clarendon Press, 1970, S. 1–32. // Bonitz H., Aristotelische Studien. Hildesheim: Olms, 1969; Bonitz H., Über die Kategorien des Aristoteles. Darmstadt: WBG. Nachdruck aus Sitzungsberichte der Kaiserlichen Aka­ demie der Wissenschaften. Bd. 10. Wien, 1853, S. 591–645. // Brentano F., Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. Hildesheim: Olms, 1960. 23

22 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

1.2 Historische Bemerkungen

mit dem logisch-semantischen Aspekt der Analogie beschäftigen. Im Folgenden stelle ich kurz die wichtigsten Punkte zur Bestimmung des Analogiebegriffs vor dem Hintergrund der Tradition dar.

1.2 Historische Bemerkungen zur Ausarbeitung des Analogiebegriffs vor dem Hintergrund der Tradition Obwohl sich, wie Pannenberg bemerkt, »keine kontinuierliche Ent­ wicklung des neuplatonischen zum hochscholastischen Analogiebe­ griff«25 feststellen lässt, sei an dieser Stelle die Frage gestreift, welche Entwicklung des Analogiebegriffs sich im Neuplatonismus abzeichnet? Im mittleren Platonismus und Neuplatonismus wird überwiegend der platonische Analogiebegriff verwendet, der besagt, dass alles im analogen Kosmos proportionalen Verhältnissen gemäß strukturiert ist, so Philon.26 Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Plotin. Der platonischen Analogie folgend, entwickelte Plotin die Auffassung, dass zwischen der materiellen, sichtbaren Welt und der geistigen Welt ein analoges Verhältnis besteht.27 Auf der Grundlage von Platons Ideenlehre wurde von Albinus die Lehre der drei Erkennt­ niswege der Transzendenz entwickelt. Einer dieser Erkenntniswege war der Weg der Analogie, dem ein höherer Allgemeinheitsgrad (inkl. Gottesbezug) zugesprochen wurde. Die viergliedrige Analogie lag in folgender Verhältnisgleichheit begründet: Sonne:Sehakt :: göttlicher Verstand:menschliche Erkennt­ nis.28 Gleichwohl führt die analoge Erkenntnis nach der Auffassung Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 52. Philo von Alexandria, Über die Unvergänglichkeit der Welt. In: Die Werke in deutscher Übersetzung. Ed. von L. Cohn (Bd. I–III), I. Heinemann (Bd. IV–V), I. Heinmann und M. Adler (Bd. VI), W. Teiler (Bd. VII). Breslau, 1909–1918. (Nach­ druck) Berlin: De Gruyter & Co, 1964, S. 71–122. // Wolfson H. A., Philo. Founda­ tions of Religious Philosophy in Judaism, Christianity and Islam. Bd. II. Cambridge: Harward Univ. Press, (3) 1962. 27 Plotin, Das Schöne. Plotins Schriften. Gr.-dt. Bd. 1, übers. von R. Harder. Hamburg: Meiner, 1956, I, 11–13, S. 2–26; Die Einheit aller Einzelseelen. Bd. 1, S. 158–169; Entstehung und Ordnung der Dinge nach dem Ersten. Gr.-dt. Hrsg. von R. Harder, R. Beutler, W. Theiler. Hamburg: Meiner, 1956, Bd. 1, S. 238–243. // Beierwaltes W., Die Entfaltung der Einheit. Zur Differenz plotinischen Denkens. Frankfurt am Main: Klostermann, 2016, S. 155–192. 28 Alkinoos, Didaskalikos, Lehrbuch der Grundsätze Platons. Berlin; Boston: De Gruyter & Co, 2007, S. 28, 33. // Freudenthal J., Der Platoniker Albinos und der 25

26

23 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

I. Einführung

der Neuplatoniker nicht zum vollkommenen Wissen über Gott. Ein Beispiel für diese Meinung liefert Origenes, der die Analogie als Erkenntnisweg Gottes bezweifelt.29 Eine wichtige Rolle spielen für Thomas die neuplatonischen Ideen von Pseydo-Dionysius Areopa­ gita, denn zum einen ist Gott bei Dionysius das Sein aller Dinge; das Verhältnis zwischen Gott und den Dingen ist dabei als ein proportionales zu denken. Zum anderen können die Namen der Dinge auf Gott angewendet werden.30 Fragt man nach den weiteren Entwicklungen des Analogiebe­ griffs, so muss in Kürze auf die Position verwiesen werden, welche die analoge Erkenntnis Gottes verwirft: nämlich die des Augustinus, den Thomas öfters zur (Gegen-)Argumentation nutzt,31 um seine eigene Positionierung bezüglich der Analogie zu verdeutlichen. Des Weiteren müssen Boethius und Johannes Damascenus in diese kurze Rekapitulation aufgenommen werden. Boethius als der »lateinische Aristoteles« übersetzte und kommentierte die logischen Schriften desselben.32 In seinen Kommentaren zu Aristoteles und zu Porphy­ falsche Alkinoos. Hellenistische Studien, Heft 3. Berlin, 1879, S. 241–327. // Siehe dazu auch: Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 36, 37 und 39. // Lyttkens H., The Analogy between God and the World, S. 102 f. 29 Origenes, Contra Celsum. Cambridge: Univ. Press, 1980, VII, § 42, § 44. 30 Pseydo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus. I, 1, 6–7; IV, 10; V, 4–5. In: Corpus Dionysiacum. Bd. 1. Hrsg. von B. R. Suchla. Berlin; New York: De Gruyter, 1990. 31 Zum Kontext der Frage: Hertling G. von, Augustinus-Zitate bei Thomas von Aquin. Mainz: Kirschheim, 1911. // Ehrle F., Der Augustinismus und Aristotelismus in der Scholastik gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Archiv für Literatur- und Kirchen­ geschichte des Mittelalters 5 (1889), S. 614–632. // Grabmann M., Die philosophische und theologische Erkenntnislehre des Kardinals Matthaeus von Aquasparta: ein Bei­ trag zur Geschichte des Verhältnisses zwischen Augustinismus und Aristotelismus im mittelalterlichen Denken. Wien: Mayer, 1906. 32 Zu Boethius Übersetzungen, Kommentaren und deren Rezeption vgl. Gruber J., Boethius. Eine Einführung. Stuttgart: Hiersemann, 2011, S. 12–52. // Brams J., Der Einfluss der Aristoteles-Übersetzungen auf den Rezeptionsprozess. In: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Hrsg. von L. Honnefelder, R. Wood, M. Dreyer, M. A. Aris. Münster: Aschendorff, 2005, S. 27–45. // Rijk L. M. de, On the chronology of Boethius’ works in logic. Vivarium 2 (1964), S. 125–162. // Mensching G., Das Allgemeine und das Besondere: der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart: Metzler, 1992, S. 59– 92. // Libera A. de, Der Universalienstreit. Von Platon bis zum Ende des Mittelalters. Aus dem Französischen von K. Honde. München: Fink, 2005. Es handelt sich vor allem um die Übersetzung und um zwei Kommentare zur Isagoge des Porphyrios als Ein­ führung zu der Kategorienschrift von Aristoteles.

24 https://doi.org/10.5771/9783495995143 .

1.2 Historische Bemerkungen

rius »Isagoge«33 unterscheidet Boethius primär äquivoke und univoke Begriffe, die auf Unendliches angewandt werden. Thomas versucht zusammen mit Boethius die Wendung id quod est/res, esse und ipsum esse zu erläutern. Gott wird von ihm als die höchste Form aller Dinge definiert.34 Auch Stellungnahmen zu Johannes Damascenus lassen sich bei Thomas mehrfach finden, nämlich dann, wenn er die Relevanz der Analogie, Univokation und Äquivokation für den Ausdruck des Verhältnisses von Gott und Kreatur prüft.35 Pannenberg weist darauf hin, dass man sich vor der Hochscho­ lastik in erster Linie mit den Begriffen »univoca« und »aequivoca« befasst hat, und erst »spät, im 13. Jahrhundert« ist man »auf den Analogiebegriff gestoßen und hat erst dann (besonders bei Bona­ ventura) auch die areopagitische Analogie aufgenommen«.36 Dieser und auch andere Hinweise von Pannenberg, mit denen er auf die jüdische Religionsphilosophie und ihren Vertreter Maimonides,37 seine Zugangsweise zur Frage nach der Erkennbarkeit bzw. Uner­ kennbarkeit Gottes sowie auf den arabischen Philosophen Averroes38 aufmerksam macht, bedürfen jedoch einer Präzision. Mittels Übertra­ gungen aus dem Griechischen wurden arabische Philosophen wie Al-

33 Porphyrius, Isagoge translatio Boethii. Ed. L. Minio-Paluello (Arist. Lat. I, 6–7). Paris: Brügge, 1966. // Notker der Deutsche, Boethius’ Bearbeitung der »Categoriae« des Aristoteles. Hrsg. von J. C. King. Tübingen: Niemeyer, 1972, lib. I, A275a1–276b1. 34 Boethius, De Trinitate. Ed. H. F. Stewart, E. K. Rand, S. J. Tester. In: Boethius. The theological Tractates. Cambridge, Mass., London, 1973, 2 (PL 64, 1250). // Wie die Trinität ein Gott und nicht drei Götter ist. II, III. In: Die theologischen Traktate. Übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von M. Elsässer. Lat.-dt. Hamburg: Mei­ ner, 1988, S. 2–27. 35 Johannes Damascenus, Dialectica, Version of Robert Grosseteste. Ed. by Owen A. Colligan. St. Bonaventure, N.Y: The Franciscan Institute; Louvain: Éditions E. Nau­ welaerts; Paderborn: Schöningh, 1953, cap.15; 16; 30; 43. // Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides. The Harvard Theological Review, Bd. 31, Nr. 2 (Apr., 1938), S. 168. Eine ausführlichere Behandlung der Fragen bei Thomas, die teilweise auf Damascenus zurückgehen, erfolgt in Kapitel 4 und 5 dieser Arbeit. 36 Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 52. 37 Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 66. 38 Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 76 f.

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I. Einführung

Fārābī39, Avicenna40, al-Ghazali41, der bereits erwähnte Averroes42 und jüdische Philosophen, insbesondere Maimonides43, von lateini­ schen Autoren rezipiert. Diese Rezeptionsverfahren sind für die Ent­ wicklung des Analogiebegriffs relevant, da er aus den verschiedenen Traditionen schöpfte, die parallel wirkten. Sowohl in der Auffassung 39 Al-Fārābī, De scientiis, secundum versionem Dominici Gundisalvi (Über die Wis­ senschaften). Die Version des Dominicus Gundissalinus. Lat.-dt., übersetzt und ein­ geleitet von J. H. J. Schneider. (Hrsg.) M. Lutz-Bachmann, A. Fidora, A. Niederberger. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2006. // Dieterici F., Alfārābī’s Philosophische Abhand­ lungen. Aus dem Arabischen übersetzt von F. Dieterici. Leiden: Brill, 1892. // Gilson E., Les Sources Gréco-Arabes de l’Augustinisme Avicennisant. In: Archives d’Histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge, Bd. 4 (1929), S. 1–149. Zur weiteren Bibliographie (umfasst die Titel bis 1962) siehe Rescher N., Al-Fārābī. An Annotated Bibliography. Pittsburgh: Univ. of Pittsburgh Press, 1962. 40 Avicenna, Liber de philosophia prima sive scientia divina. V–X. Ed. critique de la traduction latine médiévale par S. van Riet. Introduction doctrinale par G. Verbeke. Louvain: Peeters; Leiden: Brill, 1980. / Avicenna, Liber de anima seu Sextus de naturalibus. I-II-III. Ed. S. van Riet. Introduction sur la doctrine psychologique D´Avicenne par G. Verbeke. Louvain: Peeters; Leiden: Brill, 1972. // Davidson H. A., Alfarabi, Avicenna, and Averroes, on Intellect: Their Cosmologies, Theories of the aktive Intellect, and Theories of Human Intellect. Oxford Univ. Press, 1992. // Hasse D. N., Avicenna’s »De Anima« in the Latin West: The Formation of a Peripatetic Philosophy of the Soul, 1160–1300. Warburg Institute, 2000. 41 Lohr Ch., Das Wissenschaftsverständnis der Logica Algazelis und sein Echo in der lateinischen Tradition des frühen 13. Jahrhunderts. In: Honnefelder L., Wood R., Dreyer M., Aris M. A. (Hrsg.), Albertus Magnus und die Anfänge der AristotelesRezeption im lateinischen Mittelalter. Münster: Aschendorff, 2005, S. 513–525. // Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übers. und erläutert von M. Horten. Bonn: A. Marcus und E. Weber, 1913. 42 Siehe dazu Wolfson H. A., The Double Faith Theory in Clement, Sa’adia, Averroes and St. Thomas and its origin in Aristotle and the Stoics. The Jewish Quarterly Review 33 (1942–43), S. 213–264. 43 Moses ben Maimon, Millot ha-Higgayon, Ch. 13; Moreh Nevukhim (Führer der Unschlüssigen), I-56. Hasselhof stellt fest, dass schon in den 30er bis in die 50er Jahre des 13. Jahrhunderts drei lateinische Übertragungen von Teilen des »Moreh Nevuk­ him« bekannt wurden. Vgl. Hasselhof G. K., Dicit Rabbi Moyses. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 318 ff. // Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen. Arabisch-russisch übersetzt und kommentiert von M. A. Schneider. Moskwa: Mosty kultury, 2000. / Jerusalem: Machanaim, 5761. Ich benutze diese Ausgabe aus dem Grund, dass sie die letzte der Übersetzungen in die großen Weltsprachen ist, und dass sie darüber hinaus eine ist, die über einen aus­ führlichen Kommentar verfügt. Leider ist bis jetzt nur der erste Band erschienen. Siehe auch: Maimonides Moses. Guide of the Perplexed. Bd. 1, 2. Transl. S. Pines. University of Chicago, 1963.

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1.2 Historische Bemerkungen

der Theologie als Wissenschaft als auch in der arabischen Deutung der aristotelischen Metaphysik als philosophia prima, liegt der Ansatz zu der Rezeption des Analogiebegriffs und seiner vorwiegend auf Aristo­ teles Bezug nehmenden Entwicklungslinie begründet. Es ist zu erwäh­ nen, dass bereits vor dem 13. Jahrhundert arabische und jüdische Autoren die Begriffe »univoca« (arab.: mutawāti’ah) und »aequivoca« (arab.: mushtarakah) verwendeten. Um etwas Mittleres zwischen bei­ den zu bezeichnen, wurden statt des Begriffs »analogia« die Begriffe »ambiquitatis«, »ambiquos« oder »amphibolia«, »amphibolon« (arab.: mushakkik, hebr.: mesuppag) gebraucht.44 Diese Autoren beziehen sich auf den Kommentar zur aristotelischen Topik und Metaphysik des Alexander von Aphrodisias.45 Mit »ambiquos« bezeichnete er den Mittelbegriff zwischen Äquivokation und Univokation. Bei Al-Fārābī findet sich die Verwendung des Terminus »ambi­ quos« für die Distinktion per prius (arab.: tagaddum) und per posterius (arab.: ta’akhkhur). So begegnet man beispielsweise dem Gattungsbe­ griff »animal« im Sinne von »ambiquos«, der in der Prädikation für das Allgemeine steht, in Alexanders Kommentar zum »De Anima« des Aristoteles. Auf diese Weise knüpft Al-Fārābī den Begriff »ambiquos« an den Begriff des Seins (arab.: maujūd) und an zweideutige Nomina wie »Substanz« (arab.: jauhar), die »im Früheren und Späteren« prä­ diziert werden, an.46 Al-Ghazali erläutert in seiner »neuen Logik« den 44 Die Charakteristik der Geschichte des Begriffnamens »Analogie« zeigt Wolfson H. A. in seiner Übersicht. Vgl. Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides. In: Harvard Theological Review 31 (1938), S. 151– 173. // Kohlenberger A. K., Ambiquität, Amphibolie. In: HWPh, Bd. 1, S. 201 f. Unter dem Begriff der Ambiquität bzw. Amphibolie verstehen die griechischen Philosophen »die Zweideutigkeit eines Wortes an sich oder im Satzzusammenhang«. »Amphibo­ lon« kommt bei Platon (Krat. 437a) vor. Aristoteles schränkt »Amphibolon« auf die Zweideutigkeit des sprachlichen Ausdrucks ein (Soph. elenchi, IX, 165b23–27; 166a6–21). / Vgl. auch Thesaurus Linguae ab Henrico Stephano, Bd. II, S. 208–210: »Amphibolia« (ambiquitas in sermone); »amphibologia« (ambiqua dicto). 45 Topik, cap.15, 106a1–22. / Met.Δ6, 1016b31–1017a3 u.a. // Alexander von Aphrodisias, In Metaphysik, 369.2–26. // Siehe dazu Rashed M., Essentialisme. Alexander d’Aphrodise entre logique, physique et cosmologie. Berlin; New York: De Gruyter, 2007, S. 11–18, 27–29. 46 Alfārābī’s philosophische Abhandlungen. Aus dem Arabischen übersetzt von F. Dieterici. Leiden: Brill, 1892, S. 88, 12, 22–26; S. 89, 14, 23–29. Die Verwendung des Mittelbegriffs Amphibolie bzw. Ambiquität, die statt der Analogie verwendet wird, deutet Wolfson wie folgt: »[…] the Arabic Term mushakkik both historically, as a translation of the Greek ἀμφίβοΛος, and etymologically, as a derivative of the Arabic root shakk, to doubt, is to be translated in any language by a term wich means ›doubt­

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I. Einführung

Begriff »ambiquos« durch den aristotelischen Begriff »medizinisch« (arab.: tibbiyy). So wird »medizinisch« über Bücher, Arzneimittel, Gymnastik und kleine Messer ausgesagt. Obwohl al-Ghazali diesen Begriff auf den Begriff »Gott« (arab.: ilāhiyyah) anwendet, verlangt er gleichzeitig die erforderliche Differenz zu kreatürlichen Bestimmun­ gen. Auf die Logica al-Ghazalis47 nimmt die scholastische formale Logik explizit Bezug. In seinem Werk Logica et Philosophia Algazelis Arabis unterscheidet al-Ghazali zwischen »univoca et aequivoca« und macht auf den dritten Modus aufmerksam, in dem ens durch die Substanz per prius und das Akzidens per posterius ausgesagt wird.48 Dass die Logik von al-Ghazalis Einfluss auf die logischen Kompendien von Petrus Hispanus, Wilhelm von Shyreswood sowie Lambert von Auxerre ausübte, lässt sich an der Systematisierung und Klärung des logischen Vokabulars ablesen. Lambert von Auxerre widmet der Relation zwischen Gattung und Spezies und dem Ort der Analogie in der Prädikation umfangreiche Überlegungen.49 Averroes wird etwa in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts in Paris bekannt. Anfang der 40er Jahre wurde der Zugang zu fast all seinen Werken hergestellt; damit ist auch »der Infiltrationsprozess« des Averroes in Paris »praktisch abgeschlossen« (Steenberghen). Die­ ses Ereignis muss als eines der wohl einflussreichsten Ereignisse in

ful‹ or ›ambiquous‹. Now, in Hebrew it is always correctly translated by messuppaq. In Latin translations from the Arabic, however, there is no uniformity in the term used for mushakkik. In the old mediaeval translations it is on the whole correctly rendered by ambiquus. But in the 15th century Latin translations from the Hebrew it is often translated by analogicus.« (S. 475.) Bei Thomas »[…] ›ambiquous‹ terms, wich he does not specify directly, are included under ›analogical‹ terms« (S. 476). Vgl. Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides, S. 475–476. // Montagnes B., La doctrine de l’analogie de l’être d’après Saint Thomas d’Aquin. Louvain: Publ. Univ., 1963, S. 32, Anm., 16. 47 Über al-Ghazalis Kritik der Logik der islamischen Theologen und der Forderung nach aristotelischen syllogistischen Beweismethoden und über die Rolle von al-Gha­ zali in der Scholastik am Anfang des 13. Jahrhunderts siehe: McDonald D. B., The Meanings of the Philosophers by al-Ghazali. Isis 25 (1987), S. 9–15. // Lohr Ch., Das Wissenschaftsverständnis der Logica Algazelis, S. 513–525. 48 Abu Hamid Mohammed ibn Ahmed al-Ghazali, Logica et Philosophia Algazelis Arabis. Hrsg. von W. A. Koch. Documenta semiotica. Hildesheim; Zürich; New York: Olms, 2001. 49 Lambert von Auxerre, Logica (Summa Lamberti). Properties of Terms. In: The Cambridge translations of medieval Philosophical Texts. Bd. 1. Ed. by N. Kretzmann. Cambridge Univ. Press, 1988, S. 104–163.

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1.2 Historische Bemerkungen

der westlichen Philosophiegeschichte anerkannt werden.50 Der Aus­ gangspunkt des Averroes liegt in seinen Kommentaren zu den Texten des Aristoteles. Seine Kommentare, die auf die zentralen Fragestellun­ gen der klassischen Erkenntnismetaphysik und Ontologie eingehen, verursachten heftige philosophische Diskussionen. Die Scholastiker fühlten sich – in ihrem Verständnis des Begriffes von Intellekt – durch seine These herausgefordert, die besagt, dass Erkenntnisbilder von separaten Substanzen bzw. Intellekten stammen. Die AristotelesKommentare des Averroes verursachten eine radikale Konfrontation seitens Albertus und Thomas mit seinen Einstellungen. Thomas’ Kritik wird mit den Fragen eingeleitet: Weshalb ist die averroistische Auffassung von dem intellectus nicht die richtige? Liegt der Intellekt in anima im Sinne eines recipiens oder eines agens vor? Ist der (materielle oder aktive) Intellekt imstande, intelligible Formen aufzunehmen? Verhält sich der Intellekt zum Körper ähnlich zu der Weise, wie sich Materie zur Form verhält? Sind der Mensch und die Intelligibilien vergänglich?51 Ist ein Intellekt ein Teil der Seele oder ist die Seele ein Teil von beiden: vom separaten Intellekt und vom menschlichen Körper? Spielt Analogie als der mittlere Begriff zwischen Univokation und Äquivokation im Grossen Kommentar zu De Anima (und in

50 Siehe zur Frage Hourani G. F., Averroes. On the Harmony of Religion and Philo­ sophy. London: Luzac: (3) 1976. // Steenberghen F. van, Die Philosophie im 13. Jahr­ hundert. Aus dem Französischen übertragen von R. Wagner. München [u.a]: Schö­ ningh, 1977 (Zitat S. 114). // Gauthier R. A., Notes sur les débuts (1225–1240) du Premier »Averroisme«. Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 66, (3) 1982, S. 321–374. // Endress G., ›If God will grant me life.‹ Averroes the Philosopher: Stu­ dies on the History of His Development. In: Documenti e Studie sulla tradizione filo­ sofica medievale 15 (2004), S. 227–254. / Endress G., Le Project d’Averroès: Consti­ tution, rézeption et édition du Corpus des ceures d’Ibn Rušd. In: Endress G., Aertsen J. A. (Eds.), Averroes and the Aristotelian Tradition. Sources, Constitution and Reception of the Philosophy of Ibn Rushd (1126–1198). Proceedings of the fourth Symposium Averroicum (Cologne, 1996), Leiden, 1999, S. 3–31. 51 Averrois Cordubensis Commentarium Magnum in Aristotelis de Anima libros. Ed. F. S. Crawford. Cambridge (Mass.): The Medieval Academy of America, 1953 (im Folgenden zitiert als: Averroes, In De Anima). Es muss beachtet werden, dass Thomas die Intellektheorie aus dem Grossen Kommentar zu De Anima von Averroes kennt, da nur dieses Werk zwischen 1234–1236 von Michael Scotus übersetzt worden war. Siehe zu dieser Übersetzung in: Averrois Cordubensis commentum magnum super libro De caelo et mundo Aristotelis, ex recognitione F. J. Carmody in lucem edidit R. Arnzen editione praefatus est G. Endress. 2 Bde. Leuven: Peeters, 2003, Einleitung.

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I. Einführung

Epitome der Metaphysik52) von Averroes für seine Intellekt- bzw. Erkenntnistheorie eine Rolle? 53 Was kann in der Seinsordnung nach Averroes als primum analogatum bestimmt werden? Befindet sich in der Benennungsordnung bzw. Erkenntnisordnung creatura (die sinn­ liche Wahrnehmung) das primum analogatum? Diese Fragen müssen an dieser Stelle noch unbeantwortet bleiben. Zu einem späteren Zeitpunkt meiner Arbeit werde ich sie wieder aufgreifen. Die in Averroes’ Grossem Kommentar zu De Anima gegebenen Hinweise auf Univokation, Äquivokation und Analogie bzw. Ambi­ quität wurden auch von Alexander von Hales weiter tradiert und beeinflussten das deutlich differenziertere Verständnis des Analogie­ begriffs von Thomas. Alexander von Hales entfaltete die Auffassung von Wilhelm von Auxerre, der der Meinung war, die Begriffe seien auf Gott auf univoke Weise anzuwenden. Alexander vertritt eine pla­ tonisch-averroistische Konzeption, nach welcher analoge Begriffe, die per prius von kreatürlichen Sachen (Wirkung Gottes) ausgesagt wer­ den, per posterius auf Gott aufgrund dessen angewendet werden, dass zwischen Ursache und Wirkung ein analoges Verhältnis bestehe.54 Dieser Position Alexanders folgt sein berühmter Schüler Bonaventura und die Franziskanerschule. Die von Bonaventura gestellte Frage nach dem primum cognitum liegt in der adeaquatio zwischen Ursache und Wirkung als analogem Urbild-Abbild-Verhältnis begründet, worin die Proportionalität eine tragende Rolle spielt.55 Es geht um eine zwei­ 52 Bergh S. van den, Die Epitome der Metaphysik des Averroes. Leiden: Brill, 1924. In der Epitome der Metaphysik vertritt Averroes die Auffassung, dass die Analogie die höheren Prinzipien aus dem niederen erkennen lässt. 53 Das Verständnis von Analogie (bzw. proportio, proportionalitas) als mittleren Begriff hat Averroes offensichtlich von Alexander v. Aphrodisias übernommen. Vgl. In De Anima II, comm. 107, 16–20, S. 294; In De Anima III, comm. 3, 24–32, S. 382; comm. 5, 117–132, S. 391; 400–418, S. 401; comm. 9, 9–18, S. 421; comm. 30, 21– 31, S. 469; comm. 36, 527–546, S. 497 f.; 567–577, S. 499. 54 Alexandri de Hales, Summa theologica. T. I, Tract. I. De nominibus essentialibus, q.1, cap.1, a.3; q.3, cap.1. Ed. pp. Collegii S. Bonaventurae, T. I. Florentiae: Quaracchi, 1924–1928, S. 514 f.; 542–544. // Vgl. Pannenberg W., Analogie und Offenbarung. S. 75 f. und 78. Pannenberg behauptet, dass bei Alexander von Hales die kreatürlichen und göttlichen Relationen nicht als Proportionalitätsverhältnis zu deuten sind, son­ dern in Kausalbeziehung zueinander stehen. Dieser Sicht stimme ich nur teilweise zu. 55 Bonaventura, Liber I Sententiarum (Sent.I) In: Opera theologica selecta. T. I. Ed. Cura pp. Collegii S. Bonaventurae. Florentiae: Quaracchi, MCMXXXIV, d.3, p.1, q.2ad3 (S. 51); d.7, q.4 (S. 111–112). // Augustinus Daniels P., Quellenbeiträge und Untersuchungen zur Geschichte der Gottesbeweise im dreizehnten Jahrhundert. Hrsg. von Cl. Baeumker, G. von Hertling, M. Baumgartner. Münster: Verlag der Aschen­

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1.2 Historische Bemerkungen

gliedrige Proportion oder auch um eine viergliedrige Proportionalität dann, wenn ähnliche Dinge zu den verschiedenen Gattungen gehören und eine jede zwei Relationen bildet. Im Rahmen von Bonaventuras Fassung sind die Gattungen (Universalien) im ontologischen Sinn die allgemeinen Formen (formae universales) der Einzeldinge und sowohl in den Dingen als auch in der Seele enthalten. Der menschliche Geist richtet sich auf die Einzeldinge. Da die Abbildungen (imago) Gottes in geschaffenen Dingen auf verschiedenen Seinsstufen, d.h. Ähnlichkeitsstufen, präsent sind, wird die Welt als Welt der Abbilder und der Zeichen aufgefasst. Der menschliche Intellekt kann durch die Erkenntnis der Einzeldinge, die eine Art der Zeichen und Abbilder der Wesenheit Gottes sind, »auf ein Endziel ausgerichtet sein […]«.56 Das Verhältnis, das zwischen Gott (als Urbild) und Kreatur besteht, wird als analogia ordinis bezeichnet.57 Wenn der Gegenstand der Verstandestätigkeit etwas ist, über das hinaus nichts Höheres denkbar ist, dann besteht die analoge Erkenntnis nicht mehr im menschlichen Vernunftvermögen, sondern im göttlichen Licht. Dies setzt voraus, dass die Seele (als Ebenbild Gottes) etwas (Erkenntnisbilder) in sich selbst vorfindet, wodurch sie zur Gotteserkenntnis gelangt. Die Seele kann allein durch die von oben gegebenen Formen, nicht durch die Sinne, erkennen. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde Commentaria in Posterium Analyticorum libros von Robert Grosseteste bekannt.58 Grosseteste geht darin auf das Universalienproblem ein. Die fünf Modi von Universalien werden unter den Begriffen »vergänglich« und »unvergänglich« behandelt. Die Unvergänglichkeit der Universalien ist die Vorbedingung dafür, dass wissenschaftliche Aussagen über­ haupt gebildet werden können. Bei der Erörterung der Einheitlichkeit der Universalien tritt erneut das neuplatonische Licht-Analogon auf. dorffschen Buchhandlung, 1909. // Söhngen G., Bonaventura als Klassiker der ana­ logia fidei. Wissenschaft und Weisheit 2 (2) (1935), S. 97–111. // Leinsle U. G., Res et Signum. Das Verständnis zeichenhafter Wirklichkeit in der Theologie Bonaventuras. München [u.a.]: Schöningh, 1976, S. 96–101, 114–124. // Pannenberg W., Analogie und Offenbarung, S. 82–91. // Speer A., Triplex veritas. Wahrheitsverständnis und philosophische Denkform Bonaventuras. (Franziskanische Forschungen 32.) WerlWestf., 1987, S. 103–106, 151 f., 207–211. 56 Gilson É., Die Philosophie des heiligen Bonaventura. Übers. von P. A. Schlüter. Köln; Olten: Hegner, (2) 1960, S. 90 (Zitat), 128, 169–173. 57 Bonaventura, Sent.I, d.1, art.1, q.1ad2 und 3, S. 21. 58 Robertus Grosseteste, Commentaria in Posterium Analyticorum libros. Introduc­ tione et teste critico di Petro Rossi. Lib.I, cap.7. Firenze: Olschki, 1981, S. 139–142.

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I. Einführung

Mit Albert dem Großen setzt sich die aristotelische Linie im latei­ nischen Mittelalter durch.59 Er greift ausdrücklich auf den Philoso­ phen aus der aristotelischen Tradition Maimonides zurück.60 Davon, dass Maimonides als Vertreter der jüdischen und arabischen Tradition eine besondere Rolle im lateinischen Mittelalter spielte, zeugt nicht nur seine Rezeption bei Albert und Thomas. Die Bibelauslegung unter Verwendung der philosophischen Kategorien des Aristoteles im Dux neutrorum (Moreh Nevukhim)61 und die lateinischen Über­ tragungen des Kompendium der Logik werden von dominikanischen Autoren in Paris zu Beginn der 40er Jahre des 13. Jahrhunderts und in Oxford und Cambridge im Zuge des aufkommenden Aristo­ telismus bekannt. Für Albert und später auch für Thomas spielt die Argumentation von Maimonides hinsichtlich der Namen Gottes und dessen negativer Attribution eine besondere Rolle und beeinflusst ihr Analogieverständnis weitgehend.62 Zur Beantwortung der Frage nach der Attribution Gottes nutzt Thomas die maimonidische Konzeption der Negation, die er reflektiert und schließlich seine eigene epistemi­ sche und prädikationslogische Argumentation aufgrund der Analogie bildet.63 Auch in nachthomanischen Untersuchungen berufen sich sowohl Dominikaner wie Ulrich von Strassburg (ein Schüler Alberts des Großen) als auch der weltgeistliche Heinrich von Gent auf die Übertragungen der Werke von Maimonides. Die Analogie des Seins wird von Albert als so entwickelt, dass zwischen Gott und der Kreatur eine Analogie postuliert wird, nach der Gott durch seine Wirkung dem Erkennenden zugänglich wird. Aufgrund der Attributionsanalogie 59 Honnefelder zufolge macht Albert Gebrauch von bekannten aristotelischen Schrif­ ten und ihren arabischen Interpretationen. Auf die platonisch-neuplatonische Tradi­ tion wird neben der aristotelischen Linie nicht verzichtet. Vgl. Honnefelder L., Die philosophiegeschichtliche Bedeutung Alberts des Grossen. In: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. S. 253. Es findet sich auch die konsequentere Meinung, dass in Alberts Werken Platonismus und Neu­ platonismus erneut ihre Weiterentwicklung nehmen. Siehe Libera A. de, Albert le Grand et la Philosophie. Paris: Vrin, 1990. 60 Hasselhoff G. K., Dicit Rabbi Moyses, S. 121 ff. 61 Nach Hasselhoff stammt die Übertragung der Schrift »Moreh Nevukhim« in Paris aus den späten 30ern oder aus dem Anfang der 40er Jahre des 13. Jahrhunderts. Mitte der 50er Jahre wird Maimonides durch Albert den Großen in die scholastischen Dis­ kussionen eingeführt. Vgl. Hasselhoff G. K., Dicit Rabbi Moyses, S. 318, 322. 62 Zur Literatur und Chronologie der Thomas-Schriften und zu den Anführungen der Zitate von Maimonides siehe Hasselhof G. K., Dicit Rabbi Moyses, S. 163–168. 63 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, III-19.

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1.2 Historische Bemerkungen

kann man göttliche Vollkommenheiten von der Kreatur nur analog, nicht univok oder äquivok aussagen.64 Bei der Erörterung der Frage nach dem unaussprechlichen Namen Gottes folgt Albert der Erläu­ terung des Tetragramms von Maimonides.65 Für die Fragestellung meiner Arbeit ist es von Bedeutung, auf Alberts Unterscheidung zwischen Ontologie und Logik zu verweisen: Analogien, die ihrem Wesen nach ontologisch verschiedene sind, können in logischer Beziehung verbunden werden. Auch die Prädikation Gottes und die Frage nach dem Ersterkannten, die in das Feld der ersten Philosophie einführt,66 sowie die Frage nach der autonomen Vernunft und nach dem Wesen der zweiten Substanz: der Gattungen und Arten (Univer­ salien), die Albert im Rahmen des Universalienrealismus behandelt, sind zentrale Fragen, die den logisch-ontologischen Zusammenhang aufgreifen. Universalien, die immateriell und intelligibel sind und deren Gründe in der ersten Intelligenz gesucht werden müssen, sind Formen, an denen die Dinge teilhaben. Diese Formen sind das Ergebnis der Abstraktionstätigkeit des Verstandes.67 Der menschliche Intellekt bildet nach Albert kein (averroistisch verstandenes) externes Vermögen. Intellekt ist eine Potenz der Seele selbst. Die rationale

Albertus Magnus, Opera Omnia, Super librum Sententiarium (Sent.I). T. XXIX, d.2, cap.4, S. 51–71 (1, 6–5, 23, S. 53–54; Sol.34–62, S. 57). Eine solche Auffassung wurde offensichtlich nicht ohne Einfluss des Werkes »Führer der Unschlüssigen« von Maimonides entwickelt; darauf weist auch Rigo hin. In diesem Kontext stehen die Überarbeitung des »De resurrectione« und die Abfassung des Sentenzenkommentars von Albert. Vgl. Rigo C., Zur Redaktionsfrage der Frühschriften des Albertus Magnus. In: Honnefelder L., Wood R., Dreyer M., Aris M. A. (Hrsg.), Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Münster: Aschen­ dorff, 2005, S. 325–374, hier: S. 355 f. 65 Albertus Magnus, Opera Omnia. Super Dionysium De divinis nominibus.T. XXX­ VII. Ed. P. Simon. Münster: Aschendorff, 1972, cap.1, 61, 5, A-20, S. 39. Zur Diskus­ sion dieses Maimonides-Problems: Pines S., Yovel Y., Maimonides and Philosophy. Papers Presented at the Sixth Jerusalem Philosophical Encounter at the Hebrew Uni­ versity of Jerusalem, May 1985. Dordrecht [u.a.]: Nijhoff, 1986. 66 Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, cap.4, n.55; n.162. 67 Albertus Magnus, De quinque universalibus. In: Texte zum Universalienstreit. Hoch- und spätmittelalterliche Scholastik. Hrsg. von H.-U. Wöhler, Bd. 2. Berlin: Akademie Verlag, 1992, S. 3–42. // De universalibus. Tract.1. De antecedentibus ad logicam. S. 46; Tract.2. Incipit liber de universalibus, cuius primus tractatus est de universalibus in communi. S. 176–178. (Ed. Coloniensis.) Übersetzt und neu hrsg. von U. Petersen und M. S. Noya. Lat.-dt. Hamburg: Meiner, 2012. 64

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I. Einführung

Seele nimmt die separaten Formen (Abbilder des Sinnfälligen) auf.68 Das Leib-Seele-Problem wird so entschieden, dass die Seele den Akt des Körpers repräsentiert.69 Diese Interpretationslinie setzt Alberts bedeutendster Schüler Thomas von Aquin fort. Im 11. Jahrhundert entbrannte der Realismus-NominalismusStreit70 und betraf auch das Universalienproblem. Der Nominalismus war an der Analogie nicht interessiert und thematisierte stattdessen Univokation und Äquivokation. Eine entscheidende Rolle kam der Analogie dann im Realismus zu; Aristoteles’ Werke und Kommen­ tare spielten dabei eine außerordentliche Rolle. Der Streit zwischen neuplatonisch-augustinischen und aristotelischen Positionen verläuft parallel zum Nominalismus-Realismus-Streit, wodurch Berührungs­ punkte ersichtlich werden. Das Universalienproblem in der mittelal­ terlichen Fassung geht auf Porphyrius zurück. Dieser stellt in der Isagoge (Einleitung zur Kategorienschrift des Aristoteles) die Frage, ob species und genus als reale Dinge existieren. Folgendes Beispiel verdeutlicht seine Überlegungen: animal wird von »Hund« als species Hund und vom einzelnen Hund auf univoke Weise prädiziert.71 Boethius nennt die porphyrianischen Gattungen und Arten Univer­

68 Albertus Magnus, Opera Omnia, Metaphysica. (Ed. Coloniensis, Opera Omnia, T. XVI.) Ed. B. Geyer. Münster: Aschendorff, 1960, p.1, lib.1, tract.1, cap.5, 89–94, 1– 33, S. 7–8. 69 Albertus Magnus, Opera Omnia, De homine. T. XXVII, p.2. Nach dem kritisch erstellten Text übersetzt und hrsg. von H. Anzulewicz und J. Söder. Monasterium Westfalorum in Aedibus Aschendorff, 2008, De substantia et natura eius, 1, (1), 15 (7), 30; Quomodo anima sit actus, 1.1.1, (8), 1–77; Quomodo anima sit actus primus corporis physici, 1.1.3, (6), 50–72, 1–36; De diffinitione, 1.2, (2), 28–70. // Rung­ galdier E., Die menschliche Seele bei Albertus Magnus. Münster: Aschendorff, 2010. // Hellmeier P. D., Anima et intellectus. Albertus Magnus und Thomas von Aquin über Seele und Intellekt des Menschen. Münster: Aschendorff, 2011. // Lipke S., Die Bedeutung der Seele für die Einheit des Menschen nach De homine. In: Alber­ tus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren: Neue Zugänge, Aspekte und Perspek­ tiven. Hrsg. von W. Senner OP. Berlin: Akademie Verlag, 2018, S. 207–220. 70 Um zu behaupten, Thomas sei kein Nominalist, muss man erst den Begriff »Nominalismus« definieren. Erst nach der Behandlung zentraler Analogie-Fragen in der thomanischen Erkenntnis-, Prädikationstheorie und Semantik kann Klarheit über Thomas’ Stellung zum Nominalismus gewonnen werden. 71 Porphyrius, Isagoge translatio Boethii. Ed. L. Minio-Paluello (Arist. Lat. I, 6–7). Paris: Brügge, 1966, 13, 10–20.

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1.2 Historische Bemerkungen

salien.72 Die Auffassung von Porphyrius, dass Gattungen und Arten die Dinge sind, oder in realen Dingen existieren, oder auch vom bezeichnenden Verstand hergestellte Worte sind, wird später zur Streitfrage bei den Scholastikern. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wird nominales als terminus technicus gebraucht. Johannes von Salisbury vertritt die konzeptualistische Meinung, dass Universalien keine selbstständige Existenz haben, sondern in mentalen Vorstellungen verkörpert wer­ den. Ebenso meint er, dass sich unter dem Einfluss von Johannes Roscelinus (seine Ansichten sind aus der polemischen Interpretation Anselms von Canterbury bekannt) eine nominalistische Richtung in der Philosophie entwickelte, der zufolge die Gattungs- und Artnamen die Menge von Individuen bezeichnen. Der Lehrer von Johannes von Salisburys und Roscelinus bedeutendster Schüler Peter Abaelard, der sich für die nominalistische Zugangsweise zu der Universalienfrage einsetzte, stellt seine Ansichten auf folgende Weise vor: Gattungsund Artnamen (Universalien) schreibt man kein extramentales Sein zu. Vielmehr sind diese Namen vom Verstand gebildete Signifikatio­ nen, die intensional oder extensional gedeutet werden.73 So bildet sich die Relation zwischen den Namen: zwischen nomen principale (albedo) und nomen denominativum (album). Diese Relation, die Boe­ thius participatio (aristotelische Inhärenz) nennt, bezeichnet Abaelard als appellatio, die entweder rein konzeptualistisch (nomen-concep­ tus) oder als Relation zwischen Begriff und natura rei aufzufassen ist. Das Problem der Universalien, wird es prädikationslogisch auf­ gefasst, kann wie folgt charakterisiert werden: Eine Aussage, die eine bestimmte Bedeutung hat, denotiert die durch die copula est ausgedrückte Relation. Diese Relation kann so gedeutet werden, dass sie auch dann besteht, wenn die Gegenstände (bereits oder noch) nicht existieren. Die Aussage wird von Abaelard in unterschiedlichen Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta. Ed. S. Brandt. Wien: Tempsky [u.a.], 1906, lib.1, cap.11, p.56, 21; lib.2, cap.1, p.57, 4–8; lib.5, cap.1, p.94, 24–25, 21.24; cap.5, p.98, 7–10. / In categoriis Arist. PL64, 162B. 73 Petrus Abaelardus, Logica Ingredientibus: Super Topica Glossae. In: Petro Abel­ ardo, Scritti di Logica. Introductiones dialecticae: Editio super Porphyrium, Glossae in Categorias, Editio super Aristotelem De Interpretatione, De Divisionibus. Ed. Mario Dal Pra. Firenze: La Nuova Italia Editrice, (2. Ed.) 1969. Zur Semantik und Prädika­ tionstheorie des Abaelard’s siehe Rijk L. M. de, Peter Abaelard’s Semantics and His Doctrine of Being. Vivarium 24 (1986), S. 85–127. Zur Interpretationsfrage siehe Pin­ bog J., Logik und Semantik im Mittelalter. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holz­ boog, 1972, S. 43–55. 72

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I. Einführung

Perioden seiner Tätigkeit unterschiedlichen Theorien gemäß analy­ siert: entweder als intensionale Subjekt-Prädikat-Relation (und dann bezieht sie sich auf die Inhärenz-Theorie etwa in der Logica Ingredien­ tibus) oder als extensionale Subjekt-Prädikat-Relation (dann schließt sie sich der Identitäts-Theorie seiner Dialectica an). Ein wichtiger Vertreter des Nominalismus des 14. Jahrhunderts, den ich hier nur kurz erwähnen will, ist der Franziskaner Wilhelm von Ockham. Der Umfang meiner Arbeit erlaubt es mir lediglich, einige Thesen der nominalistischen Erkenntnismetaphysik, Ontologie und Prädikationslogik bei Ockham zu erläutern, wie etwa diejenige, dass keine extramentale Entität, die existiert, das Universale sei.74 Die Universalien dürfen nicht als realitas obiectiva aufgefasst werden, die sich außerhalb der Seele befinden und dem Einzelnen von sich aus zukommen. Obwohl sie mehreren Gegenständen gemeinsam sein können, existieren sie nicht im Sinne einer gemeinsamen Natur in diesen Gegenständen; sie sind mit dem Einzelnen identisch, das von dem Intellekt direkt erkannt wird. Dabei sind sie jedoch keine speziel­ len Erkenntnisgegenstände der abstraktiven Erkenntnis, sondern eine Erkenntnisweise (cognitio abstractiva).75 Das Wort steht in der suppo­ sitio personalis stets für res (res singularis). Allein in der suppositio simplex steht ein Name für das Allgemeine (conceptus oder intentio animae). Der Artname »homo« steht für die res singulares (einzelne Menschen) und für das Bild des Menschen (da der Mensch Ursache dieses Bildes ist). Auch Gattungsnamen wie »weiß« bezeichnen keine Universalien, sondern Einzeldinge (dieser Weiße) – so ist in diesem Fall »weiß« eine singuläre Entität, nämlich farbliche Qualität. Daher Wilhelm von Ockham, Expositio in librum Perihermenias Aristotelis. In: Opera Philosophica et Theologica. Opera Philosophica II (OPhII). Ed. A. Gambatese, St. Brown. New York: St. Bonaventure University, 1978, I, lib.1, cap.5, § 3, S. 399–402; § 5, S. 403 f. 75 Wilhelm von Ockham, OPhI, Summa logicae I. Ed. P. Boehner, O. F. M., G. Gál, O. F. M, St. Brown. New York: St. Bonaventure University, 1974, cap.14–15, S. 47– 54; cap.18; cap.14, 56–58 S. 49: »[...] nulla substantia extra animam nec aliquod acci­ dens extra animam est tale universale.« / Sriptum in Librum primum Sententiarum (Ordinatio) (Sent.I). In: Opera Philosophica et Theologica. Opera Theologica II (OThII, Ordinatio). Ed. St. Brown, O.F.M, Adlaborante G. Gál, O.F.M. New York: St. Bonaventure University, 1970, lib.1, d.2, q.6, S. 179–183. / OThIV, Sent.I (Ordinatio). Ed. G. I. Etzkorn, Fr. E. Kelley. New York: St. Bonaventure University, 1979, lib.1, d.27, q.3, S. 242–244. Texte zum Universalienstreit. Bd. 2. Hoch- und spätmittelalterliche Scholastik. Hrsg. und übersetzt von H.-U. Wöhler. Berlin: Akad. Verlag, 1994, S. 274– 278. 74

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1.3 Gestalten der Analogie in der gegenwärtigen Philosophie

ist es in der Erkenntnis nicht erforderlich, Beziehungen zwischen Begriffen und der Realität im ockhamschen Nominalismus mithilfe der species intelligibilis im Sinne der Vermittlung zwischen res und res intelligendi zu behandeln. Hinsichtlich der Frage nach der realen und logischen Prädikationsrelation unterscheiden sich Thomas und Ock­ ham darin, dass letzterer die Frage aufgrund der Univokation und in bestimmten Fällen aufgrund der Äquivokation beantwortet, während ersterer durch die Analogie zur Lösung gelangt. Geht es um die Prä­ dikation, so ist diese bei Ockham nur als praedicatio univoca (im Fall der »de-subiecto-Prädikation«) oder als praedicatio aequivoca (im Fall der »in-subiecto-Prädikation«) zu verstehen. Ockham verzichtet auf die praedicatio analoga. Aber bei der Frage nach dem Verhältnis zwi­ schen Gott und Kreatur, die in seiner Sprachphilosophie durch den logischen Begriff der Univokation zur Lösung gebracht wird, wird die ontologische Grundlage des Verhältnisses eher als analoge (hier im Sinne Ockhams) verstanden.76 Diese Frage verlangt nach einer tiefer gehenden Erläuterung dessen, was Thomas und Ockham unter »ana­ logia«, »univoca« und »aequivoca« verstehen.

1.3 Gestalten der Analogie in der gegenwärtigen Philosophie Nachstehend erfolgt ein kurzer Überblick über die Interpretation der Analogie in gegenwärtigen Untersuchungen, die nach meiner Ansicht Thomas’ Zugangs- und Argumentationsweise zu diesen Fra­ gen besonders klar wiedergeben. Der folgende Überblick soll dabei helfen, den aktuellen Kenntnisstand der komplexen Analogieproble­ matik zu verdeutlichen und die spezifischen Zugangsweisen in der philosophischen Forschung des Analogiebegriffs aufzuzeigen. Mit der Formulierung »ontisch analog logisch univok« differenziert Ockham die Bereiche der Ontologie und Logik aus. In der Erkenntnis spielt für die logische Uni­ vokation nicht die Ähnlichkeit eine zentrale Rolle, sondern der actus intelligendi, der auch ein Signifikationsakt ist. Über Ockhams Differenzierung zwischen praedicatio univoca, aequivoca oder analoga und ontischer Gleichheit siehe: Junghans H., Ockham im Lichte der neueren Forschung. Berlin; Hamburg: Lutherisches Verlaghaus, 1968, S. 220 ff. // Menges M., The Concept of Univocity Regarding the Predication of God and Creature According to William Ockham. St. Bonaventure: Franciscan Institute, XI, 1952. // Wilhelm von Ockham, Opera Theologica IX (OThIX), Quodlibeta sep­ tem. Ed. J. C. Wey. New York: St. Bonaventure University, 1980, IV, q.12, S. 352–359. 76

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I. Einführung

Bereits in der Philosophie von Sokrates, Platon und Aristoteles wird die Analogiefrage im Bereich der Logik und Epistemologie, Metaphysik und Ontologie angesiedelt.77 Der aristotelische Syllogis­ mus, der als Analogie-Schluss angesehen wird78 und mit der Propor­ tionalitätsanalogie bei Thomas verbunden werden kann, ist als der Beginn einer rein formalen Auffassung der Analogie in der Logik zu verstehen, die in der weiteren Entwicklung, z.B. in der Art der analogia attributionis, philosophische Relevanz erlangt. Die Behandlung des Analogiebegriffs von gegenwärtigen Autoren könnte man in fünf Arten einordnen: 1) als Problem der Metaphysik oder Ontologie, 2) als Problem der Logik, 3) als theologisches (Sprach)Problem in der Religionsphilosophie, 4) als eines innerhalb der Sprachphilosophie und Semantik sowie 5) in der (sprach)analytischen Philosophie. Alle fünf Zugangsweisen entsprechen jeweils unterschiedlichen Auffas­ sungen der Analogie und ihrer Bedeutung. Wenn man den Versuch, eine eindeutige Antwort auf die Frage, weshalb so viele Gebrauchs­ weisen der Analogie unter einem Begriff der Analogie subsumiert werden, zu geben nicht wagt, so wird es schwerfallen, tatsächlich zu verstehen, was genau das »Problem der Analogie« ausmacht. Dass Logik und Metaphysik auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, und dass dies auf Thomas’ Verständnis der Analogie angewendet werden kann, wird etwa von Montagnes postuliert.79 Unter Analogie versteht Thomas, im Verständnis von 77 Darüber z. B. Platzeck E.-W., Von der Analogie zum Syllogismus. Paderborn: Schöningh, 1954. // Nach Lyttkens wird bei Platon (im Timaios) die dreigliedrige Analogie in die Beweisführung einbezogen, um die kosmologische Ordnung der Welt darzustellen. Vgl. Lyttkens H., The Analogy between God and the World, S. 22 f. // Auch: Track J., Art. Analogie. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 2. Berlin; New York: De Gruyter, 1978, S. 625–650, insbesondere: 630 f. // Stammberger R. M. W., On Analogy: an Essay historical and systematic. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 1995, S. 11–20. 78 Zwei Prämissen eines Syllogismus können zum Erschließen einer Tatsache dienen, wenn für diese Tatsache der Mittelbegriff ohne vorliegende Grundlage gebildet wird, und wenn diese Prämisse aus der Erkenntniserfahrung gewonnen wird. Auf diese Weise kann Analogie dazu beitragen, unbekannte Gegenstände zu erschließen. Dazu Kullmann W., Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur aristotelischen Theo­ rie der Naturwissenschaft. Berlin; New York: De Gruyter, 1974. // Fiedler W., Ana­ logiemodelle bei Aristoteles, S. 28–37. // Nortmann U., Modale Syllogismen, mög­ liche Welten, Essentialismus. Eine Analyse der aristotelischen Modallogik. Berlin; New York: De Gruyter, 1996. 79 Montagnes B., La doctrine de l’analogie de l’être d’après Saint Thomas d’Aquin. Louvain: Publ. Univ., 1963.

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1.3 Gestalten der Analogie in der gegenwärtigen Philosophie

Montagnes, sowohl die Verhältnisähnlichkeit als auch die Ordnungs­ einheit in Bezug auf ein Erstes. Montagnes stellt folgende Frage: Ist die Einheit die ontologische Einheit des Seins oder ist sie nur begrifflich zu fassen? Montagnes zufolge gelangt Thomas kaum zur Auffassung des Seins als begriffliche Einheit, und, wenn überhaupt, wird diese bei Thomas nicht weiter expliziert. Es geht bei Thomas, so Montagnes, vielmehr um die Analogien, die sich auf ein Erstes durch Partizipation und Kausalität beziehen.80 Damit hat er zwar die Vielheit der Seien­ den auf die ontologische Einheit des Seins zurückgeführt, aber den Begriff der Analogie als ontologische Analogie verengt. Auf die sich daran anschließenden Fragen und Diskussionspunkte werde ich in Kapitel 3 und 4 noch ausführlicher eingehen. Zur metaphysischen Interpretation des »transzendentalen Ana­ logen« neigen vor allem ältere Autoren, z.B. Kardinal Cajetan, berühmt durch sein Opusculum »De nominum analogia«. Alle Thomas-Interpretationen dieser Richtung bestimmen die metaphy­ sische Einheit durch die Analogie und beschäftigen sich mit dem weiten Feld der Seinsanalogie. Moderne Autoren, wie Fabro81, Kluber­ tanz82, Gilson83, Lakebrink84, Rahner85, Inciarte86 und Schönberger87 interpretieren den Begriff der Analogie innerhalb der Geschichte des 80 Montagnes B., La doctrine de l’analogie de l’être d’après Saint Thomas d’Aquin, S. 42–60; S. 159–168. Der Begriff analogia kann nach Montagnes unter vier Aspekten behandelt werden: als (1) analogia; (2) attributio; (3) proportio; (4) per prius et per posterius (S. 32, Anm. 16). Er beschreibt die Analogie als prädikamentale und trans­ zendentale Analogie (S. 33). 81 Fabro C., La nozione metafisica di partecipazione secondo S. Tommaso d’Aquino. Torino: Societa editrice internazionale, (2), 1950. 82 Klubertanz G. P., St. Thomas on Analogy. A Textual Analysis and Systematic Synthesis. Chicago: Loyola Univ. Press, 1960. 83 Gilson E., The Christian Philosophy of St. Thomas von Aquinas: with a catalogue of St. Thomas’s works. New York: Octagon Books, 1956. / Gilson E., Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre. Übers. von W. Dettloff. Düsseldorf: Schwann, 1959, Kap. 1, 2, 6 und 8. 84 Lakebrink B., Analektik und Dialektik. Zur Methode des thomanischen und hegel­ schen Denkens. In: Gilson E., Maurer A. (Eds.), Thomas von Aquinas Commemorative Studies. Toronto: Pontif. Inst. of MS, 2, 1974, S. 459–488. 85 Rahner K., Über die Unbegreifflichkeit Gottes bei Thomas von Aquin. In: OeingHanhoff L. (Hrsg.), Thomas von Aquin 1274/1974. München: Kösel-Verlag, 1974, S. 33–45. 86 Inciarte F., Forma Formarum. Strukturmomente der thomistischen Seinslehre im Rückgriff auf Aristoteles. Freiburg; München: Alber, 1970. 87 Schönberger R., Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Berlin; New York: De Gruyter, 1986.

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I. Einführung

Seinsverständnisses. Gemein ist diesen Autoren außerdem, dass sie den sprachanalytischen Ansatz als problematisch erachten. Von der metaphysischen Deutung der Analogie-Fragen grenzt sich die logische Deutung der Thomas-Interpretationen ab, die etwa von McInerny, Bochenski, Menne, Ashworth und Burrell vertreten wird.88 Jene Autoren werfen Cajetan vor, die logische Interpretation der Analogie in eine metaphysische umgewandelt zu haben. Unter einer logischen Theorie der Analogie versteht beispielsweise McI­ nerny ein Mittel und die Weise, wie die Dinge erkannt und benannt werden. Es existieren zwei Ebenen, diejenige der Namen und Begriffe (nomina rei), welche die realen Dinge bezeichnen, und diejenige der nomina intentiones, welche die logischen und sprachlichen Kategorien (»genus«, »species«) benennen. Burrell, der Cajetans metaphysische Interpretation der Analogie kritisch als Verzicht auf die Logik ein­ schätzt, verlangt nach einer semantischen sowie logischen Interpre­ tation der Analogie. Der Irrtum in der Auffassung von Analogie entsteht nach ihm vielmehr im theologischen Diskurs, wenn die Frage nach der Transzendenz gestellt wird. Burell meint, dass Thomas dafür eine analoge Prädikation entwickelt.89 Eine besondere Bedeutung für die Erneuerung des Thomismus kommt Bochenski und dem Krakauer Kreis zu. Diese Schule sicherte, neben anderen Leistungen, einen verstärkten Eingang des Thomismus und insbesondere der AnalogieFragen in die analytische Philosophie bzw. analytische Ontologie, Epistemologie, Semantik und Prädikationstheorie.90 Es gibt darüber hinaus zahlreiche theologische Werke zu Thomas’ Ideen, in denen der Gebrauch der Analogie eine (analytisch-)theologische Lesart des Gott-Kreatur-Problems ermöglicht. Bochenski I. M., Über die Analogie, S. 107–129. // Menne A., Was ist Analogie? In: Philosophisches Jahrbuch 67 (1959), S. 389–395. Die Begriffe werden als Termini formal-funktional ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit betrachtet. // Ross H., Sprach­ denken im Mittelalter. Classica et Medievalia 9 (1948), S. 200–213. // McInerny R. M., The Logic of Analogy. The Hague: Nijhoff, 1961, S. 75, 173–229. // Rijk L. M. de, Logica Modernorum. A Contribution to the History of Early Terminist Logic. 3 Bde. Assen, 1962, Bd. I; 1967, Bd. II-I; II-II. // Ashworth E. J., Analogy and Equivocation in Thirteenth-Century Logic: A New Approach to Aquinas. In: MS 54 (1992), S. 94– 135. 89 Burrell D., Analogy and Philosophical Language, S. 120 f., 124 f. 90 Wolenski J., Józef M. Bochenski and the Cracow Circle. Studies in East European Thought 65 (2013), Dordrecht: Springer, S. 5–15. // Simon P., Bochenski and Balance: System and History in Analytical Philosophy. Studies in East European Thought 55, Nr. 4 (2003), Dordrecht: Springer, S. 281–297. 88

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1.3 Gestalten der Analogie in der gegenwärtigen Philosophie

Einige Untersuchungen behandeln die Analogie als theologi­ sches Problem oder als theologisches Sprachproblem. Die Nomina divina werden als semantische Fragen untersucht. Manthey und S.Ch. Park stützen die Behandlung theologischer Analogie-Probleme bei Thomas auf eine gründliche Analyse der mittelalterlichen Sprach­ philosophie zur Zeit von Thomas.91 Die mittelalterliche Sprachphilosophie und Semantik, inklusive der Analogie und ihrer Grundtypen als logisch-semantisches Prob­ lem, wurden im 20. Jahrhundert von Autoren wie Grabmann, Tarski, Janoska, Pinborg, de Rijk, Saarnio, Enders, Weidemann, Anzenba­ cher, Schneider und Nissing untersucht.92 Das Ziel ihrer Untersu­ chungen bestand darin, aufgrund der aristotelischen Fassung der bejahenden und verneinenden, abstrahierenden und begriffsbilden­ den Tätigkeit des Verstandes, die sprachphilosophischen Grundlagen der von Thomas entworfenen Metaphysik herauszuarbeiten. Die Methode einer derartigen Untersuchung bezeichnet etwa Weidemann als »ontosemantisch« oder »systemgeschichtlich« – Anzenbacher.93 91 Manthey F., Die Sprachphilosophie des hl. Thomas von Aquin und ihre Anwen­ dung auf Probleme der Theologie. Paderborn: Schöningh, 1937. // Park S.-Ch., Die Rezeption der mittelalterlichen Sprachphilosophie in der Theologie des Thomas von Aquin. // Pannenberg W., Analogie und Offenbarung. 92 Grabmann M., Die geschichtliche Entwicklung der mittelalterlichen Sprachphilo­ sophie und Sprachlogik. In: Mittelalterliche Geistesleben. Bd. 3. München: Hüber, 1926. // Janoska G., Die sprachlichen Grundlagen der Philosophie. Graz: Akademi­ sche Druck- u. Verlagsanstalt, 1962. // Kluxen W., Teilart. Analogie. In: HWPh. Hrsg. von J. Ritter [u.a.]. Bd. 1, S. 214–227. // Pinborg J., Logik und Semantik im Mitteal­ ter. // Enders H. W., Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff. Ein historisch-systematischer Beitrag zur Frage der semantischen Grundlegung formaler Systeme. München [u.a.]: Schöningh, 1975. // Rijk L. M. de, Die Bedeutungslehre der Logik im 13. Jahrhundert und ihr Gegenstück in der metaphysischen Spekulation. In: Zimmermann A. (Hrsg.), Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters. Ber­ lin: De Gruyter, 1970, S. 1–22. // Weidemann H., Metaphysik und Sprache. Freiburg; München: Alber, 1975. // Schneider J. H. J., Teilart. Sprache: Mittelalter, Humanismus und Renaissance. In: HWPh. Hrsg. von J. Ritter [u.a.]. Bd. 9. Basel: Schwabe, 1995, S. 1454–1468. / Schneider J. H. J., Das Einzelne und Allgemeine. Sprachphilosophi­ sche Betrachtungen über die Genese des Begriffs im Anschluss an Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus. In: Aertsen J. A., Speer A. (Hrsg.), Individuum und Indi­ vidualität im Mittelalter. Miscellanea Mediaevalia. Bd. 24. Berlin [u.a.]: De Gruyter, 1996, S. 74–96. // Nissing H.-G., Sprache als Akt bei Thomas von Aquin. Leiden; Boston: Brill, 2006. 93 Weidemann H., Metaphysik und Sprache, S. 14. Seine Methode nennt Weidemann »ontosemantisch« (S. 16). Nach der Charakteristik von Weidemann unterscheidet sich diese Methode sowohl von der einseitigen, nur in der Sprache begründeten linguisti­

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I. Einführung

Die sprachanalytische Richtung, welcher innovative Einsichten in die thomanische Ontologie zu verdanken ist, vertritt etwa N. Bathen, der die zentrale Aufgabe nicht darin sieht, bei Thomas »satz­ analytische Positionen« herauszuarbeiten, sondern darin, zu erken­ nen, ob »satzanalytisch gewonnene Einsichten als Interpretament der thomistischen Ontologie geeignet sind«94. Diese Methode kann man mit derjenigen der mittelalterlichen Modisten wie Boethius de Dacia, Henricus de Bruxellis oder Radulphus Brito vergleichen. Das Ziel dieser Studie besteht auch darin, auf die für heutige philosophische Diskussionen relevanten Themen hinzuweisen, die mit der von Thomas behandelten Analogie-Thematik verbunden werden können. In gegenwärtigen philosophischen Diskussionen bei Theologen und Philosophen tauchen oftmals Fragen auf, die bereits Thomas beschäftigten. Gleichsam manifestieren sich parallele Gedan­ kengänge zur scholastischen Philosophie, auch wenn sie unter ande­ ren Termini, Methoden und Prinzipien behandelt werden. Die Dis­ kussionen um die Analogie-Fragen dauern damit weiter an. Dadurch kann der historische und systematische Ort der Analogie, nämlich ihre spezifische Leistungsfähigkeit im abendländlischen philosophi­ schen Denken aufgezeigt werden.

1.4 Fragestellung Das Thema dieser Arbeit, die sich in vier Kapitel strukturiert, bezieht folgende Schlüsselbegriffe ein: »Analogie«, »Ontologie«, »Metaphy­ sik«, »Erkenntnistheorie«, »Semantik« und »Sprachlogik«. Stellt man sich die Frage, welcher Art die »Analogie-Probleme« sind, gilt es vorerst, die mit der Analogie eng verbundenen Komplementärbegriffe zu erläutern. Diese lauten: Materie – Form, Verstand – Erkenntnis­ schen Methode, als auch von der phänomenologischen Methode, die ebenfalls ein­ seitig sei. Die »onto-semantische« Methode von Weidemann wird als diejenige ver­ standen, die »versucht, das Entsprechungsverhältnis, das zwischen Wort und Sache (Sprache und Wirklichkeit) besteht« (S. 16), auszuarbeiten. Siehe auch: Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte. // Janoska G., Die sprachlichen Grundlagen der Philosophie, S. 3, 51. // Oeing-Hanhoff L., Ens et unum convertuntur. Stellung und Gehalt des Grundsatzes in der Philosophie des hl. Thomas von Aquin. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Bd. 37. Münster: Aschen­ dorff, 1953. 94 Vgl. Bathen N., Thomistische Ontologie und Sprachanalyse. Freiburg; München: Alber, 1988, (zitiert S. 25). // Siehe auch Weidemann H., Metaphysik und Sprache.

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1.4 Fragestellung

objekt, Einzelnes – Allgemeines, Vielheit – Einheit, Teil – Ganzes, Kreatur – Gott, Proportion – Proportionalität, prädikative Ordnung – Seinsordnung und Verstand – Sprache – Wirklichkeit. Aufgrund dieser Komplementärbegriffe wird zu klären sein, worauf sich die verschiedenen Bedeutungen von »analogia« beziehen. Bereits zu Beginn muss ich hervorheben, dass eine systematische Theorie der Analogie bei Thomas nicht vorliegt. Nachstehend erfolgt mein Versuch, seine diesbezüglichen Ansätze in ihrer Kohärenz anhand relevanter Textpassagen möglichst explizit zu rekonstruieren. Der im ersten Einführungskapitel dargestellte Analogie-Begriff und -Thema wird den Orientierungsrahmen bilden, um Thomas’ theoretische Philosophie und die aristotelisch-thomanische Tradition im allgemeinen Sinne kohärent zu erfassen. Die Bestimmung des Begriffs der Analogie als Relationsbegriff und die mit diesem zusam­ menhängenden Begriffe werde ich im zweiten Kapitel in Bezug auf die relevanten mittelalterlichen ontologischen und epistemologischen Diskussionen näher erläutern. Kapitel 2. Das zweite Kapitel nimmt seinen Ausgang von der aris­ totelischen Metaphysik, die sich mit dem Seienden als Seienden befasst und in der scholastischen Metaphysik transformiert wird. Die Hauptfragen beziehen sich auf Thomas’ These, dass der zentrale Gegenstand der Metaphysik (prima philosophia) das allgemeine Sei­ ende sei, ohne das nichts anderes erkannt werden kann. Thomas unternimmt den Versuch, ein sicheres Wissen vom Seienden schlecht­ hin zu begründen. Die Erörterung der Frage, ob ein sicheres Wissen vom Seienden schlechthin möglich ist, bezieht sich auf die innerhalb der scholastischen Philosophie und Theologie viel diskutierte Frage nach dem Ersterkannten. Die entscheidende These der Epistemologie von Thomas, die die Analogie einbezieht, lautet, dass nicht Gott das primum cognitum, sondern das sinnlich Wahrgenommene, das Singuläre das erste Erkenntnisobjekt ist. Dies bedeutet erstens die Frage nach dem Erkenntnisvermögen und dem Singulären, das in actu ist und in seinem allgemeinen Modus erkannt wird, zu erörtern. Dabei werde ich auch die Analogie einbeziehen. Zweitens bedeutet dies, nach dem eigentlichen Objekt (proprium obiectum) der intellektuellen Erkenntnis, nämlich nach der Washeit dieses Einzelnen (quiditas rei sensibilis) zu fragen. Drittens ist die Frage der Erkenntnis des Letzten der Erkenntnisordnung nach, also die Erkenntnis Gottes, der eine transzendente Ursache des Seins alles Seienden ist, zu behandeln.

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I. Einführung

Damit werde ich in 2.1 ein umfangreiches ontologisch-epistemisches Projekt Thomas’ vorstellen, das sowohl die allgemeinere Problematik als auch spezielle, mit der Analogie eng verbundene Probleme, die auf dem Weg der erkannten Formen der Einzeldinge bis zur Erkenntnis des absoluten Seins Gottes vorkommen, betrifft. Im Abschnitt 2.2 werde ich auf die Fragen nach dem Erkenntnis­ vermögen (potentia cognoscendi) und seinem sinnlich wahrgenomme­ nen Erkenntnisobjekt (obiectum cognoscendi), das nur als Allgemeines erkannt werden kann, eingehen. Da der eigentliche Erkenntnisgegen­ stand des Intellekts das Allgemeine (quiditas rei sensibilis) ist, das nur indirekt erkannt wird, ist die Frage nach dem Abstraktionsprozess zu stellen. Dieses Erkenntnisvermögen, das seinem Erkennbaren analog werden bzw. eine proportional strukturierte Assimilation eingehen muss, tritt in den Vordergrund. Anschließend wird es notwendig wer­ den, das indirekte Erkennen als Assimilationsprozess zwischen Intel­ lekt und extramentalem Gegenstand mithilfe der Analogie zu klären. In Abschnitt 2.3 gehe ich auf das zur Diskussion stehende hylemorphistische Konzept ein und werde mich der Frage nach der Bedeutung der substantia composita als ontologische und epistemi­ sche Struktur widmen. Wenn Materie und Form als Konstituenten eines Kompositums zu fassen sind, können sie entweder als identisch oder nicht-identisch konzipiert werden und die Erkenntnis im All­ gemeinen entweder als direkte oder indirekte Erkenntnis bestimmt werden. Nur dann, wenn man Materie und Form als nicht identische Konstituenten versteht, kann man die Differenzen wie Potenz-Akt, Substanz-Akzidens, Quantität-Qualität des Seienden und die analo­ gen Verhältnisse zwischen den vielfältigen Seienden untersuchen und das extramentale Kompositum mit Blick auf die kognitiven Akte der indirekten Erkenntnis erörtern. Da sich der menschliche Intellekt aufgrund dieser Akte zur Erkenntnis Gottes aufgefordert fühlt, ist die Frage nach der analogen Substanz-Akzidens- und Gott-KreaturStruktur zu stellen. In Abschnitt 2.4 behandle ich die Frage, wie das konstituierte Sei­ ende und die ihm innewohnenden Differenzen in einer einheitlichen Struktur begreifbar werden können. Wenn diese Struktur durch die zwei Arten der Analogie, Proportionsanalogie und Proportionalitäts­ analogie, konzeptualisiert und als analoge Ordnung (analogia entis) gedacht wird, stellt sich die Frage, welche Auffassung des Intellekts Thomas bei der Prägung dieser Analogiearten vertrat. Diese Frage mündet in jene nach der Verschränkung der Modi (modus essendi und

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1.4 Fragestellung

modus intelligendi) und in das Problem des Kreatur-Gott-Verhältnis­ ses, welches im Modus des unius ad alterum zu einer Lösung gelangt. In Abschnitt 2.5 gehe ich auf die Analogie im Kontext der Univer­ saliendebatte ein. Mit dem Perspektivwechsel – von der Frage, ob und wie das Allgemeine von den singulären Gegenständen abstrahiert und zum Erkenntnisgegenstand gemacht wird, zur Frage nach der Verbin­ dung zwischen sinnlich wahrnehmbaren Objekten und der externen Realität (Universalien) – stellt sich das Verhältnis-Problem zwischen dem Sein des Singulären und dem Sein des Allgemeinen (universale). Da keine Einigkeit im Hinblick darauf besteht, was die Existenz und das Wesen der Universalien bestimmt – sind die Universalien in rebus metaphysischer Bestandteil oder bilden sie sich in der göttlichen Vernunft, existieren sie also ante rem, oder als Begriffe im Verstand, d.h. post rem –, wird dieses Problem von der universalienrealistischen oder nominalistischen Position her analysiert. In Abschnitt 2.6 werden die Zwischenergebnisse zu den bereits erwähnten Fragen zusammengefasst, ehe anschließend ein Ausblick auf die im Weiteren zu behandelnden epistemischen Kontexte, Begriffe und Problematiken gegeben wird, welche die Analogie betref­ fen. Da ich das Einheits-Vielheits-Problem in 2.7 in Bezug auf philo­ sophiegeschichtliche Transformationen des Analogiebegriffs verfol­ gen werde, gehört zu meiner Fragestellung die aristotelische Ousia als Einheitsregel für vielfältige Seiende, die die (trans)kategoriale Einheit aufgrund der pros-hen-Relation herstellt. Die Erörterungen der transzendentalen und kategorialen Anwendung des Begriffs des Seienden und die mit diesem konvertiblen Begriffe (unum, bonum, etc.) sowie die Unterscheidung zwischen den singulären Weisen des Seins und dem allgemeinen Sein, das Aristoteles mithilfe der ersten Kategorie, der Ousia, reflektiert hat, bindet Thomas in seine Fassung der Einheitstheorie ein. Die Diskussion um die transcendentia, ob diese entweder durch Univozität, Äquivozität oder Analogie zu deu­ ten wäre, erfordert die Bestimmung des Unterschieds zwischen dem Sein eines Einzeldings, dem allgemeinen Sein der Transzendentalien und letzlich dem absoluten Sein Gottes. Damit frage ich nach der Rolle der transzendentalen, analogen Bestimmungen für die Erfassung des Übergangs vom geschaffenen zum göttlichen Sein. In den Abschnitten 2.8 bis 2.10 richtet sich meine Erörterung der Problematik von Einheit und Vielheit auf die Teilbarkeit der Einzeldinge. Das heißt hier zu deuten, was Thomas’ Auffassung von

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I. Einführung

dem zusammengesetzten Seienden bedeutet, einem, das sich durch zwei Modi – »id quod est uno modo divisum, esse alio modo indivisum [est]« – auszeichnet. Mit dem Problem der Teilbarkeit rückt die strukturelle Einheit von Einem und Vielen, von Teil und Ganzem sowie die mathematische Proportionalität und deren Zusammenhang mit dem Analogiebegriff in den Fokus. In Abschnitt 2.8 gehe ich der Frage nach der Teilung der Entitäten nach, die ihrem Wesen nach ungeteilt sind, jedoch in Bezug auf alles – »quae extra essentia [sunt]« – geteilt werden können. Damit frage ich nach analogen Strukturen, die durch die Einheit zwischen dem Einen und seinen Eigenschaften bestehen. Hier schließen sich folgende Fragen an: Inwiefern gehört ein Teil (etwa eine Eigenschaft) zum Ganzen und was bedeutet eine solche Zugehörigkeit für eben diesen Teil (Eigenschaft)? Wie bestimmt man die Relation der Ähnlichkeit? Was bedeutet der transkategoriale Charakter der Ähnlichkeitsrela­ tion, und welcher Typus der Ähnlichkeit besitzt die Eigenart der Analogie? Die Komplexität dieser Einheits-Vielheits-Fragen liegt in den systematischen Erwägungen zur Wesensform und zur akziden­ tellen Form begründet. Die drei Themen – die mit der Analogie nicht gleichzusetzende Ähnlichkeit, die Arten der Analogie und die Kreatur-Gott-Relation – werden im Kernpunkt der Strukturanalyse der analogen Proportionen miteinander interagieren, da sie letztlich voneinander abhängig sind und eine Einheit bilden. In Abschnitt 2.9 setzt das Thema des kategorialen mathema­ tischen und transzendentalen Einen im Rahmen des Teil-GanzesProblems ein. Das heißt zu klären, welche Bedeutung der aus der griechischen Mathematik überlieferte Analogiebegriff und die mathe­ matischen Begriffe der Zahl und Zahlenproportion für die Modifika­ tion der Frage nach der Einheit und Vielheit hat. Der Gegenstand meiner Erörterung ist die Frage, was der Unterschied zwischen dem Erkenntnisobjekt der Wissenschaften, dem kategorialen mathemati­ schen Einen (unum numero), und dem transkategorialen Einen ist. Mit Rekurs auf die (mathematische) Proportionalität und den Ana­ logiebegriff werden die theoretischen Grundlagen der Proportionali­ tätsstrukturen und der rationell strukturierten Zahlenverhältnisse festgelegt. Aus den diesbezüglichen Diskussionen werde ich die gemeinsame Schnittstelle zwischen den metaphysischen und den mathematischen Proportionen rekonstruieren bzw. herausarbeiten. In Abschnitt 2.10 werde ich Thomas’ Position zu den Teilungs­ paradoxien und der Summenaxiome in Bezug auf Univokation, Äqui­

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1.4 Fragestellung

vokation und Analogie innerhalb der mereologischen Problematik bei demselben untersuchen. Die zu diskutierende Differenz zwischen dem extensionalistischen Summenprinzip und dem intensionalisti­ schen Kompositionsprinzip wird in Verbindung mit der Bestimmung der Beziehungen zwischen dem (gleichartigen und ungleichartigen) Ganzen und seinen Teilen gefasst. Anschließend wende ich mich der Analyse der mereologischen Fragen betreffs des ungleichartigen nicht-homogenen Ganzen als einer der Analogie-Fragen bei Thomas zu. Die pro- und contra-Argumente, die Thomas in Bezug auf Univo­ zität, Äquivokation oder Analogie anführt, werde ich ebenfalls reka­ pitulieren. Mit dem Wechsel der mereologischen Perspektive auf die theo­ logische Frage ist nach Gott als ein Ganzes zu fragen. Die dabei auftretende Partizipationsfrage verlangt, dass die Einzeldinge in ihrer ungleichen Gleichheit in Analogie zum absoluten Sein untersucht werden. Aufgrund der Analyse der mereologischen und Partizipa­ tions-Fragen werde ich im abschließenden Teil zusammenfassend Thomas’ Argumentation der These behandeln, nämlich, dass jedes Einzelding und die ganze Kreatur am Sein schlechthin partizipiert, d.h. analog zu Gott steht. Im Schlussabschnitt 2.11 des Kapitels 2 werde ich die erzielten Ergebnisse der strukturellen Fassung der Wirklichkeit auf dem Weg der indirekten Erkenntnis sowie den Ort der philosophischen und theologischen Analogie zusammenfassen. Die Konzeption der indi­ rekten analogen Erkenntnis hat eine Reihe von Folgen, die ich in 2.6 und 2.11 angeben werde. Mit einer von diesen – der Unterscheidung zwischen dem dem menschlichen Intellekt zugänglichen, limitierten Wissen und dem absoluten Wissen Gottes – werde ich das Erkennt­ niskapitel abschließen. Kapitel 3. Sowohl die Erörterung der erkenntnistheoretischen Bedeutung sprachlicher Zeichen als auch der Prädikationstheorie in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie insgesamt gehen über die aristotelische Beschäftigung mit diesen Fragen hinaus. Ob und wie das Wort über die indirekte Beziehung zur extramentalen Realität verfügt, bildet die zentrale Frage, die in der Zeichentheorie der Sprache gestellt wird. Wie kann man von sinnlich wahrgenommenen Dingen zum »äußeren Wort« und von dem »äußeren« zum »inneren Wort« gelangen? Zu diesem Zweck werde ich sowohl die Repräsen­ tations- und Kommunikationsfunktion der Zeichen als auch den alltagssprachlichen und den abstrakten Universaliendiskurs sowie

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I. Einführung

die Beziehung zwischen der sprachlichen und der nicht sprachlichen Welt, zwischen dem realen Sein und dem gedachten Sein, behandeln. In diesem semantischen Untersuchungsfeld werde ich diejenigen Analogie-Fragen erörtern, die im epistemischen Rahmen nicht geklärt werden konnten. In Abschnitt 3.1 werde ich einige grundlegende Aspekte der semantischen Analogie-Fragen erörtern. Diese Fragen werden anhand der These von Thomas behandelt, dass die Ordnung der Benennungen auf analoge Weise der Ordnung der Erkenntnis folge. Wird die Frage, ob ein Verhältnis zwischen sprachunabhängiger Wirklichkeit und dem menschlichen Intellekt nach Thomas besteht, affirmativ beantwortet, muss weiterführend gefragt werden, was dieses Verhältnis für die Semantik bedeutet: Wie ist die Relation zwischen sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Objekten zu bestimmen, und was ist die Bedeutung dieser Ausdrücke (univoke, äquivoke oder analoge)? Wie erfolgt die Einbindung der Analogie in den semantischen Realismus? In Abschnitt 3.2 behandle ich die Frage, welche Beziehungen zwischen Sprache und Sein bestehen. Um den objektiven Sinn der sprachlichen Ausdrücke zu verstehen, sind zwei Bedeutungen von »Sein« auseinanderzuhalten: das metaphysisch verstandene Sein (actus essendi) und das gedachte Sein (ens rationis). Das Sprachver­ ständnis von Thomas beinhaltet, dass dasjenige, was der Verstand von einem Ding erfasst und einsichtig macht, durch die Sprache bezeichnet wird. In dieser Hinsicht stellt sich eine ganze Reihe von Fragen: a) Wie kommt das »Sein« bei Thomas in der Sprache zur Geltung? Hier kommt das Verständnis des Seienden als Existenz und als Wesenheit in eine Fragestellung, als des Seienden von Natur her und als des gedachten Seienden, wovon die Aussagen gebildet werden. b) Auf welche Weise erfolgt nach Thomas die semantische Verbindung zwischen dem Sein, den abstrakten Gegenständen und den Sprachzeichen? Die eingeführte Distinktion zwischen der res significatae (der bezeichneten Sachen) und dem modus significandi (der Weise des Bezeichnens) liefert eine logisch-semantische Fassung dieser Frage. c) Die zentrale Stellung des Zeichenbegriffs für die mittelalterliche Sprachphilosophie prägt eine Vielfalt semantischer Probleme. Das Ziel des Abschnitts 3.2 ist es, die Grundlage für die weitere Behandlung der Analogie und den damit zusammenhängen­ den Bedeutungsfragen zu schaffen.

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1.4 Fragestellung

In Abschnitt 3.3 gehe ich auf die tiefenstrukturelle Analyse der dreistelligen Semantik bei Thomas ein. Das ist die Frage nach dem Ort der Analogie in der dreistelligen nomen-ratio-res-Relation. Es soll an dieser Stelle darum gehen, das Verhältnis zwischen dem sprachlichen Zeichen (sowohl Wort als auch Begriff) und dem Wesen der Sache, dem Wort und dem Begriff in der mittelalterlichen Sprachphilosophie und bei Thomas im Speziellen zu behandeln. Die logisch-semantische Unterscheidung der Suppositions- und Signifikationsrelation bei Thomas schließt sich an die allgemeinere Debatte über die Beziehung der Sprache zur Wirklichkeit an. Dafür gehe ich auf die zu der Referenztheorie (in der Scholastik – Suppo­ sitionstheorie genannt) gehörenden Fragen ein: Erstens, auf welche Weise geht Thomas mit der Bestimmtheit und Unbestimmtheit der Referenz um? Und zweitens, wie hängt diese Referenz-Frage mit der (Un-)Erkennbarkeit und (Un-)Benennbarkeit Gottes zusammen? Diese Problematik, die zu der Frage nach der Wahrheit der Aussage führt, werde ich mittels folgender Frage konkretisieren: Wie suppo­ niert ein Terminus für eine Sache, und welche Rolle spielt dabei die Signifikation? Die Relation zwischen sprachlichen Zeichen, bezeichneten Begriffen, Aussagen und extramentalen Gegenständen ist nach Auf­ fassung mittelalterlicher Denker diejenige Frage, die zwei Bereichen zuzuordnen ist: dem Bereich der Sprachlogik und dem Bereich der Ontologie. Im ersten Fall geht es um die Bezeichnungsweise (den modus significandi), im zweiten Fall um die bezeichneten Gegenstände (die res significata). Welche Distinktion zwischen den bezeichneten Gegenständen und der Bezeichnungsweise besteht, steht im Zentrum der Analogie-Frage. Die Regel per prius et per posterius, als die eigentliche sprachlogische Regel der Analogie, setzt diese Lesart der erwähnten Bedeutungsprobleme voraus. Die letzten Fragen des Semantikkapitels (Abschnitte 3.4 und 3.5) begegnen der Schwierigkeit, dass ein Wort verschiedene Bedeutungen haben kann. In den Unterabschnitten gehe ich von der scholastischen Diskussion um die significatio aus und diskutiere folgende Fragen: Was heißt »Bedeutung«? Ist die Bedeutung des Wortes mit dem Bezeichneten identisch? Mit Blick auf die Fragen nach der Bedeutung muss näher geklärt werden, wie sich ein Wort auf verschiedene Referenten beziehen kann. Denn es finden sich Fälle, wo Referent und Bedeutung auf univoke Weise nicht gänzlich übereinstimmen, wie

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I. Einführung

das die Bedeutungsweisen – aequivoce und analogice – zu suggerie­ ren scheinen. In der auf die Analogie bezogenen Sprachphilosophie des Thomas ist eine nähere Bestimmung der semantischen Verbindungen und des Begriffs der Bedeutung anhand anderer wichtiger Begriffe, wie impositio, nomen und conceptio zu erörtern. Mit der Annahme des strukturbildenden Prinzips, nämlich jenes der Grundbedeutung, die von dem Ersten ausgesagt werden kann, wird seit der Antike die Lösung des Problems der Mehrdeutigkeit gesucht. Für die semantische Lösung des Einheitsproblems sind zunächst drei aristotelische Begriffe – Synonymie, Homonymie und Analogie – zu erläutern. Ich gehe zunächst auf eine weitere aristote­ lische Frage nach den drei möglichen Fassungen der Einheits-Struk­ tur ein: Paronymie, pros-hen-Relation und Analogie. Die Priorität der pros-hen-Relation und der Analogie werde ich aufgrund der ontologisch-semantischen Analyse der Beziehungen zwischen der ersten Kategorie und den übrigen Kategorien und den vielfältigen Bedeutungen des Seienden, die in Bezug auf die Grundbedeutung gebündelt werden, zeigen. In Abschnitt 3.5 werde ich die semantische Rolle der Analogie durch die Analyse aller drei semantisch differenzierten und gleich­ zeitig zusammengehörigen Begriffe – univoca, aequivoca, analogia – erschließen. Für eine semantische Analyse der vorgefundenen Schwierigkeiten werden von Thomas drei Strategien ausgewählt, die sich auf die Distinktion »secundum esse« und »secundum intentionem« beziehen und die Überbrückbarkeit zwischen der Seinsebene und der begrifflichen Ebene gewährleisten. Mit der Erörterung dieser komplexen Probleme lässt sich der Ort der Analogie in den logischsemantischen Diskussionen im Vergleich mit dem der Univokation und Äquivokation genauer veranschaulichen. Kapitel 4. Das gesamte 4. Kapitel dieser Arbeit widmet sich der Bestimmung, ob und wie die prädikative Struktur auf ontologische Grundlagen der Wirklichkeit Bezug nimmt. Thomas’ Ausdruck »Vera est propositio«, den er als Kandidat für die Rolle des Wahrheitsträgers diskutiert, dient im Rahmen dieser Abhandlung als sein Standpunkt sowohl für seine Prädikationstheorie als auch für sein Verständnis der Wahrheit als Eigenschaft von Aussagesätzen. Das Grundinteresse des Abschnitts 4.1 liegt im Begriff der propo­ sitio und in dessen Struktur. Wenn der Subjektterm und der Prädikat­ term für dasselbe supponieren, stellt sich die Frage nach der Wahrheit

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1.4 Fragestellung

der Aussage. Bei Thomas geht es indessen auch darum, dass Subjekt und Prädikat Verschiedenes bezeichnen. Der ontologische und der logische Bereich sind folglich zu unterscheiden. Mit der analogen Prädikation nimmt Thomas nicht nur die Frage nach der Zusammen­ setzung des Subjekts und des Prädikats in ihrer sprachlichen Einheit, welche die Form »S ist P« aufweist, auf, sondern diskutiert auch die Prädikationsrelationen, Seinsrelationen und ihre Verhältnisse. Abschnitt 4.2 bildet den ersten Schritt für die Erörterung der Ansicht, ob die infrage stehenden Seins- und Prädikationsstrukturen identisch seien. In diesem Abschnitt nehme ich die Frage nach der Ausdrucksweise des Seins durch die Struktur der prädikativen Aus­ sage auf. Das Problem der (Un-)Überbrückbarkeit der Metaphysik und der Sprachlogik geht auf die kategoriale Einteilung aller Entitäten und ihre aussagelogische Wiedergabe bei Aristoteles zurück, die für die Prädikationstheorie des Thomas grundlegend ist. Die IsomorphieFrage gewinnt hier die Form, auf welche Weise man die Metaphysik des modus essendi und die aussagenlogische Begrifflichkeit (modus intelligendi) in ihrer Verbindung zu denken hat. Wenn der modus praedicandi nicht in einer identischen Zuordnungsbeziehung zum modus essendi steht, bleibt die Frage nach der Überbrückbarkeit zwischen Prädikations- und Seinsweisen, zwischen Sprachlogik und Metaphysik letzlich ungelöst. Der Abschnitt 4.3 bietet den zweiten Schritt bei der Erörterung des Verhältnisses zwischen ordo essendi und ordo praedicandi als Begründung der Möglichkeit der Prädikation überhaupt und der ana­ logen Prädikation insbesondere. In diesem Abschnitt werde ich paral­ lel zu einigen terminologischen Klärungen die Frage nach der Iso­ morphie (Proportionalität) zwischen Prädikations- und Seinsebene diskutieren. Die Beziehungen zwischen ordo essendi bzw. compositio realis auf der Seinsebene und ordo praedicandi bzw. compositio intel­ lectus auf der Prädikationsebene, die von vielen Scholastikern als identisch aufgefasst wurden, fasst Thomas kritisch auf. In diesem Kontext werden von ihm Grundlagen dafür gelegt, die Übereinkunft von Wirklichkeit und logischer Form der prädikativen Aussage mittels der Analogie zu ermöglichen. In Abschnitt 4.4 geht es um die Affirmation und Negation der Aussagen und der Beziehungen der beiden zur Analogie. Mehrere problematische Aspekte der Affirmation und Negation werde ich aus­ führlich behandeln. Die Analyse bleibt jedoch an der Frage orientiert, ob affirmative Aussagen wahrheitsfähig sind.

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I. Einführung

Zwei Hauptthesen, anhand derer man das Problem der affirma­ tiven und negativen Prädikation erörtern muss, sind bei Thomas die folgenden: Die erste These lautet »Vera est propositio«. Die zweite These lautet »Veritas et falsitas in propositione [est]«. Hier stellt sich die Frage: Wenn die Tatsachen durch den affirmierenden und negierenden Verstand konstituiert werden, kann die Wahrheit dann aus logischen Gründen erworben werden? Wenn man das Wahre und Falsche nicht primär in Dingen, sondern als Gedachtes im Verstand auffasst, sollte dieses Kriterium dann nicht nur für die de subiecto- und in subiectoPrädikation, sondern auch in Bezug auf die Prädikation Gottes als Grundlage dienen? Diese Prädikationsarten beinhalten zwei verschie­ dene Logiken der Prädikation – die der Extensionalität (praedicatio in quid) und die der Intensionalität (praedicatio in quale). Auch wenn sowohl Extensionalität als auch Intensionalität wesentliche Aspekte affirmativer und negativer Aussagen darstellen, insofern nach der Referenz und Prädikation und nach dem zweifachen Seinsverständnis – dem Sein als natürlichem und dem Sein als gedachtem Sein – gefragt wird, folgt Thomas der intensionalistischen Prädikation, die seiner Auffassung vom Hylemorphismus und Universalienrealismus entspricht. Somit erfolgt der Übergang zur intensionalistischen und zwar mittels der Analogie entwickelten Prädikationslogik. Die Inten­ sionalitätsprobleme werden auf sprachanalytischer Ebene mittels der scholastischen, formalen Logik und mithilfe aussagenlogischer Argumente behandelt. In den Abschnitten 4.5 und 4.6 werde ich Thomas’ argumenta­ tive Gründe für die Ablehnung der affirmativen Aussagen bestimmen und diskutieren, was es bei ihm heißt, das Sein per negationem zu denken. Die Behandlung dieser logisch-semantischen Probleme wird zeigen, ob und inwiefern die Negation in der Analogie begründet liegt. Ist mit der Erörterung der Negation ein Ausweg aus bestimmten epistemischen und semantischen Schwierigkeiten verbunden? Worin liegt der Wahrheitswert der affirmativen und der universell-negativen Aussagen? Die Verneinung affirmativer analoger Aussagen führt zu der Frage nach einer logischen Evidenz in negativen Aussagen: Geht es bei der logischen Evidenz der negativen Aussagen um die Distan­ zierung von den Vorstellungsbildern, die sich auf sinnliche Wahrneh­ mung beziehen? Inwiefern ist die prädikatenlogische Anwendung der negativen Aussagen für den sprachlichen Zugang zum Absolu­ ten geeignet?

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1.4 Fragestellung

In letzten Abschnitt 4.6 gehe ich von den vorangegangenen Erörterungen der analogen affirmativen und negativen Prädikation zum Begriff des Nichtseienden bei Thomas über. Ich werde der Frage nachgehen, was der Begriff des Nichtseienden bei Thomas leistet. Handelt es sich um das Nichtseiende im Sinne des leeren Namens bzw. der fehlenden Referenz oder gewinnt Thomas mit diesem Begriff ein Mittel für die Beschreibung der Unbestimmtheit Gottes? Jedoch bliebe dann die Frage offen, welche Verbindung dies mit dem Konzept der analogen Einheit hat.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

2.1 Epistemologische Problematik und Analogie Eine der Streitfragen innerhalb der scholastischen Philosophie und Theologie im 13. Jahrhundert betraf den anselmschen Gottesbeweis. Die Stellung der Scholastiker zum anselmschen Gottesbeweis war nicht eindeutig. Die Ablehnung des anselmschen Argumentes durch Thomas wird als Ablehnung eines ontologisch gedeuteten Arguments verstanden,95 das Gott als primum cognitum auffasst.96 Diese Tatsache ist für die Fragestellung dieser Arbeit in mehrfacher Hinsicht wichtig. 95 S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi opera omnia. Ed. F. S. Schmitt. Seskau; Rom; Edinburg, 1938–1961; (Nachdruck) Stuttgart-Bad Cannstatt, 1968. / Schmitt F. S., Der ontologische Gottesbeweis und Anselm. Analecta Anselmiana 3 (1972), S. 81– 94. / Anselm von Canterbury, Proslogion. F. S. Schmitt. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962. // Schönberger R., Anselm von Canterbury. München: Beck, 2004, S. 40– 104. // Schrimpf G., Anselm von Canterbury, Proslogion II-IV. Gottesbeweis oder Widerlegung des Toren? Unter Beifügung der Texte mit neuer Übersetzung. Frankfurt am Main: Knecht, 1994. // Mojsisch B., Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Cantrerbury und Gaunilo von Marmoutiers. Über­ setzt, erläutert und hrsg. von B. Mojsisch. Mit der Einleitung von K. Flasch. Mainz: Dieterich, 1989. // Lubac H. de, Sur le chapitre XIVe du Proslogion. In: Spicilegium Beccense I. Paris: Vrin, 1959, S. 295–312. // Allers R., Anselm von Canterbury. Leben, Lehre, Werke. Übersetzt, eingeleitet, erläutert von R. Allers. Wien: Hejgner, 1936. // Kolping A., Anselms Proslogion-Beweis der Existenz Gottes. Bonn: Univ. Diss., 1939. // Daniels Augustinus P., Geschichte der Gottesbeweise im dreizehnten Jahrhundert: mit besonderer Berücksichtung des Arguments im Proslogion des hl. Anselm. Münster: Aschendorff, 1905, S. 122 ff. // Meixner U., Der ontologische Got­ tesbeweis in der Perspektive der Analytischen Philosophie. Theologie und Philosophie 67 (1992), S. 246–262. // Rieger R., Contradictio. Theorien und Bewertungen des Widerspruchs in der Theologie des Mittelalters. Tübingen: Siebeck, 2005, S. 29–33. 96 Gott als das Ersterkannte der menschlichen Vernunft, das in jedem Erkannten ent­ halten ist, wird von Bonaventura vertreten. Vgl. Bonaventura, Itinerarium, cap.3, n.3. Zu dieser Frage siehe: Speer A., Verstandesmetaphysik. Bonaventura und Nicolaus Cusanus über die (Un)Möglichkeit des Wissens des Unendlichen. In: Pickavé M. (Hrsg.), Die Logik der Transzendentalien, S. 524–553.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Zum einen zeigt sich an Thomas’ Kritik der Interpretation des plato­ nisch geprägten Begriffs des primum cognitum bei Boethius,97 dass Boethius bei der Bestimmung des Ersterkannten zwischen ontologi­ scher und epistemologischer Ordnung nicht unterscheidet. Zweitens begegnet einem diese Kritik im entscheidenden Punkt der Epistemo­ logie des Thomas, nämlich dort, wo das erste Erkenntnisobjekt, das sinnlich wahrgenommen wird, das Singuläre ist. Jedoch erkennt der Intellekt nicht die Einzeldinge selbst, sondern den von ihnen abstra­ hierten Gehalt bzw. das Allgemeine. Also erkennt der Intellekt auf direkte Weise nur das Allgemeine, das Singuläre aber indirekt: »intel­ lectus agentis cognoscentur per species a sensibilibus abstractas«.98 Wie kann etwas auf direkte und indirekte Weise erkannt werden? Die Erkenntnis des Intellekts schließt bei Thomas ein Paradox ein: es muss einerseits ein Instrument der Analyse oder Methode vorliegen, die die obige Erkenntnisweise ermöglicht, andererseits ist aber nicht in allen Kontexten die Anwendung von Analogie zu finden, die als Instrument der Analyse der indirekten Erkenntnis angewandt werden sollte. Deshalb muss erstens die species intelligibilis-Theorie und der Abstraktionsprozess der Formen aus sinnlich wahrgenommener Gegenstände heraus gedeutet werden, da sich die Erkenntnis auf diese Formen (sowohl auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung als auch Expositio in libri Boetii De Hebdomadibus. Lat.-dt. Übersetzt und eingeleitet von P. Reder. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2009, De Hebd. I, 4, 1: »Quamvis enim secundum naturalem ordinem cognoscendi Deus sit primum cognitum, tamen quo ad nos prius sunt cogniti effectus sensible eius.« Thomas wendet sich gegen Boethius, der das primum cognitum als das erfasst, das der Erkenntnisordnung nach das Erste ist. Der Hebdomadibus-Text behandelt nicht alle hier relevanten Fragen in der benö­ tigten Präzision. So ist auch das Thema der Analogie in der Frage nach der Erkennt­ nisordnung und des primum cognitum nur implizit vorhanden. S.Th.I, q.84, a.3; q.94, a.2. / In Sent.I, d.3, q.1, a.2; a.4. / In De Trin. prol., q.1, a.1. Zu dieser Diskussion LutzBachmann M., Die Einteilung der Wissenschaften bei Thomas von Aquin. Ein Beitrag zur Rekonstruktion der Epistemologie in Question 5, Artikel 1 des »Kommentars« von Thomas zum Trinitätstraktat des Boethius. In: Berndt R. (Hrsg.), »Scientia« und »Disci­ plina«: Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis in 12. und 13. Jahrhundert. Berlin: Akad. Verlag, 2002, S. 235–247. // Chenu M.-D., Das Werk des hl. Thomas von Aquin. Übersetzung, Verzeichnisse, Ergänzung der Arbeitshinweise von O. M. Pesch. Heidelberg [u.a.]: Styria, 1960. // Flasch K., Das philosophische Denken im Mittel­ alter: von Augustinus bis Machiavelli. Stuttgart: Reclam, 1987, S. 244–362. // McIn­ erny R., Boethius and Thomas Aquinas. Washington: Catholic University of America Press, 1990. // Stump E., Kretzmann N., Being and Goodness. In: Mac Donald S. C. (Ed.), Being and Goodness. Ithaca: Cornell Univ. Press, 1991, S. 98–128. 98 De Verit., q.11, a.1. 97

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2.1 Epistemologische Problematik und Analogie

des Intellekts) richtet. Zweitens kommt gemäß der Arbeitshypothese der Analogie eben dadurch eine besondere Rolle zu, weil sie sowohl auf der Ebene des Seins als auch auf der Ebene der Sprache wirkt. Sie wirkt nämlich dort, wo der Sprache das objektive Sein durch den Zusammenhang zwischen Struktur der Sprache, Struktur des Denkens und Struktur der Wirklichkeit zugesprochen wird. Was bedeutet das Modell der indirekten Erkenntnis? Wie ist also indirekte Erkenntnis möglich? Wenn die sprachlichen Zeichen (Wörter, Aussa­ gen) die Dinge der Wirklichkeit auf die Weise repräsentieren, wie der Verstand sie erkannt hat, gilt es dann zu bestimmen, was nun vom Verstand erkannt wird? Das, was der Verstand erkannt hat, ist die erkannte Wirklichkeit, die begrifflich als »conceptio intellectus« gefasst wird.99 Die Begriffe »conceptio« und »species intelligibilis« weisen demzufolge auf die indirekte abstraktive Erkenntnis der extra­ mentalen Einzeldinge durch die Form (quiditas rei sensibilis) hin. In Thomas’ erkenntnistheoretischem Projekt sind die Fragen nach dem Vernunftvermögen und Erkenntnisgegenstand (oder dessen, was erkannt wird)100 nach der Form (oder dessen, wodurch erkannt wird) und nach höheren Prinzipien (oder dessen, wodurch die Rede um das zuletzt Erkannte, nämlich Gott, ermöglicht wird) auf das engste miteinander verknüpft.101 Der Weg der Erkenntnis beginnt im Intellekt (intellectus agens und possibilis) und seinem Gegenstand (sensibilia und intelligibi­ lia) zugleich. Thomas zieht neben dem Begriff der Analogie wei­ tere Begriffe wie »Wissen«, »Einzelnes«, »Allgemeines«, »Spezies«, »Repräsentation«, »Form«, »Materie«, »Transzendentalien«, »Intel­ ligibilien«, »Abstraktion« und »Assimilation« heran. Da das Erken­ nen bei Thomas generell als Assimilation (Angleichung an etwas Ähnliches) gedeutet werden muss,102 hat die Analogie zu erklären, ob und wie zwischen dem Verstand und dem extramentalen Gegen­ S.Th.I, q.79, a.8. Mit einem Ding (oder Gegenstand) wird eine Entität gemeint, die in der Wirklich­ keit existiert und durch einen singulären Ausdruck bezeichnet wird. 101 Siehe dazu auch: Goris W., Absolute Beginners. Der mittelalterliche Beitrag zu einem Ausgang vom Unbedingten. Leiden; Boston: Brill, 2007, S. 10 f. Die Grundlage einer derartigen Zugangsweise liegt also, so auch Goris, in der Position von Thomas, dass Gott »nicht das Ersterkannte, sondern dasjenige ist, was zuletzt erkannt werde«. Goris bezeichnet eine solche Position als die »Wende zum Objekt«. 102 De Verit., q.8, a.5: »Dicendum, quod omnis cognito est per assimilationem cognoscentis ad cognitum.« / In Sent.I., d.34, q.3, a.1ad4. 99

100

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

stand die Assimilation entsteht. Für das Verständnis der Assimila­ tion ist wichtig, dass die species intelligibiles aus Vorstellungsbildern (phantasmata), die in der sinnlichen Wahrnehmung vorhanden sind, abstrahiert werden. Da die species intelligibilis die mentale Form ist, wodurch die abstraktive Erkenntnis ausgeführt wird, bezieht sich die Abstraktion direkt auf die Analogie, deren Rolle sich gerade daraus ergibt, dass Assimilation, Abstraktionstätigkeit und Repräsentation die epistemischen Voraussetzungen des Erkennens bilden. Diese Bedingung der Erkenntnis ist vor der Folie der paradoxen Thesen von Thomas zu sehen, dass das primum cognitum nicht Gott ist und dass der Mensch sich selbst zur Erkenntnis und zum Erwerb des Wissens bestimmt.103 Hat nun die thomanische Erkenntnisorientierung eine moderne empirische Ausrichtung? Diese Frage ist nicht ohne Grund gestellt worden, da Begriffe nach Thomas erst aufgrund der sinnlichen Wahr­ nehmung gebildet werden. Diese epistemische Entscheidung kann aber zu großen Schwierigkeiten führen. Denn der moderne Empiris­ mus richtet sich bekanntlich »gegen die Möglichkeit einer metaphysi­ schen Erkenntnis«.104 Wenn man behauptet, dass es hier eine Gegen­ überstellung von Empirismus und Metaphysik vorliegt, wäre damit allerdings noch nichts gesagt, da die Hervorhebung der Wahrneh­ mung der extramentalen sensiblen Gegenstände auch so verstanden werden kann, dass die Metaphysik bei Thomas »empirisch« orientiert ist.105 Diesem Verständnis vom thomanischen Empirismus ist jedoch C.G.II, 76. Vgl. Stegmüller W., Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Stuttgart: Kröner, (6) 1976, S. XLVII. 105 Die dinghaften Züge der Erkenntnistheorie (wie in den weiteren Erörterungen zu sehen sein wird) und Thomas’ Auffassung vom Intellekt haben den Anlass dazu gege­ ben, ihn der »aposteriorischen Richtung« zuzuordnen. Darin besteht auch die gegen Thomas gerichtete Kritik zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Die Bezogenheit der Ver­ nunftfähigkeiten auf das Erkenntnisobjekt, das das sinnlich wahrgenommene Singu­ läre ist, könnte man in der Tat als epistemische Rechtfertigung der empiristischen Einstellung bezeichnen. Dies bildet jedoch nur einen Aspekt der Erkenntnistheorie von Thomas. Der andere Aspekt bezieht die Ursache der Seienden und Seinsprinzipien ein. Zu dieser Frage siehe: Theodoricus de Vribergh, Tractatus de accidentibus. Lat.dt., übers. von B. Mojsisch. Mit Einleitung von K.-H. Kandler. Hamburg: Meiner, 1994, cap.1, 8–9. / De visione beatifica. Hrsg. von B. Mojsisch. Opera omnia I. Ham­ burg: Meiner, 1977, 1, 1, 5. Die Positionen von Thomas und Dietrich werden von K. Flasch behandelt: Flasch K., Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturfor­ schung um 1300. Frankfurt am Main: Klostermann, 2007. Die Bezeichnungen »apos­ teriorische Wissenschaften« und »aposterioriche Richtung« findet man bei Bochenski. 103

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2.1 Epistemologische Problematik und Analogie

mit dem folgendem Hinweis zu begegnen. Eine empirisch orientierte Philosophie kann mit dem Gedanken von Burge vorgestellt werden: Wenn die Meinungen auf keine epistemisch gerechtfertigten Gründe (Prinzipien, Ursachen) zurückgeführt werden, führen sie wirklich zur Annahme des Empirismus.106 Die gewöhnliche Annahme des Empirismus ist, dass Einzelempfindungen, Sinneseindrücke, Beob­ achtungen und aus sinnlicher Wahrnehmung gewonnene Vorstel­ lungsbilder für die epistemische Rechtfertigung der Meinungen genü­ gen. Das Entscheidende, das gegen diese Meinungen, die »durch sich selber gerechtfertigt sind«107, vorgebracht werden kann, liegt in der Annahme der Gründe oder der Prinzipien. Für eine detaillierte Behandlung dieser Fragen, die ich in weiteren Abschnitten diskutieren werde, seien hierin Kürze drei Argumente Thomas’ vorzuführen.108 Das erste Argument ist dasjenige des Ersterkannten: Das pri­ mum cognitum ist nicht Gott.109 Diese paradoxe Einsicht, dass sich Siehe Bochenski J. M., O analogii. Logika i filozofia. Red. J. Parys. Warszawa: PWN, 1993. // Gumann M., Vom Ursprung der Erkenntnis des Menschen bei Thomas von Aquin. Konsequenzen für das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Regensburg: Pustet, 1999, S. 85. 106 Vgl. Burge T., Cartesian Error and the Objectivity of Perception. In: Pettit P., McDowell J. (Eds.), Subject, Thought and Context. Oxford: Clarendon Press, 1986, S. 131. 107 Zur Debatte über die Frage nach der epistemischen Rechtfertigung der Meinungen im modernen Empirismus sagt Bieri, dass die charakteristischen Merkmale des fun­ damentalistischen Empirismus die Meinungen sind, »die durch Wahrnehmung, Erin­ nerung oder Introspektion entstehen«. Dies verweist auf weitere Interpretationsmög­ lichkeit, wie, dass empiristische Meinungen »durch sich selber gerechtfertigt sind und ein Wissen darstellen, das auf keine anderen Meinungen angewiesen ist«. Vgl. Bieri P., Einleitung. In: Analytische Philosophie der Erkenntnis. Hrsg. von P. Bieri. Frankfurt am Main: Hainnäum, (2), 1992, S. 180. 108 Bei diesen Fragen muss man auf die Argumentationen des Aristoteles zurückbli­ cken, die er in der zweiten Analytik vorgebracht hat. Vgl. 2. Analytica I, 4, 73b25– 33. // Lloyd A. C., Necessity and Essence in the Posterior Analytics. In: Berti E. (Hg.), Aristotle on Science. The Posterior Analytics. Padova: Ed. Antenore, 1981, S. 157– 171. // Barnes J., Aristotle’s Posterior Analytics. Oxford: Clarendon Press, 1984. 109 De Verit., q.1, a.1: »Illud autem quod primo intellectus concipit et in quod con­ ceptiones omnes resolvit, est ens.« Für die Einsicht in die neuesten Debatten um das epistemologisch Erste bei Thomas ist die Interpretation von Honnefelder und die Kri­ tik dieser Interpretation von Aertsen grundlegend, der hier nicht im Detail nachge­ gangen werden kann. Kurzum: Honnefelders Auffassung, dass bei Thomas Gott der Erste im Erkenntnisprozess ist, ist falsch, wie auch aus der weiteren Analyse klar her­ vorgehen wird. Dass auch die ersten Thomas-Kritiker wie Scotus gegen die quiditas eines materiellen Gegenstandes als des ersten Objekts des Intellekts bei Thomas Ein­ spruch erheben, verweist auf die eigentliche Auffassung von Thomas. Vgl. Honnefel­

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

also die menschliche Vernunft beim Erkennen nicht direkt auf Gott bezieht, macht die epistemische Grundposition des Thomas aus. Wenn man vergegenwärtigt, dass die herrschende Auffassung im 13. Jahrhundert, auch die von Thomas, diejenige ist, dass Theologie und Philosophie zu verschiedenen Arten des Wissens gehören,110 klingt eine derartige Behauptung nicht mehr so paradox. Denn die Wahrheit, die mit der Transzendenz eine unmittelbare Verbindung eingeht und sie direkt erfahren lässt, ist letzlich Offenbarung, die nicht mit dem vom Verstand erworbenen Wissen (Bereich der Philosophie) erreichbar ist. Die Offenbarung ist nach Thomas auf den Glauben gegründet, aber das wahre epistemische Wissen liegt im Vernunft­ vermögen (begründet). Die Philosophen stellen »die Ordnung der natürlichen Erkenntnis, die Wissenschaft von den Geschöpfen dem Wissen von Gott voran«, die Theologen aber gehen »in umgekehrter Ordnung vor«.111 Dass die menschliche Vernunft Gott erkennen könnte, verneint Thomas als Philosoph. Thomas’ Unterscheidung zwischen der Philosophie und der Theologie lässt ihn die Bereiche der philosophischen Wissenschaften begründen.112 der L., Metaphysik und Transzendenz. Überlegungen zu Johannes Duns Scotus im Blick auf Thomas von Aquin und Anselm von Canterbury. In: Honnefelder L., Schüs­ sler W. (Eds.), Transzendenz. Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik. Pader­ born [u.a.]: Schöningh, 1992, S. 137–161. // Aertsen J. A., Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas. (=Studien und Texte zur Geistes­ geschichte des Mittelalters 52.) Leiden [u.a.]: Brill, 1996, S. 432–434. 110 Die Frage nach dem Unterschied zwischen Philosophie und Theologie im Mittel­ alter und im neuzeitlichen Denken wird immer wieder diskutiert. Ich werde im Fol­ genden die Auffassung von Thomas berücksichtigen, dass Glaube und Wissen zu unterscheiden, jedoch nicht einander entgegenzusetzen sei. Siehe Krieger G. (Hrsg.), Herausforderung durch Religion? Begegnungen der Philosophie mit Religionen in Mittelalter und Renaissance. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011. // Guman M., Vom Ursprung der Erkenntnis des Menschen bei Thomas von Aquin, S. 210 ff. // Fischer N., Die philosophische Frage nach Gott: ein Gang durch ihre Stationen. Pader­ born: Bonifatius-Dr., -Buch, -Verl., 1995, S. 188 ff. // Rahner K., Zum heutigen Ver­ hältnis von Philosophie und Theologie. In: Schriften zur Theologie. Bd. 9. Zürich; Einsiedeln; Köln: Benziger, 1972, S. 70–89. 111 Thomas von Aquin, Super Boethium De trinitate, Prologus (Opera Omnia 50). Ed. Leonina. Rom, 1992: »Philosophi enim, qui naturalis cognitionis ordinum sequntur, preordinat scientiam de creaturis scientie divine, scilicet naturalem metaphisice, sed apud theologos proceditur econuerso, ut creatoris consideratio consideratione preueniat creature.« 112 S.Th.I, q.1, a.1; a.2. Thomas vertritt die Ansicht, dass die philosophischen Wis­ senschaften (in philosophicis disciplinis) alle Bereiche des Seienden und auch Gott behandeln. So ist die Erkenntnis als philosophische Wissenschaft (die im Bereich der

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2.1 Epistemologische Problematik und Analogie

Das zweite Argument bezieht die Abgrenzung von Metaphysik und Logik bzw. deren Zusammenhang ein. Zum einen befasst sich die von Thomas rezipierte aristotelische Metaphysik (= prima philo­ sophia) mit dem Seienden als Seienden. Das heißt: Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften, die ihren jeweiligen Gegenstand als einen Teilbereich des Seienden untersuchen, behandelt die prima phi­ losophia die Ursache ihres Gegenstandes und fragt somit nach einer allgemeinen Ursache. Metaphysik abstrahiert von Besonderheiten der konkreten Seienden und hat die Aufgabe, die allgemeine Struktur des Seienden zu beschreiben. Universalität und Abstraktheit werden mithilfe der für die Erkenntnistheorie grundlegenden Begriffe, die bereits genannt wurden, gedeutet. Die Behandlung dieser Begriffe reicht bis zu Ansätzen der metaphysischen Grundlegungen der Epis­ temologie (2.2.1, 2.1.2 und 2.2) und der Semantik (Kapitel 3). Das dritte Argument besteht darin, dass die Frage nach der Erkenntnis der materiellen und immateriellen Substanzen (als Gegenstand des Intellekts) und ihrem Zusammenhang zu erörtern ist, selbst wenn der Verstand die immateriellen Substanzen auf eine andere Weise als die materiellen Substanzen erkennt. Der Verstand gelangt von materiellen Substanzen zu den immateriellen weder mittels der Abstraktion noch erkennt er die immateriellen Substanzen direkt. Hier tritt ein Gegensatz zwischen den Substanzen klar zutage. Wie lässt sich dieser Gegensatz auflösen? Aus Thomas’ Untersuchun­ gen der Substanz resultiert, dass der Intellekt die Grenze zwischen beiden Substanzen mithilfe der Analogie überschreiten kann. Als Wegbereiter gelten die aristotelische Metaphysik, die Epistemologie und die Semantik, die die Vieldeutigkeit der realen Seienden, die immer in Bezug auf Eines ausgesagt werden, untersuchen. Mithin wird nach der ersten Substanz gefragt, worauf alles Seiende bezo­ menschlichen Vernunft verankert ist) ein aktiver Prozess des Reflektierens von Sein, der einen engen Zusammenhang mit theoretischen Aspekten der sinnlichen Wahr­ nehmung eingeht. Der Ausdruck praeter philosophicas disciplinas bezeichnet aber den Bereich der Theologie (theologia), also den Bereich, der über die menschliche Vernunft hinausgeht und ad sacram doctrinam gehört. Diese Auffassung hat Thomas wahr­ scheinlich in der Artistenfakultät gewonnen, als dort Boethius von Dacien lehrte. Zur gegenwärtigen Diskussion des Verhältnisses der mittelalterlichen Philosophie und Theologie siehe: Aertsen J. A., Mittelalterliche Philosophie: ein unmögliches Projekt? Zur Wende des Philosophieverständnis im 13. Jahrhundert. In: Aertsen J. A., Speer A. (Hrsg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert, S. 12–28. // Salman D., Sur la lutte contra Gentiles de S. Thomas. Divus Thomas (Piacenza) 40 (1937), S. 495–508.// Chenu M.-D., Das Werk des hl. Thomas von Aquin.

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gen werden kann.113 Hat Thomas die aristotelische, metaphysischepistemische Zielbestimmung – die Gewissheit des Wissens, das durch die philosophischen Wissenschaften erreicht wird – und die Rede von Gott (bzw. metaphysische Wahrheit) mithilfe der Analogie erreicht?114 Wenn ja, stellt sich eine weitere Frage: Verlangt Analogie, dass Gott die erste einfache Substanz ist und sich alles Seiende auf Eines bezieht? Thomas allerdings betrachtet Gott nicht als Substanz, auch nicht als die erste einfache Substanz.115 Die Erkenntnis wird als Erkenntnis der Wirkungen Gottes aufgefasst. Die zu erreichende Identität des Seins, die im Zentrum jeder Erkenntnis und jedes Wissens steht, stößt auf die Differenz im Sein bzw. die Differenz vom Seienden. Daher bietet Analogie den Erkenntnisweg, der von der erkannten Form sinnlicher Gegenstände zur Erkenntnis des absoluten Seins Gottes fortschreitet. Dies bedeutet, dass das mögliche Wissen analoges Wissen ist. Damit liegt das Problem klar zutage: analoges Wissen vom Sein des endlichen Wesens kann nicht das Sein schlecht­ hin begrifflich eindeutig darstellen. Da die endlichen Seienden, nicht aber das absolute Sein, das primum cognitum für den Intellekt sind (was mit dem ersten Argument angedeutet wurde), muss man den kompliziertesten Weg – sowohl vom ontologischen als auch epistemi­ schen Gesichtpunkt her – einschlagen. Wenn die Einheit als eine alles Met.Δ6, 1016b19–31; Met.Γ2, 1003a33; Met.Z1, 1028a10–20. Zur Frage nach der Rolle der Analogie für die Gewissheit des Wissens bei Par­ menides, Aristoteles und Thomas vgl. Steenberghen F. von, Erkenntnislehre. Übers. von A. Guggenberger. Einsiedeln; Zürich; Köln: Benzinger, 1950, S. 76. // Siehe: Parmenides. Die Anfänge der Ontologie, Logik und Naturphilosophie. Hrsg. von E. Heitsch. München: Heimeran, 1974. // Allan D. J., Aristotle and the Parmenides. In: Düring I., Owen G. E. L. (Hrsg.), Aristotle and Plato in the Mid-fourth Century. Göteborg: Allmquist & Wiksell, 1960. // Inciarte F., Forma formarum. // Schmitz H., Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides zu Demokrit. Bonn: Bouvier, 1988. // Popper K. R., The World of Parmenides. Essays on the Presocratic Enlighten­ ment. London; New York: Routledge, 1998. // Trettin K., Aristoteles und aristotelische Substanzen. In: Trettin K. (Hrsg.), Substanz: Neue Überlegungen zu einer klassischen Theorie des Seienden. Frankfurt am Main: Klostermann, 2005. 115 Gott ist nach Thomas’ frühen Auffassungen die erste einfache Substanz (substantia prima simplex) (De ente et essentia, IV; V). Das Sein kommt allen Dingen zu, es muss aber eine transzendente Ursache für das Sein alles Seienden geben. Diese Ursache ist Gott. Diese Auffassung geht auf Aristoteles zurück. Die »erste Substanz« (prote ousia) ist Träger anderer Eigenschaften, die durch Kategorien erfasst werden. Thomas hat diese Einsicht in späteren Schriften revidiert und gelangte zu der Erkenntnis, dass Gott keine Substanz ist. Wäre Gott Substanz, so würde mit der »Substanz« eine oberste Gattung in diesem Sinne bezeichnet. 113

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2.1 Epistemologische Problematik und Analogie

umfassende analogische Struktur des Seins erfasst wird und wenn der Erkenntnisgegenstand durch Wahrnehmung des zusammenge­ setzten Einzelnen und durch die Abstraktion aus dem Besonderen erlangtes Allgemeines ist (da das Wissen als Wissen nur als eines von Allgemeinen möglich ist), ist zu fragen, von welcher Art Einheit im konkreten Kontext die Rede ist? Diesen Erkenntnisschritt von Thomas sieht van Steenberghen dadurch charakterisiert, dass Thomas nicht streng »zwischen begrifflicher Ordnung und realer Ordnung unterscheidet«.116 Meine Annahme lautet, dass sich Thomas dieser Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen secundum rem (sachli­ che)/ordo essendi und secundum intentionem (begriffliche)/ordo intel­ ligendi durchaus bewusst war. Als Beleg dient die Argumentation, die sowohl die Differenz als auch die Möglichkeit der Verbindung zwischen geschaffenen Dingen und den diesen Dingen entnommenen Benennungen (mithilfe der Analogie) bestimmt. Die Prinzipien des Seins und des Erkennens eines Dinges, so Thomas, gehen einen engen Zusammenhang ein.117 Wie genau Thomas diesen Zusammenhang von Seins- und Denkprinzipien denkt und weshalb die Analogie diese Verbindung ermöglicht, wird im Weiteren zu diskutieren sein. Es stellt sich zudem die Frage, auf welche Weise er die Gründe der Erkenntnis (Prinzipien, Ursachen) herausarbeitet, um das Konkrete und Allgemeine, die Form und Materie, Körper und Seele, Vielheit und Einheit, Teil und Ganzes, göttlichen Intellekt und menschliches Wissen in epistemischer Hinsicht zu erörtern? Seine Ausgangsposition ist, dass es konkrete vom Erkennenden unabhängige Einzeldinge gibt, die von unserem Intellekt erkannt und als geistiges (oder intentionales) Sein dieser Dinge repräsentiert und benannt werden. Diese Auffassung, die als externer Realismus bezeichnet wird, und die ich unter das Sprache-Wirklichkeit-Problem subsumiere, bezieht sich direkt auf die Analogie. Das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit wird bei Thomas, wie bei Aris­ toteles, als die Frage behandelt, in welchem Maße die von sprachli­ chen Ausdrücken bezeichneten Zustände der Seele Abbildungen von extramentalen Gegebenheiten sind.118 Hier handelt es sich um die Konventionalität der sprachlichen Ausdrücke, die besagt, dass die res Vgl. Steenberghen F. von, Erkenntnislehre, S. 80. De Verit., q.2, a.9, a.11; q.3, a.7: »Eadem sunt »principia essendi rem et cognos­ cendi ipsam«.« 118 Peri herm. 1, 16a5–10. // Zum Kommentar des Textes siehe: Peri hermeneias. Übers. und erläutert von H. Weidemann. Berlin: Akademie Verlag, 1994, 139 f. // 116 117

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

bei Thomas nicht direkt durch die Vermittlung der Begriffe zugänglich sind, sondern dass es vielmehr um zwei Relationen geht: der Relation zwischen dem Wort und dem Begriff (Bedeutungsrelation) und der Relation zwischen dem Begriff und der Sache. Damit stellt sich die Frage nach dem tätigen Intellekt im Erkenntnis- bzw. Abstraktions­ prozess, die ich im Folgenden behandeln werde.

2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis Jede Wissenschaft, auch die Philosophie, zielt nach Thomas auf das Wissen vom Seienden. Die wichtigste epistemologische Frage nach der Gewissheit des Wissens, ist die Frage nach dem Intellekt: Hängt das sichere Wissen von den Vernunftfähigkeiten, die in unserer Seele vorliegen, oder von einer externen Autorität bzw. dem universellen Gesetz ab? Inwiefern kann der Intellekt singularia und universalia abstracta erkennen? Was bestätigt, dass der Intellekt das Singuläre (in)direkt erkannt hat? Diese Grundfragen der traditionellen Episte­ mologie beschäftigen auch Thomas. Zuvor habe ich herausgestellt, dass es bei Thomas um die indirekte Erkenntnis geht.119 Dass bei Vgl. auch Fuchs M., Zeichen und Wissen. Das Verhältnis der Zeichentheorie zur Theorie des Wissens und der Wissenschaften im dreizehnten Jahrhundert. Münster: Aschendorff, 1999, S. 21–31. 119 Neben den Einsichten von Thomas gibt es in der scholastischen Philosophie noch andere Zugangsweisen zu dieser Frage. Diese schließen die Analogie aus. Das Allge­ meine existiert nach Scotus nicht im Einzelnen. Es kann also »nicht eine Weise des erkannten Dinges, sondern der Erkenntnis« sein (Gilson). Vgl. Gilson E., Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken einer Lehre. Düsseldorf: Schwann, 1959, S. 468. // Johannes Duns Scotus, Op. Ox., II, d.3, q.8, n.1–7. Die bekannteste ist die nominalistische Theorie der direkten Erkenntnis des Einzelnen von Ockham, dergemäß das Allgemeine (universale) überhaupt weder in den Dingen noch res extra ist, sondern den Erkenntnisakt selbst (cognitio communis confusa) ausmacht. Dasje­ nige, das der Intellekt direkt erkennt, ist das Einzelding. Nichts, also keine Substanz, ist universell, ausgenommen der konventionellen Zeichen bzw. Signifikate, die meh­ rere Gegenstände bezeichnen. Wilhelm von Ockham, OPhI, Summa logicae I, cap.14; 15, 10–11: »Nulla igitur substantia singularis est aliquod universale, sed omnis sub­ stantia est una numero et singularis […].« (S. 50.) Die Auffassung, dass der Intellekt, der selbst über eine allgemeine Natur verfügt, das Allgemeine und nicht das Einzelne erkennt, vertritt Dietrich von Freiberg. Vgl. Dietrich von Freiberg (Theodoricus de Vribergh), Tractatus de visione beatifica. Lat.-dt. Übers. und hrsg. von B. Mojsisch. Tbilisi: Meridiani, 2003. Die Theorie, dass die Verstandes-Erkenntnis von allgemei­

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

dieser Position epistemische Schwierigkeiten aufkommen müssen, kann leicht eingesehen werden.120 Zur Begründung der notwendigen Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis im Allgemeinen und des Wissens von singularia et universalia abstracta im Besonderen, arbei­ tet Thomas seine Lehre von dem Vernunft- bzw. Erkenntnisvermö­ gen (potentia cognoscendi) heraus. Die Analogie wird dabei herange­ zogen. Wichtig wird es dann zu klären, was genau unter dem Erkenntnisvermögen bei Thomas zu verstehen ist, wie dieses Vermö­ gen funktioniert, ob es von einer externen Autorität bzw. Substanz (un)abhängig ist und was also unter dem actus inteligendi zu verste­ hen ist.

2.2.1 Was ist der actus inttelligendi Im actus intelligendi macht der menschliche Intellekt folgende Vor­ gänge durch: Die Erkenntnis des zusammengesetzten Einzelnen beginnt als indirekte Erkenntnis, das heißt sie schreitet den Weg der Wahrnehmung zur Abstraktion (per abstractionem a phantasma­ tibus). Die Grundlage der Abstraktion bilden das den extramentalen zusammengesetzten Gegenständen intrinsische Wesen, das in der Form der intelligiblen Erkenntnisbilder (species intelligibiles) wahrge­ nommen wird. Die Relation zwischen dem menschlichen Intellekt nen Begriffen und nicht von dem Einzelnen ihren Ausgang nimmt und dass diese Begriffe zur Erkenntnis der göttlichen Seinsweise führen, vertritt etwa Albertus Magnus. Albertus Magnus, Opera Omnia, De unitate intellectus. T. XXIX. (Ed. Colo­ niensis) Ed. A. Hufnagel. Münster: Aschendorf, 1975, Pars III, § 1, S. 21–23. Zur Frage Boler J. F., Charles Peirce and Scholastic realism: a Study of Peirces Relation to John Duns Scotus. Seattle: Univ. of Washington Pr., 1963. 120 S.Th.I, q.86, a.1. Das Konzept der indirekten Erkenntnis des Thomas wurde von den Franziskanern in »Correctorium Fratris Thomae« scharf kritisiert. Unser Verstand erkennt, nach Thomas, mithilfe der aus der Materie abstrahierten Artform (intellectus intellegit abstrahendo speciem intelligibilem) und diese ist das Allgemeine (universale) schlechtin. Wenn der Verstand die Artformen abstrahiert, erkennt er Einzeldinge in Wirklichkeit durch die Reflexion (per reflexionem), ohne den Phantasiebildern zu verfallen. Der Ausgangspunkt der franziskanischen Kritik liegt darin, dass der Verstand das Allgemeine durch die Artform (universale per speciem intelligibilem) erkennt und nur auf einem Umweg auch die Einzeldinge erkennt. So wird der Abstraktionsprozess bestritten. Zur Frage Glorieux P., Les Premières Polemiques Thomistes. Le ›Correctorium Corruptorii Quare‹. Ed. critique par P. Glorieux. Kain: Le Saulchoir, 1927.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

und dem Erkenntnisgegenstand (obiectum cognoscendi) steht im Vordergrund. Der Erkenntnisgegenstand bzw. das Einzelne (singu­ lare) eines Intellekts ist auf der Ebene der Wahrnehmung gegeben und das Allgemeine (universale) auf der Ebene der Abstraktion zu erfassen. Die Bedeutsamkeit dieser epistemischen Relation besteht darin, dass der Intellekt imstande ist, seinen Gegenstand indirekt zu erkennen, was aber voraussetzt, dass das Verstandesvermögen dem Erkennbaren analog (oder proportioniert) ist.121 Im ganzen actus intelligendi, in dem man mehrere Erkenntnisphasen und Ebenen unterscheiden kann, kristallisiert sich die Analogie im Sinne der Assimilation heraus. An den zwei folgenden Kennzeichen kann das Konzept des Intellektvermögens und der Assimilation bei Thomas von anderen epistemischen Erkenntniskonzepten unterschieden werden. Damit stellt sich zugleich der Schlüssel zum ganzen Erkenntnisakt heraus. Das erste wichtige Kennzeichen ist Thomas’ Ablehnung sowohl von der auf Averroes zurückgehenden Auffassung, dass der aktuelle Intel­ lekt in einer außerhalb des Erkennenden sich befindenden Substanz liegt122 als auch jedweder anderen Annahme der Existenz separater Substanzen oder Formen, etwa bei Neoplatonikern wie Proclus123 oder Plotinus (deren Nachfolger Dietrich von Freiberg auch ein Kritiker Thomas’ sein wird). Die Ablehnung der Existenz der separaten Sub­ stanzen wird bei Thomas damit begründet, dass diese Einsicht eine Distinktion im göttlichen Sein (distinctionem ponens in esse divino) impliziert und zum Polytheismus führt.124 Die Distanzierung von diesen Positionen stellt ihn vor die Aufgabe, das eigene Konzept S.Th.I, q.84, a.7: »[…] quia potentia cognoscitiva proportionatur cognoscibili.« Averroes, In De Anima III, comm. 5, 71–82, S. 389; 375–390, S. 400; 425–431, S. 401 f.; 575–583, S. 406 f.; comm. 18, 66–76, S. 439. / Aristoteles, De Anima III, 429a21–24; 429b5–23; 430a5–9. // Thomas von Aquin, De unitate intellectus contra Averroistas. Ed. H. F. Dondaine (Opera Omnia 43). Rom: Pont. Univ. Gregoriana, 1976. // De unitate intellectus contra Averroistas. In: McInerny R. M., Aquinas against the Averroists. Purdue Univ. Press, 1993. 123 Proclus, The Elements of Theology. A revised Text wich Translation, Introduction and Commentary by E. R. Dodds. Sec. Edition. Oxford: Clarendon Press, 1963, Prop. 9, S. 11; Prop. 16, S. 19; Prop. 45–49, S. 48–49. Im Jahr 1268 hat Thomas Wilhelm von Moerbeke kennengelernt und seine Übersetzungen, unter diesen auch Elemen­ tatio theologica des Proclus, zur Kenntnis genommen. Vgl. Weisheipl J. A., Thomas von Aquin. Sein leben und seine Theologie. Graz [u.a.]: Styria, 1980, S. 144, 218. 124 Thomas von Aquin, Super Librum de Causis Expositio. Ed. H. D. Saffrey. Fribourg: Société; Louvain: Éditions E. Nauwelaerts, 1954, I, 2a21–29, 1–5; 13a3–14. // Treatise on separate Substances: a Lat.-Engl. ed. of a newly-established text based on 12 121

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

des Intellekts bzw. des Erkenntnisakts genau herauszuarbeiten. Das zweite Kennzeichen, das den wesentlichen Aspekt des ganzen actus intelligendi ausmacht, ist das der Transzendentalität, die ich mit aller Vorsicht aus seinem Konzept der prima conceptio erschließen werde. Weshalb das Konzept der prima conceptio als Zeuge der Transzen­ dentalität auftritt, werde ich in den Abschnitten 2.3.1, 2.3.2, 2.4.3, 2.6 zeigen. Am Ausgangspunkt jeder Erkenntnis, nämlich in prima concep­ tio, erfasst der Intellekt etwas als ein Seiendes (beispielsweise den Ton, der das zuerst Hörbare ist). Demnach erfasst er zuerst von dem Seienden in seinem allgemeinen Modus bzw. in seiner Transzenden­ talität, dass es überhaupt ist, soweit es in actu ist.125 Das Bezogensein des Intellekts auf das erste Erscheinende, ens der prima conceptio, ist vielmehr als das für jede Erkenntnis erforderliche Bezogensein auf das esse (die Aktualität) zu deuten. Diese These, dass etwas als Seiendes der prima conceptio in actu erscheint, steht nicht im Widerspruch zur These der indirekten Erkenntnis, nämlich dass unsere Erkenntnis in sinnlicher Wahrnehmung ihren Anfang nimmt.126 Die beiden Thesen von Thomas vertiefen das Verständnis des ganzen Erkenntnisprozes­ ses in seinem Aspekt der Transzendentalität des (nicht quiditativen) Seienden als prima conceptio, auf das sich der Intellekt zuerst bezieht. Im Kommentar zur Zweiten Analytik nennt Thomas drei Akte des Intellekts als diejenigen, in denen der Intellekt das erkennt, was (quod) ein Ding ist.127 Thomas’ Verbindung des Begriffs der

medieval manuscripts. With introd. and notes by F. J. Lescoe. West Hartford: Saint Joseph College, 1963. 125 S.Th.I, q.5, a.2; a.3. 126 C.G.I, 30. 127 Expositio libri Posteriorum, Opera Omnia Iussu Leonis XIII P. M. ed., I, 1. Rom: Commissio Leonina; Paris: Vrin, 1989, (Prooemium). Die drei Akte des Intellekts sind folgende: 1) Der intellectus erkennt, was das Ding ist. 2) Der intellectus kommt durch seine zusammensetzende und trennende Tätigkeit zustande, sodass eine wahre kopu­ lative Subjekt-Prädikat-Aussage gebildet wird. 3) Der intellectus schreitet von einem zum anderen voran – auf diese Weise gelangt er durch das Bekannte zur Erkenntnis des Unbekannten. Das Ding, das unser Intellekt im ersten Erkenntnisakt erkennt, ist bei Aristoteles als Erkenntnisgegenstand in seiner Partikularität und Universalität zu erfassen. De Rijk bemerkt dazu: »For Aristotle all scientific knowledge is concerned with the search for a thing’s universal nature as immanent in the thing as particular.« An der Unterscheidung der drei Akte des Intellekts bei Aristoteles erkennen wir die Thomas eigene Vorstellung vom Intellekt und seinem Erkenntnisgegenstand. Vgl. Rijk L. M. de, Ockham’s Theory of Demonstration: His Use of Aristotle’s kath’holou

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Transzendentalität mit dem Intellekt, die auch der aristotelischen Theorie der drei Akte des Intellekts entspricht, wird durch den ersten Akt des Intellekts bei Thomas manifest: der menschliche Intellekt ist gerade von der prima conceptio aus auf das esse (das als jedes Sein das Sein einer bestimmten Form ist128) und nicht auf das kontingente Einzelding selbst bezogen. Obwohl unser Intellekt das Vermögen für die Erkenntnis mittels Phantasmata und mittels des Abstrahierens des Allgemeinen a materia besitzt, kann der auf Aristoteles zurückge­ hende Anspruch, dass das Wahre »in ipso intellectu« ist,129 nicht erfüllt werden, wenn man den ersten Akt des Intellekts weg denkt. Der Intellekt, der sich also in seinem ersten Akt nicht direkt auf konkrete Gegenstände, sondern auf abstrakte Gegenstände, auf das Allgemeine richtet, wirkt im zweiten Akt componendo et dividendo, wodurch er seinem Objekt analog wird. Wenn der Verstand die »Gleichförmigkeit mit dem erkannten Ding« im Erkennen erreicht, also analog wird, kann sich das wahre Wissen in seiner propositio­ nalen Form – die einzig mögliche Erkenntnisform bei Thomas – finden. Die Bestimmung des Intellekts von seinen Erkenntnisakten her ist also fünfdeutig: Thomas bindet seine Intellektauffassung an die Begriffe der Transzendentalität, Konnaturalität, Aktivität, Internalität und Konformität mit dem Erkenntnisgegenstand. Vergegenwärtigt man sich diese noch ganz allgemeine Fassung des actus intelligendi und der oben angedeuteten ersten Kennzeichen, so wird die Ableh­ nung der Auffassung, dass der intellectus eine abgetrennte Substanz ist und sein intellectus-Konzept verständlicher. Sowohl etwas ganz Neues als auch etwas aus der philosophi­ schen Tradition Überliefertes ist hier vorhanden. Dass Thomas der Annahme des separaten Intellekts insgesamt ablehnend gegenüber­ steht, zielt zunächst auf die Tradition. Es geht um eine grundsätzliche epistemisch-ontologische Differenz zwischen einer Intellekttheorie in der Tradition von Platon, wo kognitive Aktivitäten vom separaten aktiven Intellekt, der die intelligiblen Formen dem menschlichen Intellekt vermittelt, abhängig sind,130 und einem aristotelischen and kath’hauto Requirements. In: Vossenkuhl W., Schönberger R. (Hrsg.), Die Gegen­ wart Ockhams. Weinheim: VCH (=Acta Humaniora), 1990, S. 232. 128 S.Th.I, q.5, a.5ad2. 129 S.Th.I, q.16, a.1. / Peri herm.I, 16a10–13. 130 Zur Frage siehe Cornford F. M., Plato’s Theory of Knowledge. London: Kegan Paul, 1946. // Sweeney L., Idealism in the Terminology of Th. Aquinas. Speculum 33, 4 (Oct. 1958), S. 497–507.

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

Ansatz der Unterscheidung zwischen dem aktiven und passiven Intellekt mit dem Primat des aktiven internen Intellekts, der intelli­ gible Formen abstrahieren kann.131 Um genau zu erklären, worin die Position von Thomas bei der Frage nach dem separaten Intel­ lekt und damit für die Ausarbeitung seines intellectus-Konzeptes bzw. des Erkenntnisakts besteht, ist immer wieder auf Aristoteles zurückzugreifen, an dessen Definition des Intellekts sich Thomas orientiert.132 Dieser Definition entnimmt Thomas erstens den Grund seines Einwands gegen die Auffassung, dass der menschliche Intellekt eine außerhalb der Seele liegende Kraft bildet. Dazu geht er von der Annahme aus, dass nur der göttliche Intellekt die einzige außerhalb der Seele liegende Kraft ist. Zweitens will Thomas Intellekt und Erkenntnisgegenstand mithilfe der Assimilation (similitudo cogniti in cognoscente) bzw. durch eine Proportion (proportio cognoscentis et cognoscibilis) in Verbindung zueinander stellen.133 Demnach wird die Beziehung zwischen dem Erkenntnisobjekt und dem menschlichen intellectus, d.h. einem unstofflichen, immateriellen Vermögen, das vom Hier und Jetzt zu abstrahieren imstande ist, ersichtlich.134 Man kann natürlich bestreiten, dass es einen solchen intellectus gibt, der durch Abstraktion und Assimilation die notwendige Beziehung zum extramentalen Erkenntnisobjekt besitzt und zudem als Grundlage der wahren Erkenntnis fungiert. Dennoch ist diese Frage bei Thomas nicht nur von epistemologischen, sondern auch von semantischen und sprachlogischen Problemen und Lösungen durchdrungen.135 In der thomanischen Erörterung des Aristoteles-Ansatzes ist weitgehend im ganzen Erkenntnisakt der Zusammenhang zwischen Erkenntnisobjekt, Verstandestätigkeit und Wahrheit hergestellt. Der vollständige Erkenntnisakt besteht aus dem Objekt, das vom Verstand im Erkennen wahrgenommen wird, aus zwei schon angedeuteten De Anima III, 5, 430a14–20; 10, 433a13 ff. // Siehe dazu: Hoenen M. J. F. M., Metaphysik und Intellektlehre. Die aristotelische Lehre des ›intellectus agens‹ im Schnittpunkt der mittelalterlichen Diskussion um die natürliche Gotteserkenntnis. In: ThPh 70 (1995), S. 405–413. 132 Aristoteles unterscheidet zwei Arten der Vernunft: die theoretische und die prak­ tische Vernunft. De Anima III, 9/10, 433a12 ff. 133 De Verit., q.2, a.11. / In Sent.I, d.3, q.2, a.2. 134 S.Th.I, q.16, a.1; q.84, a.2. Siehe Velde R., Die Differenz in der Beziehung zwischen Wahrheit und Sein. In: Pickavé M. (Hrsg.), Die Logik des Transzendentalen, S. 182. 135 S.Th.I, q.I6, a.7ad2. Auf die weitere Klärung dieser Frage, die die Unterscheidung zwischen der Verstandeswahrheit und Wahrheit der Dinge ausführt, wird im Kapitel 4 eingegangen. 131

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Verstandestätigkeiten (intellectus speculativus et practicus) und seiner passiven und aktiven Potenz (intellectus possibilis et agens).136 Aus der folgenden Differenzierung des Erkenntnisobjekts werden die beiden Verstandestätigkeiten für den Erkenntnisakt ersichtlich:137 Der Gegenstand des praktischen Verstandes ist etwa das Gute; zu dem Guten kann also die Tätigkeit des praktischen Intellekts unter dem Gesichtspunkt des Wahren zugeordnet werden.138 Die Tatsache, dass der Intellekt im allgemeinen Sinn als intellectus speculativus einzig auf die Betrachtung der Wahrheit und als intellectus practicus auf die Aus­ führung der Wahrheit ausgerichtet ist,139 demonstriert, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen der Intellekt von den erfassten Gegen­ ständen gelangen kann, wenn er auf den theoretischen oder prakti­ schen Zweck hin ausgerichtet ist.140 Die Differenzierung zwischen Akten des Intellekts, zwischen praktischen und theoretischen Intellekttätigkeiten führt zur Frage, was es bedeutet, dass es sich um zwei Intellekttätigkeiten und zwei Potenzen des Intellekts handelt? Werden von Thomas zwei unter­ schiedliche Intellekte angenommen? Dieser Frage nach den zwei Potenzen des Intellekts – intellectus possibilis und intellectus agens – wende ich mich im folgenden Abschnitt zu.

S.Th.I, q.79, a.11. S.Th.I, q.79, a.11; q.76, a.2ad3: a) Intellectus speculativus ist derjenige, der das, was er wahrnimmt, nicht auf die Ausführung hinordnet, sondern einzig auf die Betrachtung der Wahrheit (»qui quod apprehendit, non ordinat ad opus, sed ad solam veritatis considerationem«). Als theoretische Intellekttätigkeit ist er auf das Allgemeine (universale) gerichtet und kann Wahres und Falsches im eigentlichen Sinn erkennen; b) intellectus practicus ist derjenige, der der Wahrnehmung entsprechend zur Bewegung anleitet; er erkennt die Wahrheit, aber ordnet sie auf die Ausführung hin (intellectus »veritatem cognitam ordinat ad opus«). 138 S.Th.I, q.79, a.11ad2. 139 S.Th.I, q.16, a.1. Eine Analyse von Thomas’ Darstellung des Verhältnisses von praktischer Vernunft und Metaphysik gibt Kluxen W., Metaphysik und praktische Vernunft. Über ihre Zuordnung bei Thomas von Aquin, S. 73–96. 140 S.Th.I, q.79, a.11. Zur näheren Behandlung der Frage nach dem Gegenstand des praktischen Intellekts siehe: Kluxen W., Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Darmstadt: WBG, 1998, S. 134, 233 f. 136 137

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

2.2.2 Intellectus possibilis und intellectus agens: zwei Intellekte? Unter dem Licht der vorangegangenen Überlegungen zu den Begriffen des Erkenntnisaktes, der Assimilation und des abgelehn­ ten separaten Intellekts, die zum Konzept des Intellekts beitragen, setze ich die Analyse der Intellekttheorie des Thomas fort. Die kom­ plementären Begriffe wie Wahrnehmungsvermögen, abstrahiertes Allgemeines, species intelligibiles und Form erfordern eine nähere Behandlung der Potenzen des Intellekts, die von dem Erkenntnisakt nicht zu trennen sind. Von dem Erkenntnisakt her gesehen, fasst das Wahrnehmungsvermögen (virtus apprehensiva) die raumzeitlichen Gegenstände auf sinnliche Weise, und bildet somit die Bedingung der abstraktiven Erkenntnis.141 Das bedeutet, dass der Intellekt das Allgemeine (universale) aus der vereinzelten Materie abstrahiert.142 Diese Strategie, die Thomas verfolgt, wurde viel diskutiert.143 Als eine besondere Schwierigkeit wird eine der strategisch wichtigsten Thesen gesehen, dergemäß nichts in den Intellekt hineingelangt, was zuvor nicht in den Sinnen gewesen ist. Für die indirekte Erkenntnis 141 Einen Versuch, die Abstraktion in der Erkenntnistheorie des Thomas zu klären, hat Guman unternommen. Zum einen vergleicht er das Verständnis der Abstraktion und der Bildung der Allgemeinbegriffe bei Thomas und Averroes, zum anderen fragt er, aus welchem Grund Thomas den Unterschied zwischen der Erkenntnis, die unmit­ telbar an Gott bindet (wie bei Augustinus), und der Erkenntnis, bei der die Abstraktion durch das eingeborene Licht des intellectus agens ermöglicht wird, relativierte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Thomas den neuplatonischen und den aristotelischen Ansatz zu verbinden suchte. S.Th.I, q.84, a.5. // Averroes, In De Anima I, comm. 17, 14–34, S. 24 f. / Aristoteles, De Anima I, 2, 403b9–16. // Vgl. Guman M., Vom Ursprung der Erkenntnis des Menschen bei Thomas von Aquin, S. 100 f., 103. // Oeing-Hanhoff L., Abstraktion. In: HWPh I (1971), S. 47–59. 142 S.Th.I, q.84, a.3; q.94, a.2. Das Einzelne, das der Verstand zum Gegenstand des Erkennens als Erstes hat, darf nicht falsch verstanden werden. Es ist darauf zu achten, dass der Grund der Vereinzelung (principium singularitatis) in materiellen Dingen, in der einzelbestimmten Materie (materia individualis) liegt. Der Verstand erkennt, indem er die verstandesmäßige Artform aus der Materie gewinnt. Das, was aus der vereinzelten Materie gewonnen wird, ist das Allgemeine. 143 Diese Frage wurde unter arabischen, jüdischen und lateinischen Platonikern und Aristotelikern diskutiert. Die Diskussionen, die auf Aristoteles-Kommentatoren wie Alexander von Aphrodisias sowie arabischen Philosophen wie Alfarabi, Avicenna und Averroes zurückgehen, rekurrieren auf unterschiedliche Intellekttheorien und damit auf unterschiedliche Auffassungen von der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis des Allgemeinen. Siehe: Ivry A. L., Averroes on Intellection and Conjunction. JAOS 86 (1966), S. 76–85. // Davidson H. A., Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intel­ lect. // Peters F. E., Aristotle and the Arabs. New York: New York Univ. Press, 1968.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

bedeutet dies, dass die Erkenntnis des Einzelnen die Erkenntnis des Allgemeinen begründet. Diese Erkenntnis wird nicht mithilfe der zwei Intellekte, sondern mithilfe der zwei Potenzen des Intellekts144 ausgeführt. Die Frage, ob beide Potenzen in der Seele sind oder von der Seele getrennte Substanzen darstellen, macht die zweite Schwierig­ keit aus. In Opposition stehende Einsichten sind vornehmlich die von Vertretern des Platonismus bzw. Neoplatonismus und Aristotelismus, der Averroisten und des Thomas. Aus Thomas’ Stellungnahme zu diesen Diskussionen kann nicht nur sein Verständnis vom separaten Intellekt gewonnen werden, sondern auch die Bedeutungen von den Potenzen des Intellekts: intellectus possibilis und intellectus agens. Die Unterschiede zwischen intellectus possibilis und intelligibilis kommen in seiner Auslegung der folgenden Fähigkeiten des Intellekts zu: 1) intellectus possibilis:145 a) verkörpert eine potenzielle Fähigkeit zum Aufnehmen der Vorstellungsbilder (species intelligibiles); b) durch die Vorstellungsbilder, nicht aber durch eine getrennte Substanz, können im aufnehmenden Verstand (»in intellectu possibili a phantasmati­ bus«) Erkenntnisbilder aufgenommen werden;146 c) der intellectus S.Th.I, q.79, a.4ad4; a.5ad1. / De Verit., q.I8, a.5: »In animae autem humanae intellectu duplex potentia invenitur: una, quasi passiva, scilicet intellectus possibilis; et alia quasi activa, scilicet intellectus agens.« Unter den Intellekttheorien des 13. und 14. Jahrhunderts, die die Fragen nach dem tätigen Intellekt und der Analogie aufgreifen, sind diejenigen von Thomas und Albertus Magnus besonders einflussreich. Obwohl Alberts Erkenntnistheorie in gewisser Hinsicht averroistisch geprägt ist, kann De unitate intellectus als das wichtigste Werk von ihm gesehen werden, in welchem er seine Argumente gegen die averroistische Intellekttheorie ausführt. Albertus lässt keine Theorie der Separatheit des Intellekts zu. Nach ihm bilden sowohl intellectus possibilis und agens als auch der erworbene Intellekt (intellectus adeptus) das Vermö­ gen der Seele selbst. Der intellectus adeptus ist der höchste menschliche Intellekt, der separate Formen (wie auch bei Al-Farabi) erkennt. Für Albertus ist die »assimilatio« eine höhere Erkenntnisstufe, auf der sich der intellectus adeptus befindet und mit Gott in Verbindung tritt. Damit wird die Auffassung, dass sich der Intellekt außerhalb des Menschen befindet, für absurd erklärt. Vgl. Albertus Magnus, De unitate intellectus, II, 18; III, 25, 59–71. / De intellectu et intelligibili, II, cap.9, 517b. 145 C.G.I, 55; II, 75. 146 C.G.II, 73–75, 77. / S.Th.I, q.79, a.5ad1. Thomas analysiert die Auffassung von Avicenna, dass die species intelligibiles nur solange im möglichen Intellekt (intellectus possibilis) bleiben, wie sie aktuell erkennbar sind. Im Gegensatz dazu ist für Aristoteles der intellectus possibilis der Ort, wo die Erkenntnisbilder aufbewahrt werden; der intel­ lectus possibilis ist sogar fähig, »durch sich selbst tätig zu sein«, wenn er über Wissen verfügt. Aus Avicennas Behauptung leitet Thomas drei Interpretationsmöglichkeiten ab. Die erste (a) lautet, dass die species intelligibiles in einem körperlichen Organ oder in einem Wahrnehmungssinn aufbewahrt werden. Dies ist nach Thomas unmöglich, 144

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

possibilis erkennt durch Vorstellungsbilder (phantasmata) erst dann, wenn der intellectus agens sie zu aktuell erkennbaren macht, davor werden sie in einem körperlichen Organ aufbewahrt; d) er bildet die Fähigkeit aus, die Vielfältigkeit der Akte auszuführen; e) wenn der intellectus possibilis aktuell erkennt, befindet er sich im vollkomme­ nen Akt durch die species intelligibiles;147 wenn er aber nicht aktuell erkennt, dann befindet er sich in einem Zustand zwischen dem Akt und der Potenz. Zudem sind die im aufnehmenden Verstand aufgenommenen species intelligibiles nicht dasjenige, was erkannt wird, sondern dasjenige, wodurch erkannt wird. 2) Der intellectus agens:148 a) ist immer der tätige intellectus, der die Dinge, die das Verstehbare nicht als etwas in ihrer Natur vorhandenes haben, durch den Abstraktionsprozess der Artformen (species) aus den materiellen Bedingungen verstehbar macht; b) er ist verantwortlich dafür, dass wir aktuell erkennen können; dies ist nur dann möglich, wenn er die Vorstellungsbilder (phantasmata) aktuell erkennbar macht; c) die Abstraktion ist eine spezifische operatio des intellectus agens, ohne die der intelellectus possibilis zum Erkennen nicht in der Lage wäre; (d) die These »intellectus agens causat univer­ sale abstrahendo a materia«149 besagt, dass der intellectus agens im Verhältnis zu allen Gegenständen steht, aus denen er das Allgemeine abstrahiert und denen gegenüber das Allgemeine Eines ist. Thomas führt folgenden Vergleich an: Der intellectus agens verhält sich zum aufnehmenden Intellekt »wie die Kunst zur Materie«150 und »zu den geistigen Erkenntnisbildern, die in den aufnehmenden Verstand aufgenommen werden, wie eine Kunstfertigkeit zu den Formen der da die Formen, die in den körperlichen Organen liegen, nur potentiell intelligibel erkennbar sind. Die zweite (b) lautet, dass sich dann, wenn die species intelligibiles für sich bestehen sollten, der intellectus possibilis zu ihnen – gut platonisch – wie ein Spiegel zu den Dingen verhält. Die dritte (c) besagt, nach Avicenna, dass das Wissen in unseren Seelen aus einer einzigen getrennten Substanz einströmt, die der intellectus agens ist. Auch diese beiden Meinungen werden von Thomas abgelehnt. 147 Das, wodurch die Formen des Einzelnen (quiditas rei sensibilis) erkannt werden, kann mithilfe der species intelligibilis-Theorie bei Thomas erklärt werden: Die species intelligibiles werden vom intellectus agens erkennbar gemacht und können vom intellectus possibilis »erleidend« aufgenommen werden. 148 S.Th.I, q.79, a.3; a.5. / q.84, a.6. / q.85, a.1ad4. / C.G.II, 76. // De Anima III, 5, 430a. 149 S.Th.I, q.79, a.5ad2. 150 De Anima III, 5, 430a10–15. Thomas nimmt diesen Vergleich von Aristoteles auf, um zwischen zwei Vermögen des Intellekts zu unterscheiden.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Kunst«.151 Was dieser Vergleich noch zusätzlich vom intellectus agens und possibilis aussagt, werde ich im Folgenden erläutern. Die Auffassung, dass der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis das Allgemeine ist, das nicht von den raumzeitlichen Gegenständen unabhängig besteht, findet sich bei Aristoteles.152 Diese Auffassung wäre ohne das Konzept des einheitlichen Intellekts und ohne das Kon­ zept der abstraktiven Erkenntnis kaum möglich. Die Nominalisten lehnen indes den Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen und der extramentalen Wirklichkeit ab. Argumente dafür sind sowohl ontologischer und epistemischer als auch sprachphilosophischer Art, sie sind prinzipiell unterschieden von den Argumenten der aristo­ telischen Realisten wie Thomas. So erkennt der Intellekt nach Ock­ ham ein Erkenntnisobjekt (res singularis) direkt, ohne Vermittlung der species intelligibiles, weshalb auch für den ganzen Erkenntnispro­ zess kein intellectus agens benötigt wird. Das Universale kann kein Erkenntnisobjekt (obiectum cognoscendi) werden, sondern nur zur Erkenntnisweise (cognitio abstractiva) gehören.153 Sowohl bei der abs­ traktiven Erkenntnis (cognitio abstractiva) als auch bei der intuitiven Erkenntnis (cognitio intuitiva) geht es nicht um verschiedene Objekte, sondern um dasselbe Objekt (das Einzelding oder das Universale), das sowohl abstraktive als auch intuitive Erkenntnis verursachen kann: Die abstraktive Erkenntnis abstrahiert von der Existenz eines Objekts; sie ist also die Erkenntnis von etwas von vielen Objekten bzw. Einzeldingen Abstrahiertem (Allgemeinem). Die intuitive Erkenntnis ist eine evidente Erkenntnis von demselben Objekt (z.B. von weißem Sokrates bzw. von Sokrates und dem Weiß), sodass der Intellekt urteilt, ob es existiert und ob etwa Sokrates wirklich weiß ist.154 Mit der unterschiedlichen Fassung des Zusammenhangs zwischen Allgemeinen und Singulären als der Grundlage des Universalienrea­ 151 C.G.II, 76: »Comparatur enim intellectus agens ad species intelligibiles receptas in intellectu possibili, sicut ars ad formas artificiales quae per artem ponuntur in materia.« 152 Met.B6, 1003a6–16; Met.E16, 1041a4–5; Met.K1, 1059b25 f. 153 Wilhelm von Ockham, Summulae in libros physicorum. Lat.-dt. Übersetzt und hrsg. von H.-U. Wöhler. Leipzig: Reclam, 1983, II, cap.10. 154 Wilhelm von Ockham, OPhI, Summa Logica I, cap.10 und cap.11, S. 35–41. / OThIX, Quodl.I, q.13, S. 72–78. / OThII, Sent.I, lib.1, d.2, q.6, S. 165–167, 183 f. // Zur Frage Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 269 ff. // Karger E., Ockham’s Misunderstood Theory of Intuitive and Abstractive Cognition. In: Spade P. V. (Ed.), The Cambridge Companion to Ockham. Cambridge: Combridge University Press, 1999, S. 204–226.

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

lismus von Thomas und des Nominalismus von Ockham ist die Frage nach der Analogie eng verknüpft. Der Universalienrealismus des Thomas bezieht sich auf den, in der Analogie begründeten, Erkenntnisweg, vom dem sich Ockham distanziert.155 Der Weg der analogen Erkenntnis stellt nach Thomas einen Weg dar, in dem der Intellekt von dem primum cognitum zur Erkenntnis des Wesens eines Gegenstandes, in dem das Allgemeine subsistiert, schreitet und somit von den erkannten Dingen auf die ersten Prinzipien zurückgeht.156 Die Konturierung des Intellekt-Konzepts und des Weges der analogen Erkenntnis bei Thomas sowie die Abgrenzung von anderen Konzepten dient zur weiteren Diskussion der analogen Erkenntnis. An dieser Stelle soll das oben Gesagte rekapituliert und ergänzt werden: Das primum cognitum des Verstandes ist nach Thomas weder ein esse Dei noch ein esse eines extramentalen Gegenstandes, sondern die vom intellectus agens abstrahierte Washeit des sinnlichen wahrge­ nommenen Gegenstandes (quiditas rei sensibilis), d.h. das Allgemeine oder conceptio rei (ratio), die der Verstand prägt und intelligibel macht. Das Singulare kann durch diese conceptio rei repräsentiert werden. Die Bestimmungen über den Intellekt (species intelligibiles und intellectus agens) haben die Auffassung vorbereitet, dass Erkenntnisbilder oder Formen (species intelligibiles des Verstandes und durch sie vermittelte Essenz der extramentalen Gegenstände) weder von separaten Sub­ stanzen bzw. Intellekten stammen,157 noch der Verstand diese von 155 Das Allgemeine (humanitas) ist für Ockham dasjenige, was einer jeden res (wie etwa Sokrates und Platon) zukommt (intrinsecum). Es ist nichts Äußerliches, das mehreren Menschen (extrinsecum), irgendeiner äußerlichen Einheit gemäß beigefügt wäre: humanitas quae est in Socrate essentialiter distinquitur ab humanitate quae est in Platone. Demnach gibt es kein Allgemeines für Viele als realitas extra animam (ipso actu), vielmehr bestehen viele Allgemeine auf vollständige Weise, wie etwa Einzel­ dinge. Auch die prädikamentale Klärung, dass das Allgemeine als Gedankending, d.h. als eines in vielen extra animam, aufgrund der Prädikation mehreren zukommen könnte, ist falsch. Das würde bedeuten, dass die Ausdrücke »in vielen sein« und »von vielen prädiziert werden« unterschiedlich wären, aber gerade das ist nicht wahr. Vgl. Wilhelm von Ockham, OThII, Sent.I, lib.1, d.2, q.6, S. 182–184. 156 S.Th.I, q.2, a.3. 157 Liber de causis. Lat., mit franz. Übersetzung. Hrsg. von P. Magnard, O. Boulnois, B. Pinchard, J.-L. Solère. In: La Demeure de l’être. Autour d’un anonyme. Étude et traduction du Liber de causis. Paris: Vrin, 1990, I, 2, 13. Mit dieser Behauptung distan­ ziert sich Thomas deutlich von der Ontologie und Epistemologie der neoplatonischen Denker, etwa Plotinus und Proclus. Er verdeutlicht damit die Differenz, die zwischen neoplatonischen Theorien der Emanation und der realistischen Erkenntnis besteht. In der realistischen Erkenntnis ist das Objekt der Erkenntnis das Singuläre (eine

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Natur aus besitzt,158 sondern der intellectus agens zu der Essenz mit­ tels der Abstraktion des Allgemeinen aus dem Besonderen gelangt. Der intellectus agens wird durch diese Erkenntnisbilder selbst geformt, um mit dem im Akt Erkannten übereinzustimmen.159 Dies ist bei der Deutung der Assimilation zu beachten: Wenn species intelligibilis die Form ist, die der Verstand auf dem Weg der Abstraktion erlangt (das Erkannte) und die den Verstand (den Erkennenden) zum Erkennen formt, dann wird deutlich, dass die Assimilation des Erkannten im Erkennenden nur schrittweise möglich ist. Auf diese Weise ermög­ lichen die von den Dingen abstrahierten Erkenntnisbilder das Ver­ hältnis zwischen dem Intellekt und der extramentalen Wirklichkeit, sodass der Verstand in actu sich dem Verstandenen in actu angleicht und somit analog wird. Der Assimilationsprozess wird also in der Akteinheit und von der Form her begriffen; die Form, wodurch ein Gegenstand erfasst wird, und welche der Verstand in actu selbst ist, muss ein und dieselbe sein.160 Die im Verstand existierende Form in actu ist nun die, die das geistige (oder intentionale) Sein besitzt.161 Der Assimilationsprozess betrifft die beiden Potenzen des Intel­ lekts – intellectus possibilis und intellectus agens –, die weder als Gegensätze noch als getrennt bestehende Vermögen oder Substan­ zen aufzufassen sind. Durch die Wahrnehmungsakte und Akte des abstraktiven Erkennens wird eine analoge Angleichung des Verstan­ desvermögens an den erkennbaren extramentalen Gegenstand bzw. eine Assimilation erlangt. Beide Potenzen des Verstandes stellen eine Kraft der Seele dar und sind keine getrennten Substanzen. In diesem Verhältnis zwischen intellectus possibilis, der seiner Natur nach in potentia zu den Artformen steht, und dem intellectus agens, durch dessen Tätigkeit die Erkenntnisbilder entstehen und wodurch der bestimmte Wesenheit), das auf der Ebene der Wahrnehmungsinne als Phantasmata und auf der Ebene des Intellekts durch species intelligibiles erfasst wird. 158 S.Th.I, q.84, a.4. 159 S.Th.I, q.84, a.6; a.7. / C.G.II, 76. / C.G.I, 55: »Species autem intelligibiles, quibus intellectus formatur ad hoc quod sit ipsa intellecta in actu […].« 160 S.Th.I, q.87, a.1ad3: »[…] intellectus in actu est intellectum in actu, propter similitudinem rei intellectae, quae est forma intellectus in actu. Et ideo intellectus humanus, qui fit in actu per speciem rei intellectae, per eamdem speciem intelligitur, sicut per formam suam.« 161 Auf die Frage nach dem realen und geistigen Sein gehe ich detaillierter im Abschnitt 2.3 und im Kapitel 3 ein, wo ich auf Thomas’ Bezugnahme des Verstandes auf den extramentalen Gegenstand, durch die Sprache und die Analogie, eingehe. Ich werde zeigen, dass Thomas die species-Theorie in die signum-Theorie hinein verlagert.

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2.2 Begründung des Intellekts: das Problem der analogen Erkenntnis

Erkennende den abstrahierten, aktuell erkennbaren Inhalt in seinem Geist aneignet, findet sich ein weiteres Indiz für die Darstellung des Verhältnisses von Akt und Potenz. Das Verhältnis von Akt und Potenz kommt explizit vor, wenn Thomas den Begriff von dem tätigen Verstand (intellectus agens) für seine Intellekttheorie begründet. Es reicht für Thomas nicht, die aristotelische Einsicht vom tätigen Verstand in seiner Intellekttheo­ rie schlichtweg zu übernehmen. Zunächst entkräftet er die Ansicht Platons, dass die Formen bzw. Artformen (species) der Naturdinge ohne Materie für sich bestehen. Durch die Partizipation an diesen Formen wird laut Platon sowohl die körperliche Materie, damit die Einzeldinge ihren Gattungen und Arten entsprechen können, als auch der Intellekt geformt, der das Wissen von diesen Gattungen und Arten erwirbt. Die Formen der Naturdinge subsistieren nach Aristoteles nicht ohne Materie. Deshalb kann, so Thomas, das Singulare nur durch den Akt der Wahrnehmung und den Akt der Abstraktion der Artformen aus den materiellen Bedingungen (per abstractionem specierum a conditionibus materialibus) vom tätigen Verstand im Akt intelligibel gemacht werden.162 In diesem Fall ist bei Thomas zusammen mit Aristoteles weder die Akteinheit und Einheit der Form noch die Potenzen des Intellekts von dem Potenz-Akt-Verhältnis zu trennen, da nur dadurch – und auf analoge Weise – ein aktuell Seiendes aus der Potenz zum Akt überführt werden kann. Thomas knüpft an diese aristotelische Auffassung an und überführt sie zu einer seiner Thesen darüber, dass jedes Seiende ein Objekt unseres Verstandes ist, »von einem äußeren Prinzip bewegt« und »zum Tätig­ sein gebracht« wird.163 Dies ermöglicht ihm eine enge Verbindung von Wahrnehmungssinn, Verstand und deren Akten herzustellen: Die Sinne werden in der Wahrnehmung durch das aktuell Sinnfällige (per sensibile in actu) in den Akt einbezogen. Um die Dinge durch den Abstraktionsprozess im Akt (intelligibilia in actu) intelligibel zu machen, braucht man – das hat sich nun gezeigt – keine von dem menschlichen Verstand separate Substanz vorauszusetzen. Der Erkenntnisakt bei Thomas wird nicht von der separaten Substanz her verstanden, sondern von dem in uns selbst liegenden Erkenntnis­

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potenzen – intellectus agens (»principium activum«, »virtus animae nostrae«164) und intellectus possibilis – her.165 Die beiden Potenzen des menschlichen Intellekts und das Erkenntnisobjekt, das von einem äußeren Prinzip zur Tätigkeit gebracht wird, bilden ebenfalls die allgemeinen und speziellen Bedin­ gungen, unter denen nach Thomas der Erkenntnisakt überhaupt möglich wird: Der intellectus agens erfasst (apprehendit) als erstes alles außer ihm Liegende. Das erfasste ungeteilte Seiende ist das, was stets jemand erfasst,166 was ein Wesen hat und was sich überhaupt dank dieses Wesens auch bestimmen lässt. Hätte Thomas das intellectus-Konzept aus der Auffassung etwa von Averroes abgeleitet, dass nämlich der Intellekt eine vom Erken­ nenden getrennte einfache Substanz ist,167 die im Vergleich mit den niederen vergänglichen Seelenvermögen ewig verbleibt und folglich eine für alle Menschen ist,168 hätte ihn die Frage nach der Differenz C.G.II, 76. S.Th.I, q.79, a.1, a.3–5; q.84, a.1–8; q.85, a.1. Thomas’ Auffassung unterscheidet sich damit wesentlich sowohl von der des Averroes, der beide Intellekte als separate von der Seele auffasst, als auch von der Position etwa des Gersonides. Der Position von Gersonides, dass die intelligiblen Formen, die der separate aktive Intellekt pro­ duziert und uns das Wissen von Dingen ohne sensorisches Substrat erwerben lässt, setzt Thomas die Auffassung entgegen, dass der aktive Intellekt als Teil nicht separat von dem potentiellen Intellekt existieren kann. Nach Thomas’ Grundeinsicht gibt es nur einen separaten Intellekt und dieser ist Gott. Zur Frage Ivry A., Averroes on Intel­ lection and Conjunction. JAOS 86 (1966), S. 76–85. // Feldman S., Platonic Themes in Gersonides’s Doctrine of the Active Intellect. In: Goodman L. E. (Ed.), Neoplaton­ ism and Jewish Thought. New York: Columbia Univ. Press, 1974, (State Univ. of New York Press, 1992), S. 255–275. // Averroes, Über den Intellekt. Auszüge aus seinen drei Kommentaren zu Aristoteles De Anima. Arabisch-Lateinisch-Deutsch. Hrsg., übersetzt, eingeleitet von D. Wirmer. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2008, S. 16 ff., 327 ff., 364 ff., 390–409. 166 S.Th.I-II, q.94, a.2: »Nam illud quod primo cadit in apprehensione est ens, cujus intellectus includitur in omnimus quaecumque quis apprehendit.« 167 Grundlegend für das intellectus-Konzept des Averroes ist, dass die Legitimation des Wissens einzig durch seine Universalität erfolgt. Die Universalität und Objekti­ vität des Wissens besteht nach ihm in der Verbindung des Erkennenden bzw. seiner sinnlichen Wahrnehmungen und der Vorstellungen (die notwendige Grundlage der Intelligibilien) mit dem separaten aktiven Intellekt. Der Erkennende, der in diese Ver­ bindung eintritt, nämlich der Philosoph, ist zur Erkenntnis verpflichtet; seine Ver­ pflichtung gleicht dem Auftrag Gottes. Averroes, In De Anima III, comm. 4, 65–105, S. 385 f.; comm. 5, 575–583, S. 406 f.; 703–710, S. 411. / Aristoteles, De Anima III, 429a21–24; 431b16–19. 168 Averroes, In De Anima III, comm. 5, 424–431, S. 401 f.; comm. 36, 48–57, S. 481; 650–654, S. 502. / Aristoteles, De Anima III, 431b16–432a3. Zu den Interpretatio­ 164

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zwischen Potenzen des Intellekts und entsprechend nach der Dif­ ferenz zwischen Wahrnehmungsakten und Akten der abstraktiven Tätigkeit des Intellekts nicht beschäftigt. Dann hätte man mit Thomas feststellen müssen, dass: »homo non intelligit«.169 Die sinnliche Wahrnehmung und Abstraktion sind die notwendigen Schritte im Erkenntnisakt, um letztlich die Washeit der erkannten Gegenstände zu bestimmen und bezüglich der konkreten Gegenstände zu spezi­ fizieren. Thomas’ Ansatz weist also weder explizite noch implizite averroistische Annahmen auf,170 auch wenn beide in der aristoteli­ schen Philosophie verwurzelt sind. Mit der Konzeption, dass es nicht zwei verschiedene Intellekte gibt, sondern vielfältige Tätigkeiten und zwei Potenzen des einen Intellekts gegeben sind, nämlich, dass der Intellekt »compositus ex agente et possibili [est]« ist,171 kann Thomas den Intellekt als Abstraktionstätigkeit und den Assimilationsprozess, in welchem der Intellekt dem Erkennbaren analog wird, manifest machen. Es wird sich jedoch zeigen, dass damit die Bestimmung des Intellekts bei Thomas nen zur averroistischen Theorie des Intellekts siehe: Davidson H. A., Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intellect. // Ivry A. L., Averroes on Intellection and Con­ junction, S. 76–85. // Wirmer D. in: Averroes, Über den Intellekt, S. 325–403. // Kluxen W., Averroismus im lateinischen Mittelalter. In: TRE V (1980), S. 57–61. // Altmann A., Maimonides on the Intellect and the Scope of Metaphysics. In: Ders., Von der mittelalterlichen zur modernen Aufklärung. Studien zur jüdischen Geistes­ geschichte. Tübingen: Mohr, 1987, S. 69–71. 169 Die Kritik des separaten Intellekts von Averroes in seinem Werk »De unitate intellectus contra Averroes« fasst Thomas im Ausdruck »Homo non intelligit« zusam­ men. Eines der Argumente von Thomas lautet: Wenn es zwischen dem aufnehmenden Verstand und den Phantasmata keinen Kontakt gibt, der zur abstraktiven Tätigkeit geführt hätte, wie das im averroistischen System der Fall ist, kann der Mensch gar nicht erkennen. Siehe auch: Connoly B. F., Averroes, Thomas Aquinas and Giles of Rome on How This Man Understands. Vivarium 45 (2007), S. 73 ff. 170 Dazu ist auf eine Diskussion hinzuweisen. Libera meint, dass Albertus und Thomas trotz der Kritik des Averroes eigentlich eine averroistische Meinung vertreten haben. De Libera führt keine Belege für seine Behauptung an. Vgl. Libera A. de, Averróes et l’averroisme. Un tournant dans la pensée occidentale? In: Construire un monde? Mondialisation, pluralisme et universalisme [en ligne]. Tunis: Institut de Recherche sur le Maghreb contemporain, 2007, S. 65–86. 171 De Verit., q.I8, a.5. / De unitate intellectus contra Averroes, cap.1, n.182, n.190; cap.2, n.200, n.211–214; cap.3, n.244–245. // Aegidius von Rom, De plurificatione intellectus possibilis. Ed. H. Bullota Barroco. Rome, 1957. Die Thomas’ Intellekttheo­ rie, dergemäß der Intellekt nicht als separate Substanz existiert, sondern als Kraft der menschlichen Seele wirkt, und dergemäß phantasmata und species intelligibiles sich auf die Tätigkeiten des Intellekts beziehen, deutet etwa Aegidius von Rom kritisch.

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noch nicht abgeschlossen ist. So gibt es weitere epistemische Schwie­ rigkeiten, die mit einem bedeutsamen Aspekt seiner Intellekttheorie verbunden sind.

2.2.3 Epistemisches Problem der getrennten Substanz und der Disposition Eine der bereits erwähnten Schwierigkeiten, auf die an dieser Stelle zurückzukommen ist, ist der Umstand, dass selbst dann, wenn die sinnliche Wahrnehmung und die aus dieser gewonnenen Vorstel­ lungsbilder (phantasmata) im Normalfall zur Erkenntnis führen, mit Thomas zu beobachten ist, dass nicht alle Menschen zum Erkennen dessen fähig sind, wovon ihr Verstand die Phantasmata besitzt. Letzteres wird mit der These konfrontiert, dass der intellectus agens jene »Kraft unserer Seele« (principium activum) bildet, die die Vor­ stellungsbilder aktuell intelligibel macht, sodass der Mensch zur Erkenntnis der aktualisierten Vorstellungsbilder imstande sein sollte. Unser Intellekt, sagt Thomas, ist immer tätig, soweit es an ihm liegt, aber der Erkenntnisprozess kann nicht als gleiche Funktion aller Wahrnehmungssinne vorausgesetzt werden; ebenso wenig können die beiden Potenzen des Intellekts als die bei allen Menschen gleichen angenommen werden. Aus der Perspektive der Beziehung von Wahr­ nehmungs-, Abstraktions- und Asssimilationsprozessen kann argu­ mentiert werden, dass die Vorstellungsbilder nicht immer, sondern nur dann aktuell erkennbar werden, wenn sie dazu durch den »Akt der Urteilskraft« (per actum cogitativae virtutis) disponiert werden. Erst dann kann der Intellekt alle Erkenntnisakte ausführen. Demnach liegt es also an uns selbst, zu urteilen bzw. zu erkennen oder nicht zu urteilen bzw. nicht zu erkennen. Das Problematische, das Thomas aufzeigen will, liegt in dem entsprechenden »Akt der Urteilskraft«, den der intellectus agens auszuführen hat, um phantasmata durch den Akt der Urteilskraft dem Erkennen zuzuordnen.172 Die von Thomas diskutierte Frage der Disposition impliziert eine weitere Schwierigkeit, die man aus der folgenden Alternative ersehen kann: (a) Ist der aufnehmende Verstand (intellectus possibilis) zur Aufnahme und Aufbewahrung der intelligiblen Formen disponiert 172

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(dispositio; arab.: hāl) (die Auffassung von Avicenna),173 oder sind (b) die Phantasmata dazu disponiert (dispositio phantasmata), dass sie aktuell erkennbar werden (die Auffassung von Averroes; Thomas Bezugnahme siehe unten)?174 Gemäß dem ersten, dem avicenniani­ schen Zugang, kommen die gleichen intelligiblen Formen vom tätigen bzw. höheren Verstand her (d.h. von einer einzigen, getrennten Substanz). Das geschieht in allen Menschen, wenn der intelllectus possibilis aktuell erkennt. Die intelligiblen Formen werden zudem im aufnehmenden Verstand aufbewahrt (conserventur in ea). Für Avicenna ist nicht nur zentral, dass die intelligiblen Formen von dem getrennten, tätigen Verstand her fließen, sondern auch, dass der intellectus possibilis zur Aufnahme dieser Formen disponiert ist. Die Phantasmata haben bereits den aufnehmenden Verstand dazu vorbereitet. Auch nach der Auffassung von Platon existieren die intel­ ligiblen Formen, die sich im aufnehmenden Verstand widerspiegeln. Nach Platon sind gerade diese Formen (und nicht der tätige Verstand wie bei Avicenna oder der aktive oder materielle Verstand wie bei Averroes) getrennte Substanzen; das Wissen kann dann von diesen Substanzen in die menschliche Seele hinüberfließen. Bei der Bestim­ mung der Seele räumt auch Platon der Disposition einen bestimmten Platz ein: Das Singulare disponiert die Seele – jedoch nicht dazu, die separaten Formen aufnehmen zu können, sondern dazu, den Verstand so zu beeinflussen, dass er imstande ist, das (von außen) verursachte Wissen betrachten zu können.175 Aus diesem Grund bedeutet das Lernen bei Platon immer ein Wiedererinnern (reminisci).176 Der beschriebene Erkenntnisvorgang der genannten Autoren (Platon, Avicenna und Averroes) in welchem kein materielles Sin­ 173 Avicenna, Shifa: De Anima. English translation. (Eds.) R. Lerner, M. Mahdi. New York, 1963, II, 2, R67, 75–80; S. 130; III, 5, R123, 44–50; S. 225–226. // C.G.II, 74; 76. 174 Averroes, In De Anima III, comm. 5, 537–565, S. 405–406; comm. 30, 21–34, S. 469. // De Verit., q.6, a.1ad8. »Phantasmata«, die Thomas als Vorstellungs- oder Phantasiebilder bezeichnet, gebrauchte er als Äquivalent des Begriffs »imaginatio« (Vorstellung) des Averroes. Phantasmata entstammen nach Thomas der sinnlichen Wahrnehmung, aus diesen werden die species intelligibiles (per abstractionem a phan­ tasmatibus) gewonnen. Statt des Begriffs »preparatio« (Syn. »dispositio«) des Aver­ roes, mit welchem Averroes operiert, um die Vorstellungsformen als diejenigen zu charakterisieren, die den materiellen Intellekt in Bewegung bringen, nutzt Thomas den Begriff der »dispositio«. De Verit., q.6, a.1ad8. 175 Platon, Phaedo, 75E; 76A. 176 Platon, Men., 79E.

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guläre für den Erwerb des Wissens vorauszusetzen ist, veranschau­ licht den Unterschied zu der Auffassung Thomas’, der den Wahrneh­ mungs- und Verstandesakten bei der Bezugnahme auf das materielle Singuläre eine entscheidende Rolle zuspricht. Die Kritik von Thomas betrifft vorerst (a) Avicennas Verständnis der Potentialität des auf­ nehmenden Verstandes. Nach Thomas ist es prinzipiell wichtig, dass der intelllectus possibilis zu den aktuell erkannten Erkenntnis­ bildern (species intelligibiles) konsistent in Potenz steht. Auch jede beliebige Vorbereitung zur Aufnahme dieser Erkenntnisbilder kann diesen Zustand der Potentialität nicht verändern. Thomas bringt das Analogie-Beispiel vor, in dem der intellectus possibilis und seine Potenz zu den Erkenntnisbildern mit dem Verhältnis zwischen dem Gesichtssinn und der Farbe gleichgesetzt wird. Da der intellectus agens von Thomas so definiert ist, dass durch seine Tätigkeit die Erkenntnisbilder über die sinnliche Wahrnehmung geistig aktuell erkennbar gemacht werden, kann der intellectus possibilis durch die aktuell erkennbaren Formen auch aktuell erkennen. Oder dem ana­ logen Beispiel gemäß: Dem Gesichtssinn (intellectus possibilis) wird seiner Natur nach die Form der Farbe mittels Licht (intellectus agens) aktuell sichtbar gemacht. Die Bedingung, dass die Form der Farbe erkannt wird, ist ausschließlich die Potentialität des menschlichen Intellekts, jedoch ist diese weder so zu verstehen, dass der intellectus possibilis einer zusätzlichen Disposition zur Aufnahme der Spezies bedarf, noch so, dass dieser immer zur Rezeption der vom intellectus agens herkommenden Formen (ad recipiendum formas intelligibiles ab intellectus agente fluentes) disponiert ist.177 Thomas’ Analyse der Alternative (b) der Dispositionsfrage bestä­ tigt, dass dispositio phantasmata von ihm nach aristotelischen Vorga­ ben verstanden wird. Thomas setzt nämlich bei der Behauptung an, dass phantasmata an sich schon zum Erkennen bereit sind. Das, was zur Aufnahme der Form bestimmt ist, ist der Wahrnehmungssinn. Wenn man jedoch annimmt, so Thomas, dass der intellectus agens eine getrennte Substanz ist, kann dies zur Auffassung führen, dass phantasmata durch die Urteilskraft dazu verwendet werden, dass sie aktuell erkennbar werden und bewirken, dass der intellectus possibi­ lis zur Aufnahme der intelligiblen Formen bereit ist. Dies ist aber eine Auffassung, die nichts wesentliches über die kognitiven Kräfte der menschlichen Seele aussagt. Falls phantasmata eine natürliche 177

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Disposition dazu haben, dass sie aktuell erkennbar werden, scheint die Seele nicht vollkommener zu sein als Tiere mit ihren natürlichen Fähigkeiten vermittels ihrer Sinneswahrnehmungen. Man muss den Vorgang des Aufnehmens bei sinnlichen Lebewesen vom Erkennen der kognitiven Lebewesen bzw. Menschen unterscheiden. Schließlich kommt erstens der menschliche Verstand mit seiner kognitiven Tätig­ keit weder ohne Erleiden (sine passione) noch ohne Wirken (sine actione) aus. Zweitens sind die niederen Lebewesen zur Abstrakti­ onstätigkeit nicht imstande. Die epistemische und ontologische Ablehnung der getrennt bestehenden Substanzen bzw. Intellekte bei Thomas ist folglich eine klare Absage an die Annahme der beiden beschriebenen Arten der Disposition – der des aufnehmenden Verstandes und der der Phantas­ mata. Die Bestimmung der beiden Fähigkeiten des Intellekts, die in einer indirekten Erkenntnis die verstandesmäßigen Formen von der Materie oder den materiellen Bedingungen abstrahieren können, ist grundlegend für die indirekte analoge Erkenntnistheorie. Das Erken­ nen bezieht sich nicht auf eine externe Substanz. Für die Beziehungen des menschlichen Intellekts zu der externen Substanz dienen nach Thomas nicht die dem menschlichen Intellekt eigenen Potenzen bzw. Prinzipien – intellectus possibilis und agens.

2.2.4 Zwischenfazit und Aussicht An der Diskussion des Dispositionsproblems wird deutlich, dass der Intellektbegriff bei Thomas im Vergleich zu demjenigen von Platon, Avicenna und Averroes und ihren Nachfolgern prinzipiell anders konzipiert ist. Das, wodurch der Erkennende erkennt, ist die Kraft des intellectus agens und possibilis. Da beide Potenzen – intellectus possibilis et agens – (selbst) als Form in der Seele existieren, können sie jedwede andere Form aufnehmen. Dies leistet kein von der menschlichen Seele separater Intellekt, sondern nur intellectus agens, der die Fähigkeiten des Menschen zum Erkennen verkörpert. Die Autonomie des Mentalen bedeutet, dass beide Tätigkeiten – intellectus practicus et speculativus – und beide Potenzen – intellectus possibilis et agens – dem Sein nach von der Seele des Menschen nicht getrennt sind. Daher versteht man mit dem Begriff »Erkennen« (intelligere) die Begründung dessen, was der Begriff »Mensch« enthält: Der Mensch

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wird nicht aufgrund einer außerhalb der Seele liegenden Substanz, sondern mithilfe seiner intellektuellen Kräfte in Aktion gebracht und zur Willenstätigkeit bewegt.178 Das Fehlende bei dieser Konzeption wäre etwa nach Platon eine getrennt bestehende, auf die menschliche Seele einwirkende Idee des Guten (Herrscherin der Wahrheit und Vernunft), die von Platon und in der ganzen Tradition des Platonismus mit der Sonne verglichen wird.179 Thomas kritisiert die Sicht von Platon und des Neuplatonismus vor allem deswegen, weil die »Sonne« (das Gute oder Gott bei den Neuplatonikern) Ursache des Seins und Wesens ist. Deshalb ist die Schöpfung in diesen philosophischen Traditionen nur als Emanation aufzufassen. Thomas gibt dagegen der Auffassung des möglichen Intellektbegriffs bei Maimonides den Vorzug. Es gehört zum maimonidischen Intellektbegriff,180 dass zwischen dem mensch­ lichen Intellekt, der sich immer zwischen Potenz und Akt befindet und der Aktualität des reinen göttlichen Intellekts eine Relation besteht. Die Grundlage für den aktiven Intellekt ist der Akt des Erkennens. Dieser Akt setzt die Relation zwischen dem menschlichen Intellekt, der »die Form der Seele« bzw. »die Form des Menschen« ist, und dem aktiven Intellekt Gottes voraus.181 Konkreter ausgedrückt: Die Relation ist die zwischen dem reinen göttlichen Intellekt und dem vom Menschen »erworbenen Intellekt« oder vollkommenen Intellekt. Doch ist das volle Verständnis dieser Relation bei Maimonides mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, da hier keine Identität (auch keine Analogie) zwischen dem menschlichem und dem göttlichen Intellekt postuliert werden darf.182 Der menschliche Intellekt bleibt mit dem Unähnlichen und Unendlichen konfrontiert. Mit der maimo­ nidischen Position stimmt Thomas’ Auffassung nur teilweise überein: Das Unendliche (Gott) ist nach Thomas für den menschlichen Ver­

C.G.II, 76. / S.Th.I, q.76, a.3. Daraus folgt eine sehr wichtige Behauptung für die thomanische Ethik und sozial-politische Theorie, nämlich, dass sich der Mensch selbst aufgrund der Vernunft zur Willenstätigkeit bringen kann. 179 Pol. VI, 509b1–c6; VII, 517c1–5. 180 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-68. 181 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-30; 68. // Met.Λ7, 1072b14–30. 182 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-1. 178

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stand nicht gänzlich unerkennbar, obwohl Gott »alles Erkennen über­ ragt«.183 Aufgrund seiner ontologischen Einsichten beschränkt sich Thomas in seiner Erkenntnis- und Intellektheorie nicht auf das Ver­ ständnis, dass der Mensch konkrete und abstrakte Gegenstände nur aufgrund der natürlichen Gabe, des intelligiblen Lichts, begreift.184 Vor dem Hintergrund des Erkennens steht auch die durch die Kraft der übernatürlichen, göttlichen Gabe unserem Verstand mitgeteilte Erkenntniskraft, die imstande ist, das Allgemeine von materiellen Eigenschaften der Einzeldinge im Prozess der abstraktiven Erkenntnis herauszulösen.185 Versteht man die Potenzen des Intellekts auf die dargestellte Weise, ist nach dem genauen Verhältnis des Konzepts des Intellekts mit dem Proportions- und Proportionalitätsansatz zu fragen. Zu der Proportion und Proportionalität werde ich an anderer Stelle zurückkommen. Hier soll es ausreichen, auf beide Begriffe im Zusammenhang mit der Assimilation hinzuweisen.

S.Th.I, q.12, a.1ad3: »Unde ex hoc non sequitur quod nullo modo possit cognosci, sed quod omnem cognitionem excedat: quod est ipsum non comprehendit.« 184 Nach Oeing-Hanhoff bezeichnet Thomas »mit dem Bild vom Licht der tätigen Vernunft das a priori erkannte Sein in der tätigen Vernunft«. Vgl. Oeing-Hanhoff L., Gotteserkenntnis im Licht der Vernunft und des Glaubens nach Thomas von Aquin. In: Ders. (Hrsg.), Thomas von Aquin 1274/1974. München: Kösel, 1974, S. 108. 185 S.Th.I, q.79, a.4. Wenn es nur um eine, unserem Verstand mitgegebene überna­ türliche Kraft ginge, wäre es möglich, dass der tätige Intellekt, statt den Bestandteil der Seele auszumachen, als eine außerhalb der Seele stattfindende Illumination (die als mit Gott gleich angesehen wird) begriffen werden würde. In diesem Zusammen­ hang weist Guman auf drei Positionen hin, die in der aristotelischen Intellekttheorie fundiert sind. Der ersten Position gemäß wird der intellectus agens mit Gott identifi­ ziert und bleibt von der Seele getrennt. Die Erkenntnis außerhalb der Seele ist viel­ mehr als Illumination (die dann mit Gott verglichen wird) durch das tätige Prinzip zu denken (Roger Bacon). Die zweite Position ist die, die Thomas vertritt: Das tätige Prinzip ist mit der Seele verbunden. Diese Bestimmung der Position von Thomas ist m.E. noch zu präzisieren, da der tätige Intellekt mit einem göttlichen, tätigen Prinzip eine Beziehung in der Seele eingeht. Der dritten Position gemäß, die weder die erste noch die zweite Position ganz ablehnen will, wird der geschaffene intellectus agens vom ungeschaffenen, göttlichen intellectus agens unterschieden. Die Unterscheidung wird nach Guman wie folgt begründet: Damit der menschliche intellectus agens Erkennt­ nisbilder abstrahieren und über diese urteilen kann, benötigt er eine bewegende Ursa­ che, die der göttliche intellectus agens repräsentiert. Zu dieser Position zählt Guman die franziskanischen Theologen wie Johannes Peckham und Roger Marston. Vgl. Guman M., Vom Ursprung der Erkenntnis des Menschen bei Thomas von Aquin, S. 86 ff. Auf diese Frage gehe ich später (2.3) ein. 183

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Wie meine bisherige Erörterung zeigte, geht der erkennende Verstand im Erkennen auf dem Weg der indirekten Erkenntnis und damit der Assimilation vor, nämlich so, »wie das Erkannte im Erken­ nenden ist«.186 Um das Erkannte im Erkennenden zu assimilieren, ist sowohl die Aktualität des Objekts erforderlich, nämlich, dass das Objekt die Strebekraft (obiectum appetitivum) hat,187 als auch die Aktualität des Verstandes, die durch die Form entsteht, die vom Verstand von den materiellen Bedingungen abstrahiert wird und im Erkennenden ein intentionales Sein besitzt.188 Wäre der Gegenstand des Verstandes eine separate Form, hätte der Verstand keinen Bedarf, sich der Vorstellungsbilder zu bedienen.189 Doch erkennt der Intellekt im Modus der indirekten Erkenntnis seinen eigentlichen Gegenstand, die Form bzw. die Washeit der sinnlichen Gegenstände (quiditas rei sensibilis).190 Das bedeutet, dass das Verstandesvermögen dem Erkennbaren aufgrund ein und derselben Form, die in verschiedenen Zuständen vorkommt, analog sein kann. Inwieweit der Verstand sein Objekt assimiliert, d.h. ihm ähnlich macht, wird auch das Wissen in einem solchen Erkenntnisprozess gewonnen.191 Dieser auf Analogie bezogene Sachverhalt, dass das Verstandesvermögen im Erkenntnis­ prozess dem Erkenntnisobjekt (dem esse proprium eines sinnlich

186 S.Th.I, q.12, a.4; q.16, a.1: »[…] quia cognitio est secundum quod cognitum est in cognescente […].« 187 S.Th.I-II, q.60, a.1. / In Sent.I, d.3, q.1, a.2. 188 S.Th.I, q.16, a.1; q.78, a.3; q.79, a.3. Hier ist Perlers Behandlung der These von Thomas heranzuziehen, in der er sagt, dass sich eine Form auf unterschiedliche Weise angeeignet wird. Erstens wird die Form auf materielle Weise dann aufgenommen, wenn ein materieller Gegenstand die Form der Weißheit annimmt. Zweitens existiert diese Form im Wahrnehmungsorgan auf geistige (oder intentionale) Weise dann, wenn sie auf immaterielle Weise aufgenommen wird. Diese ist die Form, die im wahr­ nehmbaren Gegenstand ein natürliches Sein besitzt. Im Wahrnehmungssinn eines Menschen ist sie ohne Materie vorhanden und hat ein intentionales (oder geistiges) Sein (habet esse intentionale sine spirituale). Nur aufgrund dessen, dass der Mensch die Seele besitzt, kann er sich die Form eines Gegenstandes auf intentionale Weise aneignen. Zu weiteren Fragen nach der Intentionalität der Wahrnehmungs-, Vorstel­ lungs- und intellektuellen Akte siehe: Perler D., Theorien der Intentionalität im Mit­ telalter. Frankfurt am Main: Klostermann, 2002, S. 33–80. 189 S.Th.I, q.84, a.7. 190 S.Th.I, q.84, a.7ad2. 191 De Verit., q.1, a.1: »Omnis autem cognitio perfecitur per assimilationem cognos­ centis ad rem cognitam, ita quod assimilatio dicta est causa cognitionis […].« / C.G.II, 60.

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wahrgenommenen Einzeldinges) proportional bzw. analog wird,192 lässt das Verhältnis des Verstandesvermögens zum Erkennbaren einerseits und des Intellekts zu Gott andererseits als Proportionali­ tät verstehen.193 Wie noch in den folgenden Schritten genauer zu erläutern sein wird, handelt es sich bei der Richtung der Erkenntnisvermögen auf ihre Objekte um sensibles und intelligibles Erkennen. Im Folgenden werde ich die problematische Annahme diskutieren, die davon aus­ geht, dass eben an den sensiblen und intelligiblen Formen und dem Verhältnis zwischen beiden der Prozess der analogen Erkenntnis ansetzt. Der bereits behandelten Frage nach der analogen Erkenntnis als Assimilationsprozess, ist noch weiter nachzugehen. Das bedeutet, dass nicht nur das Intellektvermögen, sondern auch das extramentale, ontologisch separate Erkenntnisobjekt, worauf der Verstand im inten­ tionalen Erkenntnisakt gerichtet wird, gedeutet werden muss. Dies aber ist erst dann möglich, wenn die Struktur des Erkenntnisobjektes ausgewiesen ist. Das Erkenntnisobjekt, das eine bestimmte ontologische und epistemische Struktur hat, findet in Thomas’ Konzept des Verhältnis­ ses zwischen dem aus der Form und Materie Zusammengesetzten auf der einen und der Gattung, Art und Differenz194 auf der anderen Seite seine theoretische Fundierung. Der Frage nach dem inneren Verhältnis im Zusammengesetzten ist mithilfe der Begriffe actus und potentia, esse und essentia auf den Grund nachzugehen. Dabei ist die Frage zu diskutieren, ob aus diesen Verhältnissen folgt, dass sie proportionalitätsanaloge Verhältnisse sind. Folgt Thomas hier der Auffassung von Albertus Magnus, dass Materie ihr Sein nur in Analogie zur Form besitzt?195 Damit bildet sich eine neue Frage, näm­ lich jener nach dem Erkenntnisgegenstand, der dem menschlichen Intellekt zunächst als sinnlich wahrnehmbares Einzelding – als eine hylomorphische Einheit – vorliegt. 192 S.Th.I, q.85, a.1. Vgl. Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 121– 132. 193 S.Th.I, q.12, a.1ad4: »Alio modo, quaelibet habitudo unius ad alterum proportio dicitur. Et sic potest esse proportio creaturae ad Deum, inquantum se habet ad ipsum ut effectus ad causam, aut potentia ad actum. Et secundum hoc, intellectus creatus proportionatus esse potest ad cognoscendum Deum.« 194 S.Th.I, q.79, a.3. 195 Albertus Magnus, Opera Omnia, Physica. T. IV. (Ed. Coloniensis) Ed. P. Hossfeld. Münster: Aschendorff, 1987, p.1, lib.1, tract.3, cap.13, 85–93, S. 64 f., 59–86, S. 65. / Metaphysica, p.1, lib.1, tract.5. cap.8, 55–64, S. 79.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts Neben der Frage nach dem Intellektvermögen gehört auch die hylem­ orphische Einheit zu den grundsätzlichen epistemischen Probleme, die sowohl im Mittelalter als auch in der gegenwärtigen Philosophie häufig diskutiert wurden und werden. Wenn man aus der Reihe der Debatte um den Hylemorphismus diejenigen Aspekte herausgreift, die sich auf die Analogie beziehen, ist das Hylemorphismus-Problem im Mittelalter und speziell bei Thomas196 wie folgt zu formulieren: 196 In der mittelalterlichen Diskussion um das aus der Antike überlieferte Thema zum Wesen von Materie und Form, gibt es diverse Lösungen. An folgenden Analogien zeigt sich, dass etwa Nikolaus von Strassburg das Kompositum in der Erkenntnis- und Seinsordnung auf ähnliche Weise wie Albertus Magnus versteht. Nikolaus stellt fol­ gende Analogie auf: Wie die Materie von der Form das Wirklichsein enthält, so emp­ fängt die Materie von der Form das Erkannt-zu-werden. Die Analogie-Beispiele von Albertus Magnus lauten: Wie sich die erste Materie zur hervorgebrachten Substanz oder das Holz zum Bettgestell verhält, so verhält sich die (gestaltlose) Materie zum (gestalteten) Gegenstand auf Grund der Form, die das die Erkenntnis ermöglichende Prinzip ist (Physica, p.2, lib.8, tract.1, cap.11, S. 569 ff.). Wie sich die Materie in den wirklichen Naturdingen befindet, so verhält sie sich als das Gestaltlose zum Geform­ ten in den Künsten. Die Materie hat ihr Sein nur in Analogie zur Form (Physica, p.1, lib.1, tract.1, cap.9, 73–83, S. 92 f.), sie kann nach Albertus nicht anders, als durch die Analogie erkannt werden (Metaphysica, p.2, lib.11, tract.1, cap.7, 64–69: »[…] materia non intelligitur nisi per analogiam ad hoc aliquid et ad sensiblem substantiam, quae est per formam […].«; lib.11, cap. 12). Thomas’ Konzeption des Kompositums entsteht in der Diskussion und Konfrontation mit Einsichten von Avicenna und Anaxagoras. Die Formen des natürlichen Seienden kommen nach Thomas weder von einem extrin­ sisch Tätigen (intelligentia agens) oder dem Formspender (dator formarum) (Auffas­ sung von Avicenna) noch werden die Formen in der Materie als verborgene immer aufbewahrt (Auffassung von Anaxagoras). Thomas’ Auffassung unterscheidet sich auch wesentlich von der Bonaventuras, der die verborgenen möglichen Formen (ratio­ nes seminales: forma universalis vel singularis) aus dem Zusammenwirken von Gott und der ersten Materie der körperlichen Substanzen herleitet. Vgl. Albertus Magnus, Opera Omnia, Physica, T. IV, p.1, lib.1, tract.3, cap.13; p.2, lib.8, tract.1, cap.11. / Opera Omnia, Metaphysica, T. XVI, p.2, lib.11, tract.1, cap.7. / Opera Omnia, De generatione et corruptione, T. V. (Ed. Coloniensis) Ed. P. Hossfeld, V, 2. Münster: Aschendorff, 1980. // Ioannes Duns Scotus, Ordinatio II, A distinctione prima ad tertiam. Opera Omnia, VII. Ed. P. C. Balic. Civitas Vaticana, 1973. // De Verit, q.11, a.1. // Avicenna, Liber de philosophia prima sive scientia divina, tract.2, cap.3, A72–79; cap.4, A80– 89, S. 82–103. // Bonaventura, Opera theologica selecta, Liber II Sententiarum (Sent.II). Ed., cura pp. Collegii S. Bonaventurae. Florentiae: Quaracchi, MCMXXXIV/ MCMXXXVIII, d.18, a.1, q.3, S. 453–456. Für einen detaillierten Einblick in die Dis­ kussionen um die Materie und um die mögliche oder unmögliche Einheit der Materie

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

Was ist die Form, die zusammen mit der Materie eine hylemorphische Entität konstituiert, und was sind Form und Materie der kognitiven Akte? Was ist ein metaphysisches Kompositum? Welche metaphysi­ schen Prinzipien liegen dem Kompositum zugrunde? Wie sind das Wesen und die Existenz (oder Nicht-Existenz) der Konstituenten des Kompositums – Materie und Form – zu verstehen und was lässt beide Konstituenten in Verbindung treten? Wie gelangt man zu den beiden Konstituenten? Welche Rolle spielen beide Konstituenten eines Kompositums im Erkenntnisprozess, in welchem die prima conceptio nicht Gott, sondern ein zusammengesetztes Seiendes ist, das dem Intellekt als Erstes sinnlich erscheint, sodass sich anschließend in dieser Sinnlichkeit der eigentliche Erkenntnisgegenstand (quiditas rei sensibilis) des Intellekts manifestiert? Bevor ich diese Fragen näher behandle, sind einige Hinweise zu den gegenwärtigen Hylemorphismus-Debatten nötig. Dass der Hylemorphismus heutzutage ein auf die Analogie bezogener fun­ damentaler Forschungs- und Diskussionsgegenstand ist, bestätigt die bereits angesprochene rege Hylemorphismus-Debatte.197 Die Bezeichnungen des Hylemorphismus wie »constituent ontological

und Form siehe etwa: Wagner C., Materie im Mittelalter. Ed. und Untersuchungen zur Summa (II, 1) des Nikolaus von Strassburg OP. Freiburg (Schweiz): Universitätsver­ lag, 1986. // Happ H., Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff. Berlin; New York: De Gruyter, 1971. // McMullin E. (Ed.), The Concept of Matter in modern Phi­ losophy. Notre Dame, Ind.: Univ. of Notre Dame Pr., 1978. // Speer A., The Discovery of Nature: The Contribution of the Chartrians to Twelfth-Century Attempts to Found a »Scientia Naturalis«. Tradition 52 (1997), Cambridge Univ. Press, S. 135–151. 197 An dieser Stelle sind nur einige mit der Analogie verbundene und meist diskutierte Probleme zu nennen: Universalien-, Kreations-, Unendlichkeits-, mereologisches Teil-Ganzes-Problem und das Vielheit-Einheit-Problem. Siehe: Dewan L., Saint Thomas, Alvin Plantinga, and the Divine Simplicity. The Modern Schoolmann 66 (1989), S. 146–151. // Plantinga A., Does God have a Nature? Milwaukee: Marquette University Press, 1980. / Plantinga A., On Ockham’s Way Out. Faith and Philosophy 3/3 (1986), S. 235–269. // Diskussion zwischen E. Stump, N. Kretzmann, W. Alt­ mann und R. Gale in: Stump E., Kretzmann N., Absolute Simplicity. Faith and Philo­ sophy 2 (1985), S. 353–382.// Chisholm R., Parts as Essential to Their Wholes. Review of Metaphysics 26 (1973), S. 581–603. // Inwagen P. von, Material Beings. Ithaca: Cornell Univ. Press, 1990. // Normone C., Duns Scotus Modal Theory. In: Williams Th. (Ed.), The Cambridge Companion to John Duns Scotus. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2002, S. 129–160. // Wasserman R., Material Constitution. In: Zalta E. N. (Ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, available online at: https://plato.stanford.edu/entries/material-constitution/ (accessed 8.8.2018).

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

hylomorphism«198 oder »rehabilitating hylomorphism«,199 aber auch »compositional nihilism« sind bemerkenswerte Schlüsselbegriffe zu der Diskussion um die traditionelle aristotelisch-thomanische Meta­ physik und Erkenntnistheorie. In dieser Diskussion streiten zwei (philosophiegeschichtlich allerdings nicht ganz neue) gegensätzliche Positionen miteinander. Die eine nimmt die Materie und Form als Konstituenten eines Zusammengesetzten an und fasst sie als iden­ tisch auf. Die andere behandelt beide als nicht identisch und orien­ tiert sich am aristotelisch-thomanischen Realismus. Die genannten Auffassungen sind außerdem mit dem sogenannten »compositional nihilism« konfrontiert. Die zweite Position, die auch die des Thomas ist, versteht die ontologische und epistemische Nicht-Identität (oder die hylemorphische Differenz) der metaphysischen Teile eines Kom­ positums als Grund für die weiteren Bestimmungen der Differenzen und Strukturen, nämlich: (1) die Potenz-Akt-Differenz, die auf die aristotelischen Begriffe der Form, als Prinzip der Aktualität, und der Materie, als Prinzip der Potentialität, zurückgeht;200 (2) die SeinsWesens-Differenz und (3) die kategorialen Begriffspaare wie Kon­ kretes-Allgemeines und Individuelles-Universelles. Die Bestimmung der Differenzen und Strukturen stellt hierbei einen analytischen Vorgang dar, der die Struktur eines konstituierten Zusammengesetz­ ten aufgrund der Analogie in eine umfassendere Struktur und alle Bereiche und Gegenstände in ein universalistisches System einordnen lässt. Die beiden grundsätzlichen Differenzen des Seienden und weitere Differenzen wie Substanz-Akzidens und Quantität-Qualität werden damit zum Merkmal sowohl analoger Verhältnisse als auch

Hier verweise ich auf folgende (darunter nordamerikanische) Dissertationen, in denen auf die Hylemorphismus-Debatte eingegangen wird: Peterson A. S., Hylo­ morphism in Aristotle’s Metaphysics: Constituent Ontology without derivative Diver­ sification. Notre Dame, Indiana: Univ. of Notre Dame, 2014. // Ward Th. M., The Hylomorphism of John Duns Scotus. California: UMI, 2011. Im Zentrum der laufenden Diskussionen steht die Konzeption des Hylemorphismus von Inwagen: Inwagen P. van, Material Beings. Cornell Univ. Press, 1990. // Varner W. C., Hyle­ morphism: A Viable Restrictivist Approach to material Composition? California: UMI, ProQuest, 2012. 199 Vgl. Varner W. C., Hylemorphism, S. 2. 200 Aristoteles’ Physik: Vorlesung über Natur. Gr.-dt. Übers., mit einer Einl. und mit Anm. hrsg. von H. G. Zekl. 2 Bde. Hamburg: Meiner, 1987, A9, 192a20–22; 192a34– 192b1; B1, 193a28–193b8. // Aristotelis Physica, II. Ed. W. D. Ross. Oxford, 1950. 198

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

des Analog-Allgemeinen.201 Hier tritt eine ontologische Bedingung in den Vordergund, denn nur dann, wenn Materie und Form als nicht identische Konstituenten eines Kompositums verstanden werden, wie das schon in der Metaphysik des Aristoteles festgelegt ist,202 kann ihre Einheit und ihre Verschiedenheit auf unterschiedlichen Ebenen des Seins und der Erkenntnisordnung bestimmt werden. Die Reflexion über die Grundstruktur der Wirklichkeit und die ersten Prinzipien im Allgemeinen beginnt mit der Frage (aber endet nicht mit dieser) nach den Konstituenten eines Kompositums. Für diese Reflexion ist es nötig, auf zwei methodische Aspekte aufmerk­ sam zu machen: Der erste Aspekt ist in allen Fällen zu beachten, wo die Bestimmung des extra- oder intramentalen (konzeptualistischen bzw. konventionellen) Charakters des hylemorphischen Kompositums sei­ ner Konstituenten gefragt ist; der zweite Aspekt zeigt sich an der Entscheidung zwischen Analogie, Univozität oder Äquivozität bei der Deutung der ontologischen und epistemischen Problematik. Die Berücksichtigung beider methodischer Aspekte bildet eine solide Grundlage nicht nur für die spezielle, sondern auch für die generelle Bestimmung der epistemischen Grundposition von Thomas, die mit Begriffen wie »thomanischer Externalismus«203 oder »thomanischer Realismus«204 bezeichnet wird. Es geht bei dieser Position im spezi­ ellen Sinne darum, dass es eine von unserem Verstand unabhängige Form und Materie gibt, aus der sich Gegenstände konstituieren, die in 201 S.Th.I, q.75, a.6. Vgl. Brown C. M., Pluralism and material Substance: Thomas Aquinas and the Problem of material Constitution. California: UMI, ProQuest, 2002, S. 150. 202 Met.Λ 2, 1069b35–1070b35. // In Met.III, lect.10, n.458, n.465. 203 Die thomanische Auffassung der Grundstruktur der Wirklichkeit und der ersten Prinzipien bezeichne ich mit dem Begriff Externalismus im Sinne Davidsons, was bedeutet, dass »wir unsere Gedanken und unsere Welt mit anderen teilen, um über den Begriff der Objektivität zu verfügen, sowie über den Begriff von Gegenständen […] deren Eigenschaften und Existenz von unserem Denken unabhängig sind«. Mit­ hin ist die zentrale Frage, ob sich die Gegenstände, die wirklich existieren und bestimmte Eigenschaften besitzen, von unserem Denken abhängig oder unabhängig sind? Siehe: Davidson D., Externalisierte Erkenntnistheorie. In: Ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Übers. von J. Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, S. 336. 204 Als Realismusproblem in der mittelalterlichen Philosophie wird das Problem des Verhältnisses zwischen der Wirklichkeit und den Seinsweisen des Allgemeinen (als des eigentlichen Erkenntnisgegenstandes), der epistemischen Rechtfertigung der All­ gemeinbegriffe, der Erkennbarkeit der Allgemeinbegriffe und der Einzeldinge behan­ delt.

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der Welt existieren.205 Wenn man alle oben erwähnten charakteristi­ schen Merkmale des hylemorphischen Kompositums beachtet, dann ergibt sich die Frage, ob beide Konstituenten erkennbar sind? Aber wie kann das eigentlich Erkannte, das stets der abstrahierte Inhalt (Allge­ meines) sein sollte, mit dem von unserem Verstand unabhängigen, aus Form und Materie konstituierten, Gegenstand kompatibel sein? Offenbar soll diese Differenz bei Thomas nicht unüberwindbar sein, sind beide Konstituenten doch als Voraussetzung jeder Erkenntnis zu erfassen. Unter dieser Voraussetzung kommt man zum Allgemeinen über das extramentale Einzelding, da das Allgemeine nur im Akt und nur durch sinnlich Wahrgenommenes erreichbar ist.206 Den Grund hierfür liefert die Struktur des hylemorphischen zusammengesetz­ ten Einzeldinges. Anhand der aristotelisch geprägten Philosophie des Thomas zeigt sich die Sonderrolle eines strukturierten Einzeldings, auf das sich der Intellekt bezieht: Es ist das im ontologischen Sinne aufzu­ fassende, aus Materie und Form zusammengesetzte Kompositum (ens als compositio ex materia et forma), das unteilbar ist.207 Das unteilbare Kompositum, substantia composita, besteht nach Thomas aus nicht-identischen Konstituenten und ist mit seinen Teilen selbst Für eine möglichst genaue Bestimmung des von Thomas vertretenen Realismus lohnt sich die gegenwärtige Diskussion zwischen Realisten und Antirealisten zu berücksichtigen, da Thomas’ Realismus einen impliziten Bestandteil der gegenwärti­ gen Positionen bildet. In dieser Diskussion bezieht Searle beispielsweise den Begriff der »Standard-Position« ein, die nach ihm eine Position des externen Realismus bildet, die sich in der Philosophiegeschichte über Jahrhunderte gehalten hat und wie folgt wiedergegeben wird: »Es gibt eine wirkliche Welt, die unabhängig von uns existiert, unabhängig von unseren Erlebnissen, unseren Gedanken und unserer Sprache,« sie ist »total und absolut unabhängig« (S. 19, 24). Die Realisten nehmen nach Searle an, dass die wirkliche Welt unabhängig von Denken und Sprache existiert, jedoch bezie­ hen sich Denken und Sprache auf Gegenstände der wirklichen Welt. (S. 24.) Diese Position ist auf Ockhams direkten epistemischen Realismus bzw. Nominalismus zurückzuführen. Thomas’ Epistemologie stellt dagegen den indirekten Realismus dar, dazu ausführlicher unten. Siehe: Searle J. R., Geist, Sprache und Gesellschaft. Philo­ sophie in der wirklichen Welt. Aus dem Englischen von H. P. Gavagai. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. 206 De Verit., q.10, a.8. 207 S.Th.I, q.3, a.3; q.85, a.5. / In Perih.I, 1, V, n.73. / In Met.VII, lect.2, n.276 f.; lect.3, n.1315, n.1316; lect.5, n.1378; XI, lect.2, n.2177, n.1278. Bei Thomas handelt es sich um mehrere Bedeutungen der »compositio«: (1) die Komposition eines extra­ mentalen Gegenstandes; (2) die Komposition zwischen Substanz und Akzidens; (3) den Verstandesakt (compositio et divisio) schlechthin; (4) die Methode der Wissen­ schaften (compositio et resolutio). 205

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

nicht identisch. Doch während das ontologische Kompositum die Auskunft über zwei zusammengefasste, nicht identischen Konstitu­ enten gibt, liefert das erkenntnistheoretische bzw. logische Komposi­ tum die Auskunft über die universelle, in der Identität bzw. Univozität begründete Wesensbestimmung von Art und Gattung. Dass und wie das ontologische Kompositum und das logische Kompositum bzw. die logische Struktur der Proposition verbunden sind, werde ich im Kapitel 4 (Abschnitt 4.2) zeigen. Thomas’ hylemorphischen Ansichten werden weder von Seiten seiner Nachfolger noch von gegenwärtigen Interpreten des Hylemor­ phismus akzeptiert. Eine für die hier verhandelte Fragestellung rele­ vante Interpretation, die sehr verbreitet ist, verlangt nach einer nähe­ ren Erläuterung. Diese Interpretation zeichnet sich erstens dadurch aus, dass sie das Problem des Hylemorphismus nicht als ein aus der Mode geratenes, philosophiegeschichtliches Relikt beurteilt; zweitens behaupten die Vertreter dieser Interpretation die Anerkennung der Existenz der Materie und Form als Konstituenten der Substanzen; drittens vertreten sie die Auffassung, dass der Mensch ein aus Seele und Körper bestehendes Kompositum ist und nicht nur als ein Trä­ ger mentaler oder funktionaler Zustände des Gehirns bzw. Körpers behandelt werden darf. Die Seele, als Form des menschlichen Körpers, muss nämlich in Relation zur tatsächlichen Existenz einer ewigen Entität aufgefasst und untersucht werden.208 Um die Frage beantwor­ ten zu können, woher die Substanzen ihre Form bekommen, muss zunächst die Frage nach der Erkenntnis Gottes behandelt werden.209 Auf diese Weise wird die Einheit der substantiellen und immateriellen 208 Vgl. Stump E., Kretzmann N., Ewigkeit. In: Stump E., Gasser G., Grössl J. (Hrsg.), Göttliches Vorherwissen und menschliche Freiheit. Beiträge aus der aktuellen analy­ tischen Religionsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer, 2015, S. 147–182. // McCord Adams M., Ist die Existenz Gottes eine »harte« Tatsache? In: Stump E., Gasser G., Grössl J. (Hrsg.), Göttliches Vorherwissen und menschliche Freiheit, S. 69–83. // Vgl. außerdem Newen A., Meixner U. (Hrsg.), Seele, Denken, Bewusstsein. Zur Geschichte der Philosophie des Geistes. Berlin; New York: De Gruyter, 2003, Vorwort. 209 Vgl. Stump E., Kretzmann N., Being and Goodness. Ed. B. Davies. Oxford: Univ. Press, 1991. // McDaniel K., A Return to the Analogy of Being. Philosophy and Phenomenological Research 81, Nr. 3 (2010), S. 688–717. // Dolezal J. A., God without parts: Simplicity and the Metaphysics of Divine Absoluteness. Westminster: UMI, ProQuest, 2011. // Wilkins S. M., A Hylomorphic Theory of Composite material Substances. Bronx; New York: UMI, ProQuest, 2015. // Brown C. M., Pluralism and material Substance: Thomas Aquinas and the Problem of material Constitution. // Peterson A. G., Hylemorphism in Aristotle’s Metaphysics: constituent Ontology without derivative Diversification.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Formen in deren Verschiedenheit zur Sprache gebracht. An diesen Diskussionen, die ich hier nicht näher behandeln werde, zeigt sich die Weiterentwicklung der in der scholastischen Theologie und Philoso­ phie verankerten Probleme. Im folgenden Abschnitt frage ich mit Thomas, auf welche Weise das Verstandesvermögen von der hylem­ orphischen Entität zur absoluten Wirklichkeit gelangen kann. Da kein fester Konsens in der Erörterung der epistemischen Frage erreicht wurde, ist es wichtig, auf die verschiedenen Problemstellen dieser Frage hinzuweisen, ehe schließlich Thomas’ Lösung vorgeführt wer­ den kann. Dies erfordert das Einbeziehen der Analogie, Univozität und Äquivozität.

2.3.1 Von der hylemorphischen Entität zur absoluten Wirklichkeit: die Perspektive der Analogie Anhand der bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die Begründung sowohl des Intellekts als auch der Gültigkeit seines Vermögens für die indirekte Erkenntnis eine problematische Frage darstellt. Wie oben bereits angesprochen, folgt der Frage nach dem Verstandesvermögen die Frage nach dem hylemorphischen Komposi­ tum. Das Problem ist nun vielschichtiger geworden und lautet wie folgt: Ist das Verstandesvermögen, das nicht separat besteht, sondern ein im Menschen vorhandenes Vermögen ist, imstande, die vom Verstand unabhängigen hylemorphischen Einzeldinge im Akt (intel­ ligibilia in actu) sinnlich wahrzunehmen, wobei dies nicht auf direkte Weise, sondern durch die Abstraktion geleistet wird, da die Erkennt­ nis eine Erkenntnis des Allgemeinen (quiditas rei sensibilis) ist?210 Die Kompatibilität des von Thomas eingeführten Konzepts, von den drei Akten des Intellekts (vgl. 2.1) mit der hylemorphischen extramentalen Entität, stellt die Grundlage für die Lösung dieses Erkenntnispro­ blems dar. Denn erst aufgrund dessen, dass der Wahrnehmungssinn die erforderliche Disposition zur Aufnahme der Form hat, kann die Form (in ihrer Aktualität) überhaupt auf intentionale Weise aufgenommen werden. Damit entsteht das Erkenntnisverhältnis, in welchem der Intellekt sensitiv und intellektiv zum esse proprium (von der prima conceptio aufgefasstes esse211) einer res naturalis bezogen 210 211

S.Th.I, q.12, a.4; q.79, a.3. Vgl. Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 129.

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ist. Die Materie ist in diesem Verhältnis im Sinne der Potentialität zu deuten. Ein Beispiel: Wenn Holz die Materie des Tisches ist, dann ist Holz ein potentieller Tisch. Wenn Holz nicht potentiell ein Tisch ist, dann ist Holz keine Materie. Holz ist aber nicht das, was der Tisch (aktuell) ist, da die Form des Tisches das ist, was der Tisch ist.212 Wird die Wesensform bestimmt, kann das Sein eines Einzelnen, etwa das des Tisch-seins, bestimmt werden. Dieses schematische Beispiel deutet gewisse ontologische Ver­ änderungen an. Aber um welche Veränderungen handelt es sich und was betreffen diese: den Verstand, in dem das Erkenntnisobjekt repräsentiert ist oder die konstitutiven Teile (Materie und/oder Form) eines extramentalen Gegenstandes? Die vorherige Erörterung über die Frage nach dem Verstandesvermögen und der Form besagt, dass die beiden Potenzen des Intellekts – intellectus possibilis und agens – imstande sind, auf dem Weg der analogen Erkenntnis bzw. des Wegs der Abstraktion, die verstandesmäßigen Formen aus der (sensiblen, individuellen) Materie herauszuziehen. Die Formen, die Formen in actu sind und das intentionale Sein besitzen, sind diejenigen, die den Verstand zum Erkennen formen. Vor diesem Hintergrund ist die Vorstellung von den angedeuteten Veränderungen auch für die Klärung des Assimilationsprozesses nützlich, in welchem das Verstandesvermögen dem Erkennbaren analog wird. An einem weiteren komplementären Beispiel kann demonstriert werden, wie die Form des natürlichen (nicht logischen), kategorial 212 Dieses auf Aristoteles zurückgehende Beispiel trifft man öfters in scholastischen Texten. Für Albertus Magnus dient dieses Beispiel dazu, die Auffassung zu erklären, dass die erste Materie ohne Form nur im Verstand gegeben, nicht aber in der Natur vorhanden ist; in der Wirklichkeit kann sie aber nur durch die Verbindung mit der Form (oder auch durch die Befreiung von den Formen) existieren und erkannt werden. In beiden Fällen ist sie analog erkennbar (im ersten Fall ist Materie ohne Form das Erkenntnisobjekt des Metaphysikers, im zweiten Fall eines Physikers wird Materie nur in der Verbindung mit der Form erfasst). Maimonides sieht den besonderen Wert dieses Beispiels für die Interpretation der Potentialität der Materie. An diesem Beispiel wird die Rolle der Analogie bei Thomas aufgezeigt, die ich später noch deutlich machen werde. Vgl. Stern J., The Matter and Form of Maimonides’ Guide. Cambridge; London: Harvard University Press, 2013, S. 1–18. // Albertus Magnus, Opera Omnia, Meta­ physica. T. XVI, p.2, lib.7, tract.3, cap.2, 41–86, S. 356; 1–63, S. 357 und cap.12, S. 354–358; lib.8, tract.1, cap.3, S. 391–392. / Physica, Opera Omnia, T. IV, p.1, lib.1, tract.3, cap.10, S. 5–57; cap.11, S. 57–60. // Hossfeld P., ›Erste Materie‹ und ›Materie im allgemeinen‹ in den Werken des Albertus Magnus. In: Meyer G., Zimmermann A. (Hrsg.), Albertus Magnus – Doctor Universalis, 1280/1980. Mainz: MatthiasGrünewald, 1980, S. 205–235.

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Seienden aufgenommen und in etwas anderes umgewandelt wird: Die Form der Wärme wird etwa in das Wasser oder Holz aufgenommen und das Wasser oder Holz wird dadurch erwärmt. Die Form, die auf immaterielle Weise dem geistigen bzw. intentionalen Sein nach aufgenommen wird, ist etwa die Form der Farbe in den Augen, die selbst nicht gefärbt werden, oder die Form des Steines in unserer Seele, die nicht der Stein selbst ist.213 Anhand zweier Schematas wurden doppelte Veränderungen von Entitäten wie Wärme, Holz, Wasser, die Form der Farbe, des Steines und des warmen Wassers demonstriert: einerseits ontologische, andererseits epistemologische. Es bestehen aber immer noch gewisse Schwierigkeiten in Bezug auf die Frage nach den Veränderungen in den Konstituenten dieser Entitäten. Wichtig ist deshalb, sich bewusst zu machen, dass die Konstituenten eine Voraussetzung sowohl für die Veränderungen als auch für die Einheit einer jeden Entität und einer jeden Einheit von mehreren, zusammengesetzten Entitäten bilden. Wenn eine derartige Einheit trotz der Veränderungen in den Konstituenten besteht, worin besteht sie dann genau? Durch die Erörterung folgender Fragen soll eine Perspektiverweiterung gewonnen werde, die schließlich bei der Lösung dieser Problemstellung von Nutzen sein wird. Diese umfassen Fragen (1) nach dem Träger, (2) nach der Struktur der Entitäten und der Einheit mehrerer Entitäten, (3) nach den spezifischen Verhältnis­ sen der Strukturen und (4) nach der hylemorphischen Entität in ihrer Kategorialität und Transkategorialität. Für Thomas sind die Fragen (1) und (2) wie folgt beantwortbar: Der Träger wird den Formen gemäß bestimmt. Die Form der Wärme 213 S.Th.I, q.78, a.3; q.56, a.2ad3. / De Verit., q.22, a.5. / De Anima III, 8, 432b25– 432a1. / In Aristotelis Librum de Anima Commentarium, II, lect.5, 282–284. / De unitate intellectus contra Averroistas, cap.1, n.179, n.186. Diese Frage wird schon von Aristoteles gestellt: Was und wodurch erkennt die Seele, wenn die Form des Steins in unserer Seele und die Form des Steins in ihrer materiellen Existenz verschieden sind. Thomas differenziert zwei Modi des Seins: esse naturale und esse intentionale. Diese Differenz erlaubt es ihm zu argumentieren, dass Wahrnehmungs- und Vorstellungs­ sakte sowie Akte des Intellekts im Erkennen notwendig verbunden sein müssen. Die Form, die diese Akte verbindet, ist ihnen gemeinsam, sie wird auf natürliche (d.h. sie ist im realen Gegenstand) und auf intentionale Weise (als wahrnehmbare Form) auf­ genommen. Eine solche Übereinstimmung in der Form bildet, wie ich bereits erörtert habe, eine wichtige Grundlage für Thomas’ Kritik am averroistischen Konzept des separaten Intellekts. Für diese Frage ist die Auffassung des esse intentionale und esse obiective im Nominalismus etwa bei Ockham von Bedeutung. Vgl. Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 248 ff.

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

oder der Farbe kann in warmen oder weißen Gegenständen existieren, der Träger aber ist nicht die Wärme oder die Farbe selbst. Vielmehr kann er selbst warm sein oder werden, aber auch Sehschärfe besitzen, um die weiße Farbe wahrzunehmen. Dabei können Wärme und Farbe in verschiedenen Objekten (Wasser, Augen) auftreten, sodass diese als warm, rot oder gesund charakterisiert werden können. Auf diese Weise kommt man zu mehreren formae accidentales, die zur forma substantialis hinzukommen. Man muss sich hier dessen bewusst sein, dass zwischen verschiedenen Formen zu unterscheiden ist. Daraus wird ersichtlich, dass sich für jede Entität nicht nur eine einzige Einheitsweise bzw. Struktur ergibt. Dies wirft die Frage auf, ob wir die Einheit von mehreren Entitäten (etwa Wärme, Wasser, Gesundheit, Pflanzen, Menschen), die zu unterschiedlichen Gattungen bzw. Arten gehören, wirklich bestimmen können. Folgt man der Ansicht von Thomas, dass die Einheit der Entitäten aufgrund der gemeinsamen Komponenten her­ stellbar ist, wird der Zugriff auf die durchstrukturierte Wirklichkeit möglich. Deutlicher wird die Bedeutung der strukturierten Wirklich­ keit, wenn man sie aus sprachlicher Perspektive betrachtet: Sie bedeu­ tet dann, dass mehrere strukturbildende Entitäten mit dem Begriff eines Gemeinsamen (als »warm«, »gesund« oder »weiß«) bezeichnet werden können, auch wenn in ontologischer Hinsicht das Sein des Gemeinsamen nicht dasselbe Sein in allen Seienden ist. Die Frage, woher der Name, dessen Grundbedeutung und erweiterte Bedeutung hergenommen werden, um diesen Namen schließlich auf die vielfäl­ tigen Entitäten mit ihren strukturellen Einheiten anzuwenden, ist eine logisch-semantische (siehe Kapitel 3). Bevor aber logisch-semanti­ sche Fragen gestellt werden, sollte nach Thomas die ontologische Frage nach dem Sein der materiellen bzw. hylemorphischen und immateriellen Entitäten gestellt werden. Anders gesagt: die von den Metaphysikern gestellte Frage sollte Priorität vor den Fragen der Logi­ ker besitzen, da letztgenannte mit demselben Gattungsnamen, etwa corpus, alle materiellen zusammengesetzten und immateriellen Kör­ per auf univoke Weise bezeichnen. Die Metaphysiker aber beachten die Akzidenzien der vergänglichen und unvergänglichen Entitäten; im logisch-semantischen Sinne folgen sie dem Prinzip, demgemäß die Gegenstände mit den Namen der Erkenntnis- und Seinsordnung bezeichnet werden. So werden wichtige Bedingungen festgelegt, um einen Gegenstand als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis in seiner Einheit und in einer strukturellen Einheit zu erfassen.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Bei der Frage nach der strukturellen Einheit kommt die wesentliche Bedeutung einer der Konstituenten, der Form, klar zutage. Diese Bedeutung ist nicht zu überschätzen, da die Behandlung der Frage etwa nach der Akzidentalität des vergänglichen Singulären ohne die zweite Konstitutente, die Materie, unbeantwortet bliebe. Die Antwort auf die Frage (3) kann dem folgenden Versuch von Thomas entnommen werden: Wenn man die strukturelle Einheit der hylemorphischen Entitäten als die der spezifisch logischen Artund Gattungseinheit zu bestimmen versucht, dann liegt die Aufgabe darin, die logische Einheit aus der Artdefinition (d.h. die abstrahierte begriffliche Wesensbestimmung der Spezies), aus der artspezifischen Differenz und der Gattung zu gewinnen. Thomas bestimmt – Aris­ toteles folgend – diese Einheit als univok, nämlich als »schwache Form« der Einheit, die (nur) für den (logischen) Ausdruck des Wesens gilt und (nur) als Gedachtes viele Entitäten in eine gemeinsame Struktur einbezieht.214 Die Frage, die Thomas besonders beschäftigt, ist nicht primär die Frage nach der logischen Art-Gattungs-Einheit, sondern nach dem spezifischen Verhältnis zwischen formae substantiales und formae accidentales und ihre epistemisch-ontologische Zuordnung. Dieses Verhältnis besteht nicht darin, dass formae substantiales oder for­ mae accidentales selbst einen direkten Zugang zu der strukturellen Wirklichkeit oder zum Absoluten ermöglichen, sondern darin, dass dieses Verhältnis auf das Absolute mittels der Erkenntnis zielt, die ihren Anfang in der natürlichen Welt bzw. in einer hylemorphischen Entität nimmt. Die Weise, auf welche sich die universale Wirklichkeit erkennen lässt, hängt sowohl von dem analogen Substanz-AkzidensVerhältnis als auch von dem Gott-Kreatur-Verhältnis ab, die beide durch zwei Grundformen der Analogie – die Proportions- und die Proportionalitätsanalogie – gedeutet werden können.215 Nicht im rein logischen univoken Fall, sondern nur im Fall der Analogie ist es möglich, von der hylemorphischen Entität zur absoluten Wirklich­ keit voranzuschreiten. Met.Δ7, 1016b31–35. S.Th.I, q.13, a.5: »[…] unum habet proportionem ad alterum. […] Et hoc modo aliqua dicuntur de Deo et creaturis analogice, et non aequivoce pure, nec univoce. Non enim possumus niminare Deum nisi ex creaturis, ut upra dictum est. Et sic, hoc quod dicitur de Deo et creaturis,, dicutur secundum quod est aliquis ordo creaturae ad Deum, ut ad principium et causam […].« 214

215

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

Frage (4) soll einen Beitrag zur größtmöglichen Kohärenz in der oben geschriebenen strukturellen Einheit leisten. Es geht an dieser Stelle um den Bereich des Seienden (ens) und den darin enthaltenen Perspektiven. Die eine besteht im etwas als ens (im Sinne der prima conceptio) und zeigt sowohl die Gerichtetheit des Intellekts auf sein eigentliches Erkenntnisobjekt (quiditas rei sensibilis) als auch die Transzendentalität, dergemäß der Intellekt (in actu) auf etwas als Seiendes (in actu) immer bezogen ist (in diesem Sinne kann man sagen, dass das ganze epistemische Projekt des Thomas »transzen­ diert« wird). Die andere Perspektive besteht in der zweiten Bedeutung des ens als der ersten der Transzendentalien, die convertitur cum re.216 Das Problem, das hier entsteht, liegt in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem (nicht-quiditativen) Seienden, das als erstes der Transzendentalien in ihren allgemeinen (d.h. nicht an eine der Kategorien gebundenen) Modi zu bestimmen ist, und dem kategorial-Seienden, das auf der Ebene der Kategorien in dessen speziellen Modi zu erfassen ist.217 Das kategorial-Seiende ist durch die Begriffe der Substanz, Qualität und Quantität ein auf eine bestimmte Wesenheit oder Natur beschränktes Seiendes.218 Die auf verschiedene Aspekte und Ebenen zielende (von der Scholastik bis zur Gegenwart nicht abgeschlossene) Debatte um die kategorialen und transkategorialen Bestimmungen des Seienden (sowie der anderen 216 Die erste der Transzendentalien ist die, die mit dem allgemeinsten Begriff ens bezeichnete einfache, abstrakte, allen Seienden gemeinsame Seiendheit ist. Die zweite der Transzendentalien ist die, die mit dem allgemeinsten Begriff res bezeichnet wird. Auch der zusammengesetzte Gegenstand wird als res (nicht nur ens) bezeichnet. Die­ ser Gegenstand besitzt das Sein der konkreten Wirklichkeit; dessen Wesen wird dem Verstand im Erkennen zugänglich. Transzendentalien als allgemeinste Begriffe wer­ den bei Thomas von den auf eine bestimmte Natur eingeschränkten Seienden unter­ schieden. De Verit., q.1, a.1. / S.Th.I, q.4, a.1ad3; q.5, a.2: »Primo autem in conceptione intellectus cadit ens: quia secundum hoc unumquodque cognoscibile est quod est actu, ut dicitur in 9 Metaph. Unde ens est proprium obiectum intellectus: et sic est primum intelligibile […].« / S.Th.I, q.48, a.2ad2. Zutreffend ist hier die Ansicht von Aertsen: »»being«, not »thing«, is the first transcendental.« Vgl. Aertsen J. A., Medieval Phi­ losophy and the Transcendentals, S. 196. 217 Zum Problem vgl. Aertsen J. A., Medieval Philosophy and the Transcendentals, S. 155–157, 383, 436 f. // Perler D., Ockhams Transformation der Transzendentalien. In: Pickavé M. (Hrsg.), Die Logik der Transzendentalien, S. 364 ff. // Martin G., Wil­ helm von Ockham. Untersuchungen zur Ontologie der Ordnungen. Berlin: De Gruy­ ter, 1949, S. 234–255. 218 S.Th.I, q.5, a.3ad1: »[...] substantia, quantitas, et qualitas, et ea quae sub eis continentur, contrahunt ens applicando ens ad aliquam quidditatem seu naturam.«

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Transzendentalien)219 wurde von Thomas durch die Einbeziehung der Analogie behandelt; Ockham dagegen hat sich für Äquivokation und Univokation entschieden:220 Da ens nach Ockham immer kontextuell für verschiedene Arten stehen kann, ist es äquivok; da der allgemeine Begriff (universale) des ens allen Existierenden univok gemeinsam ist, ist er auch in jedem konkreten Fall univok und wird von allem im washeitlichen Sinn, nämlich univok prädiziert.221 Dagegen geht es bei Thomas um die analoge Einheit mehrerer Bereiche und Ebenen. Wenn das analoge Verhältnis zwischen den Transzendentalien (etwa ens, res) und dem Seienden innerhalb der Kategorien begründet wird, bedeutet das, dass in jedem Konkreten das (analogische) Allgemeine subsis­ tiert.222 Die Erhaltung des Allgemeinsten (esse) in der Konkretheit bzw. in der ontologischen Vielfältigkeit von kategorial-Seiendem und im logischen Gattungs-Allgemeinen223 bezieht sich auf die ontologi­ schen und epistemischen bzw. wissenschaftstheoretischen Bereiche. Der epistemischen und ontologischen Begründung nach, die an (veränderlichen) singulären hylemorphischen Entitäten orientiert ist und ihre Bedeutung in Bezug auf Unveränderliches erlangt, sind hier 219 Die auf Aristoteles und seine Kommentatoren wie Porphyrius und Boethius zurückgehende Unterscheidung zwischen Transzendentalien (transkategorialen Nomina), höchsten Gattungsbegriffen und den kategorial-Seinden erörtert Thomas sowohl als epistemisch-ontologische als auch als logisch-semantische Frage. In der Debatte um die kategorialen und transkategorialen Unterscheidungen hat die im 12. Jahrhundert (um 1160 in Paris) begründete Schule von Meliduni, eine der bedeu­ tendsten logischen Schulen, für lange Zeit eine besondere Rolle gespielt. Unter »Ars Meliduna« (Bezeichnung stammt von de Rijk) wird ein Traktat der Schule von Melun verstanden, der nach Pinborg die Entwicklung der terministischen Logik bestimmte. Siehe Rijk L. M. de, Logica Modernorum, II-I, chap.6–9, S. 292–390. // Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelater. Ein Überblick. Stutgart-Bad Cannstatt: Frommann, 1972, S. 55–58. // Jacobi K., Nomina transcendentia. Untersuchungen von Logikern des 12. Jahrhunderts über transkategoriale Terme. In: Pickavé M. (Hrsg.), Die Logik des Transzendentalen, S. 26–30. 220 Siehe Perler D., Ockhams Transformation der Transzendentalien, S. 361–383. Perler verweist auf Ockham, OPhI, Summa Logicae I, 38, S. 106; OThIX, Quodl. V, q.14, S. 537. 221 Wilhelm von Ockham, OThII, Sent.I, lib.1, d.2, q.9, S. 306–312, 316 f. 222 De Verit., q.1, a.1. 223 Thomas’ Vorstellung von der logischen Gattungsallgemeinheit geht vor allem auf Aristoteles zurück. Wenn das Allgemeine von einem bestimmten Etwas (katholou) ausgesagt würde, wäre Sokrates in dem Beispiel von Aristoteles eine »Vielheit von Lebewesen«. Das Allgemeine bezeichnet weder Dieses noch die Substanz, sondern ist das, was von mehreren oder vielen ausgesagt wird, also die Gattungsallgemeinheit. Vgl. Met.B6, 1003a 6–17. / Met.A2, 982a21–27.

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

die ergänzenden Argumente anzuführen, die Thomas’ Auffassung nach der ontologischen Veränderung zu entnehmen sind. Die Auf­ fassung von den Veränderungen der hylemorphischen Entitäten, die die oben vorgeführten Beispiele und erwähnten vier Probleme demonstriert haben, ist das kennzeichnende Merkmal des Verlaufs eines einheitlichen Erkenntnisprozesses, der mehrere Anhaltspunkte hat: das adäquate Erkenntnisobjekt (inkl. singuläre und allgemeine Entitäten) und den menschlichen Intellekt, der im Akt des Erkennens auf diese Entitäten Bezug nimmt (der Intellekt und das Erkennbare erreichen eine Assimilation bzw. werden einander proportional bzw. analog). Dass auch die universale Wirklichkeit, das Absolute, auf dem Weg der Assimilation erkannt werden kann, ist nach Thomas nicht nachweisbar. Für das Erkennen des Absoluten, das weder prima conceptio des menschlichen Intellekts noch eine auf dem Weg der Abs­ traktion aus der Materie herausgeholte verstandesmäßige Form oder Transzendentalie ist, erweist sich der bisher erörterte Erkenntnisweg als versperrt. Eine weitere epistemische Analyse auf diesem Weg kann nicht geleistet werden. Der Begriff der Assimilation, der die Erkennt­ nis der hylemorphischen Entitäten garantiert, tut das nicht in Bezug auf die Erkenntnis des Seins des Absoluten. Die Assimilation sorgt für den Erwerb des Wissens über zusammengesetzte Entitäten. Die analoge Erkenntnis zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie ausgehend von dem ontologisch Letzten – hylemorphische Komposita – auf das Absolute, das ontologisch Erste, zugreifen kann. Daran schließen eine Reihe von Fragen an, die im Weiteren diskutiert werden.

2.3.2 Substantia composita, das (ontologische) Letzte und die Prinzipien Was kann die Analogie für die Erkenntnis des hylemorphischen Kompositums, des ontologisch Letzten, für den Erwerb des Wissens über das Absolute leisten? Woher wissen wir, dass es sich dabei um ein sicheres Wissen handelt? Was wird mit dem Einsatz der Prinzi­ pien wie Materie und Form erreicht? Diese provozierende, »unend­ lich schwere und beunruhigende« (Gilson)224 Frage wurde zunächst 224

Vgl. Gilson E., Johannes Duns Scotus, S. 468.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

bei Dominikanern wie Albertus Magnus und schließlich auch bei Thomas, ausgehend von Aristoteles’ hylemorphischer Auffassung des Kompositums, aktuell.225 Gilson nennt dies einen »Reformver­ such«,226 der die Vorzüge der Analogiekonzeption dafür nutzen sollte, die geforderte ontologisch-epistemische Begründung der hylemor­ phischen Konzeption detailliert auszuarbeiten. Diese Aufgabe erfor­ dert eine Begründung der dem Intellekt zugänglichen Allgemeinheit der Prinzipien. Das meint den möglichen Zusammenhang zwischen den Gründen und dem Begründeten aufzuzeigen, wodurch die Unter­ scheidung zwischen der metaphysischen Grundlage und den episte­ mischen Bedingungen getroffen wird. Neu an der Erkenntnisfrage ist also die Frage nach den Gründen (Prinzipien), deren angemessene Beantwortung auch die adäquate Fassung des Erkenntnisgegenstandes liefern kann. Es müssen dafür unbedingte bzw. letzte Gründe vorliegen. Sind diese letzten Gründe unbedingt? Was wäre die Antwort des Thomas auf die in der zeitge­ nössischen Philosophie vertretene These: »Unbedingte Gründe gibt es einfach nicht.«227 Ob die letzten Gründe bzw. Prinzipien und Einzeldinge den Charakter der Allgemeinheit besitzen, ist die Frage, die Thomas bei Aristoteles vorfindet. Hier ist es zweckmäßig, auf das hylemorphische Kompositum (substantia composita) aus der Sicht seiner Konstituen­ ten und (jetzt) des spezifizierten Seins (ipsum esse) einzugehen. Die Ausgangsbasis für diese Aufgabe lässt sich bei Thomas in Form von vier Hauptargumenten finden, die sich mit den Begriffen der Form, der Materie und des Seins sowie des Akts und der Potenz auf die Substanz (selbständig Seiendes) beziehen:228 225 Vgl. Gilson E., Die Philosophie des heiligen Bonaventura. Übers. von P. A. Schlü­ ter. Köln; Olten: Hegner, (2) 1960, S. 27 f. 226 Vgl. Gilson E., Die Philosophie des heiligen Bonaventura, S. 27. 227 Vgl. Gabriel M., Die Endlichkeit der Gründe und die Unvollständigkeit der Tat­ sachen. In: Nida-Rümelin J., Özmen E. (Hrsg.), Welt der Gründe. Hamburg: Meiner, 2012, S. 702. 228 C.G.II, 54. / Expositio in libri Boetii De Hebdomadibus, lect.2, n.27, n.28. In die­ sem Zusammenhang ist die Auffassung von Materie, Form und Substanz bei Thomas’ Lehrer Albertus Magnus zu beachten, die er in seiner Physik und Metaphysik disku­ tierte. Kurz zusammengefasst lautet seine Einsicht wie folgt: Wenn die erste Materie eine im (bloßen) Vermögen existierende einfache Substanz ist, kann sie die Form nicht besitzen (De caelo et mundo, lib.1, tract.4, cap.5, 6). Wenn in der Materie generell die Möglichkeit zur Veränderung vorliegt, die die Materie zur Aufnahme der Form vor­ bereitet, kann das (bloße) Vermögen diese Form aufnehmen. Wenn Materie in der

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

1) 2)

3) 4)

Wenn Materie selbst ein Teil der Substanz des Dinges ist, folgt, dass man nicht von der Materie, sondern nur von den Substanzen sagen kann, dass das, »was ist, die Substanz [ist]«.229 Wenn das Sein selbst (ipsum esse) kein der Materie eigener Akt (proprius actus materiae) ist, ist es der Akt der ganzen Substanz oder der Akt dessen, was ist (quod est), aber das, »was ist, ist die Substanz«.230 Wenn die Form kein Sein ist (nec forma est ipsum esse), können die Form und das Sein »in einem Ordnungsverhältnis […] wie das Weiße zum Weißsein« stehen. Wenn sich das Sein zur Form als Akt verhält, ist in dem aus der Materie und der Form Zusammengesetzten die Form des Akts der Substanz und das Prinzip des Seins. Das compositum erlangt also das Sein durch die substantielle Form.231

In der Konsequenz heißt dies, dass weder materia noch forma das, was ist (id quod est), ist. Da beide auch nicht das Sein selbst sind,

Veränderung der extramentalen Gegenstände immer dieselbe bleibt, ist sie Substanz und Natur bzw. Grundlage (fundamentum) der extramentalen Gegenstände. Wenn diese Substanz das ist, in dem das Sein von allem liegt, was überhaupt ist, liegt sie dem Sein selbst zugrunde. Materie kann als Substanz nur in Analogie zur Form genannt werden, da nur die Form eine Substanz ist (so dass die Materie das Sein letzlich von der Form empfängt). Vgl. Albertus Magnus, Opera Omnia, Metaphysica. T. XVI, p.2, lib.11, tract.1, cap.7, S. 467–468. / Physica, p.1, lib.2, tract.1, cap.9, 73–83, S. 92 f. Im allgemeinen Sinne sind Materie und Form principia des Seienden und Ursachen des Kompositums, Materie aber ist das Prinzip der Individuation. Vgl. Albertus Magnus, Metaphysica. T. XVI, p.2, lib.7, tract.1, cap.1–3, S. 316–320; lib.7, tract.2, cap.7, S. 347–349. / Albertus Magnus, Opera Omnia, De caelo et mundo. T. V, p.1. Ed. P. Hossfeld. Monasterium Westfalorum in Aedibus Aschendorff, 1971. Siehe dazu Hossfeld P., ›Erste Materie‹ und ›Materie im allgemeinen‹ in den Werken des Albertus Magnus, S. 216–224. 229 C.G.II, 54: »Materia non potest dici quod est, sed ipsa substantia est it quod est.« 230 Die Behandlung des hylemorphischen Kompositums schließt sich an dem Begriff »substantia« an, den Thomas in dreierlei Hinsicht verwendet: als 1) das Einzelding; 2) die Art oder Gattung; 3) das Wesen selbst oder als Wesensbegriff von einem Ding (Synonyma: essentia, forma, quiditas). Der Begriff »substantia« hat bei Thomas zusätzlich eine allgemeine Bedeutung, nämlich die Bedeutung der Seele. Vgl. In librum beati Dionysii, De divinis nominibus expositio. Turin: Marietti, 1950, n.626. / S.Th.I, q.8, a.5. // Cat. 5, 2a11–14. / Met.Z3, 1028b33 ff.; Met.Δ8, 1017b10– 26. Siehe die Interpretation des aristotelischen Substanzbegriffs bei Rapp Ch., Sub­ stanz als vorrangig Seiendes (Z1). In: Aristoteles. Metaphysik. Die Substanzbücher (Z, H, Q). Hrsg. von Ch. Rapp. Berlin: Akademie Verlag, 1996, S. 27–40. 231 S.Th.I, q.77, a.1ad3.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

ist nun das Sein dazugekommen.232 Aufgefasstes und Erkanntes ist »das, was Sein hat« (id quod habet esse). Auf diese Weise wird der Gegenstand für das Erkennen bestimmt: Es ist das Seiende, d.h., das aus dem (unter »Was« bezeichneten) Wesen und dem (unter »ist« bezeichneten) Sein zusammengesetzte Seiende.233 Die oben vorgeführten vier ontologischen Argumente besagen, dass (nur) die Form das sein kann, wodurch etwas ist, da sie der Akt der Substanz und das Prinzip des Seins ist und das Sein sich auf die Form als den Akt bezieht. Diese Argumente sind zudem als Verweis auf die materia signata zu sehen: Wird die Form in der Materie aufgenommen, erwirbt die Materie mit dem Erwerb der Form auch das Sein. Die Form bleibt dadurch begrenzt; die Materie ist immer von der Form (Akt) abhängig. Nach Thomas ist die bezeichnete (oder vereinzelte) Materie (materia signata) das Individuationsprinzip (principium individuatio­ nis) schlechthin,234 etwa das Bestimmende in Bezug auf Holz (eines noch-nicht-aktuellen Tisches). Dadurch, dass die Form das seinverlei­ hende Prinzip ist, das die Verbindung mit der Materie herstellt, kann das natürliche Sein in einem wahrnehmbaren Gegenstand existieren und jedes Seiende kann von seinen Konstituenten als sinnlich Wahr­ nehmbares unum numero für die Erkenntnis konstituiert werden. In der sinnlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes (in actu) wird die in der Materie vereinzelte Form aufgefasst und als Wesenheit dieses Einzeldings (quiditas rei sensibilis) »herauspräpariert«. Darin liegt der Sinn der Bestimmung des Seinscharakters der Prinzipien selbst. Der Begriff »Wodurch« (quo est) hat zum einen die ontologi­ schen (bestimmenden) Gründe (Prinzipien, Ursachen) dem Seienden zuzuweisen, zum anderen bezieht er sich auch auf den Erkenntnisakt in dem Sinne, als dass die sensiblen und intelligiblen Formen, die die extramental konstituierten Seienden repräsentieren, eigentliche 232 S.Th.I, q.5, a.3ad1. Diese thomanische Auffassung wird von Kleine paraphrasiert: Die Substanz ist nicht nur die Materie und nicht nur die Form, sondern sie ist das, was in der Ursache der beiden Teile – der Materie und der Form – zusammengefügt liegt und nicht als einer der getrennten Teile aufgefasst werden kann. Vgl. Kleine W., Die Substanzlehre Avicennas bei Thomas von Aquin: auf Grund der ihm zugänglichen lateinischen Übersetzungen. Freiburg: Univ. Diss., 1933, S. 191. 233 In Perih.I, 1, V, n.69, n.71–73. 234 C.G.I, 100. / S.Th.I, q.85, a.1. Materie ist auf diese Weise zu erfassen: (a) als allgemeine Materie und (b) als vereinzelte oder bezeichnete Materie. Unser Verstand abstrahiert eine Artform (species) aus der vereinzelten, sinnfälligen Materie.

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

Erkenntnisobjekte ausmachen, wodurch der Intellekt dieses real Sei­ ende erkennt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht haben die auf diese Weise interpretierten vier ontologischen Hauptargumente zu drei Ergebnis­ sen geführt, die die hylemorphisch-konstitutive ontologische Grund­ lage der Erkennbarkeit und Definierbarkeit, der aus Materie und Form zusammengesetzten Substanz (substantia composita), vermitteln: (1) Das Begründete ist das bestimmte Seiende (etwa Tisch), das dadurch erkannt wird, dass seine Prinzipien erkannt werden. (2) Die Prinzi­ pien, die am Seienden (Begründeten) erkannt werden, ermöglichen das Wissen, das in der Definition enthalten ist. In der Definition der zusammengesetzten Substanz kommt nicht nur die Form, durch welche ein Ding das Sein besitzt, sondern auch die Materie vor, die das Sein in actu insofern erhält, als sie die Form erhält.235 (3) Das Wissen ist so gesehen das Resultat der Erkenntnis der Gründe bzw. Prinzipien, also das Wissen vom Allgemeinen.236 Die Allgemeinheit der Form steht im Hintergrund der Antwort auf die Frage nach der Erkennbarkeit und Definierbarkeit der zusammengesetzten Substanz (substantia composita).237 Die Form kann zudem als die Vollendung der Substanz gesehen werden.238 Nach der Behandlung der Argumente kann auf die anfangs gestellte Frage zurückgekommen werden: Ist das Wissen vom Allge­ meinen und der dort impliziten Prinzipien das sichere Wissen, das den Zugang zum Absoluten sichert? Denn das esse proprium, das sich S.Th.I, q.75, a.6: »Esse autem per se convenit formae, quae est actus. Unde materia secundum hoc acquirit esse in actu, quod acquirit formam […].« 236 Zum Vergleich: Für Ockham sind Materie und Form Prinzipien, die für jede Ent­ stehung genügen. Sie existieren in Dingen, sodass eine bestimmte Form und eine bestimmte Materie diejenigen von genau diesem wirklich einheitlichen Ding sind. Sie gehen keinen Zusammenhang mit den Universalien als dem von der Natur des Ein­ zeldinges verschiedenem ein, sie sind schlicht Einzeldinge. Der eigentliche Gegen­ stand des Intellekts ist weder das Einzelding noch das Allgemeine, es handelt sich um zwei Erkenntnisweisen. Die allgemeine Erkenntnis ist eine konfuse abstrakte Erkennt­ nis, deshalb ist das evidente Wissen nicht das Wissen vom Allgemeinen, nicht das Resultat der abstrakten, sondern (erst) der intuitiven Erkenntnis. Wilhelm von Ock­ ham, OThII, Sent.I, lib.1, d.2. q.6, S. 165–167, 198–201. / OThI, lib.1, Prol., q.1, S. 16 f., 21 f., 30–38. / OThIX, Quodl.V, q.5, S. 495–498. / Summulae in libros Phy­ sicorum. Kurze Zusammenfassung zu Aristoteles’ Büchern über Naturphilosophie. Lat.-dt. Übers. und hrsg. von H.-U. Wöhler, 1983, I, cap.14. 237 S.Th.I, q.76, a.3ad2: »[…] formae non collocantur in genere vel in specie, sed com­ posita.« 238 S.Th.I, q.4, a.1ad3; q.77, a.1ad3. 235

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

hier als actus essendi der res manifestiert und zur Basis aller Erkennt­ nisresultate des Intellekts wird, müsste – so könnte man annehmen – die Bestimmung des sicheren Wissens leisten und den Zugang zum Unbestimmbaren (Absolutes) ermöglichen. Jedoch erfassen, wie bereits gezeigt, weder Assimilations- oder Abstraktionsprozess noch ens der prima conceptio das Absolute (maxime esse in actu).239 Das ens der prima conceptio leistet dies nicht, da es das vom Intellekt aufge­ fasste Sein und kein esse absolute ist; es (ens per participationem) muss das Sein der (in prima conceptio) erscheinenden res, nämlich esse pro­ prium, sein. Das bedeutet für die Prinzipienfrage, dass das Wissen vom Absoluten bzw. das Absolute, das kein Prinzip der Zusammen­ gesetzten und kein esse proprium ist, mit dem Wissen vom Allgemei­ nen nicht gleichzusetzen ist. Das Absolute setzt als erstes Prinzip des Wirkens (primum principium activum) alle Aktivitäten des menschli­ chen Intellekts voraus. Auf eine dieser Aktivitäten, die sich darin äußert, dass der Intellekt den Übergang von dem erworbenen Wissen auf das Absolute nicht auf direkte, sondern auf indirekte Weise her­ stellen kann, werde ich in späteren Abschnitten zu sprechen kommen. Auf diese Weise gelangt man unausweichlich zur Analogie. Die direkte und indirekte (oder anders gesagt: univoke und analoge) Erkenntnis unterscheiden sich also nicht nur durch ihre Objekte, son­ dern primär durch die Antwort auf die Frage, wie sich diese Objekte fassen lassen. Die bereits mehrfach angeführten vier Hauptargumente behan­ deln nicht nur die Prinzipien, die die hylemorphisch-konstitutive Grundlage der zusammengesetzten Substanz festlegt und das Wissen vom Allgemeinen als erreichbar erklärt, sondern auch die Relationen und Differenzen. Auf letztere, die Differenzen, werde ich im folgenden Abschnitt eingehen.

2.3.3 Substantia composita und Differenzen Ich habe die Erörterung der Gründe – bzw. Prinzipien – mit dem Hinweis abgeschlossen, dass dasjenige, was ist, nämlich das Sei­ ende bzw. die zusammengesetzte Substanz, bereits über die Differen­

239

S.Th. I, q.4, a.1.

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

zen verfügt.240 Thomas behandelt das konstituierte hylemorphische Kompositum als eines, in dem neben der Materie-Form-Differenz notwendigerweise eine Akt-Potenz-Differenz existiert.241 Die letzte Differenz tritt zudem bei allen oben erwähnten Relationen auf.242 An dem früher angeführten Beispiel kann jetzt die Notwendigkeit der Akt-Potenz-Differenz aufgezeigt werden: denn nicht Holz (Materie) ist der Tisch, sondern die Form des Tisches ist eigentlich das, was der Tisch (aktuell) ist. Die an diesem Kompositum (Tisch) beteilig­ ten Konstituenten und sich daraus konstituierende natura composita können ihr Sein nicht selbst ausmachen, da das Sein gleichsam ihr actus ist (est actus ejus). Folglich steht die natura composita selbst zu ihrem Sein als potentia ad actum; bei immateriellen Substanzen steht die Form zum Sein als potentia ad actum.243 Aristoteles folgend, erörtert Thomas an anderer Stelle die Singularitäten in Hinblick auf Akt und Potenz: Da Potenz jedem Akt innewohnt, ist in der zusammengesetzten Substanz sowohl die (Seins)Potenz als auch der (Seins)Akt vorhanden,244 anders gesagt, jede Substanz verhält sich zu ihrem Sein auf dieselbe Weise, auf die sich die Potenz zum Akt verhält.245 An diesem ontologischen Prinzip zeigt sich, dass im einheitlichen Seienden das Sein selbst (ipsum esse) die Potenz-AktDifferenz impliziert, anders gesagt: Es wird durch die im Seienden bestehenden Differenzen spezifiziert. Der grundlegenden Akt-Potenz-Differenz kann man auch andere Differenzen des Seienden entnehmen. Die Anbindung der Akt-

S.Th.I, q.31, a.2. Die scholastischen Diskussionen um ontologische Differenzen zwischen Akt und Potenz, Materie und Form, Sein und Wesen (essentia) im Seienden haben eine lange, auf Aristoteles zurückgehende, Vorgeschichte. Die Frage nach den Differenzen kommt häufig im Zusammenhang mit der Analogie in den Texten ara­ bisch-jüdischer Philosophen des 10.-13. Jahrhunderts vor. Diese nimmt nach Hadot ihren Ausgang aber noch früher, im Neuplatonismus des 3. und 4. Jahrhunderts. Siehe zur Frage Hadot P., La distinction de l’être et de l’étant dans le »De hebdomadibus« de Boèce. In: Wilpert P. (Hrsg.), Die Metaphysik im Mittelalter. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung. Berlin: De Gruyter, 1963, S. 147–153. 241 S.Th.I, q.3, a.4; q.77, a.1. 242 S.Th.I, q.50, a.2. 243 S.Th.I, q.50, a.2ad3. 244 Met.Θ6, 1048a35 ff. »Wie sich nämlich das Bauende verhält zum Baukünstler, so verhält sich auch […] das Bearbeitete zum Unbearbeiteten. In diesem Gegensatz soll durch das erste Glied die Wirklichkeit, durch das andere die Möglichkeit bezeichnet werden.« 245 C.G.II, 53. 240

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Potenz-Differenz an die Form (als dem Akt) und an die Materie (als der Potenz) ist sowohl an der Seele als Form des organischen Körpers (Materie), als auch an der Substanz-Akzidens-Differenz erkennbar.246 Bei der Form-Materie- und Substanz-Akzidens-Dif­ ferenz gewährleistet Analogie die Kontinuität des strukturierten Verhältnisses: Form:Materie :: Substanz:Akzidens (lies: so wie die Materie durch die Form auf eine bestimmte Spezies eingeschränkt wird, so wird auch die Substanz einer Spezies durch das Akzidens auf eine Seinsweise (ad modum essendi) begrenzt).247 Die Akt-PotenzDifferenz kommt dort zur Sprache, wo die prinzipielle Differenz zwischen esse und essentia bestimmt werden soll;248 beide Differenzen sind also kontinuitätsstiftend. Wie gelangt man aber zur Kontinuität zwischen beiden Differenzen? Die Bestimmung der Kontinuität zwischen beiden Differenzen hängt mit der Bestimmung des Seins des Zusammengesetzten zusammen. Es ist das Sein (als) ab aliquo exteriori abgeleitetes Sein und verhält sich zum Wesen als Akt zur Potenz. Auf diese Weise gelangt man bei Thomas zur analogen Formel esse:essentia :: actus:potentia.249 Dies erlaubt dann die Frage nach dem esse proprium (als actualitas) der res und esse commune sowie nach der Einheit aller Seienden zu stellen. Dem werde ich im nächsten Abschnitt nachgehen.

De Pot., q.7, a.2ad9. / C.G.I, 69. S.Th.I, q.44, a.2. 248 S.Th.I, q.3, a.4; q.77, a.1ad3, ad5. Die Diskussion um den Unterschied zwischen zwei Erkenntnisweisen, der der Kreatur und der Gottes, und die Deutung dieses Unterschiedes durch die Essenz-Existenz- und Materie-Form-Differenz zeigt sich bereits in der arabischen und arabisch-jüdischen Philosophie. Zu dieser Diskussion und zum möglichen Einfluss der arabischen und jüdischen Philosophie auf die Auf­ fassung von Differenzen bei Thomas siehe: Guttmann J., Die Philosophie des Salamon ibn Gabirol. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1889. // Wüstenfeld D., Die Über­ setzungen arabischer Werke in das Lateinische seit dem XI. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1877. // Goichon A. M., La Distinction de l’essence et de l’existence d’après Ibn Sīnā (Avicenna). Paris: Desclée de Brouwer, 1937. // Wolfson H. A., The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophic Texts. The Har­ vard Theological Review 28, 2 (Apr., 1935), S. 69–133. // Rescher N., Studies in the History of Arabic Logic. Pittsburgh: Pittsburgh Univ. Press, 1963, S. 39–42. 249 S.Th.I, q.3, a.4: »Oportet igitur quod ipsum esse comparetur ad essentiam quae est aliud ab ipso, sicut actus ad potentiam.« 246 247

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

2.3.4. Esse proprium, esse commune und die Einheit aller Seienden Die Einheit aller Seienden soll als Einheit der verschiedenen extra­ mentalen Gegenstände weiter behandelt werden. Die zu bestim­ mende Einheit bzw. analoge Ordnung kann aufgrund der den Zusammengesetzten zugrundeliegenden Differenzen (zunächst der Differenz des Seins in Akt und Potenz), Prinzipien und konstituti­ ven Elementen, die sich auf verschiedenen Sinnebenen befinden, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das, was alle Seienden auf überkategoriale Weise umgreifen lässt, ist das allen Seienden gemein­ sames Sein – esse commune. Mit esse commune wird kein divinum esse gemeint.250 Esse divinum schließt jedwede weitere Bestimmung positiv aus (non fit additio) (so wie der Begriff des irrationalen Lebewesens die Bestimmung rational ausschließt), es ist deshalb auch nicht unter das esse commune zu subsumieren.251 Der Aufbau der Einheit aller Seienden hängt nicht nur von Relationen, Differenzen und Prinzipien ab, sondern auch vom esse commune und esse proprium des jeweiligen res. Zwischen dem esse commune, das sprachlogisch gesehen von allen Dingen ausgesagt wird, und esse proprium der res besteht kein Widerspruch. Es ist gerade die Voraussetzung der Einheit aller Seienden, weil die Einzeldinge (da sie das Sein auf verschiedene Weise besitzen) dem Sein nach qua­ litative Artunterschiede aufweisen, d.h. je ihr eigenes esse proprium haben.252 Die Frage nach dem esse commune kann genauso in Bezug auf die Form erläutert werden. Es gibt substantielle und akzidentelle Formen. Jeder aus Form und Materie bestehende (oder Analoga von Materie und Form als Konstitutiva habende) Apfel oder jeder aus Körper und Seele (als Form) bestehende Mensch oder Pferd sind auf­ grund der substantiellen Form schlechthin eines (simpliciter unum), da jedes eine durch die substantielle Form das Sein schlechthin und seine Einheit besitzt.253 Sofern aber die akzidentellen Formen (rot, gesund, groß, warm) sich auf die substantielle Form des Zusammengesetzten beziehen, sind sie Einheitsgrund (und Erkenntnisquelle), auch wenn 250 S.Th.I, q.3, a.4ad1; q.47, a.3. / De Verit., q.10, a.11ad8, ad10. / De Pot., q.7, a.2ad6: »[...] divinum esse non est esse commune.« 251 S.Th.I, q.3, a.4ad1. 252 S.Th.I, q.3, a.5. 253 S.Th.I, q.76, a.3; q.76, a.4: »Forma autem substantiales dat esse simpliciter.«

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

die akzidentellen Formen kein Sein »schlechthin«, sondern lediglich ein »solches« Sein (esse tale) haben.254 Wenn man diese (substantiellen und akzidentellen) Formen in einer Hierarchie darstellt, steht jede Form in ihrer Verbundenheit mit der Materie ihren Seinsaktualitäten nach in einer Rangordnung oder Vollkommenheitsstufe: Das vollkommenste von allen ist das Sein selbst (ipsum esse est perfectissimum), das auf die Substanz (id quod est) und auf die substantielle Form als Akt bezogen ist. Die Materie, die die Aktualität von der Form auf der ersten Vollkommenheitsstufe (primum gradum) des Seins, empfängt, ist die Aktualität der niederen, unvollkommensten (imperfectissima) Stufe. Aber die vollkommens­ ten Formen verleihen die Aktualität auch den höheren Stufen (etwa der intellektuellen Erkenntnis). Dadurch, dass alle Formen aufeinan­ der hin geordnet (ordinatae ad invicem) sind, kann jede Form ein bestimmtes Verhältnis zum Ersten (ad aliquod principium) aufweisen. So gelangt man zur kontinuierlichen Einheit alles Seienden durch die Form (forma communis) sowohl der Wirklichkeit (secundum rem) als auch dem Denken nach (secundum rationem).255 An diesen Formbestimmungen zeigt sich das metaphysische Verhältnis zwischen den Vollkommenheitsgraden, nämlich die Seins­ ordnung, in welcher das esse proprium der res singularis entsprechend suam perfectionem auf die unerreichbare, absolute perfectio hin geord­ net ist. Dieses Projekt von Thomas wäre in epistemischer Hinsicht nicht durchführbar, wenn die Ordnung nicht durch (1) die Partizi­ pation und (2) die Wirk-Ursache behoben würde.256 (1) Thomas meint mit der Partizipation die Teilhabe der Gegenstände, die das Sein besitzen – nicht aber das Sein selbst sind –, am höchsten Sein. Jeder zusammengesetzte Gegenstand hat das Sein nicht als (s)einen strukturellen Teil, vielmehr haben die Gegenstände in jedem ihrer Teile das ganze Sein (sein esse proprium). Die Gegenstände können nicht wie Gott ihr eigenes Sein sein, sie können ihr Sein nur durch Partizipation mehr oder weniger vollkommen (perfectius vel minus perfecte) besitzen. So kann ein warmer Gegenstand nicht die ganze Vollkommenheit der Wärme (totam perfectionem caloris) in sich tragen, und die Wärme enthält nicht das ganze Sein.257 (2) Ein 254 255 256 257

S.Th.I, q.7, a.3; q.76, a.4. S.Th.I, q.76, a.4 ad3; q.13, a.9. S.Th.I, q.4, a.2–4; q.6, a.1–2; q.13, a.5; q.46, a.1–3. S.Th.I, q.44, a.1; q.4, a.2.

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2.3 Materia et forma: Begründung des analogen Erkenntnisobjekts

kausales Verhältnis zu der Wirk-Ursache (causa agens/causa efficiens) entsteht nur aufgrund des Seins; sie muss deshalb notwendig am Partizipationslosen (an der prima causa) partizipieren.258 Die Wirk-Ursache betrifft ihre Verursachten auf die Weise, als dass diese in einen Akt versetzt werden. Daher kann auch die Gesamtursache (causa universalis) mit ihren Verursachten in Bezie­ hung treten. Diese Ursächlichkeit erstreckt sich nur auf die Seienden schlechthin (simpliciter), die in actu sind und sich von dem unterschei­ den, was in Potenz bleibt.259 Die causa universalis, die die Ursache für die ganze Art ist, ist weder mit der gleichartigen (Teil)Ursache (causa univocum) zu verwechseln noch als causa aequivocum aufzufassen (sonst besäße die Ursache die Ähnlichkeit mit dem Verursachten ihrem ganzen Inhalt nach oder sie besäße gar keine Ähnlichkeit). Nach Thomas weist die causa universalis weder völlige Gleichartigkeit noch völlige Ungleichartigkeit mit ihrem Verursachten auf, sie ist die Ursache, die er als analoge Ursache bezeichnet (agens analogum).260 Die auf diese Weise bestimmte analoge Ordnung liegt also nicht im esse proprium des Seienden selbst, sondern im metaphysischen Akt begründet, in einem Agens (causa agens universalis), von dem alles, was sich in einem Einzelding durch die Partizipation findet, verursacht ist.261 Demnach können sich die göttlichen perfectiones weder auf uni­ voke noch auf äquivoke Weise, sondern nur auf analoge Weise sowohl auf die kreatürlichen Gegenstände als auch auf Gott beziehen.262 Alle Differenzen und alle substantiellen und akzidentellen Formen können unter dem esse commune in einer analogen Ordnung (analogia entis) erfasst werden. Demgemäß soll die Frage nach zwei Arten der Analogie weiter behandelt werden.

S.Th.I, q.6, a.2; q.4, a.2; q.46, a.1. S.Th.I, q.5, a.1ad1: »[…] secundum hoc simpliciter aliquid dicitur ens, secundum quod primo dicernitur ab eo quod est in potentia tantum.« S.Th.I, q.5, a.2ad2: »Ens autem non importat habitudinem causae nisi formalis tantum, vel inhaerentis, vel exemplaris: cujus causalitas non se extendit nisi ad ea quae sunt in actu.« 260 S.Th.I, q.13, a.5ad1: »Hoc autem agens universale, licit non sit univocum, non tamen est omnino aequivocum quia sic non faceret sibi simile; sed potest dici agens analogum […].« 261 C.G.I, 49. / S.Th.I, q.44, a.1. Siehe dazu: Seidl H., Über die Erkenntnis erster, allgemeiner Prinzipien nach Thomas von Aquin. In: Zimmermann A. (Ed.), Thomas von Aquin. Werk und Wirkung im Licht neuerer Forschungen. Miscellanea Medievalia 19. Berlin; New York: De Gruyter, 1988, S. 103–116. 262 S.Th.I, q.13, a.5. 258

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie und die Frage nach der analogen Struktur des Seins Als Ergebnis des letzten Abschnitts ist festzuhalten, dass alle Diffe­ renzen und alle substantiellen und akzidentellen Formen unter dem esse commune in einer Ordnung – einer thomanisch analogen Ord­ nung (analogia entis) – erfasst werden können. Die Frage, welchem epistemischen Gesetz der Intellekt folgt, um die analoge Ordnung und die Struktur der hier dargestellten Differenzen des Seienden zu erfassen, mündet in eine weitere Frage nach der Verschränkung der Modi, des modus essendi und des modus intelligendi. Die beiden Modi verschränken sich bereits in der prima conceptio. Von der Seite des Intellekts gesehen, treten dabei mehrere intentionalen Akte des Intellekts ins Spiel. Der Intellekt, der konsistent auf das esse proprium bezogen ist, erreicht die Washeit bzw. das Allgemeine (quiditas rei sensibilis) der durch die sinnliche Wahrnehmung zugäng­ lichen Einzeldinge auf dem Weg der Abstraktion; er selbst steht zum esse proprium der res naturalis (sensitiv und intellektuell) in einem bestimmten Proportionsverhältnis.263 Bei systematischer Bestimmung der intentionalen Akte des Intellekts, bei denen der Intellekt die Seinsdifferenzen zu einer ein­ heitlichen Struktur erhebt, bleibt die Verschränkung der Modi im Hintergrund. Diese Strukturierung, die das esse proprium eines jeden Einzeldings und alle Differenzen des Seienden in einer umfassenden Gesamtstruktur – esse commune – umgreift, kann durch zwei Haupt­ arten der Analogie, der Proportions- und Proportionalitätsanalogie, konzeptualisiert werden.264 Die Proportionalitätsanalogie zeichnet sich durch die struktu­ relle Einheit der Proportionen aus, die mit analogen (transzenden­ talen) Namen bezeichnet werden und einen transkategorialen Cha­ rakter haben. Die Proportionsanalogie wird von Thomas durch zwei Subarten – duorum ad tertium und unius ad alterum – weiter behandelt. Die auf diese Weise eingeteilten Analogiearten führen bestimmte Begriffe mit sich. Obwohl die Behandlung der Proportio­ nalitäts- und Proportionsanalogie im logisch-semantischen Sinne ein Vgl. Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 132 ff. Es stellt sich aber die Frage: Wie gestaltet sich das Verhältnis etwa von dem einheitlichen Einem und der Vielheit in dieser Gesamtstruktur? Die Behandlung dieser Frage werde ich vornehmen. 263

264

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2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie

eigenes Thema darstellen, sei in diesem Kapitel kurz darauf hinge­ wiesen, was unter analogen Namen und unter univoken Namen, aus einer logisch-semantischen Perspektive, zu verstehen ist. Die Namen »Form«, »Materie«, »Seiendes« oder »Potenz« und »Akt«, die die Beziehungen des Verschiedenen und ihre Funktionen bezeichnen, sind analoge Namen.265 Im Gegensatz dazu hat die Konzeption der Univozität und die der univoken Namen ihren Grund darin, dass im Fall der Vieldeutigkeit der Namen zumindest von einigen Gegenstän­ den eindeutig gesprochen werden kann. Univoke Namen sind für den Ausdruck und die Abgrenzung der Gattungen und Arten unentbehr­ lich. Es sei an dieser Stelle auch kurz auf zwei weitere logisch-seman­ tische Begriffe – ratio propria und ratio communis266 – aufmerksam zu machen, da der analoge Sinn dieser Begriffe und derjenige der Proportionen auch im Folgenden zum Thema wird. Thomas nimmt ratio propria für die Bezeichnung der Grundbedeutung eines jeden Analogons einer Proportionsanalogie und ratio communis für die Bezeichnung einer abgeleiteten Bedeutung eines jeden Analogats an. Somit können alle Proportionen in den speziellen Arten der Proporti­ onsanalogie per prius et per posterius in der Einheit des esse commune begriffen werden. Die Grundbedeutung (ratio propria) der analogen Namen wird nur im Fall einer bestimmten Proportion zur ratio com­ munis erweitert, nicht aber im Fall des Proportionalitätsverhältnisses. Welche Funktionen die speziellen Arten von Proportionen im Fall der erweiterten Proportionalitätsanalogie übernehmen, kann erst anhand einer vollständigen kontextuellen Analyse gezeigt werden. Beide Arten der Proportionsanalogie können für die Deutung der Problema­ tik der Seins- und Erkenntnisordnung herangezogen werden.267 Mit Vgl. dazu Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 53. S.Th.I, q.13, a.9; q.75, a.5. Zu der Deutung der beiden Bedeutungen und insbe­ sondere der ratio communis der analogen Namen siehe: McInerny R. M., Studies in Analogy, S. 2–12. »If ›being‹ does not signify a ratio communis, it is not surprising to find that ›good‹ does not.« (S. 5) »[…] St. Thomas speaks quite clearly of a ratio com­ munis of the analogous name.« (S. 7) »Occupation with the ratio communis leads to a deduction of the transcendental properties from esse, since there is little else to work with in that common notion [...].« 267 In dieser Interpretation der thomanischen Proportions- und Proportionalitäts­ analogie stehe ich den logisch-semantischen und prädikationslogischen Interpreta­ tionen von McInerny nahe und akzeptiere auch die Lesart von Anzenbacher, der das Problem auf die Seins- und Erkenntnisordnung bezieht. Siehe McInerny R. M., Stu­ dies in Analogy, S. 2–39. // Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 113– 265

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

der näheren Behandlung der Art der Proportionsanalogie des duorum ad tertium268 werde ich die Analyse im Folgenden fortsetzen.

2.4.1 Proportionsanalogie des duorum ad tertium Mit Thomas habe ich gefragt, was als Zusammengesetztes bestimmt, mit welchem Ausdruck dieses benannt werden kann und anschließend auf das selbstständig Seiende, substantia, hingewiesen. Substantia ist die »erste unter den Entitäten«,269 die durch Begriffe der Quan­ tität und Qualität auf ihre Wesenheit (ad aliquam quiditatem) hin bestimmt wird. Beim Gebrauch des Begriffs des selbstständig Seien­ den, substantia composita, eines Kompositums, das aus zwei Bestand­ teilen besteht, Akzidenzien besitzt und eine Ursache hat, ist an dem aristotelischen Begriff des analogen Dritten zu denken.270 Allerdings ist gleich darauf hinzuweisen, dass alles umgreifende Ousia als das Erste und Eine, das die Grundlage für die einheitliche Struktur des kategorialen Seienden ist, aus den Kandidaten für das aristotelische Dritte (wie auch für das Allgemeine schlechthin) auszuschließen ist (siehe 2.6.2). Denn die Ousia ist der Angelpunkt der Einheit der wahr­ nehmbaren extramentalen Einzeldinge und der analogischen Struktur des Seins, sie ist aber nicht als das analoge Dritte anzusehen.271 Diese aristotelische Auffassung modifiziert Thomas und ordnet sie in den eigenen ontologisch-epistemischen Ansatz ein. Das esse, 165. Mit den hier kurz angedeuteten Arten der Proportionsanalogie werden wir uns im Kapitel 4 beschäftigen. 268 S.G.I, 34. / De Pot., q.7, a.7. 269 In Met.VII, lect.1, n.1246, n.1247, n.1248: »substantia est prima inter alia entia.« / S.Th.I, q.5, a.3. 270 Met.H3, 1043a28–38. Aristoteles illustriert das an einem Beispiel, indem er fragt, ob ein Name wie »Lebewesen« ein zusammengesetztes Ganzes, nämlich die Seele in einem Körper, oder nur die Seele schlechthin bezeichnet, die »das Wesen und die Wirklichkeit irgendeines Körpers« ist. Aristoteles bezeichnet das Lebewesen (als) das Dritte. 271 Met.Γ2, 1003a33–b16; 1003b19–1004a62. / 2.Anal., 98a20–24. Ousia lässt die Frage nach der Vielheit von akzidentellen Kategorien dadurch lösen, dass diese in Proportion zu einer Wesenheit bzw. zu der ersten Substanz in einer Einheit zusammengefasst wird. Met.Z13, 1038b1–6. Aristoteles unterscheidet zwischen dem partikulären Träger oder der »prote ousia« (materielles Einzelding/Träger der Entitä­ ten der anderen Kategorien) und dem universellen Träger oder der »deutera ousia« (Art und Gattung).

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2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie

das zusammen mit Form und Materie eine konstituierende Rolle spielt, macht die Grundlage für die Vervielfältigung des Kompositums aus und weist eine analoge Gemeinsamkeit mit dem ipsum esse Gottes auf, ohne Gott aber als das analoge Dritte festzulegen. An der Art der Proportionsanalogie des duorum ad tertium zeigt Thomas, dass und wie der problematische Zusammenhang zwischen verschiede­ nen Bestandteilen und ihrem Ganzen (hier: das sogenannte Dritte) bestimmt werden kann.272 Instruktiv für die Strukturanalyse der analogen Proportion dieser letzten Art ist das bekannte Gesundheitsbeispiel von Aristoteles, das er für seine Wissenschaftslehre aus der Medizin übernimmt: Die Analogate, etwa Medizin und Speise, die der Seins- und Erkennt­ nisordnung nach unterschiedlichen Bereichen angehören, stehen im Verhältnis zum Lebewesen, hier Analogon, der beiden Ordnun­ gen, der Seins- und Erkenntnisordnung nach. Dem Lebewesen als Analogon kommt die Grundbedeutung (ratio propria) des analogen Namens »gesund« primär zu. Den Analogaten kommt nicht die Grundbedeutung (ratio propria), sondern die abgeleitete Bedeutung (ratio communis) des Namens »gesund« zu. Im Substanz-Beispiel besteht die Möglichkeit der Bestimmung der Proportionen in der Beziehung zweier Analogate (Kategorien: Qualität und Quantität) eines Kompositums zu einem primären Analogon (das Dritte, hier: Substanz).273 Die Grundbedeutung (ratio propria), die per prius dem analogen (transzendentalen) Namen Seiendes zukommt, wird per pos­ terius von Qualität und Quantität aufgrund der Beziehung der Seinsund Erkenntnisordnung zu ihrem Dritten (Analogon: Substanz) aus­ gesagt, weil die ratio propria des Analogons (bei dieser Art der Proportionsanalogie) bereits bekannt sein soll. Dies gewährleistet die Bestimmungs- und Erkenntnismöglichkeit der Beziehung mehrerer Analogate (diese können miteinander auch unverbunden sein) zu ihrem Ganzen (Dritten). Auch der Zusammenhang zwischen den Analogaten kann durch die abgeleitete Bedeutung (ratio communis) des analogen Namens bestimmt werden. Ens, »quod primo intellec­ tus concipit«, ist also das Ersterkannte, das auch das ontologische Analogon ist und dem per prius der analoge Name zukommt. Die mit dem ens als prima conceptio im aktuellen Intellekt eingetretene Transzendentalität erfasst die auf verschiedenen Ebenen verankerten 272 273

S.Th.I, q.8,a.7. In Met.IV, lect.1, n.535, n.536.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Substanzen und Akzidenzien als Seiendes. Demnach wird den res sin­ gulares, die im prädikationslogischen Sinne mit analogen Namen wie ens bezeichnet werden, der transzendentale Charakter zugesprochen. Die Frage ist nun, ob Materie und Form als Analogate in Pro­ portion ad tertium (Analogon) zum konstituierten hylemorphischen Seienden stehen? An den Propositionen – etwa »Der Tisch ist Form« oder »Der Tisch ist Materie«, »Der Mensch ist Materie« oder »Der Mensch ist Form« – wird schnell ersichtlich, dass dies gerade nicht der Fall ist, da die Begriffe Form, Materie, Intellekt, Potenz oder Weiße absolute Namen sind. Die absoluten Namen können wegen ihrer Universalität der Prädikationslogik gemäß nicht als Prädikate akzep­ tiert werden, sonst würde das selbstständige Zusammengesetzte, der Mensch, auf Materie oder Form verengt. Aber das Zusammengesetzte ist keine Form, es besitzt die Form. Der Terminus forma kann kein terminus finitus sein. Stattdessen kann man univoke Gattungsbegriffe wie animal einsetzen und sagen: »Der Mensch ist ein Lebewesen.« Hier behauptet man sowohl die Verbundenheit beider Analogate mit dem Dritten als auch das Vorliegen der ratio communis als einer erweiterten Bedeutung des analogen Namens, die auf Analogate angewendet werden kann. An dieser Analyse zeigt sich die Art und Weise, wie man den proportionsanalogischen Sinn einer einheitlichen Struktur bestimmt. Eine derartige Struktur lässt sich als ontologisch abgeschlossene Formierung der Funktions- und Erkenntnisstruktur fassen. Die Frage, wie die ratio propria als Grundbedeutung des Ana­ logons auf die ratio communis der Analogate in bestimmten Kontexten erweitert wird, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt, und dann im semantischen und prädikationslogischen Sinne, erneut aufgreifen.

2.4.2 Proportionsanalogie des unius ad alterum Dieser Abschnitt handelt von der zweiten Hauptart der Proportions­ analogie des unius ad alterum. Diese Art der Analogie, als »unum proportionem ad alterum [habet]«,274 ist die Antwort auf die Frage, wie das vom unum (esse proprium der res) Erkannte auf das noch zu erkennende Andere (ad alterum) übergetragen werden kann. Diese Art der Proportionsanalogie, die den Charakter des Prinzips 274

S.Th.I, q.13, a.5.

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2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie

der Induktion hat,275 besteht erstens darin, dass der Verstand aus­ schließlich auf die Weise erkennt, auf welche er zusammengesetzte Gegenstände erkennt. Zweitens ist sie für die Erkenntnis Gottes fruchtbar zu machen.276 Auch diese Art von Analogie, die ich bereits im Einleitungskapitel anführte, wird am Gesundheitsbeispiel des Aristoteles erörtert. Dieses exemplarische Beispiel soll hier die Grundlage für die Behandlung von zwei besonderen Relationen sein: für die SubstanzAkzidens- und die Gott-Kreatur-Relation. Das Analogat in der Substanz-Akzidens-Relation, entsprechend der Seinsordnung, das gleichzeitig das Analogon der Erkenntnisordnung nach ist, ist hier das Ersterkannte. Nach der Seinsordnung lässt sich etwa die Qualität (als Analogat) oder der Körper (als Analogat) und etwa die Substanz (als primäres Analogon) oder Medizin (als primäres Analogon) als seiend und gesund bestimmen. Der erkannte gemeinsame Inhalt (gesund oder seiend) gilt für beide, für Analogat und Analogon: Im Gesundheitsbeispiel gilt es für Körper und für Medizin, da mit gesund das Verhältnis zur Medizin als Ursache der Gesundheit, die im Körper herrscht, bestimmt wird. In der Erkenntnisordnung findet eine Übertragung des Wissens von dem per prius Ersterkannten (Qualität oder Körper als Analogon der Erkenntnisordnung nach) auf das per posterius erkannte Ana­ logat statt, dass das ontologisch primäre Analogon bzw. das alterum ist.277 Worin besteht der Sinn dieser Analogie? Der Sinn liegt in dem Gefundenen, in der Analogie nämlich, die die Übertragung der (Proportions)Kenntnisse auf das ontologische Analogon ermöglicht. Im logisch-semantischen Sinne wird der analoge Name in seiner erweiterten Bedeutung der ratio communis des Analogats auf das nicht bekannte oder fragliche Analogon angewendet. Da die eigentliche Bedeutung des Analogons (ratio propria) im Gott-Kreatur-Verhältnis 275 Met.Θ16, 1048a35–37. / 2.Anal. II, 3–12. Die Bedeutung der Induktion (epagogê) geht auf Aristoteles zurück und kann als Erkenntnisweg von der sinnlichen Wahr­ nehmung zum wissenschaftlichen Wissen oder als Schlussfolgerung von Eigenschaf­ ten auf die Ursache bestimmt werden. Vgl. Russell B., Philosophie der Materie. Deutsch von K. Grelling. Leipzig; Berlin: Teubner, 1929, S. 245: »Das Prinzip der Induktion ist in der praktischen Anwendung das Prinzip, dass das einfachste Gesetz, das zu allen bekannten Tatsachen passt, auch zu den noch zu entdeckenden Tatsachen passen wird.« 276 S.Th.I, q.50, a.2: »[…] per modum suum, secundum quod apprehendit res compositas. Et sic etiam apprehendit Deum, ut dictum est.« 277 S.Th.I, q.12, a.12; q.13, a.5. / De Pot., q.7, a.7. / C.G.I, 30.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

unbekannt ist, wird diese der Erkenntnisordnung nach vom erkannten Analogat im Sinne der ratio communis per posterius bzw. analog (bei Thomas niemals univok, auch nicht äquivok) auf das Analogon der Seinsordnung nach (auf Gott bzw. das Unbekannte) übertragen (siehe unten 3.5.3). Die Proportionsanalogie des unius ad alterum bietet eine mögli­ che Lösung für viele Probleme. Dazu zählen die Seele-Körper-Rela­ tion, die Gott-Kreatur-Relation, die Substanz-Akzidens-Relation sowie die Bestimmungen der menschlichen Gutheit oder Weisheit. Die Bestimmungen, die ihren Ausgang von analogen Namen wie »gut«/»Gutheit«, »weise«/»Weisheit« nehmen, können epistemisch per prius vom bestimmten Analogat erkannt und per posterius auf das Analogon übergetragen werden. Diese Übertragung der ratio communis des Analogates auf das Analogon ist deshalb möglich, weil Analogate als Analogate per participationem an den Vollkom­ menheiten Gottes (Gutheit, Weisheit als Analogon) teilnehmen. Da im eigentlichen Sinne nur das Analogon als Grundbedeutung (ratio propria) verstanden werden kann, welches aber epistemisch (unvollkommen) per posterius bestimmt wird, bleibt dieses Analo­ gon (ontologisch gesehen) immer unvollständig bestimmt.278 Diese Weise der Proportionsanalogie des unius ad alterum (auch Attribu­ tionsanalogie genannt279) ist nach Thomas eine mögliche Lösung für das Problem der Übertragung des Wissens von dem sinnlich Wahrgenommenen auf das sonst sinnlich nicht erfassbare absolute Sein (Analogon der Seinsordnung nach). Dieses Verfahren wird sowohl bei der Analyse der einfachen Proportions-Bedingungen als auch bei komplexeren theologischen Problemen und wissenschafts­ Vgl. auch Platon, Politeia, VII, 514a–518b. Caietanus, Thomas de Vio Cardinalis, De nominum analogia. De conceptu entis. In Scripta philosophica. (Eds.) P. N. Zammit O. P., P. H. Hering O. P. Roma: Int. Angelicum, 1952, cap.2. Das Konzept von analogia attributionis wurde von Cajetan geprägt. Im Substanz-Akzidens-Verhältnis ist Substanz das Analogon, von welchem her, nämlich durch die äußere Attribution, die Analogata (extrinseca) benannt werden. Insofern wiederspricht die Cajetan’s Sicht der Proportionsanalogie des unius ad alterum von Thomas nicht. Dieses Schema ist nach Cajetan auch auf das Gott-Krea­ tur-Verhältnis übertragbar, aber, da die Übertragung des Wissens von den Analogata auf das absolute Sein, Analogon, nach Cajetan, nicht in der Partizipation begründet liegt, hat diese Übertragung eine äußere Grundlage. Diese Sicht widerspricht nun der Proportionsanalogie von Thomas ausdrücklich. Siehe auch Lyttkens H., The Analogy between God and the World. An Investigation of its Background and Interpretation of its use by Thomas of Aquino. Uppsala: Almquist & Wiksell, 1952. 278

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2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie

theoretischen Erörterungen angewendet. Die Erkenntnis, die auf diese Art der Proportionsanalogie vorstrukturiert wird, bildet nach der Auf­ fassung des polnischen Logikers Bochenski die Grundlage aller apos­ teriorischen Wissenschaften, da wir unsere Erkenntnis des Analoga­ tes auf etwas (Analogon) per posterius übertragen können, ohne das Analogon kennen zu müssen.280 Die ontologisch-epistemische Struk­ tur der beiden Arten der Proportionsanalogie bildet bei Thomas eine der Grundlagen für die Lösung einer ganzen Reihe der Analogie-Pro­ bleme. Auf eines von diesen – das Problem des Unbekannten bzw. des unerkennbaren Analogons – welches nach Thomas ohne die zweite Art der Proportionsanalogie nicht auskommt, werde ich gleich zu sprechen kommen.

2.4.3 Ex creaturis in Dei cognitionem venimus Bei dem Problem der Unkenntnis vom Ersten (des Analogons der Seinsordnung nach) und der Kenntnis vom Letzten (des Ersten der Erkenntnisordnung nach) geht es um eine sehr spezifische, ontolo­ gisch-epistemische Art der Proportionsanalogie des unius ad alterum. Das Problem der Unkenntnis des Ersten verbindet Thomas mit der hylemorphischen Einheit eines Kompositums, indem er fragt: »Utrum in Deo sit compositio materiae et formae?«281 Diese Frage erzeugt aber weitere Probleme, da sie die zweite der Proportions­ analogie des duorum ad tertium impliziert. Gesetzt dem Fall, Gott wäre ebenfalls ein analoges Drittes,282 dann wäre er auf dieselbe Weise wie alle singulären Entitäten, nämlich als Analogon (Drittes), erkennbar und als ratio propria dieses Analogons bekannt. Wenn man die Erkenntnis des Absoluten bzw. Ersten ausschließlich an die zweite Art der Proportion – des unius ad alterum – bindet, bedeutet dies, dass wir in unserer Erkenntnis ex creaturis in Dei cognitionem venimus sind. Die ontologischen Differenzen wie Form-Materie, Wesen-Sein oder 280 Bochenski J. M., O analogii. In: Logika i filozofia. Wybor pism. Red. J. Parys. Warszawa: PWN, 1993, S. 50–78. 281 S.Th.I, q.3, a.2. 282 S.Th.I, q.31, a.1. Die Trinitätsfrage, die hier vorzuliegen scheint, wird anhand des Namens Trinitas erörtert. Mit Trinitas werden drei Personen, aber eine Wesenheit bezeichnet. Die Deutung der Trinitätsfrage ist nach Thomas jedoch nicht mit der Frage nach dem analogischen Dritten, das sich nur auf ein aus Form und Materie Zusammengesetztes bezieht, zu verwechseln.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Substanz-Akzidens des Seienden bergen zentrale Schwierigkeiten bezüglich der Erkenntnis Gottes in sich. Ähnliche Schwierigkeiten waren etwa Maimonides und Duns Scotus bewusst. Pure Äquivoka­ tion (perfectio pura) bzw. Negation ist die Antwort des Maimonides auf die Frage nach der Erkenntnis des Ersten. Der Verweis auf die prima omnium causa als univoca causa und auf den der Kreatur und Gott gemeinsamen univoken Begriff wird in dem Verständnis von Scotus stark gemacht.283 Bei Thomas ist allein die Proportionsanalogie des unius ad alterum entscheidend, die er im Sinne der philosophisch-theologi­ schen Analogie-Art beim ordnen der Erkenntnisse ex creaturis zum ipsum esse Gottes einsetzt. Dies ist aber ein limitierter Erkenntnisweg, da das Sein und Wesen der Kreatur nicht dasselbe wie das Sein und Wesen Gottes ist. Für Thomas ist auch die Annahme, dass ein äquivoker Namen eine ratio propria besitzt, nicht möglich. Er verwirft ebenfalls die Einsicht, dass der äquivoke Name dem Prinzip prius et per posterius nach die ratio communis als seine erweiterte Bedeutung erwirbt. Dieses Prinzip wirkt im Fall der Äquivokation nicht. Den Übergang von der ratio propria zur ratio communis (und umgekehrt – der Übergang der Erkenntnisordnung nach vom Analogat zum Analogon) ermöglicht nach Thomas nur die Proportionsanalogie des unius ad alterum. Mit Maimonides kann die Zugangsweise Thomas’ kritisiert wer­ den. So diskutiert Maimonides das Äquivokationsproblem im engen Zusammenhang mit dem ganzen Problembündel innerhalb seiner 283 Ioannis Duns Scoti, Lectura in primum librum Sententiarum. De cognoscibilitate Dei. In: Johannes Duns Scotus. Die Univozität des Seienden. Texte zur Metaphysik. Hrsg. von T. Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, Lect.1, d.3, p.1, q.1–2, S. 12/13, 14/15, 40/41. Scotus sagt: »[…] quod non concipitur Deus in con­ ceptu communi analogo sibi et creaturae, sed in conceptu univoco sibi et creaturae, ita quod ens et bonum et sapientia dicta de Deo et creatura univoce dicuntur de eis, et non dicunt duos conceptus.« (Lect.I, d.3, p.1, q.1–2, [24], 21, S. 12/13). Zur Diskussion der Univozität: Dumont S. D., The Univocity of the Concept of Being in the Fourteenth Century: John Duns Scotus and William of Alnwick. MS 49 (1987), S. 1–75; Dumont S. D., Transcendental Being. Scotus and Scotists. Topoi 11 (1992), S. 135–148. / Repor­ tata Parisiensia I, 38–44. In: Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz. Lat.dt. Hrsg., übersetzt und eingeleitet von J. R. Söder. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2005, Reportatio I, d.39–40, q.2, n.12–13, S. 72/73; q.2, n.38, S. 84/85. Zur Reportatio I: Rodler K., Der Prolog der reportata Parisiensia des Johanns Duns Scotus. Untersu­ chungen der Textüberlieferung und kritische Edition. Innsbruck, Diss. 1991. // S.Th.I, q.12, a.12; q.13, a.1.

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2.4 Proportions- und Proportionalitätsanalogie

Philosophie, also der Frage nach den Attributen Gottes. Seine Thesen besagen erstens, dass lediglich bei den aus Form und Materie zusam­ mengesetzten körperlichen Dingen der Übergang von der potentia in actu wie auch die Denkbarkeit der endlichen Größen durch die Attribution möglich ist; und zweitens die Unkörperlichkeit (vor allem Gottes) weder durch das Materie-Form- oder Potenz-Akt-Verhältnis eindeutig zu entschlüsseln, noch durch die Beilegung attributiver Prädikate zu beschreiben ist.284 Ähnliche Konsequenzen zieht auch Thomas. Es widerspricht keineswegs dem Ort der Analogie in seiner Ontologie, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Er lehnt ebenso wie Maimonides die Annahme ab, dass Gott compositio ex materia et forma wäre, und wendet sich gegen mögliche Vorstellungen von der (aus Form und Materie zusammengesetzten) Körperlichkeit, die mit der (einfachen) Unkörperlichkeit vermischt wird. Die drei weiteren Argumente – das Akt-Potenz-, Partizipationsund Wirkungsargument – führt Thomas gegen mögliche falsche Annahmen an, die eine derartige Vermischung zulassen wollten:285 (1) Wenn Materie das ist, was in potentia bleibt, ist jedes Kompositum actus et potentia. Wenn aber Gott reine Seinswirklichkeit (actus purus) ist, kann weder Materie Wesensbestandteil Gottes noch Gott compositio ex materia et forma sein. (2) Wenn Materie an der Form der Seinsvollkommenheit partizipiert, ist jedes Kompositum durch seine Form vollkommen. Wenn aber das erste Sein nicht durch die Teilhabe vollkommen ist, sondern seinem Wesen und seinem Sein gemäß (vollkommen ist), wäre es falsch zu behaupten, dass Gott ein Zusammengesetztes aus Materie und Form ist. (3) Wenn die Form einen Akt der Substanz innerhalb des Zusammengesetzten aus Form und Materie bildet, wirkt jedes Wirkende durch die Form. Wenn aber Gott der erste Wirkende (per se agens) ist, kann er weder aus Form Vgl. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-52, 53. Maimonides führt fünf Typen von Attributen an, die dem Subjekt eines Urteils zugeschrieben werden. Bei der Behandlung der Bedeutungen der attributiven Prädikate, die von Gott ausge­ sagt werden, geht es um die epistemologische Kausalität der Attribute und die Bedeu­ tungen attributiver Prädikate, die aufgrund der epistemischen Defizienz des Wissens entstehen. 285 S.Th.I, q.3, a.2; a.7. // Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-52; 58. Thomas sucht bei der Lösung dieser Probleme nach Verbindungen zwischen jüdischer und arabischer Philosophie und der aristotelischen Tradition. Vor diesem Hintergrund will er die Frage nach der Erkenntnis der zusammengesetzten und einfachen Entitäten behandeln. Auf die Argumente, die von Thomas weiterentwickelt werden, komme ich in einem weiteren Abschnitt zurück. 284

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

und Materie zusammengesetzt noch ein Wesensbestandteil eines Zusammengesetzten sein, sondern muss ursprünglich und seinem ganzen Wesen nach Form (primo et per se forma) sein. Die Gründe irrtümlicher Annahmen von Erkenntnissen des Absoluten liegen im Folgenden begründet: Gott kann, wie Thomas mehrfach gezeigt hat, auf keine Weise ein Analogon im Sinne des analogischen Dritten sein. In Gott fallen nicht Materie und Form, son­ dern Wesen und Wesensträger, Wesen und Sein notwendigerweise zusammen. Aber das wesentliche Merkmal unseres Wissens von Gott ist, dass dieses Wissen (in dem hier behandelten Aspekt) von einem hylemorphisch konstituierten Einzelnen – ex creaturis – erworben ist. Thomas’ Entscheidung für die Analogie findet ihre Grundlage in der induktiven Methode. In ihr sieht er die Begründung dafür, sich gegen Positionen zu stellen, die bei den Fragen, ob das wahre Wissen von dem Einzelnen oder des Allgemeinen ist und ob dieses Wissen auf Gott angewandt werden kann, keiner Analogie folgen.286 286 Je nach Antwort auf diese Fragen kann man unterschiedliche Positionen bestim­ men: (a) Der menschliche Intellekt kann nach Ockham dasselbe Objekt (das Einzelne oder Allgemeine) abstraktiv und intuitiv erkennen, da das Erkennen nicht von dem Objekt verursacht wird, sondern von den Erkenntnisweisen und Bezugsweisen des Intellekts. Beide Erkenntnisweisen bei der Erkenntnis Gottes sind zu trennen, da sie keine Verbindung miteinander eingehen. Ockham lehnt die analoge Erkenntnis Gottes (und die Möglichkeit des analogen Wissens von Gott) ab. Gott kann nicht durch ana­ loge oder äquivoken Begriffe, sondern lediglich durch den ihm univoken Begriff erkannt werden, obwohl er in se auch gar nicht erkannt wird. Ockham meint zu erken­ nen, dass es etwas Gott und der Kreatur univok gemeinsames gibt, das durch einen einheitlichen Begriff, etwa »Seiendes«, von beiden ausgesagt wird. Dies folgt aus dem Begriff der Univokation, der ein einheitlicher Begriff ist, der mehreren gemeinsam ist und von ihnen abstrahiert wird. Wenn man aber den Begriff »univok« im strengen Sinn auffasst, verbleibt er jedoch bei der These, dass nichts der Kreatur und Gott uni­ vok gemeinsames bestehen kann. Vgl. Ockham, OThI, Sent.I, lib.I, prol., q.1, S. 48– 51, 72–75. / OThII, Sent.I, lib.1, d.2, q.6, S. 191 f.; lib.1, d.2, q.9, S. 294, 306–311, 322–335. (b) In der konzeptualistischen Position von Buridan ist das Wissen, das der Induktion gemäß seinen Anfang im sensorischen Erkennen nimmt, ein konkret wirk­ liches Wissen. Unter Metaphysik wird das allgemeinste Wissen verstanden. Da Gott für Buridan als die Erstursache der eigentlich tätige Intellekt ist, wirkt er notwendig bei der menschlichen Erkenntnis (als Zweitursache) des Einzelnen mit (Hoenen, S. 95 ff., S. 106). Hier handelt es sich nicht um eine Analogie oder Univokation, auch nicht um Äquivokation; das Wissen ist, wie es Schönberger formuliert, der hierarchi­ schen Auffassung gemäß je nach der Wahrheitsstufe zu bewerten. (c) Nach Augusti­ nus wendet sich die Seele nicht den äußerlichen Gegenständen zu, sondern kehrt zu sich selbst zurück. Der Intellekt findet in der Seele den letzten Erkenntnisgrund, näm­ lich Gott, der als Illumination immer schon in der Seele ist und die Erkenntnis ermög­

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2.5 Universaliendebatte und Analogie

Diese Entscheidung für die Analogie trifft Thomas auch bezüglich der Universaliendebatte.

2.5 Universaliendebatte und Analogie An der Frage nach den Grundlagen von Allgemeinem und hylemor­ phischen Einzelnem, der Allgemeinheit und Konkretheit des Wissens, schließt sich die scholastische und gegenwärtige Universaliendebatte an.287 Das Universalienproblem wird in seiner Hauptformulierung »Utrum universalia sunt separata et non-separata a singularibus« seit Porphyrios Isagoge und Boethius zum Prüfstein, an dem jeder Phi­ losoph seine Argumentation (nominalistisch bzw. konzeptualistisch oder realistisch geprägte) von der Erkenntnis des Allgemeinen,288 das licht. Siehe Johannes Buridanus, Summulae de propositionibus. Lat.-engl. Ed. R. van der Lecq. Turnhout: Brepols, 2005. // Questiones De Anima (Tertia lectura). In: Zupko J. A., John Buridans’s Philosophy of Mind. An Edition und Translation of Book III of the Questions on Aristotle’s De Anima. Ed. By J. A. Zupko. (PhD diss.), Cornell Uni Press, 1989. // Schönberger R., Relation als Vergleich: die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik. Leiden [u.a.]: Brill, 1994. // Hoenen M. J., Die Intellektlehre des Johannes Buridan – Ihre Quellen und historisch-doktrinären Bezüge. In: Bos E. P. (Ed.), John Buridan: a master of arts: some aspects of his philosophy. Acts of the Second Symposium organized by the Dutch Society for Medieval Philosophy ›Medium Aevum‹ (Leiden/Amsterdam, 20–21 June, 1991). Nijmegen: Ingenium Publishers, 1993, S. 89–106. // Aurelius Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lat.-dt. Übers. von W. Thimme. Mit einer Einführung von N. Fischer. Düsseldorf; Zürich: Artemis & Winkler, 2004, IX, 24; X, 25. // Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 179– 184. 287 Zur gegenwärtigen Debatte siehe Ramsey F. P., Universals. Mind XXXIV, Nr. 136 (Oct. 1925), S. 401–417. // Lewis D., New Work for a Theory of Universals. In: Tooley M. (Ed.), Analytical Metaphysics. New York; London: Garland, 1999, S. 45–79. // Putnam H., On properties. In: Tooley M. (Ed.), Analytical Metaphysics. New York; London: Garland, 1999, S. 79–96. // Bochenski I. M., Church A., Goodman N., The Problem of Universals. Notre Dame; Indiana: Univ. of Notre Dame Press, 1956. 288 Die Einführung des conceptus (neben res und voces) von Petrus Aureoli im 14. Jahrhundert hat zum Konzeptualismus geführt. Aureoli vertritt die (gegen-thomani­ sche) Meinung, dass das Allgemeine, das als das Sein der extramentalen Gegenstände erfasst wird, im Intellekt erscheint (daher werden die Erscheinungen als conceptio, das Ding selbst als conceptus artikuliert). Das Allgemeine kann also nicht in den Dingen selbst vorhanden sein, sondern nur ante rem. Im Intellekt gibt es lediglich die Ähn­ lichkeit der Dinge vor. Petrus Aureoli, Scriptum super primum Sententiarum. Ed. E. M. Buytaert. New York; Louvain; Paderborn: Franciscan Institute St. Bonaventura.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

im Einzelnen liegt (oder gerade nicht), zu schleifen hat.289 Einzelne Aspekte dieser Debatte, etwa über das Allgemeine und Partikuläre und über die Seinsart des von uns erkannten Allgemeinen, das als vom extramentalen Einzelding (Un)Abhängiges aufzufassen ist, führte ich bereits an.290 Aus dieser Perspektive des (Universalien)Realismus des Thomas291 sind Universalien in rebus als deren metaphysischer Bd. 1, 1952; Bd. 2, 1956, I, 320bF-321aA; II 70 aB, 107aDE. // Rupert L. S. J., Zur Lehre von den Transzendentalien bei Petrus Aureoli O. F. M. Bonn (Phil. Diss), [Düs­ seldorf: Stehle], 1964, S. 29–59, 103–117. 289 Die scholastische Diskussion um die Universalien geht in die diesbezügliche gegenwärtige Diskussion über. Siehe etwa Bochenski I. M., Church A., Goodman N., The Problem of Universals. 290 Die Frage nach der Realität der Universalien, die eine extramentale Existenz haben, Universalienrealismus genannt, betrifft die Beziehung zwischen den Allge­ meinbegriffen und realen Entitäten. Diese Frage geht auf Platon und Aristoteles zurück. Platon, Platoniker und Neuplatonisten der Antike und des Mittelalters ver­ treten die Theorie der Ideen (Universalien), die unabhängig von Einzeldingen exis­ tieren. Aristoteles und die Aristoteliker der Antike und des Mittelalters vertreten die Theorie der ersten und der zweiten Substanz. Zweite Substanzen haben nach Aristo­ teles eine unabhängige Existenz; sie sind Universalien. Im Gegensatz zu Platon erkennt er das abstrakt Allgemeine (universale) in den Einzeldingen. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts nimmt Ockham die nominalistische Position ein, die den Streit zwi­ schen Realisten und Nominalisten um die Existenz und das Wesen der Universalien stark vorantrieb. Zur Frage etwa Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 248–274. // Pinborg J., Radulphus Brito on universals. Cahiers de l’Institut du Moyen Age Grec et Latin. Copenhague 35 (1980), S. 56– 142. // Michalski K., La Philosophie au XIV e siècle. Six études. Hrsg. und eingeleitet von K. Flasch. Frankfurt am Main: Minerva, 1969. // Libera A. de, La querelle des universaux. De Platon à la fin du Moyen Age. Paris: Éd. du Seuil, 1996. // Pietsch C., Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundla­ gen. Stuttgart: Teubner, 1992, S. 45–60. // Courtenay W. J., Tachau K. H., Ockham, Ockhamists and the English-German Nation at Paris 1339–1341. History of University 2 (1982), S. 53–96. // Swiežawski St., Dzieje filosofii europejskiej w XV wieku. T. I. Warszawa: Poznanie, 1974; T. II, Warszawa: Byt, 1978. 291 Obwohl es sich bei dieser Studie um die Position des thomanischen Realismus handelt, sind die gegensätzlichen Lösungen des Realismus und Nominalismus kurz zu erwähnen. Die Streitfrage um die Universalien bezieht nicht nur die Frage nach der Erkenntnis des Allgemeinen im Zusammenhang mit dem Vernunftvermögen, son­ dern auch die nach der Verbindung zwischen sinnlich wahrnehmbaren Objekten und der externen Realität (Universalien) ein. Bedürftig und Murawski zufolge können vier Grundpositionen bezüglich des Universalienrealismus und -problems bestimmt wer­ den, wobei innerhalb des Realismus zwei Arten zu unterscheiden sind: (1) Der radikale Realismus Platons fasst die Universalien (Ideen) als von konkreten Objekten unab­ hängige Realität auf; (2) der gemäßigte Realismus des Aristoteles, den im Grossen und Ganzen auch Thomas vertritt, nimmt an, dass es eine vom Subjekt unabhängige,

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2.5 Universaliendebatte und Analogie

Bestandteil, da sie das Sein dadurch besitzen, dass sie in zusammenge­ setzten Substanzen enthalten sind bzw. durch diese individuiert wer­ den. Bestehen die Universalien in der göttlichen Vernunft, existieren sie ante rem (Einsicht des Platonismus). Im Gegensatz dazu postuliert der Nominalismus, dass Universalien als Begriffe im Verstand, also post rem, existieren. Anhand folgender Beispiele, die die Frage nach der Existenz und dem Wesen der Universalien behandeln, kann man sich einen Einblick in die Gedankengänge von Scholastikern unterschiedlicher Positionen verschaffen, welche die Analogie für ihre Universalien-Konzeption einbeziehen. So fragt der Franziskaner Robert Grosseteste beispielsweise: Sind Universalien einheitliche, unvergängliche Wesensformen? Und wenn ja, können sie der Erkenntnis- und Seinsgrund der aus Form und Materie zusammengesetzten, sich verändernden und vergängli­ chen Einzeldinge sein? Seine Untersuchungen beziehen neben der Deduktion die Induktion als wissenschaftliche Alternative sowie die Konzeption der Experimenta ein. Induktion und Deduktion hält er für die Prinzipien, mit deren Hilfe man die Ergebnisse der Experimente in den (mathematischen) Wissenschaften gewinnt. Sind Universalien (universalia experimentalia) experimentell zu gewinnen, werden sie mithilfe der Induktion, aufgrund der sinnlichen Erfahrung als Sätze, formuliert. Die Wahrheit solcher Sätze kann durch Experimente über­ prüft werden. In Grosstestes Lichtmetaphysik kommt die Analogie zusammen mit der Universalienkonzeption vor; und zwar etablieren die Argumente von Grosseteste – mithilfe des Analogons des Lichts (der Lichtmetaphysik entsprechend) – den Einheitscharakter der Uni­ versalien.292

externe Realität der Universalien, die in den konkreten Einzeldingen subsistieren, gibt; (3) der Konzeptualismus Roscelins erkennt keine extramentalen Objekte, sondern nur Begriffe an; demgemäß sind Universalien nur das Verstandesprodukt; (4) der Nomi­ nalismus Ockham’s schreibt reale Existenz nur den konkreten Objekten zu; die Uni­ versalien existieren weder für sich, noch als Begriffe im Verstand; sie sind Fiktionen. Siehe: Stegmüller H., Das Universalienproblem einst und jetzt. Archiv für Philoso­ phie, VI, S. 192–225; VII, S. 45–81. // Bedürftig T., Murawski R., Philosophie der Mathematik. Berlin; Boston: De Gruyter & Co, (2) 2012, S. 247–250. 292 Robert Grosseteste, Commentarius in Posterium Analyticorum libros. Introduc­ tione et teste critico di Rossi P. Florence: Olschki, 1981, I, lect.11, cap.4, 13b27–74a3; 74a4–b4. Bezüglich einer solchen Interpretation der Experimenta bei Grosseteste siehe St. Marrone P., William of Auvergne and Robert Grosseteste. New Ideas of Truth in the Early Thirteenth Century. Princeton: Princeton Univ. Press, 1983.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Die Lichtmetaphysik kommt ebenfalls bei Roger Bacon und Albertus Magnus zum tragen. Nach Albertus Magnus sind die Uni­ versalien und der Erkenntnisvorgang allgemein wie folgt zu erklären. Zum einen kommen sie aus dem göttlichen Ursprung, sie sind näm­ lich als intelligible und immaterielle Universalien (die Form) in der »Ersten Intelligenz« vorhanden und (als Licht) unvergänglich. Dinge nehmen an diesem immateriellen Universalen bzw. an dieser Form teil.293 Jede Erkenntnis des Geistigen nimmt ihren Ausgang vom Sinnhaften.294 Zum anderen ist Albertus der als nominalistisch zu charakterisierenden Meinung, dass dasjenige, was in der extramen­ talen Wirklichkeit existiert, ein Partikuläres ist. Die Universalien existieren nicht, es sei denn im Intellekt; sie können also nur als reine Gedanken existieren.295 Eine der behandelten Analogien von Albert – Universales : Partikuläres :: Materie : Form – kennzeichnet seine Auffassung von den Universalien jedoch nicht als eine eindeutig nominalistische, vielmehr stellt sie den Versuch dar, das Allgemeine in Analogie zum hylemorphisch-extramentalen, selbstständigen Ein­ zelding herauszufinden. Die Frage, ob Universalien im Singulären existieren, wird von Roger Bacon auf folgende Weise bejaht:296 Die Universalien sind in den Einzeldingen solange vorhanden, wie diese Dinge existieren. Sie tragen dabei entscheidend zur Einheit von Individuen bei. Bacon begründet seine Auffassung von den Universalien mithilfe folgender Analogie: Wie jedes Individuum durch Materie und Form konstituiert

293 Albertus Magnus, Metaphysica, p.1, lib.5, tract.5, 57–92, S. 285. / De causis et processu universitatis prima causa. (Ed. Coloniensis.) Ed. W. S. J. Fauser. Münster: Aschendorff, 1993, lib.2, tract.1, cap.5. 294 Albertus Magnus, De Homine, I, 1, S. 29: »Omnis cognitio intelligibilium ortum habet ex cognitione sensibilium secundum aliquem modum […].« 295 Albertus Magnus, Super Porphyrium De V universalibus. (Ed. Coloniensis, Opera omnia, T. I.) Ed. M. S. Noya. Münster: Aschendorff, 2004, p.1a, tract.1, cap.1, 6; tract. 2, cap.3: »Ergo universale separatum non est.« Zur Frage siehe die Untersuchung von Alberts Handschrift De V universalibus. Seine Einsichten bezüglich der Universalien behandelt: Noya M. S., Die Universalienlehre der ›Nominales‹ in Darstellung Alberts des Grossen. In: Senner W. (Hrsg.), Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jah­ ren. Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven. Berlin: Akad.-Verl, 2001, S. 171–194. 296 Roger Bacon, Questiones supra undecimum Prime philosophie Aristotelis. (Meta­ physica XII.) Ed R. Steele. Oxonii: Typographeo Clarendoniano, 1956, q.2., 9–10; q.3, 25–30. / Communium naturalium Fratris Rogeri (Liber I). Ed. R. Steele. Oxonii: Typographeo Clarendoniano, 1956, cap.7, 25a1–26a2.

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2.5 Universaliendebatte und Analogie

ist, so sind auch die Universalien durch allgemeine Formen (forma communis) und allgemeine Materie konstituiert.297 Wie ich bereits betont habe und in den nächsten Kapiteln noch eingehender behandeln werde, bezieht Thomas in der Diskussion der Universalienfrage Konzepte des hylemorphischen Kompositums, der Materie als Individuationsprinzip und der Analogie mit ein. Bei der Deutung der Universalien taucht eine Typologie derselben auf, die besagt, dass die Universalien grundsätzlich in re sind. Daran anschliessend können sie auch vom intellectus agens im Abstraktions­ prozess erlangte begriffliche Entitäten – Spezies, Genus und Differenz – sein. Sie können auch früher als die Dinge in Gestalt der universellen Formen (etwa als Form des Hauses in der Vorstellung eines Baumeis­ ters) bestehen.298 Die Bestätigung der beiden Typen von Universalien findet in der Analogie zwischen dem Materie-Form-Kompositum, dem Körper-Seele-Ganzen (Mensch) und der Genus-Spezies-Diffe­ renz statt.299 Mit der Unterscheidung zwischen den Universalien und dem Singulären verweist Thomas seinem universalienrealistischen Standpunkt gemäß darauf, dass zwischen dem Sein des Einzeldings, compositum ex materia et forma, und dem Sein des Allgemeinen (uni­ versale) zu unterscheiden ist. Er fragt, wodurch die Grundlage ihrer Verbindung bestimmt werden kann. Das natürliche Sein des extra­ mentalen zusammengesetzten Gegenstandes, der einer bestimmten Art angehört, und das geistige bzw. intentionale Sein, nämlich das Sein der abstrahierten intelligiblen Spezies, werden hier verbunden. Die species intelligibiles sind es dann, die es ermöglichen, dass das allgemeine Wesen eines Gegenstandes erfasst wird. Neben der von Thomas vertretenen (universalien-)realistischen Position kommt die nominalistische bzw. konzeptualistische Position systematisch zum Ausdruck. Diese Position gründet sich in der Uni­ vozität des Seins der Universalien. Entscheidend für die Nominalisten ist die rein logische Bedeutung der Universalien als ihr Grundcharak­ teristikum: keine res kann eine Universalie sein, und es existiert auch 297 Roger Bacon, Questiones supra undecimum Prime philosophie Aristotelis. (Meta­ physica I.) Ed. R. Steele, S. 242. 298 In Sent.II, d.3, q.3, a.2: »Ad primum ergo dicendum, quod est triplex universale. Quoddam quod est in re, scilicet natura ipsa, quae est in particularibus, quamvis in eis non sit secundum rationem universalitatis in actu. Est etiam quoddam universale quod est a re acceptum per abstractionem, et hoc posterius est re […].« 299 De ente et essentia. Lat.-dt. Übersetzt und eingeleitet von W. Kluxen. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2007, cap.2, 13–16; cap.3, 26.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

kein extramentales Allgemeine. Eine Konzeption des (modifizierten) Universalienrealismus, demgemäß der sprachliche Status der Univer­ salien ihre Realitätsbezogenheit nicht verliert, findet man bei Duns Scotus.300 Die vieldiskutierte Frage nach der Individuation wird bei Scotus im Kontext des Universalienproblems dahingehend gelöst, dass ein zusammengesetztes Kompositum nicht dieselbe Seinsweise wie seine Prinzipien, sein Genus, seine Spezies und seine Differenz hat, die über ein quiditatives Sein des Allgemeinen verfügen.301 Dieses Kompositum besteht aus Wirklichkeiten, die aus dem Bereich des Allgemeinen stammen und ohne Beziehung zum Kompositum nicht bestehen können. Die Wirklichkeit des Allgemeinen ist damit als rea­ litas oder ratio in individuellen Gegenständen aufzufassen. Deshalb 300 Johannes Duns Scotus, Questiones super libros Metaphysicorum Aristotelis. Ed. R. Andrews u.a. New York: Franciscan Institute Publ., St. Bonaventure Univ., 1997, VII, q.18. // Sowie: Texte zum Universalienstreit. Bd. 2. Übersetzt und hrsg. von H.U. Wöhler. // Vgl. Honnefelder L., Johannes Duns Scotus. München [u.a.]: Beck, 2005, S. 32. 301 Mit der Einsicht des Thomas, dass das Individuationsprinzip in der Materie liegt, setzt sich Scotus auseinander. Er verbindet die Individuation nicht mit der Materie, sondern mit der Form. Wenn Scotus nach der individualisierten (numerisch einen) Substanz fragt und die Materie als Kandidatin für das Individuationsprinzip heran­ zieht, stellt sich nach ihm das Problem darin, dass Materie im Sein indeterminiert bleibt. Nimmt man die Form als Individuationsprinzip an, kann sie als spezifische Form (oder individuierende Differenz) für die Spezies aufgefasst werden, die der Gat­ tung zukommt und mit dieser das Zusammengesetzte bzw. Washeit bildet (Gilson, S. 480). Gilson zeigte, dass so wie die spezifische Differenz die Art als »radikal unter­ schieden von jeder anderen« setzt, auch die jeweilige individuierende Entität das Ein­ zelding als »radikal unterschieden von jedem andern« (Gilson, S. 481 f.) postuliert. Aus dem gleichen Grund wird bei Scotus auch die individuierende Entität oder der individuierende Unterschied verstanden, welcher ultima realitas entis bzw. die Mate­ rie, Form oder das Kompositum die letzte Wirklichkeit des Seienden ist. In dieser Ordnung »ist die Ursache der Individuation immer differentia ultima« (Gilson, S. 480); es handelt sich also um eine innere ultima actualitas formae, nämlich um die Individuation der Washeit (nicht aber um die Individuation durch die Washeit) und um die Individuation der Form (nicht aber um die Individuation durch die Form). So ist das Individuelle als »ein unzurückführbar Letztes« zu fassen (Gilson S. 483). / Duns Scotus, In Metaphysik, VII, q.13, n.18–19. / Duns Scotus, Reportata Parisiensia, II, d.12, q.4, n.7; q.5, n.13. / Opus Oxoniense, II, d.3, q.6, n.11–13. // Gilson E., Johannes Duns Scotus, S. 461–484. // Owens J., Common Nature: A Point of Com­ parison between Thomistic and Scotistic Metaphysics. MS 19 (1957), S. 1–14. // Łukasiewicz J., The Principle of Individution. Part I, Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes, Bd. 27. Berkeley and Modern Problems (1953), S. 69–82. // Massobrio S. E., Aristotelian Matter as Understood by St. Thomas Aquinas and John Duns Scotus. Ottawa: ProQuest, National Library of Canada, 1991.

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2.5 Universaliendebatte und Analogie

kann der Intellekt sowohl die Artnatur und die in dieser enthaltene – mehreren Gegenständen gemeinsame – washeitliche Bestimmung (rationes) als auch die dieser Artnatur zukommende andere Artnatur (geistige Spezies) erkennen, die das Resultat der Erkenntnis von den Universalien ist. Diese Spezies repräsentieren den Gegenstand »in der aktuell intelligiblen Universalität der Indifferenz«.302 Das Erkennen ist bei Scotus somit als Vorgang der abstraktiven Erkenntnis zu verstehen, welcher mittels der den Gegenstand repräsentierenden sinnlichen und geistigen Spezies ausgeführt wird und mit der Bildung des Begriffs abschließt, dem auch die intuitive Erkenntnis folgt. Weder die Bezugnahme auf die extramentalen Gegenstände noch die Einbeziehung der Analogie sind für Scotus’ Auffassung des ganzen Erkenntnisprozesses notwendig.303 Zur Diskussion um das eigentliche Erkenntnisobjekt des Intel­ lekts genügt hier ein kurzer Hinweis auf das frühere nominalistische Universalienkonzept bei Petrus Abaelardus und dem späteren Nomi­ nalismus bei Wilhelm von Ockham. Die Auffassung von Petrus Abaelardus, dass die Universalien (Genus, Spezies) keine reale Exis­ tenz haben, geht auf Boethius Einsicht zurück, dass kein Gegenstand ein universaler ist, denn alles, was eines ist, numerisch eines ist.304 Ockham meint, dass weder universale noch singuläre Erkenntnisob­ jekte die eigentlichen Objekte des Intellekts sind, es sich also vielmehr um unterschiedliche Erkenntnisweisen des Intellekts handelt. Mit Ockhams Ansicht, dass das Universale kein reales Erkenntnisobjekt ist, sondern es sich um cognitio abstractiva handelt, resultiert ein Johannes Duns Scotus, Questiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, I, q.6 (46); I, q.5 (10, 16); VII, q.18. 303 Vgl. Honnefelder L., Johannes Duns Scotus. S. 34 f. Hinweise von Honnefelder auf die Textstelle bei Duns Scotus: Johannes Duns Scotus, Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, VII, q.15 (31–32). / Quaestiones Quodlibetales, q.13, n.8; n.9. 304 Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta, I, 10. // Petrus Abaelardus, Dialec­ tica. First Complete Edition of Parisian Manuscript by L. M. de Rijk. Assen: Konin­ klijke Van Gorcum & Comp. N.V, 1956, tract.V, 2, 3, f.191v24–f.193r19, S. 536–56. / Logica Ingredientibus. Ed. B. Geyer. In: Peter Abaelards Philosophische Schriften. Hrsg. von B. Geyer. Münster: Aschendorff, 1919–1933, I, 2. // Petri Abaelardi, Opera theologica, II. Theologia christiana. Cura et studio E. M. Buytaert O. F. M. Turnholti Typographi Brepols Editores Pontificii, MCMLXIX, III, 153–156 (S. 252–253); IV, 31– 33 (S. 279–280); IV, 50–51 (S. 287–288). // Rijk L.M. de, Logica Modernorum, II-I, S. 177–182; 186–206. // Vgl. Libera A. de, Der Universalienstreit, S. 56; 139–142; 165; 265. 302

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ganz anderes Bild von der Erkenntnis. Der Intellekt wird von der Auf­ fassung »befreit«, dass das Universale das spezifische Objekt ist, das sich extra animam befindet oder ein Gedankending (ens rationis) ist. Sowohl res singularis als auch das Universale (etwa homo) können eine intuitive oder abstrakte Erkenntnis verursachen; abstraktive bzw. konfuse Erkenntnisakte des Intellekts unterscheiden sich von der intuitiven in der Bezugsweise: Die abstraktiven (allgemeinen) Erkenntnisakte beziehen sich auf die multiplen res singulares (auf alle möglichen Menschen und nicht auf ihre Akzidenzien), die intuitive Erkenntnis – auf einen Gegenstand, der Zahl nach eine wirkliche Ein­ heit ist.305 Das Universale ist also vielmehr als actus intelligendi bzw. cognitio communis confusa, als Zustand des Intellekts im allgemeinen bzw. abstrakten Erkenntnisakt aufzufassen.306 Die NominalismusRealismus Debatte um den ontologischen und epistemischen Status der Universalien ist von grosser Tragweite und weist über die onto­ logisch-epistemische Problematik hinaus bis in die Sprachlogik. Die konstruktiven Aspekte der drei grundsätzlichen Zugangsweisen zur Universalienfrage ermöglichen es, diese mit sprachlogischen Begriffen und Beweismitteln zu untersuchen (siehe Kap. 4).

2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick zur Erschließung weiterer Argumente Hylemorphismus und Analogie betreffend (1) Kapitel 2 habe ich mit der Angabe der Bedingungen für die Erkenntnis bei Thomas begonnen. Eine der Bedingungen ist der Intel­ lekt, der das in materia existierenden Erkenntnisobjekt herausgreift und die abstrahierte Washeit des sinnlichen Einzelnen (quiditas rei 305 OThI, Sent.I, lib.1, prol., q.1, S. 4–7; 15–19; 30–33. / OThIX, Quodl. V, q.12, S. 528–531. Die intuitive Erkenntnis als Erkenntnisweise ist Erkenntnis der kontin­ genten Tatsachen, die in evidenten Urteilen zusammengefasst werden. Zur erkennt­ nismetaphysischen Position des Nominalismus von Ockham gehört, dass die abs­ traktive Erkenntnis, die sich von der Existenz und Akzidenzien abstrahiert, die intuitive Erkenntnis voraussetzt (umgekehrt in der aristotelisch-thomanischen indi­ rekten Erkenntnis). 306 Wilhelm von Ockham, OPhI, Summa logicae I, cap.14, S. 47–49; cap.15, S. 50– 54. / OPhII, Expositio in Librum Perihermenias Aristotelis, lib.1, § 6, S. 354–356. / OThI, Sent.I, lib.I, prol., q.9, S. 236 ff.; 245–250. // Vgl. Schulthess P., Sein, Signifi­ kation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 269–273.

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

sensibilis) bzw. das Allgemeine als das eigentliche Erkenntnisobjekt (proprium obiectum) erfasst. Auf diesem analogen Erkenntnisweg gelangt man zu der wesentlichen Charakteristik des Intellekts, näm­ lich, dass der Intellekt im Assimilationsprozess dem Erkenntnisobjekt analog, d.h. proportional wird. Bei dem Versuch, die Grundlagen für den Erkenntnisakt zu erschließen, wurden – mit Thomas – Fragen von ontologischer, epistemologischer, begrifflicher und methodischer Art begegnet. Auf diesem Erkenntnisweg gilt nicht die Materie als ontolo­ gisch prioritär, sondern die in einem zusammengesetzten materiellen Gegenstand bestehende Form. Da der Wahrnehmungssinn und der Intellekt nicht zur Aufnahme der natürlichen, sondern nur der inten­ tionalen Form fähig sind, wird diese Form »in der Weise des Aufneh­ menden«, nämlich auf geistige (oder intentionale) Weise erkannt.307 Aus diesem Grund wird für Thomas der Begriff der Assimilation tragend. Dieser ermöglicht es, zu klären, weshalb und auf welche Weise auf jeder Stufe des Erkennens, auf der sich der Verstand bewegt, die Proportionierung des Wahrnehmungssinns und des Intellekts dem Erkenntnisobjekt gemäß stattfindet. Da es sich auf jeder Erkennt­ nisstufe um dieselbe Form handelt, stellt Thomas die Bedeutung der unterschiedlichen Modi des Seins – im materiellen Modus (esse naturale) und im geistigen Modus (esse intentionale) – fest.308 Die Form, die als intentionale aufgenommen wird, interpretiert er so, dass sich diese im singulären Gegenstand als nicht ganz von der Materie getrennt erweist, sonst bliebe die Materie ohne die Form unerkannt (ignota).309 Die Materie, die in potentia Träger der Eigenschaften ist, bleibt den Veränderungen unterworfen. Aber auch der Verstand ist ad species intelligibiles in potentia und verändert sich als Träger des Wissens beim Übergang vom Nichtwissen zum Wissen.310 Dies entspricht der Proportions- und Veränderungsthese, die besagt, dass S.Th.I, q.75, a.5: »Manifestum est enim quod ohne quod recipitur in aliquo, recipitur in eo per modum recipientis. Sic autem cognoscitur unumquodque, sicut forma ejus est in cognoscente.« 308 In Aristotelis Librum de Anima Commentarium, lib.II, Ch. XII, lect.5, 282–84; lect.24, 553. 309 S.Th.I, q.86, a.2ad1: »Et quia forma secundum se nota est, materia autem sine forma ignota […].« // Met.Z10, 1038a8–13. / De Anima III, 425b20–24. 310 S.Th.I, q.75, a.5ad2: »quod subjici et transmutari convenit materiae secundum quod est in potentia. […] Secundum hoc enim intellectus subjicitur scientiae, et trans­ mutatur de ignorantia ad scientiam, secundum quod est in potentia ad species intel­ ligibiles.« Vgl. auch Elders L. J., Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive. Salzburg; München: Pustet, 1985, S. 128. 307

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der Assimilationsprozess zwischen dem Erkenntnisobjekt und dem Intellekt die Voraussetzung für Erkenntnis ist. (2) Das Einzelne kann aus Gründen erkannt werden und aus dem Einzelnen können die Gründe erkannt werden. Die allgemeinen Prinzipien sind für das einzelne, hylemorphisch konstituierte Seiende bestimmend und grundlegend. Die Materie und Form (Analoga) bleiben dem Seienden (Analogon) notwendig immanent. Analogie erweist sich als unentbehrliches Analyseinstrument im Erwerb der Prinzipienkenntnis von dem konkret Seienden und der Allgemein­ heit.311 (3) Bei der epistemisch-ontologischen Frage nach der in der Analogie fundierten Einheit wird der Begriff der Form notwendig. Jedoch ist dieser vieldeutig. Der Begriff der Form kommt immer dann vor, wenn der Versuch unternommen wird, den Begriff der Substanz zu konkretisieren. Der Grund dafür ist folgender: a) Alles, was der Materie und der Form eigen ist (Erzeugt-, Zerstörtwerden), gehört zu den materiellen, zusammengesetzten und selbstständigen Substan­ zen. Wenn die ganze Substanz das, »was ist« (id quod est), ist, dann ist das Sein dasjenige, wodurch die Substanz als »seiend« bezeichnet wird. b) Anders ist es bei geistigen, immateriellen Substanzen, da diese unabhängig von Veränderungen sind und damit nicht zerstört werden können. Die Form allein bildet hier die Grundlage für eine selbstständige Substanz (substantia subsistens) und ist selbst »das, was etwas ist«. Das Sein ist nun selbst der Akt und das, »wodurch etwas ist«. Auf diese Weise wird von Thomas die »compositio ex actu et potentia« bzw. »ex substantia et esse« bestimmt.312 Der Ausdruck »compositio ex actu et potentia« ist für das Verständnis vom Erster­ kannten wichtig. Das Argumentationsverfahren von Thomas zielt darauf ab, zu zeigen, dass jedes aus Materie und Form, Potenz und Akt zusammengesetzte Ding als Seiendes den Ausgang der Erkenntnis nimmt und als actus die Erkenntnisbedingung zugleich ist.313 Denn das Sein, das durch die Partizipation erworben wurde, ist auf jede Substanz und auf alle Gegenstände als actus (ipsum esse est actualitas omnium rerum) bezogen bzw. in jedem Gegenstand präsent.314 Zu Thomas’ Bestimmung von compositio ex actu et potentia gilt sein S.Th.I, q.86, a.1ad2. C.G.II, 54. 313 S.Th.I, q.5, a.2; q.75, a.5ad4. 314 S.Th.I, q.4, a.1ad3: »Ipsum esse est perfectissimum omnium: comparatur enim ad omnia ut actus […] unde ipsum esse est actualitas omnium rerum.« 311

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

angeführtes Argument, dass compositio ex actu et potentia mehr als nur compositio ex forma et materia umfasst, selbst dann, wenn sich beide auf das konstituierte Seiende (d.h. dessen esse proprium) und das allen Seienden gemeinsame – ens commune – beziehen. Das Ergebnis der Behandlung der ontologisch tiefliegenden Sub­ stanz-Frage von Thomas kann hier – zusammen mit Inciarte – wie folgt charakterisiert werden: Die Philosophie von Thomas ist eine »an der Substanz orientierte Philosophie, in welcher Analogie (in casu proportionalitatis) eine so große Rolle spielt […]«.315 Aristotelische Ansätze avancierten bei Thomas zum generellen Modell des Denkens. (4) Die von Thomas favorisierte Erkenntnis ist eine indirekte Erkenntnis, da sie von dem der sinnlichen Wahrnehmung zugängli­ chen Singulären ausgeht und zur Washeit des Einzelnen (quiditas rei sensibilis) durch die Abstraktion gelangt, wodurch das Einzelne intel­ ligibel wird. Die indirekte Erkenntnis ist dadurch gekennzeichnet, dass Intellekt und Erkenntnisgegenstand im Erkenntnisprozess durch eine Proportion (proportio cognoscentis et cognoscibilis) in Verbindung treten bzw. sich assimilieren.316 Diese Einsicht des Thomas hat nur teilweise Zustimmung gefun­ den. Da er selbst seine Position immer zur Diskussion gestellt hat,317 weise ich an dieser Stelle noch einmal auf einige von ihm heraus­ gehobene und diskutierte Positionen seiner Gegner hin. Zunächst geht es um die Polemik gegen die neuplatonische Emanationslehre und die averroistischen Ideen der Abgetrenntheit des Intellekts. Im Laufe dieser Polemik entwickelt Thomas seine Theorie der indirekten Erkenntnis. Denn in der indirekten Erkenntnis, die durch die Wahr­ nehmungs-, Vorstellungs- und Abstraktionsakte ausgeführt wird, begegnen sich im Erkenntnisakt zwei Komponenten – die Sinne und der Intellekt. Das betrifft insbesondere den tätigen Intellekt. Diese Rolle des tätigen Intellekts, die eine der Grundlagen der indirekten Erkenntnis bildet, steht der Position der Nominalisten 315 Inciarte F., Forma formarum. Freiburg; München: Alber, 1970, S. 10. Inciarte bestimmt seine These und den speziellen Sinn der Analogie wie folgt: »Wenn die Form Seele, dann die Materie Sehnen und Knochen; wenn Säge, dann Stahl. Und in kom­ plizierteren Fällen sind die Ursachen ja sogar erst innerhalb solcher Bedingungszu­ sammenhänge überhaupt erschließbar.« 316 S.Th.I, q.84, a.2. 317 Torrell J.-P. O. P., Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin. Aus dem Französischen übersetzt von K. Weibel in Zusammenarbeit mit D. Fischli und R. Imbach. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 1995.

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gegenüber, die keine indirekte (oder analoge) Erkenntnis durch die Wahrnehmung des Singulären anerkennen und aus diesem Grund den tätigen Intellekt leicht entbehren können. Ein Beispiel der Art der direkten Erkenntnistheorie ist dasjenige Ockhams, für welches die abstraktive Erkenntnis die wichtigste Erkenntnisstufe, nämlich – die intuitive Erkenntnis, – als notwendig vorausetzt.318 Um mit Ockham zu sprechen: Die abstraktive Erkenntnis bietet auf keine Weise eine sicherere Erkenntnis als die intuitive Erkenntnis des Einzelnen; das Objekt der abstraktiven Erkenntnis muss dabei nicht notwendig abstrakt im Sinne der Universalien sein. Es handelt sich um den Zustand des Intellekts, der sich von der Existenz des Erkenntnis­ objekts abstrahiert.319 Assimilation ist damit eine Repräsentation des Einzeldings. Wenn aber die Forderung – in actu zu sein – sowohl den Erkennenden bzw. den Intellekt als auch das Erkenntnisobjekt betrifft, dann kann man nicht umhin, den Assimilationsprozess vorauszuset­ zen, um dieser Forderung genüge zu tun. (5) Wenn das Singuläre das Allgemeine (universale) enthält, muss der tätige Intellekt nach Aristoteles und Thomas dazu imstande sein, dieses Allgemeine vom Singulären bzw. Partikulären im Abs­ traktionsprozess herauszuarbeiten.320 Die abstraktive Erkenntnis 318 Wilhelm von Ockham, OThV, Sent.II (Reportatio). Ed. G. Gál, R. Wood. New York: St. Bonaventure University, 1981, lib.2, q.12–13, S. 256–267, 313, 316–321, 333–337. / OThI, Sent.I, lib. 1, prol., q.1, S. 74 f. Die direkte Erkenntnis des Einzelnen bei Ockham ist vor allem die cognitio intellectiva intuitiva, die die Termini vollkom­ mener erkennt, als eine abstraktive Erkenntnis derselben Termini leisten kann. Der Intellekt kann nach Ockham erkennen, dass Sokrates weiß ist, wenn der Intellekt zunächst in der abstraktiven Erkenntnis von der Existenz Sokrates abstrahiert und wenn Sokrates wirklich der Zahl nach eines und nämlich weiß ist. Das Erkennen von Sokrates und von Weiß ist eine Art der intuitiven Kognition. Die ockhamsche Erkennt­ nistheorie ist Schulthess zufolge etwas »ganz Neue[s] gegenüber dem hochmittelal­ terlichen Aristotelismus«. Vgl. Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 180–184 (Zitat S. 180). // Glorieux P., Les Premières Pole­ miques Thomistes. Le ›Correctorium Corruptorii Quare‹. // Boler J. F., Intuitive and abstractive Cognition. In: Kretzmann N., Kenny A., Pinborg J., Stump E. (Eds.), The Cambridge History of later Medieval Philosophy. Cambridge [et al.]: Cambridge Univ. Press, 1982, S. 460–478. 319 Wilhelm von Ockham, OThIX, Quodl.I, q.13, S. 72–78. / OPhII, Expositio in librum Perihermenias Aristotelis, lib.1, prooemium, § 6, S. 355–358. 320 S.Th.I, q.85, a.1ad1; In Anal. post.I, 1, lect.1, cap.1, 71a4; 71a8. // 2. Anal.2, 72a25– 27; 24, 85a10–86a30. Thomas behandelt diese auf Aristoteles zurückgehende Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Singulären und dem Allgemeinen als Abstrakti­ ons-, Intentionalitäts- und Assimilationsprobleme. Ich kehre zu dieser Frage als Frage

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

dieser Art, wenn man also vom Besonderen auf das Allgemeine schließt, kann, wie erwähnt, als Induktionsmethode verstanden wer­ den.321 Die Proportions- und Proportionalitätsanalogie spielt in die­ sem Übergang vom Einzelnen zum Allgemeinen eine wesentliche Rolle und ist als eine wesentliche Komponente oder als Typ der induktiven Argumente zu begreifen.322 der (analogen) Prädikation zurück. Über Aristoteles’ Position bezüglich dieser Frage herrscht kein eindeutiger Konsens in der heutigen Aristoteles-Forschung. Ich folge hier der Deutung von de Rijk: »For Aristotle all scientific knowledge is concerned with search for a thing’s universal nature as immanent in the things as particular.« Vgl. Rijk L. M. de, Ockham’s Theory of Demonstration, S. 232–238 (Zitat S. 232). 321 1.Anal.1, 24b18–20; 2.Anal. 24, 85b20–31. / Top. I, 12, 105a10–19. / Met.Θ6, 1048a35–37. Sowohl in bisherigen als auch in weiteren Ausführungen der AnalogieFragen geht es bei Thomas – nicht etwa anders als bei Aristoteles – vorwiegend um die induktive Argumentation. Aristoteles unterscheidet zwei Typen von Argumenten: Deduktion, wenn man vom Allgemeinen auf das Besondere schließt, und Induktion. Einen besonderen Wert misst er der Induktion (epagoge) bei, da es sich um die Abs­ traktion als Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen handelt, die einen der Begriffsabstraktion zugrunde liegenden Prozess ausmacht. Die Induktion geht also vom Einzelnen aus. Der Beweis geht dagegen vom Allgemeinen aus. Die Annahme von Aristoteles, dass die Induktion ohne Sinneswahrnehmung unmöglich ist und das Allgemeine nicht anders als auf dem Weg der Induktion erfasst werden kann (2.Anal.18, 81b2–6), führt zur Verdeutlichung des Gedankens, dass bereits die auf das Einzelne gerichtete Wahrnehmung etwas Allgemeines enthält. Die Kritik der aristo­ telischen Induktion, die als Ziel der Wissenschaften propagiert wird, besteht darin, dass die abstrahierende Konklusion aus beobachteten Phänomenen vielmehr alltäg­ liche Gehalte enthält. Hier ist die Argumentation von Aristoteles selbst zu berück­ sichtigen. Unsere Vernunft, sagt Aristoteles, die sich im Erkennen auf das Einzelne richtet, verfügt über das Vermögen, das Allgemeine (die Unvergänglichkeit) zu erfas­ sen (2.Anal.24, 85b13–15). Zu der Kritik der Fehldeutungen des Allgemeinen bei Aristoteles und der Frage nach dem primären Allgemeinen – statt des (oft interpre­ tierten) konfusen Allgemeinen – siehe bei Schmitt A., Das Universalienproblem bei Aristoteles. In: Khoury R. G. (Hrsg.), Averroes (1126–1198) oder Triumph des Ratio­ nalismus. Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 2002, S. 59–86. // Zur Frage nach dem primär Allgemeinen und Modalitäten siehe Hintikka J., Time and Necessity: Studies in Aristotle’s Theory of Modality. Oxford: Oxford Univ. Press, 1973. // Zur Frage der Induktion und Abstraktion bei Aristoteles: Sukale M., Denken, Sprechen und Wissen. Logische Unterschungen zu Husserl und Quine. Tübingen: Mohr, 1988, S. 59–89. // Zu der induktiven Logik vgl. Essler W. K., Induktive Logik. Grundlagen und Voraussetzungen. Freiburg; München: Alber, 1970, S. 19–64. 322 Den Prozess des analogen Schließens kann man wie folgt darstellen: (1) X und Y sind ähnlich in Bezug auf die Eigenschaften a, b und c. (2) Objekt X kann Eigenschaft z haben. (3) Also kann Y Eigenschaft z haben. Theorien der Induktion haben in der gegenwärtigen Philosophie etwa John Stuart Mill und Rudolf Carnap entwickelt. Neben den vier Haupttypen der induktiven Verallgemeinerungen lässt sich bei Carnap

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

(6) Die Proportionalitätsanalogie kann als eine erweiterte Struk­ tur der proportionsanalogen Strukturen angesehen werden. Die Pro­ portionalität der Proportionen, als Isomorphie323 verstanden, ist fest in Thomas’ Konzept der Erkenntnis integriert. Will man genau wissen, ob die Erweiterung der Proportionsstrukturen bis in die Gesamtstruk­ tur der Proportionalität reicht, muss man wissen, was unter der jeweiligen Art bzw. Struktur der Proportionsanalogie zu verstehen ist. Die die Isomorphie bildenden Proportionen und Differenzen weisen eine analoge Einheit auf, die sich anhand transzendentaler analoger Begriffe, wie etwa des Seienden, fassen lässt. Dies ist der genuine Ursprung des analogischen Denkens bei Thomas. Aus diesem episte­ mischen Umstand ergibt sich aber, dass die Erkenntnis der Seienden die natürliche Seinsweise des Intellekts (modus cognoscentis naturae) übersteigen.324 Wenn die cognitio rei die Natur des Intellekts überfor­ dert, wird die Proportions- und Proportionalitätsanalogie bei Thomas als Lösung – sowohl im ontologisch-epistemischen als auch im logisch-semantischen Sinne (vgl. Kap. 4). Mit dem analogen Namen des Seienden wird der Doppelsinn (konkret/allgemein) des Seienden durch das per prius et per posterius Prinzip entschlüsselt, sodass alle Analogate auf allen Seins- und Erkenntnisebenen als primär und sekundär (per prius et per posterius) bezeichnet werden können. Damit werden die verschiedenen Stufen der Wirklichkeit gebündelt. (7) Die realistische Epistemologie verwendet das Seinsargument für die epistemische Rechtfertigung der Erkenntnis, die das Allge­ meine aufgrund des Konkreten erreicht. In einer These zusammen­ gefasst bedeutet dies: Wenn man auf A (Allgemeines) nur aus K (Konkretem) kommt, muss man wissen, was die Voraussetzung dafür ist, dass K als esse propium der res dem Intellekt in seiner prima conceptio zugänglich wird. Wenn man zum eigentlichen Erkenntnis­ gegenstand A und dadurch zu sicherem Wissen kommt, muss das Universale in rerum natura und im Intellekt sein. Zu dieser These habe ich den folgenden Gedankengang Thomas’ detailliert erörtert: Da das esse der Akt der ganzen zusammengesetzten Substanz ist, noch ein fünfter Typ finden, nämlich der Analogieschluss. Carnap R., Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit. Wien: Springer, 1959. 323 Bochenski J. M., Entre la Logique et la foi. Entretiens avec Joseph M. Bochenski. Recueillis par J. Parys. Paris: Les Editions noir sur blanc, 1990, S. 128–131. Siehe dazu auch Simon P., Bochenski and Balance: System and History in Analytic Philosophy. Studies in East European Thought 55, 4 (2003), S. 281–297. 324 S.Th.I, q.12, a.4.

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

kann sich der Wahrnehmungssinn erst auf das Einzelne (das das natürliche Sein besitzt) richten, um die wahrnehmbare Form in einem Wahrnehmungsorgan aufzunehmen. Doch ist klar, so Thomas’ Ein­ sicht, dass weder die sinnliche noch die intellektuelle Erkenntnis den realen Einzelgegenstand direkt begreifen kann, deshalb muss die Form im Akt der indirekten Erkenntnis von den materiellen Bedin­ gungen abstrahiert werden.325 Die hylemorphische Grundlage für die indirekte Erkenntnis ist damit angesprochen: Erst dann, wenn sich der Wahrnehmungssinn auf einen materiellen Gegenstand richtet, abstrahiert der Verstand die verstandesmäßige Artform (species intel­ ligibilis) aus der Materie des Zusammengesetzten ab. Das, was aus der vereinzelten Materie abstrahiert wird, ist das Allgemeine (univer­ sale). Der Zusammenhang zwischen einem sinnlich wahrnehmbaren Singulären und dem erreichten Allgemeinen wird als analogisch gedachtes Konkret-Allgemeines konzipiert.326 Somit wird ersichtlich, dass der Weg des Erkennens bei Thomas nicht vom Universalen zum konkret Einzelnen verlaufen stattfinden kann, sondern gera­ dezu umgekehrt stattfindet. So wird beispielsweise Sokrates (dieses konkrete Einzelne) durch Körper (Materie) und substantielle Form bestimmt; als Mensch wird er durch das Menschsein (Allgemeinheit) begriffen. Diese Argumentation trägt zum Verständnis des eigentli­ chen Gegenstandes unseres Verstandes bei, der »etwas Allgemeines (quoddam commune)« ist327 und der den Erwerb von sicherem Wissen voraussetzt. Im Anschluss an die ontologische und epistemische Erörterung macht die prädikationslogische es ersichtlich, dass ein durch die Artform (per speciem inteligibilem) erkanntes Allgemeines dasjenige ist, was von vielen bzw. von der Mehrheit ausgesagt wer­ den kann.328 (8) Ich schließe Thomas’ Behandlung der metaphysischen Kon­ stituenten des Kompositums im Folgenden durch das Anführen von fünf weiteren Punkten ab, um zu zeigen, dass es in seiner Epistemo­ 325 C.G.I, 47: »Res materiales intelligibilis efficitur per hoc quod a materia et materi­ alibus conditionibus separatur.« 326 S.Th.I, q.3, a.4. Der Begriff des Konkret-Allgemeinen kommt im Anschluss an Thomas bei Inciarte vor. Vgl. Inciarte F., Forma Formarum, S. 143–155. 327 S.Th.I, q.86, a.1; q.87, a.3ad1: »[…] obiectum intellectus est quoddam commune.« 328 2.Anal.2, 100a10–100b5. Hier ist auf Aristoteles zu verweisen, der die Frage nach dem Übergang vom Einzelnen zum Allgemeinen und nach dem Erwerb des Allgemeinen (z.B. Mensch, nicht Mensch Kallias) auf dem Wege der Wahrnehmung und der Abstraktion, das in einer weiteren Erkenntnisstufe zum Allgemeinbegriff gelangt, herausgearbeitet hat.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

logie (neben den bereits erwähnten) noch weitere Gründe dafür gibt, dass sein so reichhaltiges Konzept der hylemorphisch konstituierten Einzeldinge ausführlicher zu charakterisieren ist: (a) In jeder Erkenntnis unterscheidet man nach Thomas zwei Form-Aspekte: den Aspekt der Washeit des Einzelnen (quiditas rei sensibilis) und den hylemorphischen Aspekt, insofern die Form mit der Materie als Konstituente dieses Zusammengesetzten verbunden ist. Ein Beispiel: Ein Gegenstand wird zum Erkenntnisgegenstand, wenn die Form – zusammen mit der Materie – als materielle Substanz (etwa Wasser) aufgenommen und auf immaterielle Weise erkannt wird.329 Die Form wird proportional bzw. analog empfangen: ein Wahrnehmungssinn nimmt sie als akzidentelle Form, also in Potenz, auf; der Intellekt empfängt sie dagegen universell, nämlich im Akt. Eine derartige Versetzung der Analogiebeziehung in den Erkenntnis­ prozess selbst wird dann von Aegidius von Rom kritisiert.330 (b) Es scheint, dass bei der Erkenntnis nach Thomas zuerst nach der materiefreien reinen Form gefragt werden sollte. Nach der reinen Form zu fragen, die sich auf die Wesenheiten (supposita subsistentia) bezieht oder die in sich selbst und durch sich selbst besteht (est per se subsistens),331 ist nach ihm jedoch nicht zweckmäßig. Denn der Erkenntnisgrund trifft stets auf den Träger, der durch die Form als »Haus«, »Mensch« oder »Pferd« bezeichnet wird. Doch ist ein Haus, ein Mensch oder ein Pferd nicht nur die Form, sondern auch das Kom­ positum aus der Form und individueller, wahrnehmbarer Materie. In einem Träger, beispielsweise in einem weißen Pferd oder in einem weißen Mensch, gibt es die von der Materie rezipierte Form, die ihre Individualität gerade durch die Materie (per materiam) erhält. Es zeigt sich erneut, dass Materie in Form von Potenz als Individuationsprin­ zip fungiert, was auch in Thomas Universalienkonzept wirksam wird.

S.Th.I, q.5, a.4; a.5. Aegidius von Rom, De Plurificatione intellectus possibilis. Lat.-engl. Ed. D. H. Bullota Barraco. Rome: Fratelli Bocca ed., 1957, 58r9; 58vA. Nach Aegidius ist es falsch, die Beziehung zwischen der Form der Wand und der Form im Auge zu postulieren. Er lehnt die Verbindung zwischen der Vorstellung und dem Intellekt ab und will eine Verbindung zwischen den separaten Substanzen und dem menschlichen Verstand finden. S.Th.I, q.79, a.7. 331 S.Th.I, q.3, a.2ad3. 329

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

Dieses Universalien-Konzept hebt sich von dem Standpunkt Scotus’ ab, der die Form als Individuationsprinzip begreift.332 (c) Die Konzeption der Form durch Thomas besagt, dass die Formen von der Materie aufgenommen und individuiert werden. Materie selbst aber kann nicht vollständig von einem anderen zusam­ mengesetzten Träger aufgenommen werden, da sie selbst ein Träger (primum subiectum) ist.333 So kann z.B. ein materieller Gegenstand, etwa ein weißes Stück Holz, das einen Meter lang ist und eine weiße Farbe hat, mit einer anderen Farbe gefärbt und in mehrere Stücke zerteilt werden. Daran anschließend kann gesagt werden, dass ein Gegenstand, der aus einer bestimmten Form und Materie zusammengesetzt ist, akzidentielle Formen (z.B. das Weiß und die Röte) aufnehmen kann. Die folgende Proportionalitätsanalogie setzt die hier angedeuteten Entitäten in Beziehung zueinander: So wie in der sinnlichen Erkenntnis nicht die Materie selbst, sondern sinnliche 332 Ioannis Duns Scoti, Opera omnia, Opus Oxoniense, Paris, 1891–1895 (Nachdruck der Ausgabe von L. Wadding. Lyon, 1639), II, d.12, q.2, n.10. / Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis. Ed. von R. Andrews [u.a.]. New York: Franciscan Institute Publ., St. Bonaventure Univ., 1997. Siehe zur Frage Assenmacher J., Die Geschichte des Individuationsprinzips in der Scholastik. Leipzig: Meiner, 1926. // Gilson E., Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken einer Lehre. (Französische Originalausgabe: Jean Duns Scot, Introduction à ses positions funda­ mentales. Paris: Vrin, 1952.) Düsseldorf: Schwann, 1959, S. 449–469. // Noone T. B., Scotus’ Critique of the Thomistic Theory of Individuation and the Dating of the »Quaestiones in Libros Metaphysicorum«, VII q.13. In: Sileo L. (Hrsg.), via scoti. Methodologica ad mentem Joannis Duns Scoti. Bd. 1. Rom: Antonianum, 1995, S. 391–406. // Dumont S. D., The Question on Individuation in Scotts’ »Quaestiones super Metaphysicam«. In: Sileo L. (Hrsg.), via scoti. Methodologica ad mentem Joan­ nis Duns Scoti, S. 193–227. Augustinus’ Beispiel eines Tones, der früher als Gesang ist, wird bei Scotus gebraucht, um die Form als Individuationsprinzip zu behandeln. Augustinus : »[…] origine, sicut sonus cantum …sic est prior materies quam id quod ex ea fit […] Sed prior est origine, quia non cantus formatur, ut sonus sit, et sonus formatur, ut cantus sit.« (Confessiones, XII, 29, 40.) Scotus’ Deutung kann mithilfe folgender Analogie dargestellt werden: Wie sich die Materie zur Form verhält, so auch der Ton zum Gesang. Die gesondert existierende und gesondert erkennbare Materie (Ton im Beispiel) kann die Formen empfangen. Ausgehend von dieser Auffassung der Materie, kann nach Scotus die Materie nicht das Individuationsprinzip (ihrer selbst) ausmachen, die Form (Gesang im Beispiel) ist dagegen das Individuationsprinzip. Daraus entsteht die univoke Einheit der Form, die bewirkt, dass die erzeugende Ursa­ che mit dem Erzeugten univok ist. Die univoke Einheit der Form, die vom Intellekt erkannt werden kann, wird zudem nicht durch die Tätigkeit des Intellekts geformt. (Opus Ox., II, d.3, q.1, n.1–6.) 333 S.Th.I, q.3, a.2ad3: »formae quae sunt receptibiles in materia, individuantur per materia, quae non potest esse in alio, cum sit primum subiectum […].«

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Formen (z.B. die Form der Röte) von einem Wahrnehmungsorgan (Auge) durch ein Medium (Luft) wahrgenommen werden können, so kann auch der menschliche Intellekt (oder die Form) nicht Materie selbst, sondern die Form eines Gegenstandes (z.B. des Steins) aufneh­ men. Denn der zusammengesetzte Träger einer bestimmten Form kann immer etwas haben, das er selbst nicht ist; die Form selbst aber kann nichts anderes haben, als das sie selbst ist.334 (d) Diese Konzeption der Form gilt bei Thomas auch für die Klärung des Phänomens der Veränderungen. Zum Beispiel: Die Luft nimmt die Wärme auf materielle Weise auf; die Bewegung der Form ist die notwendige Ursache dafür, dass die Materie verändert wird.335 Die epistemischen Gesetze zwingen aber den Verstand dazu, dass die Formen vom Verstand ohne Materie aufgenommen werden. Diese Formen sind nicht in sich und durch sich bestehende Formen (per se subsistens), sondern solche, die zusammen mit der Materie existieren, welche im Akt der indirekten Erkenntnis von materiellen Bedingun­ gen abstrahiert werden. So können die materiellen Objekte durch sinnliche Repräsentanten geistig repräsentiert werden. Im analogen Erkennen, das sich auf Abstraktion, Assimilation und Repräsentation richtet, kommt vor allem diejenige Form zur Sprache, die durch die Materie bereits individuiert ist.336 Der Gegenstand, der auf geistige oder intentionale Weise aufgefasst wird, muss ein zusammengesetz­ ter, individueller sein, der den materiellen Modus (esse naturale) annimmt. Diese Ergebnisse lassen sich des Weiteren an die verschie­ denen Stufen der Materialität bzw. Immaterialität anbinden: Materie wird sowohl als sensibilis als auch intelligibilis aufgefasst;337 sie kann als Materie körperlicher oder geistiger Gegenstände untersucht wer­ den.338 334 S.Th.I, q.3, a.7: »Hoc autem etsi possit dici de habente forma, quod scilicet habeat aliquid.« 335 S.Th.I, q.84, a.2. // De Anima II, 11/12, 423b17–424a25. Es ist jedoch nicht möglich, so Thomas, Aristoteles folgend, dass etwas, das die Formen nur materiell aufnimmt (z.B. das Feuer), auch intellektuelle Erkenntnisfähigkeiten haben kann. 336 S.Th.I, q.75, a.5: »[…] materia enim est principium individuationis formarum.« 337 S.Th.I, q.85, a.1ad2. 338 S.Th.I, q.85, a.1ad2. Bezüglich dieser Frage kritisiert Thomas die Anhänger des jüdischen Neuplatonismus wie etwa Ibn Gabirol. Nach Ibn Gabirol gibt es eine materia universalis, die allen Substanzen zugrunde liegt. Zu dieser materia tritt die forma uni­ versalis hinzu, daraus entstehen immaterielle, separate Substanzen. Wenn Ibn Gabirol vom Kompositum der separaten Substanzen spricht, stellt er geistige Materie als Prin­ zip dar. Dadurch werden separate Substanzen im ontologischen Sinn von Gott unter­

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

(e) Obwohl Einzeldinge ihre qualitativen Artunterschiede von der Form erhalten, verwirft Thomas die Ansicht, dass die Form allein, also ohne die Materie, Anteil an der Art hat.339 Sein Argument bezieht sich auf die Definition der Artnatur der Naturdinge und besteht darin, dass die Definition nicht nur die Form, sondern Form und Materie umfasst. Gerade die nicht bezeichnete Materie (materia communis) ist als Teil der Art der Naturdinge (in rebus naturalibus) zu verstehen. Thomas erkennt mit Aristoteles,340 dass vom Verstand her gesehen die Artform eines Dinges (»Mensch«) nicht aus der allgemeinen Materie (Fleisch, Knochen), sondern aus der bezeichneten bzw. ver­ einzelten Materie (a materia sensibili individuali) abstrahiert werden kann. Dies bedeutet, dass die Materie im Formaspekt nicht beseitigt werden darf. (8) Dass die Analogie für die metaphysische und epistemische Problematik der hylemorphischen extramentalen Gegenstände und deren Konstituenten auch zur Lösung der Frage, ob in Gott compositio ex materia et forma gegeben ist, wesentlich beigetragen hat, zeigt sich in der Zusammenfassung der drei behandelten Fragen. In der Frage nach dem analogischen Dritten wurde festgestellt, dass Gott nicht als Analogon im Sinne des analogischen Dritten verstanden werden kann; in der Frage nach dem Ersterkannten ergibt sich nach Thomas, dass Gott kein Ersterkanntes der Erkenntnisordnung nach ist; in der Frage nach den Differenzen wurde, ausgehend von Thomas, eine spezifische Frageperspektive ausgearbeitet, nämlich die, dass zunächst zwischen Gott, der primo et per se forma und sua essentia et esse est, und der zusammengesetzten Substanz zu unterscheiden ist,341 danach kann in jedwedem Zusammengesetzten die Differenz schieden. Separate Substanzen als Spezies gehören zu einer bestimmten Gattung, d.h., sie bestehen aus Materie (Gattung) und Differenz (Form). Thomas’ Kritik betrifft auch das Verständnis der Analogie bei Ibn Gabirol, denn die Analogie in der Prädikation wird im Sinne einer Projektion vom mentalen Modus auf den objektiven Modus des Seins verstanden. Das versteht Thomas als platonischen Fehler. Bei ihm geht es dage­ gen um eine implizite Analogie. Solche Substanzen sind der Materie analog, so wie die intelligiblen Formen der Rezeptivität analog sind. Die geistigen Substanzen kön­ nen in ihrer Intelligibilität – so Thomas – weder die Materie enthalten noch aus Materie und Form zusammengesetzt sein. Zu dieser Frage siehe: Taylor R., St. Thomas and the Liber de Causis on the Hylomorphic Composition of separate Substances. MS 41 (1979), S. 506–513. 339 S.Th.I, q.75, a.4. 340 Met.Z8, 1033b15–26; Met.Z4, 1030a3–5. 341 S.Th.I, q.3, a.6; q.7, a.2; q.76, a.4.

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zwischen Natur und Naturträger, Wesen und Wesensträger (natura vel essentia et suppositum), Wesen und Sein bestimmt werden.342 An diese Fragen anknüpfend, muss nun nach Thomas die Bedeutung der Differenz von esse et essentia im Zusammengesetzten erörtert werden. (a) Da für die Signifikation des Zusammengesetzten verschie­ dene Begriffe eingesetzt werden können, bezieht Thomas, zur ter­ minologisch korrekten Fassung der Differenzen, die Deutung der menschlichen Natur oder des menschlichen Wesens durch die Allge­ meinbegriffe »homo«, »humanitas« und »animal« ein.343 Wenn man auf die zuvor erörterte Problematik zurückblickt und die erreichten Resultate zusammenfasst, dann ist die Wesenheit oder die Natur (essentia vel natura) das, was unter die Definition der Art fällt, das heißt, es kann aus der menschlichen Natur (humanitas) verstanden werden, was mit dem Wesensbegriff des Menschen (in definitione hominis) bereits gegeben ist, was also das aus der Seele (substantielle Form) und dem Körper (Materie) Zusammengesetzte zum Menschen macht oder, wie es bei Haldane ausgedrückt wird: »A particular material substance is so much matter organized by a substantial form that of humanity, for example.«344 Das aber, was den einzelnen Körper (materia individualis) zu diesem individuellen Körper macht, sind die körperlichen Eigenschaften. Es bleibt demnach zu fragen: Warum ist nun das, was den Körper zum Körper macht, nicht dasselbe wie das, was den Menschen zum Menschen macht? Eine mögliche Antwort auf diese Frage benötigt jedoch Klarheit über die Grundbegriffe, die hier verhandelt werden. Diese Klarheit werde ich im Folgenden zu schaffen versuchen: Der individuelle Körper gehört nicht zum Artbegriff des Menschen (non cadit in definitione speciei) und auch nicht zum Allgemeinbegriff humanitas. Diese Beschränkung erlaubt es einem aber nicht die Frage zu beantworten, worauf sich denn alle dem Körper zugehörigen Bestimmtheiten (accidentia), wie z.B. die Struktur von Knochen und Muskeln, beziehen – sind sie doch weder mit dem Artbegriff homo noch mit der menschlichen Natur humanitas zu begreifen. (b) Thomas gibt mehrere Ansatzpunkte für die weitere Klärung dieser Schwierigkeit. Dass die materia-forma-Differenz durch das S.Th.I, q.3, a.3. S.Th.I, q.3, a.3; q.85, a.1. 344 Haldane J. J., Aquinas on sense-perception. The Philosophical Review XCII, 2 (April, 1983), S. 235. 342

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

Heranziehen der Analogie und ihre Vermittlung mit dem Sein und Wesen bei Thomas erläutert wird, halte ich für besonders wichtig. Denn wie ich bereits zuvor schilderte, wird bei der Begriffsbildung nicht die Materie, sondern lediglich die Form per speciem bezeichnet, die die Art eines zusammengesetzten Gegenstandes konstituiert.345 In dem Verhältnis zwischen dem Artbegriff des Menschen (homo), der aus der vereinzelten (oder bezeichneten) Materie abstrahiert ist, und dem Begriff humanitas bezieht sich der letztgenannte, als formaler, bestimmender Teil des Begriffs, auf das Wesen. Dies spielt jedoch keine Rolle für die Bestimmung des menschlichen Körpers. Denn es gehört zu jeder geschaffenen Entität (oder Substanz), die eine Kom­ position aus materia et forma und esse et essentia aufweist, dass der Körper nicht zum Wesen, sondern zum Sein des Menschen gehört.346 So kommt man über die Betrachtung der Differenz zwischen dem Sein und dem Wesen auch auf die Bestimmung des Körpers. Auch das zweite Merkmal dieser Frageperspektive: die esseessentia-Differenz im Zusammengesetzten ist bei Thomas ontolo­ gisch und epistemisch notwendig. Im Unterschied zu Gott, der sein Wesen und sein Sein ist, findet man in zusammengesetzten Einzeldin­ gen nicht nur ein von seinem Sein unterschiedenes Wesen, sondern noch etwas, was sich aus Wesensgründen (wie z.B. alle propria acci­ dentia consequentia speciem, z.B. Lachen-Können bei Art homo) oder einer externen Ursache herleiten lässt.347 Hier könnte man wieder fragen: Wie steht es aber um das Sein? Nimmt man an, dass das Sein des Menschen aus den Wesensgründen hergeleitet ist, würde das implizieren, dass der Mensch und jedes Ding die Ursache des je eigenen Seins wären. Dies ist indes unmöglich. Denn das Sein der Einzeldinge hat unbedingt ein abgeleitetes (analoges) Sein. Dadurch kommt man auch bei der Differenz-Frage zu dem entscheidenden Unterschied zwischen dem, der sein Sein ist, und dem, der nicht selbst das Sein ist, sondern das Sein nur durch Partizipation erlangen kann.348 Jedes Ding hat am Sein teil und daher ein quiditatives Sein auf analoge Weise. Aus dem thomanischen Seinsverständnis

345 S.Th.I, q.85, a.1ad2; q.5, a.5: »Ipsa autem forma significatur per speciem: quia per forma unumquodque in specie constituitur.« 346 S.ThI, q.3, a.3. 347 S.Th.I, q.3, a.4. 348 S.Th.I, q.44, a.1.

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ist das partizipierte Sein nichts anderes als »actualitas omnis formae vel naturae«.349 Thomas Konzeption der hylemorphischen Differenz im Bereich des Seienden ermöglicht es, zwischen dem Sein als Grund für die wei­ teren differenzierenden Bestimmungen, dem Sein als Verwirklichung jeder Form und den Wesensprinzipien einer bestimmten Seinsart zu unterscheiden. Wenn aber die ontologischen oder logisch-epistemi­ schen Differenzen außer Acht gelassen werden, müsse man sich mit dem Ergebnis zufriedengeben, dass ein Mensch und ein Esel nicht nur im universellen Sinne, d.h. im modus intelligendi im Begriff animal als gleiche aufzufassen sind, sondern auch im ontologischen Sinne: als ob beide dasselbe Sein hätten. Die Gattung steht für den (logischen) Ausdruck des Wesens, nicht aber für das Sein eines Dinges. (9) Die Frage nach den epistemisch-ontologischen Veränderun­ gen, wenn der Verstand und die Sinne sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen,350 wurde bereits von Platon und Aristoteles behan­ delt und bildet für Thomas eine fruchtbare Quelle seiner Erkennt­ nistheorie. Die Grundfrage, ob sowohl Materie als auch Verstand denselben natürlichen und geistigen Veränderungen unterworfen sind, die Thomas bejaht, hätte Platon negiert. Nach Platon kann das Unkörperliche nicht von dem Körperlichen verändert werden und ist folglich weder der Sinn (sensus) noch der Verstand einer Veränderung a sensibilibus unterworfen.351 Thomas vertritt eine gegenteilige Ansicht. Er unterscheidet erst, wie ich bereits zeigte, zwischen den beiden Trägern (Materie und Verstand) und Verände­ rungsweisen und denkt hier vielmehr an den Verstand (Träger des Wissens), der auf seinem Erkenntnisweg verändert wird. Dennoch, auch bei diesem Verfahren drängen sich weitere Fragen auf. Das Veränderungsproblem sollte entweder zu einem Perspektivwechsel auf separate Substanzen überführt werden oder in einer Differenzie­ rung des Verstandesvermögens münden. Die erste Möglichkeit ist von der platonischen Philosophie vorgegeben und besteht in der Annahme, dass das Wissen von getrennten Substanzen in unsere S.Th.I, q.3, a.4. De Anima III, 428a13–30; 429a14–17. // Platon, Pol., 509d–511c; 534a6. / Timaios, 29c. Gerade dort, wo die Form des Erkannten nach Platons Auffassung im Verstand universell und immateriell und im erkannten Ding auf gleiche Weise besteht, findet Thomas den Ort für den Beweisgang seiner eigenen, auf die Analogie aufbauenden Erkenntnistheorie. 351 S.Th.I, q.84, a.6. 349

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2.6 Zwischenergebnisse und Ausblick

Seelen hineinfließt. Das bedeutet auch, dass die Erkenntnis ihren Ausgang nicht von der sinnlichen Wahrnehmung nimmt und sich der Verstand keines körperlichen Organs bedient. Diese Position vor Augen schlägt Thomas selbst die philosophisch entgegengesetzte Richtung ein. Da er die Möglichkeit einer separaten Substanz ablehnt, diskutiert er die Frage um die Veränderungen im Verstand, in dem dasselbe Erkenntnisobjekt im ganzen Erkenntnisverfahren vorhan­ den sein und die Prinzipien vorausgesetzt werden sollten, die sich unterschiedlich zum intellectus agens und possibilis verhalten. Die Veränderungen betreffen bei ihm zunächst das Wahrnehmungsorgan und erst dann den Verstand, da sich das Aufgenommene nach dem Aufnehmenden richtet.352 Darüber entbrannte schließlich der Streit zwischen Realisten und Nominalisten.353 Eine Position Thomas’ lau­ tet wie folgt: Auf bestimmte Prinzipien muss geachtet werden, da diese den Erkenntnisgegenstand in actu versetzen. Worauf beruhen nun diese Prinzipien? Da sie intrinsisch durch die Akt-Potenz Diffe­ renz bedingt sind, wie es Thomas’ Position suggeriert, können zwei Formeln geschlussfolgert werden, die diese Prinzipien explizieren:354 Da die Forderung, einen Gegenstand zu erkennen, in esse in actu liegt, hat sich (1) das passive Vermögen zu seinem Gegenstand wie ens in potentia zu dem ens in actu zu verhalten; (2) das tätige Vermögen verhält sich zu seinem Gegenstand wie ens in actu zu dem ens in potentia. Beide Formeln verdeutlichen noch einmal die bereits eingeführte Assimilationsthese, die besagt, dass sich das Aufgenommene nach dem Aufnehmenden auf die Weise richtet, dass sich das Erkenntnis­ vermögen seinem Erkenntnisobjekt mithilfe der species angleicht, sodass letztlich beide in einer Form übereinstimmen, d.h. zueinander S.Th.I,q.75, a.5; q.84, a.7; q.85, a.1. S.Th.I, q.84, a.6. / De Anima III, 3, 428b1–10. // Wilhelm von Ockham, OThI, Sent.I, Prol. (Ordinatio), q.1, 6–25, S. 30–31; 1–25, S. 32; 1–12, S. 33. // Für Nomi­ nalisten (bspw. Ockham) unterscheidet sich das Objekt des Verstandes von demjeni­ gen der Sinne nicht. Um actus handelt es sich nicht im Sinne des (Bezugs auf den) Erkenntnisgegenstandes, sondern im Sinne des Zustands des Intellekts (actus intelli­ gendi). Dasselbe Objekt wird auf zwei Weisen der Erkenntnis (abstraktiven und intui­ tiven) erkannt. Ockham hat also eine völlig andere Sichtweise auf den Erkenntnisge­ genstand und den Intellekt in der Erkenntnis, die den Übergang des Verstandes über Phantasmata auf die Abstraktion der species intelligibiles gar nicht aufkommen lässt. Vgl. auch Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 212 ff. 354 S.Th.I, q.79, a.7. 352

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analog werden.355 Daran knüpft auch die Veränderungsthese an. Dass der Verstand in diesem Prozess in der Potenz ad species intelligibiles liegt, bedeutet, dass er über die Phantasmata zur Abstraktionstätigkeit der intelligiblen bzw. essentiellen Formen notwendig a materia schrei­ tet: Damit geht er vom Nichtwissen zum Wissen über.356 Thomas schließt sich also dem Verständnis der Form nach Aris­ toteles an, nach welchem die Form immer als Form die Wirklichkeit (actus) ist.357 Das besagt, dass die selbstständige Form das Sein nicht durch einen formalen Grund innehat, sondern selbst das agens ist, sodass ein aus Form und Materie zusammengesetzter Träger nur als einer verstanden werden kann, der dann potentiell ist und aktuell wird. Von der daraus folgenden These – die Form ist eine Seinsursache der Materie und eine zur Wirklichkeit überführende Kraft – kann man auf die ersten Ursachen oder auf die letzten Gründe schließen. In die­ sem Sinne treten die Proportions- und Proportionalitätsanalogie auf, da sie die einheitlichen innerlichen Strukturen (modi der Proportion) und das äußerliche Gesamtsystem (Proportionalität) erst begreifen lassen. Damit rückt der thomanisch externalistische bzw. realistische Erkenntnisbegriff näher in das Blickfeld. Diese Ergebnisse folgen aus einer realistischen Erkenntnistheorie, die den singulären Entitäten die Priorität im Erkennen zuspricht. Noch konnte ich in meiner Erörterung nicht zu einer befriedi­ genden Bestimmung der Analogie im Sinne des Thomas von Aquin gelangen. Daher blieben bisher Fragen unerörtert, wie etwa die Frage nach dem Zugriff auf die Strukturen der Wirklichkeit, die Thomas über den Analogiebegriff zu vergegenwärtigen versucht. In den fol­ 355 S.Th.I, q.85, a.1: »[…] objectum cognoscibile proportionatur virtuti cognosciti­ vae.« 356 Diese überlieferte Problematik der sensiblen Formen, die im Kontext der Dis­ tinktion zwischen der natürlichen und der geistigen Rezeption von den Scholastikern diskutiert wurde, wird in der gegenwärtigen Philosophie weitläufig erörtert. Zu den Diskussionen, die meiner Meinung nach den scholastischen Fragen und Lösungen nahe stehen, ist etwa die Diskussion zwischen Hamlyn und Cohen zu nennen. Nach Hamlyns Interpretation resultiert die geistige bzw. intentionale Rezeption der sensi­ blen Formen in der mentalen Imago. Eine derartige Meinung wird von Cohen kriti­ siert, der – ganz umgekehrt – diese Rezeption in einer physikalischen Ähnlichkeit sieht. Zur Diskussion siehe: Hamlyn D. W., Sensation and Reception. London: Rout­ ledge & Kegan, 1961, S. 46–51. // Cohen S. M., St. Thomas Aquinas on the Imma­ terial Reception of Sensible Forms. The Philosophical Review XCI, 2 (April 1982), S. 193–209. 357 S.Th.I, q.75, a.5; a.5ad3. / De Verit., q.10, a.4. // Met.Z8, 1033b4–7.

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

genden Abschnitten soll daher der thomanische Analogiebegriff im Mittelpunkt der Analyse stehen, während das Problem von den Ver­ hältnissen von Einheit-Vielheit und Teil-Ganzes als Strukturproblem behandelt wird.

2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation Gibt es eine einheitliche Wirklichkeitsstruktur, ist eine tiefere Ein­ sicht in diese Struktur aus der Perspektive der Einheits-Vielheitsund Teil-Ganzes-Relation gefragt. Wenn es diesen alles umfassenden Zusammenhang der Wirklichkeitsstruktur gibt, gibt es auch den Sinn der Frage nach der Einheit und folglich »auch das Ganze oder die Totalität oder die Welt«. Zweifel an dieser Auffassung formuliert der Gegenwartsphilosoph Marcus Gabriel: Er postuliert, dass es lediglich »Sinnfelder« gebe, also einen Zusammenhang, in dem etwas bzw. alles gleichzeitig existiert.358 Wird damit eine neue Dimension der Frage nach der Einheit und den Gründen dieser Einheit eröffnet oder lediglich die traditionelle Bezeichnung für die Einheit verworfen? Oder wird gar der Versuch unternommen, Begriffe wie Substanz, Eine, Form und Einheit als äußerst komplizierte Konzepte, denen es noch dazu an Leistungsfähigkeit mangelt, für überholt zu erklären und verschwinden zu lassen? Das und weshalb Thomas’ Auffassung mit derartigen Ansichten nicht vereinbar ist, hat seinen Grund in der Philosophiegeschichte, den ich in den nächsten Abschnitten erläu­ tern werde. Auf die Frage nach der Bestimmung von Einheit und Viel­ heit können im Großen und Ganzen alle (auch in den vorherigen Abschnitten erörterte) Analogie-Fragen zurückgeführt werden. Es ist jedoch nicht möglich die Problematik des Verhältnisses von Ein­ heit-Vielheit, ohne eine Einführung weiterer Begriffe und ohne die Zerlegung der genannten Problematik in konkretere Fragen zu behan­ deln. Daher soll es in diesem Abschnitt um die Schlüsselbegriffe: das Eine, das Erste, die Einheit, der Teil, das Ganze und die Vielheit sowie um deren Gehalt gehen. Die Fragen, die im Zusammenhang mit dieser Problematik entstehen, sind folgende: Kann die Vielheit 358 Vgl. Gabriel M., Die Endlichkeit der Gründe und die Unvollständigkeit der Tat­ sachen, S. 705 ff.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

erst durch die Einheit bestimmt werden oder umgekehrt? In welchen Fällen kann man von einer Disjunktion der Vielheit und des Einen und in welchen von deren Konjunktion sprechen? Wie kann man zum Wissen gelangen, wenn man als Erkenntnisgegenstand die Substanz oder Akzidenzien, ein einheitliches Eines oder die Vielheit, die Zahl (2.8), ein Ganzes oder einen Teil des Ganzen (2.9) hat? Kann ein solches Wissen zum Wissen von der Einheit Gottes, deren Sein »sein Erkennen ist«,359 gelangen? Handelt es sich bei der Frage nach der absoluten Einheit um die Einheit, die Vielheit einschließt, oder um die Einheit, die die Vielheit ausschließt?360 Hinter all diesen Fragen steht die Analogie. Denn erstens stellt sich die Frage nach der Erkenntnis des Einzelnen in seiner Einheitlichkeit und zugleich nach dessen Verhältnis zur Vielheit, der Teile zum Ganzen; und zweitens nach der Erkenntnisweise, die von der detaillierten Begriffanalyse bis zu den umfassenden Strukturen der Wirklichkeit reicht. Entscheidend an dieser Stelle ist, auf die epistemischen Prioritä­ ten in der Erkenntnis hinzuweisen. Der vorherigen Analyse gemäß soll sich die Erkenntnis darauf gründen, dass der Intellekt seinen Ausgang über die sinnliche Wahrnehmung eines extramentalen Einzeldinges nimmt und das Vermögen für das Abstrahieren des Allgemeinen a materia einsetzt, sodass die Quiditas als das eigentliche Erkenntnisobjekt und folglich als das Wahre selbst im Intellekt erfasst wird. Es ergeben sich damit aber neue Schwierigkeiten, die sich aus der Thematisierung der Relation von Vielheit und Einheit aufdrängen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit hängt mit der Unfähigkeit des Intellekts zusammen, die vielfältigen Gegenstände zugleich durch verschiedene Erkenntnisbilder zu erkennen (non possumus simul multa intelligere).361 Im angegebenen Schritt bringt Thomas neben dem Erkenntnisakt, in dem der Intellekt durch ein Erkenntnisbild nur eines erkennt, einen weiteren Erkenntnisakt ins Spiel, in wel­ chem nur ein einziges Erkenntnisbild (una species) hinreichend sein soll, um eine Vielheit (multa) von Dingen gleichzeitig erkennen

359 C.G.I, 50: »Deus autem causa est rerum per intellectum: cum suum esse sit suum intelligere […].« 360 Für die scholastische Auffassung der Vielheitsphänomene siehe Schönberger R., Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Seinsbegriffs im Mittelalter. Berlin; New York: De Gruyter, 1986, S. 83 ff. 361 S.Th.I, q.12, a.10.

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

zu können.362 Darüber, was una species ist, das der Intellekt für die Erkenntnis der Gegenstände verwendet, besteht – philosophie­ geschichtlich betrachtet – sowohl vor als auch nach Thomas keine Einigkeit. Wie sich noch zeigen wird, versteht Thomas unter »una species« das Allgemeine, eine Einheit oder ein Ganzes. Una species kann als Erkenntnisinstrument auf mehrere Weisen angewendet werden. Wenn der Intellekt durch die logischen Allgemeinbegriffe (animal, homo) erkennt, erkennt er Einheit und Allgemeinheit, die für alle Lebewesen (Mensch und Esel) und alle Menschen (Platon und Sokrates) oder für den Mensch als animal et rationale ausreichend ist, um »vieles gleichzeitig« zu erfassen.363 Wenn man eine materielle Gegebenheit etwa durch den Begriff Wasser erkennt, bedeutet das, dass alle Teile eines (gleichartigen) Ganzen durch eine (Wesens)Form zugleich erfasst werden.364 Wir können aber auch Erkenntnisbilder von jeweiligen einzelnen Teilen eines ungleichartigen Ganzen, eines konkreten Einzelnen, etwa dieses Menschen, generieren. In diesem Fall erkennen wir ein untrennbares bzw. einheitliches Seiendes. Bestimmt man Aristoteles folgend mit dem Begriff des Seienden das An-sichSein als Ousia und fragt dann mit Thomas nach den Äquivalenten von Ousia, ergibt sich, dass das Seiende ein weiterer Begriff ist, der weder mit dem des Intellekts noch mit dem des Erkenntnisbildes schon gegeben ist. Damit kann ein tiefergehendes Verständnis davon gewonnen werden, was Thomas mit dem Hinweis auf die unterschied­ lichen Bedeutungen des Begriffs des Seienden erreichen will. Unter dem Seienden ist nicht nur schlechthin Seiendes zu verstehen, das das Sein auf vollkommene Weise hat, sondern auch andere Arten des Seienden, z.B. das Seiende, in welchem der Mangel (privatio) eines Seins begründet liegt.365 In beiden Fällen handelt es sich aber um Seiendes. Wie und was lässt diese Arten unter eine una species fallen? Es ist die Einheits-Vielheits-Frage, die sich hier aufdrängt.

S.Th.I, q.12, a.10: »Unde contingit quod, quando aliqua multa una specie intelligi possunt, simul intelliguntur […].« q.12, a.10ad1: »Sed multa una specie intellecta simul intelligitur […].« 363 Das im Einzelnen subsistierende Allgemeine, zu dem man durch die Wahrneh­ mung des zusammengesetzten Einzelnen und durch die Abstraktion gelangt, ist das eigentliche Erkenntnisobjekt des Verstandes. Daher kann sicheres Wissen nur vom Allgemeinen erlangt werden. Vgl. 2.2. 364 S.Th.I, q.11, a.2ad2. 365 S.Th.I, q.11, a.2ad1. 362

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Die Antwort darauf ist dann auch bei weitem nicht so einfach, wie dies für die einzelnen Fälle auf den ersten Blick erscheinen mag. Daher muss noch einen Schritt zu Aristoteles zurück gegangen werden, nämlich auf das kurz angedeutete Problem der Konvertibilität, das auch bei Thomas thematisiert wird. In einem Erkenntnisakt, in dem mehrere Vorgänge vollzogen werden, trifft man die Konvertibilität dann, wenn im Erkennen etwas, das für das Seiende, »auch für das Eine« gilt.366 Die Konvertibilität ist mit einer der Hauptregeln der Erkenntnis verknüpft, die besagt, dass bei der Erkenntnis der vielen Dinge erst eine jede res »in sich eines ist«,367 und – wie dies Dionysius Areopagita formulierte – »non est multitudo non participans uno«.368 In den Vordergrund rückt also das Eine (oder das Seiende) und zwar nicht nur als akzidentelle Bestimmung, sondern auch der Begriffsmetaphysik gemäß – transkategorial und intensional – als begriffliche, transzendentale Bestimmung (non quidem naturam aliquam, sed rationem).369 Die transzendentale Bestimmung ist der wichtigste Aspekt in Bezug auf die Ungeteiltheit des Wesens des Seienden als solchem, und sagt transkategorial und koextensional, dass es ein unum ist, »quod convertitur cum ente«.370 Für eine realistische Epistemologie, in der die Erkenntnis mit sinnlicher Wahrnehmung anfängt und in Richtung Abstraktion vor­ anschreitet, ist die Bestimmung des Einheitsprinzips, wie ich es auch bei der Frage nach dem hylemorphischen Kompositum und der Assimilation gezeigt habe, zentral.371 Über diese Einheit, die das Zusammensein der verschiedenen Relata impliziert, welche das Sein nicht im gleichen Sinne, nämlich nicht in den gleichen Propor­ S.Th.I, q.11, a.2ad1. S.Th.I, q.11, a.1ad2. 368 S.Th.I, q.11, a.1ad2. / Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, I, § 6, 119; II, § 11, 20–30c. 369 S.Th.I, q.11, a.1ad3. / In Sent.I, d.8, q.1, a.3. / De Pot., q.9, a.7ad13. / De Verit., q.21, a.1. 370 In Sent.I, d.8, q.1, a.3. / S.Th.I, q.11, a.1ad1. Zur Frage: Schulthess P., Sein, Signi­ fikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 149–156. // Wolenski J., Two Theories of Transcendentals. Axiomathes 1–3 (1977), S. 367–380. // Aertsen J. A., Medieval Philosophy and the Transcendentals, S. 84–88. 371 S.Th.I, q.85, a.1; q.86, a.2. Den erkenntnistheoretische Vorgang, in welchem der Intellekt im mehrstufigen Assimilations-Prozess imstande ist, das Allgemeine durch Abstraktion vom Partikulären herauszulösen, thematisierte ich bereits in Teil 2.1 und 2.2 dieser Arbeit. Analogie habe ich in dem Zusammenhang erörtert, als sie sich als Implikat der indirekten Erkenntnis des einheitlichen bzw. zusammengesetzten Einzelnen erwies. 366 367

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

tionen (bei Finitem und bei Infinitem) haben, gab es seit der Antike Diskussionen. Dementsprechend wurden sowohl für den Begriff der Einheit als auch für den Begriff der Vielheit kontextuell verschiedene Zugänge entwickelt. Eine Interpretationsmöglichkeit dieser Zugänge gibt Thomas, wenn er die Begriffe der Einheit und Vielheit in seinem Boethiuskom­ mentar diskutiert. 372 Bevor Thomas nach der Einheit fragt, vollzieht er grundlegende Überlegungen über die Vielheit. Durch die Begriffe Andersheit (alteritas) und Verschiedenheit (diversitas), Negation und Affirmation bietet es sich an, die Grundlage der Vielheit in der Verschiedenheit des Ersten (das erste Geteilte, das Frühere), also nicht in der Teilung der Zusammengesetzten (das Spätere) zu suchen. Aus diesem Grund soll die Deutung der Teilung oder der Vielheit, die in der Einheit zusammengefügt wird, immer auf die Frage nach dem Ersten und Einfachen zurückgeführt werden. Die im allgemeinen Sinn aufgefasste Relation zwischen Einheit und Vielheit ist bei Thomas immer zu spezifizieren, nämlich als Relation zwischen dem Einem bzw. dem Ersten und den Vielen oder zwischen den Teilen und dem (gleichartigen und ungleichartigen) Ganzen, zwischen den Einzelnen und dem Allgemeinen, oder auch zwischen der Substanz und den Akzidenzien.373 Diese ontologischen und in logischen Begriffen erfassten (epistemischen) Relationen ermöglichen es, die zu untersuchende Problematik zu konkretisieren. Da die Analyse der Vielheit und Einheit weder allein eine Rela­ tion oder einen Kontext noch lediglich einen Bereich betrifft, ist sie ein kompliziertes und gewagtes Unternehmen. Gemeinsam mit Thomas gehe ich auf die Erörterung dieser, mit der Analogie eng verbundenen, Problematik ein, die für Thomas von entscheidender Bedeutung gewesen ist und wesentlich auf Aristoteles zurückgeht. Expositio super librum Boethii De trinitate. Ed. P. M. Gils. Torino, Roma, 1992. / Kommentar zum Trinitätstraktat des Boethius. Lat.-dt. Übers. und eingeleitet von P. Hoffmann in Verbindung mit H. Schrödter. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2006, IV. Die Deutung der Vielheit der Seienden will Thomas nicht nur durch den Boethiuskom­ mentar erschließen, vielmehr bringt er auch seine eigene Interpretation aus dem Text des Boethius hervor. 373 Die Untersuchungen einer jeden dieser Relationen hatte schon vor Thomas eine beachtenswerte Geschichte. Siehe z.B. Platon, Philebos, 14c–20a, 15a–16b. // Aris­ toteles, Physik, Ζ1, 231a21–231b18; Met.Ι1, 1052a34–1052b20; Met.Ι2; Met.Ι3, 1054a20–23 u.a. // Avicenna, Met.Ι, p.1, tract.7, cap.5; p.3, tract.3, cap.1, 2. // Zum Problem siehe McCabe M. M., Plato’s Individuals. Princeton: Princeton Univ. Press, 1994, Kap.1–3. // Schönberger R., Relation als Vergleich, S. 30–43, 63–77. 372

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

2.7.1 Die Ousia und analoge Einheit Die aristotelische Theorie der Ousia als des Ersten und Einen, als Grundlage für die einheitliche Struktur des kategorialen Seienden,374 gehört zu den Grundkonstanten der aristotelischen Philosophie. Die scholastischen Diskussionen drehen sich um die transkategorialen und kategorialen Bestimmungen des Seienden und um die Frage, ob Ousia als ein von der Vielfältigkeit von Einzeldingen getrenntes Allgemeines angesehen werden kann.375 Ich gehe von einer epistemisch-ontologischen Sachlage aus, die Thomas mit Aristoteles bei der Bestimmung des einheitlichen Ganzen im Verschiedenartigen erörtert: Man muss nach Thomas erstens zwischen dem transzendentalen Einen (unteilbares Seiendes) und der Vielheit an sich376 und zweitens zwischen dem kategorialen Einen und der Vielheit unterscheiden. Der aristotelischen Auffassung von der Einheitsfrage, deren Angelpunkt die Ousia ist, können prinzipi­ elle Grundlagen der analogischen Struktur des Seins entnommen werden. Vor diesem Hintergrund sind auch die Begriffe des Einen und des Seienden bei Thomas zu fassen. Für die Beschreibung der analogen Struktur des Seins verwendet Thomas einen komplexen Begriffskatalog, darunter Begriffe wie Ungeteiltheit bzw. Unteilbar­ keit und Transkategorialität des Einen. Diese Begriffe dienen dazu, die erste Kategorie des Aristoteles, die Substanz (prote ousia), die in ihrer ersten Bedeutung als das Zugrundeliegende für alle anderen zusammengesetzten Seienden auftritt, zu erfassen.377 Die Begriffe Met.Z1, 1028a32–33. Met.I2, 1053b9–24; 1053b16–21. / Cat. 5, 2a11–19; 2b29–3a15. 376 S.Th.I, q.11, a.1; a.2; a.3. 377 Met.Z17, 1041a6–22; 1041b6–9; 1041b26–33. Die ersten lateinischen Überset­ zungen der ousia als substantia sind bei Marius Victorinus, Augustinus und Boethius zu finden, die nach dem Konzil von Nicäa (325) das Verständnis der eigentlichen Bedeutung des Substanzbegriffs diskutierten. Vgl. Stead Ch., Divine Substance. Oxford: Clarendon Press, 1977, S. 131–157. // Ostheim M. R. von, Ousia und Sub­ stantia. Untersuchungen zum Substanzbegriff bei den vornizäischen Kirchenvätern. Basel: Schwabe, 2008, S. 189–257. Es gibt heutzutage eine Vielzahl von Vorschlägen, wie die Ousia des Aristoteles richtig zu übersetzen bzw. zu verstehen ist. Die Über­ setzung der Ousia mit Substanz trifft man z.B. bei Frede und Patzig. Diese Übersetzung wird etwa von Sonderegger kritisiert. Dieser versucht, zwischen dem, was als das Erste und das Eine, nämlich, das Zugrundeliegende in allen Seienden ist (bzw. Ousia), und dem Einzelding eines bestimmten Seinsbereichs, das nicht als das Erste zu fassen ist (bzw. Substanz), zu differenzieren. Er verwirft die Lesart, die Ousia des Aristoteles als 374

375

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

der Ungeteiltheit und Unteilbarkeit nutzt Thomas zur genauen Unter­ scheidung von dem transzendentalen Einen und der aristotelischen Ousia sowie von dem prädikamentalen und transzendentalen Einen und Seienden ein.378 Schließlich setzt eine derartige ontologische Unterscheidung nach Thomas jedwede Erkenntnis voraus. Die Notwendigkeit eines ungeteilten und unteilbaren transka­ tegorialen Einen bzw. Seienden einerseits und eines real Seienden (des real Existierenden und des nicht Nicht-Existierenden) in seiner Einheitlichkeit andererseits, von dem die Erkenntnis ihren Anfang bei Aristoteles nimmt,379 wird eines der Axiome für Thomas’ Beschäf­ tigung mit der Problematik der Transzendentalität des Einen und Seienden. Die Untersuchung der Frage, ob die Ursachen (aitiai) und die Prinzipien (archai) der Einheit der wahrnehmbaren extra­ mentalen Einzeldinge und der analogischen Struktur des Seins in der Ousia (das Erste dessen, was überhaupt ist) selbst zu suchen sind,380 wurde von Aristoteles mit einer klaren Formulierung des Problems und dessen Lösung ergänzt, dass die Ousia des Einzelnen und das Einzelne selbst nicht getrennt werden dürfen.381 An der von Thomas gestellten Frage nach der Differenz zwischen dem Wesen und dem Wesensträger, dem Wesen und dem Sein sowie nach dem Verhältnis vom (transzendentalen) Einen und der Vielheit, aber auch anhand seiner darauffolgenden Antworten, wird die Auffassung des Aristoteles klar erkennbar. Aristoteles’ Versuch zu erklären, wie alle kategorialen Seienden in Bezug auf das Eine hin eine einheitliche Substanz zu übersetzen. Vgl. Frede M./Patzig G., Aristoteles »Metaphysik Z«, I, S. 11 ff. // Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 283 ff., 500 ff. 378 Im Rahmen anhaltender Diskussionen um das aristotelische Verständnis der Frage, ob das Eine und das Seiende als (separate) Substanzen aufzufassen sind, und, ob Aristoteles unter der »ersten Substanz« in allen seinen Werken dasselbe meinte, sind manche Philosophen zu der Ansicht gelangt, dass der Substanzbegriff der Kate­ gorienschrift und der der Metaphysik weder sachlich noch terminologisch miteinander vereinbar sind. Ich schließe mich den Einwänden gegen diese Ansicht an, die etwa von Rainer Thiel und Horst Seidl erhoben wurden. Nach Thiel ist unter der »ersten Sub­ stanz« in der Kategorienschrift und der »Substanz« oder »Form« (»Formursache bzw. Wesenheit« bei Seidl) in der Metaphysik dieselbe Substanz (Ousia) gemeint. Vgl. Thiel R., Aristoteles’ Kategorienschrift in ihrer antiken Kommentierung. Tübingen: Siebeck, 2004, S. 58–66. // Seidl H., Beiträge zu Aristoteles’ Erkenntnislehre und Metaphysik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1984, S. 11. // Aertsen J. A., Medieval Phi­ losophy and the Transcendentals, S. 210–212. 379 Met.Z7, 1037b1–31; Met.I1–2, 1053b10–24. 380 Met.I1, 1052a33 ff.; L1, 1069a18. 381 Met.Z6, 1032a5–6.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Struktur bilden, hat für Thomas die ontologische, erkenntnistheore­ tische und sprachlogische Möglichkeit eröffnet, analoge Einheit (oder Analogie des Seienden) zu konzeptualisieren. Ebenso das semanti­ sche Problem der Mehrdeutigkeit bezüglich des Was-Seins bzw. Essenz bei Aristoteles, das auf verschiedene Weise den bestehenden kategorialen Seienden zukommt, spielte eine erstrangige Rolle für Thomas’ semantische und prädikationslogische Untersuchungen. Das Verfahren zur Bündelung der Vielfältigkeit des kategorialen Seienden hat Aristoteles durch die Untersuchung der ersten Kategorie (Ousia) zur pros-hen-Struktur – als eine auf Analogie gegründete Struktur – abgeschlossen. Das Wesentliche, das Thomas aus der aristotelischen Auffassung von Ousia und der pros-hen-Struktur übernimmt und weiterentwickelt, ist die analoge Struktur des Seins, die es ermöglicht (semantisch gesehen) vielfältige Bedeutungen des Seienden in Bezug auf Eines auszusagen.

2.7.2. Transzendentales Seiende, das Eine und Konvertibilitätsthese In Bezug auf das zentrale Argument der Transzendentalientheorie, nämlich der aristotelischen Konvertibilitätsthese »unum convertitur cum ente«,382 die auf die Identität der Transzendentalien, aber auch auf Met.Γ2, 1003b22–23. Das Argument der Konvertibillität geht auf die Ansicht von Aristoteles zurück, dass jedes Seiende Eines und jedes Eine Seiendes ist. Diese Ansicht wird im Mittelalter als Transzendentalientheorie ausgearbeitet und vielfach diskutiert. Die Diskussion um die Konvertibilitätsthese ist auch heutzutage nicht abgeschlossen. Jan Wolenski spricht von neuen Interpretationsmöglichkeiten des transzendentalen Seienden, das durch transzendentale konvertible Eigenschaften (proprietates) ausge­ drückt wird. Außerdem werden die transzendentalen, analogischen Eigenschaften, wie dies bei Wais der Fall ist, von Dingen prädiziert. Nach Wolenski ist, streng genommen, nicht von denotierten Eigenschaften des Seins auf die transzendentale Natur des Sei­ enden zu schließen, sonst wäre das Seiende in Gattungen bereits eingeschlossen. Nach Wolenski – und diese Sicht lässt sich auch auf Thomas beziehen – werden die Tran­ szendentalien von Gegenständen prädiziert; sie sind aber keine Gattungen und fügen den Eigenschaften oder der Essenz nichts hinzu. Der Vorschlag von Wolenski ist die Präzisierung der Konvertibilitätsthese etwa ens et bonum convertuntur durch die For­ mel: »for any x, x is a being if and only if x is good« (S. 370). Vgl. Wolenski J, Two Theories of Transcendentals, S. 367–380. // Wais K., Ontologia czyli metafizyka ogólna. [Ontology or General Metaphysics]. Lwów: Biblioteka Religijna, 1976, S. 77– 79. // Aertsen J. A., Medieval Philosophy and the Transcendentals, S. 201–210, 237– 241, 262–269. 382

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

ihre Differenz schließen lässt, werden von Scholastikern grundsätz­ lich zwei Bedeutungen von trascendentalia entwickelt: Die eine, die für das hier vorgestellte Thema von unmittelbarer Relevanz ist, hängt mit dem analogischen Seinsverständnis des Thomas zusammen; die andere Bedeutung geht auf die metaphysisch verstandene Univozität des Seienden zurück und hängt mit dem Sein und der Disjunktivität der Transzendentalien (Scotus) zusammen.383 Versucht man zu klären, was genau die Konvertibilität bedeu­ tet, gilt es einige Unterscheidungen einzuführen. Die erste übliche Unterscheidung ist die zwischen dem Seienden und dem (ungeteil­ ten und unteilbaren) Einen. Es wird aber bald klar, dass die Kon­ vertibilitätsthese etwas komplizierteres besagt, wenn man sie nicht durch ein allgemeines Interesse geleitet beachtet, sondern etwa mit der Additionsfrage oder mit der Frage nach der Bestimmung und Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Modi des Seienden zusammenführt. Die Fragen nach der Addition und Unterscheidung zwischen dem Einen und dem Seienden finden sich in Thomas’ Frühwerk De ente et essentia, im Boethiuskommentar sowie in dem Metaphysikommen­ tar und in der Summa Theologiae. Die Additionsfrage, die Thomas diskutiert: ob und was dem Seienden durch das Eine hinzugefügt wird, bereitet gewisse Probleme. Denn was hinter dieser Hinzufügung für das Seiende in ontologischer, epistemischer bzw. definitorischer Hinsicht steht, wird insbesondere aus Thomas’ Auseinandersetzung mit Avicenna deutlich.384 Im Gegensatz zu Aristoteles, der jedes Eine als Seiendes und jedes Seiende als Eines versteht,385 schlägt Avicenna eine eigene Lesart vor: Das Seiende und das Eine bezeichnen nicht das Wesen eines Dinges. Das Eine ist etwas dem Wesen eines Seienden hinzugefügtes (ähnlich wie das Weiß-Sein dem Wesen eines

383 Duns Scotus, Ordinatio II, d.16, q.6. Hier ist Gilsons Interpretation zu berück­ sichtigen: Soweit es sich bei Scotus um das Sein der Wesenheiten konkreter Einzel­ dinge handelt, unterscheidet sich das Verständnis vom analogen Sein bei Scotus und Thomas nicht. Wenn es dagegen um den Begriff des reinen Seienden geht, dann ist dieser bei Scotus als univok zu verstehen. Gilson E., Johannes Duns Scotus, S. 94 f. 384 C.G.I, 50. / In De Trin., IV, 1. 385 Met.Ζ7, 1037b1–31. Eines ist dasjenige, was eine Wesensbestimmung ist. Man kann sagen: dieses ist Eines (Lebewesen und Zweifüßiges) und nicht Vieles (Mensch und Weiß sind aber Vieles). Anders gesagt, die Wesensdefinition ist ein einheitlicher Begriff, ein Begriff vom Wesen oder auch ein Begriff von Einem bzw. von Seiendem.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Dinges etwas hinzufügt).386 Avicennas Auffassung, dass das Eine (wie die Eins, die ein Element der Zahl ist) dem Wesen des Seienden neue inhaltliche Bestimmungen hinzufügt, die zur Sentenz »ens extra essentiam« ausgestaltet wurde, lehnt Thomas ab. Problematisch ist seiner Ansicht nach auch Avicennas Auffassung, dass der Unterschied zwischen Einheit und Vielheit aufgrund verschiedener Propria zu bestimmen ist.387 Diese kritischen Hinweise des Thomas verdeut­ lichen seine Ablehnung der avicennianischen (analogie-freien) Ein­ heits-Vielheits-Fassung. Thomas teilt auch diejenige Meinung nicht, die die (transzenden­ tale) Priorität des Einen oder die Priorität des Seienden behauptet. Bei dieser Diskussion stützt er sich vielmehr auf Aristoteles’ Behauptung, dass die Transzendentalien konvertibel sind (unum convertitur cum ente).388 Die aristotelische Auffassung dient Thomas nicht nur zur Kritik des avicennianischen, sondern auch des platonischen und neuplatonischen Verständnisses beider Begriffe. Die Auffassung, die der neuplatonischen Tradition, etwa eines Dionysius Areopagita, entspricht, dass das Eine über das Seiende zu stellen ist, unterstützt Thomas auch nur teilweise. Die Vorrangstellung des Einen vor dem Seienden und folglich vor aller Kreatur ist bei Dionysius Areopagita so weit getrieben, dass die Erkenntnis des Einen (des Unbestimmten, Avicenna Latinus, Liber de philosophia prima sive scientia divina. Ed. critique de la traduction latine médiévale par S. van Riet. Introduction doctrinale par G. Verbeke. Louvain: Peeters; Leiden: Brill, 1977, I, tract.3, cap.3, A104–A110, S. 114–122. / Kitab al-Shifa al-Ilahiyyat (Metaphysik). Ed. von G. C. Anawati und Zayed Sa‘id. Hrsg. von I. Madkour. Kairo, 1960. // Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele. Die Philo­ sophie (Bd. 3, 13): Die Metaphysik, Theologie, Kosmologie und Ethik. Übersetzt und erläutert von M. Horten. Frankfurt am Main: Minerva, 1960 (Nachdruck), Kap.II, S. 163; Kap.III, S. 168 ff.; Kap.V, S. 185 ff.; Kap.VI, S. 193–203. // Thomas von Aquin, In IV Met., lect.2, 9: »Sciendum est autem quod circa hoc Avicenna aliud sensit. Dixit enim quod unum et ens non significant substantia rei, sed significant aliquid additum. Et de ente quidem hoc dicebat, quia in qualibet re quae habet esse ab also, aliud est esse rei, et substantia sive essentia eius: hoc autem nomen ens, significat ipsum esse. Significat igitur (ut videtur) aliquid additum essentiae.« 387 Avicenna Latinus, Liber de philosophia prima sive scientia divina, I, tract.3, cap.1, A93–96; S. 104–107. // Thomas von Aquin, In Met.IV, lect.2, n.550, n.556–558. Avicenna unterscheidet zwischen Einheit und Vielheit aufgrund verschiedener Propria (Eigentümlichkeiten). Die Einheit bedeutet die Identität, Homogenität, Konvenienz, Gleichheit und Ähnlichkeit. Die Vielheit aber besitzt die Gegenteile dieser Eigen­ schaften. 388 Met.Ι2, 1053b20–24. / S.Th.I, q.11, a.1. / De Verit., q.1, a.1. Siehe zu dieser Frage etwa Oeing-Hanhoff L., Ens et unum convertuntur, S. 66 ff., 96. 386

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

Unerkennbaren, Unaussagbaren) nur auf metaphorische Weise aus­ gedrückt werden kann.389 Die Benennungen, die weder affirmativ noch negativ, sondern metaphorisch oder hyperbolisch zu verstehen sind, disqualifiziert Thomas als inadäquat. Dieses Verfahren ist schon deshalb inakzeptabel, da es bei den metaphorischen Namen nicht unterscheidet, ob diese eher von Gott oder eher von der Kreatur ausgesagt werden.390 Die Additionsfrage ist inhaltlich mit der zweiten Frage nach den unterschiedlichen Modi des Seienden eng verbunden. Es handelt sich um transzendentale und kategoriale Begriffe des Seienden und des Einen, die je nach philosophischer Position die Analogie in den Vordergrund stellt oder auf sie verzichtet.

2.7.3 Transzendentale und kategoriale Bestimmungen des Einen und Seienden und Analogizität der Transzendentalien Im Folgenden soll Thomas Verständnis davon vertieft werden, inwie­ fern das Eine vom Seienden (ontologisch und epistemologisch) zu unterscheiden ist und wie die Differenz zwischen den transzenden­ talen Bestimmungen des Einen und des Seienden sowie des katego­ rialen Einen und Seienden im Verhältnis zur Vielheit zu denken ist. Dabei werde ich den Zusammenhang der Transzendentalien mit der Analogie herausstellen. Gemeinsam mit Thomas gehe ich von den begrifflichen Bestimmungen des Seienden und des Einen aus und verknüpfe diese anschließend mit dem Transzendentalienproblem. Das Seiende unterteilt Thomas in: (S1)

ens simplex und ens compositum oder in ein einfaches und zusammengesetztes Seiendes. Ens simplex ist aktuell ungeteilt und potentiell unteilbar. Unter dem Ungeteiltsein (in indivi­ sione) kann auch dasjenige verstanden werden, das sich in einem jeden Ding befindet, nämlich: das Sein. Es wird erst dann zum ens compositum, wenn seine konstitutiven Bestandteile zum Ganzen vereinigt werden (S.Th.I, q.11, a.1);

389 Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, I, § 2, 119; § 6. // Zur Frage siehe: Suchla B. R., Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2008, S. 116 ff. // Elders L. J., Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, S. 66 f. 390 S.Th.I, q.13, a.6ad2. // Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, I, § 1, 109; IV, § 3, 146; IX, § 5, 210.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

(S2) das Seiende ist schlechthin Seiendes, wenn es keine Eigenschaf­ ten hat. Sokrates ist etwa kein Seiendes schlechthin, sondern ein Seiendes in dem Sinne, dass er eine Einheit ist (S.Th.I, q.76, a.1). Ein an und für sich selbstständiges Seiendes (secundum se) kann dasjenige sein (etwa Seele), das weder eine akzidentelle Form ist, noch selbst Bestandteile hat (S.Th.I, q.75, a.2ad2; q.76, a.1ad6); (S3) im höchsten Grade seiend ist Gott, da sein Sein auf keine bestimmte Natur festgelegt ist. Der Bereich des Einen wird bei Thomas am häufigsten mit folgenden Formulierungen gekennzeichnet: (E1)

das Eine (unum) bezeichnet die Abwesenheit der Teilung, also nichts anderes als ein ungeteiltes Seiendes (ens indivisum) (S.Th.I, q.11, a.1). Als das Ungeteilte steht das Eine wesentlich und begrifflich der Vielheit als Teilung entgegen (opponitur) (S.Th.I, q.11, a.2ad2);391

(E2) als eines ist ein jedes Ding durch sein Wesen (per suam substan­ tiam) ein Eines (S.Th.I, q.11,a.1ad1; q.11, a.4ad3; q.76, a.1); (E3) das Eine, das zu den Transzendentalien gehört (cum sit de transcendentibus), ist allgemeiner als Substanz und Relation (S.Th.I, q.30, a.3ad1); (E4) das schlechthin Eine (dies entspricht dem ungeteilten Einen in Bezug auf das Wesen) ist dasjenige, das nur durch die Form sein Sein und seine Einheit hat. Es handelt sich etwa um die Seele als (Wesens)Form, durch welche etwas ein Lebewesen und ein Mensch sein kann. Wenn es um einen weißen Menschen geht, kann er der mehreren Formen wegen nicht mehr als schlechthin Eines begriffen werden, sondern als (dasjenige) Eine, was in Bezug auf alles, was nicht zum Wesen gehört (etwa Weiß-Sein), als teilbar aufzufassen ist (S.Th.I, q.11, a.1ad2; q.76, a.3); (E5) Einer im höchsten Grade kann nur Gott sein. Dieser Behaup­ tung dienen drei Begründungen. Er ist Einer seiner Einfachheit wegen, d.h., er ist ein und derselbe (sua natura), wodurch er sowohl Gott als auch dieser Gott ist. Er ist Einer wegen seiner 391 S.Th.I, q.11, a.2ad2. // Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, V, § 3. Vgl. Suchla B. R., Dionysius Areopagita, S. 95 ff., 97.

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

unendlichen Vollkommenheit und wegen der Einheit der Welt, da das erste Wesen (primum et perfectissimum) Gott selbst ist. Durch das Eine und das Erste, durch das Wesen und das Sein Gottes, ist die Vielheit der Dinge in einer Struktur gebündelt (S.Th.I. q.11, a.3); (E6) nur dann, wenn man »das Eine« nicht als ontologisches Eines, sondern im epistemischen Sinn begrifflich bezeichnetes (von einem Verstand erkanntes Erkenntnisbild oder die Wesensde­ finition eines Dinges) fasst, besagt »das Eine« mehr als »das Seiende« (S.Th.I, q.11, a.1ad3; q.76, a.2; q.76, a.2ad4); (E7) das Eine und das Erste, das in der Definition aller Einzelnen impliziert ist, bildet die Grundlage dafür, dass viele Dinge im Sinne der Analogie im Verhältnis zum Einen stehen. Im logisch-sprachlichen Sinne werden demzufolge nomina transcendentia vielen Dingen als analoge Namen hinzugefügt (S.Th.I, q.13, a.6). S1, S2 sowie E1, E3 und E6 bilden den Ausgangspunkt für die Behandlung des Transzendentalienproblems. Ich wies bereits darauf hin (2.7.2), dass die transzendentale Bestimmung des Einen, quod cum ente convertitur, nach Thomas als simplex zu bezeichnen ist, da das Eine nichts zu der Substanz oder zu den Akzidenzien addiert. Thomas folgt dem Prinzip des Aristoteles’, dass bei der Vielfältigkeit der Entitäten diese nicht weiter ohne Grund zu vervielfältigen sind. Er meint damit, dass es sinnlos wäre, sowohl von einem seienden Seienden als auch von einem seienden Einen zu sprechen, da das Eine dem Seienden nichts anderes als die Verneinung der Teilung transkategorial hinzufügen kann; beide sind also konvertibel.392 Das ens und das unum (sowie res, bonum, aliquid), als die allgemeinsten transzendentalen Bestimmungen, sind miteinander verknüpft, da sie einerseits verschiedene Aspekte desselben Seienden als solches bezeichnen, andererseits wird durch sie der Gehalt zahlreicher ande­ rer Begriffe ausgedrückt.393 Im Gegensatz dazu kann jeder zusam­ mengesetzte Gegenstand (compositum), der durch seine Substanz (per suam substantiam) (ein) Eines ist (E2) und an welchem die

392 393

S.Th.I, q.11, a.1; q.30, a.3. S.Th.I, q.39, a.3.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Einheit haftet,394 unter res subsumiert werden. Res ist, wie ich bereits dargelegt habe, das durch die Kategorien der Quantität und Qualität auf eine bestimmte Wesenheit oder Natur eingeschränkte Seiende. Aber res ist in ihren transzendentalen Bestimmungen zunächst nur beziehungslos erfassbar.395 Die Auffassung der Transzendentalien (unter diesen auch res) darf nach Thomas der sinnlichen Wahrneh­ mung und dem ganzen Erkenntnisprozess, in welchem ens in der prima conceptio als esse proprium (actus essendi) im Intellekt durch sinnliche Wahrnehmung mit jeder res eintritt, nicht widersprechen.396 Daran, dass die res naturales und unser Intellekt »von gleicher Natur« (connaturalis) sind, zeigt sich, wie bereits festgestellt, die Proportionalität, die konnatural zwischen intellectus und ens schon in der prima conceptio entsteht. Die Proportionalität entsteht also in dem Intellekt aufgrund seiner konnaturalen Hinordnung (connnatu­ ralitas intellectus nostri) auf die Erkenntnis der zusammengesetzten Seienden bzw. des (einheitlichen) esse proprium des Seienden.397 Die auf Konnaturalität beruhende Proportionalität, die durch das esse proprium hervorgerufen wird, kann als systemanalytisch begreifbare Struktur der Proportionen begriffen werden. Diese Struktur der Pro­ portionen kann durch die Analogie (gemäß ihrem Prinzip des per prius et per posterius) des Seienden dargestellt werden. Bei Thomas ist das der explizite, ontologisch-epistemische Ausgangspunkt der Analogie

S.Th.I, q.11, a.2; q.13, a.1ad3. S.Th.I, q.39, a.3ad3; q.39, a.8: »Nam primo consideretur res ipsa absolute, inquan­ tum est ens quoddam; secunda autem consideratio rei est, iquantum est una; tertia consideratio rei est secundum quod inest ei virtus ad operandum, et ad causandum; quarta autem consideratio rei est secumdum habitudinem quam habet ad causata.« 396 S.Th.I, q.45, a.4ad1: »Nam ex eo dicitur aliquid creatum, quod est ens, non ex eo quod est hoc ens […]. Es est similis modus loquendi, sicut si diceretur quod primum visibile est color, quamvis illud quod proprie videtur, sit coloratum.« / In Met.IV, lect. 2, n.553: »Sciendum est enim quod hoc nomen Homo, imponitur a quidditate, sive a natura hominis; et hoc nomen Res imponitur a quidditate tantum; hoc vero nomen Ens, imponitur ab actu essendi […].« Bei Thomas handelt es sich um die transzenden­ talen Bestimmungen von ens und res (und diejenigen anderer Transzendentalien) in ihren allgemeinen Modi. Er unterscheidet aber zwischen allgemeinen und speziellen bzw. kategorialen Modi des Seienden. Res enthält seine terminologische Differenz zu ens, der ersten der Tranzendentalien, aufgrund der essentia oder quiditas: das, was essentialiter ist, ist res. 397 S.Th.I, q.13, a.1ad3. 394

395

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

der Transzendentalien, die eine im Großen und Ganzen auf transzen­ dentaler Ebene fundierte Proportionalitätsanalogie bedeutet.398 Wie stellt Thomas die Problemlage (in S1–E6) bezüglich der Transzendentalien und des Seins Gottes dar?399 Die Antwort geht aus den folgenden Überlegungen von Thomas hervor. (1) Wenn Gott eine der Transzendentalien, etwa das Seiende, wäre, könnte er vom kate­ gorialen Seienden ausgesagt werden. Gottes Sein aber überragt alles Seiende und alle Modi des Erkennens. (2) Gott ist kein numerisch bzw. kategorial Eines, da das, was von unum numero ausgesagt wird, nicht Gott ist. (3) Das Eine, »quod cum ente [convertitur]«, ist in seinem allgemeinen Modus ein metaphysisches bzw. von Materie und jedwe­ der Partikularität unabhängiges Eines; es ist aber selbst kein Gott im univoken Sinne. Thomas widersetzt sich dagegen der Einsicht, dass die Erkenntnis der Transzendentalien als univoke Erkenntnis Gottes zu verstehen wäre bzw. dass die Transzendentalien von Gott univok ausgesagt werden könnten. Damit wird die Univozität der Transzendentalien zugunsten der Analogizität derselben von ihm klar abgelehnt.400 (4) Das Eine, das die Ursache einer einheitlichen Ord­ nung aller Verschiedenheit der Kreatur und aller Vollkommenheiten des Seins ist, ist keine Transzendentalie, sondern Gott selbst.401 Prädikationstheoretisch und logisch-semantisch wird (in E6 und E7) unter unum im Fall der Proportionsanalogie von den transzenden­ talen analogen Namen Bezeichnetes, nämlich das primäre Analogat (der Erkenntnisordnung nach), das entsprechend der Seinsordnung das sekundäre Analogat ist, behandelt. Es geht sowohl um das Wis­ sen, das auf dem Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis erworben wird, als auch um die Art der theologischen Proportionsanalogie des unius ad alterum, die die Erkenntnis der Transzendentalien (als primäre Analogate der Erkenntnisordnung nach) für die Erkennt­ nis Gottes (als sekundäres Analogon der Erkenntnisordnung nach) geltend macht.402 Anders gesagt, kann intellectus creatus auf diese 398 In diesem Sinne ist meine Interpretation des Zusammenhangs der Analogie mit der Transzendentalientheorie bei Thomas mit derjenigen Anzenbachers kohärent. Vgl. Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 57–62. 399 S.Th.I, q.12, a.1; a.1ad3. 400 Vgl. zu dem Begriff der Transzendentalienanalogie: Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 124 ff. 401 S.Th.I, q.11, a.3. 402 Darin liegt der Grund der analogischen bzw. aposteriorischen Erkenntnis, bei der dem Prinzip des prius et posterius oder der »differentiation of the cognitive first from

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Weise beides erkennen: das kreatürliche Sein und auf eine bestimmte Weise (secundum modum apprehensionis nostrae) – durch Proportion unterstützt – das göttliche Sein.403 Auf die darin enthaltene logischsemantische Problematik gehe ich später (Kap. 3 und 4) näher ein. Die Formulierungen E2 und E3 ermöglichen es, einen kurzen Blick auf die Diskussion um die Substanz und ihre Gleichsetzung mit den Transzendentalien ens et unum zu werfen. Der Ausgangspunkt dieser Diskussion besteht in der Frage, worin der Unterscheid zwi­ schen kategorialen und transzendentalen Bestimmungen liegt. Die Bestimmung des selbstständig Seienden liefert eine Deutung, die auf das Vorliegen einer Substanz – eines Trägers (subiectum) bzw. eines Kompositums – verweist. Wenn selbstständig Seiendes bzw. ein Kompositum aus esse (als Dass dieses Kompositums) und essentia (als Was desselben Kompositums) konstituiert ist, ist dieses Kompositum »res una per suam substantiam«. Es ist also ontologisch ungeteilt, d.h. unum.404 Aber ein ganz anderes Gewicht wird auf die Verwendungen von Seiendem und Einem, wenn es sich dabei um Transzendentalien handelt, gelegt. In die Debatte um Substanz und Transzendentalien wird aber­ mals die aristotelische Ousia einbezogen, da gerade sie weit differen­ zierter als jeder andere Begriff zum Problem beitragen kann. Die Debatte kreist um die Frage des Aristoteles: Kann Ousia sich als Eines oder Seiendes außerhalb der Einzeldinge befinden?405 Zur Lösung the ontological first« (Aertsen) zu folgen ist. Vgl. Aertsen J. A., Medieval Philosophy and the Transcendentals, S. 161. Die apriorische Erkenntnis geht auf Avicenna zurück. Heinrich von Gent (und ihm folgende Franziskaner) hat den metaphysischen Weg zur Gotteserkenntnis durch die Erkenntnis der Transzendentalien eingeschlagen. Seine Erkenntnistheorie zeichnet sich durch die Ablehnung der Transzendentalienlehre und der analogischen (aposteriorischen) Erkenntnis Gottes von Thomas aus. Zur Frage siehe Kobusch T., Gott und Transzendentalien: Von der Erkenntnis des Inklusiven, Impliziten, Konfusen und Unbewussten. In: Pickavé M. (Hrsg.), Die Logik des Trans­ zendentalen, S. 421–433. Vgl. Kobuschs Hinweis auf Heinrich von Gent, Summa quaestionum ordinarium. (Ed. Paris, 1522.) ND New York: St. Bonaventure, 1953, q.2, a.21, fol.130vQ ; q.5, a.22, fol.134vD; q.3, a.25, fol.153vD. // In diesem Zusammen­ hang siehe zu Bonaventuras Lehre von den Transzendentalien Speer A., Bonaventure and the Question of a Medieval Philosophy. Medieval Philosophy & Theology VI, 1 (1997), S. 25–46 (vgl. Bonaventura, Sent.I, d.8, p.2, a.1, q.4c; d.24, a.1, q.2). 403 S.Th.I, q.12, a.1ad4: »Alio modo, quaelibet habitudo unius ad alterum proportio dicitur. […] Et secundum hoc, intellectus creatus proportionatus esse potest ad cognoscendum Deum.« 404 S.Th.I, q.11, a.1. / De Pot., q.7, a.1. // Met.Γ2, 1003b17–19. 405 Met.Ι2, 1053b20–24.

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

dieser Frage werden zwei Wege angeboten: Der erste Weg, der die Anerkennung der Separatheit der Substanz bzw. des Einen in ihrer Rolle der Ursache annimmt, behauptet, dass Substanz nicht in den Seienden existieren kann. Bei dem zweiten Weg gewinnt der andere Aspekt an Gewicht, nämlich die Ablehnung der Kompatibilität von Substantialität und transzendentalem Einen. Dieser Weg wird von der Auffassung gestützt, dass das Eine allgemeiner als die Substanz ist.406 Mit der Ablehnung des ersten (platonischen) Weges wird von Thomas der zweite Weg als Alternative eingeschlagen. Diesem (auf Analogie gestützten) Weg gemäß wird das jede kategoriale Seiende so struk­ turiert, dass es durch sein Wesen eins und ungeteilt ist. Das katego­ riale Seiende unterscheidet sich von dem im höchsten Grade Einen (maxime unus) bzw. im höchsten Grade Seienden (maxime ens), das die kategorialen Seienden transzendiert.407 Die Einheit der katego­ rialen Bestimmungen des Einen kommt wieder in Frage, wenn man die ontologisch und epistemisch bedeutsamen Begriffe des Seins und des Wesens berücksichtigt. Die Behauptung, dass ein seiendes Ein­ zelding durch sein Wesen eins und ungeteilt ist, unterscheidet sich von der Behauptung, dass dieses seiende Einzelding eins ist, da sein Wesen und sein Sein entweder zusammenfällt oder auch nicht. Dieser Frage widme ich mich im nächsten Abschnitt.

2.7.4 Esse et essentia und die Einheit des Seienden Wie die anhaltende Diskussion zeigt, muss die Frage nach der Einheit des kategorialen Seienden noch weiter erläutert werden. Denn bereits an diesem Punkt, – in der kategorialen Bestimmung des (endlichen) Seienden, wird der Übergang zu den transkategorialen Seinsbestim­ mungen und letztlich zur einheitlichen Wirklichkeitsstruktur – zur Einheit eines jeden Einzelnen und der alles umfassenden Einheit in der Vielfältigkeit – vorbereitet.408 Es ist hier zunächst auf Thomas’ Bemühungen hinzuweisen, die innere Struktur der kategorialen Seienden immer wieder durchzuden­ 406 In Met.III, lect.10, n.465. / S.Th.I, 30, a.3. Vgl. Wolenski J., Two Theories of Transcendentals, S. 367–380. // Aertsen J. A., Medieval Philosophy and the Tran­ scendentals, S. 210–223. 407 In Met.IV, lect.2, n.553; lect.15, n.717. 408 S.Th.I, q.11, a.4.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

ken. Die innere Struktur des Seienden trifft also auf die aristotelische Ousia, worauf alles Seiende auf analoge Weise bezogen ist. Zur Wiederholung: Thomas übersetzt ousia mit substantia, und gibt ousia mithilfe mehrerer Bedeutungen von Substanz wieder. Hier sind zwei Grundbedeutungen von Substanz zu nennen:409 (a) Substanz (ousia) ist die durch die Wesensbestimmung (diffinitio significat substantiam rei) bezeichnete Washeit des Wirklichen (quiditas rei), die Thomas auch mit Wesen (essentia) übersetzt; (b) Substanz wird als Träger (subiectum) oder das Daruntergestellte (suppositum) bezeichnet, das in der Gattung der Substanz für sich besteht (subsistit). Sie ist aber nicht per se esse (Durch-sich-sein), sondern sie ist das Wesen, dem das (unabhängige) Sein zukommt. Dadurch wird der Konstitutionsakt des Seienden aus esse und essentia festgelegt.410 Das Wesen (essentia) bleibt also nicht für sich selbst selbstständig, für das Wesen muss immer ein Wesensträger gegeben sein. Die Uminterpretation der aristotelischen Ousia und die mit der Notwendigkeit (necesse est) erhobene Forderung, zwischen Wesen und Sein, dem Wesen und dem Wesensträger oder der Natur und dem Naturträger, zu unter­ scheiden, verstehe ich als den Versuch, durch die Unterscheidung 409 S.Th.I, q.29, a.2 ad1; ad2; ad3. Thomas interpretiert die Stelle aus Met.Δ8, 1017b13–26. Nach Thomas kann man auch an den Bezeichnungen res naturae, subsistentia und hypostasis drei weitere Bedeutungen von Substanz ablesen: Unter res naturae ist Substanz als Träger zu verstehen, der eine allgemeine Natur supponiert; als subsistentia kann man Substanz als in sich selbst und nicht in einem anderen existierende erklären; und mit dem Ausdruck hypostasis oder substantia prima wird Substanz als dasjenige bezeichnet, das den Akzidenzien supponiert. 410 S.Th.I, q.3, a.5. Die Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Wesen ist eine vieldiskutierte Frage. Das Ergebnis dieser Diskussionen ist ein zweifaches. Es wird erstens der Unterschied von Kreatur und Gott mit der Einbeziehung der Analogie bestimmt. Es wird zweitens der Unterschied von dem Wesen des Seienden und dem Sein festgestellt. Nach Ruperts Meinung kann diese Unterscheidung und die daran anschließende Problematik nicht nur auf Boethius zurückgeführt werden, sondern auch auf arabische Autoren (S. 123). Rupert weist auf den Einfluss des Averroes etwa auf Petrus Aureoli hin, der Sein und Wesen der Einzeldinge und des Gottes im Gegen­ satz zu Thomas als identisch bestimmt. Aureoli erkennt dementsprechend die univo­ ken Begriffe bzw. Aussagen an, die sowohl auf Wesenheiten der Einzeldinge als auch auf Gott anwendbar sind. Nach Aureoli bekommt das Wesen eine begrifflich-affir­ mative Bestätigung durch das Sein (Rupert, S. 144). Entsprechend der Meinung von Aureoli sieht man nach Rupert, wie eine konzeptualistische Denk- und Erkenntnis­ weise (Konzeptualismus) vorbereitet wird. Vgl. Rupert L. S. J., Zur Lehre von den Transzendentalien bei Petrus Aureoli O. F. M. Bonn: Univ. Diss., 1964, S. 123 ff. // Horten M., Die Hauptlehren des Averroes. / Horten M., Die philosophischen Ansich­ ten von Rįzi und Tusi. Bonn: Hanstein, 1910.

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2.7 Analogie und die Einheit-Vielheit-Relation

zwischen Essenz und Sein, die Vereinheitlichung eines Seienden zu standardisieren. Die Standardisierung der Einzeldinge durch die Essenz ermöglicht die Unterscheidung zwischen Wesen und Sein und erlaubt infolgedessen die relationalen Kernaspekte des Einzelnen und des Allgemeinen (universale) erneut zu diskutieren. Dies entspricht noch in etwa den Ergebnissen der bisherigen Erörterungen (vgl. 2.5). Es handelte sich dort um das Wesen etwa des Menschen, nämlich um die menschliche Natur (humanitas), die nur (!) das in sich enthält, was unter die Definition des Menschen (in definitione hominis) fällt.411 Das Wesen (in der Definition des Menschen ist es das Allgemeine, huma­ nitas) und der Wesensträger fallen in einem Zusammengesetzten nicht zusammen. Oder konkreter ausgedrückt: fasst man das Einzelne und das Allgemeine ontologisch, sind sie nicht trennbar; im Fall der begrifflichen Fassung sind sie aber zu unterscheiden. Das Problem erweist sich als noch vielschichtiger. Denn das, was von dem Einzelnen (Mensch) und seiner Einheit behauptet wird, was nämlich seine Einheit erfassbar macht, betrifft nicht nur das Wesen, sondern zwei weitere Aspekte: den des Seins und den der Individuation. Wie dies die Definition des Menschen zeigt, ist die menschliche Natur als eine wirkliche (humanitas in actu) in dem Maaße aufzufassen, in welchem sie das Sein hat, da nur das Sein für die Verwirklichung jeder Natur (oder Form) vorauszusetzen ist.412 Zu den Merkmalen, die für die Einheitlichkeit des Verwirklichten, also eines zusammengesetzten Einzelnen (singulare), noch hinzu kommen, zählt der individuierende Unterschied: z.B. die Lebensfunk­ tionen und physischen Gegebenheiten eines Körpers, die aus den aus dieser Form (hac forma) und dieser Materie (hac materia) zusam­ mengesetzten Trägern (dieser Mensch) gegeben sind. Das, was man in allen Zusammengesetzten als Grund der Individuation vorstellt, ist nicht etwas, das dem Wesen äußerlich zukommt, sondern das in der Materie liegende Individuationsprinzip. Das, was dem Wesen eines Zusammengesetzten äußerlich zukommt, ist das anderweitig abgeleitete Sein (esse causatum ab alio).413 Kommt man nun auf E2 (Abschnitt 2.7.3) und die Aussage »res una per suam substantiam [est]« zurück, wird unter Substanz die Wesenheit verstanden, der das Sein zukommt, damit sie »durch sich selbst« bestehen kann. Dieses 411 412 413

S.Th.I, q.3, a.3. S.Th.I, q.3, a.4. S.Th.I, q.3, a.4.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

(zukommende) Sein kann, wie behauptet wurde, nicht identisch mit dem Wesen sein.414 In diesem Kontext ist davon die Rede, dass sich die Substanz durch sich selbst zum Einzelwesen konstituiert (substantia enim individuatur per seipsam). Das aus dieser Materie und dieser Form zusammengesetzte Einzelwesen, das Individuum (das, was Thomas zusammen mit Aristoteles prima substantia nennt415), ist aufgrund der Materie (als principium substandi) der Träger der Eigenschaften (der sich durch die Eigenschaften vervollkommnet).416 Die Eigenschaften werden durch den Träger (Substanz) vereinzelt (individuatur per subiectum). Diese können aber mit der Definition nicht gegeben werden.417 Das Indivi­ duum zeichnet sich durch die strukturierte Einheit und Verschieden­ heit aus; es wird aufgrund der Form (principium subsistendi), die der Materie erst das esse actuale gibt, selbstständig (per se subsistat). Damit wird die Verbindung zwischen dem Wesen und dem Sein, der Einheit des Einen, der Individuation und der Selbstständigkeit einseh­ bar. Die Selbstständigkeit als ein besonderes Merkmal zeichnet sich durch die Einheit aller ihrer Komponenten, die ein Ganzes bilden, aus. Diese Komponente wird durch folgende Eigenschaften charakterisiert: Die Wesens-Form, die im Einzelwesen ihre Existenz hat, garantiert, dass ein Einzelwesen zu diesem konkreten einheitlichen Einzelding, dem Einen, geworden ist. Das Einzelwesen besitzt die körperlichen Eigenschaften und das Sein, d.h. es besitzt Selbstständigkeit. Es benö­ tigt etwas ergänzendes, dass es zu einer Spezies, etwa zum Menschen, macht. Dieses etwas wird durch den Wesensbegriff humanitas als formaler (auf die Form bezogener) Teil gesetzt.418 Letztlich führt Thomas die Analogie, die Grundlage der katego­ rialen Relation von Einem und Vielem, an. Diese Relation kann durch das den vielen Gemeinsame bzw. Allgemeine vorgestellt werden, das hier – ontologisch und logisch verstanden – die menschliche Natur bedeutet (natura humana communis est multis secundum rem

S.Th.I, q.3, a.5ad1: »Sed significat essentia cui competit sic esse, idest per se esse: quod tamen esse non est ipsa ejus essentia.« 415 S.Th.I, q.29, a.1: »Unde convenienter individua substantiae habent aliquod spe­ ciale nomen prae aliis: dicuntur autem ›hypostases‹ vel ›primae substantiae‹.« 416 S.Th.I, q.3, a.6: »[…] quia subiectum comparatur ad accidens, sicut potentia ad actum: subiectum enim secundum accidens est aliquo modo in actu.« 417 S.Th.I, q.29, a.1. 418 S.Th.I, q.3, a.3. 414

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2.8 Divisio des Einen und Problematik des Einen und der Vielheit

et rationem).419 Der bestimmte Allgemeinbegriff bzw. die Wesensbe­ stimmung (die bei Aristoteles mit prima substantia gegeben ist420) ist in ihrem Status der analogen, allgemeinen Vereinheitlichungsmög­ lichkeit dazu geeignet, eine vielen gemeinsame Natur zu bezeichnen, damit die zusammengesetzten, einheitlichen und zugleich unter­ schiedlichen Einzelwesen auf analoge Weise verbunden werden. Für Aristoteles ist nur auf diese Weise des substantiellen Seins ein jedes Einzelding und sein Sosein (to ti en einai) Eines und das Eines-sein (etwa Mensch) mit dem Mensch-sein (seine Artform) identisch.421 Die damit bestimmte Einheit klassifiziert er als die perfekte Form der Einheit. Dieser Abschnitt über die Einheit des Seienden kann noch mit keinem endgültigen Ergebnis abgeschlossen werden, da die im aris­ totelischen Sinne konzipierte perfekte Einheit des Seienden nach Thomas keine vollständige Lösung der Problematik von Einheit und Vielheit bietet.

2.8 Divisio des Einen und Problematik des Einen und der Vielheit Für den bisher erörterten Fragekomplex bedeutend war der Aspekt des transkategorialen und kategorialen Bereiches des Seienden, nämlich des ungeteilten Seienden (ens indivisum), wonach die Einzeldinge in seiner Unteilbarkeit (indivisibilitas) behandelt wurden. Im Folgenden richtet sich die Erörterung der Fragestellung auf den Aspekt der Teilbarkeit von Einzeldingen. Da das zusammengesetzte Seiende sich durch zwei Modi – »id quod est uno modo divisum, esse alio modo indivisum [est]« – auszeichnet, kann mit der Teilbarkeit auch die Vielheit in den Fokus gerückt werden.422 Es handelt sich dabei um die kategoriale Teilung. Es werden drei Verhältnisse und ihre Kontexte zur Diskussion gestellt:423 (1) Im ersten Fall handelt es sich um die Teilung der Entitäten, die dem Wesen nach ungeteilt sind, in Bezug auf alles aber, »quae extra essentia [sunt]«, geteilt werden. Damit wird 419 420 421 422 423

S.Th.I,q.13, a.9. S.Th.I, q.29, a.1ad2. Met.Z7, 1031b18–1032a3. S.Th.I, q.11, a.2ad1. S.Th.I, q.11, a.1d2.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

nach den analogen Strukturen gefragt, die durch die Einheit zwischen dem Einen und seinen Eigenschaften bestehen (2.8). (2) Der zweite Fall behandelt die Unterscheidung zwischen dem transzendentalen und kategorialen mathematischen Einen (unum numero) und Vielen (2.9). (3) Der dritte Fall bezieht sich auf die Untersuchung eines Ein­ zeldinges, »quia indivisum in actu, et divisum in potentia [est]«. Es wird die Einheitsfrage unter dem Aspekt der Teil-Ganzes-Relation genauer erklärt (2.10). Wie bereits Sokrates im Philebos sagte, bereiten die Probleme der Einheit des Einen und der Einheit des Einen und des Vielen große Schwierigkeiten, wenn man sie falsch behandelt.424 Diese Schwierigkeiten wurden lange diskutiert; ohne diese Diskussionen wären Thomas’ Lösungen bezüglich der Problematik der Ungeteiltheit und Teilbarkeit des Seienden, des Einen und der Vielheit, nicht einmal verständlich.

2.8.1 Eigenschaften, Ähnlichkeit, Relation Im Fall (1) handelt es sich um die Teilbarkeit des einheitlichen Kompo­ situms, eines artangehörigen Trägers, der der Träger nicht nur seiner selbst, sondern auch der Eigenschaften ist. Thomas führt plausible Gründe für die Möglichkeit an, den Übergang von einem artangehö­ rigen Einzelnen zu der Vielheit von verschiedenen Einzelnen und die Einheit zwischen den unterschiedlichen Trägern aufgrund ihrer Eigenschaften bestimmen zu können. Mit Blick auf diese Teilbarkeit, wird das Kriterium der (Un)Ver­ änderlichkeit nützlich, um zu bestimmen, welche Eigenschaften zur extra essentia gehören und welche nicht; welche Veränderungen in einem Einzelding mit dem Verlust oder mit dem Gewinn der Kör­ perteile, also bestimmter Eigenschaften, in Wesensgründen dieses Einzeldinges generiert werden können oder nicht. Diese Kriterien, die maßgeblich für die Bestimmung der Veränderungen der Einzeldinge sind, sollen zeigen, welche Rolle den als extra essentia bestehenden Eigenschaften für die Bestimmung der ontologischen Einheit und Vielheit von Einzeldingen zukommen.

424

Platon, Phileb., 15c.

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2.8 Divisio des Einen und Problematik des Einen und der Vielheit

An dieser Stelle gilt es, die bisher erzielten Ergebnisse nochmals zu rekapitulieren. Die Kriterien der Unteilbarkeit und Unveränder­ lichkeit sind diejenigen, die für die Bestimmung der Wesensform eines Kompositums eingesetzt wurden. Jede Wesensform hat ihre notwendigen Voraussetzungen und Folgerungen (ex necessitate con­ sequuntur), sie hängen von denen sie bewirkenden Prinzipien ab.425 Der Wesensform gemäß ist ein Einzelding selbstständig, unteilbar und unveränderlich; es ist in gewissem Sinne aber auch veränderlich. Denn die akzidentellen Formen, die das Einzelding besitzt, befinden sich extra essentia und sind nicht selbstständig. Diese Nicht-Selbst­ ständigkeit der akzidentellen Formen erklärt, weshalb sie von der Erzeugung und Zerstörung eines Trägers abhängig sind.426 Da sich die zur extra essentia gehörenden Eigenschaften eines Trägers verändern, stellt sich die Frage, ob demnach der Träger seine Zugehörigkeit zur Art- und Gattungseinheit verlieren kann und sich diese zu einer noch umfassenderen Einheit modifiziert.427 In der Auffassung von Wesensform und akzidenteller Form liegt der Schlüssel zum (Un)Veränderlichkeitsproblem eines Trägers. Diese Auffassung beruht auf dem Relationsbegriff, hinter diesem steht die Einheit von mehreren Eigenschaftsträgern. Aber dort, wo eine derartige Einheit besteht, besteht auch die Ähnlichkeit. Aufgrund ihrer besonderen Beschaffenheit überragt sie sogar die kategoria­ len Grenzen. So manifestiert sich der transkategoriale Charakter der Ähnlichkeitsrelationen. Zur näheren Erläuterung dieser EinheitsVielheits-Frage nutzt Thomas eine Argumentation, durch die sich die folgenden drei Probleme ergeben:428 (a) Das erste Problem besteht S.Th.I, q.5, a.5: »[...] forma autem praesupponit quaedam, et quaedam ad ipsam ex necessitate consequuntur [...].« 426 S.Th.I, q.75, a.6; a.7. 427 S.Th.I, q.76, a.3. Zur laufenden Diskussion um die materielle Konstitution der Eigenschaften und diesbezüglichen Beziehung des Ganzen zu seinen Teilen und deren Relationen in Organismen, die die aristotelisch-thomanische Problematisierung wei­ terführt, siehe etwa Buddensiek F., Die Einheit des Individuums. Berlin; New York: De Gruyter, 2006, S. 140–156. Zu der Frage nach prädikationslogischen Bestim­ mungsmöglichkeiten der Eigenschaften als Problem des Essenzialismus bei Nomina­ listen und Universalrealisten siehe etwa Meixner U., Modalität. Möglichkeit, Not­ wendigkeit, Essenzialismus. Frankfurt am Main: Klostermann, 2008, S. 132–187. 428 Das Relationsverständnis, dessen Grund die Akzidenzien sind, geht auf Aristo­ teles zurück und wird von den Scholastikern diskutiert. Schönberger hat recht, wenn er auf die standardisierten, unvollständigen Interpretationen hinweist, die behaupten, dass die Auffassung der Relationen als Eigenschaften bei den Scholastikern die einzige 425

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

in der Transkategorialität der Ähnlichkeit. (b) Das zweite Problem betrifft den Dispositionsbegriff und die Eigenschaften. (c) Das dritte Problem betrifft die Unterscheidung der Arten der Relation. (a) Das erste Problem der (Trans)Kategorialität der Ähnlichkeit entschlüsselt Thomas vor allem in Bezug auf die Form. Hier ist auf Thomas’ Bestimmung von substantiellen und akzidentellen For­ men hinzuweisen (siehe 2.3.1):429 Die substanzielle Form per se (die actu est) unterscheidet sich von der akzidentellen Form, die nicht das Sein schlechthin (esse simpliciter), sondern ein »solches« Sein (esse tale) hat. Die Form der Wärme oder der Farbe Weiß sind nicht-selbstständig und kein Träger selbst kann die Form der Wärme oder die Form der Farbe sein; diese Formen können aber im Träger existieren, der Träger kann warm und weiß sein.430 Den Hinweisen auf das zukommende Sein kann man eine Klärung der analogen Einheitsstruktur entnehmen: Mit dem zukommenden Sein zeigt sich, dass die verschiedenen einander zugeordneten Formen nicht nur alle artangehörigen Gegenstände betreffen, sondern selbst transkategorial sind. Aufgrund der Qualität, etwa der Farbqualität, kann eine Vielheit von Gegenständen als ähnlich bestimmt und mit demselben Namen weiß bezeichnet werden. Die (Trans)Kategorialität der Ähnlichkeit weist also eine über alle Art- und Gattungsgrenzen hinausgehende analoge Einheitsstruktur auf. Damit gelangt man in der Tat zu den oben behandelten Analogiearten zurück. Das Problem von Einheit und Vielheit ist damit aber noch nicht gelöst. (b) Das zweite Problem betrifft die Verwendung des Dispositi­ onsbegriffs, den Thomas auf die Frage nach den Eigenschaften und der

Auffassung von Relationen bis zur modernen Logik gewesen sei. Es ist jedoch darauf zu bestehen, dass es sich nicht nur bei Scotus oder Okcham, sondern auch bei Thomas und etwa bei Heinrich von Gent um die Relationen als Eigenschaften und Relationen als Relationen handelt. S.Th.I, q. 28, a.2. // Vgl. Schönberger R., Relation als Ver­ gleich, S. 51 ff. // Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 238 ff. 429 S.Th.I, q.76, a.3. Im Abschnitt 2.3.1 wurde festgestellt, dass die Form, nach welcher z.B. der Mensch auf universale Weise animal genannt wird, sich nicht von der Form unterscheidet, nach welcher etwas homo genannt wird, sonst könnte man nicht von dem Menschen als selbstständigen und unteilbaren Einem sprechen. Der Mensch kann aber auch als der weiße Mensch bestimmt werden. In diesem Fall handelt es sich um einen Unterschied zwischen verschiedenen Formen. 430 S.Th.I, q.76, a.4.

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Ähnlichkeit bezieht und diskutiert.431 Das Verfügen über Eigenschaf­ ten, so Thomas, ist nicht etwas, was ein Träger oder viele verschiedene Träger beliebig auswählen oder verwerfen können. Dies bildet eines der schwierigsten Momente der Eigenschafts- und Ähnlichkeitsfrage. Denn ein artzugehöriger Träger oder einer zu den unterschiedlichen Arten gehörender Träger kann nur dann die Eigenschaften (etwa weiß-sein oder warm-sein) annehmen, wenn er eine Disposition zur Annahme der bestimmten Eigenschaft aufweist. Darüber hinaus ist es für das haben etwa der Farbe Weiß bzw. der Eigenschaft weiß-zu-sein erforderlich, einen Ort oder die Oberfläche (superficies) zu besitzen, auf dem sich die Eigenschaft weiß lokalisieren lässt.432 Da es der Fall ist, dass alle unter die Art Mensch fallenden rationalen Lebewesen und alle unter die Gattung Lebewesen fallenden, eine sinnbegabte Natur besitzenden, Sinnenwesen die Oberfläche für die Farbe haben, handelt es sich um die Disposition und Distribution der bestimmten Eigen­ schaften. Wenn man vor diesem Hintergrund auch das zweite Problem betrachtet, dann scheint es nun, bereits alles vorliegt, um nicht nur die Ähnlichkeitsrelationen zwischen den Eigenschaftsträgern bestimm­ ter Arten und Gattungen, sondern auch die transkategorialen, über die Art- und Gattungsgrenzen hinausgehenden Relationen, aufzuzeigen. Es wird aber augenfällig, dass man dadurch noch nicht die Einheits­ struktur erschlossen hat. Im Anschluss daran soll man nach Thomas zwischen (a) vielfälti­ gen potentiell (körperlichen) Eigenschaften, wo eine jede Eigenschaft von diesem (oder jenem) Träger besessen werden kann (weiß-sein), Was die Frage nach der Disposition der Eigenschaft angeht, handelt es sich erstens darum, welche Entitäten als Eigenschaften (F) aufzufassen sind, und es stellt sich zweitens die Frage, welche Entitäten (a) die Voraussetzung haben, die Eigenschaft (F) als Universalie zu exemplifizieren. Diese Fragen entfallen für die Nominalisten, die die Existenz der Eigenschaften (als Universalien) ablehnen. Stattdessen geht es bei Universalienrealisten um die Disposition zu der Eigenschaft, z.B. die Disposition des Menschen, weiß zu sein. Die Disposition zu den Eigenschaften, etwa der Seele, unsterblich zu sein, die als »Kerneigenschaft« (Meixner) bezeichnet wird, ist mit intrinsischer Notwendigkeit gegeben. Zusammen mit Thomas und Meixner ist der sprachlogische Aspekt zu beachten. Es geht hier um den Namen »der Eigenschaft der Disposition«, nicht aber um den Namen »Disposition« selbst. Die dispositionellen Eigenschaften (F) von einer Entität (a) sind also die Eigenschaften, die eine Entität wirklich (nicht nur potentiell) hat. Vgl. Meixner U., Modalität, S. 141 ff. 432 S.Th.I, q.76, a.3: »Sicut superficies preambula est ad colorem: si ergo dicamus quod corpus superficiatum est coloratum […].« 431

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und (b) essentiellen Eigenschaften (etwa des Denken-Könnens oder des Propriums wie Lachen-Können bei Menschen) unterscheiden, die artnotwendig jedem und allen artgehörigen Trägern zustehen. Folgende Fragen sind daher noch zu klären: Wie begründet man das entsprechende Vorliegen der Disposition zu essentiellen Eigenschaf­ ten unter dem Vorbehalt, dass die Eigenschaften in der Wesensdefini­ tion selbst nicht enthalten sein dürfen? Sind essentielle Eigenschaften überhaupt dispositionale Eigenschaften? Ich schlage folgenden Lösungsversuch vor: Wenn eine Entität (a) die Disposition zu einer essentiellen Eigenschaft hat, dann ist diese Eigenschaft eine dispositionale essentielle Eigenschaft von (a); sie gehört notwendig zur Essenz von (a), sie stimmt mit den Wesensgründen (nur!) einer bestimmten Spezies notwendig über­ ein.433 Wenn es dispositionale artnotwendige Eigenschaften gibt, sollen diese sowohl wirklich als auch sprachlogisch (univok) allen einer Art zugehörenden Gegenständen zukommen und als Grund­ lage ihrer Artzugehörigkeit (und damit auch der Ähnlichkeitsrela­ tion) identifiziert und beschrieben werden. 434 Die Eigenschaften, die ich zu den dispositionalen essentiellen Eigenschaften zähle, sind univoke Eigenschaften; die vielfältigen potentiellen Eigenschaften sind dagegen analoge Eigenschaften. Wenn man von dem Kriterium der (Un)Veränderlichkeit ausgeht, sind im Gegensatz zu den poten­ tiellen (analogen) Eigenschaften, die im Fall des Verloren-gehens oder Erworben-seins die Substanz nicht verändern, die essentiellen (univoken) Eigenschaften diejenigen, die im Fall der genannten Ver­ änderungen die Substanz der jeweiligen Entität verändern.435 Zusam­ menfassend ist sowohl die (Un)Veränderlichkeit als auch beide Arten der Eigenschaften – potentielle und essentielle – Kriterien für die Ablehnung (im Fall der essentiellen Eigenschaften) oder Bestimmung der (transkategorialen) Ähnlichkeitsrelation (im Fall der potentiellen (analogen) Eigenschaften). Die letzte Variante der Einheit in der Viel­ heit ist immer noch erklärungsbedürftig. Auch wenn der Relationsbe­ griff geeignet ist, Einheit zwischen vielen Trägern zu stiften, so bleibt doch noch die Frage nach der begrifflichen Bestimmung dessen, was Zu den essenziellen Eigenschaften und Modalitäten vgl. Meixner U., Modalität, S. 154 ff. 434 Armstrong D. M., Nominalism and Realism. Universals and Scientific Realism. Bd. 1. London; New York; Melbourne: Cambridge University Press, 1978, S. 61–71, 90–97. 435 Vgl. Meixner U., Modalität, S. 132–173. 433

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Thomas unter Relation versteht. An diese Problemstellung schließt der folgende Abschnitt an.

2.8.2 Relation als Relation und Relation als Eigenschaft Dem Problem (c), das bei der Analyse der Eigenschafen und Ähnlich­ keitsrelationen, um das man nicht umhin kann, begegnet Thomas mit der Unterscheidung zwischen (a) den Relationen, insofern sie Eigenschaften sind, und (b) den Relationen, insofern sie Relationen sind. Die Relationen (a) sind etwas innerlich Beigefügtes und haben in ihrem Träger (in geschaffenen Gegenständen) ein akzidentelles Sein (esse accidentale). Diese Eigenschaften existieren in einem Träger (Substanz) (esse est inesse); das Sein (esse accidentale) kommt einer jeden Gattung von Eigenschaften zu. Die Relationen (b) sind non intrinsecus sed extrinsecus beigefügt, anders gesagt, sie sind ihrem Verhältnis gemäß auf ein Außen (ad aliquod extra) hin geordnet.436 Im Anschluss an die Aufgliederung der Relationen (als Relatio­ nen und als Eigenschaften) geht Thomas auf die Diskussion mit Gilbertus Porretanus ein,437 der die Relation nur als extrinsecus beigefügtes interpretierte. Die Relation (als Eigenschaft), die an der Substanz haftet, wurde von Gilbertus Porretanus nicht akzeptiert. Dies widerspricht der Position Thomas’. Seine Aufgliederung der Relation und die Diskussion mit Porretanus ist der Konkretisierung der Vorstellung von Ähnlichkeitsrelation förderlich. Hier ist darauf aufmerksam zu machen, dass Thomas diese Unterscheidung für die Behandlung der Proportionsanalogie des unius ad alterum einsetzt, da sich die Relation (als Eigenschaft) durch einen Bezugswechsel auf eine andere ontologische Ebene, auf Gott, beziehen lässt. Die Beson­ derheit dieser Analogieart besteht allerdings nicht darin, dass diese Relation die göttliche Wesenheit als etwas unmittelbar Erreichbares vorstellt, sondern darin, dass sie gegenüber anderen (univoken oder äquivoken) Interpretationen des Zugriffs auf Gott folgendes leistet: Die Akzidenzien, die in rebus creatis esse accidentale haben, lassen sich aufgrund der Analogie auf Gott übertragen (transfertur in Deum). S.Th.I, q.28, a.2. Vgl. Schönberger R., Relation als Vergleich, S. 75. Gilbert von Poitiers, The Commentaries on Boethius. Lat.-engl. Comm. N. M. Häring. Pontifical Institute of Mediaeval Studies. In: Studies and Texts, 13. Toronto: Pontifical Inst. of Med. Studies, 1969. 436

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Dadurch erhalten sie einen anderen Status, sie können nämlich als diejenigen aufgefasst werden, die »esse substantiale [habent]«.438 Das Gesagte könnte nun zu einem Missverständnis führen, ist man sich nicht im Klaren darüber, was die analogia unius ad alterum für das Verständnis von Gott bedeutet – schließlich besitzt Gott keine Akzidenzien. Doch, wie aus den Ausführungen in Abschnitt 2.4.2 her­ vorgeht, kann dasjenige von sinnlicher Wahrnehmung ausgehende Erkannte einem anderen, bspw. Gott attribuiert werden, selbst dann, wenn Gott keine Akzidenzien und nur die Relation, besitzt. Diese Relation (als Relation), die immer in Gott ist und sich nicht von seinem Wesen unterscheidet, ist das Sein der göttlichen Wesenheit, nämlich eine relatio realis in Gott.439 Thomas hat hiermit Wesentli­ ches geleistet. Erstens, wie oben schon gesagt, wird die Übertragung der Akzidenzien auf die göttliche Wesenheit ontologisch und episte­ mologisch in der Analogie fundiert. Das besagt, dass die auf diese Weise auf Gott übertragenen Eigenschaften F über keine esse substan­ tiale verfügen; mittels dieser Eigenschaften ist Gott in der wirklichen Welt nicht identifizierbar. Zweitens wird esse substantiale (jedoch anders als bei Akzidenzien in rebus creatis) logisch-semantisch durch die Negation dieser Akzidenzien freigelegt. Diese Relation wird auf etwas hin (ad aliquod) benannt, nichts aber bezeichnet in dieser Benennung das Verhältnis zu der Wesenheit.440 Thomas’ Verfahren führt nicht zum Widerspruch, sondern bereitet die Unterscheidung zwischen dem Sachlichen und dem Gedanklichen vor: Die Relation, die (a) als relatio realis in Gott ist, besagt, dass sie ein und dasselbe mit der göttlichen Wesenheit ist. Sie (relatio realis) unterscheidet sich von der Relation (b) (relatio rationis): diese wird als eine Relation bezeichnet, die auf etwas hingeordnet (ad aliquid) ist. Die Relationen (a) und (b) unterscheiden sich auch darin, dass sich die Relation (b) als eine wesentliche Implikation des etwas Entgegenstehendem (ad suum oppositum) erweist. Der Hinweis auf diese Implikation ist nicht in der Bezeichnung »essentia« gegeben, da die Relation, die das Sein der

438 S.Th.I, q.28, a.2: »Quidquid autem in rebus creatis habet esse accidentale, secun­ dum quod transfertur in Deum, habet esse substantiale […].« 439 S.Th.I, q.28, a.2: »Sic igitur ex ea parte qua relatio in rebus creatis habet esse accidentale in subiecto, relatio realiter existent in Deo habet esse essentiae divinae idem ei existent.« 440 Auf eine logisch-semantische und prädikationslogische Analyse der Frage gehe ich in Kapitel 3 und 4 ein.

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göttlichen Wesenheit ist, nichts anderes sein kann als ein und dasselbe mit dieser Wesenheit.441

2.8.3 Typologie der Ähnlichkeitsrelationen Die Untersuchung der Vielfalt von Akzidenzien bzw. Eigenschaften und ihrer Erkennbarkeit ist nicht bloß extrinsisch durchführbar, son­ dern wird vor allem durch die Übereinstimmung zwischen mehreren Entitäten in der gleichen (intrinsischen) Form und ihren essentiel­ len sowie potentiellen Eigenschaften möglich. Bei dem Versuch, die Übereinstimmung in der Form in rebus creatis herzustellen, erweist sich, wie auch bereits am Beispiel der Form ersichtlich wurde, dass die Arten der Übereinstimmung mannigfaltig (multiplex) sind. Fasst man die wesentlichen Kennzeichen dieser Arten zusammen, wird es möglich, mehrere Ähnlichkeitstypen442 in kurzen Formeln darzu­ stellen. Diese Formeln, die die bisherigen Erörterungen der Eigen­ schaften, Ähnlichkeit und Relationen zusammenfassen, werden bei Thomas grundlegend für die Unterscheidung zwischen Ähnlichkeit und Analogie. Die Ähnlichkeitstypen können demnach wie folgt aufgelistet werden: (a)

Die Gegenstände, die secundum rationem et secundum modum (dem Wesen und der Weise nach) in der Form übereinstimmen, haben die gleiche Eigenschaft F und werden univok genannt (etwa Menschen, die die Eigenschaft »weiß« haben); (b) die Gegenstände, die secundum rationem sed non secundum modum in der Form übereinstimmen, haben die gleiche Eigen­ schaft F, die in verschiedenen Vollkommenheitsgraden (etwa in Bezug auf die weiße Farbe, die mehr oder weniger intensiv sein kann) vorkommt, – auch sie werden ähnlich genannt; (c1) die Gegenstände, die in der Form, aber non secundum rationem übereinstimmen, können nicht zu einer Art gehören, jedoch ähnlich genannt werden (jede Ursache schafft ein ihr Ähnliches und wirkt ihrer Form entsprechend, so kann nach Thomas eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Sonne und dem von ihr Erzeugtem bestimmt werden); 441 442

S.Th.I, q.28, a.2. S.Th.I, q.4, a.3.

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(c2) Gegenstände können auch einer Art angehören, etwa wenn die Ursachen mit ihren Wirkungen in der Form ähnlich sind; in diesem Fall kommen sie auch im Namen und in der Definition überein (Ähnlichkeit in der Form bzw. dem Wesen nach, etwa bei der Zeugung eines Menschen durch einen Menschen); (d) Gegenstände, die ihrer Ursache gemäß nicht zur selben Gattung bzw. Art gehören, können eine geringere Ähnlichkeit aufweisen, jedoch immer noch ähnlich genannt werden. Sie unterscheiden sich von den üblichen Arten der Ähnlichkeit, sodass Thomas hier auf die Weise der Verhältnisgleichheit bzw. Analogie ver­ weist. Stichartig gebe ich nur ergänzende Hinweise zur Typologie der Ähn­ lichkeit an: In (a), (b) und (c2) wird noch einmal auf die Ähnlichkeit zwischen den artangehörigen Gegenständen aufmerksam gemacht, welche aufgrund der Übereinstimmung in der Form die gleiche Eigen­ schaft F haben und univok (quiditativ) genannt werden. Es stellt sich bezüglich dieser drei Typen die Frage, ob einen die naturhaft bedingten Eigenschaften wie die Farbe Weiß zur Festlegung der Artzugehörig­ keit einer ontologischen Entität berechtigt. Schließlich liegen die durch die Eigentümlichkeiten der Materie bedingten (unspezifischen) körperlichen Eigenschaften nicht als die Art bestimmende vor, wie ich bereits erörterte.443 Anders gesagt, die dem Körper zugehörigen Bestimmtheiten (accidentia), da sie nicht dem Wesen angehören, bleiben bei der Abstraktion unbestimmt. In (c1) kann eine Ähnlichkeit nicht zwischen den Artangehö­ rigen, sondern eine aufgrund des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses bestimmt werden; in (a), (b) und (c) erfordern alle ontologischen und epistemologischen Fragen und Lösungen ein Heranziehen der prädikationslogischen Analyse; in (d) handelt es sich um den Ähn­ lichkeitstyp, der nicht durch die Art- oder Gattungsverwandtschaft begrenzt wird. Nur der letzte Ähnlichkeitstyp ist im vollen Sinne analoger Natur; alle anderen Bestimmungen sind Mittel, um den 443 S.Th.I, q.35, a.1. Als Beispiel der (Art-)Ähnlichkeit weist Thomas auf verschie­ dene einer Art angehörenden Tiere hin. Sie sind nach Thomas nicht aufgrund der Farbe zu unterscheiden, sondern erst aufgrund der verschiedenen Gestalten. Die Farbe ist hier kein notwendiges Merkmal der Art. So ist auch bezüglich des gemalten Dinges nicht die Farbe das Kriterium, das Ding zu bestimmen, sondern die Gestalt (figura). Siehe zu dieser Frage auch Maimonides: Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Kap.I.

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Unterschied zwischen bestimmten Ähnlichkeits-Typen und der Ana­ logie herauszukristallisieren.

2.8.4 Analogie versus Ähnlichkeitsrelation Im Anschluss an die Behandlung des Ähnlichkeitstypus (d) stellt sich des Weiteren die Frage, weshalb die Gegenstände, die ihrer Ursache nach nicht zu derselben Gattung bzw. Art gehören, trotzdem (auf die eine oder andere Weise) ähnlich genannt werden. Bei dieser kompli­ zierten (Relations-)Frage sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Vor allem handelt es sich hierbei um die Einheit von akzidentellen, kategorial unterschiedlichen Seienden, die auf vielfältige Weise und in verschiedenen Bedeutungen ausgesagt werden; sie sind ihrer Ursache nach unterschiedlicher ontologischer Herkunft. Die seit Aristoteles diskutierten, ähnlichen Schwierigkeiten, die mit dem Ähnlichkeitstyp (d) auftreten, greift nun Thomas auf.444 Sein Versuch, den Ähnlichkeitstyp (d) auf die Proportionsana­ logie anzuwenden,445 führt zu der unlängst behandelten Frage der Proportionsanalogie (siehe 2.4.1 und 2.4.2) zurück. Es sei kurz auf den Zusammenhang dieses Ähnlichkeitstyps mit den Arten der Proporti­ onsanalogie hingewiesen. Aus dem vorliegenden Ähnlichkeitstyp (d) ergibt sich, dass dieser direkt mit den Analogiearten – analogia duo­ rum ad tertium (im Folgenden bezeichnet als d1) und analogia unius ad alterum (im Folgenden bezeichnet als d2a) in Verbindung tritt. Zu der letzten Analogieart bei Thomas gehört auch das Verhältnis von Gott zur Kreatur (von nun an als d2b bezeichnet). Die Strukturanalyse der analogen Proportionen reicht bekanntlich weiter als die kurze Ausformulierung des Ähnlichkeitstyps. So setzt die Analogieart unius ad alterum voraus, dass Gegenstände aus verschiedenen ontologi­ schen Ebenen in eine gewisse Proportion zueinander gebracht werden können, sodass das Analogon (per posterius der Seinsordnung nach) durch das Analogat (das per prius der Erkenntnisordnung zugänglich ist) begriffen wird. Bei dieser Art der Proportionsanalogie kann das Wissen von unum (esse proprium der res) auf das zu erkennende Andere (ad alterum) übertragen werden; auf der Ebene der Sprache werden beide Gegenstände (Analogon und Analogat) dadurch ver­ knüpft, dass sie mit dem gleichen Namen benannt werden. 444 445

Met.A9, 992b19; G2, 1003a33f.; Θ10, 1051a34–b2; Z1, 1028a10ff. S.Th.I, q.13, a.5.

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Im Fall der Ähnlichkeitstypen (a), (b) und (c) wäre es schwer zu sehen, ob und wie auf eine Gott-Kreatur Relation zu schließen ist. Thomas erfasst den Fall (d) als einen besonderen,446 welcher ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Analogie wirft. Setzt man die Ähnlichkeit der Analogie nicht gleich, wird es möglich, die Relation zwischen Gott und Kreatur von der Ähnlichkeit auf die Analogie auszuweiten: Denn nicht die Ähnlichkeit, sondern die Analogie stiftet die Übertragung der Akzidenzien etwa gut oder weise als Formen der Erkenntnis auf Gott, der nichts als sein Sein und sein Wesen ist. Die Akzidenzien sind die Formen der Erkennt­ nis und auch diejenigen (Akzidenzien) der komplexen Strukturen, da sie auf verschiedenen ontologischen Ebenen verankert sind und von verschiedenen logisch-semantischen Instrumenten wie univoca, aequivoca und analogia in der Prädikation verwaltet werden. Die Ana­ lyse des Relationstyps (d), die zwei Gegenstände aus verschiedenen ontologischen Ebenen wie etwa Gott und Kreatur (d2b) ins Verhältnis zueinander setzt, wird im nächsten Abschnitt fortgeführt.

2.8.5 Von (der) Ähnlichkeit zur Analogie von Gott und Kreatur Die zwei wichtigsten Begriffe für die Deutung des Unterschieds zwischen der Ähnlichkeit und der Analogie und für die Deutung des Relationstypus (d) sind Kausal- und Vollkommenheitsbegriffe. Von der Hintergrund der Arten der Proportionsanalogie – analogia duorum ad tertium (d1) und analogia unius ad alterum (d2a,b) – kann man die Schwierigkeiten, die hier auftreten, diskutieren.447 Wenn die Relata der Relationen das Proportionsverhältnis zu einem Dritten bilden, geht es nach Thomas um zwei Typen der Ursächlichkeit:448 (U1) Die eine ist die ungleichartige Ursache (agens non univo­ cum). Sie ist nicht von gleicher Art wie ihre Wirkungen, sondern gilt als die Gesamtursache (causa universalis). Die Bestimmung der S.Th.I, q.13, a.5. Siehe zur Frage: Schönberger R., Relation als Vergleich, S. 438–442. Zu Thomas Leistungen in dem grösseren Diskussionszusammenhang zwischen dem Realismus und Nominalismus gehören: Fundierung der Grundstruktur der analogen Erkenntnis und Begründung ihrer epistemischen (sowie logisch-semantischen) Relevanz. 448 S.Th.I, q.13, a.5ad1. Thomas unterscheidet auch zwischen den Verwendungswei­ sen vom Begriff Ursache: ontologischer und epistemischer einerseits und sprachlicher bzw. prädikationslogischer Natur andererseits. 446

447

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Ursache (U1) ist auch für den Fall (c1) relevant, da es sich hierbei um Gegenstände handelt, die in der Form übereinstimmen, wenn sie auch nicht zur gleichen Art gehören. Da die Ähnlichkeit von Wirkung und Ursache in der Form gegründet ist, können sie ebenfalls ähnlich genannt werden. (U2) Die andere ist die gleichartige Ursache (agens vero univo­ cum). Sie ist keine alles umfassende Wirkursache für die ganze Art (non est causa agens universalis), sondern die Teilursache bzw. die Ursache bestimmter Einzelwesen (causa particularis). Das agens uni­ vocum gründet die Artzugehörigkeit des bestimmten Einzelwesens, demgemäß sind die Wirkungen mit ihrer Ursache univok. Die Teilur­ sache hingegen kann nicht mit der Gesamtursache univok sein. Nach Thomas gilt, sich auf zwei Arten der Ursächlichkeit zu beschränken, um die Relationen (d1) und (d2) ausführlicher zu behandeln. Wenn man die ungleichartige Ursache (U1) der Relation (d1) und ihrer Relata in ihrer Gebundenheit an die Gesamtursache (causa universa­ lis) zu deuten versucht, interpretiert Thomas dieses Verhältnis auf die Weise, dass die causa universalis mit ihren Wirkungen weder völlig gleichartig (univok) noch völlig ungleichartig (äquivok) ist. Dieser Interpretationsversuch eröffnet prinzipiell eine andere Perspektive auf Erkenntnis im Gegensatz zu der gleichartigen Ursache (U2), da in diesem Fall die grundlegende Relation die Kausalrelation des agens analogum ist. Der Grund einer realen Einheit in der Vielheit im Fall (U1) bleibt die bereits erwähnte Übergeordnetheit der Gesamtursache (causa universalis) den Teilursachen gegenüber. Deutet man diese Kausalrelation als Erkenntnisrelation, werden die zu erkennende Gegenstände zu Einem bzw. zum Ersten hingeordnet. Diese Struktur entspricht den logisch-semantischen Gesetzen der Analogie (siehe Kapitel 4). Am folgenden Beispiel zeigt sich noch einmal Thomas’ Interpre­ tation von der Kausalität in der Diskussion mit den Vertretern der Univokation (Identitätsvorstellung) und den Vertretern der Äquivo­ kation (sie fassen den Fall (d1) und (d2) bloß auf der Ebene der Sprache auf): Folgt man den Vertretern der Univokation, dann sind Gesundheit (G) und Lebewesen (L), sowie Medizin (M) und Urin (U) als univok (nämlich als völlig bedeutungsgleich) zu bestimmen. Die Vertreter der Univokation müssten demnach sagen, dass es weder Lebewesen noch Medizin oder Urin ohne Gesundheit gibt. Wenn es ein Lebewesen ohne Gesundheit nicht gibt, dann heißt das, dass das Lebewesen nicht existiert, falls es die Gesundheit nicht gibt

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(denn Gesundheit wird mit dem Lebewesen identifiziert, also fällt mit diesem zusammen). Die Wesensbestimmung bzw. die Definition von Gesundheit hätte jedoch implizieren sollen, dass das Gesundsein nicht nur eine wesentliche Eigenschaft der Gesundheit ausmacht, sondern gerade mit dem physischen Zustand eines Lebewesens zusammenfällt (d.h. ist diesem identisch bzw. univok). Es würde bedeuten, dass Gesundheit sowohl für Lebewesen als auch für Medizin und Urin eine causa universalis ist. Die Vertreter der Äquivokation postulieren, dass die Eigenschaf­ ten etwa der Gesundheit so beschaffen sind, dass sie nebeneinander völlig ungleich sind und bloß als Wortgleichheit bestimmt werden können. Da es sich bei der Annahme der Äquivokation lediglich um eine denominatio extrinseca handelt, tritt Gesundheit ohne jedwedes reale Verhältnis zu Lebewesen, Medizin und Urin auf. Im Gegensatz zu den zwei vorgestellten Kausalitätsauffassungen versteht Thomas die Einheit zwischen verschiedenen ontologischen und epistemischen Ebenen als analog. Nach Thomas ist dafür ein zusätzliches Prinzip notwendig. Nur dann, wenn das per-prius et perposterius-Prinzip (Prinzip der Analogie) angenommen wird, können die Analogata auf verschiedenen Ebenen bestimmt werden. Im Fall (d1) verhält sich »gesund« zur Gesundheit eines Lebewesens per prius; per posterius verhält sich »gesund« zu verschiedenen Gegenständen, die im proportionalen Verhältnis zu einem Ersten stehen: so ist »gesund« ein Signifikat etwa der Medizin, da diese (als Wissenschaft) die Ursache der Gesundheit eines Lebewesens ist; oder man nennt z.B. Urin »gesund«, insofern er ein Zeichen eines gesunden Körpers ist.449 Mit dem Begriff der Ursächlichkeit definiert man auch die Medizin als Ursache der Gesundheit in (d2). Folglich kann man auf analoge Weise aussagen, dass »gesund« der Erkenntnisordnung nach in der Medizin per prius und im Lebewesen per posterius enthalten ist. Mit der Relationsart (d2), die sich entweder mit der ersten Art von Ursachen (U1) (agens non univocum) verbindet oder der Ursache (U2) (agens univocum) gegenübergestellt wird, setzt Thomas, wie oben gezeigt, die Relation zwischen Gott und Kreatur (d3) gleich. Durch die Anwendung des per-prius et per-posterius-Prinzips der Analogie wird es möglich, die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Relationen (d2a) und (d2b) aufzuzeigen und als Erkenntnisverhältnis zu deuten. Damit tauchen aber wieder alle bereits bekannten Schwie­ 449

S.Th.I, q.13, a.5, a.6.

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rigkeiten auf, da Gott weder in das analoge Verhältnis auf dieselbe Weise einzubeziehen ist, wie Medizin (Ursache der Gesundheit) und Lebewesen in das analoge Verhältnis einbezogen werden, noch die Wesensbestimmung von Gott selbst auf dieselbe Weise wie die Gesundheit bestimmt werden kann. Thomas geht nun davon aus, dass die Relation (d2) zwischen Medizin (causa) und Gesundheit der Lebewesen als Parallelbeispiel auf die Relation (d3) zwischen Gott und Kreatur übertragbar ist; die Relation der Kreatur zu Gott wird dann als ad principium et causa bezeichnet. Das, was in diesem Fall fraglich bleibt, ist die epistemisch-ontologische und signifikative Relevanz des Gemeinsamen bzw. der Akzidenzien, die sowohl auf kreatürliche Gegenstände als auch auf Gott als denominatio extrinseca übertragen werden. Es handelt sich hier nicht einfach um die Akzidenzien, sondern um die Vollkommenheiten (perfectiones), die Gott allein besitzt. Dem menschlichen Intellekt sind aber die Vollkommenheiten nicht zugänglich, er kann diese lediglich auf unvollkommene Weise aus der Erkenntnis der kreatürlichen Gegenstände erlangen. Die Analogie ist das einzige Instrument, um das Wissen von den kreatürlichen Gegenständen, das unter die analogen Prädikate wie »gut« oder »weise« subsumiert wird, auf Gott der Erkenntnisordnung gemäß (per posterius) zu übertragen. Der Ausdruck »gut« soll die Vollkommen­ heit bzw. das transzendentale »Gute« in Gott als Ursache derselben repräsentieren (auf ähnliche Weise verhält es sich bei den anderen Vollkommenheiten). Wenn man aber »gut« als das gemeinsame in Kreatur und Gott erkennt, dann stellt sich die Frage nach den kreatürlichen Gegenständen, die ihrem Wesen und Sein gemäß nicht das Gute als Vollkommenheit besitzen können. Der Kreatur ist es aber – ihrem Wesen und Sein gemäß – nicht möglich, Vollkommenheiten auf die Weise zu besitzen, wie diese in Gott sind.450 In diesem Zusammenhang ist auf den Diskussionskontext zwi­ schen Thomas und den Franziskanern hinzuweisen.451 Diskutiert wird um die Relevanz der Relation (d2b) und die drei bevorzugten Erkenntnisweisen – Univokation, Äquivokation und Analogie. Wenn dieselben Eigenschaften bzw. Akzidenzien sowohl der Kreatur als S.Th.I, q.13, a.5: »[…] signficamus aliquam perfectionem distinctam ab essentia hominis, et a potentia et ab esse ipsius, et ab omibus hujusmodi.« 451 Siehe Thijssen J. M. M. H., John Buridan and Nicholas of Autrecourt on causality and induction. Traditio 43 (1987), S. 237–266. // Scott T. K., Nicholas of Autrecourt, Buridan and Ockhamism. Journal of the History of Philosophy 7 (1969), S. 27–41. 450

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auch Gott zugeschrieben werden und die Zuschreibung durch die Äquivokation oder Univokation gedeutet wird, entspricht diese Vor­ gehensweise nach Thomas keiner wissenschaftlichen Erkenntnis: Im Fall der Äquivokation wäre das ein von der Kreatur und von Gott Erkanntes, dessen Beweisbarkeit bliebe allein an die Sprache gebun­ den; im zweiten Fall der Univokation wäre das gemeinsame auf die zusammengesetzten Gegenstände bezogen und natürlich Erkanntes als vollständiges Wissen aufgefasst. Aus diesem Grund hält Thomas beide Erkenntnismöglichkeiten für unangemessen und bleibt konsequent bei der Analogie. Nur durch sie findet er eine theoretische Lösung der Frage, wie man das Gemeinsame des seinsmäßig unterschiedlichen unter die Ausdrücke wie »gut« oder »wahr« fassen kann und auf Gott als Prinzip und Ursache (ut ad principium et causam) sowie auf kreatürlichen Gegen­ stände anzuwenden ist, auch wenn diese Gegenstände das Gute auf unvollständige Weise besitzen.452 Auf diese Frage kommt Thomas in der Diskussion »Utrum relatio in Deo sit idem quod sua essentia« zurück. In dieser kritisiert er die Ansicht, es sei nötig, nur die Ursächlichkeit in Gott in Betracht zu ziehen, nicht aber sein Wesen zu bestimmen.453 Der Kerngedanke seines Einwandes ist, dass die Relation tatsächlich in Gott besteht und das göttliche Sein mit seinem Wesen gleichzusetzen ist. In dieser Diskussion kristallisiert sich auch die Frage nach den Vollkommenhei­ ten heraus: Das Gute, das als Vollkommenheit im göttlichen Wesen existiert, ist von dem vom Intellekt erkannten kreatürlichen Guten zu unterscheiden. Für diese Unterscheidung führt er zwei Thesen an: (a) Die epistemische These besagt: der Name sagt per prius etwas über die Kreatur, nicht aber über Gott aus. Auch wenn Gott die Ursache des Guten in der Kreatur ist, ist das zuerst Erkannte gerade das kreatürliche Gute.454 (b) Die ontologische These besagt, dass die (Vollkommen­ heits-)Namen wie das »Gute« der Seinsordnung nach per prius 452 S.Th.I, q.13, a.5, a.6. In diesem Zusammenhang diskutiert er weiter die These von Dionysius Areopagita – »Deum ex creaturis nominamus«. Er klärt, warum und wann analoge Namen per prius von der Kreatur ausgesagt werden und dann eher von der Kreatur als von Gott gelten. Vgl. Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, I, § 5, 115; I, § 6, 119. 453 S.Th.I, q.13, a.6: »Sed supra ostensum est quod hujusmodi nomina non solum dicuntur de Deo causaliter, sed etiam essentialiter.« S.Th.I, q.28, a.2ad3. 454 S.Th.I, q.13, a.6.

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2.8 Divisio des Einen und Problematik des Einen und der Vielheit

von Gott und nur per posterius von der Kreatur ausgesagt werden, da die Kreatur ihrem Wesen und Sein nach nicht die Vollkom­ menheiten besitzt (diese können der Kreatur erst von Gott gege­ ben werden). Die ontologischen und epistemischen Thesen liegen bei Thomas zusammen mit der inklusiven Analogie (gemeint sind wissenschaft­ lich akzeptable analoge Aussagen) vor. Der Erkenntnisordnung nach können Vollkommenheiten, die Gott besitzt, nur mittelbar von natür­ lichen Wirkungen (etwa Eigenschaften) erkannt werden, auch wenn dies lediglich auf defiziente Weise möglich ist. Deshalb gibt es strenge Wahrheitsbeweise über Gott, die direkt zur Wahrheit führen, nicht.455 Denn die göttlichen Vollkommenheiten, die in Gott (der ejus essentia ist) als einziger einfachen Ursache in voller Einheit und Einfachheit gegeben sind, können von dem menschlichen Intellekt nicht unmit­ telbar erfasst werden. Diese perfectiones, die in kreatürlichen Gegen­ ständen ontologisch und epistemisch auf vielfältige Weise enthalten sind, entsprechen den mannigfachen und vielfältigen Begriffen des menschlichen Verstandes (ita variis et multiplicibus conceptionibus intellectus nostri).456 Demnach bleibt unsere Erkenntnis immer kon­ tingent und mangelhaft. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob ein derartiger Weg als leistungsfähiger Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt anerkannt werden kann?

2.8.6 Fazit Die Analogie nimmt im Vergleich mit der Ähnlichkeit eine Sonder­ stellung innerhalb der epistemischen und ontologischen Einheit ein. Es gibt verschiedene Einheits-Strukturen: Analogata können mit ihrem Analogon in diesen Strukturen völlig gleichartig (univok), völlig ungleichartig (äquivok) oder weder völlig gleichartig noch völlig ungleichartig sein; sie können nicht nur aufgrund des Wesens (wie bei der Arteinheit), sondern auch aufgrund der Akzidenzien und der Ursächlichkeit bestimmt werden. Die Erkenntnis Gottes, die auf direkte Weise nicht möglich ist, kann in der Vielfalt von Akzidenzien und Ähnlichkeiten durchaus in rebus creatis bestimmt werden, wohin 455 456

S.Th.I, q.13, a.5. S.Th.I, q.13, a.4.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

gegen sich die Erkenntnisprobleme nur durch die Analogie entschlüs­ seln lassen. In den Fällen der Relation von (d2a) und (d2b) ermöglicht es die Analogie das Wissen von göttlichen Vollkommenheiten, die getrennt und vielfältig in kreatürlichen Gegenständen existieren, zu erwerben, und per prius auf die kreatürlichen Gegenstände und per posterius auf Gott im logisch-semantischen Sinn anzuwenden. Wird das Gutsein der Kreatur epistemisch und logisch-semantisch auf Gott übertragen, darf diese Übertragung nicht als univok bezeichnet werden. Den durch die Univozität fundierten Zugang zu dieser Frage fasst Thomas als falsch auf. Wenn aber die Vollkommenheiten wie das Gute nicht als die perfekten Qualitäten ursprünglich in Gott vorhanden wären, sondern bloß so, wie sie der Kreatur zukommen und wie der Intellekt diese erkennt, dann gäbe es keinen Grund mehr herauszufinden, wie die notwendig vollkommene Einheit Gottes auf der ontologischen Ebene bewiesen werden könnte. Der Fall (d2b) enthält deshalb beide Aspekte: Einerseits richtet sich die Intention des Denkens auf das transzendental bestimmte Eine in seiner Einheit und Einfachheit (unus re), nämlich auf die in voller Einheit grundsätzlich in Gott zu findenden Vollkommenheiten, die nur indirekt erkennbar sind (der direkte Zugang wird nicht im Kontext der theologischen Analogie behandelt); andererseits erkennt der Verstand diese Einheit auf vielfache Weise (multipliciter), nämlich so, wie die geschaffenen Entitäten Gott auf vielfache Weise repräsentieren (sicut res multi­ pliciter ipsum repraesentant).457 Diesen entspricht die Vielfalt der Verstandesbegriffe im Erkennen. Die Untersuchung jener Vielfalt von Akzidenzien und ihrer Erkennbarkeit ist nicht bloß extrinsisch, sondern wird vor allem durch die Übereinstimmung zwischen zwei oder mehreren Entitäten in der gleichen (intrinsischen) Form versucht. Die Form, die für die onto­ logische und epistemische Übereinstimmung bzw. Unterscheidung steht, wird für die Klärung des Problems »Utrum aliqua creatura possit esse similis Deo« herangezogen: Die Form wird dort, wo zwei oder mehrere Entitäten in Relation mit der gleichen Akzidens stehen, als Grund der Ähnlichkeitsrelation bestimmt. Die Form als epistemische Form ermöglicht die Erkenntnis mithilfe der Vielheit der (Eigen­ schafts-)Begriffe (plures secundum rationem), sodass der Verstand 457

S.Th.I, q.13, a.4ad3.

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

auf vielfache Weise den Übergang zur vollkommenen Einheit und Einfachheit in Gott vollziehen kann. Die Analogie tritt in den Vordergrund, wenn die Einheits-Struk­ turen durch die Eigenschaften bestimmt werden. Die analoge Aus­ druckweise ermöglicht es, die (Zuordnungs-)Relation der Kreatur zur Ursache in geordnete Bahnen zu bringen: Da die Gesamtursa­ chen aus den (zugeordneten) Teilursachen und die vollkommene Einheit Gottes aus der (zugeordneten) kreatürlichen Vielheit erkannt werden, können analoge Aussagen als relevante wissenschaftliche und theologische Aussagen konzeptualisiert werden. Die Analogie, die zusammen mit zwei anderen Strategien – der Univokation und Äquivokation – auftritt, wird entsprechend durch epistemische und logisch-semantische Strategien instrumentalisiert. Diese Strategie ermöglicht es, die Namen wie »gut«, »wahr«, »weise« mehreren Entitäten auf verschiedenen ontologischen Ebenen beizugeben: per prius auf kreatürliche Gegenstände, da diese zuerst erkannt und entsprechend der Bezeichnungsweise benannt werden, und per pos­ terius auf Unbekanntes, Gott, angewandt. Die Art und Weise der Bezeichnung (modus significandi) bezieht sich auf eine spezielle Frage, die die epistemischen Ergebnisse durch die Befunde der Semantik und Prädikationslogik ergänzt und die Seinsdifferenzen mittels der prädikamentalen Analogie erörtert (auf diese Frage kommen wir in Kapiteln 3 und 4 wieder zurück).

2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit Ich gehe nun auf den zweiten Fall der Frage von Einheit und Vielheit ein, bei dem die Teilbarkeit des Seienden und der philosophischmathematische Begriff der Zahl in den Vordergrund tritt. Auf diesen Aspekt der Teilung des Seienden kommt man notwendigerweise zu sprechen, da die philosophisch-mathematischen Vorstellungen sowohl explizit als auch implizit ein Bestandteil der Analogie-Fra­ gen sind. Fragt man beispielsweise, was Thomas mit der Kritik an Avicennas quantifizierender Auffassung des Seienden auszurichten versucht,458 ist festzustellen, dass Thomas zwischen den metaphy­ sischen bzw. ontologischen Vorstellungen vom Seienden und den 458

Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele, III, Kap.II, S. 154 ff.; Kap.III, S. 164 f.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

mathematischen Vorstellungen des Seienden bei Avicenna differen­ zieren will. Avicennas Auffassung, dass das Eine bzw. die Eins dem Wesen des Seienden neue sachliche Bestimmtheiten hinzufügt und folglich die Verschiedenheit der Art nach hervorruft, bestimmt Thomas als nicht zutreffend. Im Gegensatz dazu ordnet er diese Auffassung zunächst als eine zahlentheoretische Frage ein:459 Fügt das Eine zum Seienden etwas hinzu, ist die Vielheit nur der Zahl nach zu erörtern oder ist das Eine als Prinzip der Zahl zu fassen?460 Einer der Aspekte dieser Diskussion bezieht sich direkt auf das Analogieverständnis bei Thomas:461 Der Analogiebegriff kann nicht von der griechischen Mathematik losgelöst werden. Der Analogie­ begriff der Griechen, der eine enge Verbindung mit der mathemati­ schen Proportion und Proportionalität und den darin enthaltenen Zahlenverhältnisse aufweist,462 gelangt über die arabisch-jüdische Philosophie zur Kenntnis der Scholastiker.463 Auf die Schwierigkeiten S.Th.I, q.76, a.4; q.85, a.7. In Met.IV, lect.2,10, n.560. 461 S.Th.I, q.31, a.1ad3. // Boethii, De institutione arithmetica libri duo. E libris manu scriptis ed. by G. Fiedlein. Lipsiae: Teubner, 1867, (Nachdruck) Frankfurt am Main: Saamer, 1966, II, 2, S. 80–83; 37, S. 133–135; 40–43, S. 137–144. // Magistri Petri Lombardi Parisiensis Episcopi Sententiae in IV Libris distinctae. Ed. tertia. Ed. Collegi S. Bonaventurae ad Claras Aquas. Roma: Grottaferrata, 1971, T. I, p.2, lib.1, 2. // Ammonius, Commentaire sur le Peri Hermeneias d’Aristote. Traduction de Guillaume de Moerbeke. Ed. critique et étude sur l’utilisation du Commentaire dans l’ceuvre de Saint Thomas par G. Verbeke. Louvain: Universitaires de Louvain, 1961, XI-LXVII; cap.1, B.25, 9–14 (S. 49); cap.5, B.67, 71–76 (S. 128–129); cap.7, B.111, 1–5 (S. 211– 212); cap.12, B.227, 29–36 (S. 408); cap.12, B.229, 95–100 (S. 411). Thomas’ Einsicht stimmt vor allem mit dem eudoxisch-aristotelisch-euklidischen Verständnis der mathematischen Proportion überein. Aus diesen Grundlagen weist er etwa auf Boe­ thius Arithmetica und De Trinitate, De misterio Trinitatis (Sent. I) des Petrus Lombardus und auf Ammonius hin und diskutiert mitunter Positionen arabischer Denker wie Avicenna und al-Gazālī. 462 Eine der Interpretationen geht auf Platon zurück. Diese besagt, dass Platon die Analogie benötigte, um alle Gegensätze, die bei der Beschreibung der Welt als universaler Harmonie durch die Proportions- bzw. Zahlenverhältnisse entstanden, zu harmonisieren. 463 Busard H. L. L., The Translation of the Elements of Euclid from the Arabic into Latin by Hermann of Corinthia. Leiden: Brill, 1968. Nicht nur im 13., sondern auch im 14. Jahrhundert wird die Proportionstheorie insbesondere von Naturphilosophen weiterentwickelt und differenziert ausgearbeitet. Es handelt sich dabei um ein geo­ metrisches (auf Alkindi zurückgehendes) und arithmetisches (auf Averroes zurück­ gehendes) Proportionsverständnis. Averroes, In De Anima I, comm. 17, 27–34, S. 25; In De Anima III, comm. 32, 15–28, S. 472–473. 459

460

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

der Frage nach dem Zusammenhang des Analogiebegriffs mit der Mathematik verweisen bereits heftige von Scholastikern geführte Diskussionen,464 die bis heute mit keinem Konsens über die Genese des Proportions- bzw. Analogiebegriffs beendet worden sind.465 Ich teile diesbezüglich die Meinung der Interpreten, die die Anfänge der Analogie im mathematischen Proportionsbegriff sehen.466 Diese Interpreten nehmen an, dass der Analogiebegriff neben dem Begriff der Proportion und Proportionalität bzw. Zahlenproportionen in der Philosophie eingeführt und für diese nutzbar gemacht wurde.467 Wie 464 Diskutiert wird der Zusammenhang von Analogiebegriff und Mathematik bzw. Philosophie der Mathematik, oder im allgemeinen Sinne um Wissenschaften als Sys­ tem, deren Entwicklung auf die Antike zurückgeht, aber wesentlichen Einfluss auch von arabischen Wissenschaftsauffassungen (z.B. Struktur und Einteilung von Fächern) aufweist. Nach Avicenna und al-Gazālī wird Mathematik unterhalb der Phi­ losophie angesiedelt und als philosophische Wissenschaft neben der Logik, Meta­ physik, Ethik und Naturwissenschaft als Instrument des Glaubens geltend gemacht. In der Mathematik (zusammen mit der Logik) wurden die Vorbedingungen für die Klarheit der Metaphysik gesehen. Der Intellekt sorgt nach Ansicht arabischer Wis­ senschaftler nicht nur für eine reale Verbindung zwischen allen Wissenschaften, son­ dern ist auch die notwendige Grundlage der Religion. Siehe Al-Gazālī, Allāh al-ḥusnā. In: Burell D. B., Daher N. (Eds.), The ninety-nine Beautiful Names of God: al-Maqṣad al-Asnā fī Sharḥ Asmā Allāh al-ḥusnā. Cambridge: The Islamic Texts Society, 1992. // Walther M., Die Haltung al-Gazālīs zur Wissenschaft. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Philosophie und Religion im mittelalterlichen Islam. In: Krieger G. (Hrsg.), Herausforderung durch Religion? Begegnung der Philosophie mit Religionen im Mittelalter und Renaissance. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 54– 70. 465 Die Diskussionen um die Anfänge der griechischen Mathematik drehen sich grundsätzlich um zwei Positionen: die eine vertritt Szabó, der die Anfänge der grie­ chischen Mathematik in der eleatischen Philosophie sieht, und Waschkies, der die Herkunft der eleatischen Philosophie aus dem Alten Orient herleitet. Waschkies ist der Meinung, dass die Spuren der deduktiven Methode der griechischen Mathematik im Alten Orient zu suchen sind, und kommt zu der Feststellung, dass eine Weiter­ entwicklung des geometrischen Wissens aus dem Orient in der griechischen Mathe­ matik zu einer logisch-(axiomatisch)-deduktiven Theorie führte. Siehe Waschkies H.J., Anfänge der Arithmetik im alten Orient und bei der Griechen. Amsterdam: Grüner, 1989, S. 14–29. // Szabó A., Ein Beleg für die voreudoxische Proportionenlehre, S. 158. 466 Vgl. Flannery K. L., Ways into the Logic of Alexander of Aphrodisias. Leiden [u.a.]: Brill, 1995. // Beth E. W., Mathematical Thought. An Introduction to the Phi­ losophy of Mathematics. Dordrecht: D. Reidel Publishing Company, 1963, S. 102–115. 467 Physik Z1, 231a21–b18. / Met.Δ6, 1015b36–1016a2. Die in der griechischen Tra­ dition behandelten Fragen der Proportion, die offensichtlich auf Eudoxos von Knidos zurückgehen, hat Aristoteles kennengelernt und in seiner Theorie des Kontinuums (synexés) aufgegriffen. Zu Proportion und Kontinuum in der aristotelischen Physik

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

genau diese Einführung der Analogie neben (oder anstelle) der Pro­ portion stattfindet, wird aus ontologischen, erkenntnistheoretischen und theologischen Argumenten ersichtlich. Die Analogie steht in unmittelbarer Beziehung zu den ontologi­ schen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen mathematischer und ontologischer Phänomene, bei denen sich vor allem die Frage nach dem Einen und der Vielheit stellt. Wenn man beispielsweise von der arché in der griechischen Mathematik (Pythagoras, Eudoxos, Platon, Aristoteles, Euklid) spricht,468 stellt sich nach Thomas die Frage, ob Eins bzw. Eines wirklich zu den Zahlen zu rechnen ist und welche Bedeutung diese hat. Unter dem Begriff Eines kann erstens die Zahl verstanden werden, die von dem ontologischen Einen nicht unterschieden wird. Damit wird die Eigentümlichkeit jedes Seienden als solches bezeichnet, damit es erst gegenüber der unbestimmten Masse von Gegenständen oder Teilen eines Ganzen bestimmt wird.469 Unter dem Begriff Eines kann zweitens auch die Zahl als ein rein mathematischer Begriff verstanden werden. Schon diese zweideutige Bestimmung des Begriffs Eines bringt Probleme von Einheit und Vielheit mit sich. Welche Richtung Thomas selbst bei der Behandlung der mathematischen und ontologischen Phänomene einschlägt, wenn er die die Analogie einbeziehenden Begriffe wie »Eins«, »Eine«, »Zahl«, »Proportion«, »Proportionalität«, »Teil, »Ganzes« und die zahlentheoretische Verhältnisgleichheit ins Zentrum seines erkennt­ nistheoretischen Interesses rückt, wird im Folgenden zu sehen sein.

vgl. Wieland W., Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aris­ toteles. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, (3), 1992, S. 278–316. // Waschkies H.J., Von Eudoxos zu Aristoteles. Das Fortwirken der Eudoxischen Proportionstheorie in der Aristotelischen Lehre von Kontinuum. Amsterdam: Grüner, 1977. 468 Physik Δ12, 220a27–30. / Met.Ν1, 1088a3–8. Die lange Transformationsge­ schichte mathematischer Begriffe geht auf die Grundfragen zurück, was die Zahl ist, und ob Eins bzw. Eines überhaupt eine Zahl ist. Diese Geschichte verläuft von der klassischen Antike und der neuplatonischen Metaphysik, Epistemologie und Sprach­ philosophie über die scholastische Metaphysik, Epistemologie und Sprachphilosophie bis zu den naturwissenschaftlichen Denkmethoden der Humanisten der Renaissance. 469 Vgl. Becker O., Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene. Tübingen: Niemeyer, 1973, S. 275.

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

2.9.1 Die Eins, das Eine und die Analogie Zu den Diskussionen um das Eine (welches keine Zahl ist und keine Akzidenzien besitzt) und um das numerisch Eine (welches nun eine Zahl ist und auch besondere Akzidenzien etwa Geradheit besitzt oder eine von den Eigenschaften abstrahierte numerische Entität bildet)470 werde ich lediglich einen Einblick in das übergeordnete Problem von Einheit bzw. Einem und Vielheit geben. Zunächst wende ich mich der auf Aristoteles zurückgehenden Frage nach der Unter­ scheidung zwischen mathematischen und ontologischen Prinzipien – dem Quantitativem und dem Qualitativem – zu.471 Insofern diese Unterscheidung in einer spezielleren Form der Unterscheidung zwi­ schen ontologischer und mathematischer Begrifflichkeit feststellbar ist, wird es auch möglich, die Bedeutung und Relevanz der Mathema­ tik und Analogie im philosophischen System sowohl des Aristoteles als auch des Thomas zu verorten. In seiner mathematisch-philosophischen Beschäftigung mit dem Begriff des Einen geht Thomas von den aristotelischen Einwänden gegenüber Pythagoras und der pythagoreischen Zahlentheorie aus,472 indem er die Auffassungen des Einen bei Platon473 und Pythagoras Met.Γ2, 1004b5–17. Met.M2, 1077b12–14. Die Beschäftigung mit Problemen des Quantitativen und Qualitativen bei Aristoteles kann mit folgendem Satz zusammengefasst werden: Mathematische Gegenstände (wie Zahlen, Linien) sind keine Wesen wie die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände. Auch wenn sie Sein haben, bestehen sie jedoch nicht früher als sinnliche extramentale Gegenstände (sie sind früher nur im Erkennen dem Begriff nach, also im epistemologischen Sinn). Diesen Grundsatz entwickelt Aristote­ les zum Konzept, dass mathematische Gegenstände wie Zahlen nicht selbstständig und abgetrennt von dem Sinnlichen existieren. 472 Met.A4, 985b23–26; Met.A5, 985b23–986b8; 987a2–28. / Physik Γ4, 203a4– 33; 5, 204a32–34. Vgl. zur Pythagoras: Stanley T., Pythagoras: his Life and Teachings. A compendium of classical sources (1687). Preface by M. P. Hall, Introduction by H. L. Drake, Ed. by J. Wasserman; with a study of Greek and Latin sources by J. D. Gun­ ther. Lake Worth, Flo.: IBIS Press, 2010, S. 143–145. Die Annahmen der Pythagoreer, dass erstens die Prinzipien der Mathematik die Prinzipien aller Seienden ausmachen, dass zweitens die Zahlen der Natur nach das Erste sind und dass drittens das Wesen der Dinge aus dem Begrenzten und Unbegrenzten gebildet ist und von den Zahlen repräsentiert wird, stellen nach Aristoteles einen Irrtum dar. Er kritisiert die phytagoreische Deutung der Zahlen als Prinzip der Substanz, der Eigenschaften oder der Zustände (etwa Gerade und Ungerade, Begrenzte und Unbegrenzte) der Dinge. 473 Zum Problem der Generierung der Zahlen in der platonischen Philosophie der Mathematik siehe: Hösle V., Zu Platons Philosophie der Zahlen und deren mathe­ 470

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

kritisiert. Sowohl die antike mathematisch-philosophische Zahlen­ theorie als auch ihre Kritik ist hier repräsentativ, da sie wichtige Begrifflichkeiten einbezieht.474 Eine der Kernaussagen dieser Kritik ist, dass die Bedeutung von dem Einen, das eigentlich die Ausdrucks­ möglichkeit der Ungeteiltheit des Wesens des Seienden darstellt, von Platon und Pythagoras auf die Eins übertragen wird.475 Die Eins ist jedoch nach Thomas das Prinzip der Zahl und gehört als solches zum Quantitativen.476 Damit unterscheidet er mit aller Stringenz: wenn es sich um das transzendentale Eine handelt, dann ist es ein unum quod convertitur cum ente; handelt es sich aber um die Eins, dann ist sie auch ein unum quod principium numeri.477 Sobald man die Bedeutungen des Einen verwechselt, treten nach Thomas falsche Annahmen und Interpretationen auf. Auch die weitere Annahme, matischer und philosophischer Bedeutung. In: Ders., Platon interpretieren. Pader­ born: Schöningh, 2004, S. 107–145. // Vgl. Rochol H., Der allgemeine Begriff in Platons Dialog Parmenides. Erörterung eines Einwandes gegen den Platonismus. Mei­ senheim am Glan: Hein, 1975, S. 70–97. // Elders L. J., Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, S. 175 ff. 474 Siehe Bedürftig T., Murawski R., Philosophie der Mathematik. Berlin; Boston: De Gruyter, (2) 2012. // Wolfson H. A., The Classification of Sciences in Mediaeval Jew­ ish Philosophy. In: Studies in the History of Philosophy and Religion. Bd. 1. Ed. I. Twersky and G. H. Williams. Cambridge; Mass.: Harvard Univ. Press, 1973, S. 493– 545. // Juschkewitsch A. P., Geschichte der Mathematik im Mittelalter. Basel: PfalzVerlag, 1964, S. 175–325. // Wright W., A short history of Syriac literature. London: Black, 1894. // Prantl C., Geschichte der Logik im Abendlande. Bd. 2. Leipzig: Hirzel, 1885. 475 Nach Pythagoras entstehen die Zahlen aus dem ersten Eins, das ein sinnliches, atmendes Wesen darstellt. Im Gegensatz zu Plotin, der die Eins (im Nous) als den Anfang der Zahlen auffasst, wobei Eins nicht in die Zahlen selbst eingeht und diese früher als Wesenheiten der Welt und Glieder der geistigen Welt existieren, können die Zahlen nach Pythagoras als natürliche, physische Quellen betrachtet werden. Beide, Pythagoras und Plotin, sind der Auffassung, dass die Zahlenordnung insgesamt den Grund der Natur ausmacht. Nach Pythagoras fasst die menschliche Seele die Zahlenharmonien, die der Natur immanent sind. Aristoteles’ Kritik an der pythagoreischen Lehre ist vor allem gegen die Gleichsetzung von Dingen und Zahlen gerichtet. Platon wird von Aristoteles dafür kritisiert, dass er nicht nur Dinge, sondern auch Ideen den Zahlen gleichsetzt. Siehe Stanley T., Pythagoras. // Plotin, The Enneads. Transl. by St. MacKenna. 2. Ed., rev. by B. S. Page a fareword by E. R. Dodds and an introd. by P. Heney. London: Faber & Faber, 1956, VI. / Tornau Ch., Plotin. Enneaden, VI 4–5 (22–23), Kommentar. Stuttgart; Leipzig: Teubner, 1998. 476 S.Th.I, q.11, a.1ad1: »Sic igitur dicendum est quod unum quod convertitur cum ente, non addit rem aliquam supra ens: sed unum quod est principium numeri, addit aliquid supra ens, ad genus quantitatis pertinens.« 477 S.Th.I, q.11, a.1ad1.

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

dass die Zahl, die aus unendlich vielen Einheiten zusammengesetzt ist, das Wesen der Dinge ausmacht, führt Thomas zufolge zu einem Missverständnis. Was es bedeuten kann, dass die Zahlen das Wesen der Dinge ausmachen, ist schon bei Aristoteles bestimmt worden: Zahlen müssten dann als abgetrennte Wesen früher als Einzeldinge existieren, was aber unmöglich ist.478 An dieser Stelle kehre ich zu Thomas’ Hinweis auf Avicenna zurück, um seine Einwände gegen die avicennianische Konzeption des Einen in nuce zu erläutern.479 Avicenna hat, so Thomas’ Einwand, die Bedeutung von der Eins (die Thomas als Prinzip der Zahl definiert) auf das Eine übergetragen: Das Eine wäre somit gerade das erste Prinzip der Zahl. Avicenna nimmt an, so besagt es der kritische Einwand weiter, dass das Eine (sowie die Eins) zum Wesen des Seienden etwas hinzufügen kann und zwar auf ähnliche Weise wie das Weiß-Sein zum Wesen des Menschen etwas hinzufügt.480 Was eine derartige Vorstellung von Hinzufügung im mathematischen und onto­ logischen Sinne bei Avicenna bedeutet, veranschaulicht die weitere Kritik Thomas’: Avicenna versteht unter dem Einen in ontologischer Hinsicht dasjenige, dem die Einheit als Akzidens zukommt. Welcher Art ist aber diese Einheit? Aus ihr entsteht nach Avicenna die Zahlen, sie sind nichts anderes als Akzidenzien. Das Eine bzw. die Einheit, die mit dem Seienden zusammenfällt, kann nach Avicenna etwas zum Wesen des Seienden hinzufügen. Denn jede Einheit, die als bestimmte Natur aufgefasst wird, ist selbstständig, also nicht notwendig in einem Ding vorhanden. Diese Einheit unterscheidet sich von dem Wesen des Dinges, beispielsweise unterscheidet sich die Einheit des Wassers oder die Einheit des Menschen vom Wasser oder vom Menschen selbst.481 Die genannten alternativen Erklärungsansätze (Pythagoras – Platon – Avicenna) zum Verstehen des Begriffs des Einen bzw. der Einheit, sind nach Thomas durch unklare begriffliche Grenzen bestimmt. Bei der Deutung der Begriffe des Einen und der Eins 478 S.Th.I, q.11, a.1ad1. // Met.Δ6, 1016b17–19; Met.M6, 1080b614–16. Thomas, zusammen mit Aristoteles, kritisiert die Ansichten einiger Denker, die behaupten, dass die Zahlen »abtrennbare Wesen und die ersten Ursachen des Seienden« sind oder »die mathematische Zahl als das Erste von allen Seienden abgetrennt von den sinnlichen Dingen« existiert und die Ideen nichts als allgemeine Zahlen sind. 479 Avicenna, Metaphysik, III, cap.2, cap.3. 480 S.Th.I, q.11, a.2. 481 Avicenna, Metaphysik, II, cap.3; III, cap.1–7.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

ist nach Thomas vor allem auf mathematische und ontologische Prinzipien zu achten. Die Eins als Prinzip der Zahl ist der zahlenmä­ ßigen Vielheit entgegengesetzt, wie das Maß dem Gemessenen; das transkategoriale Eine aber, das mit dem Seienden zusammenfällt, steht der Vielheit entgegen, so wie das Ungeteilte dem Geteilten.482 Die Unterscheidung zwischen diesen Prinzipien erläutert die primäre Relation von Einem und der Vielheit sowie ihrer Entgegensetzung. Was aber ist es, dass es so schwer macht, das Eine, die Eins und die Vielheit auf ihre Prinzipien zurückführen zu können? Nach Thomas ist es zunächst die fehlende klare Unterscheidung zwischen dem Mathematischen und Ontologischen, zwischen dem Bezug auf das ontologische Eine und dem Bezug auf den Zahlbegriff Eins. Trifft man diese Unterscheidung nicht, wird auch nicht klar, welches Problem etwa durch Hinzufügung bei Avicenna auftritt und worauf sich die diesbezügliche Kritik von Thomas bezieht. Um die vorgeführte Problematik vollständiger und begrifflich differenzierter darzustellen, zieht Thomas das aristotelische Zahlver­ ständnis, den Analogiebegriff und die Art-Definition heran. Die ArtDefinition von Aristoteles lautet wie folgt: Das von einem Erkenntnis­ gegenstand erkannte Was-Sein (Essenz) des Einzelnen, das in einer Definition erfasst und durch sie ausgedrückt wird, ist in dieser Form (als Was-Sein) das Allgemeine. Das ist die Form, in welcher ein jedes Einzelding erkannt wird. Sie kommt in einer Definition der Art bzw. als artbildende, spezifische Differenz (letzter Wesensunterschied der Arten) in einer Gattung vor. Aristoteles bestimmt diese in einer der Art-Definition enthaltenen Form in Analogie zu der Zahl.483 Warum ist dieser Vergleich zwischen Zahlen und Definitionen der Arten mit der Heranziehung der Analogie für Thomas bedeutsam? Sieht er in diesem Vergleich den Schlüssel für die Lösung dieses Pro­ blems? Was ist die Rolle der Analogie in diesem Vergleichs-Kontext? Offensichtlich sieht Thomas im aristotelischen Ansatz die Grundlage nicht nur für die theoretische Unterscheidung zwischen dem Mathe­ matischen und Ontologischen, sondern auch für das sonst schwer begreifbare hylemorphische Problem. Diese Vermutung wird durch folgende Schritte von Thomas bestätigt. Um sich zu überzeugen, dass die Wesensformen und die sie bezeichnenden Art-Definitionen S.Th.I, q.11, a.2. Met.H2, 1043a5–1043b4; H3, 1043b32–1044a4; M7, 1081b12 f.; M10, 1086b22 f. // S.Th.I, q.5, a.5; q.76, a.1; a.2ad1; a.3; a.4ad4.

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

den Zahlen wirklich ähnlich bzw. analog sind,484 schickt Thomas zwei zusätzliche Begriffe voraus: additio und subtractio. Diese brin­ gen zunächst folgende Differenzierung mit: zwischen (a) Zahlen, die durch das Zuzählen (additio) oder Abziehen (subtractio) einer Einheit verändert werden, und (b) den Definitionen der Art, bei denen jeder Artunterschied hinzugefügt oder abgezogen werden kann.485 Die Unterscheidung zwischen Zahlen und Art-Definitionen sowie der herangezogenen Addition und Subtraktion bereitet für sich genommen noch keine besonderen Schwierigkeiten. Doch liegt die eigentliche Problematik der aristotelischen Analogie für Thomas nicht so sehr in dieser Unterscheidung selbst, sondern bezieht sich vielmehr auf den Veränderungsbegriff. Im nächsten Schritt wendet sich Thomas der Diskussion um die Veränderungsweisen zu. Abgesehen davon, welche Hintergründe für das Veränderungsproblem relevant sind, bringt Thomas mehrere Aspekte vor, die den aristotelischen Vergleich zwischen der Art-Defi­ nition, der Zahl und der Analogie verorten. In den folgenden Thesen fasst Thomas einige problematische Positionen zusammen, die er aus unterschiedlichen Denktraditionen kennt und in denen das Verände­ rungsproblem samt Artdefinition, die in der Analogie mit den Zahlen behandelt wird, vorkommen: (1) durch additio oder subtractio können mehrere, der Zahl nach verschiedene, Dinge eine gemeinsame Form haben (hier ist es angemessen, auch von der Vervielfältigung eines Dinges zu spre­ chen);486 (2) durch additio kann nicht nur eine einzige substantielle Form mit dem Körper verbunden werden (Avicenna);487 (3) in einem Körper können mehrere, den Organen nach verschie­ dene, Seelen innewohnen, die hinzugefügt oder entfernt werden können (Platon);488 484 C.G.I, 54: »[…] formae et definitiones rerum, quae eas significant, sunt similes numeris.« / S.Th.I, q.5, a.5. Die den Einzeldingen immanente Wesenheit, die durch die umfassende Definition des Artprinzips bezeichnet wird, ist die Wesensform selbst. Thomas vergleicht also die Zahl mit der durch die Art-Definition bezeichneten Wesensform, die die artspezifische Differenz bestimmt. 485 S.Th.I, q.5, a.5: »[…] sicut enim in numeris unitas addita vel subtracta variat species numeri […].« 486 S.Th.I, q.76, a.2; a.2ad1. 487 S.Th.I, q.76, a.4. 488 S.Th.I, q.76, a.3.

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(4) es kann nur eine Form geben, wodurch man etwa ein Lebewesen oder ein Mensch ist.489 Zu These (1): An folgendem Beispiel stellt Thomas die Problematik dieser ersten These dar: Wenn es zwei Menschen mit einem gemein­ samen Verstandesvermögen gäbe, dann würde dies bedeuten, dass sie ein gemeinsames Auge besäßen und einen gemeinsamen Sehvor­ gang absolvieren würden. Das Beispiel beleuchtet den ontologischen Hintergrund des Problems: Die Veränderungen, die durch additio oder subtractio in den – der Zahl nach verschiedenen – Dingen bewirkt werden können, entsprechen keiner Definition der Art, da jedes kategoriale Seiende (ens) seine Artbestimmtheit durch seine eigene (unveränderte) Form besitzt. Jedes ist ens, insofern es ein unum ist. Ein jedes Einzelding hat das Sein und dadurch auch seine Einheit. Das Seinskriterium nennt Thomas das wichtigste Kriterium. These (1) entspricht somit keineswegs dem Sinn des aristotelischen Vergleichs; es handelt sich hier demnach nicht um ein analoges Verhältnis. Die These (2) stellt Avicennas Ansicht dar; These (3) betrifft die Ansicht Platons. Nach Avicenna, wie ich deutlich gemacht habe, fügt das Eine (wie die Eins) dem Wesen des Seienden etwas hinzu, z.B. fügt es die Wärme dem Wesen ihres Trägers hinzu. Thomas hält an seinem Standpunkt fest, dass dies eine falsche Annahme ist, da Avicenna keine Kriterien für die substantielle oder akzidentelle Form angibt. Platons These (3), dass in einem Körper mehrere Seelen vorhanden sind, die hinzugefügt und/oder entfernt werden können, scheint nicht viel deutlicher zu sein. Auch in diesem Fall sind keine klaren Kriterien gegeben, die durch die Artdefinition die Seele als substantielle Form hervortreten lassen. Fasst man in kurzen Sätzen Thomas’ Deutung dieser Thesen zusammen, stellt sich dessen eigene Position deutlich heraus: (a) Wenn das Eine, etwa eine Form, numerisch einem Körper hinzugefügt wird, kann sie weder der Artdefinition noch der Zahl nach eine substantielle Form sein. Da die substantielle Form das Sein schlechthin bedeutet, das für die Konstitution der Art eines bestimmten Dings nötig ist, sollte jede zusätzliche substanzielle Form die Art dieses Dings verändern. Mit Thomas ist dieser Vorgang als eine uneigentliche Interpretation des aristotelischen Vergleichs einzustufen. Denn jede derartige additio ändert die Art auf die Weise, dass sie (die substanzielle Form) der Zahl nach einen neuen Körper 489

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hervorbringen soll, was aber unmöglich ist. Die subtractio verursacht dagegen den Wegfall der substanziellen Form, sodass etwas schlecht­ hin zerfällt. Mit der Forderung nach einer Unterscheidung zwischen substanzieller und akzidenteller Form mithilfe klarer Kriterien, weist Thomas auf die einzige Lösung hin: dann und nur dann, wenn etwas durch additio (oder subtractio) eine akzidentelle Form erhält (oder verliert), kann es sich um Veränderungen im eigentlichen Sinn des Vergleichs handeln und sich bei der näheren Behandlung analoger Verhältnisse bestimmen lassen. (b) Wenn in einem Körper numerisch mehrere Seelen vorhanden wären,490 könnten diese hinzugefügt oder entfernt werden. Der Art­ definition gemäß kann aber die Seele dem Wesen nach nur eine Form haben, die allein mit numerisch einem Körper vereint ist. Sonst würde die Seele nicht als Wesensform, sondern als Beweger mit dem Körper verbunden sein. Die Erklärung, die beide Aspekte der Form nicht genug berücksichtigt, hat ein falsches Verständnis des Veränderungs­ problems zur Folge, da jedes Ding nur durch die substantielle Form die Einheit und das Sein besitzt. Hätte ein Ding mehrere Formen haben können, wären keine von diesen seine Wesensform.491 Aus dieser Analyse ergibt sich, dass es weder Verhältnisse zwischen einem Träger und mehreren substantiellen Formen oder zwischen einem Körper und mehreren Seelen gibt noch, dass diese als analoge Verhältnisse in Frage kommen. Die Relevanz der geschil­ derten Einsichten in Bezug auf den aristotelischen Vergleich und das Veränderungsverständnis wird damit von Thomas abgelehnt. Er lehnt sowohl die idealistische bzw. platonische als auch die avicennia­ nische Position als quantifizierende Lösungen der Einheits-VielheitsFrage aus. Die letzte These (4), die Thomas empfiehlt und als seine eigene These für die Klärung der Veränderungen vorlegt, kann mithilfe der Aussagen (a) »homo est animal«, (b) »animal est homo« und (c) »Socrates est homo (et animal)« formuliert werden. In der Aussage (a) »animal« wird etwas vom Menschen ausgesagt, da dies in der Artdefinition des Menschen enthalten ist; in (b) »homo« kann nichts über das Lebewesen ausgesagt werden, da die Aussage nicht in der Definition der Lebewesen impliziert ist; in (c) werden sowohl »homo« als auch »animal« vom Menschen ausgesagt. Es stellt sich nun die 490 491

De Anima II, 413b16. Schon Aristoteles kritisiert diese Ansicht Platons. S.Th.I, q.76, a.3.

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Frage nach der Bedeutung der Aussage (c): Handelt es sich dabei um mehrere substantielle Formen (mehrere Seelen) oder um das Akzidens »animal« der Wesensform des Menschen Sokrates? Thomas verzichtet auf die Idee der Mehrheit der Wesensformen, etwa auf die Idee der Mehrheit von Seelen, die ein Träger besitzen könnte. Die Deutung der Aussage (c) gründet sich in seiner Seelentheorie: Wie verschiedene Gegenstände der Zahl nach nicht eine Form haben können, so kann auch die menschliche Seele der Zahl nach nur eine einzige sein, die aber Nähr-, Sinnen- und Verstandesseele umfasst. Wenn dem so ist, gibt es der Zahl nach nur eine substantielle Form, wodurch derselbe Träger homo und animal ist. Wenn aber das Wort »animal« zur Bezeichnung von mehreren Trägern (Mensch und Pferd) verwendet wird, dann ist jeweils die bezeichnete Form eine substan­ tielle, aber keine Vielheit verursachende bzw. keine akzidentelle Form. Aber sowohl Mensch als auch Pferd können akzidentelle (körperliche) Qualitäten, die ihrer Substanz anhaften, besitzen und auf analoge Weise zum Ausdruck bringen. Die ergänzende Klärung der Frage nach der Art-Definition, dem Zahl- und Analogiebegriff, die insbesondere auf den letzten Fall (4) zutrifft, ist bei Thomas der ontologischen Distinktion, die zwischen Arten und Form besteht, zu entnehmen: Bei Zahlen geht es um die Einheiten, die hinzugefügt oder abgetrennt werden; bezüglich der Arten erachtet Thomas – allgemein gesehen – eine Hinzufügung oder Wegnahme der Einheiten, wenn auch nicht für unmöglich, so doch für nicht notwendig. Was ist darunter zu verstehen? Thomas weist auf den Vollkommenheitsgrad der Wesensformen als entschei­ denden Aspekt hin: Die beseelten Wesen sind vollkommener als die unbeseelten, Tiere vollkommener als Pflanzen und Menschen voll­ kommener als Tiere; ähnliche Distinktionen bestehen auch innerhalb aller anderen Gattungen.492 Das Nötigste, was für die Deutung der Seelenteile noch aussteht und was nach Thomas zu berücksichtigen ist, ist, dass die Seele verschiedene Teile umfasst. Dies bedeutet aber dem Einheitskriterium der Wesensform gemäß weder Teilbarkeit (divisibilitas) noch Möglichkeit der Hinzufügung oder des Wegfalls der Seelenteile, sonst hätte sich die Art geändert. Zur Wesensform gelangt man über die Artdefinition und den in ihr enthaltenen Unter­ schieden bzw. Differenzen. Die Artunterschiede verweisen auf deren Wesensform; die akzidentellen Qualitäten sind mit der Substanz als 492

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Form nicht identisch, vielmehr entspricht diesen Qualitäten etwas analoges in jeder Substanz (als Form). Damit gelangt man mit Thomas zu dem Schluss, dass (1) die möglichen Veränderungen in Bezug auf die Zahlen und Definitionen der Art im aristotelischen Vergleich vorrangig im Sinne der Funk­ tion verstanden werden können. Zudem ist sichtbar geworden, wie Thomas durch seine Kritik und Analyse der sehr unterschiedlichen, auf den aristotelischen Vergleich Bezug nehmenden, Einsichten zu seiner Position gelangt. Der aristotelische Vergleich erwies sich im epistemisch-ontologischen und mathematischen Aspekt als sinnvoll und mit der Analogie verträglich: Eine Analogie liegt immer bei der Definition der Art und der Zahlen vor, da sich im Fall der Zahl und der Einheit des unteilbaren, zusammengesetzten Wesens (samt dessen Definition) durch jede additio oder subtractio eines Teils diese Einheit verändert. (2) Die Kriterien divisibilitas (Teilbarkeit) und indivisibilitas (Unteilbarkeit), für die Klärung des Zusammenhangs zwischen der Einheit des zusammengesetzten Wesens, der Wesensdefinition und der Zahl, sollten zudem die Klärung ihrer Verknüpfung mit der Analogie sein. Dieser Präzisierung zufolge können bestimmte Gegen­ stände unter dem Aspekt ihrer (Un)Teilbarkeit, ihrer Einheit und Vielheit spezifiziert werden: Sie sind (a) als Eines der Zahl nach und somit aufgrund ihres Wesens ungeteilt, (b) als Viele der Zahl nach geteilt und (c) als Art schließlich (begrifflich) eins, also unge­ teilt.493 Diese Spezifizierung, dass ein Einzelding als ein Ganzes (in seiner Einheitsstruktur) wie die Zahl (in ihrer Zahlstruktur) in einer Beziehung ungeteilt ist, aber in einer anderen Beziehung durchaus teilbar bleibt,494 lässt sich sowohl das Einzelding durch seine Einheit und seine Teile als auch die Zahl durch ihre Einheit und S.Th.I, q.11, a.1ad2. Zum Punkt (c) ist die von Frege untersuchte Einheitsfrage als modernes Beispiel jenes Verfahrens zu nennen. Frege hat den Begriff der Einheit fol­ gendermaßen charakterisiert: »Wenn man jeden von mehreren Gegenständen, die ›Einheit‹ nennt, macht man einen Fehler.« Er fasst den Begriff der Einheit als einen auf, der keine Teilung zulässt. In »Grundlagen der Arithmetik« wird ein wichtiges Moment des Begriffs der »Einheit« angeführt: der Begriff ist dasjenige, »das unter ihn Fallende bestimmt abgrenzt und keine beliebige Zerteilung gestaltet«. Vgl. Frege G., Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlass. Mit Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie und Register hrsg. von G. Gabriel. Hamburg: Meiner, 1978, S. 121. / Frege G., Grundlagen der Arithmetik (1884). Hrsg. von J. Schulte. Stuttgart: Reclam, 1987, § 54. 494 S.Th.I, q.11, a.1ad2. 493

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ihre Zählbarkeit bestimmen. Dass dieses Ergebnis nicht unproblema­ tisch ist, habe ich in der vorherigen Analyse gezeigt und wird im (mereologischen) Teil weiter erörtert. Zentral ist, dass nicht immer den Teilen eines Gegenstandes eine Zahl zuzuschreiben ist und nicht alle Gegenstände grundsätzlich auf die Zahl zurückführbar sind. Diese Folgerungen illustriert Thomas mit dem Gedanken von Ambrosius, welcher besagt, dass beispielsweise das Licht das Wesen ohne Zahl ist.495 Die formbestimmte Teilung ist von der Teilung der materiellen Gegenstände zu unterscheiden. Für die vorliegende Teilungs-Diskussion und für die Konzeption von Einem, Vielheit und Analogie spielt die Unterscheidung zwischen beiden Teilungsweisen eine wichtige Rolle: Der Teilung, die aufgrund der verschiedenen Formen stattfindet, folgt die auf eine Gattung nicht begrenzte Vielheit; die materielle Teilung entsteht aber aufgrund der Teilung des Stetigen. Nur auf die letzte Teilung trifft die Zahl (species quantitatis) zu.496 Bei der letzten Teilung geht es wieder um die Einheit und (Un)Teilbarkeit: Jedes Ding ist eines durch sein Wesen und bleibt in seinem Wesen immer einheitlich und unteilbar. Alles aber, was nicht zum Wesen eines Dinges gehört, ist teilbar. Das, was nicht zum Wesen der Dinge (oder eines Subjekts) gehört, nämlich dasjenige, welches eine akzidentelle Form hat (d.h. die Eigentümlichkeit des Seins ist, nicht das Sein selbst) und sich deshalb außerhalb des Wesens (etwa Menschsein beim Menschen) befindet, wird selbst als Akzidens (weiß, gut) bezeichnet. Auf die Frage, ob Mannigfaltigkeit der Akzi­ denzien die Ursache einer zählbaren Menge von Gegenständen und die Ursache von Teilbarkeit eines Gegenstandes ist, gehe ich hier

495 S.Th.I, q.5, a.5. // Ambrosius, Hexaemeron. In: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Exameron. Aus dem Lat. übers. von J. E. Niederhaber. (Bibliothek der Kirchenvätern, Bd. 17.) Kempten: Kösel, 1914, IX, 33; VI, 22. Ambro­ sius stellt die Erschaffung des Lichtes als Gottes Werk dar. In Xexaemeron, in seinem Kommentar zum biblischen Schöpfungsbericht, macht er auf folgenden Unterschied aufmerksam: Erschaffung des Lichtes ist kein Handwerk, das einem Mensch zukommt, sondern es kommt nur Gott zu. Das, was einem Mensch zukommt, ist die Herstellung eines Gegenstandes (eines Ganzen) aus Teilen. Zur Frage siehe Rijkens F., Arbeit – ein Weg zum Heil. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 2009. // Raffelt A., »Pie quarare« – Augustins Weg der Wahrheitssuche. In: Fischer N., Mayer C. (Hrsg.), Die Confessiones des Augustins von Hippo: Einführung und Interpretation zu den dreizehn Bändern. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 1998, S. 199–240. 496 S.Th.I, q. 30, a.3.

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näher nicht ein, es sei lediglich bemerkt, dass diese Aristoteles497 und Boethius,498 Porphyrius499 und einige arabische Denker500 sowie Thomas sehr beschäftigte.501

497 Met.Δ6,1016b31–33; Δ9,1018a9–11; Δ12,1020b6–14. Zwei aristotelische The­ sen sind hier für Thomas bedeutend. Der ersten These gemäß ist Eines der Zahl nach dasjenige, dessen Materie (materia signata) eine ist, wie auch der Zahl nach es viele sind, deren Materie Vieles ist. Es ist unnötig zu fragen, ob Akzidenzien der Grund der Vielfalt der Zahl nach sind, denn die Verschiedenheit der Materie bewirkt die Verschiedenheit der Zahl. Met.I1, 1052a33; Ι6, 1056b23–27. Die zweite, auf der Analogie gründende These besagt, dass, wie die Akzidenzien für die Individuen keine Ursache ihrer Substanz und Einheit sind, so können diese Akzidenzien auch keine Ursache der Vielfalt der Zahl nach sein. 498 Expositio super librum Boethii De Trinitate, I, q.4, a.1; a.2. Boethius fasst die Substanz als Hypokeimenon samt Akzidenzien auf, oder anders gesagt: Substanzen werden gerade durch die Akzidenzien zu etwas Bestimmtem. Die Akzidenzien stiften zählbare Mengen von Gegenständen. Unabhängig davon, dass die Vielfältigkeit der Gegenstände unter die Gattung und Art sowie unter die Zahl fallen, spielt nach Boethius, z.B. bei der Zählung von drei Menschen, weder die Gattung noch die Art, sondern allein die Akzidenzien, die von bestimmten Konkreta besessen werden, eine entscheidende Rolle. Zudem ist nur eine Akzidens als Prinzip von Vielfalt der Zahl (Quantität) nach zu erfassen, da unter Quantitäten die Zahl – ihrer Abstraktheit wegen – früher steht. Die Quantität nimmt also unter den Akzidenzien den ersten Platz ein. 499 Porphyrius, Isagoge. Ed. A. Busse. In: Commentaria in Aristotelem Graeca 4, 1. Berlin, 1887, 1–22. / Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categorias commentarium. Ed. A. Busse. Berlin: Preussische Akademie der Wissenscahften, 1887, 1891. (Nach­ druck) Berlin: De Gruyter, 1960, cap.2. Thomas’ Kritik der autoritativen Aussagen des Porphyrius ist eine vertiefte Auffassung der porphyrianischen Vorstellung zu der oben ausformulierten Frage zu entnehmen. Thomas behauptet, dass die Akzidenzien als solche universal sind (auf Grund dessen, dass sie Form sind). Da aus den Akzidenzien kein Prinzip der Individuation hervorgeht, können sie auch kein Prinzip von Verschie­ denheit der Zahl generieren. Porphyrius votiert aber stets für die Akzidenzien als Prinzip der Individuation und entsprechend als Prinzip der Verschiedenheit gerade der Zahl nach. 500 Rescher N., The Development of Arabic Logic. Pittsburgh: University of Pitts­ burgh Press, 1964. 501 S.Th.I, q.11, a.2. / Expositio super librum Boethii De Trinitate, I, q.4, a.1ad1; a.2ad3; a.2ad4; a.2ad6. Die Mannigfaltigkeit der Akzidenzien kann nach Thomas keine Ursache der Teilbarkeit sein. Mit der Behauptung, dass der Grund der Teilung – mit Ausnahme der Quantität – keine Akzidens ist, folgt Thomas Boethius. Die Zahl ist bei Thomas formell gesehen früher, aber nicht früher als andere Intentionen wie Vorstellungen der Vernunft. Vom Materiellen her gesehen ist die Zahl nicht später als die kontinuierliche Quantität. Im letzten Fall ergibt sich die Zahl aus der Teilung des Kontinuierlichen. Thomas legt hier die Differenz zwischen Zahl und deren Auffassung im Denken (Bereich des Mathematischen) fest.

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Auch im nächsten Abschnitt kommt die Unterscheidung zwi­ schen der Zahl und dem Seienden, zwischen dem ontologischen, metaphysischen und mathematischen Bereich zur Sprache. Ich komme auf die Begriffe der Proportion und Proportionalität, dann aber im spezifizierten Sinne als mathematische Proportionalität, zurück. Mithin gilt es, das Analogie-Thema bei Thomas weiter zu verfolgen.

2.9.2 Mathematische Proportionalität und Analogie Proportion (proportio) und Proportionalität sind, wie bereits in meh­ reren Kontexten aufgezeigt wurde, bei Thomas notwendige Voraus­ setzungen der Erkenntnis. Die Begriffe der Proportion, Proportionali­ tät und Zahl (species quantitatis) sind die Untersuchungsgegenstände der griechischen, arabisch-jüdischen und scholastischen Naturphi­ losophie, Mathematik und Metaphysik. Als mathematische Propor­ tionalität beschreibt Platon das zwischen den Teilen einer Entität oder einer Entität und anderen (im)materiellen Entitäten bestehende Verhältnis, das durch die Zahlen analogisiert wird.502 Wenn man das Verhältnis zwischen den Teilen einer Größe oder die Verhältnisse, in denen die Größen zueinanderstehen, als Zahlen­ verhältnisse bestimmt oder als ein oder mehrere mathematische Gegenstände (Fläche, Figuren, Linien) erkannt werden, dann sind Begriffe wie proportio, proportionalitas und analogia, species quanti­ tatis und termini numerales unentbehrlich. Fasst man die Zahl als 502 Polit., 257b; 258c. / Tim., 36b–d. / Phileb., 17b–e; 23b–27c. Die mathematische Proportionalität bzw. Zahlenproportion wird von Platon für die Beschreibung der Einheitsvorstellung der Welt vorgezogen. Die in mathematischen Proportionen gestaltete Analogie, die Platon auf alle Bereiche des Seins und Denkens anwendet, führt von der Vielheit zur Einheit. Die Auffassung der universalen Harmonie von griechischen Philosophen wird anschaulich in Form bestimmter Proportionen (z.B. als Pythagoreisches Pentagramm) dargestellt. Die pythagoreische Proportionstheorie ist auch für Platons Philosophie die zutreffendste. Wenn Platon die Einteilung alles Sei­ enden erörtert, wird die Proportionstheorie zur Geltung gebracht, da keine Quantität ohne gewisse Proportionen als etwas Begrenztes bestimmt werden kann. Nur durch die festen Proportions- und Zahlenverhältnisse werden alle Gegensätze bei ihrer Ent­ stehung harmonisiert, sodass die Harmonie des Ganzen durch seine unterschiedlichen Teile aufgrund der Analogie erreicht werden kann. Zur Frage des Zahl- und Analo­ giebegriffs bei Platon siehe auch Fiedler M., Analogiemodelle bei Aristoteles, S. 14 ff., 64 ff.

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bestimmtes Zahlenverhältnis auf und drückt diese als analoge Struk­ tur aus, so handelt es sich um analogia proportionis oder auch – wenn man den Proportionsbegriff erweitert – analogia proportionalitatis.503 Um das komplexe Problemfeld zu erschließen, reichen jedoch die genannten Begriffe nicht aus. Deshalb werden neben den genannten noch zusätzliche Begriffe, wie aequalitas und inaequalitas, discretio und indiscretio sowie pluralitas, aufgegriffen. Dies sind Begriffe, die bis auf die Elemente des Euklids zurückverfolgt werden können und neben den Begriffen proportio und proportionalitas für die Entwicklung des analogischen Denkens ausschlaggebend sind.504 Euklid’s Zahlenbe­ griff ist fest an den Begriffen der Proportion, Proportionalität und Analogie gebunden. In Buch V, Definition 5 der Elemente behandelt Euklid die Größen und die Zahlen, die »in Proportion [stehen]« und bezeichnet die mathematische Proportion als ἀνάλογον. In Buch VII, Definition 21 werden die Zahlen, die »in demselben Verhältnis ste­

C.G.I, 54: »Prima ergo convenientia est proportionis, secunda autem proportio­ nalitatis […].« So werden z.B. geometrische Proportionen wie 3:5 oder 2:3 oder ihre Variationen oft in der mittelalterlichen Architektur gebraucht. 504 Euklid, Elemente. Aus dem Griechischen übers. und hrg. von Cl. Thaer. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft, 1933. Über die Genese der Begriffe »Proportion«, »proportional«, »Analogie« und deren Zusammenhang mit der Geschichte der Mathe­ matik besteht eine anhaltende Diskussion. Szabó geht in seiner Begriffsuntersuchung der Proportionsdefinition nicht auf Euklid, sondern auf Eudoxos zurück. Er versucht zu klären, warum Euklid andere Ausdrücke für »Proportion«, nämlich λόγος und ἀνάλογον benutzte. Beide Begriffe, die für die griechische Proportionslehre grundle­ gend geworden sind, weisen nach Szabó auf eine Art der dahinterliegende Proporti­ onslehre hin. Die Proportionslehre war seiner Meinung nach bekannt, bevor mathe­ matische Begriffe der Proportion eingeführt wurden. Warum die Griechen den Analogie-Begriff für die Proportion eingesetzt haben, bleibt trotzdem fraglich. Nach Waschkies ist das mathematische Wissen des Alten Orients heranzuziehen. Dass Begriffe wie »Proportion«, »Proportionalität« und »Analogie« eine gemeinsame, kom­ plizierte Begriffs- bzw. Problemgeschichte haben, die durch eine vollständige Unter­ suchung der dem lateinischen Mittealter über syrisch-arabische und arabisch-hebrä­ isch-lateinische Übersetzungen und Kommentare überlieferten griechischen Werke erschlossen werden kann, ist die Grundeinsicht von Juschkewitsch. Zur Frage siehe Busard H. L. L., The First Latin Translation of Euclid’s Elements Commonly ascribed to Adelard of Barth. Ed. H. L. L. Busard. Toronto: The Pontifical Institute of Mediaeval Studies, 1983. // Waschkies H.-J., Von Eudoxos zu Aristoteles, S. 25; Waschkies H.J., Anfänge der Arithmetik im alten Orient und bei den Griechen, S. 1–14. // Szabó A., Ein Beleg für die voreudoxische Proportionslehre. // Juschkewitsch A. P., Geschichte der Mathematik. Deutsche Übersetzung von V. Ziegler. Basel: Pfalz-Ver­ lag, 1964. 503

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hen«, als Proportionalität bzw. als Verhältnisgleichheit definiert.505 Das entscheidende Charakteristikum im euklidischen Proportions­ verständnis ist, wie der gegenwärtige Mathematiker Hilbert meint,506 ein bestimmtes Verhaltensmuster, das uns dazu dient, zu zeigen, wie sich zwei oder vier definierte Größen zueinander verhalten. Thomas eignete sich eben dieses Proportions- und Proportionalitätsmuster an. Die mathematischen Gegenstände können als Voraussetzung des sicheren Wissens aufgefasst werden. Im erkenntnistheoretischen Sinne gehört diese Frage bei Thomas in den Bereich der Beziehun­ gen mathematischer Gegenstände zu extramentalen Gegenständen. Der Versuch, diese Beziehung möglichst genau zu bestimmen, ist mit vielen Problemen behaftet. Mathematische Gegenstände können potentiell oder aktuell existierende sein; sie können den wahrnehm­ baren Dingen immanent oder nicht immanent sein. Um diese und ähnliche Themen haben griechische, arabische und scholastische Phi­ losophen gestritten. Nach Aristoteles sind mathematische Entitäten potentiell – nach Art der Hyle – in wahrnehmbaren extramentalen Gegenständen enthalten, können aber nicht als wahrnehmbare Dinge verstanden werden. Mathematische Entitäten werden dadurch aktu­ ell, dass sie mit Hilfe der Abstraktion als Formen von diesen Dingen abgetrennt und als mathematische Gegenstände ohne spezifische Eigenschaften,507 d.h. als denkbare geometrische Flächen, Linien und Euklid, Elemente, V, Definition 5; VII, Definition 21. Waschkies weist darauf hin, dass in den Elementen eigentlich zwei Proportionstheorien enthalten sind: die eine untersucht die Zahlen, die aus Einheiten zusammengesetzt sind (natürliche Zahlen, Bücher VII–IX); die andere definiert die zahlentheoretische Verhältnisgleichheit (Buch VII, 21; IX). Zwischen Proportion und Proportionalität wird dabei unterschie­ den. Vgl. Waschkies H.-J., Von Eudoxos zu Aristoteles, S. 20 f., 25. // Siehe Szabó A., Ein Beleg für die voreudoxische Proportionslehre, S. 71 ff. und auch Angabe bei Kluxen W., Analogie, S. 846. 506 Vgl. Hilbert D., Über das Unendliche. Mathematische Annalen 95 (1925), S. 161– 190. 507 Met.Μ3, 1078a28f. Aristoteles unterscheidet zwischen den Bezeichnungen ›potentiell‹ und ›aktuell‹ bzw. zwischen extramentalen und mathematischen Gegen­ ständen. Insofern die mathematischen Gegenstände aus den Einzeldingen abstrahiert sind, können Einzeldinge gezählt und gemessen werden. Doch sind mathematische Gegenstände auf eine der Materie analoge Weise von der Substanz abhängig und auffassbar. Deswegen sind mathematische Gegenstände als Gegenstände der Wis­ senschaften nicht das zusammengesetzte Seiende, sondern das »nach Art der Hyle« Seiende (oder bei Bonitz als »intelligible Hyle«, die den wahrnehmbaren Gegenstän­ den immanent sind). Zur Frage siehe Patzig G., Das Programm von M und seine Aus­ führung, S. 122. 505

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Figuren,508 erkannt werden. Wenn bestimmte extramentale Gegen­ stände auf analoge Weise als Basis für die Zahlen auftreten, dann sind also die mathematischen Gegenstände nicht mehr potentiell existierende, sondern bereits aktuell denkbare Gegenstände. Sie sind zudem nicht äquivoke, sondern analoge Gegenstände und können in einer Proportion (A:B) oder Proportionalität als Zahlenverhältnisse rational strukturiert werden. Wenn das Zahlenpaar A, B also mit einem anderen Zahlenpaar A‘, B‘ verhältnisgleich ist, bildet sich eine bestimmte Proportionalität A:B :: A‘:B‘ aus. Der Erkennende muss also in der Lage sein, diese Verhältnisse als analoge zu begreifen. Die Analogie bietet eine Vergleichsmöglichkeit zwischen unähnlichen Gegenständen, die auf die Weise der isomorphen Strukturverhält­ nisse konstruiert und durch Proportionen ausgedrückt werden kann. Geht es um Strukturverhältnisse, können die Proportion und Pro­ portionalität, mit deren Hilfe begriffliche Bestimmungen und durch diese wiederum ontologische Relationen in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt werden, in eine mathematische Ebene transformiert werden. Thomas weist nachdrücklich auf die epistemische Bedeutung der Proportionalität hin. Wenn man zwei-, vier- oder sechsgliedrige Ana­ logien als esse:essentia :: actus:potentia :: forma:materia mit Blick auf Proportion und Proportionalität ausdrückt, dann weist proportio als Instrument seine spezifische Nützlichkeit im epistemischen Sinn auf: es ermöglicht durch begriffliche Bestimmungen, die ontologischen Relationen in ihrem Wirklichkeitsgefüge und ihrer Vergleichbarkeit zu untersuchen. Man kann anhand folgender Beispielen zeigen, wie sich die einfachen Strukturen zu immer vielschichtigeren ausgestalten und erkannt werden. So lässt die Zahl als mathematisch strukturierte Einheit (unitas numeralis), die von Proportionen repräsentiert wird, den bestimmten Gegenstandsbereich erkennen, weil die extramenta­ len einheitlichen Seienden und durch mathematische Proportionen strukturierten Einheiten analog (zueinander) sind. Die Besonderheit des auf diese Weise strukturierten Denkinhalts liegt darin, dass etwa durch die Zahl 8 als 3:5 oder als 4:4 (als Zahlenwerte) bestehende 508 Met.Μ3, 1077b22; 1078a8 ff. / Physik B2, 193b31–35. Vgl. Annas J., Die Gegen­ stände der Mathematik bei Aristoteles. In: Graeser A. (Hrsg.), Mathematics and Metaphysics in Aristotle. Stuttgart: Haupt, 1987, S. 131–148. Annas konzeptualisiert »als« (qua) in diesem Kontext als »Qua-Theorie«, um die Auffassung von Aristoteles zu klären, dass Mathematiker ihre Gegenstände von extramentalen Gegenständen »als getrennt setzen«, obwohl die mathematischen Gegenstände selbst nicht von den wahrnehmbaren Gegenständen getrennt sind.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Struktur verschiedenartig dargestellt bzw. erkannt werden kann. Zah­ lenverhältnisse können mit Gegenständen in einem Bild analogisiert oder als Begriff gedacht werden. Bringt man die proportionalen Zahlenverhältnisse (als analoge Verhältnisse) mit der oben behandelten Frage nach der Zahl und Artdefinition in Verbindung, gelangt man mit Thomas zu neuen epistemischen Möglichkeiten. Durch das folgende Schema wird dies gleich deutlich: Der Intellekt kann im Definieren durch Hinzufügen oder Abziehen der artspezifischen Differenz die Art verändern, so kann er auch in der Erkenntnis durch additio oder subtractio einer Einheit gewisse Veränderungen in der Zahl selbst verursachen.509 Mithilfe der Begriffe additio und subtractio und des neu eingeführ­ ten Begriffs der mathematischen Proportionalität wird es möglich, die Proportionsänderungen wie folgt zu beschreiben: Jeweils neue Verbindungen bzw. neue Proportionalitätsverhältnisse werden als analoge Verhältnisse bzw. Verhältnisse von Zahlen etwa 4:4 :: 7:1 oder 2:6 :: 7:1 ausgedrückt. Einen ähnlichen Fall der analogen Verhält­ nisse, die als mathematische Verhältnisse darstellbar sind, vergegen­ wärtigt auch multiplicatio: Wenn die erste Zahl die doppelte zweite Zahl wie bei 2:1 ist, dann geht es um die Proportion; wenn die Zahl 6 als doppelte Zahl von 3 die Proportion mit der Zahl 4 als doppelter Zahl von 2 bildet, dann kann diese als mathematische Proportionalität 6:3 :: 4:2 bestimmt werden. Die Zahlenverhältnisse 6:3 :: 4:2 können also als Proportionalitätsstruktur und damit analog zum allgemeinen Verhältnis 2:1 gedacht werden. Die Proportionalitätsstrukturen kön­ nen nicht nur als mathematische Proportionalität, sondern auch als Grundlagen eines komplexeren Gefüges des vergleichenden mathe­ matischen und metaphysischen Denkens bestimmt werden. Wenn man aber z.B. ontologische Qualitäten und ihre Verhält­ nisse mithilfe der durch die Zahlen ausgedrückten Proportionen beschreibt, scheint die Zuordnung der mathematischen Zahlenwerte zu den auf analoge Weise strukturierten ontologischen Relationen oft problematisch. Dies geschieht dann, wenn ontologische Relatio­ nen eine mehrgliedrige Struktur bilden und die Proportionen ohne Zahl überhaupt nicht verstanden werden können oder aus der her­ kömmlichen Vorstellung von proportionalen Verhältnissen (etwa die theologische Dreieinigkeit) herausfallen. Thomas stellt fest, dass die mathematische Proportion für die Erfassung komplexer, durch die 509

C.G.I, 54. // Met.H3, 1043b33–35.

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

Analogie darstellbarer Gefüge nur bis zu dem Punkt geeignet ist, an dem die Proportions- und Zahlenverhältnisse noch keine Wider­ sprüche zueinander aufweisen. Die Übertragung der Verhältnisse von Gott und Kreatur, der Unendlichkeit oder der Trinität in die mathematischen Poportionen erscheint kompliziert und kann erst auf einer allgemeinen Ebene verstanden werden. An dieser Stelle erachtet es Thomas – zunächst mit Aristoteles zusammen – für wichtig, die Standpunkte der Metaphysiker und Mathematiker voneinander zu unterscheiden.510 Es ist dabei auf den Unterschied zwischen zwei Verhältnissen zu achten: (1) Wenn man das Verhältnis einer Größe zu einer anderen (unius quantitatis ad alterum) bestimmt, können verschiedene Größenverhältnisse als »doppelt« oder »dreifach« ausgedrückt werden; (2) wenn die Propor­ tion als Beziehung eines Gegenstandes zu einem anderen (unius ad alterum) aufgrund gemeinsamer Größen bestimmt wird,511 kann diese Beziehung zwischen verschiedenen Wesenheiten (Analogate) als eine bestimmte Proportionsanalogie begriffen werden, ohne dass diese Wesenheiten eine gemeinsame Form oder ein gemeinsames Sein haben.512 Bei dem ersten Verhältnis drückt der Mathematiker mathematische Größenverhältnisse mit dem Begriff der Proportion aus und untersucht die Proportionen als Zahlenverhältnisse. Die mathematische (Form-)Prägung wird in dem Maße zur Geltung gebracht, wie Zahlwörter (termini numerales) etwas zu einem Seien­ den hinzufügen oder davon ausschließen. Bei dem zweiten Verhältnis gelangt der Metaphysiker von der Potenz zum Akt, von der Materie zur Form, von der Akzidenz zur Substanz und von der Wirkung zur Ursache sowie von der Kreatur zu Gott, von einem wahrnehmbaren Gegenstand ausgehend zur Erkenntnis der abstrakten Gegenstände oder Vollkommenheiten einer bestimmten Art der Proportionsanalo­ gie oder Proportionalität gemäß. Den Vergleich der zwei Größenverhältnisse und Zugangswei­ sen zu diesen Verhältnissen ergänzt Thomas mit der Frage: Wo liegt jedoch der gemeinsame Schnittpunkt des Metaphysischen und Mathematischen? Die Deutung des gemeinsamen der beiden Bereiche bezieht Thomas auf eines der theologischen Probleme. Es handelt sich um das Trinitätsproblem. Auf das Trinitätsproblem geht er mit der 510 511 512

Met.M2, 1077b22; Μ3, 1078a8–9. S.Th.I, q.39, a.8. S.Th.I, q.76, a.2.

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Frage ein: Utrum termini numerales ponant aliquid in divinis?513 Wenn man bei dieser Frage einen philosophisch-theologischen Nutzen aus den mathematischen und metaphysischen Proportionen ziehen will, müssen die denkbaren mathematischen Größenverhältnisse in Form einer epistemisch relevanten Proportionsanalogie dargestellt werden. Dies weckt aber Zweifel bei Thomas. Einer der Gründe dieses Zweifels besteht darin, dass der gesamten Problematik ein undifferenzierter Zahlbegriff (numerus) zugrunde liegt. Denn die Zahl soll entweder (a) als einfache (simplex) oder absolute (absolutus) definiert werden oder (b) auf die Gegenstände zurückgeführt und in gezählten Gegen­ ständen bestimmt werden. Damit wird es etwa möglich, von zwei Menschen und zwei Pferden oder einem Menschen ausgehend von zwei Menschen oder von Eins als Teil von Zwei und Zwei als Teil von Drei zu sprechen.514 Ob sich der Fall (b) gerade bei der Deutung des Trinitätproblems als angebracht erweist, wird von Thomas allerdings bezweifelt. Stattdessen scheint numerus absolutus im spezifischen Gebrauch besser geeignet zu sein, da der numerus absolutus einem Abstraktionsakt entstammt – im Gegensatz zur Zahl, die in rebus numeratis ist – und als eine Entität unseres Verstandes, als Gedachtes im Göttlichen (in divinis) aufgefasst werden kann. Bevor Thomas einen entscheidenden Schritt für die Lösung der Trinitätsfrage mithilfe der absoluten Zahl unternimmt, ändert er die Deutungsrichtung der Trinitätsfrage. Denn die Annahme, dass die absolute Zahl für die Klärung der Trinität relevant ist, scheint weder mit der These von Boethius, dass »hoc vere unum est, in quo nullus est numerus«,515 noch mit dem Gedanken von Ambrosius über die Zahlwörter in Gott, dass »non quantitatem in Deo ponimus«, kompatibel zu sein.516 Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb Thomas den weiteren Verlauf der Deutung der Trinitätsfrage und des Zahlenbegriffs an dieser Stelle ändert. Er versucht, den Übergang von der mathematischen Proportion zur metaphysischen Proportion S.Th.I, q.30, a.3; q.30, a.1. S.Th.I, q.30, a.1ad4; q.12, a.1ad4. 515 S.Th.I, q.30, a.1. / Boethius, De Trinitate, cap.2, 56–3, 62. 516 S.Th.I, q.30, a.3. / Ambrosius, De Fide [ad Gratianum Augustum]. Rec. O. Faller, Sancti Ambrosii Opera VIII, CSEL 78. Wien, 1962, I, cap.2, 18/19 (10,44–11,52). // Vgl. Markschies Chr., Ambrosius von Mailand und die Trinitätsthelogie: kirchen- und theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambro­ sius und im lateinischen Westen (364–381. n. Christus). Tübingen: Mohr (Siebeck), 1995, S. 197–212 (S. 211). 513

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durch die Begriffe der Vielheit (pluralitas), (In)Diskretheit der Größen und Zahlwörter (termini numerales) zu ermöglichen. Ob und wie diese Begriffe mit dem Problem des Göttlichen zusammenhängen, kann nach Thomas Exzerpten mit zwei konträren Auffassungen verdeut­ licht werden: (A) Einige verstehen unter der Vielheit die species quantitatis discretae (nicht-stetige Größen), die deshalb nicht in Gott sein kann, da sie nichts in Gott setzt; (B) andere aber, die unter Vielheit ebenso die species quantitatis dis­ cretae verstehen, sind in einem weiteren Punkt entgegensetzter Meinung: Sie meinen, dass sowohl das Wissen (scientia) seinem eigentümlichen Begriff nach in Gott sein kann als auch die Zahl – ihrem eigentümlichen Begriff nach – die quantitas im Sinne einer nicht-stetigen Größe ist, also Gott beigelegt werden kann. Angesichts dieser widersprüchlichen Positionen verlagert Thomas seine Untersuchung noch einmal, nun in den Bereich der Sprachlogik, um von dort aus zu klären, wie species quantitatis, termini numerales und pluralitas in diesem Zusammenhang zu denken sind. Die Zahl – species quantitatis – ist also als eine Art der Größe zu denken, die bei der Teilung der materiellen Gegenstände eingesetzt wird. Jedoch weisen die termini numerales nach Thomas vielmehr auf die Vielheit hin, die gewissermaßen bereits transcendens est. Fasst man die Vielheit als transzendental, hat man sie aus der arithmetischen Mathematik auszuschließen. Diese Auffassung der Vielheit, die für Thomas eine Befreiung der Analyse der Trinität aus dem Bereich der quantitativen Aspekte der Mathematik ist, erzeugt nach ihm die einzig denkbare Grundlage der göttlichen Trinität. Ich fasse sein Verständnis der Vielheit in drei Hauptthe­ sen zusammen:517 (1) Wenn es eine Vielheit gibt, die aufgrund verschiedener Formen einer bestimmten Teilung folgt und alle Gattungen überschreitet, dann ist diese eine transzendentale Vielheit; (2) so wie das Eine (unum), das allgemeiner als Substanz und Relatio­ nen ist und zu den Transzendentalien gehört, ist auch die Vielheit transzendental, da sie alle Gattungen übersteigt; (3) wenn sowohl das Eine das ungeteilte Seiende, etwa die Substanz des Menschen, als auch die Vielheit eine Ungeteiltheit bezeich­ 517

S.Th.I, q.30, a.1; a.3.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

nen, dann fügen sowohl das Eine als auch die transzendentale Vielheit dem Seienden oder dem Göttlichen nichts anderes als die Verneinung der Teilung hinzu. Die Funktion der Bedeutungen von Zahl für die Beschreibung der Trinität wird nun ersichtlicher. Diese Bedeutungen haben eine starke Auswirkung auf die Vorstellungen von der Beschaffenheiten des nicht-vorstellbar Göttlichen. Aus diesen Gründen argumentiert Thomas den theologischen Inhalt philosophisch bzw. logisch-seman­ tisch: Denn nicht die Zahl als species quantitatis, die etwas zum Seienden hinzufügt, sondern die termini numerales sind es, von denen die alle Gattungen übersteigende, transzendentale Vielheit genom­ men und von Gott bei der Trinitätsfrage ausgesagt werden können.518 Auf diese Weise wird die Inkompatibilität mit dem Gedanken des Boethius (wenn auch nicht völlig) aufgelöst.519 Mit der Semantisie­ rung des Mathematischen und Metaphysischen wird keineswegs der Versuch unternommen, die Grenze zur Metaphysik oder Mathematik (ganz) zu verwischen. Thomas will vielmehr das auf mathematische Weise ausgedrückte Zahlenverhältnis im Schnittpunkt metaphysi­ scher, theologischer und logisch-semantischer Dimensionen fassen und in ein einheitliches System überführen. Es verbleibt, noch den letzten Schritt zur Deutung der Trinitäts­ frage bei Thomas nachzuzeichnen. Die ergänzende Deutung läuft über Signifikations- bzw. Bedeutungsdifferenzen zwischen dem abso­ luten Name trinitas (Dreieinigkeit) und dem Name triplicitas (Drei­ fachheit).520 In dem Punkt, in welchem sich trinitas und triplicitas durch aequalitas (Gleichheit der Größe) und inaequalitas voneinander unterscheiden, kann die Trinität im Göttlichen als Wesensdifferenzen der drei trinitarischen Personen aufgefasst und aus ihnen eine Einheit (unitas) postuliert werden. Die ontologische und mathematische Präzisierung, die nicht quantitativ, sondern qualitativ mathematisch gedacht werden soll, führt zur folgenden Formulierung seiner These: In der Trinität bezeichnet die Zahl Drei ein und dieselbe Wesenheit. Mit der Dreifachheit (triplicitas) wird aber die proportio inaequali­ tatis verstanden. Der Grund, dass Thomas sich bei der Deutung S.Th.I, q.30, a.3ad1. S.Th.I, q.31, a.1ad3. 520 S.Th.I, q.31, a.1. // Zur Frage siehe: Wolfson H. A., The Philosophy of the Church Fathers. Faith, Trinity, Incarnation. Bd. 1. Cambridge; Mass.: Harvard Univ. Press, 1956. 518

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

des Begriffs triplicitas auf den Proportionsbegriff stützt, liegt in der Bestimmung einer Art von Einheit, die gerade Ungleichheit impli­ ziert. Dieser Art von Einheit als diejenige Einheit, die es in Gott nicht gibt, nähert sich Boethius in seiner Arithmetica.521 Boethius meinte das ungleiche Verhältnis (species proportionis inaequalis). Die Art der Einheit des ungleichen Verhältnisses erfasst aber nicht drei göttliche Personen. Der auf diese Weise erklärte Unterschied zwischen den Begriffen trinitas und triplicitas stellt einen wichtigen Punkt für die Deutung der Trinitätsfrage dar: Solange diese Einheit als die Einheit verstanden wird, die aus getrennten bzw. trennbaren Personen besteht, ist das Trinitätsproblem nicht lösbar. Auch andere Interpretationen bringen Thomas zufolge Schwierigkeiten mit sich, etwa diejenigen, die die Einheit der trinitarischen Personen als Ein­ heit dreier Hypostasen in einem (Ousia bzw. Gottheit) in Analogie zur Gattungseinheit dreier Spezies (etwa Pferd, Mensch und Hund) erörtern (vgl. etwa Basilius, der die Gattung platonisch als universelle Existenz der individuellen Hypostasen versteht),522 oder diejenige, die die Einheit der drei Hypostasen in der Gottheit in Analogie zum aristotelischen Substrat (hypokeimenon) verortet (ähnlich wie die Kirchenväter das Wasser als Substrat von Wein und Öl auffassen).523 Thomas führt die Ursache des Misslingens dieser kritisierten Auffassungen vor: Deren Vertreter unterscheiden nicht zwischen Trinitas in unitate und unitas in Trinitate. Wenn man die göttliche Drei­ einigkeit als Trinitas in unitate verstehen will, wird nach Thomas nicht die Zahl (die Drei) gemeint, die in der Einheit des Wesens gesetzt und berechnet (3 = 1) würde, sondern die gezählten Personen.524 Die genaue Bedeutung der Dreieinigkeit liegt aber darin, dass die gezählten Personen in die Einheit einer Natur gesetzt werden.525 Als Boethius, De institutione arithmetica, I, 6, S. 14 f.; I, 7, S. 16; II, 54, S. 168–173. Basile de Césarée, Contra Eunome suivi de Eunome : Apologie. Introduction, tra­ duction et notes B. Sesboue avec la Kollaboration pour le texte et l´introduction cri­ tiques de G.-M. de Durand et L. Doutreleau. Paris, 1982 (T. I, SC 299); Paris, 1983 (T. II, SC 305), II, 4; 9 (11–27); 33; 34; III, 3; 5; 6. Siehe dazu Drecoll V. H., Die Ent­ wicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea. Sein Weg vom Homöusianer zum Neonizäner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996, S. 63–110; 270–331. // Aristoteles, Cat.7, 8a15–28. 523 Detaillierte Analyse siehe bei Wolfson H. A., The Philosophy of the Church Fathers. 524 S.Th.I, q.31, a.1ad4; ad5; q.39, a.8. 525 In der Diskussion um die Einheit im Göttlichen macht Thomas auf zwei weitere Ausdrücke: diversitas und differentia und ihre Bedeutungen aufmerksam. Beide Aus­ 521

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unitas in Trinitate wird eben die Natur verstanden, die ihre Träger (tria supposita) besitzen. Bedeutet diese Natur die Gottheit, die durch die Aussage wie »Gott ist dreieinig« zum Ausdruck gebracht wird? Wenn ja, müsste dies bedeuten, dass es tria supposita der Gottheit gibt. Doch entspricht dies nicht der Wahrheit, so Thomas: Wenn die drei Sup­ posita die Gottheit besitzen oder sie an der einen Gottheit partizipie­ ren würden, dann könnten diese in mathematischen Proportionen dargestellt werden. Thomas’ Schlusssatz deutet an, dass eigentlich keine Beschreibungen für das Göttliche ausreichen: Die Einheit der göttlichen Personen kann weder in der mathematischen Proportion noch z.B. in Analogie zur logischen Gattungseinheit bestimmt wer­ den, da die göttliche Wesenheit selbst jede Proportion des menschli­ chen Verstandes übersteigt.526

2.9.3 Fazit Es lässt sich abschließend über die mathematische Proportion und Analogie folgendes festhalten: Die auf der ontologischen Ebene bestimmte Einheit der Dinge kann nach Thomas sowohl durch die Proportion oder Proportionalität bestehen als auch durch die zahlen­ mäßige Vielheit bzw. Einheit dargestellt werden. Die Zahlen, wie ich sie oben bestimmte, machen die Einheit in der Vielfältigkeit aus, sie fügen aber nichts zum Wesen der Gegenstände hinzu. Die Zah­ lenverhältnisse liefern dem Intellekt die Möglichkeit, (un)ähnliche Gegenstände in ihrer Vielfalt und Mehrdeutigkeit in einem Ausdruck zusammenzufügen.527 Die Gegenstände, die sich auf verschiedene drücke werden mit der Absicht eingeführt, zum Verständnis eines göttlichen Wesens zu verhelfen, ohne dass die Einheit des Wesens verloren wird. Mit diversitas wird eine Unterscheidung gemeint, die sich auf die Substanz (Wesenheit) bezieht (es handelt sich dabei nicht darum, dass die Einheit zwischen dem Sohn und dem Vater in Bezug auf die Wesenheit aufgehoben werden soll). Wenn man differentia für die Bezeichnung der göttlichen Personen verwendet, meint man die Eigentümlichkeiten nach der Weise der Form, d.h., dass sich die Unterscheidung auf die Substanz bezieht (Hypostase oder Person) – so ist der Sohn nicht als ein anderes (aliud) als der Vater zu verstehen, sondern als ein Anderer (alius) bzw. Wesensträger (suppositum) der göttlichen Natur. 526 S.Th.I, q.64, a.1ad2. 527 Zur Bedeutung dieser Methode siehe: McMullin E., How Should Cosmology Relate to Theology? In: Peacocke A. R. (Ed.), The Sciences and Theology in the Twen­ tieth Century. Notre Dame: Univ. of Notre Dame Press, 1981, S. 17–57. // Meyer S., The Demarcation of Science and Religion. In: Ferngren G. (Ed.), The History of Science

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2.9 Die Teilung des Seienden und Vielheit

Seinsbereiche beziehen, können als isomorphe (Struktur)Verhält­ nisse dargestellt werden. Nach Aristoteles und Thomas können die voneinander abhängigen Strukturen mittels der Analogie geordnet und demnach als analoge Strukturen gedeutet werden.528 Die unter­ schiedliche Seinsbereiche umfassende Verhältnisordnung, die durch eine analoge Strukturierung der Proportionsverhältnisse erreicht wird, ist allgemeiner als die der Art- und Gattungsbestimmung. Die analoge Strukturierung lässt nicht nur die Beziehungen zwischen dem Bereich der Sprachlogik (Spezies, Gattung) und dem Bereich der extramentalen Wirklichkeit hervortreten, sondern eröffnet auch den Zugang zu bspw. dem Bereich der res absoluta aus dem davon verschiedenen Bereich der res singulares. Aus diesem Ergebnis geht jedoch nicht evident hervor, dass die analoge Strukturierung unter­ schiedliche Seinsbereiche in einer beliebigen Ordnung verknüpft. Im philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext erhält der Zusammenhang zwischen Zahlen, Proportion und Ana­ logie seine philosophische und mathematische Bedeutsamkeit. Trotz der Kompliziertheit dieses Zusammenhangs und des Verhältnisses zwischen Mathematik und Philosophie bzw. Metaphysik, dessen Behandlung oft in zwei gegenläufigen Ergebnissen – mathemati­ scher und philosophischer Natur – zusammengefasst werden, ist auf die Relevanz der Annäherung beider Bereiche hinzuweisen. Diese Behandlungen tragen nach Thomas dazu bei, dass die mathemati­ schen Proportionen und die Proportionalität auf die Verhältnisse von Gott und Kreatur, die Unendlichkeit und die Trinität übertragen wer­ den. Dies wird an folgendem philosophisch-theologischen Beispiel deutlich: Wenn Entitäten wie etwa göttliche Personen existieren, bilden sie aktual eine bestimmte Gesamtheit. Und: Wenn aktual bestimmte Gesamtheiten einzeln zählbar sind, ergibt sich daraus eine endliche Zahl. Das führt aber zum Widerspruch. Denn Gott (oder die göttlichen Personen) ist den geschaffenen Entitäten absolut unähnlich. Er ist weder aus Form und Materie oder aus Sein und Wesen zusammengesetzt529 noch numerus absolutus oder numerus

and Religion in the Western Tradition: An Encyclopedia. New York: Garland, 2000, S. 17–23. // Dembsky W. A. & Meyer S. C., Fruitful Interchange of Polite Chit-Chat? The Dialogue Between Science and Theology. Zygon 33, 3, (1998), S. 415–430. 528 Eth. Nik., 1131a29 f. 529 S.Th.I, q.8, a.1.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

abstractus. Als Absolutes übersteigt Gott alle Seinskategorien.530 Keine Zahl wäre für das Erste und Eine geeignet, denn das Eine ist nicht das Prinzip der Zahlen. Die Eins steht aber in der mathemati­ schen Zahlenreihe als die erste Eins, an erster Stelle, und wird zum Prinzip aller Zahlen. Mithin ist Gott mittels mathematischer Proportion und Propor­ tionalität nicht bestimmbar. Trotzdem, wie ich schon früher erörtert habe, kann Gott aufgrund der analogen Strukturen bzw. nach der bestimmten Art der Proportion und Proportionalität zum Ausdruck gebracht werden. Diese noch unvollständige Äußerung über die epis­ temisch-ontologischen Möglichkeiten der Analogie werde ich bei der Behandlung der weiteren zentralen Fragen aus der Erkenntnistheorie (und später der Semantik und Sprachlogik) vervollständigen.

2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme Der Ausgangspunkt der Behandlung des dritten Falls der Teilbarkeit ist die Frage nach dem Teil (pars) und dem Ganzen (totum). Im Kontext der bereits diskutierten Probleme von Einheit und Vielheit habe ich einzelne Aspekte des mereologischen Themas schon vorweggenom­ men. Dieses Thema ist aber ontologisch und epistemologisch gesehen als ein selbstständiges zu betrachten, was sich an den Diskussionen um die Grundlagen der Struktur der Wirklichkeit und der Struktur des Ganzen und um die Arten der Teilung des Ganzen, wobei das Ganze oder der Teil als Zentralbegriffe in den Vordergrund treten, zeigt. Diese Fragen sind typisch mereologische Fragen. Zu den mereologi­ schen Fragen gehören auch Teilungsparadoxien und Mengen, Exten­ sionalitäts- und Intensionalitätsprinzipien, das Universalienproblem, die Kontinuumsbetrachtungen und Summenaxiome, die sich bereits bei Parmenides, Zenon, Platon531 und Aristoteles532 wiederfinden lassen und als grundlegende Fragen von Averroes, Abaelard, Thomas, Burleigh, Albert von Sachsen, Buridan und Wyclif bis zu Cantor, S.Th.I, q.13, a.4. Platon, Tim., 32a6–7. / Polit.‚ 263b. Platon behandelt das Verhältnis von Art und Teil. Eine seiner Thesen lautet: Die Art muss ein Teil der Idee sein, jedoch ist der Teil keine Art. 532 Met.Δ24, 1023b12–1024a11; Met.Z7, 1032b26–1033a23; Met.Z9, 103421–32; Met.Z7–9. Vgl. Frede M./Patzig G., Aristoteles »Metaphysik Z«, II. S. 149 ff. 530

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

Husserl und Leśniewski diskutiert wurden.533 Die mereologischen Fragen nach den Teilen und dem Ganzen ziehe ich hier als ergänzende epistemisch-ontologische Fragen zur Analogie-Problematik von Ein­ heit und Vielheit bei Thomas heran. Aus mereologischer Perspektive werde ich auch die substantia composita als Ganzes, das durch die Teile konstituiert ist, erneut behandeln. Der substantia composita ist hier ausgehend von einem neuen Aspekt zu begegnen, von dem aus ich mich der Frage widmen werde, ob jedwedes Kompositum beliebig teilbar ist und ob diese Teile (wenn sie zählbar sind) dem Summationsprinzip gemäß als eine zusammengefasste Summe zum Ganzen führen? Außerdem wende ich mich der Deutung der Frage bei Thomas zu, ob es überhaupt Teile (Verstand, Gesichtssinn, Herz, Auge, Tür und Griff) und Ganzes (Körper, Haus, Baum) gibt534 und welche Kriterien gelten, um diese Teile voneinander und von dem Ganzen zu unterscheiden? Daran schließt die Frage an: Ohne welche seiner Teile kann ein Ganzes existieren bzw. funktionieren? Aus dem bisher behandelten lässt sich bereits eine Antwort bestimmen, nämlich dass jeder geschaffene Gegenstand seinem Wesen nach unteilbar, der Potenz nach jedoch teilbar ist. Ausgehend von Platon ergibt sich auch bezüglich der zweiten Frage ein Hinweis. Seine These, dass durch die Zahlen die Vielheit zu einer Einheit, einem Ganzen, zusammengefasst werden kann, wurde von Aristoteles als 533 Der polnische Philosoph Stanisław Leśniewski hat die Relationen zwischen dem Teil und dem Ganzen als Grundlage für die allgemeine Mengenlehre brauchbar gemacht. Wenn es sich um die Teilung eines Ganzen in Elemente und von einer Menge von Elementen handelt, kann man nach Leśniewski eine Theorie von kollektiven Mengen (oder kollektivem Ganzen) entwickeln, die er Mereologie (Lehre von Teil) nennt. Mereologie (als logische Theorie der Ontologie) und Mengenlehre stehen nach Leśniewski weder in Widerspruch zueinander noch sind sie ganz identisch. Einer der Unterschiede liegt darin, dass das mereologische System nicht aus abstrakten Mengen bestehen kann. Leśniewski S., Podstawy ogólnej teoryi mnogosci (Die Grundlagen der Allgemeinen Mengenlehre). Prace Polskiego Koła Naukowego w Moskwie, 2. Moskva: Poplawski, 1916. // Siehe zur Frage: Whitehead A. N., La Théorie Relati­ onniste de l´Espace. Revue de Métaphysique et de Morale 23 (1916), S. 423–454. / Whitehead A. N., The Organisation of Thought Educational and Scientific. London: Williams and Norgate, 1917. // Henry D. P., Medieval Mereology. Amsterdam; Phil­ adelphia: Grüner, 1991, S. 1–31, 218–329. // Ridder L., Mereologie. Ein Beitrag zur Ontologie und Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main: Klostermann, 2002, S. 20– 44. // Auch Thomas diskutiert so etwas wie die Einheit der Mengen (unitas multitu­ dines). In Phys.III, lect.12, n.390–399 thematisiert Thomas dies und unterscheidet zwischen endlich und unendlich großen Mengen (multitudo determinata et infinita). 534 S.Th.I, q.76, a.1.

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

problematisch bewertet. Für die Auffassung der Teil-Ganzes-Relation eines Aristoteles ist der Begriff der Ousia grundlegend. Die Ousia ist ein konstitutiver immanenter Bestandteil eines durch die Einheit ausgezeichneten Ganzen, der für die Konstitution sowohl des Gan­ zen als auch für das umfassendere pros-hen-Gefüge notwendig ist. Oder mit Thomas gesagt: zusammen mit Ousia wird die Analogie als Grundlage für die Ganzheit des Einzelnen und die Einheit des Seins relevant. Der Bedeutung, die der Teil-Ganzes-Relation für die AnalogieProblematik zukommt, wird nur selten ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet. Auf einige für das mereologische Problem relevante phi­ losophische Positionen, die die Analogie mitbehandeln, gehe ich im Weiteren ein. Die Fragen nach dem Ganzen und dem Teil sind die von Thomas gestellten zentralen mereologischen Fragen. Sie lassen sich wie folgt formulieren: Ist das Ganze teilbar? Ist jedes dieser Teile ein selbstständiges oder unselbstständiges Seiendes oder ist es unteilbar, da es durch die Teile notwendigerweise konstituiert ist? Welche Kriterien für die Unterscheidung von den Teilen und dem Ganzen entscheidend sind, wird mit den folgenden Erläuterungen deutlich werden. Konkretere Fragen werde ich dafür besonders hervorheben. Diese sind: (1) Die Frage nach dem mereologischen Zirkel bei der Bestimmung des Ganzen und der Teile, die nach der Unterscheidung zwischen dem extensionalistischen Summenprinzip und dem inten­ sionalistischen Kompositionsprinzip sowie nach dem (un)möglichen Weg der (Identitäts-)Bestimmung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen verlangt; (2) die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Erkennt­ nis, wenn diese sich nur auf das Ganze oder nur auf die Teile richtet; (3) die Frage nach der Erkenntnis Gottes, wenn Gott als ein Ganzes aufgefasst wird. Inwieweit Konzepte der Univozität, Analogie oder Äquivozität für Thomas beim Lösen der mereologischen Problematik als hilfreich erscheinen und inwieweit er der Analogie für eine mereo­ logische Analyse der Arten des Ganzen und seiner Teile bedarf, wird aus der folgenden Erläuterung ersichtlich werden.535

Siehe zur Frage: Ross J. F, Portraying Analogy. New York: Cambridge Univ Press, 1981. // Leśniewski S., O podstawach ontologji (Über die Grundlage der Ontologie). Comptes Rendus des Séances de la Société de Sciences et des Lettres des Varsovie. Classe 3, 23, 1939. 535

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

2.10.1 Mereologische Extensionalität, Intensionalität und Analogie Der Versuch von Thomas, mit Aristoteles eine aus immanenten partes rerum essentiales konstituierte substantia composita und die Teilbarkeit dieses Kompositums zu behandeln,536 hat auf typische Weise zum mereologischen Zirkel geführt: Das Kompositum bzw. das Ganze, das durch die Teile konstituiert ist, kann aufgrund eben jener Teile untersucht und bestimmt werden; die Teile, die von einem Ganzen untrennbar sind, werden gemäß dem Ganzen bestimmt. Ein Ausweg aus dem mereologischen Zirkel wird in der gegen­ wärtigen Philosophie beispielsweise mittels einer Differenzierung des Ganzen in ein aggregatives (kollektives)537 und ein distributives (verteilendes) Ganzes538 versucht.539 Das Ganze geht im kollektiven Ganzen seinen Teilen voran. Dagegen gehen im distributiven Ganzen die Teile dem Ganzen voran. Beschreibt man beide Arten des Ganzen durch die Elementbeziehung, so unterscheiden sie sich durch folgende Merkmale: Kollektive Elementbeziehung bedeutet, dass die Menge, die ihren Elementen vorangeht, transitiv ist; distributive Elementbe­

Met.Z8, 1028b8–15. / Physik A2, 185b5–16; A6, 189a5–8; Δ3, 210a15–210b4; Δ10, 218a6–14. // S.Th.I, q.8, a.2ad3. 537 Das kollektive (aggregative) Ganze kann durch die Formel ausgedrückt werden: »x ist Element/Teil von Menge/Ganzem y«. Es handelt sich um eine einfache kon­ sistente Einheit, nämlich um ein Ganzes y, das aus dem Objekt x besteht, das sein Element ist (z.B. Wasser, das aus Teilchen besteht). In diesem Fall ist das Ganze mereologisch gesehen prioritär. Zur Frage vgl. Buddensiek F., Die Einheit des Indivi­ duums, S. 96–98. // Hull D. L., The Ideal Species Concept – and why We Can´t Get It. In: Claridge M. F., Dawah H. A., Wilson M. R. (Eds.), Species: The Units of Biodi­ versity. London: Chapman and Hall, 1997, S. 357–380. 538 Im distributiven Ganzen haben die Teile eine vorrangige Bedeutung. Z.B. die Tür, nicht das Haus selbst, ist als ein Teil des Hauses prioritär (das Ganze kann auch als Abstraktum aufgefasst werden). 539 Zu dem aggregativen und distributiven Ganzen siehe Leśniewski S., O podsta­ wach ontologii, S. 111–132. // Kotarbinski T., Elementy teorii poznania, logiki for­ malnej i metodologii nauk. Elements of Epistemology, Formal Logic and the Method­ ology of Science. Warszawa: WPAN, (2) 1961, S. 23 f. // Auch Russell behandelt die Menge bzw. »sets in the collektive sense als Aggregat«. Vgl. Russell B., Introduction to Mathematical Philosophy. London: Allen & Unwin, 1919, S. 183. // Zur Frage: Slupecki J., Borkowski L., Elements of Mathematical Logic and set Theory. Transl. by O. Wojtasiewicz. Oxford: Pergamon Press; Warszawa: Polish Scientific Publishers, 1967. 536

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ziehung bedeutet, dass die Elemente der Menge vorangehen – sie ist also nicht transitiv.540 An diesem Punkt, nämlich am mereologischen Zirkel, schließen sich Thomas’ ontologische Differenzierungen von den Arten der Teile und den Arten des Ganzen an.541 Ob er dadurch aus dem Zirkel hinausgelangt und welche mereologischen Probleme zu einer Erklärung finden, zeigt sich bei einer genaueren Analyse konkreter kontextueller Fragen. Den Begriff der Teile stellt Thomas also in den Vordergrund. Die essentialistische These lautet: Es ist vom Ganzen immer in Bezug auf die Teile zu sprechen.542 Die Teile können als Teile nur dann angesehen werden, (1) wenn sie immanente Wesensteile (partes essentiae: Form und Materie) eines konstituierten Ganzen sind, wenn sie also die erforderlichen Transitivitätsregel der Teil-Ganzes-Bezie­ hungen erfüllen, nämlich zum Ganzen schon zusammengefügt sind; oder (2) wenn sie im logischen Sinne artbildende Teile, Gattung und Differenz (partes speciei), sind;543 oder auch (3) wenn sie sich als Teile aus der Teilung einer Größe (partes quantitatis) ergeben.544 Thomas erfasst den Begriff Teil nicht nur als einen, der in drei Arten, sondern auch in zwei Unterarten (3a und 3b) zu gliedern ist: Dies sind die quantitativen Teile (partes quantitatis) und die qualitativen Teile (partes essentiae).545 Man kann bei der Bestimmung dieser Unterarten zwei voneinander wesentlich zu unterscheidende Prinzipien ausma­ chen: Die partes quantitatis vertreten das Extensionalitätsprinzip; die partes essentiae beziehen sich auf das Intensionalitätsprinzip.546 Die Vgl. Bedürftig T., Murawski R., Philosophie der Mathematik, S. 246 f. S.Th.I, q.47, a.3; q.8, a.2.; q.11, a.1ad1; q.39, a.8. 542 S.Th.I, q.8, a.2ad3: »[…] dicendum quod totum dicitur respectu partium.« Für die Teil-Ganzes-Relation als einer Fundierungsrelation gibt es formalisierte Ausdrücke: Jedes Ganze ist durch alle seine Teile fundiert. Der Begriff der Fundierung wird benutzt, um die Relation zu bestimmen, wenn ein Gegenstand durch einen anderen fundiert ist. Vgl. Ridder L., Mereologie, S. 399. 543 S.Th.III, q.90, a.2; S.Th.I, q.8, a.2ad3: »Duplex est pars, ut dicitur in V Metaphys., scilicet pars essentiae, et pars quantitatis. Partes quidem essentiae sunt, naturaliter quidem, forma et materia; logica autem, genus et differentia. […] quia quantitas se tenet ex parte materiae; partes quantitatis sunt partes materiae.« / Met.Δ2, 1014b9–15. 544 S.Th.I, q.8, a.2ad3; q.11, a.1; q.76, a.8. / C.G.IV, 49. 545 S.Th.I, q. 93, a.2; q.91, a.3; q.4, a.3ad1; q.20, a.3ad2; q.62, a.6. 546 S.Th.I, q.93, a.2ad3; q.4, a.3. Um Intension handelt es sich, wenn nach dem Inhalt bzw. der Bedeutung eines Begriffs gefragt wird. Die Extension dieses Begriffs fragt nach 540 541

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

extensionalistische Mereologie richtet sich auf die Beantwortung der Frage, wie die Strukturen (oder Zusammenhänge) zu charakterisieren sind, wenn es Gegenstände (z.B. Organismen) mit denselben Teilen gibt, und worin ihre Einheit besteht. Die Antwort könnte lauten: durch die Identität bzw. Univozität. Oder – formalisierter ausgedrückt – wenn zwei Gegenstände x und y dieselben Teile haben, sind sie identisch.547 Aufgrund des Extensionalitätsprinzips kann sowohl die Identität zwischen den Entitäten, die dieselben Teile haben, bestimmt werden als auch die Summation der Elemente von einer Klasse a, die Teil einer Entität ist. Intensionalistische Mereologie dagegen beschreibt – mittels Einbeziehung der Analogie – das Ganze, das dem Kompositionsprinzip gemäß aus einem materiellen und einem formalen Teil konstituiert ist.548 Auf diese Weise wird der Grund des Summationsprinzips, dass das Ganze jede beliebige Einheit oder Summe seiner Teile ist, samt der Einwände gegen dieses Prinzip seitens Thomas – mit Aristoteles – verständlich. Die Kritik der Zugangsweise zum Ganzen als einer bloßen Summe setzt die Einwände gegen die additive Auffassung voraus.549 Wenn man z.B. die Frage nach dem hylemorphischen Ganzen durch eine Summe entschlüsseln will, wird bald klar, dass partes essentiae, Materie und Form, ihre Gültigkeit nicht in der Addition, sondern in der Konstitution haben, da sie konstitutive oder – mereologisch gesprochen – integrale Teile der körperlichen und geistigen Gesamtverfassung (etwa eines Menschen) sind. Mit der

gemeinsamen Merkmalen der Gegenstände, die ein Begriff umfängt. Zur Erörterung der Frage nach der Intension und Extension im mereologischen Sinne siehe Ridder L. Mereologie, S. 320–328. 547 Vgl. Ridder L., Mereologie, S. 103. 548 Zu beiden Prinzipien und die bis zu Platon zurückverfolgbaren mereologischen Diskussionen siehe McDowell J., Plato. Oxford: Oxford Univ. Press, 1973, S. 240 ff. // Burneyat M., The Theaetetus of Plato. Indianapolis; Cambridge: Hackett, 1990, S. 187 ff. // Diese Diskussionen werden von Ridder berücksichtigt. Siehe: Rid­ der L., Mereologie, S. 98–111. 549 Met. Z17, 1041b17. Ein Ganzes als additive Summe von Teilen erscheint nach Thomas weder für die ontologischen noch für die epistemischen Fragestellungen fruchtbar. Der überlieferte Begriff »Summe« wird auch in der gegenwärtigen mereo­ logischen Theorie nicht eindeutig bestimmt. Die Kritik betrifft vorwiegend die ein­ deutige Interpretation des Summenprinzips und die Priorität des mereologischen Extensionalitätsprinzips. Vgl. Cantor G., Gesammelte Abhandlungen mathemati­ schen und philosophischen Inhalts. Hrsg. von E. Zermelo. Berlin: Springer, 1932, S. 357–442. // Ridder L., Mereologie, S. 105 ff., 380–388.

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Ablehnung der Priorität des Additionsprinzips in diesem Fall, nach welchem jedes Ganze die Summe seiner Teile ist,550 zugunsten des nicht-additiven bzw. holistischen Kompositionsprinzips, wird auf die reduktionistische Deutung des Ganzen verzichtet. Anders als bei dem Summationsprinzip, ist es bei dem mereolo­ gischen Intensionalitäts- bzw. Konstitutionsprinzip: Die Erkenntnis der hylemorphischen Struktur beginnt mit der Berücksichtigung der Regeln von der Zusammensetzung und vor allem des ontologischen Unteilbar- und Ungeteilt-seins des Wesens eines Kompositums. Die kohärente Vorstellung von den Teilen eines Ganzen als Erkenntnisob­ jekt bedeutet, dass die Teile in ihrer Separatheit und Besonderheit, in ihrer Würdigung zu Teilen eines Ganzen und ihrem Ort in einer mereologischen Struktur des Ganzen verstanden werden. Wenn der spezifische Beitrag der Teile zum Ganzen bestimmt wird, können auch mereologische Missverständnisse grundsätzlich vermieden werden. Auf diese Weise durchbricht man den mereologischen Zirkel. In der Philosophie des Aristoteles und seines Übersetzers und Kommentators Boethius trifft man spezielle (d.h. mereologische) Wendungen zur Form als einem selbstständigen Teil.551 Auch bei Thomas stellt sich die Frage: Was trägt die Form im mereologischen Sinn zur Erkenntnis bei, wenn sie als ein selbstständiger Untersu­ chungsgegenstand erfasst wird? Dass die Form etwas Selbstständiges ist, wird auf derjenigen ontologischen Ebene ersichtlich, wo sie nicht mit der Materie vereint ist (vgl. 2.2 und 2.3). Die Form ist dann also kein Wesensbestandteil, sondern supposita subsistentia, die keine weiteren Teile hat. Wenn die Form selbst nicht aus Teilen zusam­ Von dem systematischen Aspekt her gesehen kann auf den Begriff der Summe nicht verzichtet werden. Die auf der Grundlage des Extensionsprinzips aufgebaute Summenaxiome, die man in der gegenwärtigen Philosophie etwa bei Tarski und Leśniewski trifft, lassen die Einwände von Thomas gegen das Summationsprinzip deutlicher verstehen. Tarski definiert die Existenz der Summe und die Summenrela­ tion. In seinem Axiomensystem (1929) bestimmt er mittels der Begriffe »Summe« und »Teil« die entsprechenden Relationen. Die Existenz jedes Ganzen wird bei Tarski als eine Summe seiner Teile aufgefasst und alle Ganzen mit denselben Teilen als iden­ tische bestimmt, z.B.: Die Summe von x ist x. Ist x die Summe von y, dann sind x und y identisch. (Ich gebe die Formulierungen ohne tarskische Beweise und Theoreme wieder.) Vgl. Tarski A., Les Fondements de la Géométrie des Corps. Annales de la Société Polonaise de Mathematique. Krakow, (1929) 1956, S. 25. 551 Met.Z10, 1035a17–1035b1. // Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta, lib.2, cap.5–6. // Vgl. Oeing-Hanhoff L., Ganzes. Teil II. HWPh, III, S. 8 ff. // Henry D. P., Medieval Mereology, S. 218 ff. 550

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

mengesetzt ist, bestimmt sie sich selbst durch sich selbst zu ihrem Dasein (ipsae formae per se individuantur).552 Im Vorliegen einer solchen Form als eines selbstständigen Teils erkennt Thomas eine adäquate Möglichkeit für die Unterscheidung zwischen der quiditas der materiellen und der quiditas der immateriellen Substanzen. Auf diese Weise gewinnt er das Konzept der unkörperlichen Wesen (etwa Gott und separate Substanzen wie Engel553): Dies sind von der Mate­ rie getrennte und außer der Gattung des Kontinuierlichen liegende Unteilbare.554 Jedes indivisibile »est sua forma«;555 es unterscheidet sich von den Entitäten, die die Teile besitzen.556 Wenn das Unteilbare als Teil des Ganzen bestimmt wird, kann es auf beiden Ebenen, nämlich auf der Ebene der Teile und auf der Ebene des Ganzen, präzisiert werden, insofern dieser oder jener Teil ohne das Ganze (und umgekehrt) existieren kann. Hat die Form in ihrer Selbstständigkeit, wenn sie noch (k)ein Teil eines Zusammengesetzten ist, den Anspruch auf die Zuschreibung von Existenz? Das ist eine jener Fragen, die in

S.Th.I, q.3, a.3. In seiner Intellekttheorie beschäftigt sich Thomas nicht nur mit dem separaten aktiven Intellekt eines Averroes, den er kritisiert, sondern auch mit der Frage nach den separaten Substanzen wie Engel. Beleg dafür ist etwa sein nicht abgeschlossenes Werk (zwischen 1271–1273) De substantiis separatis. (De Angelis seu). De substantiis separatis ad fratrem Raynaldum de Piperno. In: Opera Omnia. Iussu Leonis XIII P. M. edita. T. XL. Roma: ad Sanctae Sabinae, 1969, cap. 2, D45, 57–66; cap. 7, D53/53; cap. 9, D56/57/58; cap. 9, D68/69/70; cap. 19, D74/75/76. 554 S.Th.I, q.85, a.8; a.8ad2. Zum Unteilbaren in diesem Sinne gehört (1) das Unteil­ bare schlechthin, das weder der Wirklichkeit (nec actu) noch der Möglichkeit nach (nec potentia) geteilt werden kann. Zum Unteilbaren zählt man auch (2) das Wesen des Menschen (ratio hominis), das in Wirklichkeit ungeteilt (indivisum in actu), der Möglichkeit nach aber teilbar ist (divisibile in potentia) und per prius durch Zerlegung in Teile erkannt wird. Das indivisibile schlechthin wird der prius-posterius-Ordnung gemäß im epistemischen Sinne bestimmt: Nach der Auffassung der Platoniker kann das indivisibile vom Verstand per prius, nach Thomas aber per posterius bestimmt wer­ den. 555 S.Th.I, q.39, a.2ad5. 556 S.Th.I, q.85, a.8: »Et ratio est, quia tale indivisibile habet quamdam oppositionem ad rem corporalem […].« 552

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der Scholastik im Zusammenhang mit dem aristotelischen Problem des Kontinuums557 gestellt und diskutiert wurde.558 Das Verhältnis zwischen den Indivisibilien und dem Kontinu­ ierlichem gründet Thomas auf der in den Indivisibilien selbst (als Ganzes) liegende Kraft (contingit illud sua virtute).559 Damit wird der Form in ihrer Selbstständigkeit die Existenz zugeschrieben und die Grundlage z.B. für die Untersuchung der Körper-Seele-Bezie­ hung gelegt. Thomas stellt eine weitere Frage mit Blick auf die Materie. Die mereologische Zuwendung zur Materie rückt einen weiteren Aspekt ins Licht des Kontinuums: In der Materie liegt das Entstehen und Vergehen eines zusammengesetzten Ganzen, etwa eines Lebewesens oder eines erzenen Kreises begründet, da das Ganze in potentia generell durch die Materie in Teile zerlegbar ist. Zieht man das Beispiel der Analogie heran, kommt Materie als ein integraler Teil sowohl als Erz-Materie in einem Mineral als auch als ein Teil eines Artefaktes der erzenen Statue vor. Die Bestimmung des Organismus eines Lebewesens als Ganzes ergibt sich aus dem Materieteil, als eines seiner Konstituenten, der den Individuationsprozess in Gang setzt. Physik Ζ1, 231a21–b18. / Met.V6, 1015b36–1016a2. Bei der Problematik des Kontinuums ist zuerst wichtig, die Frage nach der Entstehung des Kontinuums (syn­ exés) zu stellen. Für Aristoteles bedeutet das zu beantworten, wie das an sich Eine entsteht. Am Beispiel des Bündels wird zu veranschaulichen versucht, dass es durch das Band entsteht. Zum Kontinuum in der aristotelischen Physik vgl. Wieland W., Die aristotelische Physik, S. 278–316. // Waschkies H.-J., Von Eudoxos zu Aristoteles. 558 Diskutiert werden z.B. das komplizierte Verhältnis zwischen Indivisibilien und Kontinuum. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, dass unter Kontinuum Scholastiker sowohl unterschiedliche Arten lückenloser Zusammenhänge als auch die unendliche Teilbarkeit des Kontinuums verstehen. Bei der Deutung eines Kontinuums wird nach der anschaulichen Darstellung gesucht. Scholastiker bedienen sich etwa der Flussvorstellung und beziehen oft die Analogie mit ein. So zieht etwa Albertus Magnus die Analogie für die Klärung der Zeit als des Kontinuums heran: Wie die Zeit von dem fließenden Jetzt von einem früheren Punkt zu einem späteren Punkt konstituiert wird, so erzeugt der Punkt durch sein Fließen eine Linie. Vgl. Albertus Magnus, Physica (Ed. Coloniensis, Opera Omnia, T. IV). Ed. H. Hossfeld. Münster: Aschendorff, 1987/1993, 1, tract.3, cap.1. // S.Th.I, q.39, a.8. Die moderne Mathematik versteht unter Kontinuum vor allem eine Menge von Punkten. Siehe dazu Breidert W., Das aristotelische Kontinuum in der Scholastik. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Bd. 1. Münster: Aschendorff, 1970. 559 S.Th.I, q.8 a.2ad1: »Tale igitur indivisibile non applicatur ad continuum sicut aliquid ejus, sed inquantum contingit illud sua virtute. Unde secundum quod virtus sua se potest extendere ad unum vel multa, ad parvum vel magnum, secundum hoc est in uno vel pluribus locis, et in loco parvo vel magno.« 557

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Niemand aber, der essentialiter ein Individuum bzw. ein Ganzes ist, »est sua materia«.560 Denn materia bedingt nur, dass das Einzelne immer einer bestimmten Wesensart – seiner Artzugehörigkeit – in ihrer körperlichen (materiellen) Beschaffenheit entspricht und eine Möglichkeit der Teilbarkeit eines Kompositums in mannigfaltige Teile voraussetzt. So kann das Einzelne in den Teilen der Materie, und in den diesen Teilen zuzurechnenden Eigenschaften, erkannt werden. Aber die Materie kann nicht anders als durch die Form an der Seinsvollkommenheit teilhaben und durch die Form wirken, insofern jedes Einzelne am Sein teilhat. Das ist dasjenige Sein, wie schon in den Abschnitten 2.1 und 2.2. gezeigt, das im Einzelnen subsistiert und durch die Abstraktion als eine vom Intellekt abstrahierte Washeit der Erkenntnis zugänglich wird. Beide konstitutiven Teile – nicht in ihrer Separatheit, sondern in ihrer Einheit als Konstituenten (intrinseca) – ermöglichen es gerade, dass der menschliche Intellekt das Komposi­ tum aufgrund der Analogie durch die quiditas rei sensibilis erkennen und das Wissen erwerben kann. Im Erkennen gibt es grundsätzlich zwei mereologische Modelle: Der Intellekt, der im Erkennen die Priorität auf die Teile legt, d.h. von einzelnen Teilen (diversae partes) eines Ganzen ausgeht, kann eine Kenntnis vom Ganzen aufgrund der reduktionistischen Analyse der Teile erlangen. So kann man die Bedeutung eines bestimmten Teils aufgrund seiner Selbstständigkeit oder von einem bestimmten Strukturaspekt des Ganzen als verengtes Teil-Wissen erwerben, was etwa beim Hinzutreten oder Verlust der Teile nicht unproblematisch ist. Wenn der Verstand aber von dem Ganzen ausgeht, ohne dass alle Teile erkannt wurden, gelangt er zu einem allgemeinen Wissen. Beide Zugangsweisen bringen jedoch mereologische Schwierigkeiten mit sich. Dies wird an folgenden Beispielen deutlicher. Ein aus den Teilen zusammengefügtes Ganze, das Individuum, kann weder aus seinem Wesensteil, der substanziellen Form (Seele), noch aus der organischen Struktur, beispielsweise des Herzens, oder aus dem ganzen Weißen, das an jedem Teil der Oberfläche seines Körpers ist, heraus vollständig erkannt werden. Das Summationsprinzip erlaubt es hier teilweise, dass ein Individuum x als die Summe von Teilen (d.h. aller Elemente S.Th.I, q.39, a.2ad5. Siehe dazu Wagner C., Materie im Mittelalter. Edition und Untersuchungen zur Summa (II, 1) des Nicolaus von Strassburg OP. Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag, 1986. 560

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der Klasse a) dargestellt wird und für die Erforschung der organischen Struktur des Individuums fruchtbar gemacht werden kann. Aber das Problem bei Thomas liegt darin, dass die organische Struktur mit all ihren Teilen in Beziehung treten soll.561 Das ist das spezifische Problem des Teil-Ganzes-Verhältnisses: dass jedes Kompositum ein Eines, d.h. ein Ganzes ist, das weder mit der Materie oder der Form noch mit der Summe all seiner Teile identisch ist. Ein weiteres Beispiel soll die angezeigten mereologischen Pro­ bleme schärfen. Es geht um Teile, die von ihrem Ganzen getrennt werden können, und um Teile, die nicht getrennt, also indistinkt bleiben. Wenn die Teile getrennt werden, bleiben sie entweder »Teile von X« (z.B. die Tür eines Hauses) oder sind »X-Teile« (die entfernte Tür eines bestimmten Hauses). Im Fall des Getrennt-seins ist es wichtig, die Grundlage dafür aufzuzeigen, dass und weshalb die Teile bei der Trennung vom Ganzen ihre Aktivität und ihre Funktion verlieren oder nicht verlieren, und weiter, ob und auf welche Weise das der getrennten Teile beraubte Ganze nichtsdestotrotz erkennbar ist. Im Fall des Nicht-getrennt-seins handelt es sich um die Teile, die für die Kontinuität des Ganzen, z.B. für die Ausführung der der Art entsprechenden Funktionen (retineat operationem speciei), nötig sind (z.B. die Tür als funktionaler Teil eines Hauses).562 Hier wird eine detaillierte Erörterung der extensionalistischen und intensionalistischen Prädikation nötig, um das mereologische Extensionalitätsprinzip, das sich darauf beziehende additive Ganze, und das Intensionalitätsprinzip, das sich darauf stützende holisti­ sche Ganze von univoken, äquivoken oder analogen Teil-Prädikaten, beschreiben zu können. Dieser sprachlogische Beitrag liefert das Verständnis der beiden mereologischen Prinzipien gerade in ihrer Gegenüberstellung. In Kapitel 4 werde ich zeigen, dass nur das letzte, das intensionalistische Prinzip für die analoge Prädikation bei Thomas geltend gemacht wird. Den auf diese Weise exponierten mereologischen Problemen kann letzlich folgende Gestalt gegeben werden: Wenn A ein echter Teil von B ist, bedeutet dies, dass A auch A ist, aber nicht, dass A = B oder dass B = A, wenn mit B ein Ganzes gemeint wird.563 Wenn man für die dargestellten Probleme eine in der Univozität fundierte S.Th.I, q.76, a.8. S.Th.I, q.76, a.8. 563 S.Th.I, q.11, a.2ad2: »[…] nulla enim pars domus est domus, ne aliqua pars hominis est homo.« 561

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

Auffassung entwickelt, bei der das Ganze mit seinen Teilen identisch ist (dies entspricht jener Auffassung, der man oft in der gegenwärtigen Philosophie begegnet), dann widerspricht diese Auffassung derjeni­ gen Thomas’. Es ist nach ihm ausgeschlossen, dass ein aus vielen Tei­ len zusammengesetztes Ganze identisch mit seinen Teilen ist, da die Form bezüglich des Ganzen und seiner Teile und die zukommenden akzidentellen Formen der Teile immer ihre eigene Rolle haben. Ein Ganzes, das verschiedene Teile hat, ist nicht mit seinen Teilen, son­ dern immer nur mit sich selbst identisch. Die Teile stehen vielmehr in einem Analogie-Verhältnis zum Ganzen, auch wenn sich die TeilGanzes-Relation immer auf die Identität (also: Univozität) richtet. Eine sich daran anschließende Frage nach dem Analogie- und Univo­ zitätsverhältnis bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen den Arten des Ganzen, auf die ich im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen werde.

2.10.2 Arten des Ganzen und Analogie Das Thema des vorherigen Abschnitts, in dem ich mich vorrangig mit den mereologischen Prinzipien und der mereologischen Rolle der Teile auseinandersetzte und mit dem Ergebnis der Nicht-Identität des Ganzen mit seinen Teilen abgeschlossen habe, verlangt nun nach der Spezifierung des Ganzen selbst. Man kann bei Thomas vom Ganzen in dreierlei Hinsicht sprechen:564 1) Ein gleichartiges Ganzes (homogeneum; continuum) ist aus gleich­ artigen Teilen zusammengesetzt, das heißt, alle Teile haben die Wesensform ihres Ganzen. Zum Beispiel: Wasser und Luft sind jeweils in homogenen Teilen ausgedehnte Substanzen. Jedes Wasser­ teilchen bleibt auch nach der Teilung Wasser, jedes Luftteilchen bleibt Luft. Verwandelt sich Wasser in Luft, spricht man nun von Luftteil­ chen. Was von diesem Ganzen gilt, gilt also auch von den einzelnen Teilen. Dieselbe Form erscheint in allen Teilen.565 In diesem Fall handelt es sich um die Identität zwischen den Teilen und dem Ganzen. Die Summe von Teilen ist auch hier nicht von zentraler Bedeutung. S.Th.I, q.11, a.2ad2; q.76, a.8. Anhand des folgenden Beispiels kann demonstriert werden, dass die Frage nach dem gleichartigen Ganzen nicht nur bei Thomas, sondern auch bei Albertus Magnus gestellt wurde. Jeder Teil des Steins, so Albertus, bleibt auch dann Stein, wenn er vom Stein abgetrennt wird. Albertus Magnus, Liber de natura et origine animae. Lat.-dt. 564

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Dem Identitätskriterium gemäß kann man die formelle Bestim­ mung des gleichartigen Ganzen durch den synkategorematischen Ausdruck (Allquantor) konkret machen: (A) »Jeder Teil ist seinem Ganzen (Wasser, Holz) identisch.« Legt man Ausdruck (A) durch das Identitätskriterium fest, lautet die These: »Wenn x mit y identisch ist, dann ist y mit x identisch« (mit »x« wird ein Teil und mit »y« ein Ganzes bezeichnet). 2) Ein ungleichartiges Ganzes (heterogeneum; non continuum) ist das Ganze, das aus ungleichartigen Teilen oder Elementen besteht.566 Im Unterschied zum gleichartigen Ganzen besitzen Teile eines ungleich­ artigen Ganzen nicht die Form ihres Ganzen. Teile des Hauses sind für sich genommen noch kein Haus, die Körperteile des Menschen noch kein Mensch und die Teile des Fußes noch kein Fuß.567 Wenn also die Form des Hauses oder die Art-Form des Menschen in jedem einzelnen Teil bzw. Körperteil, etwa in den Knochen oder im Haar des Ganzen, nicht innewohnen kann, dann stellt sich die Frage, was diese Beobachtung für die Erkenntnis bedeutet? Bedeutet dies, dass die Erkenntnis aller Teile nicht über die Form ihres Ganzen verläuft? Der synkategorematische Ausdruck kann auch für das ungleich­ artige Ganze verwendet werden: (B) »Kein Teil ist seinem Ganzen (Mensch, Haus) identisch.« Der Ausdruck (B) besagt, dass ein Teil mit dem Ganzen nicht iden­ tisch ist. 3) Es handelt sich um die Ganzheit des Begriffs.568 Der Artbegriff »Mensch« ist ein Ganzes, der auf der universalen Ebene, aufgrund der logischen Definitionsteile, der Gattung und Differenz, fundiert wird. Im kognitiven Akt wird das begrifflich bestimmte Ganze in Begriffsteile zerlegt. Demgemäß tritt die Gattung als Teil-Prädikat

Übersetzt und eingeleitet von H. Anzulewicz. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2006, tract.1, cap.3, S. 55, 59. 566 In Met.VII, lect.9, n.1464–1467, n.1469. Thomas’ Interesse richtet sich im allge­ meinen auf die Wirklichkeitsstrukturen, konkreter gesagt: nicht so sehr auf extensive Größen, die aus gleichartigen Teilen gebildet sind, sondern auf intensive Größen, die aus ungleichartigen Teilen bestehen. 567 S.Th.I, q.3, a.7. // Met.Z10,1036a30–1036b6. 568 S.Th.I, q.76, a.8.

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auf und kann von der Spezies, dem universalen Ganzen, prädiziert werden (z.B. »Der Mensch ist ein Lebewesen«).569 Auf der Ebene des integralen Ganzen gibt es eine derartige Möglichkeit nicht; Spezies können nicht von ihren Teilen prädiziert werden. Auf den zusammengesetzten Träger, z.B. Sokrates, trifft es zu, dass er aus der Form (das Wesen bestimmendes Prinzip) und der individuellen Materie (materia individualis) mit allen Eigenschaften dieses Kompositums konstituiert ist.570 In der Erkenntnis sind die systembezogenen Teile eines Trägers vorhanden, wie dieses Herz, diese Muskeln, diese Knochen, weißes oder schwarzes Haar, also die Körperteile und ihre Eigenschaften, die es erlauben, daß der zusam­ mengesetzte Träger ihren Körperteilen und Eigenschaften gemäß zu einer Gattung zugezählt, aber nicht prädiziert wird. Ein Mensch kann per modum des Ganzen als dieser Mensch bezeichnet werden. Die Eigenschaften, die aus der Bestimmung der Art »Mensch« aus­ geschlossen sind, fallen aus der Wesensbestimmung des Menschen heraus.571 So ist »Mensch«, aus logischer Sicht, im Wesensbegriff (seinem formalen Teil) gegeben; aus ontologischer Sicht aber ist er nicht nur als Wesensbegriff (humanitas) aufzufassen, da zum Sein eines Menschen alle Körperteile, artspezifischen Eigenschaften und die Seele als Form des Körpers gehören. Wenn die Bestandteile eines Zusammengefügten (Ganzen) getrennt werden, vermindert sich die Wirkkraft des Ganzen; die Proportionen zwischen den Teilen und dem Ganzen können sich wesentlich ändern oder das Ganze zerfällt. Eine Formsetzung oder -ersetzung ergibt sich dadurch nicht. Im Fall des ungleichartigen Ganzen hat die Erkenntnis jedes Teiles einen besonderen epistemischen Wert. Die Teile haben mit­ einander bestimmte innerstrukturelle Relationen, sodass sich eine Gesamtstruktur des Ganzen bildet. Bei den gleichartigen Ganzen spielt hingegen die Erkenntnis eines jeden Teils eine andere (im Vergleich mit dem ungleichartigen Ganzen) Rolle, wo jeder Teil permanente Eigenschaften aufweist. Bei der mathematischen Erkenntnis des gleichartigen und ungleichartigen Ganzen ist die Form Zeuge der Teilbarkeit des Gan­ zen und der Zählbarkeit der Teile. Die Einheit des gleichartigen Gan­ zen (Wasser) besteht der Zahl nach aus einer Vielheit gleichartiger 569 570 571

In Met.VII, lect.1, n.1156–1158; lect. 2, n.1176; IX, lect.3, n.1813, n.1814. S.Th.I, q.3, a.3. In Met.VII, lect.4, n.1339; lect.5, n.1378, n.1379; lect.7, n.1428.

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Teile, wobei jeder Teil die Wesensform des Ganzen hat. Die Vielheit der Formen, die hier der Materie gemäß entsteht, ist der Grund für die Verschiedenheit entsprechend der Zahl, jedoch nicht für diejenige nach der Art. Bei einem ungleichartigen Ganzen (Menschen) kann kein Teil die Form des Ganzen besitzen. Die Teile eines ungleichar­ tigen Ganzen gehören zum Sein dieses Ganzen, sie können nicht als Summe zusammengezählt werden. Der Zahl-Charakter kommt vorwiegend den gleichartigen Gegenständen zu. Die ontologische Priorität der Form ist, im Vergleich mit anderen Teilen des Ganzen und dem Ganzen selbst, auf dem mereologisch weiten Wirkungsfeld und auf verschiedenen Ebenen zu bestimmen. Folgende Analogie stellt dies dar: Wie (ein) jedwedes ungleichartiges (integrales) Ganze dasjenige ist, was aus notwendigen Bestandteilen – Materie und Form – konstituiert ist, so ist auch jedweder Mensch ein Kompositum aus Seele (Form) und Körper: Entsprechend ist Sokrates ein aus dieser Verstandesseele (ein Teil des Menschen Sokrates) und diesem Körper (ein Teil des Menschen Sokrates) konstituiertes Kompositum.572 An diesem ontologischen Analogie-Beispiel zeigt sich die Besonderheit der substantiellen Form des Teils, nämlich die Seele. Aus der Seele als Teil bzw. Form folgt die Artspezifikation. Da die substanzielle Form (Seele) die einzige Form des ungleichartigen Ganzen (Mensch) ist, korrespondiert sie auch mit Veränderungen im Ganzen: Wenn sie fehlt, ist der Mensch im äquivoken Sinne als »Mensch« aufzufassen. Die Form des Ganzen mit ungleichartigen Teilen zeigt, wie durch die Analogie dargestellt, dass das Ganze auf allen ontologischen Ebenen nur der Möglichkeit nach teilbar ist.573 Eine besondere Dimension eröffnet sich hinsichtlich der ungleichartigen Ganzen, wenn man sich folgende mereologischen Fragen stellt: Kann man von einem Teil, etwa von dem Gesichtssinn des Auges auf das ganze Individuum schließen? Inwieweit sind Kör­ perteile miteinander und mit dem wesentlichen Form-Teil verknüpft? Wie ist die anima-Formel »anima intellectiva est forma corporis« im mereologischen Kontext zu verstehen? Wenn ein Teil des mensch­ lichen Körpers, etwa ein Organ des Gesichtssinnes, wegfällt, ruft 572 S.Th.I, q.76, a.1: »[…] ipse idem homo est qui percipit se et intelligere et sentire: sentire autem non est sine corpore: unde oportet corpus esse aliquam hominis partem. Relinquitur ergo quod intellectus quo Socrates intelligit, est aliqua pars Socratis; ita quod intellectus aliquo mono corpori Socratis uniatur.« 573 S.Th.I, q.11, a.1ad2; q.76, a.8.

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

dieser Wegfall dann eine Veränderung im Ganzen hervor? Ändert sich demnach auch die Seele? Und was berechtigt einen dazu zu sagen, dass die anima intellectiva (forma) in einem intrastrukturellen Zusam­ menhang mit allen Teilen des Körpers steht? Mit Augustinus könnte man postulieren, dass die Veränderungen in der Seele und im Ganzen wegen der Verletzung eines Organs, etwa des Gesichtssinns, eintre­ ten, da nach ihm die Seele im ganzen Körper ganz und auch in jedem Teil des Körpers ganz ist.574 An diese Problemstellung knüpft Thomas seine Deutung der Frage »Utrum anima sit tota in qualibet parte cor­ poris« an.575 Diese mereologische Frage, die ein wichtiges Stück des hylemorphischen Konzepts bei Thomas ist, kann an dieser Stelle nicht näher behandelt werden und muss einem anderen Ort vorbehalten bleiben.576 Im Folgenden wird mit Thomas die mereologische Frage gestellt: Ist Gott ein (gleichartiges oder ungleichartiges) Ganzes?

2.10.3 Ist Gott ein Ganzes? Ist der ganze Gott in allen und in jedem geschaffenen Singulären (präsent)?577 Ist Gott identisch mit seinen Teilen? Oder ist Gott ein Ganzes, das in allen Einzelnen ist, aber mit seinen Teilen nicht identisch ist? Ist die folgende Formel logisch gültig: Wenn x ein Teil (Kreatur) von y (Gott) ist, dann ist y ein Ganzes und kein Teil von x?578 S.Th.I, q.76, a.8. // Aurelius Augustinus, De Trinitate. Aus dem Lat. übersetzt und mit Einleitung versehen von Dr. M. Schmaus. Bd. 1. München: Kösel & Pustet, 1935, VI, 6–8, S. 224. »[…] anima in quocumque corpore et in toto tota est, et in qualibet ejus parte tota est.« / De Trinitate. Lat.-dt. Neu übers. und mit Einl. hrsg. von J. Kreuzer. Hamburg: Meiner, 2001. 575 S.Th.I,q.76, a.8. 576 Dieser Frage widme ich mich in einem anderen Aufsatz. 577 S.Th.I, q.8, a.2ad3: »Et ideo, sicut anima est tota in qualibet parte corporis, ita Deus totus est in omnibus et singulis.« 578 Hier gilt auch folgende alternative Formel: Ist x ein Teil von y und y ein Teil von z, dann ist x ein Teil von z. Oder auch die analoge Formel: (x) Seele/Teil : (y) Körper/ Einzelnes/Ganzes :: (y) Körper/Einzelnes/Ganzes : (z) Gott/Ganzes :: (x) Seele/Teil : (z) Gott/Ganzes. Diese Formeln werden entsprechend der axiomatischen Ausdrucks­ weise von Leśniewski gebildet. Vgl. Leśniewski S., O podstawach matematiky. Kap. VI–IX. Przeglad Filozoficny 33 (1930), S. 77–105; Kap. VII, S. 142–170. // Leśniewski S., On the Foundations of Mathematics. In: Leśniewski S., Collected works. Ed. by S. J. Surma, J. T. Srzednicki, and D. I. Barnett; with an annotated bibliography by V. F. Rickey. London: Taylor & Francis,1994, Bd. 1, S. 174–382. 574

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Diese Fragen erfordern keinen völlig neuen Klärungsansatz des Verhältnisses zwischen Kreatur und Gott. Dennoch muss untersucht werden, was Thomas mit der mereologischen Teil-Ganzes-Relation in Bezug auf Gott neues diskutieren will. An dieser Stelle wird eine der Thesen, die ich bereits zu einem früheren Zeitpunkt der Erörterung aufstellte, noch zwingender. Es handelt sich um die These, dass die anima intellectiva als die Form eines materiell zerstörbaren Körpers des Menschen ihre Unzerstörbarkeit von dem höchsten Intellekt empfängt, an dem sie partizipiert. Dies ist ein wichtiger Punkt, der aber im mereologischen Kontext erneut diskutabel wird. Die Relation von Teil und Ganzem, die jetzt auch auf Gott ausgedehnt wird, bezieht sich nach Thomas nicht primär auf die Seinsstruktur, sondern auf ein Denkgesetz, nämlich den Satz vom Widerspruch des Aristoteles.579 Welche Rolle spielt eines der höchs­ ten Denkgesetze, der Satz vom Widerspruch,580 bei der Lösung der hier thematisierten mereologischen Fragen? In welchem Zusammen­ hang dazu steht die Analogie? Thomas geht nicht direkt auf die Diskussion um den Satz vom Widerspruch ein. Er behandelt die angedeuteten mereologischen Fra­ gen unter der Formulierung Utrum Deus sit ubique.581 Diese Formulie­ rung bezieht sich auf den Satz vom Widerspruch und bringt folgende Fragen hervor: Kann Gott an einem Ort sein und zugleich nicht sein? Kann er ganz an einem Ort und zugleich mit einem Teil anderswo sein? Kann er gleichzeitig in allem und in jedem Einzelding sein?582 Thomas’ Frage Utrum Deus sit ubique muss entweder die Affirmation des Satzes vom Widerspruch oder die Negation dieses Satzes sein. Wenn man aber von der Affirmation oder Negation ausgeht, verbleibt man entweder bei einem Widerspruch im Verständnis von Gott oder muss sich mit dem Ergebnis, dass deus non est ubique, begnügen. Met.Γ3, 1005b19–20. Der seit Parmenides diskutierte Satz vom ausgeschlosse­ nen Widerspruch lautet in seiner aristotelischen Fassung wie folgt: Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukommen und nicht zukommen kann, oder anders ausgedrückt: Es ist nicht möglich, dass etwas gleich­ zeitig ist und nicht ist. Met.B2, 996b30. // Parmenides. Übersetzt, Einführung und Interpretation von K. Riezler. Frankfurt am Main: Klostermann, 1934, IX, v.6–v.15 ff., S. 32–35. 580 Zur gegenwärtigen Fassung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch siehe Łukasiewicz J., Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles. Aus dem Polnischen übersetz von J. Barski; Vorwort von J. M. Bochénski. Hildesheim [u.a.]: Olms, 1993. 581 S.Th.I, q.8, a.2. 582 S.Th.I, q.8, a.2. 579

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2.10 Analogie im Kontext der mereologischen Probleme

Diese Bestimmungen widersprechen aber dem Ausdruck, dass Gott esse in omni loco ist. Thomas sucht für den Satz vom Widerspruch eine andere Anwendungsweise. Dies zeigt sich an der mittels der Analogie ausge­ führten Analyse des Verhältnisses zwischen zwei Entitäten – mensch­ liche Seele und Gott. Die Analogie wird dabei in die Bestimmungen der zwei Formen des Unteilbaren und der zwei Arten vom Ganzen einbezogen. An den folgenden, entgegengesetzten Ausdrücken »non potest esse in pluribus partibus loci, vel in pluribus locis« und »est in uno vel pluribus locis, et in loco parvo vel magno« werde ich zunächst zwei Formen vom Unteilbaren bestimmen.583 Mit der ersten Form (a) der Indivisibilien ist bei Thomas das Letzte in der Teilbarkeit der kontinuierlichen Menge gemeint, näm­ lich der Raumpunkt (punctus in permanentibus) und der Zeitpunkt (momentum in succesivis). Das Ziel aber ist es, durch den Satz vom Widerspruch auf weitere Bestimmungen zu schließen: so kann weder der unteilbare Raumpunkt (punctus in permanentibus) an mehreren Orten und in mehreren Teilen des Raumes zugleich sein noch kann der unteilbare Zeitpunkt (momentum in succesivis) in mehreren Punkten der Tätigkeit oder der Bewegung zugleich bestehen. Zu der ersten Form der Indivisibilien (a) können weder Seele und Gott noch andere immaterielle Wesen gerechnet werden. Sie stehen im Verhältnis zu der zweiten Form (b) der Indivisibilien, die die Gattung der kontinu­ ierlichen Menge übersteigen. Das bedeutet, dass die Indivisibilien – menschliche Seele und Gott – keine Teile oder Elemente der Menge sind, sondern, dass sie auf eine einzige Weise, nämlich durch ihre Kraft mit kontinuierlichen Mengen verbunden sind und nur durch diese Kraft gleichzeitig an einem oder mehreren Orten sein können.584 Diese Negation des Satzes vom Widerspruch geschieht auf der Grundlage der Analogie und der analogen Indivisibilien: Seele und Gott sind kompatibel. Die Bestimmung der zweiten (b) Form von Indivisibilien gilt als Basis für den Beweis, dass Gott in allen S.Th.I, q.8, a.2ad2. S.Th.I, q.8, a.1: »Oportet enim omne agens conjungi ei in quod immediate agit, et sua virtute illud contingere […].« / q.8, a.1ad3: »[…] nullus agentis, quantumcumque virtuosi, actio procedit ad aliquid distans, nisi inquantum in illud per media agit. Hoc autem ad maximam Dei virtutem pertinet, quod immediate in omnibus agit.« / q.8, a.2: »[…] Deus est in omni loco, quod est esse ubique. Primo quidem, sicut est in omnibus rebus, ut dans eis esse et virtutem et operationem: sic enim est in omni loco, ut dans ei ess et virtutem locativam.« / S.Th.I, q.39, a.8. 583

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partikularen und universalen Gegenständen gleichzeitig sein kann, da diese ihr Sein und ihre Kraft besitzen, die sie von Gott empfangen haben. Die Form (b) gilt ebenso für die Ortsbestimmung: Auch der Ort, der Sein und Kraft von Gott bekommt, kann die räumlichen Gegenstände festhalten. Für die Ortsbestimmungen der Gegenstände gibt Thomas aber zwei im mereologischen Sinn widersprüchliche Ausdrücke:585 Eine Entität kann nicht an zwei Orten zugleich sein (»est totum in aliquo loco totalitate quantitatis, non potest esse extra locum illum […]«); eine Entität kann als Ganzes an einem und zugleich an einem anderen Ort sein (»est totum totalitate essentiae in aliquo, nullo modo sit extra illud«). Welche Konsequenz folgt aus diesen Bestimmungen? Aus mereologischer Perspektive lautet die Konsequenz, dass die Ortsbestimmungen für die Entitäten drei voll­ ständige und widerspruchfreie Bedingungen erfüllen sollen: So erfüllt das Sein-Geben für alle Gegenstände die Bedingung, dass kein Wider­ spruch darin besteht, dass Gott durch alle Gegenstände gleichzeitig in allen Orten des Raumes ist. Da die Seele aber die Seins-Geberin nur für eine bestimmte Entität ist, kann sie als Form-Teil in einem Körper und auf bestimmte Weise in den Teilen dieses Körpers ganz sein. Doch kann weder die Seele in einem Körper, dessen Form sie ist, gleichzeitig sein und nicht sein (siehe oben das Äquivokations-Beispiel) noch kann das zusammengesetzte Ganze, etwa der menschliche Körper, in mehreren Orten gleichzeitig sein und nicht sein. In der vorangegangenen Analyse der Indivisibilien der zweiten Form (b) blieb noch folgende Frage unbehandelt: Wenn Gott durch alle Gegenstände gleichzeitig in allen Orten des Raumes ist, ist Gott dann ein Ganzes oder ein (Form-)Teil? Ist Gott ein Ganzes, müssen alle geschaffenen Gegenstände und jedes Einzelne seine Teile sein. Wenn er als Ganzes Teile hat, dann ist zu fragen, welche Art vom bereits bestimmten Ganzen Gott ist? Ist Gott als Ganzes zu fassen, muss er mit den oben eingeführten mereologischen Mitteln begrün­ det werden können. Jeder Versuch aber, Gott als gleichartiges oder ungleichartiges, kollektives oder distributives Ganzes zu bestimmen, verfehlt sein Wesen und sein Sein, da Gott weder aus konstitutiven Wesensteilen, Form und Materie, noch aus Massenteilchen besteht; er ist auch nicht aus Teilen der Wesensdefinition, Gattung und Differenz,

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S.Th.I, q.8, a.2ad3.

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zusammengesetzt.586 Weitere Beschränkungen kommen hinzu, die es erschweren, Gott als Ganzes zu fassen. So gelten die Bestimmungen des quantitativen Ganzen nicht für Gott, da diese nur für die zusam­ mengesetzten (ontologischen und logischen) Entitäten geeignet sind. Bei der Rekapitulation der bisherigen Erörterung ist festzustel­ len, dass der Satz vom Widerspruch gerade in seiner negativen Bedeutung in Bezug auf eine der Indivisibilien, Gott, als wahr aner­ kannt wurde. Zur ermittelten Indivisibilität Gottes ergänzt Thomas die Wesensperfektion Gottes, totalitas essentiae.587 Die Indivisibilität und Wesensperfektion Gottes sind für seine unmittelbare Ubiquität entscheidende Kriterien. Nur durch diese Präzisierungen kommt man mit Thomas zu dem Ergebnis, dass Gott in allen Orten (in omni loco) des Raumes bzw. in allen Gegenständen und gleichzeitig qualitativ ganz an einem Ort (in loco) bzw. in jedem Einzelnen ist. In dieser Hinsicht lässt sich Gott nach Thomas als Ganzes bezeichnen.588 Zum Schluss bleibt die Gültigkeit der Behauptung einer Identität zwischen Gott und der menschlichen Seele, und derjenigen zwischen Gott und allen kreatürlichen Gegenständen, zu erfragen. Formal ausgedrückt, lautet die Identitätsdefinition wie folgt: Wenn zwei Entitäten x und y gemeinsame Teile haben, dann sind sie identisch. Ist die Definition bezüglich geschaffener Kreaturen (x) und Gott (y) wahr, sind alle Kreaturen, und somit auch die menschliche Seele, mit Gott identisch.589 Wären alle Kreaturen und Gott oder substantiae incorporeae, Seele und Gott, wirklich identisch, dann müsste die Seele durch ihr Wesen im ganzen menschlichen Körper da sein, wie Gott durch sein Wesen in allen geschaffenen Kreaturen da ist.590 Ein

586 S.Th.I, q.3, a.7: »Cum enim in Deo non sit compositio, neque quantitativarum partium, quia corpus non est, neque compositio formae et materiae: neque in eo sit aliud natura et suppositum; neque aliud et esse: neque in eo sit compositio generis vel differentiae […].« 587 S.Th.I, q.8, a.2ad3. 588 S.Th.I, q.8, a.2ad3: »Et ideo, sicut anima est tota in qualibet parte corporis, ita Deus totus est in omnibus et singulis.« 589 Eine derartige Identitätsauffassung hätte dann die notwendigen Bedingungen für die pantheistische Weltauffassung bereitgestellt. Diese Erörterung kann ich an dieser Stelle jedoch nicht ausweiten. 590 S.Th.I, q.8, a.3ad1. // Expositio in libri Boetii De hebdomadibus. Lat.-dt. über­ setzt und eingeleitet von P. Reder. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2009, Vorrede, S. 119 u.a. / Porphyrios, Sententiae ad intelligibilia ducentes. Gr.-lat. Hrsg. von E. Lamberz. Leipzig: Teubner, 1975, I. // Vgl. Schrimpf G., Die Axiomenschrift des Boethius (De

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derartiger Schluss wird aber von Thomas nicht erwünscht. Dies zeigt sich im folgenden Schritt. Thomas greift hier die Analogie auf. Die Analogie macht weder die Bedingungen noch die Möglichkeit aus, Seele und Gott als identische Entitäten zu fassen. Analogie bemüht sich üblicherweise nur darum, diese in ein vergleichbares Verhältnis zu setzen. Sie schliesst damit die Identität aus, lässt Ähnliches im Unähnlichen münden und die nicht-identischen Entitäten (hier: Seele und Gott) in ihrem transzendentalen Proportionsverhältnis (oder einseitigem Fundierungsverhältnis591) bestimmbar werden. In dieser Bestim­ mung liegt der Grund dafür, dass Thomas auf die Analogie notwendi­ gerweise zurückgreift. Wie steht es aber mit der Identität zwischen Gott und allen anderen geschaffenen Kreaturen? Wenn von Gott in seiner Wesen­ sperfektion gesprochen wird, und der Satz vom Widerspruch in seiner negativen Bedeutung als Antwort auf die Frage Utrum Deus sit ubique akzeptiert wird, ist Gott, wie oben festgestellt, als derjenige zu verste­ hen, der gleichzeitig in allen und in jedem Einzelnen ist. Demgemäß fundiert Gott durch sein Sein schlechthin (ipsum esse) die (relative) Selbstständigkeit der kreatürlichen Gegenstände, das heißt, dass er das Sein der Gegenstände, ihre Wirklichkeit bzw. ihr Dasein schafft. Dies begründet, dass x (Kreatur) nicht ohne y (Gott) besteht und das Verhältnis beider dennoch nicht zwingend als Identität zu deuten ist. Wie im Bereich des Gott-Seele-Verhältnisses, so gilt auch im Bereich des Gott-Kreatur-Verhältnisses: Gott bzw. sein Sein (ipsum esse) ist mit dem Sein des Geschaffenen nicht identisch. Daraus, dass Gott mit den geschaffenen Einzeldingen nicht identisch ist, sich gleichzeitig aber in jedem Konkreten und in allen Einzelnen lokalisiert, könnte man schließen, dass Gott ein derartiges Ganzes ist, dessen Teile alle kreatürlichen Gegenstände sind oder, dass Gott selbst als Teil in allen Gegenständen wirkt. Wenn Gott ein Teil in jedem und in allen Gegenständen wäre, müsste die TeilGanzes-Relation wieder als univok verstanden werde. Oder: Wenn hebdomadibus) als philosophisches Lehrbuch des Mittelalters. Leiden: Brill, 1966, S. 118–150. 591 Den Begriff der Fundierung benutze ich an dieser Stelle, um die Relation zwischen Seele (x) und Gott (y) zu bestimmen. Da ein Ganzes (y) nicht durch sein Teil (x) fundiert werden kann und der Teil (x) seinem Wesensgehalt gemäß nicht ohne das y bestehen kann, ist das als ein einseitiges Fundierungsverhältnis zu verstehen. Zum Begriff Fundierung siehe Ridder L., Mereologie, S. 388–424.

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2.11 Ouod est participare?

raumzeitliche Gegenstände und Gott nicht auf diese Weise mitein­ ander verbunden wären, sondern bloß dem Namen nach, dann würde es sich um ein äquivokes Verhältnis handeln. Thomas’ Auffassung weicht aber von der Univozität und Äquivozität in der Erfassung der Relation zwischen Gott und Kreatur ab. Wenn dem so ist, kann diese Relation nur mittels eines Analogie-Gefüges erfasst werden. Mit der Analogie ist damit einerseits für die Lösung des mereolo­ gischen Problems viel gewonnen, andererseits bleibt die Nicht-Iden­ tität, die unüberbrückbare Differenz zwischen dem Sein Gottes und der geschaffenen Kreatur, bestehen. Diese Diskrepanz kann nie ganz überwunden werden und wird folglich nicht mehr mereologisch, sondern als Partizipationsfrage behandelt.

2.11 Ouod est participare? Bevor das Kapitel zu seinem Schluss gelangt, scheint es mir ange­ bracht, Thomas’ Theorie der Partizipation in Kürze zu rekapitulieren. Thomas’ Kommentar zu den boethianischen Axiomen III und VI aus De Hebdomadibus soll im Folgenden dazu dienen, auf einige epistemische und ontologische Bedeutungen der Begriffe esse, id quod est, ipsum esse, esse aliquid und ihrer Verhältnisse zu participatio hin­ zuweisen.592 Mit esse simpliciter bestimmt Thomas den Gehalt des boethiani­ schen esse aliquid in eo quod est, als dasjenige, was am Sein selbst partizipiert (participat ipso esse), nämlich das eigentümliche Sein eines Einzeldinges. Id quod est bezeichnet das, was bereits ist und an einem anderen partizipieren kann (participet quocumque alio).593 Die Grundbedeutung des Partizipationsbegriffs liegt also in dem – durch die Wesensform bestimmten – esse und an dem id quod est, welches außer seinem Wesen auch etwas zusätzliches (Akzidens) besitzen kann. Unter dem abstrakten Begriff des ipsum esse wird das absolute 592 Expositio in libri Boethii De hebdomadibus, Kap. 2, S. 83–101. // Galonnier A. (Hrsg.), Opuscula Sacra, Bd. 1, S. 285–348. // Furhmann M., Gruber J. (Hrsg.), Boe­ thius. Darmstadt: WBG, 1984. // Rijk L. M. de, On Boethius’ Notion of Being: A chapter of Boethian Semantics. In: Kretzmann N. (Ed.), Meaning an inference in medieval Philosophy: Studies in memory of Jan Pinborg. Dordrecht; Boston; London: Kluwer, 1988, S. 1–29. 593 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, n.21–28, S. 87–93.

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Sein schlechthin bezeichnet, das nichts außer seinem Wesen haben kann.594 Das absolute Sein kann erst durch das Einzelding (seine Substanz und Akzidenzien) bestimmt werden.595 Mittels dieser Bestimmung lässt sich die Grundbedeutung der ontologischen Partizipation so präzisieren, dass der kreatürliche Bereich ohne das Sein schlechthin nicht bestehen kann. Jedes aus Sub­ stanz und Akzidenzien bestehende Einzelding erhält seine Wesens­ wirklichkeit (esse substantiale) durch das absolute Sein. So wird ein jedes partizipierende Einzelding und seine Teile identifizierbar, obwohl das Einzelding mit seinem erworbenen Sein nicht identisch sein kann. Das Partizipationsprinzip kann also nicht durch die Identität begriffen werden. Da man die Partizipation mit der Identität nur approximativ beschreiben kann, schickt Thomas eine philosophisch wichtige Präzisierung voraus: Entitäten einer ontologisch niedrigeren Stufe können die Entitäten einer ontologisch höheren Stufe nur teilweise aufnehmen, da die ersten sich auf die zweiten in universaler Weise beziehen. Z.B. hat der Mensch am Lebewesen teil, weil er den ganzen universalistischen Gehalt des Gattungsbegriffs animal nicht in sich allein enthalten kann.596 Stattdessen kann das Absolute, das das Sein (ipsum esse) selbst ist, nicht an irgendetwas partizipieren. Das Absolute, an dem andere partizipieren, befindet sich außerhalb der Relation und Partizipation. Die Partizipation läge nicht vor, wenn etwas durch die Seins-Aufnahme nicht schon da wäre, wenn nämlich das Sein eines Einzeldings durch die Form noch nicht konstituiert würde.597 Wie kommt aber Thomas zu der Annahme, dass das eigen­ tümliche Sein des endlichen Subjekts (proprium esse subiecti) am ersten, mit sich selbst identischen Sein schlechthin, wirklich partizi­ piert? Die bisherigen Analysen, die die Seinsanalogie und die Seins­ struktur aufgedeckt haben, ermöglichen es ebenso, die epistemi­ schen und ontologischen Bedingungen der analogischen Seins- und 594 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, n.24; n.25; n.29–30; n.35–37; n.122–124. 595 Vgl. Schrimpf G., Die Axiomenschrift des Boethius (De Hebdomadibus), S. 127 f. 596 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, Axiom III, S. 87 f. »Et ideo quando aliquid particulariter recipit id quod ad alterum pertinet universaliter, dicitur partici­ pare illud, sicut homo dicitur participare animal quia non habet rationem animalis secundum totam communitatem [...].« / C.G.I, 32. 597 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, n.27. / C.G.II, 54.

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Erkenntnispartizipation zu begründen. Denn die Partizipation besagt, dass ein jedes Einzelding in seiner Seinsstruktur eine rezipierende Essenz besitzt; erst dadurch kann es am ersten Sein teilnehmen. Es wird offenbar, dass gerade die Bestimmung des Seins den Beweis der Partizipation voraussetzt: Das erste subsistierende Sein kann nur Gott in seiner völligen Absolutheit sein, da seine Wesenheit (essentia) und sein Dasein (esse) eins sind. Die Einzeldinge aber, die selbst nicht das Sein sind, können das Sein – ihrer raum-zeitlichen Kontinuität gemäß – nur durch die Teilhabe an Gott erhalten. Sie erwerben erst dann seine Wirklichkeit und werden Träger des Seins.598 Wie bereits angedeutet, teilt Thomas den Gedanken von Dionysius, der eine ähnliche Ansicht von der Partizipation vertritt, nämlich, dass das Leben und Alles, was so genannt wird, »am Sein selbst teilnimmt« (participat ipso esse).599 Nur Gott selbst ist das Sein und nicht mit der Kreatur, sondern mit sich selbst identisch ist. Dagegen erhalten alle kreatürlichen Gegenstände ihr Sein erst vom absoluten Sein. Es handelt sich um eine asymmetrische (nach Thomas – in der Analogie fundierte) Relation. In der asymmetrischen Relation ist das Kreatürliche mit dem Absoluten, dem Sein schlechthin, nach Thomas’ Auffassung nicht identisch; das Kreatürliche kann aber auch nicht unabhängig von dem Absoluten bestehen. Da Partizipation weder mit den Mitteln der Univozität noch der Äquivokation beschrieben werden kann,600 soll die asymmetrische Relation zwischen dem Krea­ türlichen in dessen ungleicher Gleichheit zum Absoluten als analog gedeutet werden, genauer: Ein jedes Einzelding und die ganze Kreatur partizipieren am Sein schlechthin, d.h. sind zu Gott analog. Auf diese These stützt sich auch eine andere Partizipationsthese, die besagt, dass sich das participatum zum participans als dessen Wirklichkeit (actus) verhält.601 Die Konsequenz der bis hierher erlangten Erkenntnisse – gemeinsam mit den beiden Partizipationsthesen – führt zu der Fest­ stellung, dass die Partizipation hier keinesfalls als etwas statisches, sondern als ein besonderer Akt des Seins (actus essendi) zu erfassen

S.Th.I, q.8, a.2: »[…] sed per hoc quod Deus est in aliquo loco, non excluditur quod alias non sit ibid: immo per hoc replet omnia loco, quod esse locatis omnibus, quae replent omnia loca.« 599 S.Th.I, q.75, a.5ad4. Zitat von Dionysius in De divina nom., cap.5. 600 S.Th.I, q.14, a.6ad3; q.11, a.2ad2. 601 S.Th.I, q.75, a.5ad4. 598

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ist, in welchem das esse eines jeden Einzelnen verwirklicht wird.602 Dass das Einzelding notwendigerweise am actus essendi teilhat,603 wird zur Voraussetzung dafür, dass verschiedene Wirklichkeiten, die an der reinen unendlichen Wirklichkeit (actus purus et infinitus) partizipieren, verschiedene Stufen der (Seins-)Einheit konstituieren und diesen entsprechend erkannt werden. Dieses universale Prinzip bewirkt den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit sowohl bei den einfachen und zusammengesetzten als auch bei den verstan­ desbegabten Substanzen. Das wird auch an Thomas’ Kommentar zu De hebdomadibus ersichtlich, in dem er zeigt, in welchem Verhältnis das Sein selbst (ipsum esse) zu der Form und zu dem, was ist (id quod est), steht:604 (a) Bei allem Einfachen (omne simplex) ist das Sein selbst (ipsum esse) und dasjenige, was ist (id quod est), ein und dasselbe; (b) jedes Zusammengesetzte aber, das non est suum esse, wird durch das Sein selbst (ipsum esse) verwirklicht; (c) auch die immateriellen Formen partizipieren am Sein selbst (ipsum esse);605 (d) mithin ist nur das Eine, das absolut Einfache, ein nicht partizipierendes (non participat esse), sondern subsistierendes Sein. Die Materie, die durch die Form an der Seinsvollkommenheit partizipiert, wirkt durch die Form, quae actus est. Allein dadurch können die Zusammengesetzten ihr quiditatives Sein haben und erkannt werden. Auf diesem Weg werden die proportionalen Verhältnisse der Kreatur zur ersten reinen Seinswirklichkeit formiert und der Seins- und Erkenntnisordnung nach erkenntnistheoretisch manifestiert.606 Eine entscheidende Rolle für die Partizipation spielt also der Form- und Seinsbegriff. Auch die Begriffe der Ähnlichkeit, des Wesens und der Ursache sind bei der Behandlung der Partizipations­ frage von grundsätzlicher Bedeutung. Es sei hier kurz daran erinnert, S.Th.I, q.76, a.8: »Actus autem est in eo cujus est actus.« S.Th.I, q.14, a.6: »Propria enim natura uniuscujusque consistit, secundum quod per aliquem modum divinam perfectionem participat.« S.Th.I, q.14, a.6ad3: »Sed divina essentia est aliquid exce­ dens omnes creaturas. Unde potest accipi ut propria ratio uniuscujusque, secundum quod diversimode est participabilis vel imitabilis a diversis creaturis.« 603 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, S. 85–86. 604 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, Axiom VIII, S. 96–97: »Quia tamen quaelibet forma est determinativa ipsius esse, nulla earum est ipsum esse, sed est habens esse […].« 605 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, Axiom VIII, S. 96–97. 606 Expositio in libri De Hebdomadibus, lect.2, Axiom VII und VIII, S. 94–97. / S.Th.I, q.75, a.5: »[…] potentia autem, cum sit receptiva actus, oportet quod actui proportionetur.« 602

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2.11 Ouod est participare?

welchen Zusammenhang Thomas zwischen dem Ähnlichkeits- und dem Partizipationsbegriff aufdeckt. Er bestimmt die zwei Ähnlich­ keitsarten wie folgt: (1) Ein Wesen kann an demjenigen partizipieren, was seinem Wesen ähnlich ist; demgemäß partizipiert das Sein des Seienden bzw. das geschaffene esse (esse commune)607 am Wesen Got­ tes. (2) Die zweite Ähnlichkeitsart bezieht Thomas auf die Form:608 Ähnlich ist das, was (a) immer an einer und derselben Form teilhat oder (b) an jener Form in ungleicher Weise teilhat (inaequaliter illam formam participant), wie etwa Luft und Feuer einander durch die Wärme ähnlich sind, auch wenn das Feuer vollkommener an Wärme als die Luft teilhat. Aus der zweiten Ähnlichkeitsart wird wiederum deutlich, dass die verursachten Dinge, ihr Sein per participationem besitzen.609 Folglich werden sie einheitlich in Bezug auf ihre Ursache; sie werden auch ähnlich genannt, »insofern sie die Form der Ursa­ che haben«.610 Die Erörterung der Frage nach den Ähnlichkeitsbeziehungen wird im Folgenden auf die zwei Argumente Thomas beschränkt: auf das Kausalitäts- und das Wirkungs-Argument. Die Wirkungen sind Thomas zufolge mit ihrer Ursache durch Ähnlichkeit verbunden: jedes Wirkende hat notwendigerweise mit demjenigen in Verbindung zu treten, auf das es unmittelbar einwirkt.611 Das Wirkende bildet nicht nur eine äußerliche Relation zu dem, auf das es wirkt, sondern »ist in dem, auf das es wirkt«.612 Insofern das absolut Eine nach Thomas in seinem eigenen Wesen nicht erfasst werden kann, wird es aus seinen Wirkungen bzw. den Einzeldingen heraus erkannt.613 Denn das absolut Eine, Gott, das in allen Einzeldingen präsent ist,

S.Th.I, q.3, a.4. S.Th.I, q.42, a.1. 609 S.Th.I, q.3, a.4; q.4, a.3ad3. 610 S.Th.I, q.42, a.1ad3: »Dicuntur enim causata similia causis, inquantum habent formam causarum […] forma principaliter est in causa, et secundario in causato.« / Expositio in libri De Hebd., lect.2, n.24: »[…] Et similiter effectus dicitur participare suam causam, et praecipue quando non adaequat virtutem suae causae […]« Wie Elders bemerkt hat, geht es hier um den dritten Weg der Partizipation, nämlich um die Partizipation der Kausalität nach. Vgl. Elders L. J. S., Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, S. 182 f. 611 S.Th.I, q.8, a.1. 612 S.Th.I, q.8, a.1: »[…] sicut agens adest ei in quod agit.« 613 S.Th.I, q.13, a.8. / C.G.I, 65. Die Wirkungen Gottes sind nach Thomas die Einzeldinge. »Effectus autem Dei sunt res singulares.« 607

608

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

bleibt selbst gleichzeitig separat.614 Auf dieser Grundlage geht jedes Ding aus dem Nichtsein in das Sein über und hat das Dasein so lange, wie Gott in ihm gegenwärtig ist.615 Der modus intelligendi ist mit den Wirkungen auf die Weise verbunden, dass sie vom Verstand entsprechend erkannt und benannt werden können. Das, was von den Wirkungen aus auf die Ursache verweist, sind äußere und innere Akzidenzien von Gegenständen. Die Analogie bringt dieses Verhältnis wie folgt zur Darstellung: Wie Arznei, Medizin oder Speise auf die Gesundheit bzw. Zweckursache bezogen sind,616 so steht auf analoge Weise auch die ganze Schöpfung im Verhältnis zum absolut Einen als ihrem universalen Prinzip,617 ihrer Ursache schlechthin.618 Dieses Partizipationsparadigma betrifft nach Thomas auch die verstandesbegabten Subtanzen. Die verstandesbegabte Substanz ist ein Kompositum, bestehend ex actu et potentia, aus Form und mitge­ teiltem Sein (ex forma et esse participato).619 Eben dadurch, dass die verstandesbegabte Substanz, die menschliche Seele, nach Thomas am höchsten Intellekt partizipiert, hat sie das Vermögen zum Erwerb von Wissen über die universale absolute Wirklichkeit, das Absolute. Das Absolute aber, das absolut Eine in se, ist die Ursache aller Dinge durch seinen Intellekt, da sein Sein gerade sein Erkennen ist. Dem indirek­ ten Realismus eines Thomas entsprechend beruht die menschliche C.G.II, 13: »Non igitur relationes, quibus Deus ad res alias refertur, sunt res alique extra Deum existentes.« S.Th.I, q.76, a.3; q.75, a.5. Hinsichtlich dieser Frage besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Thomas und den Neuplatonikern. Z.B. Plotin bestimmt den Nous als die einzige Quelle der Formen der geschaffenen Dinge; das absolut Eine, Gott, befindet sich jenseits der Formen, es ist das äußerliche Sein. Vgl. Taylor R. C., Aquinas, the Plotiniana Arabica and the Metaphysics of Being and Actu­ ality. Journal of the History of Ideas 59, 2 (April 1998), S. 220 f. / Plotinus, Enneads V. Plotini Opera II. Eds. P. Henry and H.-R. Schwyzer. Paris, 1959, V, 2, 1. 615 S.Th.I, q.21 a.4. / S.Th.I, q.8, a.1. 616 S.Th.I, q.16, a.2ad3. 617 In Bezug auf das universale Prinzip, das in jedem Seienden wirkt, weist Dümpel­ mann auf zwei formale Prinzipien hin: auf »das Sein und das, was das Sein aufnimmt«, infolgedessen jede Kreatur das Sein haben kann. Er schließt sich an Oeing-Hanhoffs ähnliche Auffassung an, der beide formalen Prinzipien für diejenigen hält, die das konkrete Seiende konstituieren. Vgl. Dümpelmann L., Kreation als ontisch-ontologi­ sches Verhältnis. Zur Metaphysik der Schöpfungstheologie des Thomas von Aquin. Frei­ burg; München: Alber, 1969, S. 27. 618 S.Th.I, q.13, a.5: »Et sic, hoc quod dicitur de Deo et creaturis, dicitur secundum quod est aliquis ordo creaturae ad Deum, ut ad principium et causam […].« 619 S.Th.I, q.75, a.5ad2; ad4. 614

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2.11 Ouod est participare?

Erkenntnis auf Erkenntnisbildern. Allein Gott erkennt nicht durch die geistigen Erkenntnisbilder (species intelligibiles), sondern durch seine Wesenheit auf eine immaterielle Weise.620 Das göttliche Wissen über die Vollkommenheiten,621 die der erste Intellekt durch sich selbst erkennt,622 ist der Gehalt, zu dem der menschliche Verstand und das philosophische Erkennen keinen Zugriff haben. In der platonischen Epistemologie wird dieser Sachverhalt durch die Sonne verbildlicht, die dem Sichtbaren das Vermögen verleiht, gesehen zu werden.623 Und das, was dem Erkennbaren das Erkannt-zu-werden gewährt, ist das alles übergreifende Gute.624 Thomas vertritt die Ansicht, dass der Intellekt Gottes (Ur-Bild), der die Ursache der Dinge ist, dem menschlichen Verstand nicht zugänglich sein kann.625 Dieses Ur-Bild, das »die Form des Verstandes Gottes« ist,626 enthält in sich alle anderen erkennbaren Formen (auch menschliche Wesensform, anima intellectiva) auf analoge Weise. Denn alles wird im Wesen Gottes vereint, insofern Alles von Wirkursachen gesteuert wird.627 Dafür dient eine einzige Ursache. Von diesem Standpunkt aus wird ersichtlich, wie unvollständig das menschliche Wissen ist, wenn es auf die Erkenntnis Gottes angewendet wird. Auch der Analogiebegriff, der hier eingesetzt wird, ist zu diesem Zweck nicht ausreichend. Die Partizipationsfrage kann in folgenden Punkten zusammen­ gefasst werden: (a) Wenn Gott als Ganzes (y) und auch jedes von ihm realdistinkte Einzelding (x) in seiner kreatürlichen Unähnlichkeit628 als ein Ganzes bezeichnet wird, kann Gott (y) als Seins-Geber für alle und für jedes Einzelne (x) aufgefasst werden. Auf diese Weise S.Th.I, q.84, a.2: »Solus igitur Deus per suam essentiam omnia intelligit, non autem anima humana […].« 621 Es geht nicht um die kreatürlichen Vollkommenheiten, sondern um die Vollkom­ menheiten wie Wesen, Güte, Weisheit, die in Gott enthalten sind. C.G.I, 30. 622 S.Th.I, q.14, a.2. 623 Siehe dazu: Harte V., Plato on parts and wholes: the metaphysics of structure. Oxford: Oxford Univ. Press, 2002. 624 Pol. VI, 508 c; 509a–b; 517c. 625 C.G.I, 65: »Divinus intellectus ex rebus cognitionem non sumit, sicut noster, sed magis per suam cognitionem est causa rerum […].« 626 C.G.I, 65. 627 C.G.II, 41: »[…] nam multa non uniuntur nisi per aliquod unum.« 628 S.Th.I, q.39, a.8: »[…] Quae quidem appropriatio fit et secundum rationem similitudines, si consideretur quod in divinis personis est; et secundum rationem dissimilitudinis, si consideretur quod in creaturis est.« 620

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

werden die Kreatur, die das Sein (nur) haben kann, und das Absolute, ipsum esse subsistens, in einer umfassenderen Ord­ nungseinheit durch die Partizipation zusammengebunden.629 (b) Gott kann nicht als mereologisch fundierte extensive Abstraktion erfasst und mit der Vielheit der Schöpfung als Summe, bestehend aus allen Teilen der Welt und aller Relationen, identisch begriffen werden. Gott ist nur mit sich selbst identisch. (c) Die ontologische und epistemische Partizipationsfrage ist mit dem logischen Aspekt verbunden. Logische Partizipation bedeu­ tet, dass im prädikationslogischen Sinne etwa Individuen an Spezies und Spezies an Gattungen partizipieren. Das absolut Eine, so die ontologische These, partizipiert nicht als ein Teil an den Dingen und steht dennoch mit der Kreatur in Relation. Das manifestiert sich auf analoge Weise auf verschiedenen Ebenen dieser Relation. Die epistemologische These besagt, dass nur die partizipativen analogen Beziehungen die Grundlage für das Erkennen des absoluten Seins bilden und dem Erwerb des Wis­ sens vom Absoluten dienen.

2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen Der gesamte epistemologische und ontologische Fragekomplex des Kapitels 2 wurde der wissenschaftlichen und philosophisch-theolo­ gischen Erkenntnis gewidmet. Es wurde nach dem wahren Wissen gefragt, das sich bei Thomas – und in einigen wesentlichen Aspekten bereits bei Aristoteles – auf die indirekte Erkenntnis bezieht und die Analogie voraussetzt. Die Konzeption der indirekten Erkenntnis, die bei Thomas mit der Erkenntnis des Allgemeinen (dem eigentli­ chen Erkenntnisobjekt des Intellekts) begründet liegt, die aber in der Konkretheit der Einzeldinge ihren Anfang nimmt, bezieht die Analogie notwendigerweise ein. Diese Konzeption beansprucht das Wissen vom Absoluten, das unerkennbar ist, zu erlangen.630 So bleibt dem Intellekt, der über das Wissen vom Kreatürlichen verfügt, der Erwerb des absolut wahren Wissens versagt. Der Begriff des Wissens nach Thomas soll also kein absolutes, sondern limitiertes Wissen enthalten. Anhand der Wissens-Differenz zwischen limitiertem und 629 630

S.Th.I, q.39, a.8. S.Th.I, q.39, a.8.

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2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen

absolutem Wissen zeichnet sich die Differenz zwischen dem mensch­ lichen Intellekt und dem des Gottes ab. Abschließend werde ich noch einmal auf die Frage nach dem Erwerb des Wissens eingehen, indem ich die Differenzierung der Intellekte einbeziehe.631 Thomas’ Postulat, dass »Gott alles zugleich erkennt (omnia simul intelligit)«, welches besagt, dass er »alles, was in einem Ding ist« und »sich selbst und alle Mittelursachen, die zwischen ihm selbst und jedem Ding liegen«, erkennt,632 bedingt das menschli­ che Verständnis vom Intellekt Gottes. Dagegen kann der menschliche Intellekt, dessen abstraktive Erkenntnis in den extramentalen Einzel­ dingen gründet, »nicht vieles in einer einzigen Art erkennen«.633 Die Tätigkeit des menschlichen Intellekts und die des göttlichen (tätigen) Prinzips sind nicht gleichzusetzen. Daraus, dass unser Verstand nicht alles zugleich erkennen kann, folgt nicht notwendigerweise, dass er, um eine bestimmte Vielheit zu erkennen, immer von Teil zu Teil voranschreiten muss. Der Verstand erkennt durch die a materia individuali et sensibili gewonnenen Allgemeinbegriffe, die gleichzeitig etwa »viele Lebewesen« durch den Gattungsbegriff zu erkennen gibt. Die dadurch verursachte Wissens-Differenz liegt nicht allein darin, dass die menschliche Erkenntnis die Vielheit in ihrer Verschie­ denheit erkennt, der göttliche Verstand das aber nicht tut, sondern vielmehr in dem Wissen, das der erste Intellekt durch ein identisches Urbild (die Form seines Intellekts) erkennt. Der menschliche Verstand aber erkennt indirekt durch die species intelligibiles. Tiefer liegende Gründe dafür, dass der göttliche Intellekt auch alles, »was in einem

631 C.G.I, 50. Bei dieser Frage bezieht sich Thomas auf die Differenz zwischen dem menschlichen »erreichten Intellekt« und dem aktuellen Intellekt Gottes bei Maimo­ nides. Maimonides selbst führt die Diskussion zwischen Al-Fārābī und Avicenna fort. Die Ablehnung der Verbindung des menschlichen Intellekts mit dem aktuellen Intel­ lekt Gottes ist die Position von Maimonides. Der menschliche Intellekt kann auf keiner Entwiklungsstufe die Intelligibilien des aktuellen Intellekts Gottes vollständig erfas­ sen. Siehe: Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-72. // Zur Frage vgl. Altmann A., Maimonides on the Intellekt and the Scope of Metaphysics. // Davidson H. A., Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intellect, S. 7–43. // Rescher N., Studies in the History of Arabic Logic, S. 21–27, 39–42, 41, Anm. 11, 76–86. // Vajda G., Introduction a la pensée juive du moyen age. Paris: Vrin, 1947, S. 36, 135, 161–165, 178. 632 C.G.I, 50. 633 C.G.I, 55: »[…] omnia simul intelligit«; »Intellectus enim noster simul multa actu intelligere non potest […].«

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Ding ist«, erkennt, hängt mit dem Wesen des Einen zusammen, das den Vorzug hat, »alles Seiende in sich«634 zu begreifen. Ich schließe die Differenzierung der Intellekte mit den folgenden zusammenfassenden Präzisierungen zum limitiert-menschlichen und absoluten Wissen:635 a) Die Differenz der Intellekte ist von dem Erkenntnisgrund her zu verstehen: Der erste Verstand geht weder aus der Vielheit noch der Einheit der Dinge, sondern aus der Ursache hervor, sofern er selbst die erste Wirkursache ist. Der Erste Verstand erkennt das, was er verursacht und seine Wirkung (effectus). Diese sind nicht nur das Allgemeine, sondern auch und insbesondere die Einzeldinge, insofern »in den Einzeldingen Sein« vorhanden ist (habent esse solum in singularibus). b) Wenn der menschliche Verstand die Prinzipien erkennt, durch die das Wesen eines so und so geschaffenen Dinges konstituiert wird, erkennt der erste Verstand dasjenige, was »in seinem Wesen enthalten ist«, nämlich das, was in seinem Wesen als ersten Ursprung das Sein hat. Daraus folgt, dass der göttliche Verstand sowohl die materia als auch die materia signata bzw. das Individuationsprinzip der materiel­ len Gegenstände und in der Materie individuierten Formen erkennt. Die Erkenntnis des göttlichen Verstandes reicht bis zur Materie, bis zu einzelnen Akzidenzien und Formen, also bis zu den Einzeldingen. c) Die Differenz der Intellekte betrifft auch die Erkenntnis der Arten und Gattungen. Der erste Verstand erkennt die Arten, jedoch nicht die vom menschlichen Verstand definierten Arten oder Gattun­ gen. Nach der wirkungsvollen Interpretation von Inciarte erkennt er die Individuen »als besondere modi essendi verstandene Arten«.636 Der menschliche Verstand kann die Natur der Gattungen und die ersten Unterschiede (differentiae primae) nicht vollständig erfassen, da ein und derselbe Träger durch verschiedene Formen und verschie­ dene Gattungen wie Gestalt oder Farbe geformt wird.637 Der Erste Verstand erkennt aber in seinem Wesen die gemeinsame Natur des Seienden (naturam communem entis), daneben erkennt er die ersten Unterschiede: das Allgemeine und das Einzelne (universale et singulare), die beide den Seienden zukommen. So gelangt man zu C.G.I, 54. C.G.I, 65. 636 Für die Interpretation der Frage zieht Inciarte auch andere Textstellen heran: S.Th.I, 15, a.3. / De Verit., q.3, a.8. Siehe: Inciarte F. Forma Formarum, S. 144 f. 637 C.G.I, 55.

634 635

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2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen

der Feststellung, dass erstens der menschliche Verstand das Einzelne erkennt, wenn auch nicht auf vollkommene Weise, zweitens aber er nicht das Allgemeine selbst, sondern nur den auf analoge Weise erlangten Begriff des Allgemeinen zu erkennen vermag. Das, was im logischen Sinn für den menschlichen Verstand nicht möglich ist, ist für den göttlichen Verstand möglich. d) Der Erste Verstand, der sein Sein (ipsum suum esse) und sein Erkennen ist (suum cognoscere), erkennt die Vollkommenheiten des Seins, die sich der Einfachheit halber im ersten Verstand befinden.638 Der Mensch erfasst aber die Vollkommenheiten so, wie sie von ihm empfangen werden, also, wie sie in der Kreatur gegeben sind, das heißt mehrdeutig und mithilfe der Analogie. e) Der menschliche Verstand, die Einbildungskraft (imagina­ tione) und die Sinne sind epistemische Instrumente, die sinnliche Wahrnehmung, Abstraktion, Bejahung und Verneinung vorausset­ zen. Die unkörperliche Intelligenz Gott erkennt dagegen mit einem einfachen Verstand (uno suo simplici intellectu), der weder über sinn­ liche Vorstellungen verfügt noch eine logische Erkenntnis ist, sondern eine Erkenntnis der partizipierenden Wirklichkeiten darstellt, die alle Akte und alle Formen in sich enthält. f) Die Differenz der Intellekte bezieht Thomas auf die Assi­ milation des Erkennenden und des Erkannten (per assimilationem cognoscentis et cogniti): In der menschlichen Erkenntnis vollzieht sich die Assimilation durch das Wirken der sinnfälligen Dinge auf die menschlichen Erkenntniskräfte (per actionem rerum sensibilium); göttliches Erkennen besteht dagegen im Wirken der Form des ersten Verstandes als actus auf die erkannten Dinge,639 die durch den ersten Akt zu individuellen Dingen geworden sind. Die oben angeführten Erläuterungen der Differenzen der Intel­ lekte haben die Wissens-Differenz durchsichtiger gemacht. Aber aus diesen Erläuterungen wird auch ersichtlich, dass die Probleme, die mit dem menschlichen Intellekt verbunden sind, nicht gelöst wurden. Gemeinsam mit Thomas ist festzuhalten, dass der mensch­ liche Intellekt nicht nur über kein Vermögen verfügt, adäquates S.Th.I, q.13, a.3. S.Th.I, q.13, a.3: »Cognitio autem omnis fit per assimilationem cognoscentis et cogniti: in hoc tamen differt, quod assimilatio in cognitione humana fit per actionem rerum sensibilium in vires cognoscitivas humanas, in cognitione autem Dei est e converso per actionem formae intellectus divini in res cognitas.« 638

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

Wissen vom Absoluten zu erreichen, sondern auch keine vollständige Erkenntnis vom Einzelnen erwerben kann. Der Intellekt, der das Einzelne vollständig erkennen kann, ist derjenige Gottes.640 Es geht also gerade in dieser Hinsicht um das limitierte Wissen des mensch­ lichen Verstandes. Abgesehen von diesen epistemischen Problemen stellt Thomas hier keine Alternative, ob die Univozität, Äquivozität oder Analogie als Lösung gilt, da nur die Analogie dazu dient, die limitierte Erkenntnis Gottes durch die menschlichen Erkenntniskräfte zu erläutern.641 Um die aufgezeigten Wissens-Differenzen (zumindest teilweise) nicht fälschlicherweise für die Ursache eines grenzenlosen Abstands zwischen Kreatur und Gott zu halten, werden mathematische Pro­ portionen eingeführt.642 Die mathematische Proportion leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Abstands zwischen Gott und Kreatur, indem sie besagt, dass eben jener Abstand zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Intellekt bzw. Wissen nicht grenzenlos sein kann.643 Anders gesagt: Je nachdem, wie wir – mathematisch oder metaphysisch – diesen Abstand erfassen, können wir uns auch die Art und Weise vorstellen, wie das Verhältnis zwi­ schen Kreatur und Gott zum Ausdruck gebracht werden kann. Dieses Verhältnis kann nicht durch die Ähnlichkeit gedeutet werden; es handelt sich bei Thomas ausschließlich um ein analoges Verhältnis.644 Thomas-Interpreten deuten diese Ablehnung der Ähnlichkeit als eine der thomanischen Paradoxien,645 die es zum Ziel haben, eine angemessene Grundlage für die menschliche Erkenntnis und den Wissenserwerb zu geben.

640 S.Th.I, q.13, a.3: »Intellectus igitur divinus potest cognoscere singularia, non autem humanus.« 641 S.Th.I. q.13, a.7ad4. 642 De Verit., q.2, a.11. / S.Th.I, q.12, a.1ad4. 643 De Verit., q.2, a.11. 644 De Verit., q.2, a.11: »[...] si enim in Petro non differet homo et hominem esse, impossibile esset quod homo univoce diceretur de Petro et Paulo, quibus est esse diversum, nec tamen potest dici quod omnino aequivoce predicetur quidquid de Deo et creatura dicitur, quia si non esset aliqua convenientia creaturae ad Deum secundum rem, sua essentia non esset creaturarum similitudo, et ita cognoscendo essentiam suam non cognosceret creaturas.« 645 De Verit., q.2, a.11. / S.Th.I, q.13, a.5. // Vgl. Park S.-Ch., Die Rezeption der mittelalterlichen Sprachphilosophie, S. 382–399.

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2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen

Maimonides beeinflusste Thomas’ Verständnis von der WissensDifferenz,646 sowie er auch in anderen Fragen vorbildhaft für Thomas ist. Die Frage nach dem Weg zum vollständigen Wissen stellt sich bei Maimonides auf zugespitzte Weise. Das von ihm entwickelte Verfahren lässt die Wissens-Differenz nicht mittels des Begriffs der Analogie, sondern der Äquivokation denken.647 Maimonides, der hinsichtlich der Gleichsetzung des menschlichen Intellekts und seines Erkennens des Endlichen mit dem göttlichen Wissen bekanntlich sehr skeptisch ist,648 zieht in diesem Zusammenhang dennoch den Ähnlichkeitsbegriff heran. Wie jene »Ähnlichkeit« aber zu verstehen ist, kann man seiner Kritik an den naturphilosophischen Einsichten des Kalam entnehmen. Die Frage nach der »Ähnlichkeit« und die diesbezügliche Kritik ist bei Maimonides dringlich, da der mensch­ liche Intellekt nach Kalam imstande sei, eine gewisse »Ähnlichkeit mit der Weisheit Gottes« zu erreichen, da der Mensch das erkennt, »was geschaffen ist«.649 Ob Menschen demnach den göttlichen Willen rational ergründen können oder nicht, hat Kalam nicht beschäftigt. Auch die These des Kalam, dass die Imagination die Grundlage der Erkenntnis bildet, und alles, was der Intellekt erfassen kann, auch möglich ist, wird von Maimonides scharf kritisiert. An die Stelle der Imagination setzt er die Übereinstimmung mit der gesetzlichen Ordnung der Wirklichkeit. Die Sonderstellung der Kritik des Kalam innerhalb der maimoni­ dischen Philosophie fand bei Thomas kein vergleichbar gewichtiges Echo. Dagegen wurde der Begriff des »erworbenen Intellekts« (intel­ lectus adeptus) stark rezipiert. Aus dem Bedürfnis, das menschliche Wissen zu begründen und eine Basis dafür bei der bleibenden Diffe­ Met.Δ15, 1021a27–1021b10. // Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-18. // S.Th.I, q.13, a.7. Diese Wissens-Konzeption von Thomas nimmt in mehreren Aspekten ihren Ausgang von dem von ihm rezipierten Denker Aristoteles und Mai­ monides. 647 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-34. / De Verit., q.14, a.10. / In Sent.III, d.24, q.1, a.3. // Vgl. zur Frage Buijs J. A., Maimonidean Critique of Thomistic Analogy. Journal of the History of Philosophy 41, 4 (2003), S. 449–470. 648 Siehe zur Frage Stubbens A., Naming God: Moses Maimonides and Thomas Aquinas. The Thomist 54 (1990), S. 233–241. // Seeskin K., Searching for a Distant God. The Legacy of Maimonides. New York: Oxford Univ. Press, 2000, S. 40–44. 649 Kalam, die zweite Schule der islamischen Aristoteliker zur Zeit des Maimonides, ist durch die Voluntarismus- und Atomismuslehre bekannt. Vgl. Mosche ben Mai­ mon, Führer der Unschlüssigen, I-69, 58; II-14. Vgl. zu dieser Diskussion S. 305, Anm. 906. 646

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II. Die Epistemologie des Thomas von Aquin und der Ort der Analogie

renz zwischen dem Vermögen des menschlichen Intellekts und dem Intellekt Gottes zu finden, hat Thomas den Begriff des »erworbenen Intellekts« des Maimonides übernommen. Der menschliche Intellekt, so Maimonides, kann durch das Studium der Metaphysik eine höhere Stufe in seiner graduellen Entwicklung erreichen, wodurch er mit dem Wissen Gottes in eine bestimmte Verbindung gebracht wird. Diese Auffassung vom »erworbenen Intellekt« bei Maimonides hat einen spezifischen Sinn. Für die Beschreibungen des menschlichen Wissens und Gottes Weisheit werden nur äquivokative Prädikate von Gott zugelassen.650 Denn das Wesen oder der Intellekt Gottes als eine Kraft, »die dem Körper immanent […] sein könnte«,651 zu denken, ist für den menschlichen »erworbenen Intellekt« nicht möglich. Deshalb kann Gott einem menschlichen Verstand im eigentlichen Sinn nicht zugänglich sein. Die Klärung der maimonidischen Wissens-Differenz wird dabei behilflich sein, das Analogie-Thema bei Thomas auch in Kapitel 3 und 4 weiter zu erörtern. Wenn etwa die Fragen nach der affirmativen Prädikation und dem Einfluss der negativen Prädikation des Maimo­ nides auf Thomas bezogen oder wenn semantische und sprachlogische Ausführungen der Anwendbarkeit des Wissens auf Gott behandelt werden, sind Kenntnisse vom limitierten und absoluten Wissen not­ wendig. Zu den Grundlagen der Philosophie von Thomas gehört die Analogie als ein unentbehrliches Mittel der Seinserkenntnis. Diese analoge Seinserkenntnis beinhaltet den Erkenntnisprozess, in wel­ chem der von der Natur begrenzte Verstand, der die materiellen Dinge auf immaterielle Weise erkennt, auch die über ihm stehenden immateriellen Dinge nach der Art und Weise der zusammengesetzten Dinge erkennt, ohne sie für zusammengesetzt zu halten.652 Das Wissen, das auf diese Weise erworben wird, überträgt man mit den Mitteln der Analogie auf die »Unerkennbarkeit« Gottes. Diese unüberwindbare Schwierigkeit ist beispielsweise mittels der Vorstel­ Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-56. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-72. 652 S.Th.I, q.13, a.12ad3: »Manifestum est enim quod intellectus noster res materiales infra se existentes intelligit immaterialiter, non quod intelligat eas esse immateriales, sed habet modum immaterialem in intelligendo. Et similiter, cum intelligit simplicia quae sunt supra se, intelligit ea secundum modum suum, composite: non tamen quod intelligat ea esse composita. Et sic intellectus non est falsus, formans compositionem de Deo.« S.Th.I, q.34, a.3. 650

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2.12 Fazit: Das limitierte Wissen und das absolute Wissen

lung einer Gottesschau (etwa »unbegreifliches Mysterium«)653 nicht zu lösen. Es bleibt auch für das Weitere festzuhalten, dass – trotz die­ ser Schwierigkeiten – die Einsicht geltend gemacht werden kann, dass das erkannte Sein den tätigen Intellekt nicht zu falschen Einsichten oder falschem Wissen führt. Es handelt sich bei Thomas um limitiertes Wissen. Mithilfe der Konzeption des limitierten Wissens oder der Wissens-Differenzen, deren Erfassung durch epistemische und onto­ logische Diskussionen vorbereitet wurden, sind die Voraussetzungen geschaffen, die für die folgende Erörterung der semantischen und prädikationslogischen Fragen der analogen Erkenntnis (Kapitel 3 und 4) notwendig sind.

Zur Gottesschau als Offenbarung siehe: Rahner K., Über die Unbegreiflichkeit Gottes bei Thomas von Aquin, S. 33–47.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie Das vorliegende Kapitel behandelt semantische Fragen654 mit Rück­ sicht auf die thomanische Analogie-Problematik. Geht es um die Frage, ob und in welcher Ausarbeitungsstufe eine semantische Theo­ rie bei Thomas vorliegt, und unter welchen (epistemischen und ontologischen) Bedingungen über Semantik in der thomanischen Sprachphilosophie gesprochen werden kann, ist zuerst auf Folgendes zu verweisen. Als Semantik bei Thomas gilt hier seine Darstellung des Verhältnisses von Sprache und Sein und der semantischen nomenratio-res-Relation oder allgemeiner, der Sprache-Intellekt-Wirklich­ keits-Relation.

654 In aristotelischer Scholastik fundierte mittelalterliche Sprachlogik und Semantik beschäftigen sich im allgemeineren Sinne mit der (Wissenschafts-)Sprache als Zei­ chensystem. Die logische (Wort- und Aussage-)Semantik, die das Verhältnis zwischen Zeichen und deren Bedeutung untersucht, und die allgemeine Semantik, die die Spra­ che als ein Zeichensystem und die Verhältnisse zwischen Sprache und Denken behan­ delt, sind die zwei wichtigsten Bereiche der Semantik, auf die ich eingehen werde. Die semantischen Unterscheidungen in Thomas’ Sprachphilosophie sind vor allem der griechisch-arabischen Logik, die syntaktischen Unterscheidungen – der Rhetorik und Grammatik entnommen worden. Siehe dazu Ebbesen S. (Ed.), Medieval Semantics. Selected Studies on Medieval Logic and Grammar. London: Variorum, 1984. // Pin­ borg J., Logik und Semantik im Mittelalter. Ein Überblick mit einem Nachwort von H. Kohlenberger. Stutgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog, 1972. // Kutschera F. von, Elementare Logik. Wien [u.a.]: Springer, 1967. // Tarski A., Grundlegung der wissenschaftlichen Semantik. Actes du Congrès International de Philosophie scienti­ fique, III. Language et pseudo-problemes, Actualites scientifiques et industrielles 390. The Jornal of symbolic logic 2, H. 2. Paris: Hermann & Co, 1936, S. 29–34. / Auch in: Berka K., Kreiser L., Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik. Berlin: Akademie-Verlag, 1971, S. 350–356. // Stegmüller W., Das Wahr­ heitsproblem und die Idee der Semantik. Eine Einführung in die Theorien von A. Tarski und R. Carnap. Wien: Springer, 1957. // Hoffmeister J., Regenbogen A. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner, 1955, (2) 2013.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Aus der Darstellung semantischer Begriffe und Ausdrücke kann erschlossen werden, warum die Frage nach der logisch-semantischen Wahrheit der Wort- und Satzbedeutung ohne Analogie bei Thomas unbeantwortet bleibt. Unter den sprachphilosophischen Themen zeichnet sich bei Thomas die Relation zwischen sprachlichen Aus­ drücken und außersprachlichen Objekten als zentral aus. Thomas’ Behandlung dieser Relation ist von der allgemeinen Frage nach der Bedeutung/Bezeichnung (significatio) der sprachlichen Ausdrücke655 und von der speziellen Frage nach den univoken, äquivoken und analogen Bedeutungen geleitet. Seine Vorstellung von der Bedeu­ tungsrelation zwischen dem sprachlichen Ausdruck und dem von die­ sem bezeichneten Gegenstand entwickelt Thomas in der Diskussion um die aristotelische und boethianische nomen-ratio-res-Relation.656 655 Bezüglich der Übersetzung lateinischer Ausdrücke bestehen gewisse Schwie­ rigkeiten. Wie Schulthess bemerkt, bedeutet »significatio« weder »Bedeutung«, »Bezeichnung« oder »Referenz« noch »Denotation«. Dass sich »significatio« bei Thomas als Bedeutung oder Bezeichnung deuten lässt, bestätigen folgende zwei Beispiele: S.Th.I, q.1, a.10: »Illa ergo prima significatio, qua voces significant res […]« und S.Th.I, q.13, a.1: »[…] sicut hoc nomen homo exprimit sua signifcatione essentiam hominis secundum quod est: significat enim ejus definitionem, declarantem essentiam ejus […].« Siehe Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. IX. 656 Peri herm.1, 16a 3–9; 4, 16b26–30. // Boethius, Commentarii In librum Aristo­ telis Peri hermeneias. Ed. K. Meiser. Leipzig: Teubner, 1880, II, 23, 1–5. // In Perih.I, L.1, lect.2, n.15, 19–22; n.15: »[...] voces significant intelellectus conceptiones imme­ diate et eis mediantibus res.« Aus Diskussionen um die sprachlichen Zeichen bei Aristoteles und Boethius lässt sich ableiten, dass die nomen-ratio-res-Relation (bzw. sonai-noemata-onta) auch für die thomanische Semantiktheorie zentral wird. Am Anfang des (vieldiskutierten) Teils 1 (16a3–9) in Peri hermeneias stellt Aristoteles die Frage nach den sprachlichen Ausdrücken, die Zeichen von Gedanken und Zeichen von Dingen sind. Die Behandlung dieser Frage bei Aristoteles wird zur semantischen Frage nach der Signifikation und macht die Grundlage der Theorie der Bedeutung aus. Die Bedeutung wird als Relation zwischen dem Wort und dem extramentalen Gegenstand bestimmt. Boethius interpretiert die gesprochene und geschriebene Sprache (Zeichen der seelischen Vorstellungen) als Komplex konventioneller Signifikanten. Siehe dazu Kretzmann N., Aristotle on Spoken Sounds Significant by Convention. In: Corcoran J. (Ed.), Ancient Logic and its Modern Interpretation. Dordrecht: Springer Nether­ lands, 1973. // Magee J., Boethius on Signification and Mind. Leiden: Brill, 1989. // Whitaker C. W. A., Aristotle’s De Interpretatione: Contradiction and Dialec­ tic. New York: Oxford University Press, 1996, S. 8–35. // Aristoteles, Peri Hermeneias. Übers. und erläutert von H. Weidemann. Berlin: Akademie Verlag, 1994, S. 134–153 (zur Interpretation des Textes 16a3–8). // Enders H., Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff. München [u.a.]: Schöningh, 1975, S. 50, 54.

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3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie

Thomas entscheidet sich für diese dreistellige Relation, in der es um zwei Relationen, nomen-ratio/conceptus und conceptus-res, geht. Die sich anschließenden Probleme haben ebenfalls mit beiden Relations­ arten und ihrem Zusammenhang zu tun. Thomas’ semantische Einsicht fundiert auf seiner Ontologie bzw. Metaphysik und erkenntnistheoretischen Philosophie. Hinter der Frage der dreistelligen Semantik stehen Fragen nach kognitiven Enti­ täten: Wenn es etwa um die gesprochenen Wörter geht, die Zeichen (signa) unserer Begriffe sind, soll geklärt werden, wie die Wesenheit der schon erkannten Gegenstände (und nicht der Erkenntnisprozess selbst) mittels der Zeichen im Verstand repräsentiert wird.657 So kommen beide Relationsarten klar zum Ausdruck: die Signifikati­ onsrelation und die Relation des Repräsentierens zwischen einem bezeichneten Begriff und einem extramentalen Gegenstand658 oder einer Vielheit von Gegenständen und einem sie repräsentierenden Begriff.659 Insbesondere die letzte Relation wird zum Hintergrund der Frage, was das Verhältnis zwischen dem Intellekt und dem (zu erken­ nenden und erkannten) Wesen des extramentalen Gegenstandes für die Semantik bedeutet. Aufgrund der Unterscheidung zwischen (1) dem von den Dingen erkannten Inhalt, der durch sprachliche Ausdrücke im Intellekt eines Erkennenden repräsentiert wird, und (2) dem Gegenstand, der von einem sprachlichen Zeichen bezeich­ net wird, werden die strukturellen Züge als dreistellige Semantik 657 Ich ziehe hier eine gegenwärtige Auffassung des Zeichens heran, die der scholas­ tischen realistischen Auffassung des Zeichens besonders nahe ist. Die Zeichen nach Tugendhat werden dazu verwendet, »für einen Gegenstand zu stehen«, sie sind dem­ nach gegenständlich orientiert. Vgl. Tugendhat E., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 180, 178–184. 658 Peri herm.1, 16a8. Die beiden Relationsarten der dreistelligen Semantik bei Thomas gehen auf Aristoteles zurück. Worte können an erster Stelle als Zeichen der Begriffe und an zweiter Stelle als Zeichen der Gegenstände erfasst werden. Siehe: Aristoteles, Organon I/II. Übers. und Einleitung von E. Rolfes. Hamburg: Himmel­ heber & Co, 1974, I: IV, 1b–2a; V, 2a; VII, 7a–7b; II: I–V, 16a–1a. Die Frage der Scho­ lastiker, was die Wörter als Zeichen an erster Stelle bezeichnen – Dinge oder Begriffe –, bleibt ein Gegenstand der Diskussionen auch in der nachscholastischen Philosophie (15. bis 17. Jahrhundert). Zu dieser Debatte siehe Ashworth E. J., Do Words Signify Ideas or Things? The Scholastic Sources of Locke’s Theory of Language. Journal of the History of Philosophy 19 (1981), S. 299–326. // Vgl. auch Magee J., Boethius on Sig­ nification and Mind, S. 27 ff. 659 Peri herm.1, 16a3–8; 3. / Met.Γ4, 1006a29–1006b13. Zu diesen Fragen: Kessler E., De significatione verborum. Spätscholastische Sprachphilosophie und humanisti­ sche Grammatik. Res publica Litterarum 4 (1981), S. 285–313.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

konzeptualisiert. Wenn Thomas die für die Semantik grundlegenden Relationsarten analysiert, bezieht er weitere Begriffe wie suppositio, intentio und modus significandi ein. In der Epistemologie des Thomas manifestiert sich das Verständ­ nis davon, wie sich unser Intellekt zu den extramentalen Erkenntnis­ gegenständen verhält, welche Rolle die Form als Seinsprinzip der Dinge und die intelligiblen Spezies als Abstraktionsprinzip spielen, und wie das Wissen generell und speziell möglich ist. Behandelt man diese Problematik aus sprachphilosophischer Sicht, ist auch hier nicht nur die Analogie von Bedeutung, sondern auch konkurrierende Begriffe wie Univokation und Äquivokation sind mit einzubeziehen. Was den Begriff der Analogie und ihre Äquivalente (vor allem Pro­ portion und Proportionalität) ausmacht, wenn sie als semantische Begriffe behandelt werden,660 und worin und bei welchen Fragen die Priorität des analogen Gebrauchs der Wörter im Vergleich zu deren univoken und äquivoken Gebrauch besteht, wird im Weiteren deutlich gemacht. Bevor wir Thomas’ Stellung zur Analogie in ihrer seman­ tischen Rolle für die Konzeption der Wort- und Aussage-Semantik behandeln, müssen wir ihre philosophiegeschichtlichen Ursprünge nicht nur in der griechischen Mathematik, sondern auch in der Kate­ gorienschrift des Aristoteles erläutern, wo dieser die Frage nach den drei Arten des Verhältnisses von Wort und Gegenstand – Synonymie, Homonymie und Paronymie – diskutiert.661 Stegmüller hat den Ausdruck »semantisch« dahingehend erläutert, dass als »semantisch« alle Begriffe bezeichnet werden, »die eine bestimmte Relation zwischen sprachlichen Ausdrücken und den Objekten, auf welche sich diese Ausdrücke bezie­ hen, darstellen«. Vgl. Stegmüller W., Das Wahrheitsproblem und die Idee der Seman­ tik, S. 23. 661 Cat.1, 1a1–15. Schon am Anfang der Kategorienschrift zeigt Aristoteles auf unter­ schiedliche Weisen, wie etwas mittels der Sprache bezeichnet wird. Er unterteilt die Bezeichnungen in Homonymie (in lat. Terminologie: aequivocitas, Äquivokation), Synonymie (in lat. Terminologie: univocitas, Univokation) und Paronymie. Um Homonymie handelt es sich, wenn res singulares bloß den gemeinsamen Namen haben, ohne den zum Namen gehörigen Wesensbegriff zu besitzen. Synonymie bedeutet, dass res singulares nicht nur den gemeinsamen Namen haben, sondern auch den zum Namen gehörigen Wesensbegriff besitzen. Wenn res singulares nach etwas anderem benannt werden (etwa der Grammatiker nach der Grammatik), handelt es sich um Paronymie. Thomas verwendet sowohl griechische als auch lateinische Terminologie. Wenn er dem griechischen Sprachgebrauch folgt, spricht er von Synonymie, was die Scholastiker in der Regel mit univocitas übersetzen. Dasselbe betrifft noch weitere Begriffe, wie etwa Homonymie (aequivocitas). Vgl. Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 10. 660

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3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie

Die Bedeutung/Bezeichnung (significatio) eines Zeichens (oder Relation zwischen dem Zeichen/Wort und dem Bezeichneten; die Konnotierung), die Appellation (appellatio oder die Redesituation bei der Signifikation; das Bezeichnen der Suppositionen), die Supposition (suppositio oder Anwendung eines Terminus auf etwas; Stellung eines Wortes im Satz; die Denotierung) und ihre Zusammenhänge sind spezielle Formen, die in der mittelalterlichen Sprachphiloso­ phie und Logik für die Untersuchungen des Verhältnisses zwischen sprachlichen Zeichen und extramentalen Gegenständen eingeführt worden sind.662 So schließt sich an die scholastische Diskussion um logisch-semantische Grundbegriffe wie Supposition und Signifikation die Unterscheidung zwischen dem Sein und der Existenz an.663 Von der Existenz-Frage, die die Frage nach dem Träger von Eigenschaften (suppositum) ist, geht man (auch bei Thomas) auf die Frage nach dem Bezeichnungsbezug eines Wortes oder nach dem Bezeichneten (significatum) über. Ich beschränke meine Erörterung auf diejenigen Aspekte sprachlicher Zeichen, die ihren Ausgang von folgenden 662 Die Suppositions- und Signifikationsbegriffe sind nicht nur als Umformulierung der überlieferten Relationsprobleme – etwa die der Universalien – aufzufassen; sie sind nicht nur erst nach der Hochscholastik zu finden (Schönberger), sondern kommen bereits vor Thomas und in der Sprachphilosophie des Thomas vor. Boethius, In Categ. III (PL 64, 250). // The commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers. Comm. N. M. Häring. Toronto: Pontifical Inst. of Med. Studies, 1966. // Abaelard, Dialectica. (Ed.) L. M. de Rijk. Assen: Van Gorcum & Comp., 1956. Zum Begriff significatio: Bd. III, tract.I, lib.1, f.127r–f.128r, S. 111–117; Tract.V, lib.1, f.196r–f.196v, S. 562 f.; zum Begriff suppositio: Tract.II, lib.1, f.133v, S. 151; Tract.III, lib.1, f.155r, S. 293 f. // William of Sherwood, Introduction to Logic. Transl. with an introduction and notes by N. Kretzmann. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1966, V, S. 105– 132.// Wilhelm von Ockham, OThII, Sent.I, d.II, q. 6, S. 160–224; q.9, S. 292– 336. // Johannes Buridan, Subtilissimi perutiles quaestiones in ultima lectura editae super duodecim libros Metaphysicae. Paris, 1518, (Nachdruck) Frankfurt am Main: Minerva, 1964, lib.VII, q.15; q.16; q.20. / Questiones De Anima (Tertia lectura). In: Zupko J. A., John Buridan’s Philosophy of Mind, lib.III, q.8. // Rijk L. M. de, Logica modernorum. A Contribution to the History of early Terministic Logic. Assen: Van Gor­ cum & Comp., 1967, II-I, chap.5 (S. 230–263); chap.15 (S. 491–512); chap.16 (S. 513– 528); chap.17 (S. 555–593). 663 Zur scholastischen Suppositions- und Signifikationstheorie vgl. Pinborg J., Bezeichnung in der Logik des 13. Jahrhunderts. In: Zimmermann A. (Hrsg.), Der Begriff der Repräsentation im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild. Miscellanea Mediaevalia 8. Berlin; New York: De Gruyter, 1971, S. 238–281. // Schul­ thess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 14–27. // Arnold E., Zur Geschichte der Suppositionstheorie. Die Wurzeln des modernen europä­ ischen Subjektivismus. Symposion. Jahrbuch für Philosophie 3 (1952), S. 1–134.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Fragen nehmen: Ob und wie bezeichnet das Zeichen das Wesen der Gegenstände und entspricht die (analoge, univoke oder äquivoke) Bedeutung des Wortes den extramentalen Gegenständen? Was macht die Ähnlichkeit (wenn es denn eine gibt) zwischen dem Begriff und dem extramentalen Gegenstand aus? Die Behandlung der oben umrissenen logisch-semantischen Fra­ gen erschwert diese Aufgabe – dies stellen alle fest, die sich mit mit­ telalterlichen Texten beschäftigen –, da solche Fragen im Mittelalter durch die metaphysischen bzw. ontologischen und epistemologischen Auffassungen und unterschiedliche Denktraditionen geprägt sind.664 Die mittelalterlichen semantischen Diskussionen, an denen Thomas teilnimmt, bewegen sich zwischen den Bereichen Metaphysik und Logik und werden unter mittelalterlichen Terministen und Modis­ ten,665 zwischen zwei logisch-semantischen Traditionen (denjenigen der Universitäten Paris und Oxford), ausgefochten.666 Mittelalterliche Metaphysiker behandeln Gegenstände in ihrer Wirklichkeit, d.h., Gegenstände werden durch eine bestimmte proprietas einer Kategorie zugeordnet, sodass die unter die Kategorien fallenden Gegenstände erkannt werden können. Unter dem Einfluss der Übersetzungen und Kommentare der klassischen griechischen philosophischen Werke durch arabische und jüdische Philosophen, vor allem des Avicenna, al-Fārābī, Averroes und Maimonides,667 erörtern mittelalterliche Zur mittelalterlichen Logik und Semantik siehe: Pinborg J., Medieval Semantics. Selected Studies on Medieval Logic and Grammar. Ed. by S. Ebbesen. London: Variorum, 1984. // Enders H. W., Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff. // Fuchs M., Zeichen und Wissen. 665 An dem Kompendium der s.g. Ars Meliduna verfolgt man die Entwicklung der mittelalterlichen terministischen Grammatik und Logik. Siehe Rijk L. M. de, Logica modernorum, II-I, chap.7–10, S. 292–390. Zur Charakterisierung der Philosophie von Modisten siehe unten die Fußnote 673. 666 Siehe Libera A. de, The Oxford and Paris traditions in logic. In: Kretzmann N., Kenny A., Pinborg J., Stump E. (Eds.), The Cambridge History of Later Medieval Phi­ losophy, S. 174–188. 667 Vgl. Kap. 1 (Einleitung). // Siehe zum Thema Ebbesen S., Ancient scholastic logic as the source of medieval scholastic logic. In: Kretzmann N., Kenny A., Pinborg J., Stump E. (Eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, S. 101– 128. // Goichon A. M., The Philosopher of Being, Avicenna Commemoration Volume. Calcutta: [o.V.], 1956, S. 107–118. // Rescher N., Studies in Arabic Philosophy. Pitts­ burgh: University of Pittsburgh, 1967. // Eisler M., Vorlesungen über die jüdischen Philosophen des Mittelalters. Wien: Winter, 1870–1889. // Vajda G., Introduction a la pensée juive du moyen age. Paris: Vrin, 1947, S. 23–43, 119–193. // Munk S., Mélanges de Philosophie juive et arabe: renfermant des estraits méthodiques de la 664

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3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie

lateinische Logiker ausführlich die Frage nach der Zeichenfunktion der Wörter sowie nach ihren Bezeichnungs- bzw. Bedeutungsweisen. Dabei unterscheiden sie, erstens signifikative von nicht-signifikativen Wörtern und differenzieren zweitens zwischen solchen Wörtern, die Zeichen der extramentalen Gegenstände sind, und anderen, die Zeichen der Begriffe sind. Die Vorstellung, dass das Wort nicht das Zeichen der Dinge (significatio rerum) selbst ist, sondern das des Begriffs (conceptus/ratio), kommt bei Abaelard vor, bei dem die Sprachlogik des 12. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hat.668 Allgemeine Begriffe wie »esse«, »ens«, »essentia« und »res« werden nicht primär aus ontologischem Interesse herangezogen, sondern es wird nach der Bedeutungswahrheit gefragt. Logiker stellen die Frage nach der Intention (intentio),669 um die Grundlage des Verhältnisses zwischen dem Intellekt und dem Gegenstand zu erkennen. Die in der mittelalterlichen Logik entwickelte Theorie der Intentionen behandelt Verhältnisse zwischen Bezeichnenden und Bezeichneten sowie Spra­ che und Wirklichkeit als »metalogisches Problem«.670 Die sprachlogischen und semantischen Einsichten von Thomas sind durch seine metaphysischen bzw. ontologischen und epistemo­ logischen Auffassungen durchtränkt.671 Die in enger Verbindung Source de vie de Salomon Ibn-Gebirol (dit Avicebron), traduits en français sur la ver­ sion hébraique de Schem-Tob Inbscplicatives. Paris: Frank, (2) 1927. // Horovitz S., Die Stellung des Aristoteles bei den Juden des Mittelalters. Ein Vortrag. Leipzig: Fock, 1911. // Schmiedl A., Studien über jüdische, insbesondere jüdisch-arabische Religi­ onsphilosophie. Wien: Herzfeld, 1869. 668 Petrus Abaelardus, Dialectica, tract.I, lib.3, f.129r28–f.130r5, S. 121–129; tract.V, lib.1, f.196r14–f.196v26, S. 562–563. Abaelard orientierte sich nicht auf die dreistel­ lige nomen/voces-ratio/conceptus-res-Relation, sondern vielmehr auf die voces/ nomen-ratio/conceptus-Relation und entwarf ein nominalistisch geprägtes Modell. Vgl. auch Libera A. de, Der Universalienstreit, S. 161–165. 669 Ratio und intentio werden dadurch unterschieden, dass unter ratio (Begriff) die vom Intellekt erkannte und definierte Wesenheit des Dinges aufgefasst wird; die intentio (Intention) beruht vielmehr auf der Abstraktion von der Seinsweise der auf­ gefassten Dinge. Zur Frage siehe Pinborg J., Zum Begriff der intentio secunda. Radul­ phus Brito, Hervacus Natalis und Petrus Aureoli in Diskussion. Cahiers de l’institut du Moyen Age Grec et Latin 13, 1974, S. 49–59. 670 Zur Interpretation des Sprache-Wirklichkeit Problems in der Logik des 13. Jahr­ hunderts siehe: Pinborg J., Topik und Syllogistik im Mittelalter. In: Ebbesen S. (Ed.), Medieval Semantics. Selected Studies on Medieval Logic and Grammar. London: Var­ iorum, 1984, S. 157–178. 671 Schmidt R. W. S. J., The domain of logic according to Saint Thomas Aquinas. Hague: Nijhoff, 1966.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

mit der Logik stehende mittelalterliche Semantik hat auch ihre eige­ nen Forschungsgegenstände: Sprache, sprachliche Äußerungen, die Beziehung zwischen den sprachlichen Ausdrücken und den bezeich­ neten Gegenständen, und deren Bezeichnungsweise (modus signifi­ candi).672 Der logische Aspekt dieser Beziehungen interessiert am meisten die Logiker. Sprachliche Ausdrücke, Referenz und Bedeutung stellen aber sowohl für die Logiker als auch für die Metaphysiker den Hauptgegenstand ihres Interesses dar. Die Semantik, die sich für die theoretische Bedeutung der Univokation, Äquivokation und Analogie interessiert, trifft nicht nur logische, sondern auch metaphysische Entscheidungen. Die Fragen, die sich auf die Analogie beziehen, sind folgende: Welche sind die Voraussetzungen und/oder Motivationen für den analogen Gebrauch der Wörter? Was ist die Grundlage für die analogen Ausdrücke von Gott? Weshalb lassen sich analoge Ausdrücke bei der semantischen Problematik als vorrangig einstufen, im Vergleich mit den univoken und äquivoken Ausdrücken? In dem Grenzgebiet zwischen der begrifflichen Ebene und der Seinsebene bzw. der Logik und der Metaphysik liegt meines Erach­ tens das Hauptinteresse der Sprachphilosophie des Thomas.673 Es 672 Den Begriff des modus significandi, den Pinborg zum »Höhepunkt des mittelal­ terlichen Sprachdenkens« erhebt, qualifiziert Park als einen unklaren Begriff und hält ihn eher für ein noch ungelöstes Problem der mittelalterlichen Sprachphilosophie. Der modus significandi als Bezeichnungsweise geht, so könnte man annehmen, auf Boe­ thius zurück und hängt bei ihm eng mit dem Begriff des consignificare (mitbezeichnen) zusammen. In mittelalterlicher Sprachphilosophie erkennt man zwei Hauptrichtun­ gen: die Richtung der Modistae, die den – auf der Basis des in der aristotelischen Logik entwickelten Begriffs – modus significandi als Zentralbegriff verwenden, und die ter­ ministische Logik, die suppositio als ihren Zentralbegrifff bestimmt. In der Zugangs­ weise des Thomas scheint modus significandi vorherrschend zu sein. Siehe Boethius, Commentarii In librum Aristotelis Peri hermeneias, 57, 6–10. // Pinborg J., Die Logik der Modistae. Studia Mediewistyczne 16 (1975), S. 39–97. Repr. In: Ebbesen S. (Ed.), Medieval Semantics. Selected Studies on Medieval Logic and Grammar. // Ebbesen S., Ancient scholastic logic as the source of medieval scholastic logic, S. 101–128. // Park S.-Ch., Die Rezeption der mittelalterlichen Sprachphilosophie, S. 274. 673 Aufgabe dieser Studie ist es nicht, eine systematische Behandlung der mittelal­ terlichen Sprachphilosophie zu betreiben. Dafür siehe die systematischen Darstellun­ gen der Sprachphilosophie bei Thomas und seiner Zeit, samt der ausführlichen Behandlung der Quellen. In dieser Studie werden aber die wichtigsten Untersuchun­ gen der mittelalterlichen sprachphilosophischen und logischen Texte in Betracht gezo­ gen, die die Grundlage der sprachlogischen Reflexion für die Analogie-Probleme bei Thomas bilden. Siehe Untersuchungen zum Zusammenhang von Sprachphilosophie, Semantik, Logik und Metaphysik in: Grabmann M., Die Entwicklung der mittelalter­ lichen Sprachlogik (Tractatus de modis significandi). In: Grabmann M., Mittelalterli­

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3.1 Thomanische Semantiktheorie und Analogie

ist in Betracht zu ziehen, dass die semantischen bzw. sprachphi­ losophischen Probleme zur Zeit des Thomas noch als »metaphysi­ sche Behandlung« eingestuft wurden.674 Wenn Thomas auch keinen grundlegenden Wandel des Konzeptes der Semantik in Richtung Logik vollzieht, ist dennoch sein sprachphilosophischer Zugang auch nicht bloß als »metaphysisch« zu bezeichnen. Seine Untersuchungen bleiben auf Ontologie, Epistemologie, Semantik und Logik bezogen, die man weder als identische noch als ganz voneinander abgegrenzte Bereiche, sondern als aufeinander bezogene postulieren kann.675 ches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik. Bd. 1. München: Hüber, 1926, S. 104–146. // Bochenski I. M., Formale Logik. // Chenu M.-D., Das Werk des hl. Thomas von Aquin. // Moody E. A., Truth and consequence in mediaeval logic. Amsterdam: North-Holland Publ. Co., 1953. // Pinborg J., Die Logik der Modistae. // Rijk L. M. de, Logica modernorum, Bd. I; II-1; II-2. / Steen­ berghen F. van, Thomas Aquinas and radical Aristotelianism. Washington: The Catholic Univ. of America Press, 1980. / Steenberghen F. van, Die Philosophie im 13. Jahrhundert. Übers. von R. Wagner. München [u.a.]: Schöningh, 1977. // Jacobi K. (Hrsg.), Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. Tübingen: Narr, 1999. // Rosier I., La grammaire speculative des modistes. Lille: Pr. Univ., 1983. // Schneider J. H. J., Wissenschaftseinteilung und institutionelle Folgen. In: Hoenen M. J. F. M., Schneider J. H. J., Wieland G. (Hrsg.), Philosophy and Learning: Universities in the Middle Ages. Leiden [u.a.]: Brill, 1995, S. 63–121. // Tuninetti F., »Per se notum«: die logische Beschaffenheit des Selbstverständlichen im Denken des Thomas von Aquin. Leiden [u.a.]: Brill, 1996. // Park S.- Ch., Die Rezeption der mittelalterli­ chen Sprachphilosophie. 674 In jedem Fall ist dies noch bis zum zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts der Fall, als die ganze Semantik besonders von Wilhelm Ockham und Johannes Buridan neu gedeutet wird. Die Neuinterpretation der Semantik bedeutet, dass die Relevanz der Logik nun, im Vergleich zu ihrer Rolle in der Hochscholastik, zunimmt. Die Wende zur Sprache macht die Unterscheidung zwischen extramentaler und mentaler Wirk­ lichkeit immer radikaler. Siehe dazu Moody E. A., The Logic of William of Ockham. New York: Russel & Russel, 1965. // Nisbet L., Formalism of Terminist Logic in the Fourteenth Century. Tulane Studies in Philosophy 1 (1952) 107–112. // Markowski M., Sprache und Logik im Mittelalter. In: Zimmermann A. (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis im Mittelalter. Miscellanea Mediaevalia. Halbband 1. Berlin; New York: De Gruyter, 1981, S. 36–50. Treffend ist in diesem Zusammenhang die von Ernst Tugendhat gestellte Frage, was es der traditionellen Ontologie so schwer macht, auf die semantische Dimension einzugehen. Für die griechische Ontologie ergaben sich nach Tugendhat alle entscheidenden Ansätze stets »aus einer semantischen Refle­ xion«. So überführt die aristotelische Ontologie die formale Gegenstandstheorie in Richtung der formalen Semantik. Siehe Tugendhat E., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 46, 50. 675 Diese Position in Bezug auf die Analogie vertreten bspw. Klubertanz und Ross: Klubertanz G. P., St. Thomas Aquinas on Analogy. A Textual Analysis and Systematic Synthesis. Chicago: Loyola Univ. Press, 1960. // Ross J. F., Analogy as a Rule of Mea­

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Anhand der These von Thomas, die Ordnung der Benennun­ gen folge auf analoge Weise der Ordnung der Erkenntnis, werden beide semantischen Felder – Wort-Semantik (Kap. 3) und AussageSemantik (Kap. 4) – behandelt. Durch die Analyse des Wortes, das in indirekter Beziehung zum extramentalen Gegenstand steht, wird die dreistellige semantische nomen-ratio-res-Relation selbst und die Rolle der Analogie in dieser Relation bestimmt (3.3). Die Satz­ bedeutung wird im Großen und Ganzen von der Wortbedeutung erschlossen. Um zu erläutern, wodurch die Worte dazu beitragen, dass der aus ihnen gebildete Satz auf den Wahrheitswert hin bestimmt werden kann, werden das mittelalterlich-scholastische Projekt der Bedeutungstheorie und anschließende Probleme, zu denen Thomas’ Konzeption der »Bedeutung« und »analogen Bedeutung« Stellung nimmt, ausführlicher behandelt. Die logisch-semantischen Analogie-Fragen gehen auf die natür­ liche Sprache und auf die Frage nach der Seinsart der Sprache zurück: Kann unter Seinsart der Sprache das gedachte Sein verstanden werden (3.2)? Ausgehend von Beziehungen, die zwischen dem wirklichen Seinsbereich (esse obiective), der im Erkennen vorgegeben ist, und dem gedachten Sein (ens rationis: Begriffe, Sätze, Wissen) beste­ hen,676 sind die Repräsentationen als Darstellungen des Erkannten zu deuten. Die Frage, auf welche Weise die Repräsentationen das von Natur aus Seiende im Verstand vertreten, stellt sich als ontologischsemantisches und logisches Problem dar. Begriffe wie conceptus, nomen und propositio begründen die Möglichkeit der Erkenntnis, des Redens und des Denkens. Für die Philosophie ergibt sich das beson­ dere Interesse dieser Begriffe daraus, dass sie eine Erklärungsmög­ lichkeit der sprachlichen Ausdrücke schaffen und nach der logischen Wahrheit bzw. der Bedeutungswahrheit der sprachlichen Ausdrücke bzw. der Sprache zu fragen erlauben. Viele zu behandelnde Teilaspekte der Semantik nehmen ihren Ausgang in Kapitel 2, wo die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen den Prinzipien von Sein und Erkenntnis behandelt wurden. Nun rückt die Klärung des Zusammenhangs zwischen dem Sein und

ning for Religious Language. In: Kenny A. (Ed.), Aquinas: A Collection of Critical Essays. Garden City, N.Y.: Anchor Books, 1969, S. 93–139. 676 S.Th.I, q.3, a.4.

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

der Sprache677 in den Vordergrund. Die folgende Diskussion um die semantischen Hauptbegriffe – etwa Sein, Seiendes, Sprache – eröffnet die Einsicht in die Sprachphilosophie von Thomas, nämlich in die Fragen nach Wort und Gegenstand, Sprache und Wirklichkeit, und lässt den Ort eines Analogiebegriffs sowie die analogen Bedeutungen des Terminus präzisieren.

3.2 Sein und Seiendes in der Sprache Sein, Seiendes und Analogie wurden als ontologisch-epistemische Begriffe in Kapitel 2 thematisiert. In Kapitel 3 liegt das Hauptgewicht auf dem engeren Zusammenhang dieser Begriffe mit der Sprachlogik und Semantik und mit der analogen Rede nun im speziellen Sinne. Um die spezielleren Fragen zu behandeln, ist erst auf die Unter­ scheidung zwischen der Sprache und dem (bloß) Gedachten sowie zwischen zwei Bedeutungen des Seins zu achten: dem metaphysisch verstandenen objektiven Sein (actus essendi/esse obiectivum) und dem Sein des Gedachten (ens rationis) bzw. dem gedachten Sein als einer Seinsweise der Sprache. In der Unterscheidung zwischen dem objek­ tiven Sein und dem gedachten Sein als Seinsweise der Sprache bietet sich das Verständnis an, wie die sprachunabhängige Wirklichkeit zu begreifen ist. Es geht primär darum, ob und warum die univoken, äquivoken oder analogen Worte über eine (in-)direkte Beziehung zur extramentalen Realität verfügen. Weiter kann gefragt werden, welches Seiende erkannt, bezeichnet und gedacht bzw. verstanden werden kann: Seiendes als solches oder ein individuelles Seiendes, ein einfaches, abstrahiertes und/oder zusammengesetztes Seiendes? Bevor ich die Frage nach dem Sein und der Sprache bei Thomas erläutere,678 ist einer der Grundgedanken seines Analogieverständ­ nisses zu wiederholen: Das Erkenntnisobjekt, das unser Verstand 677 Unter Sprache wird in diesem Kontext die Sprache einer bestimmten Sprachge­ meinschaft, die über eine Menge von sprachlichen Ausdrücken verfügt, die gemäß bestimmten Sprachregeln semantische Eigenschaften aufweisen, verstanden. Der in diesem Text gebrauchte Ausdruck »Sprachanalyse« ist seit Frege als terminus technicus belegt. 678 Zum Thema siehe: Oeing-Hanhoff L., Sein und Sprache in der Philosophie des Mittealters. In: Kluxen W. (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis im Mittelalter. Akten des VI. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie. Berlin; New York: De Gruyter, 1977, S. 165–178.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

indirekt erkennt, ist das Singuläre, das von Natur aus Seiende. Die Frage nach dem erkannten Singulären, von der Vernunft aus Seiendem, gedachten Sein, und der Weise, wie es seinen Namen bekommt, trennt Thomas nicht von der Frage nach den Sprachlau­ ten.679 Dass die Sprach-, Wort- und Stimmlaute (voces) über kogni­ tive und semantische Aspekte der Signifikation verfügen, ist nach Thomas ein wesentliches Merkmal der Struktur der Sprache und der Denkinhalte: Sprachlaute als etwas von Natur aus Gegebenes sind primär auf Denkinhalte, erst sekundär auf Dinge bezogen. Dies zeigt sich auch am biblischen Text (Genesis II), und zwar an der Handlung Adams, der die Namen der »ersten Sachen« zu entdecken hat. Thomas interpretiert diese biblische Stelle als Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft. Es handelt sich um univoke Namen, über die Adam verfügt. Daran zeigt sich die Einsicht von Thomas, dass die Aufgabe eines jeden denkenden Menschen, der mit bestimmten Ver­ nunftfähigkeiten begabt ist, darin besteht, die Sache zu erkennen, zu benennen (nominare) und den mit dem Wort ausgedrückten Sinn mit dem Begriff (conceptio intellectus) zu bezeichnen. Die thomanische These – »Wir benennen etwas so, wie wir es erkennen«680 – bildet den Angelpunkt seiner auf erkenntnistheoretische und ontologische Grundlagen zu exponierenden Semantik. Sie hat ihren Grund in der Auffassung der Signifikation bei Aristoteles.681 Demzufolge setzt der Intellekt als Medium voraus, dass die Sachen erkannt und benannt werden können; die Konzeptionen (Begriffe, Sätze) aber, die von sprachlichen Zeichen bezeichnet werden, sagt Thomas mit Aristote­ les,682 bezeichnen Gegenstände auf analoge Weise. Das ist das in ganz groben Zügen wiedergegebene semantische Modell des Thomas, wo die Signifikation zum einen von semantischen, zum anderen von epistemischen und ontologischen Gesichtspunkten her erschlossen wird. Ich werde an dieser Stelle ausführlicher dieses Modell erläutern. 679 Diese ist die, seit der Spätantike viel diskutierte, auf Kategorien des Aristoteles zurückgehende, Frage, ob die Natur der Kategorien als (Stimm-)Laute (voces), Seien­ des bzw. Wesen (onta) und Begriffe, Gedanke oder Vorstellungen (noemata) erfasst werden kann. Vgl. Rehn R., Sprache und Dialektik in der Aristotelischen Philosophie. Amsterdam; Philadelphia: Grüner, 2000, S. 117. 680 S.Th.I, q.13, a.6: »Secundum enim quod cogniscimus aliquid, secundum hoc illud nominamus.« 681 Peri herm.1, 16a3–8. 682 S.Th.I, q.13, a.1. Thomas zitiert Aristoteles: »voces sunt signa intellectuum, et intellectus sunt rerum similitudines.«

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

3.2.1 Sein, Seiendes und Grundstruktur der Sprache Das semantische Modell von Thomas ist zunächst von der Struktur der Sprache her zu verstehen. Die Struktur der Sprache, wie oben bereits angedeutet, bezieht sich auf die Sprachlaute, die etwas von Natur aus Gegebenes sind. Es fragt sich: Bilden die Laute Relationen, und wenn ja, welche? Im Kommentar zu Peri hermeneias nennt Thomas Laute Relationsglieder in einer vox-conceptiones-res-Rela­ tion.683 Es wird angenommen, dass die von Thomas vertretene Interpretation der Laute aus dem Perihermeneias-Kommentar des Ammonius stammt.684 Von der Position der aristotelischen Sprach­ auffassung her verzichtet Ammonius auf die stoische Auffassung, dass in der conceptiones-res-Relation noch etwas stehen müsse, das bei den Stoikern Lekton genannt wurde. In diesem Zusammenhang verweist Thomas auf den Unterschied zwischen Stimmlauten bei Menschen und bei Tieren und weist darauf hin, dass nur voces von Menschen sich auf die Materie der Sprache beziehen. Die Materie der Sprache wird durch den menschlichen Intellekt als Form der Sprache gebildet. Das Wahrgenommene und das Gedachte können durch ihre lautlichen Äußerungen mitgeteilt werden. An einer anderen Textstelle gibt Thomas einen wichtigen Hinweis auf die Funktionalität In Perih.I, 1, lect.2, n.12, n.15, n.19. Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 33 f., 42. // Ammonius. Com­ mentaire sur le Peri Hermeneias d’Aristote, cap.1, B.17–B.18, 73ra25–40. / Ammonius and the Seabattle. Texts, Commentary, and Essays. (Ed.) Seel G. in colloboration wich Schneider J.-P. and Schultess D., Ammonius on Aristotle: De Interpretatioe 9 (and 7, 1–17). Greek Text established by D. Busse. English Transl. by D. Blank; rev. by J.-P. Schneider and G. Seel. Berlin; New York: De Gruyter, 2001, Part II–IV, V, 1; S. 13– 233. / Ammonius, In Aristotelis De Interpretatione Commentarius 24. In: Waitz T., Aristotelis Organon Graece. Lipsiae: Hahn, 1844. Zu der Wörter (phônai haplai)Gedanken (intentionale Akte)-Sachen-Relation bei Ammonius im Kommentar der Kategorienschrift des Aristoteles siehe Ammonius Hermeae, Commentaria in quin­ que voces Porphyrii. Übersetzt von Pomponius Gauricus. In Aristotelis categorias. Übersetzt von Ioannes Baptista Rasarius. Neudruck der Ausgaben Venedig 1539 und Venedig 1562 mit einer Einleitung von R. Thiel. & Ch. Lohr. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 2002, In Cat.9, 17 f., S. VII–XIX (Einleitung). / Ammonios, Ammonii in Porphyrii Isagogen sive V voces. Ed. A. Busse (Commentaria in Aristo­ telem Graeca IV, 3). Berlin: Reimer, 1891. Siehe die Rekonstruktion der aristotelischen zeichentheoretischen Grundlage und in diesem Zusammenhang die Peri HermeneiasKommentare von Ammonius, Boethius und Thomas in: Fuchs M., Zeichen und Wis­ sen, S. 146 ff. // Die Hinweise auf Ammonios bei Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 33 f., 42. 683

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

der Laute: Das Hören (auditus) bezieht sich auf die Worte, die das bezeichnen, was die Sache des Glaubens ist, genauer das, worum es im Glauben geht, nicht aber die Dinge selbst. Jene Dinge brauchen nicht geschaut, sondern nur gehört werden.685 Die Priorität des gehörten Wortes besteht darin, dass die durch den Laut (als Zeichen des Wortes) entstehende Vorstellung (verbum phantasticum) dasjenige verständlich macht, was nicht geschaut werden kann. Die Frage nach der (Un)Abhängigkeit des Hörens und den Vorstellungen vom denkenden Verstand und den Wort-Bedeutungen wirft Licht auf viele einzelne sprachphilosophische (darunter auch Analogie-)Probleme. Diese Bemerkungen zu den Sprachlauten als Zeichen sind ein wichtiger, aber noch oberflächlicher Hinweis darauf, wie das Sein einer natürlichen Sprache und daher die Zeichencharakter des Sei­ enden zu verstehen sind. Thomas’ Versuch, das durch sprachliche Zeichen mitgeteiltes Erkanntes bzw. Gedachtes im Wesen der Sprache zu sehen, ist der Versuch, die Seins- und Erkenntnisweise der Sprache zu bestimmen. So wird nach Thomas die (wissenschaftliche) Sprache so strukturiert, dass die Ordnung der Benennungen auf analoge Weise der Ordnung der Erkenntnis folgt.686 Der Ansatz dieser These liegt in der Wesenserkenntnis der Gegenstände: Intellekt erkennt die sub­ stantionelle Form bzw. quidditas der Gegenstände (da jedes Seiende das Sein besitzt, das es über die Form verfügt)687 und bezeichnet sie mit Wörtern. Das Charakteristische bei der Signifikationsweise der genannten Entitäten erwähnt Thomas an einer anderen Stelle, wo er die Wörter behandelt, die etwas bezeichnen, das nicht selbstständig (subsistens) ist.688 Durch ein Beispiel wird dies veranschaulicht: Da das Weißsein als Form nicht subsistens ist, sondern durch selbststän­ dige Träger individuiert wird, wird mit dem Namen »Weißsein« etwas nicht Selbstständiges bezeichnet. Das Selbstständige ist aber nicht die Form selbst, sondern das Formhabende (habens formam) bzw. Zusammengesetzte, das als »weiß« bezeichnet wird. Das ist der Grund, weshalb jene Form nicht als Prädikat selbstständiger

S.Th.I, q.5, a.1ad4. C.G.I, 34. Zum Begriff nominare erklärt Thomas, dass wir etwas benennen können, wenn wir dieses etwas erkannt haben bzw. begrifflich zu erfassen vermögen. »Nam ordo nominis sequitur ordinem cognitionis: quia est signum intelligibilis con­ ceptionis.« 687 C.G.II, 55. 688 S.Th.I, q.13, a.1ad2. 685

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

Dinge gelten kann.689 Demgemäß sagen wir nicht: Der Mensch ist Weißsein, sondern: Der Mensch ist weiß. Das, was der Verstand als Selbstständiges bezeichnet (significat ut subsistens), wird nach der Art des Zusammengefügten bezeichnet. Das aber, was als einfach bezeichnet wird, kann nicht als, »was es ist«, sondern, »wodurch es ist«, bezeichnet werden.690 Die Schwierigkeiten bei der Bezeichnung der Nicht-Selbstständigen und selbstständigen Seienden werden vor allem durch die Bezeichnungsweise (modus significandi) zur Lösung geführt. Der Erkenntnisweise, die die Gegenstände zuerst in der sinnlichen Wahrnehmung begreift und durch unseren Verstand auf die Weise des Bezeichnens (ad modum significandi) mit den Namen versieht, haftet immer eine bestimmte Defizienz an.691 Angesichts dieser wesentlichen Defizienz entstehen Bedeutungsprobleme, deren Lösung durch die Einführung der weiteren Differenz zwischen affir­ mativer und negativer Prädikation ermöglicht wird (siehe Kap. 4). Genauso wie in der Ontologie und Epistemologie ist auch bei der Analyse der Bezeichnungen des Seienden auf jeden Fall zu beachten, dass das Seiende das Sein dank seiner Form hat. Eine semantische Deutung dieser Behauptung kann man durch die Analyse der sprach­ lichen Einheiten der Aussage, »Das Seiende ist«, veranschaulichen. Mit dem »Das Seiende« wird von Thomas »das, was Sein hat« (id quod habet esse) oder auch »das, was ist«, nämlich der aufgefasste und erkannte Gegenstand bezeichnet. Es ist das zusammengesetzte Seiende: das aus (unter »Was« bezeichnetes) Wesen und (unter »ist« bezeichnetes) Sein besteht (vgl. 2.3.2, 2.3.3). Das »ist« sagt etwas vom ganzen Seienden aus und weist darauf hin, dass ohne das Sein auch kein Seiendes ist. Das, was aber schwieriger zu erklären ist, liegt nach Thomas darin, dass man den Ausdruck »Seiendes« nicht nach Belieben anwenden darf. Die Anwendungslimitation dieses Ausdrucks zeigt sich an der terminologischen Bestimmung, die eng mit der Analogie im Sinne verbunden ist, dass die zu bezeichnenden C.G.I, 21. C.G.I, 30: »Unde intellectus noster, quidquid significat ut subsistens, significat in concretione: quod vero ut simplex, significat non ut »quod est«, sed ut »quo est.« 691 C.G.I, 30: »Et sic in omni nomine a nobis dicto, quantum ad modum significandi, imperfectio invenitur […]«. Die optimistische Behauptung von Pinborg, dass die Scholastiker die Möglichkeit eröffnen, die Entstehung der Wörter durch die materielle proprietas der Dinge sowie formale modi significandi zu klären, schließt die Defizienz der Sprache nicht aus. Vgl. Pinborg J., Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittel­ alter. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittealters. Münster; Kopenhagen: Aschendorff & Frost-Hansen, 1967, S. 19, 30, 40. 689

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Gegenstände nicht selbst das Sein sind, sondern das Sein primär auf analoge Weise von einem anderen haben können. Für das Verständnis dieser Seinstransformationen bei Thomas ist der aristotelische Begriff des Seienden grundlegend: Das »Sei­ ende« hat vielfache Bedeutungen, aber immer in Bezug auf eine einzige Wesenheit bzw. Substanz. Demnach werden alle akzidentel­ len Kategorien als »Seiendes« eben von diesem Einen her genannt. Unter dem analogen Namen »Seiendes« werden im eigentlichen Sinne (ratio propria) nicht beliebig gegebenen Entitäten, sondern nur die Substanz und im uneigentlichen bzw. weiteren Sinne (ratio communis) die Akzidenzen bezeichnet. Damit komme ich auf logischsemantische Aspekte der Theorie der Proportionsanalogie zurück: Akzidenzen werden aufgrund der Proportion zur Substanz ontolo­ gisch und logisch-semantisch verstanden. Die Hauptgründe der ana­ logen Namen wie »Seiendes« und der Weise seiner Bedeutungen (significatio nominis) können nicht willkürlich gedeutet werden: in seiner eigentlichen Bedeutung ist »Seiendes« als Substanz zu ver­ stehen; diese Grundbedeutung setzt alle weiteren (uneigentlichen) Bedeutungen voraus. Das Bedeutungsspektrum des analogen Namens »Seiendes«, das Thomas für die Erläuterung der ordo essendi und ordo intelligendi als maßgebend erklärt, wird wie folgt erweitert: Der Name »Seiendes« bezeichnet die Substanz auf zweifache Weise – als eine einfache und als zusammengesetzte Substanz.692 Von diesem Aspekt her gesehen, kommt der Sprache das substantielle und akzidentelle Sein zu. Ein 692 S.Th.I, q.29, a.2. Vgl. Abschnitt 3.4.3 über die Deutung des Begriffs Ousia des Aristoteles (Met.Ζ1,  1028a13–15, a30–1028b7), den Thomas mit Substanz übersetzt. Er spricht in einem zweifachen Sinn über Substanz: unter dieser wird (1) die Washeit des Wirklichen (quiditas rei), die durch die Wesensbestimmung bezeichnet wird; und (2) der Träger oder das Darunterliegende (subiectum vel suppositum), das in der Gat­ tung der Substanz enthalten ist, verstanden. Als bei Thomas Suppositum zur Sprache kommt, wird diese doppelte Auffassung des Begriffs der Substanz wichtig, da er mit dem Namen »suppositum« die logische Beziehung meint. Im Kap. 2 (S. 151, Anm. 411) wurde auch auf drei weitere Namen für die Substanz hingewiesen: diese wird (3) als »Naturding« (res nature) bezeichnet, soweit sie als Träger der allgemeiner Natur ver­ standen wird; (4) als »Selbstständigkeit« (subsistentia), soweit sie in sich, nicht in einem anderen ist; (5) als die »Hypostase« (hypostasis) oder »Substanz«, soweit Sub­ stanz den Eigenschaften zugeordnet ist. Das, was diese drei Bedeutungen für die Sub­ stanz allgemein aussagen, kann nach Thomas auch mit dem Namen »Person« (per­ sona) in der Gattung der vernunftbegabten Substanzen bezeichnet werden. Siehe die Erklärung des Begriffs »substantia« auch an einer anderen Stelle: S.Th.I, q.8, a.5.

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

Beispiel: Das, was in der Aussage »Sokrates ist weise« mit »Sokra­ tes« (Mensch) bezeichnet wird, ist die zusammengesetzte Substanz. Akzidens und sein Träger werden nicht getrennt, aber das, was sich in den Dingen zusammengesetzt findet, bleibt in sich verschieden: Mensch und Weisheit haben verschiedene Wesenheiten.693 Diese Differenz ist für die Signifikationsweise maßgebend: »Weisheit« wird per modum formae bezeichnet;694 das Wort »Mensch« steht seiner Bezeichnungsweise (modus significandi) nach für alle Referenten, die am Wesen der humanitas teilhaben.695 Die Beziehung eines Akzidens zu seinem Träger oder Subjekt (suppositum vel subiectum) erlaubt es, ihren Träger als etwas Konkretes zu bestimmen.696 So geht die Frage nach dem Subjekt oder dem Träger der Eigenschaften (suppositum) in die Frage nach Existenz und Eigenschaften über. Stellt sich die Frage nach der Existenz, kann man sie nicht rein sprachlogisch ohne Zuhilfenahme der ontologischen Distinktionen erläutern. Es ist zunächst auf die Unterscheidung zwischen dem Seienden bzw. dem Sein von Natur her und dem gedachten Seienden bzw. Sein sowie zwischen dem Sein und dem Wesen zu verweisen. Wenn wir den wichtigsten ontologischen Aspekt dieser Unterschiede vergegenwärtigen, ist die notwendige Bedingung der konstitutiven Bestimmung der extramentalen, nicht notwendigerweise existieren­ den, Gegenstände diejenige, dass das Sein und das Wesen in ihnen miteinander nicht übereinstimmen (siehe Erörterung der Frage in 2.3.2).697 Es gibt auch kein reines Sein, das kein Wesen hätte. Eine eng S.Th.I, q.85, a.1. In Sent.I, d.33, q.1, a.2: »[…] quia quod significatur in abstracto, significatur per modum formae.« 695 S.Th.III, q.4, q.3ad2: »[…] hoc nomen homo significat naturam humanem in concreto, prout scilicet est in aliquo supposito.« / C.G.I, 30: »[…] intellectus noster, quidquid significat ut subsistens, significat in concretione.« 696 Wenn man die Ausdrücke wie »Seiendes« und »Substanz« im Satzkontext als Prädikate »ist Seiendes« und »ist Substanz« setzt, werden sie »universale Prädikate« genannt. Aufgrund der universalistischen Prädikatenlogik bildet sich eine Kette der Prädikate »ist Mensch« und »ist Lebewesen« u.a. In ähnlicher Weise kann man das universale Prädikat »ist Akzidens« und die entsprechende Kette der Prädikate wie »ist weise«, »ist rot« u.a. bilden. Zum Begriff der universalen Prädikate siehe Specht E.K., Die Sapir-Whorf-Hypothese und der Streit zwischen Realismus und Idealismus. In: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Ontologie und Meta­ physik. Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie. Wien: Herder, 1969, S. 102 ff. 697 C.G.I, 32. 693

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

damit verbundene Frage ist die nach dem Wesen und der Existenz, die hier in Vordergrund tritt. Über das Verständnis des »Seienden« als Substanz hinaus geht Thomas auf zwei weitere Bedeutungen des Seienden ein: der aristote­ lischen Denkweise folgend unterscheidet er das Seiende als Existenz von dem Seienden als Wesenheit. Die scholastischen Diskussionen über Realdistinktion von existentia und essentia einer Entität lau­ fen auf der ontologischen und logisch-semantischen Ebene.698 Die logisch-semantische Distinktion fordert die Bestimmung der primä­ ren Bedeutungen des Seienden als die der »existentia« und die der »essentia«. Wenn man etwa über »existentia eius in rebus« spricht, ist unter »existentia« das Dasein, das Sein außerhalb des Denkens, zu verstehen. Im Unterschied zur Existenz bedeutet »essentia« die Sub­ stanz in der Seinswirklichkeit. Dazu das folgende Beispiel: Mit dem Namen »Mensch« wird ein konkretes selbstständiges Individuum oder substantielles Seiendes bezeichnet, das durch die Wesensform ein endliches Sein und eine endliche Existenz im eigentlichen Sinne besitzt. Das, was durch die Wesensbestimmung bezeichnet wird (significatur per diffinitionem), ist die Wesenheit (essentia proprie), und was die Wesensbestimmung umfasst, sind die Grundprinzipien der Art (principia speciei): Form und Materie.699 Das Wesen der aus Form und Materie Zusammengesetzten ist also dasjenige, was unter den Artbegriff fällt und worin die Einheit der Menschennatur besteht. Das, was die Spezies Mensch unendlich und unzerstörbar macht, ist näm­ lich die unter dem Begriff humanitas bezeichnete Menschennatur, die sich als allgemeine Natur der Menschen auf tatsächliche Weise (realiter) zu verschiedenen Wesensträgern verhält. Der Artbegriff S.Th.I, q.12, a.1ad3; q.5, a.2ad2; q.75, a.2ad2; q.17. / De ente et essentia, cap.1, 2, 5. // Wie in Ontologie und Epistemologie, so unterscheidet Thomas auch in Semantik und Prädikationstheorie »existentia« von »essentia«. »Existere« versteht er auf dreifa­ che Weise: existere (1) in actu: in Wirklichkeit; (2) essentialiter: der Wesenheit nach; (3) per se: für sich sein, nicht in einem anderen sein. Unter »essentia« ist die Substanz in der Seinswirklichkeit zu verstehen, wo die individuellen Eigenschaften außerhalb der Substanz liegen. Beim Unterschied zwischen »existentia« und »essentia« ist auf Aristoteles zu achten, der als erste Bedeutung von Substanz (to ti en einai) die Essenz einer Sache, das definierbare Wesen verstanden hat. Unter »Wirklichkeit« wurde von ihm die Existenz einer Sache verstanden. Met.Z1–6; MetΘ6, 1048a31f; Met.Δ7, 1017b11 f. 699 S.Th.I, q.29, a.2ad3: »[…] essentia proprie est id quod significatur per diffinitio­ nem. Diffinitio autem complectitur principia speciei, non autem principia individua­ lia.« 698

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

verhält sich zu verschiedenen Trägern nicht tatsächlich, sondern als Gedachtes (secundum considerationem).700 Das bedeutet nicht, dass die Arten, von Einzeldingen getrennt, ein selbstständiges Dasein hätten (Meinung von Platon).701 Von dem Gesagten ergibt sich, dass die Wesenheiten als Prinzip der Art wirken, die Vereinzelung bezieht sich aber auf die Existenz. Im semantischen Sinne sind die vom Verstand gebildeten Artbegriffe die zweiten Intentionen oder das gedachte Sein. Wie dies in Abschnitten 2.8.1, 2.8.2 ausgeführt wurde, sind die Wirkungen der Wesensformen bei Thomas die Eigenschaften, die das Einzelding (singulare) besitzt, die aber außerhalb von Arten und Gattungen liegen.702 Die Frage nach den Eigenschaften, die durch den Träger (Substanz) vereinzelt (individuatur per subiectum) werden und mit der Definition nicht gegeben werden können, bleibt problema­ tisch. Denn weder die analoge Erkenntnis noch die Sprachlogik kann bei Thomas von der Wahrnehmung der individuellen Eigenschaften der Einzeldinge getrennt werden. Der Wesensbegriff, der von mate­ riellen Eigenschaften der Einzeldinge im Prozess der abstraktiven Erkenntnis herausgelöst wird, ist das vom Intellekt Erkannte. Nur das von Einzeldingen Erkannte kann erst mit dem Begriff bezeichnet und für die Erkenntnis korrespondiert werden. Anders gesagt: Die Eigen­ schaften funktionieren semantisch als sprachliche Zeichen. Von dem mit demselben Namen weiß aufgrund der Qualität (hier: Farbqualität) bezeichnete zwei oder mehrere Gegenstände können als ähnliche Gegenstände aufgefasst werden. Mit dem Namen weiß wird auch eine Vielheit unter die Art Mensch fallender rationaler Lebewesen und unter die Gattung Lebewesen fallender, sinnbegabte Natur besitzender Sinneswesen bezeichnet, wenn sie aufgrund ihrer Oberfläche über die Farbe weiß verfügen (siehe ausführlichere Behandlung im 2.8.1). Geht man von dem Namen weiß aus, leuchtet es nicht ein, was genau ein Gegenstand, der als weiß bezeichnet wird, selbst ist. Wenn man die Eigenschaften als Grundlage für die Bestimmung der Artzu­ gehörigkeit eines Gegenstandes postuliert, ist nach Thomas notwen­ digerweise nach den essentiellen Eigenschaften zu fragen. Hiermit ist der Grund gegeben, von dem (Eigenschafts-)Essentialismus zu sprechen, nämlich, dass es neben den vielfältigen Eigenschaften 700 701 702

S.Th.I, q.39, a.4. Hinweis auf Platon in S.Th.I, q.85, a.1ad2. S.Th.I, q.29, a.1ad3.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

die artspezifischen essentiellen Eigenschaften gibt, die artnotwendig jedem und allen artzugehörigen Trägern zustehen. Der epistemisch begründete Begriff, der diese essentiellen Eigenschaften bezeichnet und für die Erkenntnis disponibel macht (vgl. 2.8.1), soll aufzeigen, welche sprachlichen Ausdrücke diejenigen sind, von denen man auf eine bestimmte Entität schließen kann. Wenn die Eigenschaften – etwa »Denken-Können« und »Lachen-Können« – diejenigen Eigen­ schaften sind, ohne die die Entitäten einer bestimmten Spezies nicht existieren können, dann sind diese Eigenschaften essentielle Eigen­ schaften der mit dem Namen »Mensch« bezeichneten Entität. In der Gegenwartsphilosophie wird auf dieses Problem durch die analytische Forme, »Wenn a existiert, dann ist a F«, eingegangen. Liest man diesbezügliche thomanische Stellen mithilfe dieser Formel, gelangt man zu einer noch präziseren Folgerung: Wenn der Gegenstand a ohne Eigenschaft F nicht existieren kann, ist die Eigenschaft F keine akzidentelle, sondern eine essentielle bzw. notwendige Eigenschaft. Die notwendige Eigenschaft F soll notwendigerweise eine univoke sein, da sie die Existenzbedingung eines Gegenstandes ausmacht. Besonders problematische Fälle sind aber die aus dem theolo­ gisch-philosophischen Bereich. Auf die Artzugehörigkeit bestimmter Entitäten und ihrer essentiellen Eigenschaften kann in diesen Fäl­ len weder im logisch-semantischen noch im ontologischen Sinne geschlossen werden. Das Problem liegt in der Unklarheit, welche essentiellen Eigenschaften etwa mit dem Namen »Christus« gemeint werden:703 seine menschliche und/oder die göttliche Natur? Auch hier muss die Frage nach dem Wesen und die Frage nach der Existenz gestellt werden. Wenn wir die Bedeutung des Namens für a (Christus) durch F (notwendige Eigenschaft der menschlichen Natur) zu bestim­ men versuchen, muss a mit dem Zeitfaktor verbunden sein, um die Existenz von a zu postulieren. A ist die Art der F, also a existiert dann, wenn a in bestimmter Situation oder im bestimmten Zeitmoment t F ist, in einer anderen Situation dieses a dagegen nicht F ist. Wenn die Starrheit der Bezeichnung »Christus« nicht demselben Referenz­ objekt in allen möglichen Welten zugesprochen werden kann, dann deswegen, weil es in diesem Fall – laut Thomas – um eine besondere Art der Existenz geht. Der Existenzbezug betrifft die göttliche Natur bzw. das ewige Sein, das nicht mit einem bestimmten Zeitmoment t begrenzt ist. Wenn wir einen semantischen Versuch machen, die 703

S.Th.I, q.13, a.7; a.9.

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

unter dem Namen »Christus« bezeichnete Entität als abstrakte Entität zu behandeln, sollten wir seine Artzugehörigkeit, d.h. seine art- und lebensnotwendige essentielle Eigenschaft, aufweisen. Dies ist aber theologisch, erkenntnismetaphysisch und sprachlogisch nur teilweise möglich, da göttliche Wesenheit auf die Artzugehörigkeit zu beschränken ist. Beseitigt der Begriff der Abstraktion alle Unklarheit im Namen des »Christus«? Handelt es sich um den ganz spezifischen Sinn eines »nichtabstrakten Individuums«?704 Diese Fragen erfordern es, die Analyse der sprachlichen Ausdrücke weiterzuführen und nach abstrakten (und nicht-abstrakten) Gegenständen zu fragen.

3.2.2 Reales und intentionales Sein und abstrakte Gegenstände Die Frage nach den abstrakten Gegenständen, nach dem intentionalen Sein und nach der Sprache nimmt einen wesentlichen Platz in Thomas Sprachlogik ein. Zunächst ein Beispiel: Um die Aussage mit dem Wort »Dreieck« semantisch zu analysieren, kann man experimentell eine notwendige Eigenschaft des Kreises annehmen. Nimmt man die Existenz eines runden Dreieckes an, kann man die Existenz eines solchen abstrakten Gegenstandes nicht beweisen. Insofern es keine Wesenheit des runden Dreiecks gibt, kann man auch keine Existenz des runden Dreiecks nachweisen. Dieses Beispiel zu den abstrakten Gegenständen, ihren Eigenschaften und diesbezüglichen sprachlichen Ausdrücken zeigt das Problem der semantischen Verbin­ dung zwischen dem Sein, den abstrakten Gegenständen und den Sprachzeichen an, die durch die Diskussion zur Abstraktionstätigkeit des Verstandes in der indirekten abstraktiven Erkenntnis der extra­ mentalen Einzeldinge durch die Form (quiditas rei sensibilis) und die Begriffe »conceptio« und »species intelligibilis« vorbereitet wurde. Wie geht Thomas mit der semantischen Verbindung zwischen den abstrakten Gegenständen, dem (realen und dem gedachten bzw. intentionalen) Sein und den sprachlichen Ausdrücken um? Die Ant­ wort verlangt nach der Bestimmung der Prinzipien der Abstraktion und abstrakter Gegenstände.705 Die Abstraktion ist – der Auffassung 704 Der Ausdruck »nichtabstraktes Individuum«, den ich hier verwende, kommt bei Meixner vor. Vgl. Meixner U., Modalität, S. 176. 705 Die Deutung des Gebrauchs als »abstrakt« und »konkret« bezeichneter Gegen­ stände bei Künne lautet: »Ein Term hat genau dann eine Verwendungsweise, in der er

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

von Thomas entsprechend – aus der Materie des Besonderen her­ ausgelöstes Allgemeine, infolge dessen die Namen wie Rundheit, Menschheit oder Röte für conceptus stehen können. Die grundlegende Distinktion der res significatae (die bezeichneten Sachen) und des modus significandi (die Weise des Bezeichnens) liefert eine semanti­ sche Fassung dieser Frage. Aber die Deutung dieser Termini als Struk­ turelemente der Sprache und eine (kontextuelle) logisch-semantische Analyse ist nur durch die Heranziehung der weiteren Begriffe, die den konzeptuellen Überlegungen von Thomas entnommen werden können, möglich. Wenn wir den Überlegungen von Thomas über die Veränderun­ gen der Gegenstände folgen, lassen sich – im Gegensatz zu den konkreten Gegenständen, die sich verändern, – auch die Gegenstände bestimmen bzw. benennen, die sich nicht verändern. Die Prinzipien, denen zufolge die unveränderlichen Gegenstände abstrahiert werden, können wie folgt ausformuliert werden: Dann, wenn der Gegenstand a die Eigenschaft F hat, und diese die Atemporalität aussagt, ist der Gegenstand a abstrakt. Das ist das erste Prinzip. Das zweite konstitu­ tive Prinzip für abstrakte Gegenstände bezieht sich bei Thomas auf das Erkennen: Der Gegenstand a, der sinnlich nicht wahrnehmbar ist, ist abstrakt. Durch weitere Hinweise von Thomas lässt sich ein drittes Prinzip angeben: Das Seiende ist als compositum ex forma et materia zu behandeln, wenn es um die Partizipation der Materie an der Form oder die Rezeption der Form seitens der Materie geht.706 Gegenstände sind dagegen abstrakt, wenn die Formen von der Materie nicht rezipiert werden.707 Mit der Heranziehung der Prinzipien – Atemporalität, Nicht­ wahrnehmbarkeit, Nichtrezipierbarkeit der Form seitens der Materie – wird hier, wie wir nun sehen, der Aspekt hervorgehoben, den wir bei der Erörterung der erkenntnistheoretischen Abstraktion in der indirekten analogen Erkenntnis kennengelernt haben. Die Prinzipien, um die es hier geht, sind Prinzipien, die bei Thomas den Übergang von Seins- und Erkenntnisdifferenzen zu Bezeichnungs- bzw. Bedeu­ tungsdifferenzen ermöglichen. ein abstrakter (konkreter) Term ist, wenn er in dieser Verwendungsweise nur auf abstrakte (konkrete) Gegenstände anwendbar ist.« Vgl. Künne W., Abstrakte Gegen­ stände. Semantik und Ontologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 39. 706 S.Th.I, q.3, a.2ad3. 707 C.G.I, 21 und 55.

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

Im Anschluss an diese Prinzipien ist noch ein anderer Aspekt zu beleuchten, der der Deutung des Begriffs »universale abstractum« zu entnehmen ist.708 Dieser Begriff hat bei Thomas eine zweifache Bedeutung: (1) ipsa natura rei (Natur des Einzeldinges), und (2) abstractio oder universalitas (Abstraktion oder Allgemeinheit). Aus der Begriffsanalyse beider Bedeutungen ergibt sich, dass das Erkannt­ werden eines Gegenstandes, die Abstraktion oder die (univoke oder analoge) Beziehung zu der Allgemeinheit (intentio universalitatis) einerseits in der Natur der Einzeldinge, andererseits im Verstand liegt. Daraus folgt, dass: (a) es sich um Erkanntwerden, Abstraktion und Allgemeinheit handelt, wenn der Intellekt Abstrakta durch absolute Begriffe wie Rundheit, Menschheit oder Röte, die in diesem oder jenem Menschen oder in jenem runden oder roten Gegenstand vor­ handen sind, erkennt und per modum formae bezeichnet; (b) dank der Abstraktion von den vereinzelnden Bedingungen können Rundheit, Menschheit oder Röte ohne vereinzelnde Bedingungen erfasst werden, sind aber nicht, wie etwa bei Platon, der Sache nach abgetrennt;709 (c) das Abstrahieren (der Form) aus der individuellen und sensiblen Materie ist der Vorgang des Verstandes; aus diesem Vorgang entsteht die Beziehung zu der Allgemeinheit (intentio universalitatis) und das erlaubt, auch das (univoke oder analoge) Verhältnis, in dem ein und dasselbe zu vielen steht, zu thematisieren.710 Folgt man dieser Deutung von Thomas, gewinnt man eine Präzisierung zur Abstrak­ tion und zu abstrakten Gegenständen: So wie die Farbe Röte und ihre Eigenschaften behandelt werden können, ohne dass die farbigen Gegenstände betrachtet werden, die selbst nicht zum Wesen der Farbe gehören, so kann auch dasjenige, was zum Wesen der Art gehört (oder ihr ähnlich ist), ohne vereinzelnde Gründe behandelt werden, sofern das Universale aus dem Besonderen abstrahiert wird.711 Das Univer­ sale (das Allgemeine), das weder Seinsgrund eines Gegenstandes noch Substanz ist, ist mithin nicht als reales, sondern als intentiona­ les bzw. gedachtes Sein zu erfassen.712 Mit dem intentionalen Sein S.Th.I, q.85, a.2ad2. S.Th.I, q.85, a.1ad2. 710 S.Th.I, q.85, a.3ad1: »Et cum intentio universalitatis, ut scilicet unum et idem habeat habitudinem ad multa, proveniat ex abstractione intellectus […].« 711 S.Th.I, q.85, a.1. 712 S.Th.I, q.85, a.3ad2. Von esse intentionale spricht Thomas, wenn es sich um intellektuelles Wissen und alle mentalen Bewusstseinsakte handelt. Das ist eine der logisch-semantischen und metaphysischen Streitfragen im Mittelalter, die von 708

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

im Intellekt meint Thomas nicht bloß Gedachtes. Das Universale bleibt nicht nur auf den Erkenntnisakt bezogen. Es ist, wie in der vorausgehenden Analyse gezeigt wurde, sowohl dasjenige, das zu der durch die Abstraktion gewonnenen Beziehung der Allgemeinheit (intentio universalitatis) gehört, als auch dasjenige, das der Natur der extramentalen Einzeldinge zukommt.713 Im Prozess der abstraktiven Erkenntnis formt der Intellekt absolute Begriffe wie »Rundheit«, »Menschheit« oder »Röte«, die etwas Nicht-Selbstständiges bezeichnen. Sie dienen aber dazu, um das Selbstständige, singulare, die (nicht-)vereinzelnden Prinzipien oder die durch die Abstraktion gewonnene intentio universalitatis zu erfassen. Ein Beispiel: Die Abstrakta wie »Menschheit« (humanitas), die das Nicht-Selbstständige bezeichnen, können in diesem oder in jenem Konkretum (Menschen) bestimmt werden; der Verstand kann humanitas auch ohne vereinzelnde Gründe als Ähnlichkeit der Artnatur (similitudo naturae speciei) erfassen.714 Dasselbe betrifft auch die »Rundheit«, »Röte« und alle anderen absoluten Begriffe. Die auf der Analogie fundierte Isomorphie von dem Erkennenden und dem Erkannten (esse intentionale und esse naturale) kann damit untermau­ ert werden, dass alles Gedachte die Seinsweise der Sprache ist, und reales und intentionales Sein zwei Seinsweisen sind,715 die sich durch analoge Namen begreifen lassen (siehe weitere Erörterung unten).716 Metaphysikern und Logikern behandelt werden. Deren Zusammenhang mit dem Problem des analogen Gebrauchs der Namen wird unten im Abschnitt 3.5.1 behandelt. 713 S.Th.I, q.85, a.2; a.3. Diese in Mittelalter viel diskutierte ontologische, epistemo­ logische und sprachlogische Frage nach der Allgemeinheit ist eine der zentralen Fragen der gegenwärtigen analytischen Philosophie. Zum Beispiel diskutiert Searle die Frage, ob etwas als Allgemeinheit bzw. Universalien besteht. Er vertritt die Meinung, dass die Universalien nur auf die Weise existieren, wie wir die Welt widerspiegeln, nämlich in der Sprache. Allerdings wird diese Auffassung kritisiert. Trapp nennt sie eine »Tri­ vialität«. Siehe Searle J., Expression and Meaning. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1979. // Trapp R. W., Analytische Ontologie. Der Begriff der Existenz in Sprache und Logik. Franfurt am Main: Klostermann, 1976, S. 168. 714 S.Th.I, q.85, a.2ad2. 715 Zur Geschichte der Ontologie des gedachten Seins und Distinktion des gedachten Seins und des Seins der Wirklichkeit, die in der Antike geprägt und über das Mittelalter bis zur neuzeitlichen Philosophie weiterentwickelt wird, siehe Kobusch T., Sein und Sprache: historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache. Leiden: Brill, 1987. 716 S.Th.I, q.85, a.3ad2. In diesem Zusammenhang kann die Intentionalitätstheorie von Thomas behandelt werden. Zu dieser Frage siehe: Kenny A., Aquinas: Intentio­ nality. In: Honderich T. (Ed.), Philosophy Through its Past. New York: Penguin Books, 1984, S. 78–96. // Zur Diskussion über die Intentionalitätstheorie bei Thomas und

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

Das Interesse an der Frage nach abstrakten Gegenständen, nach dem Gedachten und bloß Gedachten und an ihrer Bestimmung durch sprachliche Ausdrücke hat in der gegenwärtigen Philosophie zugenommen. Ich erlaube mir hier einige Hinweise zur Rede von abstrakten Gegenständen und den sprachlichen Ausdrücken, die sie bezeichnen, um die Verknüpfungspunkte zwischen der scholastischen Philosophie (und deren Begriffsapparat) und der gegenwärtigen Phi­ losophie (und deren Darstellungsweisen ähnlicher Probleme) aufzu­ zeigen. Einer der Hinweise geht auf Husserl und ein anderer auf Künne zurück.717 Husserl’s Unterscheidung zwischen dem Gedachten und bloß Gedachten718 erfolgt (1) durch die Merkmale »Abstrakt« und »Kon­ kret« als unterschiedliche Inhalte, nämlich selbstständige (konkrete) Inhalte und unselbstständige (abstrakte) Teilinhalte. Die letzten fasst er als »Einheitsformen« auf, durch welche diese zur Einheit verknüpft werden; und (2) durch die Merkmale »Abstrakt« und »Abstraktion«. »Abstrakt« nennt hier Husserl den von dem Konkretum abstrahierten Inhalt, der erst durch den Abstraktionsprozess konstituiert wird. Abstraktion als Akt ist die Bedingung für das Entstehen abstrakter Begriffe. Wenn nun gefragt wird, welche Namen für welche Gegen­ stände stehen, und was die Art und Weise ist, gemäß derer sich die Bedeutungsdifferenz auf Gegenstandsbereiche (darunter auch auf den Bereich abstrakter Gegenstände) bezieht, postuliert Husserl das Fol­ gende: Der Bedeutungsdifferenz (konkret/abstrakt) korrespondiert die entsprechende Differenz im gegenständlichen Bereich.719 Die Namen unterscheiden sich dadurch, dass diese Namen konkrete Individuen (Mensch, Sokrates) und jene Namen Attribute (Tugend, Weiße, Röte) benennen. Wenn Bedeutungen von Namen als Begriffe erfasst werden, wird der Begriff Röte (abstrahierte Einheit) als die Röte in der gegenwärtigen analytischen Philosophie siehe Haldane J., Analytical Thomism: A Prefatory Note. The Monist 80, 4 (October, 1997), S. 485–486. // Chisholm R. M., Intentionality and the Theory of Signs. Philosophical Studies 3 (1952), S. 56–63. 717 Vgl. Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 57 f. // Husserl E., Logische Untersu­ chungen. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer, (5) 1980, I; VI. Man kann Husserls Auffassung so wiedergeben: der Gegenstand ist abstrakt, wenn er die innewohnende Bestimmt­ heit eines phänomenalen äußeren, erscheinenden Gegenstandes hat und als der kon­ stitutive Moment seiner Einheit verstanden werden kann. // Schlick M., Allgemeine Erkenntnislehre. Frankfurt am Main: Springer, (2) 1925. 718 Husserl E., Logische Untersuchungen, Bd. 2, VI, § 41. 719 Husserl E., Logische Untersuchungen, Bd. 2, VI, § 42.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

selbst oder die Bedeutung des Namens Röte verstanden. Auf diese Weise legt Husserl das Wort Bedeutung als äquivok fest. Abstrakte Entitäten, sagt Künne,720 existieren erst dann, wenn eine bestimmte Zahl n konkreter Gegenstände als F klassifiziert werden kann.721 Wenn die Eigenschaften F als abstrakte Gegenstände aufgefasst werden, kann eine Relation etwa durch Sokrates und die Eigenschaft Tapferkeit bestimmt werden, die sich durch die Aussage, »Sokrates ist tapfer«, exemplifizieren lässt.722 Künne und Sellars verstehen diese Relation als Teilhabe oder Exemplifikation: Sokrates exemplifiziert Tapferkeit. Wenn der Ausdruck »ist tapfer« genau das­ selbe bedeutet wie der Ausdruck »exemplifiziert Tapferkeit«, und auch denselben Sinn ausdrückt, wie der Satz »Tapferkeit wird exemplifiziert durch Sokrates«, kann der Bezug dieser Ausdrücke bestimmt werden: Sokrates ist Sokrates selbst, »ist tapfer« bedeutet die Eigenschaft, tapfer zu sein; Sokrates exemplifiziert also einen abstrakten Gegen­ stand (Tapferkeit).723 Wenn gefragt wird, ob Thomas Ähnliches im Sinn hat, wie das, was bei Husserl und Künne als Unterschied zwischen konkret/abstrakt und Wirklichsein/Gedachtsein konzipiert wurde, möchte ich dazu neigen, dies mit »ja« zu beantworten. Die Auffassung von Thomas konvergiert hier mit dem Exemplifizierungsgedanken von Künne. Thomas könnte mit Husserl sagen, dass den Bedeutungs­ differenzen die Differenzen im Gegenstandsgebiet korrespondieren. Thomas stimmt allerdings mit Husserl nicht in der Bestimmung des Bedeutungsbegriffs überein: Thomas gebraucht den Begriff der Analogie, Husserl – den der Äquivokation.

720 Den Ausdruck »Entität«, der bei den Scholastikern als abstrakter Begriff vor­ kommt, verwendet Künne »als stilistische Variante für »Gegenstand«« oder »als Bezeichnung für etwas, was Gegenstände exemplifizieren«. Vgl. Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 41 und 42. 721 Vgl. Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 96 ff. // Searle aber ist der Meinung, dass es solche Gegenstände überhaupt nicht gibt. Siehe: Searle J., Speech-Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1969, S. 2, 5. 722 Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 29 ff., 42 und 96. 723 Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 39.

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

3.2.3 Die Sprache, abstrakte Gegenstände und Gott Das Problem des Verhältnisses von (realem und gedachtem) Sein, dem Seienden, den abstrakten Gegenständen und den sprachli­ chen Ausdrücken ist für das Mittelalter das Hauptproblem bei der Behandlung der zeitlich unbegrenzten göttlichen Natur und ihren Bezeichnungen. Wir werden hier auf die offengelassene Frage zurück­ kommen, ob unter dem Namen »Christus« ein abstraktes oder »nicht­ abstraktes Individuum« zu verstehen ist. Zwei problematische, von Thomas diskutierte Aspekte dieser Frage werden hier hervorgehoben. Der eine schließt wieder an der behandelten Frage nach den abstrakten Gegenständen an und lautet nun: Welche Möglichkeiten gibt es für die Analyse derjenigen, Gott beigelegten Ausdrücke, innerhalb der Diskussion von abstrakten Gegenständen und der für die abstrakten Gegenstände geeigneten Namen? Kann der Inhalt, den heute etwa Strawson mit der These, »Alle begrifflich identifizierbaren Gegen­ stände sind abstrakte«724, manifest gemacht hat, auf alle Entitäten angewandt werden, die mit dem Begriff »Seiende« bezeichnet wer­ den? Der zweite Aspekt folgt dem ersten und bezieht sich auf die Merkmale von esse dei bzw. esse absolute. Die Antwort, die man vorschnell auf diese Frage geben könnte, lautet, dass eine abstrahierte Allgemeinheit dasselbe ist, was mit den Namen »Gott«, »Absolutes« oder »Seiendes« bezeichnet wird. Nimmt man diese Antwort an, vergisst man, dass deren ontolo­ gisch-epistemische Voraussetzung, nämlich, dass das vom Intellekt aufgefasste Sein ein esse absolute ist, bei Thomas nicht nachgewiesen werden kann (vgl. 2.9.2, 2.10.4). Eine solche Antwort ist allerdings den Einsichten von Thomas nicht angemessen. Die Auffassung der Signifikation des Seienden und des Seins (esse absolute) entnehmen wir dem Kommentar des Thomas zur entsprechenden biblischen Stelle (Ex. 3). Dieser Kommentar gibt eine Erläuterung der Frage von Moses, auf welche Weise er den Menschen Antwort geben muss, die fragen: »Welches ist sein Name?« (Exodus 3, 13.14). Thomas’ sprachphilosophisches Interesse richtet sich auf die Antwort Gottes: »So wirst du ihnen sagen: »Der Seiende sendet mich zu euch««725. Vgl. Strawson P. F., Logico-Linguistic Papers. London: Ashgate, 1971, S. 49. S.Th.I, q.13, a.11. Der Ausdruck »Der (Erste) Seiende« bzw. »qui est« wird in diesem aktuellen Kontext angewendet. Ich werde aber in meiner Studie einfachheits­ halber den Ausdruck »das erste Seiende« (statt »der (Erste) Seiende«) gebrauchen.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Für die weitere Analyse des Namens »Der Seiende« (nomen qui est) unterscheidet Thomas drei Aspekte des Bezeichnens: 1)

Wegen seiner Bedeutung (propter significationem) bezeichnet der Name »Qui est« nicht eine beliebige Form, sondern ipsum esse. Ipsum esse und essentia, die nur in Gott und in keinem anderen Wesen sind, sind eins. Wegen seiner Allgemeinheit (propter universalitatem) ist dieser Name allgemeiner als alle anderen Namen. Wenn sich auch andere Namen mit diesem Namen decken, schließen sie begriff­ lich (secundum rationem) etwas ein und begrenzen ihn. Der Ver­ stand kann verschiedene Begriffe auf Gott anwenden, auch wenn das Wesen Gottes nicht erkennbar ist. Man soll nach Thomas das Prinzip beachten, dass ein Name, den wir Gott beilegen, umso allgemeiner ist, je kleiner der Umfang ist, den er begrenzt. Jeder andere Name bedeutet eine bestimmte Seinsweise des Gegenstandes (determinatur modus substantiae rei); der Name »Der Seiende« bezeichnet aber keine Seinsweise, er verhält sich zu allen Gegenständen unbestimmt (indeterminate). Hinsichtlich dessen, was der Name mitbezeichnet (ex ejus consi­ gnificatione), schließt sich Thomas an Augustinus’ These an, die das Sein Gottes nicht in die Vergangenheit oder Zukunft verlegt: Das, was der Name bezeichnet, ist das Sein in der Gegenwart (esse in praesenti). Gott nach Thomas ist jedoch ewig und seine Ewigkeit schließt jegliche Zeit ein.

2)

3)

Nur wenn alle drei Aspekte des Bezeichnens bestimmt werden, folgt es, dass der Name »Der Seiende (qui est)« als der eigentliche Name Gottes aufzufassen ist.726 Wenn es hingegen nicht um alle angedeu­ teten Aspekte des Bezeichnens ginge, sondern um das Vorliegen der unter dem Namen des Seienden bezeichneten res absolutae wie Substanz, Qualität oder Quantität, die für ein auf eine bestimmte Wesenheit oder Natur eingeschränktes Seiende gelten sollte, so wäre dieser Name kein Name Gottes. Diese Klärung gilt auch für den Namen »Christus«: alle angeführten Aspekte scheinen geeignet, Christus nicht als abstrakte Entität, sondern als »nichtabstraktes Individuum« zu fassen. Thomas kommt auf das Problem – ob Gott das Objekt der abstraktiven Erkenntnis bzw. ein abstrakter Gegenstand ist – an 726

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3.2 Sein und Seiendes in der Sprache

verschiedenen Textstellen zu sprechen. Er stellt die Frage: Ist die abstraktive Erkenntnis von der Art, dass ihre Prinzipien sowohl auf abstrakte Gegenstände als auch auf Gott zutreffen? Folgt man den Prinzipien für die Konstituierung abstrakter Gegenstände, kön­ nen mehrere von diesen anscheinend auf Gott angewandt werden. Demgemäß wird Gott als zeitlos, nicht sinnlich wahrnehmbar, ohne Akzidenzien und als keine von Materie rezipierte Form aufgefasst. Aber im Unterschied zu abstrakten Gegenständen ist Gott kein vom Konkretum bzw. Singularen abstrahiertes Universale. Die erkennt­ nistheoretische Abstraktionsmethode ist eine dafür angemessene Methode, um die vom Intellekt abstrahierte Washeit des sinnlichen Gegenstandes (quiditas rei sensibilis) – das Allgemeine oder conceptio rei (ratio) – als eigentliches Erkenntnisobjekt zu fassen. Aber bei dem Abstraktionsvorgang handelt es sich nicht um eine freie Auswahl des Intellekts, der dieselbe Methode sowohl für die Abstraktion dessen, was vielen gemeinsam ist, als auch für einfaches und für sich bestehendes, unbegrenztes Sein Gottes – anwenden dürfte. Wollte man dieselbe Abstraktionsmethode, die den Ausgang in sinnlicher Wahrnehmung eines Singularen nimmt und zum quiditativen Prädi­ kat gelangen lässt, auf Gott anwenden, würde dies zur konzeptuellen Verwischung zwischen abstrakten Gegenständen und Gott führen. Mithilfe der strikten logisch-semantischen Regeln (und der Analogie) will Thomas eine solche Verwischung ausräumen: 1) Jeder Name besagt ein greifbares Einzelding (in concreto) oder etwas Allgemeines (in abstracto).727 Weder die Namen, die ein selbstständig Seiendes mitsamt einer Beschaffenheit bezeichnen (substantiam cum qualitate), noch die Namen, die ein Allgemeines ausdrücken, können Gott bezeichnen, da Gott weder konkreter noch abstrakter Gegenstand ist, sondern einfach (simplex) und als etwas für sich Bestehendes (subsistens). Also sind die Namen, die für die Bezeichnung konkreter und abstrakter Gegenstände gelten, für Gott nicht geeignet. Auch die Namen, die einfache Wesensformen (etwa Weisheit) meinen, bezeichnen nicht etwas für sich Bestehendes, sondern dasjenige, wodurch etwas ist. 2) Also – wie das bereits aus Thomas’ epistemischem Ansatz folgte – ist die Erkenntnis Gottes keine cognitio abstractiva in particu­ lari. Cognitio abstractiva ist cognitio des Zusammengesetzten, bei der sich in einem Abstraktionsprozess vom Besonderen zum Allgemeinen 727

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

eine Begriffsabstraktion ergibt. Da aber unser Intellekt Gott indirekt, nämlich durch die Schöpfung erkennt, kann man Gott nur von der Schöpfung her (auf analoge Weise) benennen. 3) Trotzdem: Davon ausgehend, dass Gott simplex und subsistens ist, und abhängig davon, von welchem Aspekt her Gott gedeutet wird, legen wir Gott nomina concreta und nomina abstracta bei,728 obwohl beide Arten von Namen nicht an seine Seinsweise (eum ut est) heran­ reichen können. Um das für sich Bestehende und die Einfachheit Got­ tes auszudrücken, verfügt der Intellekt ausschließlich über Namen, die für die Einzeldinge gelten (nomina concreta) oder zur Bezeichnung des Allgemeinen geeignet sind (nomina abstracta), obwohl jede abstra­ hierte Allgemeinheit formell und unvollkommen bleibt. Diese Regeln schließen sowohl die fehlerhafte Folgerung aus, dass Gott eine abstrahierte Allgemeinheit ist, als auch die Möglich­ keit, dass Gott als eine bloß sprachliche Entität (oder bloß Gedachtes) aufgefasst wird. Die These des epistemisch vollständig unergründli­ chen Absoluten knüpft sich an die These des Unergründlichen im sprachlogischen Sinne an. Es gibt – Thomas zufolge – streng genom­ men keinen Namen, um Gott zu bezeichnen. Die Sprache kann nur eine unvollkommene Ausdrucksweise des Wesens Gottes bieten.729 Vergegenwärtigt man den ontologischen und epistemologischen Realismus eines Thomas, kann die Sprache als unabhängige Realität begründet werden. Die Auffassung, dass das von der Natur aus Seiende und das von der Vernunft aus Seiende zwei notwendige Bestimmungen des Seienden sind, liegt in der Analogizität zwischen der extramentalen Unabhängigkeit des Seienden und seiner sprach­ bezogenen Abhängigkeit begründet. Das Verhältnis zwischen beiden Bereichen, dem Gedachtsein und dem Wirklichsein, ist also auf die Analogie gestützte Isomorphie von ordo rerum und ordo nominum. Da die Ordnung der Dinge und die Ordnung der Namen nicht identisch sind, ergibt sich eine Reihe von ontologisch-epistemischen und logisch-semantischen Fragen, die vor und nach Thomas viel diskutiert wurden. Im engeren Sinne sind sie im dreistelligen seman­ tischen nomen-ratio/conceptus-res Modell verankert. Ich gehe in den nächsten Abschnitten durch eine tiefenstrukturelle Analyse auf diese Problematik ein.

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

3.3 Nomen – ratio/conceptus – res Die Wende zur Zeichentheorie spielt seit der aristotelischen Beschäf­ tigung mit der semantischen und epistemischen Bedeutung sprachli­ cher Zeichen eine besondere Rolle für die gesamte Philosophie von Thomas. In der These »Voces referentur ad res significandas, mediante conceptione intellectus«730 überlappen sich Thomas’ semantische Einsichten von Zeichen und Bezeichnetem mit seinen epistemischen Untersuchungen sowie mit der oben behandelten Frage nach den (abstrakten und konkreten) Namen, die von Gott ausgesagt wer­ den. Diese heftig diskutierte These impliziert das ganze epistemischsprachlogische Programm von Thomas. Sie hat ihre Ursprünge bei Platon und Aristoteles, die fragten, ob das Wort ein Zeichen des Begriffs (conceptus) und/oder ein Zeichen der erkannten (singulären und universellen) Gegenstände ist. Über Thomas’ Antwort verfügen wir teilweise aus seiner Behandlung der indirekten Erkenntnis, wo das Erkenntnisresultat in verbum mentis (das »innere Wort«) bzw. conceptio intellectus präsent gemacht wird. Das Erkenntnisresultat führt auf das Erkenntnisverfah­ ren zurück, wo die Form, wodurch ein Gegenstand erfasst wird, und welche der Verstand in actu selbst ist (oder anders gesagt: die Form, die den Verstand zum Erkennen der Gegenstände formt), eine und dieselbe ist (vgl. 2.3.1). Conceptio intellectus ist also das vom Intellekt im Assimilationsprozess Erreichte und Verstandene, das durch die sprachlichen Zeichen bezeichnet wird.731 Das Wesen der Sprache manifestiert sich in ihrem Zeichencharakter. Die Zeichenrelation besagt, dass nicht die sprachlichen Zeichen (Wörter, Begriffe, Sätze) selbst, sondern etwas anderes durch signum mitgeteilt wird. Aber hier soll noch einiges zu Thomas’ These gesagt werden, was im semantischen Sinne mit diesem Etwas zu verstehen ist. Es bedeutet nämlich, dass an erster Stelle nicht die Einzeldinge, sondern das durch die sprachlichen Zeichen bezeichnete Verstandene (verbum mentis) mitgeteilt wird. Hier entsteht gleich das Problem der Mehrdeutigkeit, da sich zwischen Namen und bezeichneten Gegenständen (res) ver­ schiedene Verhältnisse bilden: das Verhältnis zwischen dem Namen S.Th.I, q.13, a.1. S.Th.I, q.13, a.4: »Ratio enim quam significat nomen, est conceptio intellectus de re significata per nomen.« 730 731

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

und dem Gegenstand kann univok, äquivok oder analog sein.732 Daraus erhellt sich, warum uns hinter den Signifikationsrelationen liegende Univozität, Äquivozität und Analogie in Weiterem beschäf­ tigen wird. Den dreistelligen semantischen Relationtypus signum (vox/ nomen)-ratio/conceptus-res hat Thomas grundsätzlich aus dem Aris­ totelischen Peri hermeneias übernommen.733 In einer einfacheren Form ist er etwa bei Boethius zu finden: vox signifiziert res (im Sinne der quiditas oder species) durch die Begriffe, per mediatatem intellectuum.734 Die Antwort auf die Frage, warum Thomas die drei­ stellige Semantik bevorzugt, wenn es eine Möglichkeit gibt, andere semantische Relationstypen zu entwickeln, ist in seiner ontologischen und epistemischen Position zu finden. Beispiele für die zweistellige semantische Relation sind etwa in der voces-res-Relation bei Bacon735 oder bei Thomas’ Zeitgenossen Siger von Brabant zu finden.736 Die Auswahl des Relationstypus kann vor allem in Bezug zur Debatte um die Universalien zwischen Nomi­ nalisten und Realisten gedeutet werden, die seit dem 12. Jahrhundert zwischen Porphyrius’ Isagoge und Boethius’ Kommentaren zur Kate­ gorienschrift sowie den nominalistischen Positionen des Roscelins und Abaelards entbrannt ist. Die voces-genus/species-Relation bei Roscelin und seine vokalistisch-reduktionistische Grundthese besagt, dass die Arten und Gattungen (Universalien) Wort- bzw. Stimmlaute sind.737 Abaelards’ voces/nomen-genus/species-Relation gründet sich auf seinen logischen Nominalismus, nämlich in seiner realistische und konzeptualistische, intensionalistische und extensionalistische S.Th.I, q.13, a.1, a.5, a.7. Peri herm.1, 16a1–10. // Vgl. Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 30 f. 734 Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta, lib.1, cap.5. / Vgl. Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 10 f. 735 Roger Bacon, Compendium Studii Theologiae. (Ed.) H. Rashdall. Una cum Appendice de Operibus Rogeri Bacon. Ed. A. G. Little. Aberdoniae: Typis Academias, MCMXI, S. 56–64. 736 Siger von Brabant, Questiones in Metaphysicam. Graiff C. A. (Ed.), Questions sur la Métaphysique. Louvain: Éditions de l‘ Institut supérieur de Philosophie, 1948, lib.IV, q.15–17, S. 218–222. 737 Petrus Abaelardus, Dialectica. Ed. L. M. de Rijk. Assen: Van Gorcum, 1970, Intro­ duction, S. XCIII–XCIV. // Jolivet J., Trois variations of médiévales sur l`universel et l`individu: Roscelin, Abélard, Gilbert de la Porée. In: Revue de métaphysique et de modale 1 (1992), S. 111–155. // Libera A. de, Der Universalienstreit, S. 149–155. 732

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

Einsichten balancierenden extensionalistischen These, dass die Arten und Gattungen Worte bzw. Namen sind; die Namen signifizieren alle ihre Denotata (Lebewesen), für die sie supponieren; die Termini – ihrer Definition gemäß – bedeuten das, was sie signifizieren. Diese Einsichten von Abaelard waren in mehreren Schulen und Richtungen verbreitet.738 Nach Ockham, der die Vorstellung von der zweistelligen semantischen Relation im 14. Jahrhundert vertritt, wird das direkt Aufgefasste (realer Gegenstand) durch das Zeichen (das Wort) oder einen supponierenden Terminus selbst (ohne Medium) ins Bewusst­ sein gebracht.739 Philosophiegeschichtlich schließen sich sprachlogische Untersu­ chungen des 13. Jahrhunderts an die formalen Ergebnisse der Diskus­ sionen des 12. Jahrhunderts um die sprachlichen Zeichen und die Bezeichneten als Problem der Signifikation an. Einen Fortschritt in der Sprachlogik und Semantik entwickelte sich unter dem wesentlichen Einfluss der Übersetzungen und Kommentare neuer griechischer und neuplatonischer Quellen (z.B. Simplikios zur Kategorienschrift, Ammonios zu Peri Hermeineias). Wesentliche Impulse wurden von arabischen und jüdischen Philosophen (vor allem Avicenna, Averroes, Avicebron, Maimonides) geliefert. In diesem Kontext ist auch Thomas’ relationale Semantik in Verbindung mit dem Universalien- und Bedeutungsproblem740 und mit der Problematik der Bestimmung der Struktur einer (wissen­ schaftlichen) Sprache zu behandeln. Diese thomanische Problematik bezieht die Relationsarten des dreistelligen semantischen Modells und weitere semantische Begriffe wie »significatio«, »suppositio«, »intentio« und »repraesentatio« ein, die ich gleich behandeln werde. 738 Petrus Abaelardus, Dialectica, Bd. III, Tract.I, lib.1, f.127r–f.127v, S. 111–115; lib.3, f.129r27–f.130r5, S. 121–129; Tract.V, lib.1, f.196r7–f.198r11, S. 562–572. / Pie­ tro Abaelardo, Logica Ingredientibus, 170r4–170v40, 1–14; 171v1–12, 29–37; 172r18–40; 175v10–43. // Logica Ingredientibus. In: Geyer B. (Hrsg.), Peter Abael­ ards philosophische Schriften. (XXI, 1–3.) Münster: Aschendorff, 1919–1927. // Vgl. Normore C., Abelard and the School of the Nominales. In: Vivarium 30/1 (1992), S. 80–96. // Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 51–55. // Libera A. de, Universalienstreit, S. 156–165. 739 Wilhelm von Ockham, OPhII, Expositio in Librum praedicamentorum Aristote­ lis, § 8, S. 190–193. Vgl. Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 10 f., 18 ff. 740 Den Verweis auf den Zusammenhang zwischen der Universaliendebatte und dem mereologischen Problem im logisch-semantischen Sinne gibt Libera: Libera A. de, Der Universalienstreit, S. 143 f., 148 f.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

3.3.1 Relationsarten der dreistelligen Semantik Ich werde folgende These der dreistelligen Semantik bei Thomas behandeln: Die Worte sind Zeichen für Begriffe und die Begriffe Abbilder oder Ähnlichkeiten der Dinge, sodass die Worte indirekt auf erkannte extramentale Gegenstände bzw. durch das Medium (Begriffe) referieren. Diese, auf Aristoteles zurückgehende These gibt den dreistelligen semantischen Relationstypus wieder. Aus der aristo­ telischen dreistelligen Semantik folgt erstens die Struktur von zwei Relationsarten, nomen-ratio und ratio-res,741 zweitens der Aufbau der vierfachen Struktur der Sprache, wo die sprachlichen Zeichen (Laute, Wörter) den conceptus und indirekt extramentale Dinge bezeichnen, sodass die referentiellen Relationen zwischen internen Entitäten und extramentalen Objekten gebildet werden.742 Eine solche semantische S.Th.I, q.13, a.1: »Dicendum quod secundum Philosophum »voces sunt signa intellectum, et intellectus sunt rerum similitudines.« Et sic patet quod voces referuntur ad res significandas, mediante conceptione intellectus.« / In Perih.I, lect.2, n.15: »voces significant intellectus conceptiones immediate, et eis mediantibus res«. Lect.2, n.19: »In passionibus autem animae oportet attendi rationem similitudinis ad experimendas res, quia naturaliter eas designant, non ex institutione.« / Peri herm.1, 16a1–10; 16b1– 10, 19–20. Die von Aristoteles wie auch später von Thomas vertretene Auffassung, dass das Wort Zeichen für den Begriff ist, wird durch zwei Arten der Relation, nomenratio und ratio-res, erklärt. In der ratio-res-Relation können die Begriffe nach Aristo­ teles als Abbilder der Gegenstände bestimmt werden. So sind nicht die Gegenstände selbst, sondern die Vorstellungen der Seele dasjenige, wofür die sprachlichen Zeichen an erster Stelle stehen. Mithilfe des ratio-res Schemas aufgefasste unterschiedliche Verhältnisse können univoke, äquivoke oder denominative Relationen bilden. Es wird in diesem semantischen Zusammenhang etwa die Auffassung diskutiert, ob hier mit Abbildern die Bilder (imagines) oder Gedanken gemeint werden. Siehe dazu auch: O‘Callaghan J. P., The Problem of Language and Mental Representation in Aristotle and St. Thomas, S. 499–545. Zwei Varianten der Signifikation, nämlich die vocespassiones animae und voces-passiones animae-res, die univok oder analog sein können, behandelt Ashworth. Siehe: Ashworth E. J., Do Words Signify Ideas or Things? S. 299–326, 513. 742 Auf den Einfluss der dreistelligen Semantik von Aristoteles auf die mittelalterliche und gegenwärtige Philosophie weist bspw. Kretzmann hin. Der aristotelische Reprä­ sentationalismus (mental representationalism) wird in der gegenwärtigen Philosophie uminterpretiert. Im Rahmen der »philosophy of mind« wird die Frage diskutiert, ob und wie interne Entitäten im Intellekt referentielle Relationen zu Objekten der Welt bilden können. Es wird heftig über die Frage diskutiert, was die »Ähnlichkeit« in der passiones animae-res-Relation bedeuten kann. Zur Debatte siehe: Kretzmann N., Aristotle on Spoken Sound Significant by Convention. // Haldane J. J, Reid, Scholas­ ticism and Current Philosophy of Mind. In: Dalgarno M., Matthews E. (Eds.), The Philosophy of Thomas Reid. Dordrecht: Kluwer, Academic Publisher, 1989. // Put­ 741

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

Strukturierung der Sprache zeigt sich bereits vor Thomas in den Interpretationen der aristotelischen Position in De Intepretatione von Boethius743 und in Peri Hermeineias von Ammonius.744 Beide Interpretationen und die scholastischen Diskussionen des 12. und 13. Jahrhunderts haben (direkte und indirekte) Einwirkungen auf Thomas und seine Bestimmung der zwei Relationsarten: (a) signum (vox/ nomen)-ratio/conceptus und (b) conceptus-res-Relation.745 Die Rela­ tionskonstanten – die sprachlichen Zeichen (vox, verbum, nomen), die in der Sprache Gegenstände vertreten, einerseits, und conceptus als das Medium,746 wodurch Gegenstände (res) erkannt werden, andererseits, werden nach Thomas in der dreistelligen Relation nicht nur semantisch, sondern auch ontologisch und epistemisch eng ver­ bunden. An Thomas’ Verweis auf die (Sprach-)Laute zeigt sich das Spezifische bei der Zeichenrelation: die Laute, die bezeichnen, sind die Zeichen für die Wörter.747 Die Sprach- bzw. Wortlaute sind dieje­ nam H., Aristotle after Wittgenstein. In: Sharples R. W. (Ed.), Modern Thinkers & Ancient Thinkers. Boulder: Westview Press, 1993, S. 117–137. // O’Callaghan J. P., The Problem of Language and Mental Representation in Aristotle and St. Thoma. The Review of Metaphysics 50, 3 (1997), S. 499–545. 743 Boethius, De Interpretatione, 16a19–21. Boethius Übersetzung der Aristoteli­ schen Formulierung des Begriffs nomen in De Interpretatione: »nomen est vox signifi­ cativa.« Siehe auch In Perih.I, 57, 6–10. // Siehe Magee J., Boethius on Signification and Mind. Leiden: Brill, 1989. 744 Ammonius, Commentaire sur le Peri Hermeneias d‘Aristote, cap.1, B.17, 73ra25– B.20, 73va36. Der Kommentar von Ammonius zu Peri hermeneias wurde aus dem Griechischen von Wilhelm von Moerbeke ca. 1268 übersetzt. 745 Bei der Bestimmung der dreistelligen semantischen Relation, die entweder auf die aristotelische (Wort-Seeleneindrücke-Dinge) oder stoische (Stimme-VorstellungLekton-Ding) Konzeption der Semantik als einer dreistelligen zurückgeführt wird, unterscheidet Heger drei grundlegende Arten der Bedeutungen: (1) die operationale Bedeutung, wenn die Bedeutung des Wortes seinen Gebrauch ausmacht (wie das auch bei Wittgenstein, Strawson und Ryle der Fall sein wird); (2a) die referentielle (klassi­ sche) Bedeutung, wenn das Wort für den Gegenstand steht (zweistellige Bezeich­ nungsweise der Bedeutung) oder (2b) wenn das Wort für den Begriff und für den Gegenstand steht (dreistellige Bezeichnungsweise der Bedeutung wie im Fall von Thomas). Siehe: Heger K., Monem, Wort, Satz und Text. Tübingen: Niemeyer, 1971, S. 23. Siehe zur stoischen dreistelligen Semantik etwa Küng G., Ontologie und logis­ tische Analyse der Sprache. Eine Untersuchung zur zeitgenössischen Universaliendis­ kussion. Wien: Springer, 1963. // Der Vergleich zwischen griechischer und stoischer dreistelliger Semantik und Analyse der stoischen Semantik in: Enders H. W., Sprach­ logische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff, S. 29–37. 746 S.Th.I, q.13, a.1; q.85, a.2ad3. 747 S.Th.I, q.34, a.1.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

nigen, die eine wichtige Rolle sowohl für Thomas’ Erkenntnistheorie als auch für seine Semantik spielen, da der Anfang der indirekten Erkenntnis in der sinnlichen Wahrnehmung liegt und die Zeichen bzw. Sprachlaute sinnfällig (sensibilia) sind.748 Dasjenige, was mit der sinnlichen Wahrnehmung in Verbindung steht, verliert den sinnli­ chen Aspekt durch die Abstraktion und durch den Benennungsprozess des Erkannten; so geht gewissermaßen die Verbindung mit den extramentalen Gegenständen selbst verloren. Eine ähnliche Position vertrat bereits Aristoteles, als er nicht die Gegenstände (res) selbst, sondern die Zeichen (Laute, Worte, Begriffe, Definitionen) als die ers­ ten hervorgehoben hat, die wahrgenommen und erkannt werden.749 Bei Diskussionen um die sprachlichen Zeichen, die nicht selbst erkannt werden, sondern eine Erkenntnis von etwas anderem ver­ mitteln, oder bei den Fragen, ob und auf welche Weise ein signum einen bestimmten (kognitiven) Gehalt repräsentiert, ist zunächst auf das bestimmte signum-Modell zurückzuverweisen.750 Das signumModell von Thomas als eine vierfache Grundstruktur der Sprache sieht folgendermaßen aus:751 0) Es gibt Laute, die nichts bezeichnen (quae non est significativa); 1) die Buchstaben stehen als Zeichen für die Laute; 2) die (Stimm-)Laute sind die Zeichen des äußeren Wortes (vox exterior); auch die Vorstellung des Lautes (imaginatio vocis) wird als Wort verstanden; 3) das Wort steht als Zeichen für den Begriff des Verstandes bzw. für das innere Wort (conceptus).752 Das innere Wort (verbum De Verit., q.9, a.4ad4. / C.G.I, 30. Met.H3, 1043b5–32. / Peri herm.1, 16a3–10. / De Anima III, cap.8. 750 Boethius, In Perih.I, 45–46. Nach Aristoteles sind die Worte Zeichen von Zustän­ den der Seele (passiones animae). Der Boethianischen Interpretation des Aristoteles gemäß bezeichnet vox primär nicht die res (quiditas oder species), sondern den Intel­ lekt, da die res durch die Begriffe erkannt werden können. Hier handelt es sich um eine dreistellige Semantik. Vgl. Pinborg J., Das Sprachdenken der Stoa und Augustins Dialektik. Classica et Mediaevalia: Danish Journal of philology and history, 1962, S. 148–177. 751 S.Th.I, q.34, a.1; q.13, a.6; q.1, a.10. 752 Peri herm.1, 16a 5–8. / In Perih.I, lect.2, n.20–22. / S.Th.I, q.85, a.2ad3. / De Pot., q.8, a.1. Passiones animae bei Aristoteles werden von Stimmlauten ausgedrückt und sie sind das, wodurch sprachliche Äußerungen auf extramentale Gegenstände Bezug nehmen. Thomas interpretiert die Seelenzustände bei Aristoteles wie folgt: vom Bezeichnungsaspekt her gesehen sind sie als Begriffe aufzufassen, vom Erkenntnis­ aspekt her sind sich passiones animae und Dinge ähnlich. Thomas behandelt auch die 748

749

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

4)

mentis)753 ist kein species intelligibilis, sondern ein conceptio intel­ lectus;754 der Begriff ist ein Zeichen von res.

Das Wort als Zeichen kann in der Ordnung der Zeichenrelationen in einem eigentlichen (proprie) und im bildlichen (figurativen) Sinne verstanden werden. Mit diesen zeichentheoretischen Vorgaben kön­ nen wir nun einsehen, dass das Zeichen (verbum/nomen), das in Lauten (voces) artikuliert wird, direkt für den Begriff und indirekt für den Gegenstand (res) steht. Alle auf dieses signum-Modell bezogenen Elemente sollen ihre Bedeutung nicht nur von der sprachlichen Zei­ chenstruktur erhalten, sondern von deren Inhalt bzw. von dem Wort als Bedeutungsträger. Da das Wort in sprachlicher Zeichenstruktur zuerst mit dem lautlichen Substrat auf bestimmte Weise verbunden ist, wird das lautliche Substrat mit der (univoken, äquivoken oder ana­ logen) Bedeutung auf folgende Weise zusammengefügt: Das Wort, das die Bedeutung durch die Namensgebung (impositio) bekommt,

weitere Frage, ob der Verstand etwas als seine passiones erkennt. Er stellt fest, dass passiones animae geistige Erkenntnisbilder sind, die sich in der Seele befinden; sie sind aber weder mit den inneren Worten identisch (wie bei Bonaventura) noch können sie mit den äußeren Worten bezeichnet werden. Vgl. Fuchs M., Zeichen und Wissen, S. 150 f. 753 S.Th.I, q.34, a.1. / Bei Augustinus wird das innere Wort mithilfe einer Analogie erklärt: wie der göttliche Sohn durch den Vater und das Wort Gottes im Denkakt Gottes gezeugt werden, so wird auch der menschliche Gedanke aus dem Gedächtnis gezeugt. Augustinus, De trinitate. Neu übersetzt und mit Einleitung hrsg. von J. Kreuzer. Hamburg: Meiner, 2001, XI, (8.14); XV, (21.40, 22.42). 754 Wir haben bereits auf verschiedene Deutungen des Begriffs species intelligibilis aufmerksam gemacht. Species intelligibilis und conceptio intellectus weisen auf indi­ rekte abstraktive Erkenntnis hin. Das innere Wort wird hier in semantischer Hinsicht nicht als species intelligibilis, sondern als conceptus verstanden. Das Singuläre, das als Objekt der Erkenntnis auf der Ebene der Wahrnehmung als Phantasma auftritt, wird per abstractionem a phantasmatibus auf der Ebene des Intellekts als species intelligibilis bzw. als eine mentale Form erfasst, wodurch extramentale Gegenstände dem Intellekt präsent gemacht werden. Der Begriff (conceptio intellectus) geht von einem Abstrak­ tionsprozess aus; er ist das mit dem Wort ausgedrückte Allgemeine oder die vom intellectus agens abstrahierte Washeit. Conceptio intellectus/verbum mentis ist das Resultat des Erkennens im Verstehenden, eine »Endvollkommenheit des Verstan­ des«. Vgl. Ashworth E. J., Language and Logic in the Post-medieval Period. Dordrecht; Boston: Reidel, 1974, S. 42–55.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

kann auch auf andere Entitäten übergetragen werden.755 Diese auf der Sprachebene ausgeführte Übertragung ist als Äquivokation zu klären. Wenn die Bedeutung auf mehrere Entitäten übertragen und diese nicht bloß auf der Sprachebene ausgeführt wird, zieht man für die Analyse die Analogie heran. Das, was man unter dem Wort im eigentlichen Sinne als den Bedeutungsträger versteht, entnimmt man seinem Zeichencharakter und seiner Zeichenfunktion. Auf diese Weise lassen sich beide semantische Relationsarten – (a) vox/nomen-ratio/conceptus und (b) ratio/conceptus-res – dem signum-Modell des Thomas gemäß formell gewinnen, sie können aber nicht leicht erläutert werden. In der Analyse dieser Relationsar­ ten geht Thomas, wie gezeigt, von den im 13. Jahrhundert weitgehend diskutierten Begriffen significare, repraesentare und supponere aus. Er bezieht diese Begriffe für die Unterscheidung zwischen beiden Relationsarten ein, sodass vom Signifikationsakt und der Repräsen­ tation gesprochen werden kann. Im Signifikationsakt befinden sich die Relata auf verschiedenen Ebenen, und es bilden sich miteinander verbundene Relationen: (A) die Signifikationsrelation zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten, (B) die Repräsentationsrela­ tion, die auf den Erkenntnisakt zurückgreift, und (C) die Suppositi­ onsrelation, in welcher das Zeichen (Name) dementsprechend für etwas bzw. für das Bezeichnete (einen bestimmten Naturträger) steht. (A) Die Signifikationsrelation kann als x S y formalisiert werden. Die Formel ist dann auf folgende Weise zu lesen: S- Relation, xSignifikant, y- Signifikat.756 Das Zeichen soll in dieser Relation in keinem Fall die Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten beanspruchen. Es geht um die Bezeichnungsfunktion eines Zeichens: z.B. das Wort als sprachliches Zeichen bezeichnet den Begriff auf eine konventio­ nelle Weise in einer voces/verbum/nomen-ratio/conceptus-Relation als der Bedeutungsrelation.757

755 Siehe dazu etwa Ashworth E. J., Language and Logic in the Post-Medieval Period, S. 42: »Spoken words were said to have meaning only if they were subordinated to a mental term.« 756 Zu der formalisierten Lesart der Relationen siehe: Saarnio U., Enders H., Die Wahrheitstheorie der deskriptiven Sätze. München [u.a.]: Schöningh, 1977, S. 12, 63. Siehe dazu auch Saarnio U., Untersuchungen zur symbolischen Logik. Acta Philoso­ phica Fennica, Fasc. I. Ed. Societas Philosophica. Helsinki, 1935, S. 24. 757 S.Th.I, q.34, a.1: »Ex hoc ergo dicitur verbum vox exterior, quia significat interio­ rem mentis conceptum.« / S.Th.II-II, q.110, a.3.

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

(B) Die conceptus-res-Relation als eine Repräsentationsrelation kann durch die Relationsglieder und das zwischen ihnen bestehende Verhältnis bestimmt werden. Formell ausgedruckt: (a) »x führt zur Erkenntnis von y und repräsentiert Erkanntes y«, und (b) »x als Spur repräsentiert y oder x bildet y ab«.758 (C) Die Suppositionsrelation kann als (St/r) formalisiert werden und ist wie folgt zu lesen: S – Relation besteht zwischen einem Terminus (t) und etwas (Supposita), z.B. einer Einzelsubstanz, der Natur einer Spezies oder einer allgemeinen Natur eines Gegenstandes (res (r)). Supposition ist als »Unterstellung« oder »für-etwas-stehen zu können« oder auch »für-sich-selbst-stehen zu können« eines Zei­ chens bzw. supponierenden Terminus (oder Aussage) zu verstehen. Zum B (a): Conceptus kann in der Relation zum Gegenstand auf die Weise stehen, dass er nicht das aufgefasste Zeichen (Begriff) selbst, sondern etwas anderes – die Wesenheit (das Erkannte) des Gegenstandes – im Intellekt repräsentiert. Es geht dabei nicht um den Abstraktionsprozess, sondern um den durch diesen Prozess bereits erkannten Gegenstand, der durch conceptio intellectus erfasst wird. Die Form in actu ist diejenige, wodurch etwas erkannt und repräsen­ tiert wird, die demnächst im Intellekt existiert und das geistige (oder intentionale) Sein besitzt. Daraus erhellt sich auch, dass repraesentare den Zusammenhang zwischen dem realen und gedachten Sein auf­ weist. Zum B (b): Es handelt sich um eine Kausalrelation als Repräsen­ tationsrelation, da jede Wirkung (omnis effectus) auf verschiedene Weise ihre Ursache repräsentiert: etwa als Spur des Feuers im Rauch (Spur-Repräsentation, Spur-Relation) oder als Spur der göttlichen Natur in der Kreatur oder auch aufgrund der Ähnlichkeit der Form des Merkurs und der Statue Merkurs (Bild-Repräsentation, Bild-Rela­ tion).759 Bei der Behandlung der Trinitätsfrage bezieht Thomas die Repräsentationsrelation und die Signifikationsrelation und deren Zusammenhang ein, um zu klären, dass etwa die Trinität per modum imaginis im menschlichem Intellekt dann repräsentiert wird, wenn es zu zeigen gelingt, dass verbum conceptum sich in diesen Bildern von Trinität findet und vom Intellekt bestimmt wird. Significare und repraesentare sind also nicht die einzigen Begriffe für die Deutung der Arten des dreistelligen Relationstypus. Soll die 758 759

S.Th.I, q.45, a.7. S.Th.I, q.34 a.1; q.45, a.7.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Rede von den sprachlichen Zeichen und dem Bezeichneten erweitert werden, folgen neben dem Signifikations- und Repräsentationsbegriff der Intentions- und Suppositionsbegriff. Es ist von wesentlicher Bedeutung, die Frage zu stellen, wie das Zeichen für sein Bezeichnetes steht (supponit), da das Wort als Zeichen nicht nur einen einzigen extramentalen Gegenstand bezeichnet, sondern auch mit anderen Zeichen verknüpft ist. Darüber hinaus können mehrere Wörter auf einen Gegenstand verweisen.760 Dass Thomas den Begriff intentio wegen dessen Leistungsfähig­ keit in seiner Epistemologie einsetzt, wissen wir bereits aus dem Kapitel 2. Aber auch mehrere problematische Aspekte der dreistel­ ligen semantischen Relation werden bei ihm mithilfe des Begriffs intentio bzw. impositio entsprechend zur Sprache gebracht.761 Hier ist wesentlich noch einmal daran zu erinnern, dass der Begriff intentio die semantische Unterscheidung zwischen (1) den Zeichen, die indirekt für die Gegenstände stehen, und (2) den Zeichen, die für die Zeichen stehen, rechtfertigt.762 Zieht man den Begriff intentio an die dreistel­ lige Relation heran, lassen sich beide Intentionen in ein Stufensystem einbinden. Am Beispiel eines Stufensystems, das die Forscher der mittelalterlichen Semantik und Logik – Saarnio, Penttilä und Enders – ausgearbeitet haben, sieht die Anwendungsbreite der Intentionen bei Thomas folgendermaßen aus:763

S.Th.I, q.34, a.1; III, q.60, a.6. De Pot., q.7, a.6. / De Verit., q.21, a.3ad5. Als impositio wird bei Porphyrius die erste und die zweite Namensgebung verstanden. Avicenna bezeichnet die Namens­ gebung als die erste und die zweite Intention. Bei Thomas kommen beide Bezeich­ nungen der Namensgebung – intentio und impositio – als Synonyme vor. Siehe dazu: Pinborg J., Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, S. 37 f. / Pinborg J., Zum Begriff der intentio secunda, S. 49–59. // Fuchs M., Zeichen und Wissen, S. 159. // Park S.-Ch., Die Rezeption der mittelalterlichen Sprachphilosophie, S. 88 ff., S. 97. 762 Bezüglich der Intentionen und der Lösungen des semantischen Problems der Intentionen unterscheidet Pinborg zwei bedeutungstheoretische Positionen: Thomis­ ten und Scotisten sind »intentionistae«, Ockham und Ockhamisten aber »terminis­ tae«. Zur Grammatik und terministischen Logik Rijk L.M. de, Logica Modernorum, II-I, chap.2, S. 95–125. 763 Vgl. Saarnio U., Die Grelling’sche Paradoxie und ihre exakte Lösung. Helsinki: MS, 1971. // Penttilä A., Über die metasprachlichen oder linquistischen Ausdrücke. Sitzungsberichte der Finnischen Akademie (1960–62), S. 133–147. // Enders M., Sprachlogische Traktate des Mittelalters, S. 116 ff. 760

761

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

(a) Primae intentiones oder objektsprachliche Wörter der Objekt­ sprache764 beziehen sich auf reale Gegenstände derart, dass sie durch ihre Bedeutung das Wesen der Gegenstände ausdrücken; sie bezeichnen also ihre Begriffsbestimmung (significat enim ejus defi­ nitionem).765 Nach der Saarnio-Penttilä-Enders-Theorie können die ersten Intentionen im Stufensystem zwischen dem 0. Grad (d.h. Bezeichnetes: Gegenstände des Wirklichkeitsbereichs, z.B. Mensch) und dem 1. Grad (d.h. Bezeichnendes: das Wort »Mensch«) eingeord­ net werden. Es handelt sich hier um jenen Teil dieses Gradsystems, bei dem die Wörter der ersten Intention die Begriffe und die Begriffe die extramentalen (denotierten) Gegenstände bezeichnen. (b) Secundae intentiones oder metasprachliche Namen (»species«, »genus«, »differentia«, »verbum« u. a.) bezeichnen – als konventio­ nelle Zeichen – die Zeichen (Begriffe) des 1. Grades und indirekt die extramentalen Gegenstände des 0. Grades.766 Ein metasprachlicher Begriff (es geht vor allem um die mit den Namen bezeichneten Universalien) ist also derjenige, den mehrere Zeichen des ersten Grades gemeinsam haben. Daher ist jedwede zweite Intention eine sprachliche Größe, die als Gedankending (ens rationis) erfassbar ist. Die zweiten Intentionen sind für die Aristoteliker wie Thomas mit dem modus essendi verbunden, da sie die Gegenstände des Wirklich­ keitsbereichs indirekt und artspezifisch benennen lassen. Secundae intentiones haben nach Thomas theoretische bzw. logische Vorteile, sie sind nämlich unentbehrlich für die Bildung der univoken Aussagen, reichen aber nicht für die metaphysische Wahrheit aus. Die Unterscheidung zwischen ersten und zweiten Intentionen spielt für die mittelalterliche zwei- und dreistellige Semantik eine besondere Rolle. Beide Intentionsarten kommen in der Suppositi­ onsrelation wieder vor. Es lassen sich Bedeutungshierarchien auf­

764 S.Th.I, q.13, a.1. / De Verit., q.21, a.3ad5. Zum Begriff der Objektsprache und zur Frage nach der Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache siehe: Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 92–100. // Tarski A., Grundlegung der wis­ senschaftlichen Semantik. / Tarski A., The Semantic Conception of Truth and the Foundations of Semantics. In: Feigl H., Sellars W., Reading in Philosophical Analysis. New York: Appleton-Century-Crofts, 1949, S. 52–94. 765 S.Th.I, q.13, a.1. Thomas zitiert Aristoteles: »ratio enim quam significat nomen, est definitio.« S.Th.I, q.18, a.2; q.85, a.2. 766 S.Th.I, q.76, a.3ad4; q.85, a.2ad2.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

bauen,767 in die sich die Wörter der Objektsprache, die die extramenta­ len Gegenstände so bezeichnen, wie sie erkannt sind, und die Wörter der Metasprache eingliedern.768 (C) Die Suppositionsrelation bedeutet, dass ein Terminus auf mehrere Weisen für etwas steht. Die Supposition wird dadurch fest­ gemacht, dass das sprachliche Zeichen (Name, Terminus) nur das bekannt macht, wofür es steht bzw. supponiert, und dass der Terminus für ein anderes und für sich selbst stehen bzw. supponieren kann. Ich führe nähere Erläuterungen von Thomas zu dieser Festmachung an. Die Suppositionsfrage kann auch begriffslogisch gestellt werden, d.h. die Funktion des Zeichens (die der Signifikation und der Suppo­ sition) kann auch ohne bzw. außerhalb der Verwendung in einer Aussage erfüllt werden. So wird unter dem Begriff »suppositum« bei Thomas das (unter einem Significatum) der allgemeinen Natur eines Gegenstandes Untergelegtes, -stelltes, etwa ein Wesensträger, ein Individuum als Träger der Form oder auch eine in der Gattung der Sub­ stanz subsistierende Einzelsubstanz gemeint.769 »Suppositio« kommt 767 In der modernen Semantik, die größtenteils zweistellig ist, werden die Beziehun­ gen zwischen objektsprachlichen Ausdrücken und dem, worüber man in der Objekt­ sprache spricht, in einer beide überragenden semantischen Metasprache zum Aus­ druck gebracht. Auf herkömmliche Weise läuft dies so ab, dass man den »Namen für die Ausdrücke der Objektsprache in die Metasprache zu inkorporieren« (Heydrich) sucht. Somit wird aufgezeigt, wie die ursprünglich einheitliche Sprache in zwei Sprach­ stufen differenziert werden kann. Siehe Heydrich W., Gegenstand und Sachverhalt: Bausteine zu einer nominalistisch orientierten Semantik für Texte. Hamburg: Buske, 1982, S. 303 ff. 768 Bedeutungshierarchien entstehen daraus, dass bezeichnende Zeichen für die kon­ kreten Gegenstände des 0. semantischen Grades oder als Zeichen für die Zeichen des 1. Grades stehen. Da der Aufbau der Hierarchien mit verschiedenen bedeutungstra­ genden Größen (mit dem Wort oder mit dem Satz) zusammenhängt, kann man von mehreren semantischen Hierarchien sprechen. Siehe dazu Saarnio U., Enders H., Die Wahrheitstheorie der deskriptiven Sätze, S. 11 f. 769 S.Th.I, q.3, a.3; q.13, a.9; q.29, a.2; q.39, a.1; a.2. Zu beachten ist bei »suppositio« auch dessen Verhältnis nicht nur zum Begriff der Signifikation, sondern auch zu den Begriffen der Denotation, Konnotation, Extension und Intension. Wenn ein Zeichen als Terminus (Grundeinheit der Aussage) für etwas steht (supponiert), geht es bei dieser Anwendung eines Terminus auch um die Denotierung (oder Extension) und die Konnotierung (oder Intension), die etwas inhaltlich über das Suppositum aussagt. Untersuchungen dieser Termini in der mittelalterlichen Logik und Sprachphilosophie siehe bei Pinborg J., Bezeichnung in der Logik des XIII. Jahrhunderts, S. 238– 281. // Rijk L.M. de, Logica modernorum, II-I, chap.16, S. 513–554. // Enders H., Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff. // Siehe dazu Leff­ ler O., Wilhelm von Ockham: Die sprachphilosophischen Grundlagen seines Den­

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

bei Thomas vor allem bei der Frage nach der richtigen Übertragung der Namen bzw. ihrer Bedeutung vor.770 Dies zeigt sich am folgenden Beispiel: Die Substanz wird im logischen Sinn mit dem Terminus der zweiten Intention »suppositum« bezeichnet. An weiteren Namen für die Substanz – subsistentia, res naturae und hypostasis – zeigt sich ein bestimmtes Problem. Diese Namen signifizieren ein Wirkliches bzw. eine Substanz, haben aber nicht dieselbe Bedeutung: (a) unter subsistentia wird gemeint, dass die Substanz per se existit und nicht in einem anderen ist; (b) wenn die Substanz für eine allgemeine Natur supponiert, wird sie mit dem Terminus »res naturae« bezeichnet (wie im Satz »hic homo est res naturae humanae«); (c) wenn die Substanz für die Eigenschaften supponiert, heißt sie »substantia« oder »hypostasis«. Wie erklärt man eine derartige Übertragbarkeit der Namen? Ich beschränke mich hier auf eine Klärung von Thomas, die den Zusammenhang der Frage mit der Supposition und der Form verdeut­ licht:771 (a) wenn die (Wesens)Form, die in einem Einzelwesen (als menschliche Natur) existiert und durch dieses ihre Individuation empfängt, ist sie, von dem Aspekt der Supposition her gesehen, der Wirklichkeit und der Erkenntnis nach (secundum rem et rationem) vielen x gemeinsam; (b) wenn die Form durch sich selbst besteht, ist sie Suppositum. Im letzten Fall können die subsistierenden Formen (Aspekt b) weder der Wirklichkeit noch der Erkenntnis nach vielen gemeinsam sein; sie werden (wie wir dies seit dem Kapitel 2 wissen) nur nach der Weise der Zusammengesetzten erkannt und mit den Namen der erkannten Natur entsprechend signifiziert.772 In beiden Fällen entsprechen die sprachlichen Zeichen nicht direkt der Seins­ weise der Gegenstände (non sequuntur modum essendi), sondern sie

kens. // Leinfellner E., Leinfellner W., Ontologie, Systemtheorie und Semantik. Ber­ lin: Duncker & Humblot, 1978, S. 68. 770 S.Th.I, q.13, a.9. 771 S.Th.I, q.13, a.9. 772 S.Th.I, q.39, a.1ad3: »[…] rebus divinis nomina imponimus secundum modum rerum creatarum; ut supra dictum est. Et quia naturae rerum creatarum individuantur per materiam quae subjicitur naturae speciei, inde est quod individua dicuntur ›subjecta‹, vel ›supposita‹, vel ›hypostases‹. Et propter hoc etiam divinae personae supposita vel hypostases nominantur; non quod ibi sit aliqua suppositio, vel subiectio secumdum rem.«

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

signifizieren die Gegenstände (wahr oder falsch) nach der Weise der (wahren oder falschen) Erkenntnis.773 Bei der »suppositio« handelt es sich um die wichtigen seman­ tischen Unterscheidungen zwischen den Arten der Supposition – suppositio simplex, materialis und personalis.774 Der (partikulare und universale) Zeichenbegriff, der in diesen drei Arten vorkommt, zeich­ net sich dadurch aus, dass er die Verbindung von Signifikationsund Suppositionsrelation einerseits und den Intentionen andererseits aufweist, sodass das dreistellige semantische Modell daran noch vollständiger dargestellt werden kann. Für unser Thema ist wichtig, dass die ersten zwei Arten der Supposition in der Debatte um die Univokation und Äquivokation thematisiert werden; die Erläuterun­ gen der dritten Art der Supposition schließen sich der Debatte um die Analogie an. In den zwei ersten Arten der Supposition supponiert der Termi­ nus für sich selbst auf die Weise, dass die Beziehung zwischen zwei Termini mithilfe folgender Aussagen geregelt wird:775 (a) suppositio materialis: der Terminus der zweiten Intention in der Aussage »Homo est vox/nomen« supponiert für einen ande­ ren Terminus; (b) suppositio simplex: der Terminus der zweiten Intention in der Aussage »Homo est species« supponiert für den conceptus und ist immer univok. Das Signifikat ist nun res universalis. So mit dem Namen der logischen Beziehung (nomina intentionum) bezeichnetes Wesen, das unter die Definition der Art fällt, ist die begriffliche Wesensbestimmung der Spezies Mensch; (c) suppositio personalis:776 der Terminus supponiert für die Indi­ viduen als Träger der Form oder für die extramentalen Gegenstände S.Th.I, q.13, a.9ad2. Erst bei Wilhelm von Shyreswood (William of Sherwood) sind nach der Meinung von Pinborg alle Arten der Supposition ausformuliert worden. Die Supposition fasst Shyreswood neben Signifikation, Kopulation und Appellation als Eigenschaften des Terminus auf. Vgl. William of Sherwood’s, Introduction to Logic. Translated with an introduction and notes by N. Kretzmann. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1966, V, 1–16.4, S. 105–130. // Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 61. // Der Versuch einer Rekonstruktion der mittelalterlichen Suppositionstheorie und der Arten der Supposition siehe in: Arnold E., Zur Geschichte der Suppositions­ theorie. // Enders H., Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbe­ griff, S. 56–103. 775 S.Th.I, q.39, a.4, a.5; q.29, a.2; q.3, a.3; III, q.16, a.7. 776 S.Th.I, q.13, a.9; q.29, a2ad2; q.39, a.1, a.2, a.3, a.4ad3. 773

774

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

(res singulares). Dieser Terminus präsentiert die Individuen oder Gegenstände in unserem Intellekt. Der Terminus in der personalen Supposition steht etwa in den Aussagen, »Der Mensch ist ein ver­ nünftiges Lebewesen«, »Sokrates ist ein Mensch« oder »Der Mensch ist weiß«, für etwas anderes (Individuum; hier: Mensch). In einer Aussage kann er für die Subjekt- oder Prädikatfunktion verwendet werden.777 So bezeichnet der Terminus der ersten Intention den Begriff »Mensch« und durch den Begriff per modum substantiae die Form der menschlichen Natur (humanitas), welche realiter verschie­ dene Träger dieser Natur (suppositis) besitzen. Dieser Begriff suppo­ niert per se also für die Person (für einen bestimmten realen Men­ schen), oder (als Prädikat) für die zahlreiche gemeinsame menschliche Natur. In der Aussage, »Sokrates ist ein Mensch«, ist der Name »Sokrates« (Subjekt der Aussage) ein Name für das Suppositum (nomen suppositi).778 Das Adjektiv (als Name des Akzidens) »weiß« als Prädikat bezeichnet eine akzidentelle Form und supponiert für Gegenstände (hier: Mensch), die durch die Qualität Weiß weiß sind. Subjekt und Prädikat sollen in einer wahren Prädikation für dasselbe supponieren, nämlich für einen weißen Menschen. Die Aussagen sind falsch, wenn die Aussagewörter nicht supponieren, oder wenn die Supposita nicht existieren (eine vollständige Analyse dessen erfolgt im Kap. 4). Alle drei Suppositionsarten kommen in Texten von Thomas auf implizite und explizite Weise öfters vor. Sein Interesse richtet sich jedoch nicht primär auf suppositio materialis, auch nicht auf suppo­ sitio simplex, sondern auf suppositio personalis und ihre Subarten (suppositio determinata, s. confusa) und mit dieser Suppositionsart verbundene Analogie.779 Aber im nächsten Abschnitt tritt uns noch ein problematischer Aspekt der Suppositionstheorie entgegen, der über den Rahmen der dreistelligen semantischen Relationen gewis­ sermaßen hinausgeht.

777 Auf den prädikationslogischen Charakter der Suppositiontheorie in einem frühe­ ren Stadium ihrer Entwicklung (Ende des 12. Jhr.) hat De Rijk auf Basis seiner Unter­ suchungen mittelalterlicher Handschriften hingewiesen. Rijk L. M. de, Logica modernorum, II-I, chap.17, 7, S. 589 f. // Pinborg J., Logik und Semantik in Mittel­ alter, S. 61–65. 778 S.Th.I, q.31, a.2ad4. 779 S.Th.I, q.39, a.1. / De Verit., q.2, a.11.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

3.3.2 Personale Supposition und supponierende Namen Gottes Das Problem des Suppositums Gottes ist eines der schwierigsten Probleme, das oft als das eigentliche (theologische) Problem der personalen Supposition angesehen wird. Es stellt sich die Frage, ob Analogie hier herangezogen werden kann, um die Bedingung zu erfüllen, die Namen Gottes in der personalen Supposition zu verwen­ den. Zur Darstellung dieses Problems ist zunächst auf entsprechende metaphysische und semantische Voraussetzungen der personalen Supposition hinzuweisen, bei welchen eine Abgrenzung zwischen dreierlei Namen notwendig ist, – denjenigen, die ein greifbares Einzelding (in concreto) bezeichnen,780 denjenigen, mit denen etwas Allgemeines (in abstracto) bezeichnet wird, und denjenigen (nomina substantiva), die für die Einfachheit, Wirkungen und Personalität Gottes stehen.781 Wir haben in dieser Studie verschiedene Wege kennengelernt, in denen Thomas gegen falsche Anwendungen von sprachlichen Ausdrücken auf Gott argumentiert. Einer dieser Wege führt über die Suppositions- und Kausalrelation: Wenn die Wirkungsformen (x) als Zeichen der Ursache (y) aufgefasst werden, können diese Zeichen für die Erkenntnis der Ursache (y) dienen. Der Terminus, der für Gott supponiert, impliziert auf diese Weise erworbenes Wissen. Ist dieses erworbene Wissen wahr? Wenn ja, kann eine derartige epistemische Vorgehensweise und das durch das Aussagesubjekt und -prädikat vertretene Wissen als wahr erwiesen werden? Das bedeutet, dass hier ein uns bereits begegnetes erkenntnistheoretisches und sprachlogisches Prinzip im Auge zu behalten ist: Wenn etwas erkannt wird, kann es auch benannt werden.782 Da unser Verstand nur über die Erkenntnis der Kreatur zur Erkenntnis Gottes kommen kann, wird Gott auf die Weise der Analogie benannt.783 Die Frage aber ist: Entweder werden die Namen über Gott ausgesagt, die für ein greifbares Einzelding und seine Eigenschaften (und entsprechende nomina adjectiva) geeignet sind, diese Namen jedoch reichen nicht an die Seinsweise Gottes heran, oder aber wir begnügen uns mit dem Schlusssatz, dass dieses Problem nicht gelöst werden kann und die 780 781 782 783

S.Th.I, q.13, a.4. S.Th.I, q.13, a.1ad3. S.Th.I, q.13, a.6. S.Th.I, q.13, a.1.

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

Wesenheit Gottes unbekannt bzw. unerkannt bleibt, da Gott einfach (simplex) und etwas für sich Bestehendes (subsistens) ist. Diese Frage wird von Thomas weiter erläutert, und zwar durch die Unterscheidung zwischen Signifikation und Supposition. Diese wird wie folgt umformuliert: Für welche Entität supponieren die Namen »Gott«, »Vater«, »Wort«, die eine Entität signifizieren, auch wenn diese Entität namenslos, d.h. »über alle Namen« bestehendes Sein ist.784 Dass die semantische Analyse im Fall der Unerkennbar­ keit, Namenslosigkeit und Unaussprechlichkeit der Seinsweise Gottes – trotz angezeigter Schwierigkeiten – mit den Mitteln der Supposition und Signifikation unternommen wird, ist ein gutes Beispiel für die Anwendung der Suppositionstheorie. Thomas diskutiert mit seinen Opponenten, die der Meinung sind, dass der Name »Gott« seiner Natur nach stets für die Wesenheit steht (supponunt pro essentia), und, wenn dem Namen eine Bedeutungserweiterung zukommt, dieser Name auch für die »Person« stehen könne.785 Thomas lehnt eine solche Behauptung also ab. Es ist nach Thomas nicht allein auf die Seinsbedingungen des kontingenten Suppositums und nicht allein auf die Wesenheit des Göttlichen zu achten, sondern auch darauf, dass diese verschiedenartigen Wesenheiten nur durch bestimmte Ausdrucksweisen bzw. den modus significandi zur Sprache gebracht werden können: Wenn man (a) res significata bzw. Seinsbedingungen in den Vordergrund rückt, bezeichnet (significat) der Name »Gott« die göttliche Wesenheit in seinem Träger so, wie auch der Name »Mensch« die Menschennatur im Träger bezeichnet; wenn man (b) die formalen Bestimmungen (modi significandi) beachtet, kann sowohl der Name »Gott« als auch der Name »Mensch« auch für die Person supponieren. Aber (im Fall b) supponieren der Name »Mensch« und der Name »Gott« für die Person auf unterschiedliche Weise.786 Da die mit dem Namen »Mensch« bezeichnete Form (Menschennatur) von Natur aus auf verschiedene Naturträger verteilt ist (diversis suppositis), steht der Name – an und für sich also ohne weitere Additionen – für die Person (per se supponit pro persona) bzw. für

S.Th.I, q.13, a.1ad1: »[…] ea ratione dicitur Deus non habere nomen, vel esse supra nominationem, quia essentia ejus est supra id, quod de Deo intelligimus et voce significamus.« 785 S.Th.I, q.39, a.4. 786 S.Th.I, q.39, a.4ad3. 784

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

eine jede Einzelsubstanz der vernunftbegabten Natur.787 Handelt es sich um die Einheit der Menschennatur, besteht diese Einheit nicht der Sache nach, sondern nur der Auffassung nach (non secundum rem, secundum considerationem). Deshalb, behauptet Thomas, stehe der Ausdruck »Mensch« nicht für die allgemeine Natur (non supponit pro natura communi). Eine Ausnahme bilden Aussagen wie »Der Mensch ist Spezies«, in welchen es um eine besondere Addition und entsprechende suppositio simplex geht.788 Anders liegen die Dinge bei der mit dem Namen »Gott« signifizierten Form bzw. der Wesenheit Gottes. Der Name »Gott« supponiert, wie bereits angedeutet wurde, nicht immer für die Wesenheit, die er bezeichnet (significat): es ist nach Thomas widerspruchfrei, dass der Name »Gott« (der mit den Eigennamen übereinstimmt) nur eine Form bezeichnet, und die unter dem Namen »Gott« (der mit allgemeinen Ausdrücken übereinstimmt) bezeichnete Form für die gemeinsame Natur steht. Kein Widerspruch also besteht darin, dass der Name »Gott« die Form (die göttliche Wesenheit) bezeichnet, die von Natur her gleichzeitig eine getrennte und eine gemeinsame Natur ist (communis secundum rem) und für die gemeinsame Natur supponiert. Nur aufgrund einer Addition (wenn eine Tätigkeit wie Zeugung addiert wird) kann die Bedeutung des Namens auf die Person des Vaters erweitert werden.789 Einer der Diskussionspunkte betrifft auch den Namen »Wesen­ heit«, indem gefragt wird, ob die göttliche Einfachheit und seine Wesenheit dasselbe seien.790 Die Missverständnisse, die bei der semantischen Analyse auftreten, liegen nach Thomas in der Gleich­ setzung semantischer und ontologischer Aspekte, nämlich in der unklaren Unterscheidung zwischen den Seinsbedingungen und der Bezeichnungsweise oder der Signifikation und der Supposition. S.Th.I, q.39, a.4; a.5. In diesem Zusammenhang differenziert Thomas den Begriff der personalen Supposition in die besondere und die allgemeine Supposition (in suppositionem discretam et communem). Die besondere Supposition besagt, dass die Zeichen (Eigennamen oder Kennzeichnungen) in Aussagen wie »Sokrates ist ein Mensch« ein Einzelding bezeichnen und für dieses Einzelding supponieren. In der Aussage, »Der Mensch ist ein Lebewesen«, wo der Gattungsname supponiert, der viele bezeichnet und für diese supponiert, geht es um eine allgemeine Supposition. S.Th.I, q.34, a.3. Der Begriff der Person besagt, dass unter »Person« die Einzelsubstanz vernunftbegabter Natur bezeichnet wird. Mithilfe des Eigennamens, der eine Person bezeichnet, wird diese Person von allen anderen unterschieden. 788 S.Th.I, q.39, a.4ad3. 789 S.Th.I, q.39, a.4ad1, ad3. 790 S.Th.I, q.39; a.5. 787

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3.3 Nomen – ratio/conceptus – res

Diese Diskussion hat Thomas dahin geführt, den Begriff signifi­ catio, dessen Ansatz in der terministischen Logik liegt, im ontologi­ schen und logisch-semantischen Sinne anzuwenden, um zu klären, was der Name »Wesenheit« bedeutet: Gott und seine Wesenheit sind der Wirklichkeit nach (secundum rem) dasselbe; man kann aber der Bezeichnungsweise (ex modo significandi) entnehmen, dass der Name »Gott«, der die Wesenheit Gottes aufgrund seiner Bedeutung naturaliter bezeichnet, auch für die Person supponiert.791 Dagegen kommt es dem Namen »Wesenheit« seiner Bezeichnungsweise nach (ex modo suae significationis) nicht zu, für die Person,-en zu suppo­ nieren. Bei dieser theologischen Frage, die Thomas als Frage der personalen Supposition deutet, setzt er die Differenz zwischen propria der göttlichen Personen, die (propria) nicht auf die Wesenheit über­ tragbar sind, ein. Mithin will er ausdrücklich die Distinktion behalten: Die Distinktion, die auf oben erklärte Weise zwischen Supposita (in suppositis) entsteht, besteht keineswegs in göttlicher Wesenheit oder in der Gottheit (deitas) selbst. Wenn man Supposition und Signifikation im Satz zu erfassen sucht, ist es möglich, mit Thomas die oben angeführten Bestimmun­ gen weiterzuklären. In der Aussage, »Gott schafft (creat)«, steht der Name Gott für die Wesenheit (supponit pro essentia); in der Aussage, »Gott zeugt (generat)« steht der Name Gott für die Person (supponit pro persona) und sagt aus, welche Tätigkeit der Person addiert wird.792 Setzt man die semantische Analyse der Ausdrücke: »Deus generat« und »Deus non generat« fort, kommt man zum Verständnis, wie die Bedeutung (diejenige der Namen, die Tätigkeiten bezeichnen) bei jeder Addition festgelegt wird. In der Aussage, »Deus generat«, steht der Name »Gott« für die Relation, die (auch) mit dem Namen »Vater« als dem eigentlichen Namen der göttlichen Person bezeichnet wird.793 Für derartige Namen wie »Zeugung« oder »Vaterschaft« ist Univozität, nicht Analogie von Belang: Analogie spielt hier deshalb keine Rolle, da solche Namen früher von Gott als von der Kreatur aus­ gesagt werden. Die Aussage »Wesenheit ist zeugend« wäre dagegen falsch, da weder der Name »Wesenheit« für Vater univok supponieren S.Th.I, q.39, a.5: »Nam hoc Nomen »Deus« quia significat divinam essentiam ut in habende, ex modo suae significationis naturaliter habet, quod possit supponere pro persona […].« 792 S.Th.I, q.39, a.5. 793 S.Th.I, q.33, a.2ad2. 791

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

kann, noch Eigenschaftswörter (nomina adjectiva) für den Ausdruck der Wesenheit geeignet sind.794 In der zweiten Aussage, »Deus non generat«, wird semantisch nichts addiert. Versucht man eine hinzu­ gefügte Bedeutung der Person des Sohnes zu deuten, lässt sich nach Thomas mit Johannes von Damaskus (in Fid. Orth., cap.8) sagen: »Der gezeugte Gott zeugt nicht.«795 Ich fasse zusammen. Der Relationstypus der dreistelligen Semantik und die Frage nach Intentionen, Signifikations- und Suppo­ sitionsrelation und -arten, sind die Fragen, die ich als programmati­ sche These von Thomas, dass nämlich res mit sprachlichen Zeichen so benannt werden, wie sie vom menschlichen Verstand erkannt sind, behandelt habe. Diese Analyse hat deutlich gemacht, dass Thomas’ These weder eine reine Logik noch eine reine Ontologisie­ rung anstrebt. Wörter sind – dieser These gemäß – die sprachlichen Zeichen für dasjenige, was das Resultat der Verstandestätigkeit ist, nämlich die Begriffe. Anders gesagt, res singulares werden nur soweit und erst dann verstanden, wenn etwas vom Verstand erkannt und mit dem Begriff konzeptualisiert wird. Das größte Problem, das hier entsteht, liegt gerade in den Bedeutungen der Wörter. Die Wör­ ter bezeichnen die erkannten, ontologisch unterschiedlichen Gegen­ stände, sie können aber univok, äquivok oder analog sein. Es stellt sich die Frage, was die semantische Grundlage der verschiedenartigen Verwendungen eines sprachlichen Zeichens (Wortes, Begriffs) ist. Mehrere Einzelaspekte von dieser Frage wurden bereits behandelt, viele Aspekte sind aber immer noch offengelassen.

3.4 Wort und Bedeutung In der dreistelligen Semantik, die einen indirekten Zugang des Wortes zum extramentalen Gegenstand behauptet, kann die Frage nach der Bedeutung auf folgende Weise gestellt werden: Ist die Bedeutung (eines Wortes) das Bezeichnete, also der Begriff? Falls das Wort nicht den Begriff bedeutet, den er bezeichnet, bedeutet das Wort den S.Th.I, q.39, a.5ad5. S.Th.I, q.33, a.4ad3. Treffend sind hier die semantischen Ausführungen von Johannes von Damaskus. Nach Damaskus bezeichnet das Wort »ungezeugt« dasselbe wie »ungeschaffen«. Dadurch unterscheidet er, so Thomas, die geschaffene von der ungeschaffenen Substanz. S.Th.I, q.39, a.4ad3. 794 795

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3.4 Wort und Bedeutung

extramentalen Gegenstand (wie Siger von Brabant meint)?796 Oder ist die Bedeutung der Gebrauch des Wortes?797 Ist die Bedeutung eines Wortes das, was konventionell festgelegt wird? Was heißt »Bedeutung« bei Thomas? Da bei Thomas der modistische Schlüsselbegriff der modus significandi vorherrschend zu sein scheint, wird dieser bei der Beant­ wortung der Frage nach der Semantik des Wortes »Bedeutung« bzw. nach der Bedeutung von »Bedeutung« eingesetzt. Für die Behandlung des logisch-semantischen Bedeutungsbegriffs bei Thomas ist seine These maßgebend: Das Wort kann auf dreierlei Weise bezeichnen, nämlich im Sinne völliger Bedeutungsgleichheit (univoce), wenn der Name in voller Eindeutigkeit von den Gegenständen ausgesagt wird; im Sinne bloßer Wortgleichheit (aequivoce), wenn mit dem gleichen Wort bezeichnete Gegenstände keine Ähnlichkeit haben; in einer Verhältnisgleichheit (analogice), wenn ein in einem Sinne bezeichne­ tes Wort zur Bestimmung des in einem anderen Sinne bezeichneten Wortes verwendet werden kann.798 Diese drei Bezeichnungs- bzw. Bedeutungsweisen behandelt Thomas differenziert und systematisch in Bezug auf die Struktur der wichtigsten Grundtypen der analo­ gen Ausdrücke und tut es immer im Vergleich mit univoken und äquivoken Ausdrücken. Mit Interesse an diesen Bedeutungsweisen geht Thomas zur Frage nach der Bedeutung von »Bedeutung« über: Siger de Brabant, Questiones in Metaphysicam, lib.IV, q.16, 10–30; q.17, 11–32, S. 219–221. Auf die Position von Siger von Brabant verweist etwa Pinborg J., Die Ent­ wicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, S. 107. 797 Wird das »significare« eines Wortes als Bedeutung und Bezeichnung verstanden, kann mit Schulthess die Bedeutung als Gebrauch von Zeichen festlegt werden. Wil­ helm von Ockham, OPhI, Summa Logicae, cap.33, 21–35; S. 95–96. // Vgl. Schult­ hess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 32. Der Ver­ such, die Bedeutung eines Wortes als seinen Gebrauch zu bestimmen, kommt in der gegenwärtigen sprachphilosophischen Debatte zum Ausdruck. Wittgenstein steht dank seiner Auffassung von Bedeutung als Gebrauch – meiner Meinung nach – den thomanischen semantischen Deutungen dieser Frage nahe. Wittgensteins Verständnis dessen, was mit dem »Wort« bezeichnet wird, was der »Gebrauch« dieses Wortes ist, und was es »bedeutet«, ist folgender Stelle zu entnehmen: »Man sagt: Es kommt nicht aufs Wort an, sondern auf seine Bedeutung […]. Hier das Wort, hier die Bedeutung. Das Geld und die Kuh, die man dafür kaufen kann.« (§ 120). Vgl. Wittgenstein L., Philosophische Untersuchungen, § 7, § 8, § 9, § 34, sowie § 38–40, § 120. // Searle J. R., Sprechakte – ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, S. 116 ff. (Orig.: Speech-Acts. An Essay in the Philosohy of Languange. Cam­ bridge: Cambridge Univ. Press, 1969.). 798 S.Th.I, q.13, a.10. 796

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Warum und in welchen sprachlichen Kontexten geht die Bedeutung des Wortes über reine Identität (Univozität) hinaus? Was ist der Sinn von der primären und sekundären Bedeutung? Was besagt die Grund­ bedeutung und Mitbedeutung (consignificatio) und was modus signi­ ficandi in diesem Zusammenhang.799 Wenn ein Wort die Bedeutung durch die Namensgebung bekommt, hat das Wort eine (un)verän­ derliche Bedeutung? Dazu gehört die Frage, ob die Bedeutung eines Wortes von dem (hier oder jetzt) nichtexistierenden Suppositum (un)abhängig ist? Ich wende mich zunächst der semantischen Frage zu: Was ist die Bedeutung von »Bedeutung«?

3.4.1 Probleme der Bedeutung: Bedeutung des Wortes Jede Bedeutungstheorie, die nach der eigentlichen Wort- und Satz­ bedeutung fragt, beschäftigt sich erst mit Hauptfrage: Was ist die Bedeutung von »Bedeutung«? Diese Frage begegnet uns bei Thomas’ Untersuchungen sowohl dann, wenn es sich um Bedeutungen einzel­ ner Wörter oder um Bedeutungen von Sätzen handelt, als auch dann, wenn gefragt wird, wie die Sätze von den Bedeutungen ihrer Teile abhängen. Wir finden ausführliche scholastische Diskussionen über die Wort- und Satzbedeutung. Dass ein sprachliches Zeichen immer in den Kontext eines Satzes eingebunden ist und im Satz supponiert, gehört zum Hauptinteresse etwa des Ockhams.800 Thomas geht davon aus, dass die Bedeutung einer Aussage davon abhängt, was die Bedeutung eines Wortes ist.801 799 Neben dem Begriff »significatio« wird der Begriff »consignificatio«, »consignifi­ care« als »mit-Bedeutung«, »mitbedeuten« oder »mit-Bezeichnung«, »mitbezeich­ nen« verwendet. Es geht bei »consignificatio« um die Signifikation, die zu einem anderen hinzugefügt wird, sodass anderes bestimmt wird, etwas zu bezeichnen. Die Bestimmung und Abgrenzung der semantischen Begriffe wie »mit-Bedeutung« oder »mit-Bezeichnung« ist kompliziert und bleibt vom Kontext abhängig. 800 Wilhelm von Ockham, OPhI, Summa logicae, I, cap.63, 16–20; S. 194: »Et sic universaliter terminus supponit pro illo de quo – vel de pronomine demonstrante ipsum – per propositionem denotatur praedicatum praedicari, si terminus supponens sit subiectum; si autem terminus supponens sit praedicatum, denotatur quod subiec­ tum subicitur respectu illius, vel respectu pronominis demonstrantis ipsum, si pro­ positio formetur.« Siehe zu dieser Frage Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 20 ff. 801 S.Th.I, q.13, a.10ad1: »[…] nominum multiplicitas non attenditur secundum nominis praedicationem, sed secundum significationem […].«

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3.4 Wort und Bedeutung

An scholastischen Diskussionen um significatio und consignifica­ tio zeigt sich, dass Scholastiker aus der Arbeit mit unterschiedlichen Definitionen der Bedeutung zu Modifikationen der Bedeutungen selbst gelangen.802 Ein anderes Zeugnis von dieser logisch-seman­ tischen Arbeit mit dem Bedeutungsbegriff, die gewissermaßen die ganze mittelalterliche Semantik und Sprachlogik durchzieht, sind die oben erörterten Diskussionen um die zwei- und dreistelligen nomen-conceptus-res-Relationen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bedeutung des Wortes aus der Zeichenfunktion nicht eindeutig bestimmt werden kann, da das Zeichen mit dem Bezeichneten (Begriff oder Gegenstand) nicht identisch bleibt. Keine Identität kann zwi­ schen dem vorliegen, was wir mit dem Wort meinen und der eigent­ lichen Bedeutung des Wortes; zwischen dem, was ein Wort bezeichnet und mitbezeichnet und dem, wofür es supponiert. Kann überhaupt eine eigentliche Bedeutung (uno modo) des Wortes bestimmt werden, wenn, so kann mit Thomas gefragt werden, einerseits immer auch eine andere Bedeutung des Wortes vorliegt (alia et alia est significatio nominis),803 andererseits aber eine dieser Bedeutungen immer in den übrigen Bedeutungen enthalten ist?804 Manthey meint diesbezüglich, dass es sich vielmehr um das Wort handelt, das nur Weg und Vorbe­ reitung dafür ist, die Bedeutung geistig auffassen zu können.805 Thomas identifiziert das Problem, indem er die Unterscheidung zwischen der Grundbedeutung und den Mitbedeutungen (consigni­ ficatio) eines Wortes vorschlägt.806 Eine solche Unterscheidung zu treffen, bedeutet nicht nur zu beantworten, unter welchen Voraus­ setzungen man über die ursprüngliche Bedeutung eines Namens 802 Die scholastischen Diskussionen können mit heutigen Bedeutungs-Debatten ver­ glichen werden. Siehe dazu Wittgenstein L., Tractatus Logico-Philosophicus, 3.203. / Philosophische Untersuchungen, § 30. // Frege G., Sinn und Bedeutung (1892). In: Patzig G. (Hrsg.), Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, S. 38–63. // Tugendhat E., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 199. // Leinfellner E., Lein­ fellner W., Ontologie, Systemtheorie und Semantik. 803 S.Th.I, q.13, a.10. 804 S.Th.I, q.13, a.10ad1. Eine ähnliche Frage stellt heute Hilary Putnam, der das Bedeutungsproblem darin sieht, »dass ein Wort in mehr als einem Sinn verwendet werden kann […]«, ein jeder neue Sinn also als ein neues Wort aufgefasst werden kann. Vgl. Putnam H., Die Bedeutung von »Bedeutung«. Hrsg. und übers. von W. Spohn. Frankfurt am Main: Klostermann, 1979, S. 24 (Zitat). 805 Vgl. Manthey F., Die Sprachphilosophie des hl. Thomas von Aquin, S. 78. 806 S.Th.I, q.13, a.11; q.31, a.2. / In Perih.I, lect.5, n.56–73.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

reden kann, sondern vor allem, sich zu erkunden, woher der Name stammt. Thomas Bemühungen um etymologische Fragen werden mit dem Ziel ausgeführt, den Ausgangspunkt für die Analyse des Bedeu­ tungsproblems zu schaffen. Er beschreibt die Verbindung zwischen Bedeutung und Etymologie des Wortes (etymologia nominis) auf die Weise, in welcher die Bedeutung, die durch einen Benennungspro­ zess festgelegt wird, auf das Wesen der Gegenstände (substantiam rei), die Eigentümlichkeiten der Gegenstände (ex proprietabus) und/ oder Wirkungen (ex operationibus) dieser Gegenstände zurückgeführt wird. Folgendes Schema des Benennungsprozesses kann rekonstru­ iert werden:807 (A1) Auch wenn die Bedeutung des Wortes »Stein« etymologisch von etwas anderem, etwa von einer seiner Wirkungen – wie »lapis« von »laedere pedem« (den Fuß verletzen) – stammt, wird mit diesem Wort das Wesen des Steines benannt. Daraus folgt aber nicht, dass das Wort »Stein« diese Wirkung als solche bezeichnet. (A2) Wenn die Wörter »weiß« oder »Hitze« im Gegensatz zu dem ersten Fall nicht nach etwas anderem benannt werden (non ab aliis denominantur), folgt daraus, dass die Bedeutung der Wörter wie »weiß« oder »Hitze« mit dem identisch sind, was sie bezeichnen (significant), und was man mit diesem Namen ausdrücken will. (A3) (a) Das, was nicht aus seinem Wesen, sondern aus seinen Wirkungen und Tätigkeiten erkannt und benannt werden kann, wird auch mit dem Namen wie »Gott« (als nomen operationis) bezeichnet. Da wir Gott erst durch seine Wirkungen, nicht aber die Natur Gottes, wie sie an sich ist (quid est), erkennen können, erwerben wir das Wissen von seiner Erhabenheit, Ursächlichkeit und Negation (per modum eminentiae, causali­ tatis et negationis) lediglich auf unvollkommene Weise.808 Es werden aber in jeder Interpretation, wenn die Bedeutung des Namens »Gott« als göttliche Natur verstanden wird, auch die Illusionen bewusst aufrechterhalten, dass die göttliche Natur auf vollkommene Weise erkannt und ausgedrückt werden kann. (b) Will man trotzdem mit dem Namen »Gott« jenes Wesen 807 808

S.Th.I, q.13, a.8; q.13, a.11ad1. S.Th.I, q.13, a.8ad2.

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3.4 Wort und Bedeutung

bezeichnen, sodass seine Vollkommenheit, d.h. die Vorsehung (providentia), zum Ausdruck kommt, wird auf konventionelle Weise angenommen, dass der Name »Gott« der Vollkommen­ heitsname ist, der die göttliche Natur bezeichnen lässt (imposi­ tum est ad significandum divinam naturam). Für diesen Zweck wird nomen operationis als Bezeichnungsmittel, den sprachlogi­ schen Regeln gemäß, verwendet. Wir sehen, dass die etymologische Bestimmung der Bedeutung des Wortes eigentlich von einem breiten Spektrum ontologischer, epistemologischer und sprachlogischer bzw. nomologischer Annah­ men ausgeht und die (Bedeutungs-)Begrenzungen impliziert. Unter­ schiedliche Prinzipien regeln, was das Wort bezeichnet bzw. woher es sich etymologisch herleiten lässt. Es ist bewusst zu machen, welche Bedeutung eines (mehrdeutigen) Wortes man im konkreten sprachlichen Kontext ausdrücken will. Thomas nennt formale zu differenzierende Kriterien bei den dargestellten Bestimmungen (A1, A2, A3a, A3b):809 (1) woher ein Name genommen bzw. hergeleitet wird (quantum ad id a quo imponitur nomen ad significandum); (2) was man mit dem Namen ausdrücken will (id ad quod signifi­ candum nomen imponitur) oder wie der Name gebraucht wird (impositum est); (3) was ein Name bezeichnet (quod significat nomen). Diese drei Kriterien bilden einen systematischen Zusammenhang mit etymologischen Bestimmungen der Bedeutungen und sehen nun so aus: Im Fall von (A2) fallen die Bedeutung des Namens und das, was jemand zu bezeichnen beabsichtigt, zusammen; es geht um die eigentliche bzw. univoke Bedeutung des Namens. Am problematischen Fall (A1) zeigt sich, dass Thomas die ety­ mologia nominis für hilfreich, jedoch nicht für das wichtigste und einzige Mittel bei der Bestimmung der Wortbedeutung hält. Diese Art der Etymologie ist in Bezug auf die Bedeutung des Wortes mit grundsätzlichen Mängeln behaftet. Das Problematische liegt darin, dass Benennungen in der Regel den Wirkungen entnommen werden, der Name dagegen soll das Wesen bezeichnen. Man sieht dies an der 809

S.Th.I, q.13, a.8; q.33, a.1.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Deutung des Namens »Stein« noch deutlicher: Was der Name »Stein« bedeutet, können wir nur dann wissen, wenn wir den Gegenstand erkannt haben. Wenn das Wesen des Steines an sich von seinen Eigentümlichkeiten und Wirkungen her erkannt ist, wird damit mit dem Namen »Stein« der Wesensgehalt bezeichnet, den man Begriff nennt.810 Nur von dem entsprechenden Begriffswort »Stein« können wir die eigentliche Bedeutung des Steins erfahren. Die Erkenntnis des Wesens eines Gegenstandes und die Konventionalität sind zwei Quellen der wahren Wortbedeutung. Der in (A1) dargestellte Prozess der Bestimmung der Bedeutung weist auf den formierenden Anteil des Intellekts sowohl auf der onto­ logische Ebene der res und der Ebene des Begriffs (conceptus) als auch auf der Ebene der Signifikation hin. In (A1) stellt sich die semantische Frage nach den Akzidenzien und der Relation. Das Problem, das in dem Akzidenscharakter einer extrinsischen Relation (Relation als Akzidens) liegt,811 wird von Thomas semantisch so ausgelegt, dass neben der primären Bedeutung eines Ausdrucks Mitbedeutungen, Bezeichnung (significatio) und Mitbezeichnung (consignificatio) ein­ geführt werden. Wie man von der Bedeutung des einen mit dem Wort bezeichneten Gegenstandes auf die Bedeutung des anderen bezeich­ neten Gegenstandes oder der mitbezeichneten Eigenschaften kom­ men kann, zeigt nach Thomas (als eines Anhängers der modistischen Logik) am deutlichsten der modus-Begriff und die Unterscheidung zwischen univoken, äquivoken und analogen Begriffen. Dazu sage ich unten und in weiteren Abschnitten noch mehr. Ebenso stellt sich im Fall (A3) die Frage nach Verhältnissen zwi­ schen significatio und consignificatio sowie den primären und sekun­ dären Bedeutungen.812 Was genau das eingeführte terminologische und methodische Instrumentarium in Anwendungen für diese Frage zu leisten vermag, werde ich anhand eines Beispiels verdeutlichen. Thomas erkennt das Problem, das zwischen primären und sekundären Bedeutungen bei der semantisch verstandenen theologischen Frage liegt, wenn er den Namen »Der Seiende« mit dem Namen »Gott« S.Th.I, q.13, a.8ad2: »Ratio enim quam significat nomen, est definitio [...].« S.Th.I, q.28, a.2. 812 Zu Begriffen und Problematik der Signifikation und Konsignifikation, zur Festle­ gung dieser Begriffe und Analyse dieser Problematik seitens mittelalterlicher Logiker, die sich auf die Untersuchungen der logischen Form konzentrieren, und Grammatiker, für die die linguistischen Regeln des Satzes im Vordergrund stehen, siehe Pinborg J., Die Logik der Modistae, V, S. 47 ff. / Logik und Semantik im Mittelalter, S. 102–126. 810

811

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vergleicht. Thomas orientiert seine Analyse erstens am Kriterium, wo der Name hergenommen wird (quantum ad id a quo imponitur nomen ad significandum). Wenn man davon ausgeht, so Thomas, dass dieser Name »Der Seiende« nicht irgendeine Form bezeichnet, nach der ein jedes Ding seinen Namen erhält, sondern das Sein selbst ist, erweist sich nun dieser Name für die Bezeichnung des alle Namen Übersteigenden mehr geeignet als der Name »Gott«. Dies ist sowohl wegen seiner primären Bedeutung (Unzeitlichkeit Gottes) als auch wegen der Mitbezeichnung möglich, sofern der Name »Der Seiende« das Sein in der Zeit, nämlich immer in der Gegenwart (esse in praesenti), signifiziert. Bereits Augustinus betonte, dass das Sein Gottes weder Vergangenheit noch Zukunft kennt.813 Wie Johannes von Damaskus bringt auch Thomas den Gedanken zum Ausdruck, dass der Name »Der Seiende« auch wegen seiner Allgemeinheit (propter ejus universalitatem) der eigentliche Name Gottes ist, da dieser Name vom Sein genommen wird und alles in sich begreift.814 Außerdem, wenn man den Namen Gottes anhand des Kriteriums – wozu der Name gebraucht wird oder, anders gesagt, was man mit einem Namen ausdrücken will (id ad quod significandum nomen imponitur) – prüft, ist der Name »Gott« der eigentliche Name, der die göttliche Natur zu bezeichnen vermag. Die Schwierigkeit wegen der (Un)Kenntnis des Bezeichneten, nämlich seiner Bedeutungen, besteht jedoch weiter. Auf die Schwie­ rigkeit geht Thomas an mehreren Stellen ein. Er nimmt neben der significatio, consignificatio und modus significandi die übrigen Begriffe wie univoca, aequivoca und analogia hinzu. Dass diese Begriffe eine schwer gewonnene klare Unterscheidung der Bedeutungen im Fall der anderen Namen Gottes leisten können, wird durch ihre Anwendung für die motivierte Wahl der Bezeichnungen Gottes demonstriert, S.Th.I, q.13, a.11ad1. Den Unterschied zwischen den Begriffen »significatio« und »consignificatio« stellt Thomas in diesem Kontext im Anschluss an Augustinus in: De Trin.V, cap.2. fest. Vgl. Augustinus, De Trin.VI, cap.16. 814 S.Th.I, q.13, a.11. Thomas geht bei der Erläuterung des Eigennamens »Der Seiende« als des eigentlichen Eigennamens Gottes von drei zusätzlichen Kriterien aus. Der Name »Der Seiende« ist der eigentliche Name Gottes (a) wegen seiner Bedeutung (propter significationem), (b) wegen seiner Allgemeinheit (propter ejus universalitatem), (c) dessentwegen, was der Name noch mitbezeichnet (ex ejus consig­ nificatione). Thomas zitiert den Gedanken von Damaskus in: Lib.1 De Fide orth., cap.9: »[…] principalius omnibus quae de Deo dicuntur nominibus est qui est: est totum enim in seipso comprehendens, velui quoddam pelagus substantiae infinitum et indeterminatum.« 813

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

infolgedessen die metaphysisch bedeutsame christlich-heidnischeDifferenz klar hervortritt. (a) Beispiel: Wenn ein Katholik unter »Gott« ein allmächti­ ges Wesen versteht und der Heide mit dem Namen »Gott« Göt­ zen bezeichnet und ebenso unter »Götzen« allmächtige Wesen ver­ steht,815 handelt es sich in beiden Fällen um eine univoke Bedeutung. In der Auffassung aber, dass alle vielfachen Gott beigelegten Namen keinerlei begriffliche Verschiedenheit beinhalten, d.h., dass sie syno­ nym bzw. univok ausgesagt werden und alle gleichermaßen Gott bedeuten sollen,816 liegt nach Thomas ein gravierendes Bedeutungs­ problem vor. Er akzeptiert demzufolge eine Heterogenität der Namen und fordert eine kritische Deutung der Namen wie »der Gute«, »der Weise« bei Dionysius, der (in Cael. Hierar., cap.2) behauptet, dass keine dieser Benennungen Gott im eigentlichen Sinne zukommt.817 Die (vermeintlichen) Synonyme, die Namen wie »der Gute«, »der Weise« u.a., werden vom Intellekt für die Bezeichnung des göttlichen Wesens verwendet. Eine solche significatio, die aus dem kognitiven Akt und aus der Kenntnis der Kreatur bzw. des Einzelnen folgt und die eigentliche significatio ist, besagt, dass alle Bezeichnungen, die beanspruchen, sprachliche Zeichen für das göttliche Wesen zu sein, unvollkommen sind. Thomas eigene Position in dieser Frage ergibt sich aus seiner epistemischen und semantischen Einstellung: Wenn Gott zwar das, von bestimmten Positionen her (des Katholiken und des Heiden), mithilfe bestimmter Namen durch verschiedene Begriffe Bezeichnete ist, sind diese Namen des Bezeichneten nicht als Synonyma bzw. univoke Namen zu legitimieren.818 Auch Namen wie »Fels« können laut Thomas nicht als Synonyme, sondern im bildlichen Sinn (metaphorice) auf Gott angewandt werden, und zwar auf die Weise, dass die unvollkommene Partizipation der Kreatur an der göttlichen Vollkommenheit in der Bedeutung des Namens mitent­ halten ist.819 Derartige Namen (Metaphern) wie »Fels« meinen die Seinsbedingungen des Körperlichen. Aber diese Seinsbedingungen des Körperlichen müssen nicht aufgrund dessen erklärt werden, was S.Th.I, q.13, a.10. S.Th.I, q.13, a.4: »Videtur quod ista nomina dicta de Deo, sunt nomina synonyma: synonyma enim nomina dicuntur, quae omnino idem significant.« 817 S.Th.I, q.13, a.3. 818 S.Th.I, q.13, a.4; a.4ad1. 819 S.Th.I, q.13, a.3ad1. 815

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3.4 Wort und Bedeutung

die Namen meinen, sondern dadurch, was in ihrer Ausdrucksweise (ad modum significandi) enthalten ist.820 Aus diesem Grund erfolgt die Absage sowohl an die Synonymie als auch an die Metaphorik als geeigneten Bezeichnungen bzw. Bedeutungen des Namens Gottes. Eine weitere Art der Synonymie, die hier noch infrage kommt, ist die folgende: Wenn verschiedene Begriffe einen und denselben Gegenstand bezeichnen, haben sie, wie schon gezeigt wurde, einen unterschiedlichen Sinn (rationes diverses). Gegen die Annahme eines Synonymie- bzw. Univokationsbegriffs spricht in diesem Fall die wei­ tere Argumentation von Thomas: Es sei ein Irrtum, dass jene Namen einen und denselben Gegenstand unter einem einzigen Aspekt (unum rationem) bezeichnen. So könnte z.B. Gott dem menschlichen Intellekt nicht nur unter einem einzigen Aspekt zugänglich sein, da Gott durch seine Wirkungen dem menschlichen Intellekt auf vielfache Weise erscheint. Die Namen können also sachlich dasselbe, begrifflich aber Verschiedenes bedeuten; es ist falsch, wenn sie als Synonyme verwendet werden. (b) Im Anschluss an das aristotelische Beispiel kann der Name »Gott« für den wahren und den vermeintlichen Gott auf äquivoke Weise verwendet werden.821 Auch wenn die epistemische Regel besagt, dass man nur das bezeichnen kann, was erkannt worden ist, nennt der Heide seine Götzen »Gott«, ohne die wahre Gottheit erkannt zu haben. Nicht der Heide, sondern nur der Katholik ist zur Erkenntnis des Daseins Gottes imstande. Die Äquivokation kann nach Thomas in solchen Fällen dienlich sein. Trotzdem bestreitet Thomas die Eignung der Univokation und der Äquivokation, die Bezeichnung und die wahre Bedeutung des Namens »Gott« treffen zu können. Auch wenn man das Bedeutungs-Problem nicht darin sieht, dass mit demselben Wort »Gott« der Katholik und der Heide, der »Götzen« meint, Gott zu bezeichnen beabsichtigen, sondern darin, dass beide unter »Gott« verschiedene Bedeutungen verstehen, führen auch dann S.Th.I, q.13, a.3ad3. S.Th.I, q.13, a.10ad4. / Peri herm.1, 16a7. Aristoteles verwendet den Ausdruck wie »Tier« aequivoce an einem wirklichen Tier und an einem gemalten Tier. Thomas illustriert seine Auffassung von Äquivokation, indem er sich auf die Anwendung der äquivoken Namen bei Aristoteles beruft: eine solche Anwendung, die unter einem und demselben Namen stattfindet, ist nun nach Thomas nicht als reine Äquivokation, sondern als Äquivokation in einem weiteren Sinne zu verstehen, nämlich so, dass bei Aristoteles im Begriff der Äquivokation auch Analogie enthalten ist: »[…] quod animal dictum de animali vero et de picto, non dicitur pure aequivoce; sed Philosophus largo modo accipit aequivoca, secundum quod includunt in se analoga.« 820 821

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

diese verschiedenen Bedeutungen vielmehr zur Äquivokation, die Thomas nicht als eine adäquate Lösung bestehen lassen will. (c) Deshalb diskutiert Thomas die dritte Möglichkeit der Anwen­ dung des Namens »Gott«, nämlich in Bezug auf die Analogie.822 Hier scheint es hilfreich zu sein, die logisch-semantischen Schwierigkeiten in Bezug auf das bekannte aristotelische Musterbeispiel zu erläutern. Thomas bindet die Anwendung des Namens »Gott« an diejenige des Ausdrucks »sanum«. »Sanum« referiert auf die Gesundheit im Lebewesen, wird aber auch für die Definition des Begriffs »gesund« im Fall der Medizin und im Fall des Urins gebraucht. Auf diese Weise kann auch die Anwendung desselben Namens bei den beiden – bei einem Katholiken und einem Heiden –, die jeweils eine andere Bedeutung meinen, vollständig begründet werden: Die Grundlage der Bedeutungsdifferenz kann nicht in der Äquivokation, sondern in der Analogie festgemacht werden, d.h. mithilfe der semantischen Begriffe ratio propria (Grundbedeutung) und ratio communis (abge­ leitete Mitbedeutung) kann dargestellt werden, dass und wie eine erweiterte bzw. erkannte Bedeutung (ratio communis) des Analogats per posterius (analog) auf das nicht vollständig bestimmbare Analogon (Gott) übertragen wird. In diesem Zusammenhang gewinnt Thomas’ These der Unver­ änderlichkeit der Bedeutung Plausibilität. Dies schließt nicht aus, dass ein Wort eine neue Bedeutung durch eine neue Sinngebung erhalten kann. Die Sinngebung, die Formation der Bedeutung eines Wortes, bezieht sich auf die epistemischen Beziehungen zwischen dem Verstehenden und dem verstandenen Wirklichen.823 Um noch kurz auf die gegenwärtige Philosophie einzugehen, kann auf die Fragestellungen von Thomas und Putnam aufmerksam gemacht werden, die sich mindestens in einer Hinsicht annähern: dort, wo Thomas die Unterscheidung zwischen primären und sekun­ dären Bedeutungen vornimmt, schlägt Putnam vor, neben einem Sinn von »Bedeutung«, der der Extension gleich ist, einen weiteren Sinn von »Bedeutung« hinzuzufügen, demzufolge die Bedeutung

S.Th.I, q.13, a.10. S.Th.I, q.37, a.1: »Sed ex parte intellectus sunt vocabula adinventa ad significan­ dum respectum intelligentis ad rem intellectam; ut patet in hoc quod dico »intelli­ gere«.« 822

823

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3.4 Wort und Bedeutung

die Intension ist.824 Mit Hinblick auf Putnams Auffassung, dass ein Ausdruck in bestimmten Verwendungssituationen einen neuen Sinn bekommt, und Thomas’ Auffassung, dass der mehrfache Sinn eines Wortes von seiner Grundbedeutung abhängt, was zu der Unterschei­ dung von primärer und sekundärer Bedeutung führt, lassen sich gewisse Gemeinsamkeiten zwischen scholastischen und gegenwär­ tigen Lösungsversuchen des Problems der Bedeutung von »Bedeu­ tung« herausstellen und weiter diskutieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mehrere Fragen immer noch ungeklärt bleiben. Ob Thomas den Sinn zur Bedeutung der Wör­ ter zählt oder die Begriffe – »Sinn« und »Bedeutung« – unterschieden werden, ist eine dieser Fragen.825 Eine andere – theologische – Frage stellt sich bezüglich der Synonymie bzw. Univozität, bei der es sich um sinnverwandte Namen handelt. Thomas geht bei dieser Frage nicht nur von sprachlogischen Kriterien aus, sondern fundiert diese in sei­ ner Ontologie und Epistemologie, denen gemäß die nicht-synonymen und nicht-metaphorischen Namen an id ad quod und modus signifi­ candi gebunden werden. Wenn absolute Namen die Vollkommenhei­ ten bezeichnen und geklärt ist, was diese Namen meinen, können sie als primäre Bedeutungen (als ratio propria) in der Rede von Gott Vgl. Putnam H., Die Bedeutung von »Bedeutung«, S. 23 ff. Putnams Unterschei­ dung zwischen dem Ausdruck und dem Sinn kann man als spezielle Form der Methode der Namensrelation (des Bezeichnens), die etwa von Frege, Russell, Quine und Carnap entwickelt wird, auffassen. Zur Frage siehe auch Carnap R., Bedeutung und Notwen­ digkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik. Wien; New York: Springer, 1972, S. 29–41, 59–65, 160 ff. // Zu dieser Frage im mittelalterlichen Kontext siehe Enders H. W., Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff, S. 178. // Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 53. 825 Die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung im fregeschen Sinne ist bei Thomas kaum sinnvoll, da für beide Begriffe in der Scholastik ein Begriff, »significatio«, gebraucht wird. Jedoch kann man zwischen Freges Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« und Thomas’ Verwendung des Begriffs »ratio«, was als »Begriff« oder »Sinn« übersetzt wird, und »significatio«, was als »Bedeutung« oder »Bezeich­ nung« wiedergegeben wird, merkwürdige Parallelen finden. Zutreffend scheint die Äußerung von Rocca. Er sagt bezüglich der Verwendung dieser Begriffe, dass diese »are roughly homologous with Frege’s differentiation of Sinn and Bedeutung, or with the distinction between sense and reference«. Die Frage, ob und in welchem Umfang sich die fregesche Unterscheidung von Sinn und Bedeutung bereits bei Thomas finden lässt, klingt anregend, aber ich lasse sie offen. Vgl. Rocca G. P., Analogy as judgment and faith in God’s incomprehensibility: a study in the theological epistemology of Thomas Aquinas. Washington: PhD diss., Catholic University of America, Washing­ ton, DC, 1989, S. 545, Anm. 14. 824

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

im eigentlichen Sinne (per prius der Seinsordnung nach) gebraucht werden. Werden diese Namen in Bezug auf den modus significandi erfasst, gelten sie von Gott nicht im eigentlichen, sondern im abge­ leiteten Sinne,826 da sie der Erkenntnis der Kreatur entnommen sind. Es muss in den nächsten Abschnitten darum gehen, die wichtigsten auf Aristoteles zurückgehenden Ansätze zur Genese der drei funk­ tionell unterschiedlichen Kandidaten – Univokation, Äquivokation und die Grundtypen der Analogie – zwecks eines besseren Verständ­ nisses des Problems der Grundbedeutung und Mitbedeutungen und der semantischen Analyse der Mehrdeutigkeit aufzuzeigen.

3.4.2 Von der Ousia zur Synonymie, Homonymie oder Analogie? Im Anschluss an Kapitel 2 und der dort erreichten Ergebnisse lässt sich sagen: Die Bestimmungen der Ousia bzw. des Was-Seins bei Aristote­ les bergen die strukturimmanente Möglichkeit in sich, Gegenseitiges und Unterschiedliches zu verbinden und Vielfältiges in Bezug auf das Erste und Eine hin zu benennen. Dass erstens in der Bestimmung eines Ersten bzw. Zugrundeliegenden durch das Eidos (spezifische Differenz) das bestimmte Einzelwesen (tode ti) bzw. Ousia ausge­ drückt wird, und dass zweitens die akzidentell unterschiedlichen Seienden der übrigen Kategorien ihrer Natur gemäß abgeleitete Bedeutungen haben, die sich auf eine primäre Bedeutung beziehen, lässt nach Aristoteles auf eine einheitliche Struktur schließen.827 Der Grund dieser Struktur liegt sowohl in ihrer ersten Bedeutung – im Was-Sein der Ousia, als auch in der Konsistenz zwischen der Essenz der Ousia (des Seienden schlechthin) und aller übrigen verschiedenen Seienden, die im Vergleich mit Ousia auf andere Weise seiend sind und auf andere Weise als seiend ausgesagt werden. Die Betonung einer derartigen Strukturimmanenz macht bei Aristoteles die fraglichen vielfältigen Ausdrücke für akzidentell verschiedene Sei­ ende wie »gesund«, »gut« oder »weiß«, die von Weißem, Gesundem oder Gutem (die das Was-Sein an-sich als Qualitäten haben) und ihrer Essenz abhängen, strukturierbar.828 Sie lässt nach Aristoteles S.Th.I, q.13, a.3; a.3ad3. Met.Z4, 1029b12–b30; 1030a19 ff. 828 Met.Z4, 1030a35 ff.; Met.Γ2, 1003 a33–b4. Dieses strukturbildende Prinzip, das Aristoteles für die Bestimmung der Einheits-Strukturen bevorzugt, ist für das Ver­

826 827

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3.4 Wort und Bedeutung

erklären, dass und wie die Qualitäten mit dem Was-Sein bzw. der Essenz der Ousia eine ontologische Einheit bilden und semantisch zum Ausdruck bringen. Das bedeutet, wie die aristotelischen Beispiele zeigen, dass ver­ schiedenartige Seiende oder etwa alle verschiedenartigen gesunden Entitäten nicht vereinzelt, sondern als einer Wissenschaft (hier der Metaphysik oder der Medizin) zugehörig behandelt und nach dem Ersten benannt werden.829 Nur mit der Neubildung einer bestimm­ ten Struktur oder des strukturbildenden Prinzips, das sich an die Annahme der Grundbedeutung anschließt,830 die erst von dem Einen und Ersten ausgesagt wird und sich unter verschiedenen Bedeutungen als vorrangig erweist, hat Aristoteles die auf traditionelle Weise disku­ tierte Mehrdeutigkeit, die in die »Krise«831 geraten war, zu einer phi­ losophiegeschichtlich entscheidenden Lösung gebracht. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Ousia (das schlechthin Seiende) von allen anderen Seienden (die nur in gewisser Weise seiend sind) nicht zu unterscheiden oder bloß auf der Ebene der Sprache zu unterschei­ den ist, treten nach Aristoteles beträchtliche Schwierigkeiten auf. Um diese zu vermeiden, führt Aristoteles für die Behandlung des Problems der Mehrdeutigkeit das Instrumentarium ein, das bei uns schon in Gang gesetzt worden ist, also Synonymie (Univokation), Homonymie (Äquivokation) und Analogie.832 Jeder der Begriffe setzt ständnis sowohl seiner Ontologie bzw. Metaphysik als auch seiner Logik, Syllogistik, Psychologie und Ethik bedeutend. Vgl. Frede M./Patzig G., Aristoteles »Metaphysik Z«, S. 71. // Owen G. E. L., Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle. In: Düring I., Owen G. E. L. (Eds.), Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century. Göteborg, 1960, S. 163–190. 829 Met.Γ2, 1003b16. 830 Owen G. E. L., Logik und Metaphysik in einigen Frühwerken des Aristoteles, S. 39–436. 831 Vgl. Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 6 ff. 832 Auf die Synonymie, Homonymie und Paronymie weist Austin bei der Behandlung der Frage der Mehrdeutigkeit der Wörter in Aristoteles Kategorienschrift hin. Das Gesundheits-Beispiel, in dem das Wort nach Austin paronymisch verstanden werden kann, erachtet er als besonders nützlich für die Interpretation des Begriffs agathon in der aristotelischen Ethik (Eudemische Ethik), denn die paronymischen Wörter wie »gesund« haben sowohl identische (der Grundbedeutung entsprechende) als auch differente Konnotationen. Analogie versteht Austin als zwei Typen von Paronymie. Folgt man seiner Meinung, verliert man jedoch den Sinn der Analogie in ihrem Zusammenhang mit der pros-hen-Struktur. Vgl. Austin J. L., Philosophical Papers, S. 1–32, insb. S. 26–28. // Qwen G. E. L., Logik und Metaphysik in einigen Früh­ werken des Aristoteles, S. 399–436.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

eine unterschiedliche Erkenntnis- und Seinsweise voraus und weist unterschiedliche semantische Bestimmungen innerhalb eines aktuel­ len Kontextes auf. Mit dem Mehrdeutigkeitsproblem treten ausdrücklich die Fragen nach der Einheit in der Vielfalt der geschaffenen Gegenstände, Einheit der Bedeutungen und Einheit des Wissens auf. Deshalb sollte diese sprachliche Abhängigkeit des Seienden, das »in mehrfacher Bedeu­ tung«, aber in Beziehung auf Eines (erste Kategorie) ausgesagt wird, nicht bloß auf der Ebene der Sprache bleiben.833 Aristoteles verzichtet sowohl auf Homonymie als auch auf Synonymie als entscheidendes Hauptinstrumentarium für die Lösung des Einheitsproblems. Denn die Homonymie verschiebt diese Lösung bloß auf die Ebene der Sprache.834 Wird etwa Weisheit von dem Ersten und den übrigen verschiedenen Seienden in homonymer Weise ausgesagt, ist der Zusammenhang als eine sprachliche Variante ohne ontologische Konsequenzen aufzufassen, da sich dieselbe Bezeichnung auf zwei oder mehrere Dinge in ganz unterschiedlicher Weise bezieht und ganz unterschiedliche Bedeutungen mitträgt.835 Synonymie erachtet Aristoteles für wenig hilfreich, da bei der Synonymie die begrifflichen Bestimmungen des Was-Seins bzw. des Wesens nur im Sinne völliger Bedeutungsgleichheit ausgesagt werden.836 Synonymie gilt für die Bestimmung der Allgemeinbegriffe, wenn z.B. alle mit demselben Wort synonym bezeichneten Gegenstände einer Art völlig eindeu­ tig verstanden werden.837 Wenn aber etwa die Namen »gesund«

Met.Γ2, 1003a33–b15: »Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt, aber immer in Beziehung auf Eines und auf eine einzige Wesenheit […]«, also »auf ein Prinzip«. Da Aristoteles für die Unterscheidung der Grundbedeutung von abgeleiteten Bedeutungen weder Homonymie noch Synonymie anwendet, musste er andere Möglichkeiten erwägen. Er brachte also Analogie bzw. pros-hen-Struktur ins Spiel. 834 Met.Γ2, 1003a33–35. 835 Met.Z4, 1030a32 ff.; Z9, 1034a22. Vgl. Frede M./Patzig G., Aristoteles »Meta­ physik Z«, S. 69 ff. // Owen G. E. L., Logik und Metaphysik, S. 411. 836 Met.Z4, 1030a32 ff. / Cat. 1, 1a6–15. 837 Met.Μ4, 1079a33–b3. Vgl. Owen G. E. L., Logik und Metaphysik, S. 430. // Nach Brentano sind synonyma in der aristotelischen Kategorienlehre die Dinge, die zu derselben Kategorie gehören und an einem Begriff und folglich an einem Namen partizipieren. Als Synonyma werden sie den spezifischen Differenzen gemäß unter­ schieden, z.B. die Tiere in zwei- und vierfüßige eingeteilt. Vgl. Brentano F., Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, S. 96 ff., S. 108. // Austin J. L., Philosophical Papers, S. 1–32. 833

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3.4 Wort und Bedeutung

oder »weise« je nach Verwendung, d.h. in Verbindung mit Seienden verschiedener akzidenteller Kategorien, verschiedene Bedeutungen haben, aber in Bezug auf das Eine nur eine Bedeutung besitzen, wird die Einheit zwischen verschiedenen Bedeutungen durch die Grundbedeutung (Gesundheit, Weisheit) bestimmt, da diese in allen anderen Bedeutungen vorkommt. Eine derartige Beziehung kann nicht als synonyme (univok) oder homonyme (äquivok) erkannt und benannt werden, weil sonst Prädikate, die etwa auf Menschen, Pferde und Lebensmittel angewendet werden, völlig eindeutig (uni­ vok) oder als bloße Wortgleichheit (äquivok) verstanden würden. Bei der Lösung der Frage der Vieldeutigkeit, bei der verschiedene Bedeu­ tungen zu einer Einheit verbunden werden, soll auf die Synonymie (Univokation) und die Homonymie (Äquivokation) zugunsten der Analogie verzichtet werden, welche nun, mit Owen, die »sicherste allgemeine Methode« bleibt und »die Logik eines Wortes« charakte­ risieren lässt.838 Auch von der Position des Thomas her kann eine derartige Ein­ heitlichkeit weder als univok noch als äquivok, sondern nur als analog begriffen werden. Die analoge Erkenntnis umfasst alle Bedeutungen, die eine gemeinsame Grundbedeutung besitzen und zum Erkennt­ nisgegenstand gemacht werden. Da Aristoteles die prote ousia auf mehrfache Weise (ontologisch, epistemisch und sprachlogisch bzw. definitorisch) als das Erste bestimmt, liefert er damit den Grund für das Argument, dass die Einheitsfrage als ontologische Abhängigkeit vom Ersten weder bloß auf der Ebene der Gegenstände noch bloß auf der Ebene der Sprache zu behandeln ist, sondern als Verbindung zwischen sprachlichen Zeichen und Gegenständen bzw. ›Sprache‹ und ›Wirklichkeit‹ festzulegen ist.839 Aristoteles hat diese Option, die die Einheit in der Mehrdeutig­ keit auf das Eine und im vorrangigen Sinne Erste (Ousia) bestimmt und die Analogie als den ersten Kandidaten für die Bestimmung dieser Beziehungen einsetzt, viel beschäftigt. Dies zeigt sich nicht nur an der Prüfung aller drei Beziehungsarten: Synonymie, Homony­ mie und Analogie. Die Aufhebung der Differenz zwischen Analogie 838 Vgl. Owen G. E. L., Logik und Metaphysik, S. 422 f., Anm. 81. Den Begriff »Sein« bei Aristoteles interpretiert Owen als »pros hen äquivok«, da das Sein auf verschiedene Weise ausgesagt werden kann und damit auf ein Eines referiert. 839 Vgl. Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 45. // Siehe auch Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 9 f.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

und anderen Kandidaten für die Lösung der Einheitsfrage ist auch mit der Differenzierung des Einen verbunden. Das Eine bezeichnet ver­ schiedene Arten von Einheit.840 Erstens, als Einheit wird etwas bezeichnet, das der Zahl nach Eines ist.841 Zweitens, als Einheit wird etwas bezeichnet, das der Zahl nach Eines ist, das Eines auch der Art nach ist (nicht aber umgekehrt). Das, was der Art nach Eines ist, fällt unter den Begriff. Drittens, als Einheit wird etwas bezeichnet, das der Gattung nach Eines ist, wenn mehrere Gegenstände einer Kategorie dieselbe Form haben. Dieses ist auch Eines der Analogie nach. Aber nicht alles, was der Analogie nach Eines ist, kann auch der Gattung nach Eines sein. Es handelt sich hier um die Einheit, die durch das gemeinsame begrifflich-logische Allgemeine erreicht werden kann – im Gegensatz zu der Ousia, die kein begrifflich-logisches Allgemeines ist.842 Viertens, spezifiziert Aristoteles als die Art der Einheit diejenige der Analogie nach. Diese beschränkt sich nicht auf eine der Katego­ rien, sondern bildet einen transkategorialen Zusammenhang. Es gibt aber eine weitere von Aristoteles vertretene Differenzierung hinsicht­ lich der Analogie. Es handelt sich um drei mögliche Varianten der Einheits-Struktur.

3.4.3 Paronymie, pros-hen-Relation und Analogie Für die Differenzierung der Einheits-Strukturen verwendet Aristote­ les drei Bezeichnungen: pros-hen-Relation, Paronymie und Analogie. Wie sind diese drei Arten der Einheits-Struktur aufzufassen? Woher stammen diese Alternativen? Oder sind alle drei möglicherweise sogar miteinander identisch? Es gibt unterschiedliche sowohl mit­ telalterliche als auch gegenwärtige Lesarten der Stellen, an denen Aristoteles diese Frage im Zusammenhang mit der Mehrdeutigkeit und Vielfältigkeit der Seienden im Rekurs auf ihre Grundbedeutung behandelt.843 Beim Aufbau der Einheits-Struktur, wo die Ousia eine entscheidende Rolle spielt, dominiert jeweils der ontologische, episte­ mische oder sprachlogische Aspekt. Infrage kommende Aspekte sind hier – der ontologische, der epistemologische und der sprachlogische 840 841 842 843

Met.Δ6, 1016b32–1017a2. Met.M6, 1080b22 ff.; Met.N3, 1090b28 ff.; Met.Z2, 1028b25 ff. Met.Z13, 1038b10–12; Met.I2, 1053b17–28. Met.Z4, 1030a17–32.

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3.4 Wort und Bedeutung

Aspekt. (a) Der ontologische Aspekt besagt, dass die erste Kategorie, die Ousia, ontologisch alle andere Kategorien voraussetzt. Für die Bestimmungen der Ousia werden die Seinsdifferenzen wie Essenz und Existenz, Einzelnes und Allgemeines eingeführt. (b) Der episte­ mologische Aspekt wird damit gerechtfertigt, dass jeder Gegenstand in seinem Was-Sein als Ousia erkannt wird;844 demnach geht die Erkenntnis des Ersten bzw. der Ousia aller anderen Erkenntnis vor­ aus.845 (c) Der sprachlogische Aspekt steht hier an erster Stelle, da die Definition des erkannten Was-Seins (Essenz) der ersten Katego­ rie, der Ousia, zukommt; die Bedeutungen des Was-Seins können auch den übrigen akzidentell bestimmten kategorialen Seienden im abgeleiteten Sinn zukommen. Es besteht die Möglichkeit mehrerer Aussageweisen einer Bedeutung, d.h. die Prädikate können nicht nur von der Ousia, sondern auch von den akzidentellen kategorialen Seienden ausgesagt werden. In diesem kurz umrissenen Rahmen werden alle drei Arten der Einheits-Struktur diskutiert. Ich führe nur einige ausgewählte gegenwärtige Interpretationen an, um Thomas’ Zugang zu diesen Alternativen zu thematisieren. Paronymie als logisch-grammatischer Begriff scheint ein nur schwacher Kandidat für die Ausführung der Einheits-Funktion zu sein, da diese lediglich auf der sprachlichen Ebene wirkt.846 Die Seien­ den der verschiedenen Kategorien werden in Bezug auf Eines benannt und sind eigentlich nichts anderes als voneinander abgeleitete Wör­ ter.847 Das sind die Gründe für die Unterscheidung der Paronymie 844 Met.Z1, 1028a25 ff. // Vgl. Ross W. D., Aristotle, S. 256 ff. // Brentano F., Aris­ toteles und seine Weltanschauung. Leipzig: Quelle & Meyer, 1911, S. 27. 845 Met.Z4, 1031b3–10. 846 Cat.1, 1a12–15. Die Definiton der Paronymie in der Kategorienschrift des Aristo­ teles lautet wie folgt: »Paronyma heißt man alles, was nach dem Namen eines anderen benannt wird, aber davon sich in der ptosis unterscheidet.« Unter dem griechischen Wort »ptosis« kann dasjenige, was durch die Endungen unterscheidet, verstanden werden. Vgl. Thesaurus graecae linquae, ab Henrico Stephano constructus. Bd. VII. Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, 1954, S. 2197. 847 Zur Diskussion der Paronymie siehe Bonitz H., Über die Kategorien des Aristo­ teles. Darmstadt: WBG, 1967, S. 48 ff. // Trendelenburg A., Geschichte der Katego­ rienlehre. Berlin: Bethge, 1846. In der Diskussion um die Paronymie kritisiert Bonitz die Einsichten von Trendelenburg. Bonitz lehnt die These Trendelenburgs ab, dass die eigentlichen Grundlagen der Beziehungen zwischen Kategorien grammatischen Ursprungs sind. Nach Trendelenburg spielen die Paronyma eine große Rolle für die grammatische Klärung der Kategorien; er weist auf ptoseis (grammatische Fälle) hin.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

von der pros-hen-Relation: Bei der Paronymie werden verschiedene Seiende mit den voneinander (grammatisch) abgeleiteten (parony­ men) Ausdrücken bezeichnet; bei der pros-hen-Relation werden die kategorial bestimmten Seienden auf vielfältige Weise, jedoch in Bezug auf Eines hin, zugeordnet und ausgesagt.848 Eine derartige Auffassung vertritt in der neueren Forschung etwa Sonderegger. Er geht (zusam­ men mit Dorothea Frede) nebst einer Kritik an Oehler849 ausdrücklich darauf ein, dass auf ähnliche Weise auch zwischen pros-hen-Struktur und Analogie zu unterscheiden ist, und hebt gerade pros-hen-Gefüge als die Grundlage für die Einheit des Seins hervor.850 Seine Aris­ toteles-Interpretation ist auf dem Argument gegründet, dass die Einheits-Struktur der gleichen Verhältnisse zwischen Verschiedenen eher von der Analogie als von der pros-hen-Einheit erfasst wird. Als pros-hen-Einheit bezeichnet Sonderegger die Einheits-Struktur,

Auf diese Weise wird die Zugehörigkeit verschiedener Wörter und Begriffe zu bestimmten Kategorien erklärt. Dass die Begriffe verschiedenen Kategorien zugehö­ ren und diese leicht durch die sprachlichen Bezeichnungen (die Paronyma) erschlossen werden können, ist nach Bonitz für die Klärung der Verbindung zwischen Kategorien wenig entscheidend. Also ist die grammatische Form nach Bonitz nicht der Grund für das logische Verhältnis, da die begrifflichen und sprachlichen Unterschiede nicht den­ selben Status beanspruchen können. 848 Zur Paronymie vgl. auch Owen G. E. L., Logik und Metaphysik, S. 414. Nach Owen zeigen die Paronyme »nicht etwa, wie untergeordnete Bedeutungen eines Wor­ tes einer primären Bedeutung logisch verwandt sein können, sondern wie man durch Veränderung der Endung aus abstrakten Substantiven Adjektive herstellt«. 849 Vgl. Soderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 207. Oehler und Ackrill unter­ scheiden die paronymen Ausdrücke und pros-hen-Relation nicht. Oehler deutet Ana­ logie als diejenige Methode, die die Elemente und Prinzipien der Ersten Philosophie stufenweise auf die Substanz des Ersten Bewegenden zurückführen lässt. Pros-henRelation charakterisiert Oehler als bestimmendes Strukturelement oder Strukturmo­ dell, in dem »die unterschiedlichen Beziehungen von Vielen auf ein Identisches« bestimmt werden können. Auf diese Weise werden im transzendenten Bereich 55 Unbewegte Beweger zu einem Ersten Unbewegten Beweger bestimmt. Siehe Oehler K., Der Unbewegte Beweger des Aristoteles. Frankfurt am Main: Klostermann, 1984, S. 15, 31, 35, 126. // Ackrill J. L., Aristotle’s Categories and De Interpretatione. Trans­ lated with Notes by J. L. Ackrill. Oxford Uni. Press, 1963, S. 71–72. An folgenden Beispielen zeigen sich Sondereggers Kriterien für die Unterscheidung der Paronymie von der Synonymie: Wenn die Aussagen »Der Mensch (Spezies) ist Lebewesen (Gat­ tung)«, »Das Weiß (Spezies) ist Farbe (Gattung)« korrekt sind, die Aussage »Das Weiß (Spezies) ist farbig (Akzidens)« dagegen falsch, ist festzustellen, dass die Gattung von der Spezies synonym ausgesagt werden kann. 850 Vgl. Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 190–211. // Met.Γ2, 1003a33 ff.

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3.4 Wort und Bedeutung

wenn mit einem Wort bezeichnetes Verschiedenes in je verschiedenen Bezügen auf ein Eines und Erstes hin zusammengefasst wird.851 Eine andere Interpretation finden wir etwa bei Hirschberger. Er stellt die Frage, ob eine pros-hen-Aussage als Analogie bezeichnet werden kann. Dabei verweist er auf neuplatonische Kommentatoren wie Porphyrius852 und stellt die Frage, warum bei Aristoteles der Begriff der Paronymie überhaupt vorkommt, falls in Paronymie bereits die pros-hen-Aussage steckt.853 Hirschberger analysiert Paro­ nymie parallel zur Behandlung der Beziehung zwischen pros-henRelation und Analogie. Drei Aspekte werden dabei hervorgehoben. Erstens unterscheidet er zwischen Analogie und Paronymie. Philo­ sophiegeschichtlich (etwa bei Kommentatoren wie Porphyrius und Ammonius) werden nach Hirschberger bestimmte Aspekte der Paro­ nymie berücksichtigt, nämlich bei der Frage nach der Einheit und Differenz in der Sache (pragma) und im Namen. In der weiteren Entwicklung des Begriffs der Paronymie werde der sprachlogische Aspekt dominierend. Zweitens weist Hirschberger darauf hin, dass in der Tradition seit Aristoteles die Analogie als etwas Mittleres zwischen Äquivokation und Univokation verstanden wird. Aber auch die Paronymie kann als etwas Mittleres zwischen Homonymie und Synonymie aufgefasst werden, wie das Ammonius und Simplicius getan haben.854 Somit sind sowohl Analogie als auch Paronymie etwas Mittleres. Paronymie ist es deswegen, weil sie eine pros-henAussage darstellt: die Bezeichnung »gesund« gilt etwa für Rezept, Nahrung u.a.; diese haben in der pros-hen-Aussage ein gemeinsames Ziel (Gesundheit). Nach Hirschberger kann man also – auf die sprachlogische Deutung gestützt – sagen, dass alle denominativen Prädikationen in die Paronymie übergegangen sind. Dies erklärt dann nach ihm, warum bei Boethius »Paronyma« mit »Denomina­ Vgl. Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 209 f. // Happ versteht die Paronymie als eine Bezeichnungsweise, die in pros-hen-Relation übergeht. Siehe Happ H., Hyle, S. 331 ff. 852 Vgl. Hirschberger J., Paronymie und Analogie bei Aristoteles. Philosophisches Jahrbuch 68 (1960), S. 191–203. // Siehe auch Lyttkens H., The Analogy between God ad the World, S. 29–58. // Vajda G., Isaac Albalag. Averroiste juif, traducteur et annotateur d’Al-Ghazālī. Paris: Vrin, 1960, S. 46 ff. 853 Cat.1, 1a12–15; 7, 6b13; 8, 10a27–b11. 854 Ammonius Hermeae, In Aristotelis categorias, I, 70–61, S. 90–92. // Simplicius, Commentarium in decem Categorias Aristotelis. Übersetzt von Guillelmus Doro­ theus. Neudruck der Ausgabe Venedig 1540 mit einer Einleitung von R. Thiel und Ch. Lohr. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1999, In Cat.4. 851

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

tiva« wiedergegeben werden.855 Dasselbe gilt auch für Ockham.856 Das Erkenntnisverhältnis, das durch eine Benennung (denominatio) zweier oder mehrerer Gegenstände entsteht und als paronymische (sprachlogische) Qualität von Aussagen gedeutet wird, macht Ock­ ham für seine nominalistische Zugangsweise fruchtbar. Hirschberger weist auch auf eine andere mittelalterliche Antwort hin, um zu zeigen, weshalb die pros-hen-Aussage als Analogie gedeu­ tet werden kann. Er meint nämlich die des Thomas. Hirschberger sieht diese Zugangsweise im Begriff der Ähnlichkeit begründet, der die Grundlage für die verschiedenen modi der Homonymie bildet. Zu einem der Modi der Homonymie gehört die Ähnlichkeit in der pros-hen-Aussage. Thomas geht nach Hirschberger von einer dieser Varianten der Ähnlichkeit aus, zu denen auch die Analogie gehört. In der Analogie, so Hirschberger, die bei Thomas als viergliedrige Analogie (a:b :: c:d) vorkommt, treten sogar die Relate in Form von Identitätsaussagen (a = b) auf, die von der (Ähnlichkeits-)Analogie vorausgesetzt werden.857 Die scharfe Akzentuierung der Unterschiede zwischen pros-henRelation und Analogie858 fehlt bei älteren Aristoteles-Forschern wie Brentano, aber auch bei jüngeren wie Patzig und Owen, und in den allerneuesten Forschungen etwa bei Fonfara.859 Die Gründe sind aller­ dings in jedem einzelnen Fall andere. Patzig behandelt die Analogie Vgl. Hirschberger J., Paronymie und Analogie bei Aristoteles, S. 200. Wilhelm von Ockham, OPhII, Expositio in Librum praedicamentorum Aristotelis, cap.3, S. 144–147. / OPhI, Summa logicae I, cap.13, 4–10, S. 44; 75–81, S. 47. // Zum Thema siehe Perger M. von, Understanding the Categories by Divisions: Walter of Burley vs. William of Ockham. In: Biard J., Rosier-Catach I. (Cur.), La Tradition médiévale des Catégories (XIIe–XVe siécles). Actes du XIIIe Symposium européen de logique et de sémantique médiévales (Avignon, 6–10 juin 2000). Leuven-Paris-Dud­ ley, 2003, S. 37–52. 857 Hirschberger J., Paronymie und Analogie bei Aristoteles, S. 201 ff. 858 Met.Γ2, 1003a33–1003b18. Dass Aristoteles für die Klärung der Vielfältigkeit des Sagens das Gesundheits-Beispiel heranzieht und diese als pros-hen-Verhältnis oder Analogie bezeichnet, hat verschiedene Interpretationen hervorgerufen. Einige von ihnen stellen die pros-hen-Relation der Analogie deutlich gegenüber. 859 Vgl. Patzig G., Theologie und Ontologie in der »Metaphysik« des Aristoteles. Kant-Studien 52 (1961), S. 185–205. Unter Paronymie versteht Patzig das methodi­ sche Prinzip, dass dieselben sprachlichen Ausdrücke die Gegenstände durch ihre jeweils verschiedenen Beziehungen auf ein Identisches (das Erste in jeder Kategorie) zurückführen und definieren lässt. Paronymie ist nach ihm ein Sonderfall der Homonymie und als pros-hen-Struktur zu verstehen. In diesem Sinne sieht er die aristotelische Ontologie in ihrer Weiterentwicklung als »analogische Ontologie«. 855

856

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3.4 Wort und Bedeutung

als eine Weiterentwicklung der pros-hen-Relation. Owen bezieht die Deutung der Frage auf die Verhältnis-Vorstellung, die er als zentrales Merkmal der Analogie festlegt. Aber auch das pros-hen- (Brennpunkt­ bedeutung bei Owen) erlaubt es einem in mehreren Bedeutungen gebrauchten Wort, in weitere Verbindungen einzutreten. Owen weist bezüglich der Analogie und pros-hen-Relation folgende differierende Aspekte auf: aufgrund der Analogie kann die Bedeutung eines Wortes die Verbindung etwa zwischen Arten bilden. Dies lässt aber keine voll­ ständige Bedeutungsanalyse durchzuführen zu und ist eher als »ein evidentes Verhältnisschema« anzunehmen. Damit ist die Analogie nach Owen keine schwächere Form der Beziehung im Vergleich mit der pros-hen-Relation. Er weist lediglich auf Fälle hin, in denen Aris­ toteles die pros-hen- (sog. Brennpunktbedeutung) als eine »bessere Erklärung einer ›systematischen Mehrdeutigkeit‹ annimmt.860 Auch Brentanos Zugangsweise zur aristotelischen Frage nach der Einheit im Falle der Mehrdeutigkeit des kategorialen Seienden demonstriert, dass keine von beiden, weder Analogie noch pros-henRelation, für die Bestimmung der kategorialen Einheit bevorzugt werden kann. So ist nach Brentano die Analogie gewissermaßen pros hen, in dem das hen als eine »wirkliche Einheit« sowohl dem Begriff als auch dem Wesen nach verstanden werden kann.861 Ich nähere mich in meinem Verständnis des Einheitsproblems bei Aristoteles vielmehr der Lesart an, die von Brentano und von den allerneuesten Interpretationen, etwa von Fonfara, vertreten wird. 860 Met.Δ6, 1016b34–35; Met.Λ4, 1070b19–21; Met.Λ1–2, 1069a36–b2. Die Mei­ nung, dass Aristoteles beide Arten der Relationen nicht scharf trennt, um diese als wichtigste von unwichtigen abzugrenzen, bestätigt Owen mit dem Hinweis, dass an einigen Stellen (z.B. in Met.Γ) die Analogie überhaupt nicht erwähnt wird und an anderen Aristoteles über pros-hen-legomena nicht spreche (z.B. in Met.Λ). Owen G. E. L., Logik and Metaphysik, S. 420–423; S. 422, Anm. 81. Owen interpretiert Aris­ toteles auch etwa so, dass »Sein« weder univok noch äquivok, sondern pros-hen-äqui­ vok ist, da es auf verschiedene Weise ausgesagt wird, jedoch auf Eines referiert. Es handelt sich nach Owen nicht um einen analogen, sondern um einen äquivoken Cha­ rakter des »Seins«. Die Analogie ist dann eine Art von Äquivokation. Das Wissen vom Seienden als Seiendem ist das Wissen von primären, separaten Entitäten (Substan­ zen). Demgemäß ist nach Owen zu unterscheiden: (a) pros-hen-Relation zwischen primärer Entität und vielen Arten anderer Entitäten; (b) pros-hen-Relation zwischen Substanz und Akzidens. Siehe Owens J., The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics: A Study in the Greek Background of Mediaeval Thought, with a Preface by Etienne Gilson. Canada, Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies, 1951, S. 151 ff., 162. 861 Vgl. Brentano F., Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden, S. 98.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Nach Fonfara sind die verschiedenen Bedeutungen des auf mehrfache Weise ausgesagten Seienden in einer pros-hen-Relation in Bezug auf Eines verbunden.862 Diese Relation bezeichnet in erster Linie die Beziehung zwischen der ersten Kategorie bzw. Ousia (der die Essenz primär zukommt) und allen übrigen von dieser abhängigen Katego­ rien. In zweiter Linie lässt sie das an sich ausgesagte Seiende (to on kath auto) als primäre Bedeutung des Seienden spezifizieren, um auf­ grund der Grundbedeutung alle sekundären Seienden zu umfassen.863 Die pros-hen-Relation nennt Fonfara die grundlegende Ontologie des Aristoteles für alle Seienden. Wenn man nach der Möglichkeit einer Einheit der Bedeutungen der aristotelischen Kategorien fragt, gibt es auf diese Frage nach Thomas mehrere Antwortmöglichkeiten, die durch die Synonymie, Homonymie oder Analogie gekennzeichnet und miteinander ergänzt werden. Wenn Fonfaras Antwort auf diese Frage »Analogie« lautet, problematisiert er dabei den Unterschied zwischen Analogie und pros-hen-Relation nicht, da beide Relationen in seiner Optik von Verschiedenem zu Einem stehen. Fonfara beschäf­ tigt sich vielmehr mit der grundlegenden ontologischen und sprachlo­ gischen Unterscheidung zwischen Ousia als dem Zugrundeliegenden (an-sich-Seiendem), wodurch etwas das ist, was es ist, und allen übrigen kategorial bestimmten (akzidentellen) Seienden. Da in allen Kategorien (etwa in Qualität) das Eine impliziert ist, bildet sich nach ihm die Einheit von Qualität und Ousia (z.B. ›weißer Mensch‹) aus, und die Definition, die hauptsächlich auf die Ousia bezogen ist, bildet folglich die Grundlage dieser Einheit. Ich stimme mit einer der Ansichten von Frede/Patzig überein, dass die pros-hen-Einheit und das analog Allgemeine in einer Ent­ wicklungsperspektive zu fassen ist. Diese Auffassung ergibt sich daraus, dass es sich nicht um zwei unterschiedliche Einheits-Struk­ turen handelt, sondern um ein gemeinsames Prinzip für beide Ein­ heits-Strukturen. Ich stimme auch Owen in dem Sinne zu, dass bei Aristoteles (und bei Thomas, wie bereits gesagt und wie es noch später klarer zu sehen sein wird) die Analogie nicht als Grundlage einer allgemeinen Wissenschaft vom Seienden aufzufassen ist.864 Das wichtigste, und das ist auch meine Position, das in der scholastischen Philosophie implizit präsent ist, ist die Art und Weise, auf welche Vgl. Fonfara D., Die Ousia-Lehren bei Aristoteles, S. 67, 72. Vgl. Fonfara D., Die Ousia-Lehren bei Aristoteles, S. 89 ff., 104. // Met.Γ2, 1003b1–4. 864 Vgl. Owen G. E. L., Logik und Metaphysik, S. 416. 862

863

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

Aristoteles zur Einheit in der Vielfalt der Bedeutungen von Seiendem und von vielen Bedeutungen zur Grundbedeutung gelangt. Der Hintergrund der Auffassung, der ich in meiner Studie folge, liegt in einer bestimmten (oben ausgeführten) Interpretation des aris­ totelischen Begriffs der Ousia: Die Ousia ist das Zugrundeliegende, das vielen zusammengesetzten Einzelwesen und jeder individuellen Sache naturgemäß gemeinsam ist und als Eigentümliches keiner anderen Sache zukommt. Dasjenige aber, was begrifflich-logisch vom Seienden ausgesagt wird, ist das Allgemeine, nicht Ousia.865 Alles, was auf verschiedene Weise kategorial-Seiendes ist und vielfältig in Bezug auf Eines (pros hen) ausgesagt wird, bildet eine analoge Einheit. Diese aristotelische Auslegung der Ousia hat eine lange Diskussi­ onsgeschichte – sowohl Analogie, Univozität und Äquivozität als auch Paronymie und pros-hen-Relation betreffend – hervorgerufen. Vielschichtige Intepretationen von Arten des Seienden und somit von Arten der Einheit in der Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit sind infolge entwickelt worden. Unser Blick in die wesentlichen philosophiegeschichtlichen Aspekte der Analogie hat gezeigt, wie kompliziert das Problem der Bedeutung ist. Die Klärungsversuche dieses Problems, das in erster Linie das Problem der analogen, univoken oder äquivoken Bedeutun­ gen ist, sollen in den nächsten Abschnitten spezifiziert werden.

3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia Ein und dasselbe Wort kann in verschiedenen Kontexten von meh­ reren Referenten im Sinne voller Eindeutigkeit (univoce), bloßer Wortgleichheit (pure aequivoce) oder einer Verhältnisgleichheit (ana­ logice) ausgesagt werden. So lautet die These in der kürzesten Form der aristotelisch-thomanischen Bedeutungslehre. Welche Bedeutung von einem Wort sich auf welchen Referenten und auf welche Weise bezieht, ist also immer erklärungsbedürftig. Dass uns bei diesem Thema nicht nur analogia, sondern auch univoca und aequivoca begegnen, hat sich auf verschiedene Weise bei der Erörterung der ontologischen, epistemischen und semantischen Fragen im Kapitel 2 und Kapitel 3 gezeigt. Die Tragweite des Problems der analogen, 865

Met.Ζ13, 1038b9–12.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

univoken und äquivoken Bedeutungen manifestiert sich sowohl bei Denkern, die grundsätzliche Bedeutungs-Fragen mittels Analogie, Univokation und Äquivokation interpretieren, als auch bei denen, die einige davon ablehnen oder direkt die Leistungsfähigkeit der Analogie unterschätzen. Zu den letzten gehört etwa Duns Scotus. Die Erkennt­ nis Gottes kann, so Scotus, nicht »in einem gemeinsamen analogen Begriff erfasst« werden,866 es ist nach einem anderen (univoken) Begriff zu suchen. Hier stellt sich nicht nur die Frage, wie die Differenz der Bedeutungsarten interpretiert wird, sondern auch, was die jewei­ lige Interpretation besagt, d.h., vor welcher philosophischen und theologischen Alternative Scotus oder Thomas (oder jeweils weitere andere Autoren) standen, und für welche Lösung sie sich entschieden haben. Der Vergleichs-Bedarf der Analogie in Bezug auf die Äquivo­ kation und Univokation tritt immer zusammen mit dem Entschei­ dungs-Bedarf der grundlegenden Positionen auf. Seiner Methode und dem Ziel seiner Untersuchung gemäß stellt Thomas sich nicht allein die Aufgabe, die Bedeutungsart der Ausdrücke zu bestimmen oder Analogie als den extremen Gegenpol zur Univokation und Äquivo­ kation herauszustellen, sondern zu klären, auf welche Weise das Wort verstanden und gebraucht wird, und was jener Gebrauch im konkreten Kontext besagt.867

3.5.1 Univokation versus Analogie? An vielen Streitfragen der mittelalterlichen Philosophie zeigt sich der Differenzierungsversuch zwischen Analogie, Univokation und Äquivokation. Bei einer dieser Streitfragen – hinsichtlich der Aris­ totelischen Konzeption vom Seienden – nimmt Thomas die Abgren­ zung der analogen von univoken und äquivoken Bedeutungen vor. Diese Abgrenzung soll weiteren Fragestellungen zu episte­ mischer und sprachlogischer Auffassung der Wirklichkeit dienen. Wenn Thomas von einem ontologisch-semantischen Fundament des Sprachgebrauchs spricht, geht er zuerst von der Univokation aus, wie das z.B. von folgendem Hinweis bestätigt wird: Die Eindeutigkeit (univoce) ist das implizite Hauptziel jeder Rede über Mehrdeutiges, 866 Duns Scotus, Sent.I, lect.1, d.3, p.1, q.1–2, n.19–20: »[…] quod non concipitur in communi conceptu analogo qui sint duo conceptus.« 867 S.Th.I, q.67, a.1.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

da das Viele im Einen (multa ad unum) integriert wird,868 denn die Gegenstände, die auf univoke Weise genannt werden, haben einen gemeinsamen Sinngehalt (communicant in quiditate vel essentia).869 Wird damit unser Wissen erweitert bzw. präzisiert? Als Anhaltspunkt für eine genaue Bestimmung der Unterschei­ dungskriterien zwischen univoken, äquivoken und analogen Bedeu­ tungsarten nehmen wir canis und ens als Beispiele. Die Analyse des konkreten Namens canis macht den semantischen Charakter der Mehrdeutigkeit deutlich: Der Name wird auf äquivoke Weise für »Haushund« und »Seehund« gebraucht. Es können drei Gründe genannt werden, warum bei äquivoken (oder analogen) Ausdrücken wenigstens von einem Gegenstand (etwa Haushund) in voller Ein­ deutigkeit (aliquibus univoce) gesprochen wird: (1) Bei der Bezeichnung von etwas Bestimmtem ist es erforderlich, dass in der Identitätsbehauptung die Möglichkeit der Erkenntnis enthalten ist. (2) Der Begriff, der in Bezug auf die Gattung spezifiziert werden soll, muss nur in einem Fall, in dem er als species nicht weiter spezifiziert werden kann, univoke Eindeutigkeit besitzen. (3) In jenen Fällen, in denen die Ursachen und ihre Wirkungen gleichartig sind, sollen die Ursachen mit ihren Wirkungen im Namen und in der Begriffsbestimmung übereinstimmen, sie werden als »univok« bezeichnet. In anderen Fällen, wenn die Ursachen mit ihren Wirkungen (bloß) dem Namen nach überein­ stimmen, wird diese Beziehung als »äquivok« bezeichnet870 oder nach der analogen Bedeutung gefragt. Von der Erkennbarkeit und Bezeichnungsweise der geschaffenen Gegenstände und Gott als deren Ursache wurde in meiner Studie bereits gesprochen. Diese Fragen stellen sich nun erneut. Wenn Thomas nach der theologischen Anwendung der univoken Namen auf Gott als Ursache geschaffener Gegenstände auf die oben gezeigte Weise fragt, wird von ihm die Univokation bezweifelt: Wenn jeman­ dem die Anwendung univoker Namen auf Gott auch möglich erschei­ S.Th.I, q.13, a.5. S.Th.I, q.3, a.5. 870 S.Th.I, q.13, a.5. Es geht beispielsweise um die Sonne, die im Mittelalter als kalt vorgestellt wurde, die aber wärmt und daher selbst als jene Ursache zu verstehen ist, die nur dem Namen nach (aequivoce) warm ist. 868

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

nen sollte, besagt das noch nicht, dass diese Namen wahrhaft von Gott ausgesagt werden. Es folgen weitere, immer tiefer greifende Argumente: Von der Seite des unmittelbaren Kausalbezuges kann das Wort, das von Gott ausgesagt wird, auf univoke Weise sowohl die Wirkungen als auch die Ursache bezeichnen.871 Andererseits ist es aber unmöglich, dass die Wirkungen und die Ursache mit einem Namen wie etwa »weise« bezeichnet werden, da diese Wirkungen und Ursache keine gemeinsamen Formen haben.872 Die bereits erwähnte Funktion des Zeichens – Signifikation und Supposition – wird hier manifest: Wenn unter dem significatum des Namens »Gott« keine göttliche Wesenheit, sondern etwas anderes (eine andere Entität) verstanden wird, und man unter einem signifi­ catum unterstelltes suppositum noch etwas anderes versteht, kann die Bedeutung der Begriffe nicht erkannt werden. Diese Namen bleiben bloße Wörter, deren Bedeutung nicht auf Referenten zutrifft. Darüber, dass zur Erkenntnis und zu den Benennungen Gottes durch die Erkenntnis der geschaffenen Gegenstände kommt, haben wir bereits gesprochen. Diese Tatsache stellt für Thomas den Grund für die Ablehnung der Brauchbarkeit der Univokation in diesem Fall dar. Damit werden nominalistisch geprägte epistemische und logischsemantische Argumente für den univokativen Beweis Gottes entkräf­ tet.873 Es gibt einen speziellen Fall, der die Univokation erlaubt, nämlich wenn der Name »Gott« die Form (göttliche Wesenheit) bezeichnet und für die gemeinsame Natur steht (supponit pro natura communi).874 Die bezeichnete Form befindet sich in diesem Fall in pluribus suppositis auf univoke Weise (siehe 3.3.2). Dieser Spezialfall lässt sich aber nicht in dem Sinne erweitern, dass etwa der Name »der Weise« oder auch jeder andere Name auf Menschen und Gott im univoken Sinne angewandt wird. Wenn der Name, »der Weise«, einen Menschen benennt, wird damit das Bezeichnete bestimmt, aber im Fall der Anwendung auf Gott bleibt das Bezeichnete unbestimmt. Ebenso grenzt sich Thomas in seiner Prädikationstheorie, wo es um das Gott-Kreatur-Verhältnis geht, von der Univokation ab: »nullum

871 872 873 874

C.G.IV, 49. S.Th.I, q.13, a.5. C.G.I, 10–11. / S.Th.I, q.2, a.1. S.Th.I, q.39, a.4.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

nomen univoce de Deo et creaturis praedicatur«.875 So wird deutlich, dass Thomas’ argumentative Strategie hinsichtlich der Benennung der nicht-erkennbaren Transzendenz vielmehr auf die Negation hin orientiert ist. Demgegenüber gründet Duns Scotus seine ontologisch-seman­ tische Auffassung stets auf die univocatio entis. Wie bereits oben angedeutet wurde, richtet er seine Kritik gegen die analogia entis, den analogen Begriff des Seienden.876 Wie kommt Scotus auf die univocatio entis? In Scotus Auslegung haben die kreatürlichen Voll­ kommenheiten in Gott ihren Urgrund. Diese sind aber nach seiner (auf Avicenna zurückgehenden) Auffassung in der Kreatur und in Gott weder analog (wie bei Thomas) noch äquivok (wie bei Maimoni­ des), sondern univok.877 Es geht ihm dabei nicht um einen Begriff des Seienden (oder z.B. das Gute, die Weisheit), der bezüglich Kreatur und Gott in einem univoken Sinngehalt übereinstimmen würde, sondern um zwei Begriffe: den des Seienden in der Kreatur und den des Seienden in Gott. So steht ein und derselbe Begriff des Seienden nicht für eine gemeinsame Realität, sondern wird von der Kreatur als »endliches« Seiendes und von Gott als »unendliches« Seiendes

S.Th.I, q.13, a.5. Hierin liegt die Differenz zwischen den Einsichten von Realisten und Nominalisten. Vgl. Wilhelm von Ockham, OThII, Sent.I, lib.1, d.2, q.9, S. 300– 302, 306–308. / OThIV, Sent.I, (Ordinatio), d.29, q. unica, S. 276–280. 876 Duns Scotus, Sent.I, lect.1, d.3, p.1, q.1–2 n.22–24, n.29–31. Scotus konzipiert die Univokationsthese im Zusammenhang mit der Unbestimmtheit des Begriffs des Seienden, mit der Verneinung des Seienden als einer der Transzendentalien und stellt diese als Kritik der analogen Ausdrücke bei Thomas heraus. Zur Scotischen Univozität siehe Shircel C., The Univocity of the Concept of Being in the Philosophy of John Duns Scotus. Washington: The Catholic University of America Press, 1942. 877 Nicht alle Auffassungen, die Scotus dem Avicenna zuschreibt, sind bei Avicenna zu finden. Aber die Auffassung Avicennas von einem allgemeinen Sein, das in einem univoken Sinn von allem (auch von allen Vollkommenheiten) ausgesagt wird, ist die Auffassung, die grundlegend für Scotus Verständnis des metaphysischen Seins – damit von univokatio entis – geworden ist. Der avicennisch-scotistische Begriff des ersten und allgemeinen Seins, das in jedem von Intellekt aufgefassten Seiendem ist, setzt die univoke Seinserkenntnis voraus. Vgl. Avicenna, Metaphysik, I, cap.2, cap.6. // Johannes Duns Scotus, Qustiones in Metaph., IV, q.1, n.5. / Op.Ox.I, d.3, q.3, a.2, n.6. Zum Versuch einer adäquaten Interpretation des Einflusses von Avicenna auf Scotus und seiner mit der Univokation verbundenen Seinsmetaphysik siehe Gil­ son É., Johannes Duns Scotus, S. 82–99. / Zu Averroes’ Kritik der Konzeption der Metaphysik von Avicenna siehe Pickavé M., Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft. Studien zu einem Metaphysikentwurf aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Leiden; Boston: Brill, 2007, S. 94–99. 875

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

ausgesagt.878 Der Begriff des Seienden kann wie alle anderen Begriffe, die passiones entis sind, zu den Transzendentalien gehören, jedoch unter der Bedingung, dass der Begriff ens nicht unter eine Gat­ tung fällt bzw. ein alle kategorialen Begriffe übersteigender Begriff ist. Dieser Begriff ist bei Scotus ein univoker Begriff, der von diesem und jenem Seienden univok ausgesagt wird. Der Univokationsbegriff im Vergleich mit dem der Analogie wird auch für Ockham zur Priorität. Eine der Grundaussagen, die die Univokation zum Ausdruck bringt, besagt, dass die Begriffe, die von bestimmten Gegenständen (individuellen Substanzen und ihren Qualitäten) abstrahiert sind und ihnen gemeinsam sind (com­ munis est), entsprechend für diese Gegenstände und Qualitäten als univoke Begriffe stehen. Die epistemische und theologische These, dass nur der Begriff, der von jenen Gegenständen abstrahiert ist, denen er gemeisam ist, als ein einheitlicher bzw. univoker Begriff (conceptus univocus) washeitlich von Gott und Kreatur ausgesagt werden kann, bildet ein Kernargument in Ockhams Signifikationsund Prädikationstheorie.879 Dem ist auch seine ontologische (Sin­ gularismus-)Position in der Erkenntnismetaphysik zu entnehmen. So wie Univokation »in der systemgeschichtlichen Tendenz«880 die nominalistische Ontologie und Erkenntnistheorie, Semantik und Sprachlogik etwa bei Scotus und Ockham voraussetzt, so prägt auch Analogie die realistische Philosophie des Thomas.

3.5.2 Äquivokation versus Analogie? Wir haben bisher vorwiegend die Bedeutungsprobleme im Zusam­ menhang mit Analogie- oder Univokationsbegriffen behandelt. 878 Duns Scotus, Sent.I, lect.1, d.3. p.1, q.1–2, n.29; lect.1, d.8, p.1, q.3, n.103– 104. / Ordinatio II. A distinction prima ad tertiam. (Opera Omnia, 7) Ed. P. C. Balic. Civitas Vaticana, 1973, I, d.3, p.1, q.1–2, n.23. / Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden. Texte zur Metaphysik. Hrsg. von T. Hoffmann. Götingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. XXIV ff. // Zur Analyse des endlichen und unendlichen Sei­ enden bei Scotus siehe: Honnefelder L., Johannes Duns Scotus. München: Beck, 2005, S. 91–103. 879 Wilhelm von Ockham, OThII, Sent.I, lib.1, d.2, q.9, S. 306–308. / OThIV, Sent.I, (Ordinatio), lib.1, d.29, q. unica, S. 276–280; d.35, q.3, S. 462. / OThIX, Quodl.V, q.14, S. 536–538. 880 Vgl. Anzenbacher A., Analogie und Systemgeschichte, S. 93.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

Durch die Analyse des Seienden ergaben sich, wie bereits mehrfach betont, drei Bedeutungsalternativen, die auf Aristoteles’ These der Vielheit der Bedeutungen von Sein zurückgehen.881 Diese These ist systematisch auf vielfache Weise entwickelt worden und zur Grundlage des mittelalterlichen semantischen Programms, das die Suche nach der Einheit in der Verschiedenheit und in der Vielheit der Bedeutungen zum Ausdruck bringt, geworden. Die gesuchte Einheit wird nach Thomas vor allem durch die Analogie ermöglicht. Aber die semantische Einheitsproblematik zeigt sich in allen ihren Facetten darin, dass das Sein als das Sein nicht nur im analogen, sondern auch im univoken Sinne aufgefasst wird, was eine völlige Bedeu­ tungsgleichheit bedeutet, oder im äquivoken Sinne – nämlich als bloße Namensgleichheit gedeutet wird. Das Problematische scheint jedoch nicht primär in den methodischen Bestimmungen der Begriffe, die analog, univok oder äquivok sein können, sondern zuerst im transzendentalen Begriff »ens« selbst zu liegen, da mit dem »ens« verschiedene Seinsweisen bezeichnet werden.882 Die extremen Fälle der Anwendung des Begriffs der Äquivo­ kation werden unter »pure aequivoce« diskutiert. Eine semantische Interpretation des Aristotelischen »pure aequivoce«, die Thomas am Beispiel des Wortes »Tier« als Signifikation eines wirklichen und eines gemalten Tieres entwickelt,883 ist auch für die Deutung des Wortes »ens« geeignet. Es geht hier nach Thomas um die genauen Grenzen zwischen aequivoce, pure aequivoce und analogice: Wenn man den Begriff der Äquivokation nicht verengt, sondern erweitert, wird im äquivoken Gebrauch des Namens die Analogie mit einbegriffen. Bei Aristoteles – so Thomas – kann das »ens« von unterschiedlichen Seinsweisen im Sinne der Äquivokation prädiziert werden; es kann aber auch im Sinne der Analogie aufgefasst werden, da Analogie in mehreren Seinsweisen impliziert ist. Thomas’ eigene Behandlung des Begriffs »ens« kommt in seiner Proportionsanalogie und in seiner Prädikationstheorie vor und wird gegen die pure aequivoce gerichtet. Er bestimmt das »ens« als dasjenige, das gemäß der Beziehung eines

Met.Γ2, 1003a33–b10; Γ2, 1004a2–9; Γ3, 1005a33–1005b1. / Cat.5, 3a33–b9. S.Th.I, q.13, a.10. // Vgl. Wolenski J., Two Theories of Transcendentals, S. 367– 380. 883 S.Th.I, q.13, a.10ad4. 881

882

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Akzidens zur Substanz, der Kreatur zu Gott ausgedrückt wird.884 Es handelt sich um die Beziehung zweier Glieder zum ens als Verhältnis in einem Modus.885 Diese Erläuterung geht wiederum auf Aristoteles zurück, der die Akzidenzien wegen deren Bezogenheit auf die Sub­ stanz »Seiendes« nannte,886 wobei diese Bezogenheit der Ausbildung der Einheitsstrukturen zwischen verschiedenartigen Seienden und Einem dient. In der weiteren Auslegung der Frage, in welcher Art – in der Äquivokation oder Analogie – der Name ens für sein Signifikat steht, zeigen sich bei Thomas die Deutungsmöglichkeiten durch das perprius-per-posterius-Signifikationsprinzip.887 Thomas folgt einer star­ ren Substanz-Akzidens-Auffassung: Da der Natur nach die Substanz die Ursache des Akzidens ist, kommt die Substanz der Erkenntnis und der Bedeutung des Namens gemäß in der Definition des Akzidens vor. Gemäß diesem schematischen Klärungsmuster durch per-priusper-posterius führt Thomas eine wichtige Differenz ein, die auch in sonstigen Fällen konsistent bleibt: ontologisch gesehen wird ens per-prius von der Substanz als vom Akzidens ausgesagt. Das, was der Natur nach per-prius ist, kann der Erkenntnis nach nur per-posterius sein, was wiederum nicht der Ordnung der Äquivokation, sondern der Ordnung der Analogie entspricht. So wird das aus Akzidenzien (und Wirkungen) Erkannte nach Akzidenzien (und Wirkungen) benannt. Wie man aus der Vielheit des Seienden zum Sein gelangen kann, so kann man aus der Erkenntnis der geschaffenen Gegenstände zur Gotteserkenntnis gelangen. Dies definiert Thomas weder als univoke oder äquivoke Bedeutung, sondern als analoge Bedeutung des ens. Die uns schon bekannte These von Thomas, dass die Ordnung des

884 C.G.I, 34: »Alio modo, secundum quod duorum attenditur ordo vel respectus, non ad aliquid alterum, sed ad unum ipsorum: sicut »ens« de substantia et accidente dicitur secundum quod accidens ad substantia respectum habet, non quod substantia et accidens ad aliquid tertium referantur.« / De Verit., q.2, a.11. 885 Da transzendentale Begriffe sowie Kategorialbegriffe nicht als spezifische Diffe­ renzen zum ens stehen, können sie im inneren Verhältnis eines Modus zueinander stehen. Vgl. Schönberger R., Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, S. 96 f. 886 Met.K3, 1061a7–10. 887 Zu diesem Signifikationsprinzip vgl. St. John Damascenus, Dialectica. Version of Robert Grosseteste. (Ed.) O. A. Colligan, O.F.M. New York: The Franciscan Institute St. Bonaventure, 1953, cap.43, 3, 26–31, S. 44. Zur univokativen und äquivokativen Prädikation siehe: cap.8, 1–3, 3–31, S. 10.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

Benennens der Ordnung der Erkenntnis folgt,888 ist auch in dieser Argumentation – aequivoce vs. analogice oder analogice vs. aequivoce – grundlegend. In Diskussionen über Signifikation, Supposition und Imposition werden äquivoke Namen einbezogen. Folgende Frage spricht dabei für sich selbst: Impliziert die Äquivokation ein identisches Verhältnis zwischen mehrdeutigen Namen und verschiedenen Gegenständen, die sie benennen? Auf diese Frage antwortet Thomas mit »Nein«. Wenn Äquivokation identisches Verhältnis in Verschiedenem bedeu­ ten würde, sollte ein identischer Sinn in verschiedenen Gegenständen nicht nur der Wortgleichheit nach bestehen.889 Die Äquivokation setzt aber voraus, dass der Name (N) unterschiedliche Gegenstände (oder Kategorien) x und y bezeichnet. Wenn dieselben Namen, die verschiedene Bedeutungen haben, in bloßer Wortgleichheit von wesensverschiedenen Gegenständen ausgesagt werden, handelt es sich um keine Bedeutungs- oder Realitätseinheit.890 In dieser Äquivo­ kations-These liegt die semantisch formulierte theologische Position des Thomas fundiert, nämlich, dass die Namen von Gott und Kreatur weder im gleichen Sinne891 noch im Sinne der bloßen Wortgleichheit ausgesagt werden dürfen. Die Lesart der Äquivokation bzw. Homonymie bei Aristoteles sind sowohl für realistische als auch für nominalistisch gefärbte Theorien von Bedeutung.892 Diese hat nicht nur lateinische Scholas­ tiker, sondern auch gegenwärtige Aristoteles-Interpreten zu gegen­ C.G.I, 34. Auf diese Weise kann das lekton der Stoa verstanden werden. Stoiker erfassen den vom sprachlichen Ausdruck (mehrdeutige Worte, Aussagen) konnotierten Inhalt immer nur in einem konkreten Sinn (lekton). Vgl. Kretzmann N., Semantics. History. In: Encyclopedia of Philosophy. (Ed.) P. Edwards. 1967, S. 364. 890 S.Th.I, q.13, a.2; a.5. 891 S.Th.I, q.13, a.5: »Sed nullum nomen convenit Deo secundum illam rationem, secundum quam dicitur de creatura: nam sapientia in creaturis est qualitas, non autem in Deo […].« 892 Met.Γ2, 1003a33–b10; Γ2, 1004a2–9; Γ3, 1005a33–1005b1. / Cat. 5, 3a33–b9. Aristoteles wird häufig so interpretiert, dass es bei ihm um zwei Weisen von Homony­ mie geht: (1) im semantischen Sinne, wenn derselbe Terminus etwa »Gesundheit« auf unterschiedliche Anwendungsfälle (z.B. Mensch, Speise und Gesichtsfarbe) trifft, und es sich entsprechend um verschiedene Bedeutungen handelt; (2) im ontologischen Sinne: die Kategorien sind Homonyme bezüglich des Terminus »Sein«, wo der Terminus »Sein« als Substanz-Sein und Qualitäts-Sein erfasst wird. Das »Sein« wird mit zwei verschiedenen Definitionen festgelegt: Es wird als Sein der Substanz und als Sein der Qualität verstanden. 888

889

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

sätzlichen Meinungen geführt.893 Eine der Interpretations-Fragen, die oft gestellt wird, lautet: Um welche Einheit handelt es sich, wenn eines in der Definition des anderen enthalten ist, z.B. die Substanz in der Definition des Akzidens und die des Aktes in der Definition der Potenz; oder wenn etwas Gleiches in der Definition beider enthalten ist, z.B. die Gesundheit des Lebewesens in der Definition des Gesunden enthalten ist? Vom Gesichtspunkt eines Thomas ist einer der Gründe dieser Diskussionen selbst eine fehlende klare Unterscheidung zwischen Äquivokation und Analogie. Thomas fordert eine Präzisierung des Äquivokationsbegriffs, da bei aequi­ voca nicht bloß die Wortgleichheit, sondern auch mehrere andere Aspekte zu beachten sind. Es ist zudem kein klares allgemeingültiges Prinzip darüber festzulegen, wie die Äquivokation vollständig zu deuten ist. Deshalb sind bei Thomas vier weitere Hinweise für die Auslegung der Äquivokation zu finden, um dem Ausschlussprinzip gemäß eine größere Klarheit von diesem Begriff zu gewinnen. Dem Ausschlussprinzip gemäß darf die Äquivokation folgende Merkmale nicht enthalten: (a) wenn die Gegenstände mit demselben Namen und in derselben Bedeutung bezeichnet werden;894 (b) wenn die Grundbedeutung (ratio propria), die der Name besitzt, auf sekundäre Analogate übertragen und auf diese Weise ratio propria zur analogen ratio communis erweitert wird;895

Z.B. Ockham ist wie Boethius bei der Deutung des Aristotelischen Begriffs der Substanz der Meinung, dass Aristoteles Substanz für einen äquivoken Begriff hält. Cat.1, 1a1–15. / Met.Z1, 1028a10–1028b7. // Wilhelm von Ockham, OPhII, Expo­ sitio in Librum Praedicamentorum Aristotelis, § 1, S. 170; § 5, S. 189. Eine der gegen­ wärtigen Interpretationen des klassischen Aristotelischen Gesundheitsbeispiels ist die von Lewis: Er legt die Gesundheit als Homonym fest, da sie im Menschen und in der Gesichtsfarbe präsent ist. Im Menschen (Sokrates) ist Gesundheit notwendigerweise als das primäre, innerliche Universale, das nicht Sokrates selbst ist, präsent. Ein der­ artiges Modell nennt Shields »core-dependent homonymy« und stellt sie als (a) asymmetrische Relation (zwischen Gesundheit in Sokrates Gesichtsfarbe und in Sokrates selbst), und (b) symmetrische Relation (zwischen Sokrates Gesundheit und Speise) dar. Siehe Lewis F. A., Aristotle on the Homonymie of Being. Philosophy and Phenomenological Research LXVIII, 1 (2004), S. 1–36. // Shields C., Order in Mul­ tiplicity: Homonymy in the Philosophy of Aristotle. Oxford: Clarendon Press, 1999. // Topik, 15, 107a2–12. / Met.Z1, 1028a10–36. 894 S.Th.I, q.16, a.6; q.13, a.5. 895 S.Th.I, q.16, a.6. 893

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

(c) wenn übersteigende Ursachen und ihre Wirkungen im Namen und in der Bedeutung übereinstimmen, da die Form des Gewirk­ ten sich auf eine oder andere Weise in der Ursache befindet;896 (d) wenn die Ähnlichkeit in den Gegenständen nicht nur dem Namen nach bestimmt werden kann.897 Das Ausschlussprinzip ermöglicht weitere Prüfungen der Äquivoka­ tion. Irrelevante sachliche Implikationen räumen die Äquivokation aus, und nur eine bloße Wortgleichheit gilt als das notwendige Merkmal der Äquivokation. Dieses Ausschlussprinzip ist wichtig für Thomas’ Diskussion um die Äquivokation mit Maimonides.898 Bei Maimonides finden wir eine ähnliche Vorgehensweise bei der Aufstellung der Äquivokationsregeln, mit deren Hilfe er seine philo­ sophisch- theologische Attributenlehre formuliert. Maimonides hält zwei Bedeutungen von äquivoken Begriffen fest.899 Entsprechend legt Maimonides – der Interpretation des Thomas zufolge – die Frage nach C.G.I, 29. C.G.I, 33. 898 Aristoteles, Cat.1, 1a1–6. Maimonides hat im aristotelischen Gesamtrahmen eine einflussreiche logisch-semantische Theorie von Äquivokation im Zusammenhang mit der Attributenlehre entwickelt. In der Einleitung seines philosophischen opus magnum formuliert er das Hauptziel seines Werkes, nämlich die Erklärung der Bedeutungen von Namen. In einer erkenntnismetaphysischen und semantischen Analyse versucht er, die Frage nach der Homonymie unter Berücksichtigung des Aristoteles dahinge­ hend zu klären, dass gegenüber der Auffassung der Ungelehrten, die nur eine wörtliche Bedeutung der Homonyme kennen, diese Namen etwas komplizierter, nämlich als mehrdeutig und bedeutungshierarchisch aufzufassen sind. Vgl. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-1. // Frede M., Individuen bei Aristoteles. Antike und Abendland 24 (1978), S. 16 f., S. 31. // Menn S., Metaphysics, Dialectic and the Cat­ egories. Revue de métaphysique et de modale 100 (1995), S. 320 ff. // Wolfson H. A., Maimonides and Gersonides on Divine Attributes as Ambiguous Terms. In: Davis M. (Ed.), Mordecai M. Kaplan Jubilee Volume. New York: Jewish Theological Seminary of America, 1953, S. 515–530. 899 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-1, 52, 53, 56. Die äquivoken Begriffe werden nach Maimonides im spezifischen und im allgemeinen Sinne gebraucht. Der spezifische Sinn der äquivoken Namen liegt nach ihm darin, dass die Anwendung solcher Namen in sechs Arten stattfindet. Zu diesen Arten gehören nicht nur völlig äquivoke, sondern auch univoke und amphibole (mehrdeutige) Termini. Im allgemeinen Sinne geht es darum, dass mit demselben Namen bezeichnete Gegen­ stände verschiedene Bedeutungen in verschiedenen Kontexten haben. Siehe dazu Hyman A., Maimonides on Religious Language. In: Perspectives on Maimonides: Philosophical and Historical Studies. Ed. J. L. Kraemer. Oxford: Oxford Univ. Press, 1991, S. 178 f. // Wolfson H. A., The Philosophy of Kalam. Cambridge, Mass.: Har­ vard University Press, 1976, S. 7–17, 23 ff. 896 897

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

den Benennungen Gottes so aus, dass diese Gott falsch zugeschrieben werden. Demgemäß muss man sich dessen bewusst sein, dass die Namen Gottes in keiner anderen Bedeutung verstanden werden dür­ fen, als im Sinne der pure aequivoce.900 An der Analyse der äquivoken Namen und der äquivoken Prädikation von Maimonides zeigt sich seine Sicht des eingeschränkten menschlichen Verstandesvermögens: Allein der menschliche Verstand sollte die wahre Bedeutung der Namen und die Wahrheit der Aussagen bestätigen, die von logischen Gesetzen garantiert wird, er kann dies jedoch nicht; stattdessen werden die Meinungen und Annahmen auf die Tatsachenwahrheiten gestützt und folglich von Tatsachen bestätigt. Zur Zeit eines Maimonides wurden die Prinzipien der Logik von Aristoteles bereits von arabischen Logikern als universelle Prinzipien übernommen. Maimonides fundiert ebenfalls seine Erörterung der äquivoken Namen auf die aristotelisch-arabische Logik.901 Die aris­ totelisch-arabische Sprachlogik macht sich bei der Behandlung der pure aequivoce von Maimonides erkennbar. Das Ziel dieser Art der Äquivokation ist also nicht bloß, formal-logische Unterscheidungen zu treffen, wo Gott als Begriff ohne ontologische Vorverständnisse zu erfassen wäre. Gott ist nicht Nichtsein, er existiert auf notwendige Weise. Gott ist auch nicht von der Bedeutung seines Begriffs trennbar. Ein von dem Begriff trennbares Sein Gottes wäre nur ein kontingentes Sein, so wie die kontingenten Gegenstände sind, die sein und nicht sein können und als von ihren Begriffen getrennt gedacht werden können. Wenn Gott als zusammengesetztes Wesen wie alle endlichen Größen (Entitäten) gedacht und durch verschiedene Namen benannt

De Verit., q.2, a.11. Die »pure« Äquivokation im Unterschied zur üblichen Äquivokation schließt die Analogie nicht ein. 901 Die natürliche Sprache wird nach der Auffassung der arabischen Logiker der uni­ versellen Logik subordiniert. Die Relation zwischen Sprache und Logik ist demgemäß wichtig und wird vielfältig diskutiert. Das zeigt sich auch in Interpretationen der uni­ voken, äquivoken oder amphibolen Bedeutungen von Termini etwa bei Avicenna, AlGāzālī und Averroes sowie in der Verwendung dieser Termini in den prädikativen Aussagen von Gott oder in realen und nominalen Definitionen. Siehe zur Frage Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimo­ nides, S. 151–173. / Wolfson H. A., Avicenna, Algazali, and Averroes on Divine Attri­ butes. In: Homenaje a Millas-Vallicrosa, II. Barselona: Consejo Superior de Investi­ gaciones Científicas, 1956, S. 545–571. // Rescher N., The Development of Arabic Logic. 900

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

werden würde, dürfte auf diese Weise erworbenes Wissen nicht auf den Gottesbegriff anwendbar sein.902 Eine vollständige Lösung des logisch-semantischen Problems, das Maimonides mit dem Erkenntnis- und Kausalitätsproblem ver­ bindet, zeigt sich als unmöglich. Der Grund ist dieser: Es gibt nur eine Weise, auf die der menschliche Verstand Gott erkennen und benennen kann, nämlich die Erkenntnis der denkmöglichen kontingenten Wirk­ lichkeit mit allen ihren Eigenschaften. Die attributiven Begriffe wie Existenz, Wissen und Ursache werden einerseits äquivok von Gott (da diese als zum Wesen Gottes gehörend geglaubt werden) und Geschöpf (da diese für die Erkenntnis unentbehrlich sind) in zwei unverein­ baren Bedeutungen ausgesagt; andererseits soll also Äquivokation die Einsicht ausschließen, dass Gott auf körperliche Weise durch erschaffene Wesen mittels Attributen erkennbar gemacht wird.903 Die Annahme einer wirklichen Relation zwischen Gott und Kreatur wird damit von Maimonides infrage gestellt. Mit der Antwort auf die Frage, ob es sich bei der Relation Gottes zur Kreatur ausschließlich um eine gedachte, nicht um eine wirkliche Relation handelt, und welche Bezeichnungsweise (Äquivo­ Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-35, 57. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssige, I-57, 58, 69. Die Auffassung von der Kausalität, Attribution und Äquivokation des Maimonides hängt mit seiner Aus­ einandersetzung mit Kalam zusammen. Kalam nimmt als Bezeichnung Gottes nur den Begriff »Bewirkendes« an, statt Begriffe wie »Grund«, »Ursache« und »Bewirkende« zu gebrauchen. Maimonides legt das Verständnis von Kausalität in Kalam so aus: Kalamisten sind der Meinung, dass falls es sich bei Gott um eine Ursache handelt, dies dazu führt, dass die Welt die notwendige Folge von Gott und damit ewig ist. Wenn aber Gott als das Bewirkende bezeichnet wird, ist ein solcher Zusammenhang nicht mehr notwendig, denn in diesem Fall ist das Bewirkende früher als das von ihm Bewirkte. Seine Kritik führt Maimonides mit der Behauptung aus, dass Kalam die Potenz nicht vom Akt unterscheidet: Wenn Gott die Ursache in ihrer Potenz ist, geht Gott nach Maimonides der Welt voraus; wenn Gott aber aktuelle Ursache ist, existiert die Welt notwendig ihrer Ursache gemäß. Maimonides Verständnis der Kausalität ist im Großen und Ganzen in der aristotelischen Theorie der Ursachen (Materie, Form, Bewirkendes und Ziel, die in vielen Bedeutungen ausgesagt werden) fundiert. Aris­ toteles, Physik B3, 194b16–195a29. / Met.A2, 983a24–a32; Δ2, 1013a24–1013b15. Im Kontext der aristotelischen Tradition handelt es sich etwa bei Avicenna, Maimo­ nides und Thomas auch um die fünfte Ursache, nämlich die Ursache der Existenz des Schöpfers der Welt. Wesentlich ist hier, dass Maimonides diese Relation mithilfe der Äquivokation deutet. Vgl. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-34. // De Verit., q.13, a.1ad1. // Hyman A., Maimonides on Causality. In: Maimonides and Philosophy. Ed. by S. Pines and Y. Yirmiyahu. Jerusalem: The Hebrew Universty of Jerusalem, 1985, S. 157–162. 902

903

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

kation?) einer solchen Relation entspricht, ist Thomas einerseits mit Maimonides einverstanden.904 Andererseits stimmt er aber mit der maimonidischen Äquivokation aus folgendem Grund nicht überein: Der rein äquivoke Gebrauch des Namens macht das Erkennen und die Beweisführung de creaturis ad Deum überhaupt unmöglich oder sinnlos.905 Denn durch die äquivoken Namen, die Gott bezeichnen, nicht aber für ihn supponieren, kann nichts von Gott erkannt werden. Die von Thomas vertretene Einsicht besagt, dass die Relation Gottes zur Kreatur keine natur-wirkliche, sondern eine bloß gedachte ist. Das soll aber nicht bedeuten, dass der menschliche Intellekt kein Wissen von Gott erwerben kann. Wenn Thomas sagt, dass kein menschliches Wissen der Wesenheit Gottes vollständig entspricht bzw. univok ist, so meint er damit, dass das menschliche Wissen im Vergleich mit dem göttlichen Wissen niemals vollständig sein kann.906 Eine solche Ansicht hat epistemische und semantische Kon­ sequenzen: dadurch, dass Thomas den analogen Gebrauch der Namen favorisiert, ist deren Anwendung auf Kreatur und Gott zulässig, da nur die Analogie die Bezeichnung mehrerer Gegenstände mit dem gleichen Namen ermöglicht, ohne identische (univoke) oder gänzlich unterschiedliche (äquivoke) Bedeutungen zu intendieren. Daher ist philosophiegeschichtlich ein Ansatzpunkt für die Weiterführung der aristotelischen Analogie gewonnen, nämlich in ihrer Anwendung auf die Gott-Kreatur-Relation. Es stellt sich eine weitere Frage, ob äquivoke Namen relevante Namen für die wissenschaftliche Erkenntnis sind. Wenn man von einem konkreten oder abstrakten Gegenstand zur Erkenntnis eines 904 Die einschlägigen Stellen bei Maimonides und Thomas sind: Mosche ben Mai­ mon, Führer der Unschlüssigen, I-70. Maimonides sagt: Er (Transzendenz) ist der, zu dem sich die Welt verhält, nicht aber die Welt ist die, zu der Er sich verhält. Online: http://www.machanaim.org/philosof/more_nev/moref_70.htm. // S.Th.I, q.6, a.2ad1: »[…] qua aliquid de Deo dicitur relative ad creaturas, non est realiter in Deo.« S.Th.I, q.13, a.7: »[…] manifestum est quod creaturae realiter referentur ad Deum, sed in Deo non est aliqua realis relatio ejus ad creaturas, sed secundum rationem tantum inquantum creaturae referentur ad ipsum.« Thomas deutet die Relation zwischen Gott und Kreatur – ähnlich wie Maimonides – als zwei Relations-Typen: die Relation der Kreatur zur göttlichen Transzendenz, die eine reale naturwirkliche Beziehung ist, und die Relation Gottes zur Kreatur, die in sprachlichen Ausdrücken geäußert wird. Die letzte ist keine wirkliche, sondern eine gedachte Relation. Die Relation, die etwas von Gott aussagen lässt, ist nur in der Kreatur, nicht aber in Gott, eine wirkliche Relation. 905 C.G.I, 33. 906 In Sent.IV, d.35, q.1, a.4; a.5.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

anderen Gegenstandes übergehen will, zeigt sich nach Thomas, dass es sich hier um unterschiedliche Bedeutungen handelt und ein solcher Übergang nicht möglich ist. Denn die Erkenntnis der Gegenstände hängt nicht bloß von der Signifikation der Worte durch die Namenge­ bung (impositio), sondern von den Bedeutungen ab.907 Geht Thomas hier vielleicht ontologisch und semantisch von pure aequivoce aus? Die Vertreter der starren Äquivozitätsregeln (zu denen Thomas nicht gehört) würden aber sagen, dass im Fall der pure aequivoce weder von der Ursache auf das Verursachte noch von dem Bewirkten auf die Ursache geschlossen werden kann. Somit kann Äquivozität den Weg zur Wahrheit nicht gewähren. Trotz der logischen Notwendigkeit dieser These versucht Thomas, nach dem Grund der Beziehung zwischen der Ursache und dem Verursachten in der Ähnlichkeit und Äquivozität zu suchen.908 Der Zusammenhang von Ähnlichkeit und Äquivokation weist das Merkmal (d) auf. Der Gebrauch der Äqui­ vokation für die Behauptung der Ähnlichkeit in den Gegenständen ist nach Thomas allerdings kontrovers: zum einen wird ihre Plausi­ bilität in Fällen bezweifelt, wo durch die Äquivokation bestimmte Ähnlichkeit zwischen dem Bewirkten und der Ursache zu fehlerhaften wissenschaftlichen Ergebnissen führen kann; zum anderen ist die Äquivokation für bestimmte Fälle, wie das aristotelische Tier-Beispiel das gezeigt hat, geeignet. Darf man von äußerlichen Ähnlichkeiten, die zwischen einem wirklichen und einem gemalten Tier festgestellt und mit äquivoken Namen bezeichnet werden, epistemisch relevan­ ten Gebrauch machen? Nach Thomas erlaubt die Äquivokation in solchen Fällen, eine Distinktion zwischen Imaginärem und Realem zu machen. Auf eine bestimmte Ähnlichkeit kann man auch in den Fällen nicht ganz verzichten, wo eine bestimmte Bezeichnungsweise dem ontologischen Bereich des Seienden zugeordnet wird. Thomas zeigt dies mithilfe des Hund-Beispiels, in welchem es etwa nicht nur um einen Haushund oder Meerhund, sondern auch um den Stern »Hund« gehen kann; so kann der Begriff »Hund« auf verschiedene semantische Felder bezogen werden. Die genannten Fälle sind bei

907 C.G.I, 33: »[…] nam cognitio rerum non dependet ex vocibus, sed ex nomi­ num ratione.« 908 C.G.I, 29; 31; 33.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Thomas jedoch vielmehr als Grenzfälle zwischen äquivoken und analogen Namen zu fassen.909 Fassen wir noch einmal alle drei Verwendungsweisen der Namen zusammen: Wenn etwas (aliquid) von vielen Gegenständen auf univoke Weise ausgesagt wird, ist in jedem einzelnen die primäre Bedeutung, etwa das Tier-Sein in jeder Tier-Art, zu erfassen. Wenn aber etwas (aliquid) von vielen Gegenständen so ausgesagt wird, dass sich die primäre Bedeutung nur auf ein Einzelnes bezieht, von dem ausgehend die anderen sekundären Einzelnen benannt werden (a quo alia denominantur), wird die ratio propria zur analogen ratio communis erweitert und der Name auf analoge Weise verwendet: so wird »gesund« von der Gesundheit des Lebewesens, der Arznei und der Speise ausgesagt, da in diesen ein Etwas (aliquid) vorhanden ist, das als Grund der Gesundheit der Vielen gilt.910 Der dritte Fall ist gegeben, wenn beispielsweise ein lebendes und ein totes Lebewesen jeweils »Lebewesen« oder eine Art von Flächen und einzelne Kreise nun »Kreis« genannt werden, und ist als äquivok zu verstehen. Diesen Fall erfasst Thomas als äquivok in einem weiteren Sinne, da darin auch die Analogie mit inbegriffen ist.911 Erst der zweiten Bedeutungsvariante – der Analogie – als dem Sonderfall spricht Thomas die semantische Priorität zu. Ohne die Klärung der Univokation und Äquivokation wäre eine vollständige Beantwortung der Analogie-Fragen nicht möglich. Da die Bevorzu­ gung der Analogie in der Bedeutungstheorie von Thomas eine weitere Unterscheidung zwischen Univokation und Äquivokation überflüssig macht, konzentriere ich mich nun auf die Diskussion um das Prob­ lem der Grenze zwischen der Sprachlogik und der Metaphysik, die Thomas mithilfe der Analogie näher untersucht.

909 S.Th.III, q.60, a.1. Am Beispiel etwa des Ausdrucks »Holz« zeigt sich, welche wis­ senschaftliche Rolle für Chemie oder Medizin physische und chemische Eigenschaften des »Holzes« spielen, und welche äquivoken Namen oder äquivok prädizierbaren Aus­ drücke oder Grenzfälle zwischen Äquivokation und Analogie zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzt werden können. 910 S.Th.I, q.16, a.6; q.13, a.10. 911 S.Th.I, q.13, a.10ad4. / In Met.IV, lect.1, n.535; VII, lect.10, n.1488.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

3.5.3 Analogie auf der Grenze zwischen (Sprach)Logik und Metaphysik Im vorliegenden Abschnitt werde ich erneut auf das Thomas’ Ver­ fahren Bezug nehmen, mit dem er die Analogie für die Fragen nach dem Strukturverhältnis zwischen der Ordnung extramentaler Gegenstände und der Ordnung des Verstandes, der Unterscheidung zwischen der Seinsebene und der begrifflichen Ebene heranzieht, und aus dieser Perspektive die Grenze zwischen dem metaphysischen und dem sprachlogischen Bereich zu überbrücken versucht. Hier müssen wir uns zwei Analogie-Modelle bzw. Relationsty­ pen vor Augen führen, die Thomas anhand des aristotelischen sanumund ens-Beispiels entwickelt. Diese sind noch einmal zu nennen:912 1) 2)

multa habent proportionem ad unum, wenn mehrere Gegen­ stände (analogata) in Relation zu einem Dritten (analogon) ste­ hen; unum habet proportionem ad alterum, wenn das eine in Relation zu einem anderen steht.913

Die Kenntnisse, die wir bezüglich der beiden Relationstypen aus dem Kapitel 2 mitbringen, werden in diesem Abschnitt auf das thematisierte Problem angewendet, da wir generell eine engere theo­ retische Anbindung der Semantik bzw. Sprachlogik und Metaphysik bzw. Ontologie anstreben. Zwecks dieser Aufgabe stelle ich in drei weiteren Analyse-Schritten die von Thomas ausgearbeiteten Ana­ logie-Modelle detailliert vor. Schematisch gesehen sehen diese wie folgt aus: In Schritt 1 gehe ich auf die Grundstruktur der beiden Analogie-Modelle bzw. Relationstypen ein (vgl. insb. 2.4.2); in Schritt 2 werde ich die Distinktion zwischen secundum esse und secundum intentionem von Thomas behandeln; schließlich werde ich in Schritt 3 die von Thomas herausgearbeiteten einschlägigen Strategien für die S.Th.I, q.13, a.5; q.13, a.10; q.16, a.6. / In Met.IV, lect.1, n.535, n.537–539; X, lect.8, n.2076–2077, n.2079–2081. // Met.Γ2, 1003a33–b1. Zur aristotelischen Unterscheidung von »viele zum einem« und »eines zum anderen«, die sich an diese zwei Relationstypen anschließt und die er anhand der sanum- und ens-Beispiele analysiert, siehe Abschnitte 2.4.1, 2.4.2. 913 Die erste Relation kann auch signum-Relation genannt werden. Z.B. ist Urin signum jener Gesundheit. Die zweite wird causa-Relation genannt. Vgl. Müller K., Thomas von Aquins Theorie und Praxis der Analogie. Der Streit um das rechte Vor­ urteil und die Analyse einer aufschlussreichen Diskrepanz in der »Summa theolo­ giae«. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 1983, S. 103 u.a. 912

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

logisch-semantische und die epistemisch-ontologische Deutung des thematisierten Grenzproblems darstellen. (1) Die logisch-semantische Konstruktion der beiden AnalogieModelle stellt formell einen anschaulichen, inhaltlich aber etwas komplizierten Zusammenhang dar. Da wir über Kenntnisse um beide Konstruktionen grundsätzlich aus 2.4.2 verfügen, werden wir uns hier nur auf ihre Relevanz in der neuen semantischen Situation eingehen. Im ersten Analogiemodell (multa ad unum) werden Analogate z.B. Arznei, Speise, Medizin und Urin, von der Gesundheit der Lebewesen her als »gesund« bezeichnet, da sie sich auf verschiedene Weise auf die Gesundheit beziehen. Das Sein aber, das allen Gegenständen zugrunde liegt, besitzen diese Gegenstände nicht in gleicher Weise. Anhand der Analyse der ens- und sanum-Beispiele, die bei Aristoteles gemeinsam mit der Frage nach der Einheit in der Vielheit, nach dem Wesen und der Einteilung der Wissenschaften behandelt werden,914 werden bei Thomas immer kompliziertere Beziehungen aufgrund der Analogie erschlossen. Diese Beziehungen legt Thomas semantisch wie folgt aus: Genau so wie die »Gesundheit« von allem Gesunden ausgesagt wird, so kann auf analoge Weise »wahr« (verum) von geschaffenen Gegenständen und Gott ausgesagt werden,915 weil die Gegenstände durch Partizipation an der einen einzigen göttlichen Wahrheit teilnehmen. Auf diese Weise bestimmte Beziehungen zwi­ schen den verschiedenen Seinsweisen in der Wirklichkeit werden zur Grundlage der wahren analogen Aussagen. Im zweiten Analogie-Modell des unius ad alterum geht man von anderen Voraussetzungen als im ersten Modell aus: Das eine steht nämlich im Verhältnis zu einem anderen. Aber wir wissen bereits, dass man auch im zweiten Modell zur Analogie gelangt, die es ermöglicht, dass die Medizin und der Körper »gesund« genannt werden, da die Medizin die Ursache der Gesundheit des Körpers ist. Met.Γ2, 1003a33–1003b6; Γ2,1004a29. Ich ziehe wieder die Analyse des klas­ sischen Aristotelischen Beispiels heran. Nach Aristoteles bildet das, was »gesund« genannt wird, verschiedene Beziehungen zur Gesundheit (das »Erste«) aus. Daher ist auch jene Wissenschaft als die »Wissenschaft von dem Ersten« zu bezeichnen. Diese Wissenschaft nennt Patzig sogar »paronymische Wissenschaft« und die Substanz des »Ersten Bewegenden« das »paronymische Erste«. Siehe Patzig G., Theologie und Ontologie in der »Metaphysik« des Aristoteles. Kant-Studien 52 (1961), S. 192 ff., 205. 915 S.Th.I, q.16, a.6. / In Sent.I, d.19, q.5, a.2: »[…] verum dicitur analogice de illis in quibus est veritas, sicut sanitas de omnibus sanis. […] Ergo videtur quod una sit veritas qua omnia dicitur vera.«

914

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

Auch das »ens« wird sowohl von der Substanz als auch vom Akzidens ausgesagt, da das Akzidens immer in einem bestimmten Verhältnis zur Substanz steht.916 Das unum wird im Verhältnis zum alterum als Grundlage für die Bestimmung der Kreatur-Gott-Relation als Proportionsanalogie bzw. Proportionalitätsanalogie gelegt. Dadurch wird die Rede von Gott und Kreatur ermöglicht (vgl. 2.4.2).917 In der Tradition, die die beiden seit Aristoteles bekannten Modelle als Analogie- oder Äquivokations-Modelle behandelt, lässt sich ersehen, worin die Grenz-Probleme zwischen dem logischsemantischen und dem ontologischen Bereich bestehen, und wie die Grenzen zwischen Metaphysik und Sprachlogik zu überbrücken sind. Eine derartige Überbrückung ist im vollen Maße aber solange nicht möglich, wie die Hauptdistinktion zwischen secundum esse und secundum intentionem nicht zur Sprache gebracht worden ist. (2) Distinctio zwischen secundum esse und secundum inten­ tionem kann dazu beitragen, die Selbstständigkeit beider Bereiche (Sprachlogik und Metaphysik) und ihren Zusammenhang möglichst deutlich zu erweisen. Wir können uns an die Distinktion selbst besser annähern, wenn wir beide Ausdrücke anhand folgender epistemischontologischer Argumente von Thomas kurz erläutern. Zum Ausdruck secundum esse:918 Wenn das Auge den Stein erkennt, sagt Thomas, erkennt es den Stein nicht dem Sein gemäß, das dieser Stein im Erkennenden bzw. im Auge besitzt (non secundum esse quod habet in oculo), sondern durch das Erkenntnisbild des Steins, das sich im Auge befindet, also dem Sein gemäß, das der Stein außerhalb des Auges besitzt (secundum esse, quod habet extra oculum). So erkennt der Verstand den Stein dem Sein nach (secundum esse), das er im Verstand hat, in seiner eigenen Steinnatur; der Reflexion gemäß denkt der Verstand demnach über Erkenntnis selbst nach. Mithin wird der Ausdruck secundum esse von Thomas gebraucht, der für die Bezeichnung sowohl der Existenzweise als auch des vom Verstand erkannten Seins gilt. Aufgrund der Konversion des Seins der Gegenstände in das gedachte bzw. intentionale Sein wird der Gegenstand der Logik selbst konstituiert und spezifiziert.

916 917 918

C.G.I, 34. S.Th.I, q.13, a.5. S.Th.I, q.14, a.6ad1.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Zum Ausdruck secundum intentionem: Der Ausdruck secundum intentionem (sowie secundum rationem919) ist für die Präzisierung des Gegenstandes der Logik geeignet (vgl. 3.3.1). Beide Ausdrücke (secundum intentionem und rationem) gehören zum Bereich der Logik als logische Begriffe oder Auffassungen (secundum diversas rationes vel intentiones logicas).920 In der Hinsicht, dass ratio intellecta und intentio der Weise des Erkennens folgen, stimmen sie überein und weisen auf den Abstraktionsprozess des Verstandes hin. Wie wich­ tig sowohl die Verbindung als auch die Differenzierung zwischen secundum esse und secundum intentionem für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprachlogik und Metaphysik bzw. Ontologie ist, geht aus dem dritten Schritt hervor, in dem es sich um die drei von Thomas entwickelten Strategien als Spezifizierung der erwähnten Ausgangsdistinktion handelt. (3) Die drei Strategien bei Thomas zielen zunächst auf die Diskussion zwischen Logikern und Metaphysikern ab. In diese Diskussion tritt Thomas mit der Hervorhebung der Seins- und Signifikationsdifferenzen ein. Er hat nicht die Absicht, direkt in die Auseinandersetzung mit Logikern oder Metaphysikern zu treten, sondern macht sich daran, zwei Gesichtspunkte (eines Metaphysi­ kers und eines Logikers) hervorzuheben, um die Grenzüberbrückung zwischen Logik und Metaphysik besser zu gestalten. Die Analyse des analogen Gebrauchs der Namen in den zwei oben erwähnten Analogie-Modellen wird anhand der Distinktion zwischen secundum esse und secundum intentionem und ihrer Modifikation mittels der drei exemplarischen Strategien ausgeführt. Für die erste Strategie (1) secundum intentionem, et non secundum esse921 verwendet Thomas das sanum-Beispiel. Die erste Strategie, die die Bedeutung analoger Ausdrücke und ihre logische Grundlage zu klären sucht, konzentriert sich auf den Begriff una intentio, dem 919 S.Th.I, q.13, a.12; q.76, a.3. Secundum intentionem ist nicht mit dem Ausdruck secundum rationem identisch und darf nicht mit diesem verwechselt werden. Intentio und ratio ähneln sich einander in der Hinsicht, dass es um die Abstraktion der Begriffe von der Seinsweise der aufgefassten Dinge geht. 920 S.Th.I, q.76, a.3ad4. 921 In Sent.I, d.19, q.5, a.2: »[…] vel secundum intentionem tantum, et non secundum esse, et hoc est quando una intentio refertur ad plura per prius et per posterius, quae tamen non habet esse nisi in uno, sicut intentio sanitatis refertur ad animal, urinam, et dietam diversimode, secundum prius et posterius, non tamen secundum diversum esse, quia esse sanitatis non est nisi in animal.«

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

die Beziehung »ad plura« aufgrund der per-prius-per-posterius-Signi­ fikation logisch zukommt.922 Demnach wird der Ausdruck »intentio sanitatis refertur ad animal, urinam, et dietam« als analoger Aus­ druck bezeichnet und die per-prius-per-posterius-Signifikation wirkt als die logisch-semantische Regel der Analogie. Bei dieser Strategie unterscheidet Thomas (a) den metaphysischen Aspekt und (b) den logisch-semantischen Aspekt. Der ersten Strategie gemäß ist der metaphysische Aspekt (a) nicht völlig aus den Signifikationsweisen zu eliminieren. Da die Gesundheit ihr Sein nur im Lebewesen (Supposi­ tum) hat, setzt dies die Einheit der Relate entsprechend dem Seinsver­ hältnis voraus. Der logisch-semantische Aspekt (b), der hier hervor­ gehoben wird, bedeutet, dass die Signifikation der (un)vollständigen Erkenntnis folgt, da die Zeichen (Namen, Termini) nicht vollständig der Seinsweise der Gegenstände (non sequuntur modum essendi) ent­ sprechen können.923 Bei der ersten Strategie – secundum intentionem, et non secundum esse – rücken also nicht die ontologischen, sondern die logisch-semantischen Regeln der Analogie in den Vordergrund. Das Verhältnis entsteht zwischen der Intention der Gesundheit (una intentio) und allen als »gesund« bezeichneten Gegenständen (Relate): Gesundheit ist die Bezeichnung des Zustands eines Lebewesens (Ana­ logon), das Adjektiv gesund bezeichnet aber das Verhältnis mehrerer Gegenstände (Analogate: Arznei, Speise, Urin u.a.) zu ihrem Ana­ logon. Gesund supponiert nämlich für die Analogate, die sich zur Gesundheit eines Lebewesens beziehen und dadurch mit »gesund« bezeichnet werden. Den logisch-semantischen Gesetzen der Analogie nach werden die Verhältnisse nicht der Verschiedenheit des Seins gemäß (der Gesundheit, die nur im Lebewesen ist), sondern der Definition von Gesundheit (eines Lebewesens) gemäß zugeordnet, da diese (Gesundheit) in Definitionen aller einzelnen (Analogate) impliziert wird.924 Dem per-prius-per-posterius-Signifikationsprinzip nach kommt dem Lebewesen (Analogon) die Grundbedeutung des analogen Namens »gesund« per prius zu; die Analogate wie Arznei, Die Analogie und die per-prius-per-posterius-Signifikation können hier, wie auch an anderen früher behandelten Stellen, gleichgesetzt werden. Siehe Ashworth E. J., Signification and Modes of Signifying in Thirteenth-Century Logic: A Preface to Aquinas on Analogy. Medieval Philosophy and Theology 1 (1960), S. 39–67. // Park S.-Ch., Die Rezeption der mittelalterlichen Sprachphilosophie, S. 236 ff., 362 ff., 443 ff. 923 S.Th.I, q.13, a.9ad2. 924 S.Th.I, q.13, a.6. 922

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Speise, Urin u.a. können der Gesundheit des Lebewesens nach per pos­ terius »gesund« genannt werden. Es handelt sich um keine beliebigen Intentionen, denn die Intentionen folgen der Weise des Erkennens. Gemäß der Theorie der ersten (primae intentiones: homo, animal, corpus, urina) und zweiten Intentionen (secundae intentiones: species, genus, sanitas) – wenn man die Erörterung aus dem Abschnitt 3.3.1 im Auge behält – können verschiedene Wortstufen bestimmt werden.925 Diese Stufen zeigen sich auf der Ebene der Sprache auf die Weise, wie z.B. im sanum-Beispiel das Wort »gesund« ad dietam beigelegt wird. Es geht also um dasjenige Wort, das als die erste Intention ihren extramentalen Gegenstand – seiner Essenz entsprechend – bezeichnet. Das Wort, das die Intention der Gesundheit (sanitas) bezeichnet, ist das Wort der zweiten Intention. Die zweite Intention bzw. der metasprachliche Begriff repräsentiert den extramentalen Gegenstand als denjenigen, der vom Intellekt erkannt, abstrahiert und in seiner universellen Bedeutung erfasst wird.926 Die zweite Strategie (2) secundum esse, non secundum intentio­ nem927 ordnet die analogen Beziehungen nicht der Intention, son­ dern vor allem dem Sein nach. Zu dieser Strategie gehört, dass die metaphysische Analogie als Grund der Beziehung »plura parificantur in intentione alicujus communis« (»mehrere werden als Gleiche in Hinsicht auf ein Gemeinsames behandelt«) aufgegriffen wird. Auch bei dieser Strategie ist es notwendig, dass das gemeinsame Element zwischen mehreren Gegenständen und einer Intention bestimmt wird. Man sieht aber gleich folgendes Problem: dieses Element hat sein Sein nicht in allen Gegenständen dem gleichen Sinngehalt (ratio S.Th.I, q.13, a.9ad2. De Pot., q.7, a.6, a.9. Z.B. Radulphus Brito ist der Meinung, dass durch beide Intentionen der Intellekt auf dieselbe res kommt. Das vom Intellekt Erkannte sind nicht die Intentionen, sondern die res (res cognita). Vgl. Radulphus Brito, Quaestiones super libros Topicorum Boethii. (Eds.) N. J. Green-Padersen, J. Pinborg. Cahiers de l’Institut du Moyen-age Grec et Latin. 1978, I, q.17; q.27. / Radulphus Brito, Quaes­ tiones super Priscianum minorem. Hrsg. und ed. H. W. Enders, J. Pinborg. StuttgartBad Cannstatt: frommann-holzboog, 1980, p.I, lib.1 (Priscianus XVII), q.11, 3–5, S. 129–130; q.14, 2, S. 137; q.21, 9, S. 164–165; p.II, lib.1, q.40, S. 231. 927 In Sent.I, d.19, q.5, a.2ad1: »[…] et hoc contingit quando plura parificantur in intentione alicujus communis, sed illud commune non habet esse unius rationis in omnibus, sicut omnia corpora parificantur in intentione corporeitatis. /../ Unde quantum ad metaphysicam et naturalem, qui considerant res secundum suum esse, nec hoc nomen corpus, nec aliquid aliud dicitur univoce decorruptibilibus et incorruptibi­ libus […].« 925

926

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

communis) nach. Denn, wenn man sagt, alle Körper können als gleiche in Bezug auf die Intention der Körperhaftigkeit bestimmt werden, ist dies eine univoke Bestimmung. Diese Bestimmung führt aber direkt zu einem fraglichen Umstand. Sollten alle Körper – vergäng­ liche und unvergängliche – auf univoke Weise bezeichnet werden? Dies entspricht vor allem nicht der Definition der Univokation, die besagt, dass mit ein und demselben Wort mehrere Gegenstände, die den gleichen Sinngehalt haben, in voller Eindeutigkeit ausgedrückt werden. Ist dem nicht so, können die Gegenstände nicht auf univoke Weise erfasst werden. Wenn man sagt, dass hier statt Univokation die Analogie zur Verfügung steht, entstehen gleich zu klärende metaphy­ sische und sprachlogische Fragen. Es ist ganz offenbar, dass es hier keine eindeutige Antwort geben kann. Zu dieser Frage herrschen zwei unterschiedliche Ansichten, die des Logikers und die des Metaphysi­ kers, die Thomas mithilfe des corpus-Beispiels vorgeführt hat. (A) Die »Logiker« (thomanischer Fachausdruck), die sich mit Intentionen als ihrem zentralen Gegenstand beschäftigen,928 bezie­ hen die Intentionen auf die Körperhaftigkeit (aller als »corpus« bezeichneten Gegenstände) auf univoke Weise. Der Sicht der Logi­ ker zufolge sollen vor allem allgemeine Eigenschaften (proprietates communes) der bezeichneten Gegenstände als Grundlage der logi­ schen Distinktionen berücksichtigt werden. Tut man das, wird damit die Voraussetzung der Erkenntnis erfüllt, denn die Entitäten (hier: vergängliche und unvergängliche Körper) können nur insoweit unter­ sucht werden, als sie die allgemeinen Eigenschaften besitzen. Da die allgemeinen Eigenschaften die Kategorisierung der Gegenstände ermöglichen, werden aus ihnen alle intentionalen Größen wie inten­ tiones in abstracto und concreto abgeleitet.929 Die Logiker beschäftigen sich vorwiegend mit der Bestimmung der Referenz des Zeichens. 928 Die Intentionen sind nicht nur Gegenstand heftiger Diskussionen zwischen Logi­ kern und Metaphysikern. Pinborg zeigt die entscheidende Bedeutung der Frage nach den Intentionen für die Entwicklung der mittelalterlichen Logik auf. Die IntentionesLogik wird sowohl von Ockhamisten und (anderen) Nominalisten, da sie keine Medien zwischen Zeichen und Gegenstand annehmen wollen, als auch von Realisten und Averroisten attackiert, die ihren Grundeinsichten nach die Beziehungen zwischen entia extra animam und entia rationis ohne jedwede Hypostasierung akzeptieren. Vgl. Pinborg J., Die Logik der Modistae, S. 60. / Pinborg J., Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, S. 36. // Wilhelm von Ockham, OPhI, Summa logicae, I, cap.12, 3–77, S. 41–44. 929 Vgl. Pinborg J., Die Logik der Modistae, S. 49 ff.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Wenn Logiker sich auch dem Referenten (res) – etwa im Fall des corpus-Beispiels – zuwenden, verbleiben sie dennoch bei der Erör­ terung der ersten Intentionen, die ihren Gegenstand auf univoke Weise bezeichnen.930 (B) Die »Metaphysiker« (thomanischer Fachausdruck), die die Gegenstände ihrem Sein nach erörtern, stellen fest, dass das Sein nicht in allen Körpern den gleichen Sinngehalt (ratio) hat. Die Metaphysi­ ker stoßen allerdings auf Schwierigkeiten, wenn sie die Bezeichnung »corpus« auf vergängliche und unvergängliche Körper auf univoke Weise anwenden. Die Lösung eines Aristoteles, der Thomas hier nachgeht,931 zeigt, dass die Metaphysiker andere Verwendungsweisen der Namen zu suchen haben als diejenigen, die von Logikern gesucht werden, um das Vergängliche und Unvergängliche im Sinne der Relationen zwischen Termini und Supposita möglichst präzise auszu­ drücken. Die Annahme der Analogie wäre nun hier nach Thomas eine adäquatere Lösung als die Univokation. Als Thomas von zwei Lösungen von demselben Problem spricht, hebt er als Kriterium das Prinzip der Wissenschaftlichkeit (principium scientiae) hervor. Thomas wählt hier wieder den in den Wissenschaf­ ten praktizierten Weg des Ausschlusses (per viam remotionis),932 den bereits Aristoteles anhand des corpus-Beispiels angewendet hat, um 930 In Sent.I, d.19, q.5, a.2ad1. Siehe dazu Spade P. V., The Semantics of Terms. In: Kretzmann N., Kenny A., Pinborg J. (Eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge: CUP, 1982, S. 188–196. // Vgl. Pinborg J., Die Logik der Modistae, V, S. 57; 65 ff.. Nach Pinborg betrachtet der Logiker intentio concreta, d.h., der Logiker »[betrachtet] nicht reine Formen und Bedeutungen, sondern auch Refe­ rente (res), und deshalb kann er semantische Vergleiche anstellen«. 931 Met.I10, 1058b26–35; 1059a9–14. Hier ist auf eine lange Diskussion um die Frage zu verweisen, ob Aristoteles’ Kategorien als Werk der Logik (etwa bei Androni­ kos, Alexander von Aphrodisias, Plotinus sowie Boethius) oder der Metaphysik (Wil­ liam von Champeaux, Abaelard) zu interpretieren ist, und wie Aristoteles’ Auffassung der Kategorien in der Metaphysik zu verstehen ist. Darin nimmt Thomas die Position ein, dass Aristoteles in Kategorien als Logiker spricht, in Metaphysik aber als Meta­ physiker. Siehe dazu Te Velde R. A., Metaphysics, Dialectics and the Modus Logicus according to Thomas Aquinas. Recherches de théologie ancienne et médiévale 63 (1996), S. 15–35. // Pini G., Categories and Logic in Duns Scotus. An Interpretation of Aris­ totle’s Categories in the Late Thirteenth Century. Leiden [u.a.]: Brill, 2002. 932 S.Th.I, q.88, a.2; a.2ad2, ad4. Thomas zitiert in diesem Zusammenhang Aristo­ teles (De Caelo, I, cap.3, 270a13 ff.) und Dionysius (Cael. Hier., cap.1). Dionysius versteht die Unterscheidung von Materiellem und Immateriellem so, dass der mensch­ liche Verstand, der die himmlischen Körper nicht erkennen kann, diese auf die Weise der materiellen Körper erfasst.

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

die Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit der Entitäten zu bestim­ men. Thomas sieht den Lösungsweg des Problems wie folgt: z.B. unvergängliche Himmelskörper werden durch die Verneinung (per negationem) derjenigen Eigenschaften bestimmt, die ihnen unterge­ ordnete (vergängliche) Körper besitzen. Die Frage aber, ob (und wie) immaterielle und materielle Subtanzen bei diesem Weg miteinander übereinstimmen, bleibt immer noch nicht vollständig beantwortet. Eine Übereinstimmung wäre durch die Bestimmung der logischen Gattung möglich. Im Fall der natürlichen Gattung ist das jedoch nicht möglich. Setzt man den Unterschied zwischen den logischen und natürlichen Gattungen fest, kann man bezüglich der Ausdrücke wie »corpus« mit Thomas Folgendes sagen: Corpus ist nicht auf das Individuum, sondern auf die Gattung anwendbar.933 Die logische Bestimmung kann demnach als die Einheit der logischen Gattung, nicht als die Einheit der Natur aufgefasst werden. Eine derartige Vor­ gehensweise demonstriert also, dass der Untersuchungsgegenstand der Logiker – die Intentionen – von materiellen Bedingungen und von verschiedenen Existenzweisen abstrahierte logische Einheiten der Gattung sind. So kann man, und das ist logisch fehlerfrei, die Bestim­ mung vergänglicher und unvergänglicher Körper formal mit einem gemeinsamen Ausdruck wie »corpus« auf univoke Weise bezeichnen. Auf diese Weise stimmen die immateriellen geschaffenen Substanzen und die materiellen Substanzen in der logischen Gattung, nicht aber in der natürlichen Gattung überein.934 Die Diskussion zwischen Logikern und Metaphysikern ist damit nicht abgeschlossen. Thomas weist nach, dass die als Intentionen behandelten Benennungen nicht das einzige Kriterium dafür sind, die Zugehörigkeit der Gegenstände zu einer gemeinsamen Gattung zu behaupten. Da das begrifflich bestimmte Wissen eine logische Form hat, denkt der Intellekt die Körper unabhängig von der materiellen Beziehung zur Materie in der Einheit der Form (oder Wesenheit), also als Universale bzw. als Spezies; das Sein und Wesen der Gegenstände wird in dieser Distinktion aber metaphysisch bzw. ontologisch erfasst. 933 Treffend ist hier der Hinweis von Pinborg, dass, wenn man fragt, was im 13. Jahr­ hundert etwa mit dem Terminus »Mensch« bezeichnet wurde, auf Roger Bacons Sicht zu verweisen ist, der damit das Individuum versteht. Thomas versteht hier mit dem »Menschen« vielmehr Spezies. Vgl. Pinborg J., Bezeichnung in der Logik des XIII. Jahrhunderts, S. 245. 934 S.Th.I, q.88, a.2ad4.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

Die Lösung findet Thomas in der Analogie bzw. in der per-priusper-posterius-Signifikation. Sie ermöglicht, materielle und immateri­ elle, vergängliche und unvergängliche Körper auf besondere Weise zu bezeichnen: per-prius werden die Wesenheiten der erkannten materi­ ellen (vergänglichen) Dinge mit dem Ausdruck »corpus« bezeichnet und dieser Ausdruck per-posterius auf analoge Weise den immateri­ ellen, unvergänglichen Dingen beigelegt. So wird die ontologische Bestimmung der Wesenheiten der res im Zusammenhang mit der Erkenntnisweise und Signifikationsweise – der zweiten Strategie gemäß – zusammengefasst. Jetzt wenden wir uns der dritten Strategie (3) secundum esse et secundum intentionem und der Sonderstellung der Analogie in dieser Strategie zu.935 Die Aufgabe der dritten Strategie ist eine andere als die der ersten und zweiten Strategie. Es geht nun um die Verschärfung der ontologischen und sprachlichen Unterschiede. Gerade in dieser Verschärfung findet Thomas die Lösung des gan­ zen Komplexes schwierigster Probleme bezüglich der Anwendung sprachlicher Ausdrücke auf Gott und Kreatur. Die weit diskutierte Durchführbarkeit dieser Anwendung durch die Analogie bei Thomas ist der Gegenstand für die anschließende Diskussion. Warum sind die Grundlagen für die Anwendung der gemeinsa­ men sprachlichen Ausdrücke auf Gott und Kreatur ausschließlich der dritten Strategie zu entnehmen, und warum fasst Thomas die Strate­ gien (1) und (2) nicht als Alternativen für diese Aufgabe auf? Das sind Fragen, für die eine befriedigende Begründung nicht gegeben werden kann. Wendet man sich z.B. der Strategie (1) zu, bezeichnet man unter dem Begriff (wie »sanitas«) die vom Verstand erfasste Wesenheit des Gegenstandes bzw. die gemeinsame Natur (natura communis) des Gegenstandes. Sind solche Begriffe (wie »sanitas«) Begriffe der Naturgesetze bzw. sagen sie eine gemeinsame Natur aus, die in jedem Gegenstand auf irgendeine Weise vorhanden ist bzw. (ein) Sein 935 S.Th.I, q.13, a.9. / In Sent.I, d.19, q.5, a.2ad1: »Vel secundum intentionem et secundum esse, et hoc est quando neue parificatur in intentione communi, neque in esse, sicut ens dicitur de substantia et accidente, et de talibus oportet quod natura communis habeat aliquod esse in uno quoque eorum de quibus dicitur, sed differens secundum rationem majoris vel minoris perfectionis. Et similiter dico, quod veritas, et bonitas, et omnia hujusmodi dicuntur analogice de Deo et creaturis. Unde oportet quod secundum suum esse omnia haec in Deo sint, et in creaturis secundum rationem majoris perfectionis et minoris, ex quo sequintur, cum non possint esse secundum unum esse utrobique, quod sint diverse veritates.«

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3.5 Bedeutungen: univoca, aequivoca, analogia

hat, könnten sie für die Anwendung auf Gott und Kreatur geeignet sein. Thomas wählt aber die erste Strategie nicht für die Lösung der Gott-Kreatur-Frage. Eine andere Alternative wäre die Strategie (2). Diese Alternative besteht darin, dass die gemeinsamen Ausdrücke wie »corpus« den unvergänglichen und vergänglichen Dingen beigelegt werden, aufgrund dessen, dass die Wesenheiten verschiedener Arten der logischen Einheit der Gattung angehören. Wir finden die Argu­ mentationen von Thomas gegen Übertragungsweisen der Ausdrücke auf Gott und Kreatur der Strategie (1) und (2) gemäß bereits in obigen Erörterungen: Gott und die geschaffenen Dinge stimmen weder in der Form noch in der Wesenheit überein,936 sie können weder zu einer Gattung noch zur durch Abstraktion gebildeten gemeinsamen Intention gehören. Für die weitere Erklärung greift Thomas also die dritte Strategie auf, die durch die Verschärfung der ontologischen und sprachlichen Unterschiede und die Heranziehung der Vollkommenheiten charakte­ risiert ist.937 Er weist zunächst auf die ontologische Tatsache, nämlich auf das Sein, hin, das in jedem Gegenstand nicht auf gleiche Weise vorhanden ist. Demnach kann man von »größeren« und »kleineren« Vollkommenheiten sprechen. Er nennt die Wahrheit und die Güte als diejenigen, die Gott und die geschaffenen Gegenstände ihrem Sein nach, d.h. in unterschiedlichem Grade, haben. Es ist aber nicht möglich, den völlig eindeutigen Nachweis für die göttlichen Vollkom­ menheiten (perfectiones in Deo) zu erbringen, da der göttliche Intellekt diese durch sich selbst erkennt, und sie dem menschlichen Intellekt nicht zugänglich sind. Der menschliche Intellekt kann sie also nicht unmittelbar erfassen, sondern lediglich so, wie sie in der Kreatur gegeben sind.938 Die Lösung dieser Schwierigkeit ist nach Thomas weder durch die Univokation oder Äquivokation möglich, da es hier weder um bloße Wortgleichheit noch um einen gemeinsamen Sinn­ gehalt einer gemeinsamen Gattung geht.939 Es bleibt schließlich nur S.Th.I, q.13, a.11. In Sent.I, d.19, q.5, a.2ad1. 938 S.Th.I, q.14, a.2. 939 Wirft man einen Blick in die Geschichte dieses Problems, ist hier auf eine prinzi­ piell unterschiedliche Antwort zu verweisen. Wenn nach Ockham in einer conceptus de conceptu Prädikation derselbe Begriff von Gott und Kreatur ausgesagt wird, meint er damit keine reale Gleichheit zwischen dem Wesen Gottes und den geschaffenen Gegenständen, sondern lediglich eine konzeptuelle Einheit der Ausdrücke. Die Begriffe, die von Gott und Kreatur ausgesagt werden, sagen etwas univok Gemeinsa­ 936 937

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

die dritte Möglichkeit, die dieser epistemischen und logisch-seman­ tischen Aufgabe des Intellekts gerecht wird, die Analogie. Welche Folgen hat hier aber die Anwendung der Analogie? Als hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang ein anderer Text des Thomas,940 in dem er behauptet: Wenn von geschaffenen Gegenständen jene Vollkommenheit ausgesagt wird, ist die bezeich­ nete Vollkommenheit in Gott als etwas begrifflich und sachlich Ver­ schiedenes zu verstehen. Thomas führt dabei zwei Arten von Regeln ein, um den ontologischen von einem semantischen Vollkommen­ heitsstatus zu unterscheiden. Die Regel, die für die Bestimmung des ontologischen Vollkommenheitsstatus eingesetzt wird, lautet: Wenn mit »wahr« ein geschaffener Gegenstand bezeichnet wird, wird somit eine Vollkommenheit bezeichnet, die nicht auf vollstän­ dige Weise bestimmt werden kann, da sie von Wesen und Sein dieses Gegenstandes verschieden ist. Wenn man diesen Namen auf Gott anwendet, soll dagegen als »wahr« nicht etwas Verschiedenes von seinem Sein und Wesen verstanden werden. Die Regel für die Bestimmung des semantischen Vollkommenheitsstatus wird wie folgt formuliert: Wird mit »wahr« ein geschaffener Gegenstand bezeichnet, so wird damit das Bezeichnete auf vollständige Weise bestimmt und erfasst; wendet man aber den Namen auf Gott an, bleibt das Bezeich­ nete unbegriffen und reicht über die Bedeutung des Namens hinaus (es handelt sich in diesem Fall um eine Bedeutungserweiterung).941 Diese Bezeichnungsweise entspricht der unvollkommenen Teilhabe der Kreatur an der göttlichen Vollkommenheit(en), die bereits in der Bedeutung dieser Namen mitenthalten ist bzw. sind.942 Daher kann man, wie bereits gezeigt, auf eine analoge Bedeutung der Namen wie »wahr« schließen, die von Gott und Kreatur auf eine einzige denkbare mes oder auch Äquivokes aus. Wilhelm v. Ockham, OThIX, Quodl.V, q.14, S. 536– 538; Quodl.VI, q.5, S. 599–604. // Pinborg J., Textsemantische Probleme des Mit­ telalters, S. 147. 940 S.Th.I, q.13, a.5. 941 Anhand dieser subtilen Frage nach Vollkommenheiten und Wahrheit lässt sich zeigen, dass sich hier in der Tat ein allgemeines Verständnis des Korrespondenzbe­ griffs bildet, der sich in Thomas’ Formulierung der Wahrheit »veritas est adaequatio rei et intellectus« niederschlägt. Das mit dem Begriff adaequatio bezeichnete Verhältnis zwischen dem menschlichen Intellekt und der Wirklichkeit wird in der Perspektive der Korrespondenztheorie der Wahrheit von Thomas entworfen. 942 S.Th.I, q.13, a.3ad1: »[...] quod quaedam nomina signifikant hujusmodi perfectio­ nes a Deo procedentes in res creatas, hoc modo quod modus imperfectus quo a creatura participatur divina perfectio includitur in ipso nominis significato […].«

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3.6 Fazit

Weise – auf analoge Weise, der per-prius-per-posterius- Signifikation gemäß – ausgesagt werden.943 Nach Pinborg entwickelt sich durch derartige Namensgebungen die ganze semantische Tradition des Mit­ telalters.944 Zusammenfassend gesagt, vergleicht Thomas mittels der Ana­ lyse der drei Strategien nicht bloß zwei unterschiedliche, von Logikern und Metaphysikern, vertretene Positionen. Das von ihm themati­ sierte Problem ist ein logisch-semantisches und ein ontologisches zugleich. Beide Positionen spielen in der Diskussion um die univoke, äquivoke und analoge Verwendungsweise sprachlicher Ausdrücke eine wesentliche Rolle. Die von den Logikern gewonnene logische Einheit ist in der Regel entweder die der Univokation, die als der gemeinsame Sinngehalt (ratio communis) einer gemeinsamen Gat­ tung verstanden wird, oder die der Äquivokation. Das von Thomas vertretene Konzept der Einheit ist der Deutung der Distinktion secundum esse et secundum intentionem mit der Einbeziehung der Strategien (1), (2) und (3) zu entnehmen. Es ist die Einheit der Analogie, die es erlaubt, die ontologischen und logisch-semantischen Unterschiede und paradoxen Gedankengänge zu verbinden. Dass Thomas einen besonderen Wert auf den Zusammenhang beider Ebenen, den der Metaphysik bzw. Ontologie und den der Sprachlogik legt, und die Analogie zu diesem Problem als unentbehrlich erklärt, hat dazu geführt, dass die Grenze zwischen metaphysischem und logi­ schem Bereich durch Analogie nicht mehr unüberbrückbar erscheint. Die von Thomas entwickelte Semantik als eine Variante lateinischer semantischen Theorien hat dies demonstriert.945

3.6 Fazit Wie die drei Strategien zeigten, kann eine einzige Grundlage analoger Ausdrücke nicht angegeben werden. Die Verankerung der Analogie hat unterschiedliche Grundlagen in der Wirklichkeit, in der Erkennt­ S.Th.I, q.13, a.5. Pinborg J., Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, S. 38. 945 Die Semantik der Hochscholastik (wenigstens die auf Aristoteles zurückgehende Semantik, die hier von Thomas vertreten wird), bezieht, indem sie zwischen modi essendi (Ebene des Seins) und modi significandi (Ebene der Sprache, Bezeichnungs­ weise) unterscheidet, auch ontologische und epistemische Aspekte ein. 943

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

nis der Wirklichkeit und ihrer Signifikationsweisen. Die sprachlichen Ausdrücke, die eindeutig (univok), als bloße Wortgleichheit (äqui­ vok) oder als Verhältnisgleichheit (analog) von den Gegenständen ausgesagt werden, richten sich nicht primär nach der Seinsweise der Gegenstände in der Wirklichkeit, sondern nach unserer Erkenntnis­ weise dieser Gegenstände.946 Die Rolle der Analogie liegt damit auf der Hand: sie ist dort gefragt, wo man nach dem Zusammenhang zwischen dem Wesen von – sinnliche Qualitäten besitzenden – Gegenständen in der Wirklichkeit, der erkannten Wesenheiten im Intellekt und der Signifikation des Erkannten sucht. Analogie wird dort benötigt, wo die Frage beantwortet werden soll, was das Erkannte eigentlich ist, was erkannt und benannt wird, und was das Benannte eigentlich bedeutet. Dass wir die Erkenntnisse auf dem komplexen Erkenntnisweg erlangen können, besagt nach Thomas noch nicht, dass wir auch imstande sind, diese Erkennt­ nisse adäquat zu verstehen und zu bezeichnen. Wenn die struk­ turellen Züge der dreistelligen nomen-ratio-res-Semantik manifest gemacht werden, kann man nach Thomas das Verhältnis zwischen dem Bezeichnenden und Bezeichneten durch die Bestimmung der nomen-ratio- und ratio-res-Relation auslegen. All diese Bestimmun­ gen ergeben sich im epistemischen und semantischen Raum, in welchem die sprachlichen Ausdrücke letztlich indirekt Gegenstände bezeichnen bzw. verständlich machen. Ein Beispiel: Eine, aus Form und Materie auf analogische Weise konstituierte, mit dem Namen »Mensch« bezeichnete Entität wird verständlich gemacht, wenn ein allgemeines Wesen bzw. die menschliche Natur (humanitas), an der verschiedene Träger dieser Natur teilhaben, erkannt und benannt ist; und die Bedeutung des Ausdrucks »weißer Mensch« kann nur dann verständlich gemacht werden, wenn die Wesenheiten von Menschen und das Wesen von Weiß erkannt und benannt sind. Es kann sich nur dann um einen konkreten weißen Menschen handeln, wenn die Beziehung sowohl der Eigenschaft weiß, als auch der artspezifischen essentiellen Eigenschaften (Lachen- und Denken-Können) zu ihrem Träger (hier: Mensch, suppositum) bestimmt ist. Die Frage nach dem (existierenden oder nicht-existierenden) Träger von Eigenschaften, dem suppositum, geht in die Frage nach dem Bezeichnungsbezug eines Wortes oder dem Bezeichnetem, dem 946 S.Th.I, q.13, a.9ad2: »Nomina enim non sequuntur modum essendi secundum quod est in rebus, sed modum essendi secundum est in cognitione nostra.«

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3.6 Fazit

significatum, über. Die verschiedenen uneindeutigen Verhältnisse zwischen sprachlichen Ausdrücken und den bezeichneten Gegenstän­ den werfen eine Menge semantischer Probleme der Bedeutung auf. Thomas greift hinter diesen Verhältnissen verborgene, seit der Antike systematisch diskutierte Probleme auf, die zeigen, dass die kontextuell bestimmten Namen in Bezug auf eine Wesenheit, aber in mehrfa­ cher Bedeutung – als univok, äquivok oder analog – verwendet wer­ den. Thomas verwendet philosophische Werkzeuge für die Analyse sprachlicher Äußerungen, Signifikationsweisen und -Relationen, und für die Bestimmung der Zusammenhänge zwischen den Ausdrücken der Sprache und dem durch sie angegebenen Bereich extramentaler Gegenstände. Diese haben eine ergänzende Bedeutung für sein onto­ logisch-epistemisches und semantisches Programm. Die wichtigsten von denen, die wir im Kapitel 3 vorgestellt haben, sind: (a) die Vorführung der Genese des Analogiebegriffs; (b) die Erläuterung der semantischen dreistelligen nomen-ratio-res-Relation; (c) die sprachlogische Unterscheidung zwischen Analogie, Univoka­ tion und Äquivokation und die Bevorzugung der Analogie gegen­ über der zwei letzten dort, wo die Identität oder Mehrdeutigkeit ausgeschlossen werden soll; (d) die Hinzunahme der per-prius-perposterius-Signifikation als der logisch-semantischen Regel der Ana­ logie, die die problematische Relation zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten aufgreifen lässt; (e) die Behandlung der von Thomas herausgearbeiteten semantischen Proportionstheorie bzw. Proportionsanalogie, die aus seiner Erkenntnisthese folgt; (f) die Begründung semantischer Strategien für die Deutung der Grenzpro­ bleme zwischen Metaphysik bzw. Ontologie und Sprachlogik. Zu (d) und (e): Zu drei Arten der Analogie – analogia proportio­ nis, proportionalitatis, attributionis – ist die darauf bezogene Diskus­ sion kurz zu erwähnen.947 Es handelt sich um Cajetan, der die Pro­ portionsanalogie fortgeführt hat, und diese als analogia attributionis kennzeichnet. Cajetan argumentiert seine Auffassung mit der äuße­ ren Kausalität, die zwischen Analogon und sekundären Analogata besteht. Er interpretiert sowohl Substanz-Akzidens Relation als auch Gott-Kreatur Relation auf die Weise der denominatio extrinseca als Attributionsanalogie. Die Attributionsanalogie wird in beiden Rela­ tionsarten als äußere Bezeichnung behandelt, d.h. als gut wird alles durch äußere Benennungen (und nicht etwa durch die Partizipation) 947

Siehe auch S. 118, Anm. 279.

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III. Stellung und Probleme der Semantik bei Thomas

genannt. Bei der Rede von der Proportionalitätsanalogie vermeidet Cajetan die Unterscheidung zwischen denominatio extrinseca und intrinseca, zwischen ratio propria und ratio communis, sodass ihm zufolge jedes Analogat für sich in einer ratio propria benannt wird. Er beachtet damit nicht die per-prius-per-posterius-Signifikation. Das Grenzgebiet, in welchem sich die logisch-semantische und ontolo­ gisch-epistemische Problematik trifft, hat er nicht erschlossen.948 Diese zwei Thesen – denominatio extrinseca als Grund der Attribu­ tionsanalogie und die Annahme der Proportionalität statt der perprius-per-posterius-Signifikation, die aus der Deutung der secundum intentionem und secundum esse bei Cajetan entstanden sind –, wurden fehlerhaft als »thomanische Thesen« verbreitet.949 Ich habe diese Frage nicht speziell diskutiert, da es erstens ausführliche kritische Analysen dieser Frage in der Forschungsliteratur gibt,950 und da ich zweitens von der Annahme ausgegangen bin, dass Thomas selbst ausdrücklich auf die Selbstständigkeit der Proportions-, Proportiona­ litäts- und Attributionsanalogie und nicht etwa auf die Unterschei­ dung zwischen »multorum ad unum« und »unius ad alterum« als Subdivisionen der Attributionsanalogie hingewiesen hat, durch die die Cajetansche Interpretation der Proportionsanalogie als Attributa­ tionsanalogie legitimiert werden könnte. Die Einführung und der Gebrauch der Analogie ist eine der wich­ tigsten Entscheidungen für ein System des philosophischen Denkens sowohl in der Antike bei Aristoteles als auch in der mittelalterlichen Philosophie bei Thomas und bildet bei dem letzten die Grundlage für den Aufbau einer realistischen Position und die argumentative Begründung der Opposition gegenüber Nominalismus oder/und Konzeptualismus. Die Folgen dieser Entscheidung reichen bis zur gegenwärtigen (»analytischen«) Philosophie und können bei Autoren Thomas de Vio Cardinalis Caietanus, De nominum analogia, cap.2; cap.3, S. 23–30. 949 Teuwsen R., Familienähnlichkeit und Analogie. Zur Semantik genereller Termini bei Wittgenstein und Thomas von Aquin. Freiburg; München: Alber, 1988, S. 132. 950 Darüber siehe McInerny R., The Logic of Analogy. The Hague: Nijhoff, 1961, S. 6 ff., 90 ff. // Lyttkens H., The Analogy between God and the World, S. 270 f. // Mondin B., The Thomas Aquina`s Philosophy in the Commentary to the Sentences. Hague: Nijhoff, 1975, S. 102–119. // Anzenbacher A., Analogie und Systemge­ schichte, S. 34 f., 59 f., 71, 103 ff. // Manser G. M., Das Wesen des Thomismus. Frei­ burg in Schweiz: Paulusverlag, (3) 1949, S. 426, S. 460 f. // Teuwsen R. Familien­ ähnlichkeit und Analogie, S. 382 ff., S. 400 f. 948

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3.6 Fazit

wie Brentano, Husserl, Bochenski, Russell, Putnam, Austin, Künne u.a. aufgezeigt werden. Die Analyse der drei semantischen Bedeutungen der Namen anhand der drei semantischen Strategien hat uns in gewisser Weise auf die Analyse der Prädikationsprobleme vorbereitet. Die Unter­ scheidung zwischen Bedeutungsweisen von univoken, äquivoken und analogen Namen liegt auch verschiedenen Prädikationsweisen zugrunde. Wir werden im Weiteren sehen, wie die bedeutungstragen­ den (Prädikats)Namen der Prädikatenlogik gemäß im Fall der analo­ gen Prädikation eingesetzt werden, was sich mithilfe der analogen Prädikation mitteilen lässt und welche Fragen mithilfe der analogen Prädikation überhaupt behandelt werden können.

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IV. Seinsprädikation

4.1 Prädikation und Analogie Warum stellt sich die Prädikationsfrage in Thomas’ Gebrauch der Analogie, wenn nach Pinborg »das XIII. Jahrhundert nicht speziell nach der Bedeutung eines Satzes gefragt hat; denn diese scheint sich restlos aus der Bedeutung der Termini zu ergeben«?951 Zum einen scheint mir die Behauptung von Pinborg nicht ganz gerechtfertigt. Zum anderen fordert Thomas’ Gebrauch des Analogiebegriffs, dass nicht nur die Beziehungen zwischen sprachlichen Zeichen (Worten, Begriffen) und extramentalen Gegenständen untersucht werden sol­ len, sondern auch, dass diese Beziehungen auf den Wahrheitswert hin geprüft werden können. Eine realistische metaphysische Auffassung, die wir als Aus­ gangspunkt bei der Behandlung der epistemischen und semantischen Fragen bei Thomas finden, besteht darin, dass es eine Struktur der extramentalen Wirklichkeit gibt, die unabhängig von unserem Den­ ken besteht. Damit wir diese Wirklichkeit aber erkennen und benen­ nen können, bedarf es der Herausbildung der Struktur der gedachten Wirklichkeit in einer angemessenen Sprachform: der Proposition (propositio).952 Was wird durch die Struktur der Aussage (propositio) erklärt und wie führt sie zur Bedeutung einer Proposition? Was

Vgl. Pinborg J., Bezeichnung in der Logik des XIII. Jahrhunderts, S. 251. In Met.V, lect.9, n.896. / S.Th.I, q.58, a.4. Mit dem Begriff »propositio« wird bei Thomas erst die gedachte, geschriebene oder ausgesprochene Aussage verstanden. Die Zusammensetzung, durch die das Prädikat mit dem Subjekt verbunden wird, nennt Thomas »propositio« oder »enuntiatio«. Eine Aussage muss erst logisch strukturiert sein und als eine prädikative Aussage dem Subjekt-Kopula-Prädikat-Schema entspre­ chen. Erst dann kann sie zu den univoken, äquivoken oder analogen Aussagen gezählt werden. Die in ihnen vorkommenden bedeutungstragenden Wörter gehören entweder zum Subjekt oder zum Prädikat. 951

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IV. Seinsprädikation

bedeutet Thomas’ These, dass das Wirklich-Sein und das gedachte Sein der Proposition nicht miteinander identisch sind?953 Zunächst wird aus dieser These ersichtlich, dass die Deutung der Probleme sowohl der Wort-Semantik als auch der Aussage-Seman­ tik mit der Grenzenüberwindung zwischen Metaphysik und Logik einhergeht. Viele Fragen, die in Kapitel 2 und Kapitel 3 bei der seman­ tischen Analyse der Wort-Bedeutungen behandelt wurden, tauchen erneut in diesem Kapitel bei der Analyse der kopulativ-prädikativen bzw. relationalen Aussagen auf. Die propositio soll nach Thomas eine angemessene, durch Sub­ jekt und Prädikat strukturierte relationale Sprachform haben, die das Reden, Denken und Schreiben ermöglicht. Die prädikative Aussage der Struktur »S ist P« weist alle Bestimmtheiten des Seins auf: die existentielle »S ist/existiert«, die prädikative »ist P« und die verita­ tive. Den vom Verstand bestimmten Prädikationsregeln gemäß ist das Aussage-Subjekt als Seinsträger (suppositum) materiell (materialiter), da Materie die tragende Grundlage des Trägers ist, und das Prädikat gehört zur Natur der Form bzw. ist formell (formaliter).954 Das, was der Verstand durch die Verbindung von Prädikat und Aussage-Sub­ jekt, die begrifflich Verschiedenes signifizieren, zum Ausdruck bringt, muss in der wahren Aussage einer Komposition von Form und Mate­ rie entsprechen. Die Aussagen lassen sich ontologisch und logisch verifizieren und falsifizieren. Für den Wahrheitswert der Aussagen ist es nicht entscheidend, ob diese affirmativ oder negativ sind, sondern ob die Prädikationsstruktur der Seinsstruktur entspricht. Thomas bestimmt seinen Standpunkt bezüglich der Seinsprädi­ kation mit der auf Aristoteles zurückgehenden These, dass sich »veri­ tas et falsitas in propositione« befinden.955 Den aussagenlogischen Prinzipien folgend, lauten die Hauptfragen der »praedicatio«: Wie S.Th.I, q.3, a.4ad2: »[...] esse dupliciter dicitur: uno modo, significat actum essendi; alio modo, significat compositionem propositionis, quam anima adinvenit coniungens praedicatum subiecto.« 954 S.Th.I, q.13, a.12; a.12ad2. Das, was der Verstand zum logischen Subjekt macht, fasst er auf der Seinsebene als den Seinsträger (suppositum) auf, und was der Verstand zum Prädikat macht, erfasst er als zur Natur der Form gehörig. 955 In Met.V, lect.9, n.895, n.896: »Ex hoc enim quod aliquid in rerum natura est, sequitur veritas et falsitas in propositione, quam intellectus significat per hoc verbum.« Wahrheit oder Falschheit der Proposition hängt nicht von der extramentalen Realität, sondern vom Konzept bzw. Verstand ab. Siehe dazu Bochenski J. M., Formale Logik, S. 176. 953

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4.1 Prädikation und Analogie

ist vom prädizierenden Verstandesakt, in dem sich die zusammenge­ setzte Struktur (propositio bzw. compositio) aus Subjekts- und Prädi­ katsterm konstituiert, die den bestimmten Seinsträger signifiziert und für denselben (Seinsträger) supponiert, auf eine ontologisch und logisch widerspruchsfreie aussagenlogische Wahrheit zu schliessen? 956 Was sind die Bedeutungen, die mit den verschiedenen Kopulae – »est«, »non est« oder »non non-est« (infinite Prädikation) – und in bestimmten Fällen mit den Quantoren – »einer«, »alle«, »jemand«, »mehrere« oder »nichts« – in einer Aussagestruktur verbunden wer­ den? Wir dürfen uns aber bei der Erörterung dieser Fragen nicht bloß auf die Bestimmung der Struktur der Aussagen beschränken, sondern nach Voraussetzungen der aussagenlogischen Wahrheit in der (analogen) prädikativen Aussagen fragen. Denn es gibt zwei Typen von Propositionen: die affirmative und die negative; eine wahre kopulative Prädikation hängt jedoch nicht von der Art der Kopula ab, denn die Kopulae sichern den Propositionen primär nicht den Status der Wahrheit oder Falschheit. Das in der Summa Theologiae behandelte allgemeine Prinzip der wahren affirmativen Aussagen (propositiones affirmativae) besagt, dass Subjekt und Prädikat sachlich (secundum rem) denselben Seinsträger (idem supposito), begrifflich (secundum rationem) aber Verschiedenes signifizieren. Es könnte der Eindruck entstehen, dass die Sprach- und Sachebenen bei Thomas völlig getrennt bleiben. Das ist aber nicht der Fall. Was sind die Voraussetzungen dafür, beide Ebene nicht als getrennt zu fassen? Wie hängt Thomas’ Frage nach der wahrheitsfunktionalen Proposition, die das Sein aussagt, mit der Frage nach prädikativer Affirmation und Negation zusammen? Was ist der Grund, dass bestimmte affirmative Aussagen von ihm verworfen werden? In welchen Fällen entscheidet er sich für die Negation? Wie stimmt dies mit seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen ordo praedicandi und ordo essendi überein? Die Analyse der affirmativen und negativen Proposition in den Abschnit­ ten 4.4 und 4.5 wird sich insbesondere diesen Fragen zuwenden. Die prädikationslogischen Vorteile sieht Thomas in der analogen Prädikation (praedicatio analogica).957 Er schreibt der Analogie einen besonderen Ort und die Bedeutung dort zu, wo es um die modi S.Th.I, q.12, a.7; q.13, a.12ad3; q.16, a.7; q.58, a. 4; q.82, a.4. / De Pot., q.7, a.7. S.Th.I, q.16, a.6; q.13, a.5. // Met.Γ1, 1003a33–34; Γ2, 1003b12–15. Diese Auf­ fassung von Thomas wird nicht von allen Scholastikern geteilt. Eine allgemeine ein­ deutige Auffassung darüber, dass analoge, univoke oder äquivoke Prädikation die 956

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IV. Seinsprädikation

praedicandi bei der strukturellen Analyse der wichtigsten Grundtypen von prädikativen (kopulativen) Aussagen geht. Die Deutung der in ein Verhältnis gebrachten erkannten Entitäten verschiedener Seins­ bereiche und der Struktur der kopulativen bzw. prädikativen (analo­ gen) Aussage wird durch die Analogie als Bindeglied begründet. Die Frage nach der (analogen) Prädikation des Seins zu stellen heißt nun, den Zusammenhang zwischen dem ontologischen Begriff des Seins und der prädikativen Form des Seins zu erläutern. Im Semantikkapitel haben wir mit Thomas die nomen-ratio-resRelation bzw. die Relation zwischen modi significandi – modi intelli­ gendi – modi essendi erörtert. Die Relationsfrage, aus der heraus der Ort der Analogie in diesen Relationen bestimmt wurde, soll auch im Kapitel 4 gestellt werden. Nun ist nach einer modi praedicandi-modi significandi-modi essendi-Relation zu fragen. Eine ausführliche Ana­ lyse erfolgt mit Rücksicht auf die scholastischen Diskussionen um die Distinktionen wie res significata und modus significandi, modus signifi­ candi und modus praedicandi. Thomas’ Prädikationsauffassung gehört der realistischen Epistemologie an. Hieraus muss eine Vorstellung darüber entwickelt werden, was ein (singuläres) Aussage-Subjekt und ein (universales) Prädikat signifizieren und wie genau die Relation zwischen Subjekt und Prädikat der ontologischen Struktur des Seien­ den entspricht. Finden die Struktur der Seienden und die Relationen im Seienden ihre Entsprechung in der Struktur der Aussage?

4.2 Aristotelische Prädikationslogik auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik Die Deutung der aus logischen Subjekt und Prädikat gebildeten compositio bezieht sich bei Thomas auf die Sprach- und Seinsebene zugleich. Dem Kriterium der wahrheitsfunktionalen Aussagenlogik gemäß muss die Aussage als gültig für die Metaphysik und Logik erwiesen werden. Die Frage, die sich prädikationstheoretisch stellt, ist beste Prädikationsweise ist, gibt es weder in der mittelalterlichen noch der neuzeitli­ chen Philosophie. In der gegenwärtigen Philosophie wird die analoge Prädikation etwa bei Alston bloß als univokes Sub-Element interpretiert. Alston deutet Prädikation als die äquivokative Prädikation. Siehe Alston W P., Functionalism and Theological Lan­ guage. In: Alston W. P., Divine Natura and Human Language. Ithaca: Cornell Univ. Press, 1989, S. 64–80.

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4.2 Aristotelische Prädikationslogik auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik

die folgende: Inwiefern entspricht die Prädikationsstruktur der Seins­ struktur, wenn sie nicht als identisch aufgefasst werden? Thomas greift bei der Deutung dieser Frage auf die aristotelische Bestimmung der Weise, auf die das Seiende in vielen Bedeutungen ausgesagt wird, zurück.958 Die Ausdrucksweise des Seins bzw. des Seienden durch die Struktur der prädikativen Aussage »S est P« fasst Thomas in zwei Bedeutungen auf: (a) als das Wirklichsein, (b) als das Sein der Propo­ sition, wie es im Erkennenden ist.959 Die Behandlung der Verbindung zwischen dem realen und dem logischen Sein hängt zum einen mit der Deutung des »Seins« durch die aristotelische Theorie der Kategorien (gr. categoria; lat. praedicamenta)960 und seiner Begrün­ dung der wissenschaftlichen Erkenntnis zusammen. Den Kern der wissenschaftlichen Erkenntnis bilden aber die wahren Propositionen. Zum anderen ist diese Deutung für Thomas insofern bedeutend, da er – zusammen mit Aristoteles – die Verbindung des Seins der hylemorphischen Konstitution von compositum ex materia et forma oder compositum ex anima et corpore (a) im materiellen Modus (esse naturale) und im (b) geistigen Modus (esse intentionale) zu explizieren versucht. Diese relationale Struktur, die die Prinzipien des Seins, die Grundlagen der Seins- und Prädikationsstrukturen, impliziert, manifestiert sich in der wahrheitsfunktionalen Prädikations- bzw. Prädikatenlogik von Thomas.961 Mittelalterliche Metaphysiker und Logiker diskutieren die aris­ totelischen Fragen nach den Gegenständen, die durch eine bestimmte proprietas einer Kategorie zugeordnet werden, und nach den Aussa­ gen, die etwas Allgemeines oder etwas Einzelnes zum Gegenstand haben, sowie nach dem Zusammenhang zwischen beiden Bereichen. Mit diesen Fragen treffen sie den Kern der allgemeinsten Fragen Met.Γ2, 1004a18–31. S.Th.I, q.14, a.6ad1. 960 Cat.3, 1b10–24; 5, 2a11–26, 2b5–13; 12, 14b9–23. In diesem Zusammenhang siehe die Diskussion um die Authentizität (etwa Gillespie, Rijk) oder Nicht-Authen­ tizität (etwa Dupréel) des Kategorienschrifts: Gillespie C. M., The Aristotelian Cate­ gories. The classical Quarterly XIX (1925), S. 75–84. // Rijk L. M. de, The Authenticity of Aristotle’s Categories. Mnemosyne IV (1951), S. 129–139. // Dupréel E., Aristote et le Traité des Catégories. Archiv für Geschichte der Philosophie XXII, (1909), S. 230– 251. 961 S.Th.I, q.48, a.2ad2. // Vgl. Brody B. A., Towards an Aristotelian Theory of Sci­ entific Explanation. Philosophy of Science 39 (1972), S. 29–31. 958

959

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IV. Seinsprädikation

nach der Verbindung von Metaphysik und Logik.962 Diese Diskussio­ nen führen meist nicht zu rein logischen oder rein metaphysischen Entscheidungen. Unabhängig davon, welche Interpretation – ontolo­ gische oder logische – im jeweiligen Fall bevorzugt wird oder beide zu verbinden versucht, gehen die in dieser Diskussionen vorgebrachten Argumente insbesondere auf Kategorienschrift und Metaphysik von Aristoteles zurück.963 Die aristotelische Deutung der Prädikation ver­ bindet die Logik mit der Metaphysik.964 Annahme oder Ablehnung seiner Stellung zu dieser Verbindung hängt jedoch davon ab, wie jeweils die aristotelischen Begriffspaare (Substanz und Akzidenzien, Allgemeines und Besonderes, Natürliches und Gedachtes, Spezies, Genus und Differenz, zwischen affirmativem und negiertem Logos bzw. der Ausdrucksweise des Seins) interpretiert werden. Aristoteles legt die Verbindung zwischen Logik und Metaphysik durch die Auftei­ lung in Sein des Einzelnen und Sein des Allgemeinen aus. Durch diese Aufteilung werden natürliches und geistiges (intentionales) Sein, die Seinsverbindung bzw. -distinktion in der Prädikation unterschieden. Indem Aristoteles unter den Kategorien Substanz und neun Akziden­ zien umfasst und klassifiziert, trifft er eine notwendige Unterschei­ dung zwischen dem essentiellen und akzidentellen Sein. An zwei Aussagen, »Sokrates ist weiß« und »Sokrates ist ein Mensch«, lassen sich bei Aristoteles sowohl die Struktur der Aussage generell als auch zwei Aussage-Arten darstellen: Das logische Aussage-Subjekt ist der ontologische Begriff der individuellen Substanz (Sokrates) und das Prädikat ist als die akzidentelle Eigenschaft (weiß) im ersten Fall und als die Spezies (Mensch) im zweiten Fall aufzufassen. Das Prädikat kann also entweder als akzidentelles (»weiß«) oder als essentielles bzw. universales Prädikat (»Mensch«) vorkommen.965 Thomas nimmt die aristotelische Aufteilung des Seins, seine Klassi­ fizierung der Kategorien und die eingeführten Aussage-Arten so auf, dass er im ersten Fall mit dem Ansatz einer intensionalen Logik die prädikativen Beziehungen als akzidentelle bzw. analoge Prädikation begründet; im zweiten Fall fasst er das demselben Subjekt zugeordnete gattungsmäßige Prädikat durch Synonyme (also mittels Univokation) und verleiht einer derartigen prädikativen Beziehung 962 963 964 965

Peri herm.1, 17a38–17b8 ff. Met. Γ6, 1011b7–12. Cat.5, 2a19–35, 3a10–20, 3a33–3b9. Met.Δ7, 1017a13–27; Met.Μ2/3, 1077b4–11. / Cat.5, 2a.

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4.2 Aristotelische Prädikationslogik auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik

den Status der Notwendigkeit. Der aus Wesensbestimmungen des Menschen gewonnene Begriff (Prädikat einer Aussage) muss univok von einem (und allen) individuell Konkreten ausgesagt werden.966 Die Einteilung der prädikativen Relationen in univoke, äquivoke und analoge geht bekanntlich auf Aristoteles zurück. Am Anfang seiner Kategorienschrift führt Aristoteles drei Verhältnisweisen, die zwischen Gegenständen und Namen bestehen, an. In seinen weiteren Ausfüh­ rungen treten diese Verhältnisweise als Homonymie (Äquivokation), Synonymie (Univokation) oder Paronymie (vgl. 3.4.3) auf.967 Für die Scholastiker wird dies zum grundsätzlichen Kriterium für die Bestimmung und weitere Differenzierung, ob und auf welche Weise (analog, univok oder äquivok) ein (reales oder gedachtes) Seiendes einem Prädikat entspricht. Die Scholastiker haben die aristotelische Verbindung zwischen Logik und Metaphysik entweder als deren notwendige Zusammen­ gehörigkeit erfasst oder als logischen oder metaphysischen Irrtum abgewiesen; die Relation der prädikativen Aussagen wurde dabei entweder als logische oder ontologische Relation aufgefasst. Ein Beispiel: Wird die Relation zwischen Subjekt und Prädikat als logische Relation von Intentionen verstanden, wird die aristotelische Prädi­ kation auf die »intentio de intentione«-Prädikation eingegrenzt.968 Wird die aristotelische Prädikationsrelation als eine ontologische S.Th.I, q.29, a.2. Cat.1, 1a1–15; 5, 3a8–3b9. 968 Z.B. die Ockhamsche Interpretation der aristotelischen Prädikation kann als »intentio de intentione«-Prädikation klassifiziert werden. Der Zusammenhang zwi­ schen der Prädikations- und der Seinsstruktur ist nach Ockham auf der Grundlage der Äquivokation zu fassen. Eine analoge Prädikation gibt es nach ihm nicht (oder wie Ockham sagt: Prädikation ist äquivok und wird gemäß der Analogie ausgesagt). Der Auffassung von res bei Aristoteles und Boethius liegt nach Ockham die Äquivokation zugrunde, da sie als »sermo« das nennt, was etwa in den Kategorien als »Dinge« bezeichnet wird. Als Ockham die ersten und zweiten Substanzen bei Aristoteles erklärte, wies er auf die Äquivokation hin: Die »erste Substanz« ist sowohl nomen, als auch Substanz »extra animam«; die »zweite Substanz« aber ist nomen oder intentio animae; unter diese können eine Menge von Dingen subsumiert werden. »De virtute sermonis« sprechen heißt nach Ockham, in der engen, eigentlichen (und nicht meta­ phorischen) Bedeutung von der Sprache zu sprechen. Cat.5, 2a11–19. // Wilhelm von Ockham, OThIX, Quodl.IV, q.12, S. 352–359; OThI, Sent.I, Prol., q.9, S. 245–268; OPhII, Expositio in Librum Praedicamentorum Aristotelis, cap.8, § 1, S. 167–171. Zur Deutung dieser aristotelischen Frage bei Ockham vgl. Schulthess P., Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, S. 49 ff. // Zur Deutung des Begriffs »sermo« vgl. Leffler O., Wilhelm von Ockham, S. 24 f. 966 967

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IV. Seinsprädikation

Relation zwischen Gegenständen gedeutet, wird die entsprechende »rei de re«-Prädikation erreicht.969 Die Entscheidung für die eine oder andere Prädikationsrelation bezieht sich also auf das Kriterium, das jeweils für die Rede von »res« bei Aristoteles zugrunde gelegt wird: Bei der erstgenannten Prädikationsweise wird das Wort »res« als Sprachbestandteil (»sermo«) gefasst, und die Relate der Prädikation sind nicht als res im extramentalen Sinn aufzufassen. Bei der zweiten Interpretation bezeichnet »res« die unter eine bestimmte Kategorie fallenden res. Die dritte Weise, wie die Prädikationsrelation bei Aristoteles interpretiert wird, besteht in dem Versuch, die Sprachbestandteile und die Teile der Realität in eine enge Verbindung zu setzen.970 Die in diesem Sinne verstandene Prädikation wird von Scholastikern entweder kritisch hinterfragt oder konstruktiv (wie bei Thomas) rezipiert (siehe 4.3).971 Diesem Verständnis der Prädikationsrelation zufolge werden bei Aristoteles die Relationen im Seienden durch die logische Struktur der Proposition auf die Weise bezeichnet, dass das, was einem Ding allgemein zukommt, diesem an sich zukommt; Akzidenzien kommen dagegen dem Einzelding nicht an sich zu und können nur von den Einzeldingen ausgesagt werden.972 Bei dieser Prädikationsweise wird gefragt, ob Seinsstrukturen den Prädi­ kationsstrukturen gemäß als wahr bezeichnet werden können oder nicht.973 Diese Frage – auch Isomorphiefrage genannt – hat Scholasti­ kern große Schwierigkeiten bereitet. Heftige Diskussionen verlaufen bezüglich der beiden fraglichen Relationen: Bestehen diese zwischen res und/oder Prädikationsweisen oder handelt es sich um logische Prädikationsweisen, mittels derer die ontologischen Strukturen des Seins bestimmt werden können?974 969 »Rei de re«-Prädikation ist etwa bei Walter Burley anzutreffen. Walter Burley, Expos. super librum Praedicamentorum, Prol., 18a, S. 212, 84; q.3, S. 238–260. Zur Frage siehe Bos E. P., William of Ockham and the ›Predication of a Thing‹. In: Bos E. P., Krop H. A., Ockham and Ockhamists. Acts of the Symposium. (Leiden, 10–12 September 1986), Turnhout: Brepols Publishers, S. 71–79. 970 Topik, I, 8, 103b1–19; I, 9, 103b20–104a1. 971 Zur Frage siehe Hamlyn D. W., Aristotle on Predication. Phronesis 6, 2 (1961), S. 110 ff. // Cherniss H., Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy. Baltimore; Maryland: Hopkins, 1944. 972 Met.Δ9, 1017b27–1018a1. 973 Topik, I, 8, 103b6–15. / Met.E4, 1027b29–1028a6; Met.Z1, 1028a10–29. 974 Siehe etwa: McInerny R., Some Notes on Being and Predication. The Thomist 22 (1959). Washington: Thomist Press, S. 315–332.

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4.2 Aristotelische Prädikationslogik auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik

Es scheint angebracht, an dieser Stelle eine kurze Erläuterung der entsprechenden Problemfassung bei Maimonides vorauszuschicken, denn Thomas knüpft an der maimonidischen Interpretation der Prädi­ kationsfrage seine eigene Lösung an. Der von Maimonides vertretene Standpunkt bezieht sich auf die aristotelischen Kategorien, nämlich die Frage nach den Attributen und den Prädikationsweisen. Maimoni­ des, der die Kategorienlehre des Aristoteles über die arabische Logik rezipierte, hat die Kategorien als Modi der Existenz verstanden.975 Die Kategorien, die mit Ausnahme der ersten Kategorie Akzidenzien sind, decken alle mit der Körperlichkeit zusammenhängenden Entitäten. Das Akzidens, das als eine der fünf Universalien bzw. Prädikabilien im prädikationstheoretischen Sinn (Spezies, Genus, Differenz, Pro­ prium, Akzidens) zu fassen ist, hat nach Maimonides eine univer­ selle Bedeutung und gehört dem Bereich der Logik an. Maimonides definiert Akzidenzien, z.B. Qualitäten, erstens als dasjenige, was gegenüber der Substanz zufällig sind. Zweitens teilt er Akzidenzien in die vom Subjekt getrennten oder vom Subjekt ungetrennten ein. Das aristotelische Problem der Kategorien liegt nach Maimonides vor allem in der ontologischen Beziehung, die zwischen Substanz und Akzidens besteht, wobei Akzidenzien (Zufälliges) unter dem Begriff der Existenz subsumiert werden.976 Zum Begriff des Subjekts gehört sowohl die einheitliche individuelle Substanz als auch das logische Subjekt. Das eidos des Subjekts muss von dem eidos dessen unter­ schieden werden, das von dem Aussage-Subjekt prädiziert wird.977 Die Interpretation der aristotelischen Isomorphie hängt bei Mai­ monides wesentlich mit der Äquivokation zusammen.978 Dies ist der 975 Mosche ben Maimon, Traité de logique. Traduit de l’arabe, avec une introduction et des notes par Rémi Braque. Paris: Desclée de Brouwer, 1996. / Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-52, 56. Wolfson H. A., Crescas’ critique of Aristotle. Problems of Aristotle’s Physics in Jewish and Arabic Philosophy. Cambridge: Harvard Univ. Press, (2) 1957, S. 1–23, 24–33, 99–113. / Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides, S. 151–173. // Rescher N., Temporal Modalities in Arabic Logic. Dordrecht: Reidel, 1967. / Rescher N., Studies in the History of Arabic Logic. Pittsburgh: Pittsburgh Univ. Press, 1963. 976 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-56, 57. 977 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-60. Von der ontologischen Bedeutung des Begriffs »eidos« sind bei Maimonides logisch-semantische und men­ tale Bedeutungen von »eidos« zu unterscheiden. Ein Gegenstand wird durch eidos sub­ stantialisiert. 978 Mosche ben Maimon, Traité de logique, XIII. / Führer der Unschlüssigen, I-52, 56. // Met.Γ2, 1003a33–b15; 1004a22–33. // S.Th.I, q.13, a.5. / C.G.I, 34. Für die

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IV. Seinsprädikation

Grund, warum Thomas, dessen Einsichten in vielen semantischen und prädikationslogischen Aspekten mit Maimondes übereinstimmen, dessen Verständnis der Prädikation gleichzeitig kritisierte. Thomas fragt zusammen mit Aristoteles, ob von bestimmten Prädikationsweisen auf die Seinsweisen geschlossen werden darf (oder anders herum). Inwieweit unterscheidet sich seine Interpreta­ tion von der eines Aristoteles? An dieser Stelle können wir keine eindeutige Antwort geben. Ich will hier einen notwendigen Hinweis zur Sichtweise der Prädikationsfrage bei Thomas einfügen. Ich habe zuerst die Ergebnisse des Erkenntniskapitels festzuhalten, dass die Form des verstandenen Gegenstandes die Form unseres Verstandes ist, sodass Erkenntnisvermögen dem Erkennbaren proportional bzw. analog wird. Die Auffassung der Prädikation bei Thomas trifft nun die Proportionalität, die im Verhältnis zwischen Prädikationsweisen und Seinsweisen besteht. Er misst damit auch bei der Prädikationsfrage der Proportionalität eine besondere Bedeutung bei. Dieser Anwei­ sung zu folgen, heißt, dass weder bei Aristoteles noch bei Thomas nach der »Aufspaltung« von Logik und Metaphysik,979 sondern nach ihren Verbindungsaspekten gefragt werden sollte. Einen der Aspekte dieser Verbindung – Isomorphie bzw. Proportionalität zwischen ordo praedicandi und ordo essendi – werde ich im nächsten Abschnitt näher darstellen.

4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi Thomas-Interpreten fassen seine Prädikationstheorie und ihren Zusammenhang mit der Analogie nicht eindeutig auf. In seinem ausführlichen systematischen Werk über Analogie erwähnt Puntel nur kurz, dass die Analogie auch als Frage der Prädikation bzw. der Logik betrachtet werden kann.980 Er beurteilt die »grundsätzliche Übereinkunft« von ordo essendi und ordo praedicandi im Großen und Behandlung der auf Aristoteles zurückgehenden Frage nach der Mehrdeutigkeit wer­ den weder Synonyme (univoke Termini) noch Homonyme (äquivoke Termini), son­ dern amphibole Termini bevorzugt. Thomas kritisiert die Erfassung des Begriffs der Amphibolie bei Maimonides. Siehe dazu: Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides, S. 151–173. 979 Siehe Bochenski J. M., Formale Logik, S. 173. 980 Vgl. Puntel B., Analogie und Geschichtlichkeit, S. 178. Eine andere Zugangsweise, die die Analogie bei Thomas vorzugsweise als Frage der Logik untersucht, findet sich

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4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi

Ganzen positiv. Dennoch ist nach ihm jene Übereinkunft als solche von Thomas in der Tiefe unbedacht geblieben.981 Dieser Meinung stimme ich nicht zu.982 Mit der weiteren Erörterung der Frage nach der Isomorphie zwischen Prädikations- und Seinsordnung möchte ich meine Position klarer zum Ausdruck bringen. Behandeln wir die Übereinkunft von ordo essendi und ordo praedicandi, so führen wir sie im Großen und Ganzen auf die in Frage kommende Übereinkunft zwischen Struktur der Sprache, Struktur des Denkens und Struktur der Wirklichkeit zurück (vgl. auch Kap. 3). In Bezug auf diese Übereinkunft wurde gezeigt, dass die Strukturen nicht deckungsgleich sind. Daher wird die Übereinstimmung zwi­ schen Prädikationsstrukturen und Seinsdifferenzen bei Thomas in der Regel kritisiert. Die Einsicht von der Übereinkunft von Wirklichkeit und logischer Form der prädikativen Aussage diskutiert Thomas in verschiedenen Kontexten. In der scholastischen Philosophie wurde die Frage nach der Übereinkunft zwischen Strukturen nicht theore­ tisch-axiomatisch erfasst. So ist etwa für Boethius von Dacien der wahre Satz die Voraussetzung für eine entsprechende compositio in der Wirklichkeit.983 Die Deutung der Wahrheit der Aussagen (und Worte) durch den Begriff der Supposition ist der Angelpunkt bei Roger Bacon: Nach ihm gibt es keinen Satz, wenn es kein in actu existierendes Suppositum gibt.984 Wenn es sich trotzdem um eine bei McInerny. Siehe McInerny R., Logic of Analogie: An Interpretation of St. Thomas. Hague: Nijhoff, 1971. 981 Vgl. Puntel B., Analogie und Geschichtlichkeit, S. 178. 982 Die von Puntel vertretene Meinung könnte vielleicht aus der philosophiege­ schichtlichen Situation erklärt werden, nämlich, dass die Erforschung der scholasti­ schen terministischen und modistischen Logik noch bis Mitte der 60er Jahre wegen der unzugänglichen oder nicht edierten logischen Traktate erschwert war. Deshalb konnten insbesondere die Fragen der Sprachphilosophie und Logik, der prädikations­ logischen Analyse der Aussagestruktur oder der Prädizierbarkeit des Seins bei Thomas erst in den letzten fünfzig Jahren intensiver erforscht werden. Siehe Bochenski J. M., Formale Logik, S. 169. 983 Boethii Daci Opera, Modi signficandi sive quaestiones super Priscianum majo­ rem. Ed. J. Pinborg, H. Roos, adjuvante S. S. Jensen. Det Danske Sprog- og Literatur­ selskab, 1969, Bd. IV, p.I, q.29, S. 86–92. 984 Die Auffassung von Roger Bacon gründet darin, dass er Begriffe als Abbilder der Wirklichkeit auffasst, die diese Wirklichkeit im Verstand repräsentieren. Vgl. Pinborg J., Bezeichnung in der Logik des XIII. Jahrhunderts, S. 247. // Lindberg D. C., Roger Bacon’s philosophy of nature: a critical ed., with English translation, introd., notes, of De multiplicatione specierum and De speculis comburentibus. Oxford: Clarendon Press, 1983.

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IV. Seinsprädikation

Konnotation (Signifikation, intensionale Bedeutung eines Wortes oder Begriffs) ohne Suppositum handelt (etwa der Name Sokrates und der mit diesem Namen bezeichnete verstorbene Sokrates), dann ist die Konnotation äquivok, da ein vergangenes oder zukünftiges Suppositum zwar konnotiert, nicht aber denotiert werden kann.985 In diesen Fällen wird die objektive Wahrheit der Aussagen, die nicht in die Seinsverbindung eingehen, in Frage gestellt. Thomas’ Einsicht weist eine differenzierte Auffassung auf: Es gibt nach ihm Worte, die dieselbe Konnotation haben können, selbst wenn es das Suppositum (Seinsträger) nicht mehr oder noch nicht gibt; es gibt Aussagen über die nicht-existierenden, vergangenen oder zukünftigen Gegenstände. Wie verhält es sich mit der Wahrheit oder Falschheit der Aussage bei solchen Fällen nach Thomas? Wenn per assimilationem zwischen Prädikations- und Seinsweisen eine Übereinstimmung vorliegt (oder auch nicht), so Thomas, nur dann kann über Wahrheit oder Falschheit entschieden werden.986 Es ist also bei Thomas verfehlt, von einer vereinfachten Über­ einkunft zwischen Strukturen des Denkens, wahrheitsfunktionaler Aussage und der Wirklichkeit zu sprechen. Er erläutert das mit einer seiner epistemischen Thesen, nämlich, dass »die Weise des Verstehenden im Verstehen eine andere als die Weise des Dinges im Sein [ist]«.987 Intelligere et esse ist demnach nicht im menschlichen Intellekt, sondern nur in Gott dasselbe; deshalb weisen das Verstehen (intelligere), Signifikation und Prädikation unseres Verstandes und die

985 Roger Bacon, De signis. Engl. Ed. K. M. Fredborg, L. Nielsen, J. Pinborg. In: An Inedited Part of Roger Bacon’s Opus maius: De Signis. New York: Fordkam Univ. Press, 1978, S. 75–136, IV, 1, S. 134. Compendium studii Theologiae. Ed. by H. Rashdall. Una cum appendice de operibus Rogeri Bacon. Ed. per A. G. Little. Aberdoniae: Typis Academicis, 1911, p.II, Prologus, cap.2, S. 42–46; cap.5, S. 59–64, cap.6, S. 264– 71. // Vgl. Pinborg J., Bezeichnung in der Logik des XIII. Jahrhunderts, S. 246. / Pinborg. J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 78, 93–96. // Biard J., Logique et théorie du signe au XIVe siécle. Paris: Vrin, 1989, S. 25–42. 986 In Perih.I, lect.5, n.70, n.71: »Sed ipsam compositionem, quae importatur in hoc quod dico est, non principaliter significat, sed consignificat eam in quantum significat rem habentem esse. Unde talis consignificatio compositionis non sufficit ad veritatem vel falsitatem: quia compositio, in qua consistit veritas et falsitas, non potest intelligi, nisi secundum quod innectit extrema compositionis.« / lect.7, n.83. 987 S.Th.I, q.85, a.1ad1: »[…] ut alius sit modus inteligentis in intelligendo, quam modus rei in existendo […].«

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4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi

Seinsweise der Gegenstände keine Identität auf.988 Kann diese These so gedeutet werden, dass der Intellekt die Strukturen ohne Bezug auf extramentale Wirklichkeit mit seinen eigenen Mitteln bildet, die ihm trotzdem die Seinsordnung zugänglich machen? Diese Möglichkeit können wir erwägen, wenn wir die Frage mithilfe der Isomorphie (Proportionalität) zwischen Prädikations- und Seinsebene (modi pra­ edicandi qui consequitur diversum modum essendi) prüfen.989 Die Beziehung zwischen compositio realis (Seinsebene) und compositio intellectus (Prädikationsebene) zu entschlüsseln, ist keine leichte Aufgabe. Sie kann nur dort entstehen, wo die semantisch äquivalente, nämlich wahre kopulative Subjekt-Prädikat-Komposi­ tion durch zusammensetzende und trennende Tätigkeit des Verstan­ des zustande kommt.990 Wir wissen von dieser Beziehung aber zu wenig, wenn die Funktion, die der zusammensetzende und trennende Verstand erfüllt, nicht bekannt ist. Thomas setzt hier mit folgender prädikationstheoretischen Erklärung an: Der zusammensetzende und trennende Verstand spricht in jedem Aussagesatz einem Gegenstand (res significata), der das Subjekt ausmacht, eine Form (forma rei intellectae oder forma significata), die von dem Ding erfasst wird und die das Prädikat bezeichnet, zu oder ab.991 Die Unterscheidung zwischen zwei Weisen der Zusammensetzung in materiellen Gegen­ ständen und dementsprechend zwei prädikationslogischen SubjektPrädikat-Kompositionen ist ein weiterer Grund für die Bestimmung der strukturellen Beziehung:992 (A) Die erste (ontologische) Zusammensetzung (compositio rea­ lis) in materiellen Gegenständen besteht aus Form und Materie. Diese S.Th.I, q.27, a.2; a.2ad2: »Sed in intellectu nostro utimur nomine,conceptionis‘, secundum quod in verbo nostri intellectus invenitur similitudo rei intellectae, et non nature identitatis.« 989 In Met.IX, lect.11, n.1899, n.1901–1905. 990 S.Th.I, q.85, a.5: »[…] intellectus intelligit per assimilationem ad res. Sed compo­ sitio et divisio nihil est in rebus: nihil enim invenitur in rebus nisi res quae significatur per praedicatum et subiectum, quae est una et eadem si compositio est vera […].« // Peri herm.1, 16a13–18. 991 S.Th.I, q.16, a.2. Siehe auch Burrell D., Analogy and Philosophical Language, S. 136 ff. 992 S.Th.I, q.85, a.5ad3: »Invenitur autem duplex composito in re materiale. Prima quidem, formae ad materiam: et huic respondet compositio intellectus qua totum universale de sua parte praedicatur […]. Secunda vero compositio est accidentis ad subiectum: et huic reali compositioni respondet compositio intellectus secundum quam praedicatur accidens de subiecto […].« 988

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IV. Seinsprädikation

Zusammensetzung muss mit der Tätigkeit des zusammensetzenden Verstandes verknüpft sein, der das Allgemeine (universale) aus der Materie abstrahiert, intelligibel macht und von seinem Teil, nämlich vom Subjekt, prädiziert. Als Prädikationsbeispiel dient hier die Aus­ sage: »Der Mensch ist ein Lebewesen.« (B) Die zweite Zusammensetzung verbindet das Akzidens und den Träger. Diese entspricht der Tätigkeit des zusammengesetzten Verstandes, dergemäß das Akzidens vom Subjekt prädiziert wird. Als Beispiel wählt Thomas die Aussage: »Der Mensch ist weiß.« Kann angenommen werden, dass die gesuchte Übereinkunft von hylemorphischen bzw. ontologischen und prädikationslogischen Kompositionen, eine Isomorphie zwischen der Prädikationsebene und Seinsebene bereits deutlich vorliegt? Thomas unterstreicht, dass bei dieser Frage mit Bestimmungen der beiden Kompositionen und der Funktion des zusammensetzenden und trennenden Verstandes noch eine Reihe von weiteren Unklarheiten verbunden ist. Es handelt sich vor allem um die Frage nach den Beziehungen zwischen Termini, die für Aussage-Subjekt und unterschiedliche Prädikate verwendet werden. Thomas’ Anliegen ist es, im nächsten Schritt – terminolo­ gisch und konzeptuell Aristoteles folgend – die logische Struktur der Proposition und Signifikation in einem System zu verbinden. Allein zwei von Aristoteles festgestellte Verhältnisweisen zwischen Prädikations-Relaten bzw. zwei Prädikationsrelationen – de subiectound in subiecto-Relation – geben Anlass, dieser Aufgabe weiter nach­ zugehen.993 Nach Aristoteles führt die Analyse der Prädikations-Relate zu der formalen Unterscheidung zwischen dem aussagenlogischen Prä­ dikat einer Prädikation der zweiten Substanz oder des Akzidens, und dem logischen Aussage-Subjekt, das die individuelle Substanz aufgreift. Diese Analyse der Prädikations-Relate von Aristoteles, die einen Zugriff auf die beiden Prädikationsrelationen ermöglicht, 993 Peri herm.3, 16b6–11. / Cat.5, 2a19–2b6(c). Bei Aristoteles handelt es sich um zwei Prädikationsrelationen: »de subjecto«-Relation (kath hypokeimenou, wenn etwas von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird) und »in subiecto«-Relation (he en hypokeimeno, wenn etwas von dem ausgesagt wird, was in einem Zugrundeliegenden besteht, wird die Substanz-Akzidens-Relation gemeint). Ob Aristoteles damit das Verhältnis zwischen res oder zwischen Prädikationsweisen verstanden hat, bleibt eine diskutable Frage. Vgl. Minio-Paluello L., Opuscula. The Latin Aristotle. Amsterdam: Hakkert, 1972. // Weidemann H., Aristoteles. Peri Hermeneias. Übers. und erläutert von H. Weidemann. Berlin: Akademie Verlag, 1994, S. 174 f.

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4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi

erlaubt uns, die beiden Relationen in Thomas’ Text unter folgenden Bezeichnungen zu erkennen: Die aristotelische de subiecto-Relation bezeichnet Thomas als »praedicari de essentia«994 und die aristoteli­ sche in subiecto-Relation nennt er »praedicari accidens de subiecto«. (1) Die essentielle de subiecto-Relation kann aus der ontologi­ schen hylemorphischen Komposition erklärt werden. Ob und wel­ ches Verhältnis zwischen Prädikations- und Seinsstruktur bei der de subiecto-Relation möglich wird, ist der Aussage, »Der Mensch ist ein Lebewesen«, zu entnehmen: Logisches Subjekt in einer de subiecto-Relation bedeutet die von ihm aufgegriffene, aus Form und Materie bestehende Einzelsubstanz (substantia composita), die der Artbestimmtheit nach der Mensch ist.995 Das Prädikat (Prädikabilien bzw. Universalien: genera, species vel differentia) wird de subiecto ausgesagt. Hier handelt es sich um die Definition des Subjekts, die essentia rei bezeichnet:996 Die Definition von »Mensch« bezeichnet also essentia des Kompositums, insofern compositum sowohl die mit »animal« bezeichnete Universalie genus als auch die mit »rationale« signifizierte verstandesbegabte Natur und sinnenbegabte Natur (die zum Wesen dieses Menschen gehört) bedeutet, wonach das Wesen »homo« genannt wird.997 Die Prädikationsrelation de subiecto ist eine univoke Prädikation, die auch bei Aussagen mit Eigennamen, etwa »Sokrates ist ein Lebewesen«, wirkt: »Sokrates« als Mensch hat sowohl eine universale, von der gemeinsamen Materie herge­ 994 S.Th.I, q.39, a.6. // Topik, 2, 109b1–29. Diese Prädikationsweise, die auf die aristotelische Paronymie zurückgeht, fasst Thomas als univoke Prädikation auf. 995 S.Th.I, q.29, a.1ad2; a.2. / Met.E4, 1028a1–Z1, 1028a15. / Cat.5, 2a34–2b13. / Boethius, Commento Praedicamentorum, In Categ. Arist.I, cap.4. Bei der Frage nach dem logischen Subjekt wendet sich Thomas – Aristoteles und Boethius folgend – der Substanz zu und gibt dafür eine allgemeine und eine besondere Fassung. Die Substanz wird durch sich selbst zum Individuum und die Akzidenzien (oder Eigenschaften) werden durch den Träger (Substanz/Subjekt) vereinzelt. 996 S.Th.I, q.13, a.5, a.12; q.29, a.2ad3; q.85, a.1. / Met.Z3, 1029a1–26. Die Definition bezeichnet nach Thomas die essentia rei. Die Definition umfasst die Prinzipien der Art, nicht die des Individuellen. Aber diese Form und diese Materie gehören zur Essenz dieses Menschen. Damit werden die Prinzipien des Individuellen hinzugefügt. Siehe zu dieser auf Aristoteles zurückgehenden Frage in: Rapp Ch. (Hrsg.), Aristoteles. Metaphysik. Die Substanzbücher (Z, H, Θ). // Hafemann B., Aristoteles’ transzen­ dentaler Realismus. In: Quellen und Studien zur Philosophie. Hrsg. von J. Mittelstrass, G. Patzig, W. Wieland. Berlin; New York: De Gruyter, 1998. // Fonfara D., Die OusiaLehre des Aristoteles, S. 2, 149–164. // Sonderegger E., Aristoteles, Metaphysik Z, S. 281 ff. 997 S.Th.I, q.13, a.12; q.85, a.5ad3.

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IV. Seinsprädikation

nommene Natur als auch die Verstandesnatur und besitzt materia individualis. Subjekt und Prädikat sollen in beiden Aussagevarianten in einer wahren, univoken Prädikation für dasselbe supponieren, nämlich für einen Menschen. In diesem Zusammenhang können wir Folgendes von Thomas’ Unterscheidung zwischen Signifikationsdifferenzen und Supposition sagen: Der Name, »Mensch«, bezeichnet in der personalen Supposi­ tion »Der Mensch ist ein Lebewesen« die Form, d.h. die Menschen­ natur, die ein Träger (humanitas in suppositio) oder alle zu diesem Aussage-Subjekt gehörigen Naturträger besitzen.998 Die Weise, die eine semantische Verknüpfung zwischen Subjekt und Prädikat in einer Komposition ermöglicht, ist die der Signifikation. (2) In subiecto-Relation deutet Thomas als a-transitive Sub­ stanz-Akzidens-Relation, wo »accidens de subiecto« prädiziert.999 Der zusammensetzende und trennende Verstand, der sich im Erkenntnis­ prozess seinem Erkenntnisgegenstand assimiliert, begrifflich verbin­ det und trennt, bildet somit die Aussagen wie »Der Mensch ist weiß«, »Der Schnee ist weiß« etc. Die Scholastik stellte die Weisen des Refe­ rierens und Prädizierens bereit:1000 So nimmt der Verstand Bezug auf den Träger der Eigenschaften (ontologische compositio), indem er mittels des sprachlichen Ausdrucks auf diesen Träger referiert. Der Verstand verbindet in einer Aussage die Substanz bzw. den Träger und das Akzidens auf die prädikationslogische Weise so, dass er das Akzidens vom Träger prädiziert (praedicatur accidens de subiecto). Die Termini in der personalen Supposition supponieren in den Aussagen »Der Schnee ist weiß« oder »Der Mensch ist weiß« für die Individuen als Träger der Form (Mensch, Schnee). Der Name des Prädikats »weiß«, der vom Subjekt prädiziert wird, bezeichnet die durch den Träger individuierte Eigenschaft, nämlich eine akzidentelle S.Th.I, q.39, a.4. S.Th.I, q.29, a.2; q.85, a.5ad3. 1000 Ich kann hier auf Runggaldier’s Formulierung von Prädikation verweisen: Die Prädikation ist eine sprachphilosophische Tätigkeit des Referierens und Prädizierens. Die Definition, die Runggaldier vorschlägt, kommt bei der Analyse der in subiectoRelation gut zur Geltung. Im Beispiel von Thomas – »Der Mensch ist weiß« – folgt, dass referierend mittels des sprachlichen Ausdrucks »Mensch« auf etwas Bezug genommen wird; der Ausdruck »weiß« sagt prädizierend das aus, was etwas ist, »worauf wir referierend Bezug genommen haben«. Siehe: Runggaldier E., Kanzian Ch., Grundprobleme der analytischen Ontologie. Paderborn [u.a.]: Schöningh, 1998, S. 57 ff. // Das Problem des Referierens und Prädizierens behandelt Strawson in: Strawson P., Logico-Linguistic Papers, S. 96 ff. 998

999

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4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi

Form, und supponiert für die Entitäten (Mensch, Schnee), die durch die Qualität Weiß weiß sind. Aussage-Subjekt und Prädikat können nicht für nicht-selbstständiges, etwa Weiß-Sein, supponieren, da das Weiß-Sein nur durch selbständige Träger individuiert werden kann. Ein Mensch und das Weiß-Sein gehören zu verschiedenen Gattungen, aber S und P supponieren bei der Prädikation für dasselbe, für einen »etwas weißes an sich habenden Menschen«. Denn das selbstständige Zusammengesetzte ist nicht die Form selbst, sondern das Formha­ bende (vgl. 3.1), das von Natur aus aufgrund der Form als »weiß« bezeichnet wird.1001 Die Prädikationsweise accidens de subiecto lässt somit im epistemischen Sinn durch Verbinden und Trennen des Verstandes eine Substanz durch ihre Eigenschaften erkennen. Die de subiecto- und in subiecto-Relationen haben unterschiedli­ chen Grundlagen sowohl auf der Sprach- als auch auf der Seinsebene. In beiden Prädikationsarten verbindet und trennt der Verstand auf der Ebene der Prädikation das Kompositum, das auf der Seinsebene verbunden ist. Es stellt sich die Frage: Entspricht die Verbindung und Trennung dem Verstand oder der Seinsweise des aufgenomme­ nen Gegenstandes? Thomas vertritt die These, dass die Verbindung zwischen Seins- und Prädikationsebenen auf die Weise entsteht, dass ein extramentaler Gegenstand nach der Weise des Verstandes (secundum modum intellectus), nicht aber der Seinsweise des Gegen­ standes (secundum modum rei) gemäß, aufgenommen wird. Eine derartige Verbindung und Trennung des Verstandes findet jedoch auf unterschiedliche Weise in re und in intellectu statt.1002 Denn das, was in re materiali verbunden ist, ist in sich verschieden (wie der Mensch und das Weiß-Sein); das, was in intellectu verbunden wird, wird von Thomas als signum identitatis der Verbundenen bezeichnet. Sie sind sachlich ein und dasselbe. Wenn die Komposition im Verstand, als signum identitatis bezeichnet, strukturell die sachliche Entsprechung anzeigt, die der Verstand durch Verbindung in der Aussage ausdrückt,

1001 Im Zentrum des scholastischen Interesses steht nach Pinborg die logische Ana­ lyse der auf die Gegenstände anwendbaren Kategorien, soweit diese Gegenstände »allgemeine Eigenschaften besitzen, die ihre formalen Beziehungen konstituieren«. Vgl. Pinborg J., Die Logik der Modistae, V, S. 47. 1002 S.Th.I, q.85, a.5ad3: »Unde compositioni et divisioni intellectus respondet quidem aliquid ex parte rei; tamen non eodem modo se habet in re, sicut in intellectu.«

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IV. Seinsprädikation

ist dies der Grund der veritas intellectus und die Voraussetzung einer wahren Proposition.1003 Werden alle dargestellten Aspekte der compositio realis auf der Seinsebene und der compositio intellectus auf der Prädikationsebene nach ihren Charakteristika im gemeinsamen Strukturverhältnis von zwei Strukturen geordnet, wird die Isomorphie zwischen ordo prae­ dicandi und ordo essendi erreicht. Folgendes Schema drückt diese analoge Struktur nach der Art der Proportionalität a:b :: c:d aus: Wie die Form zur Materie und das Akzidens zur Substanz auf der Sach­ ebene, so verhält sich das Prädikat zum Subjekt auf der Sprachebene. Beide Ordnungen sind also isomorph bzw. analog. Aus prädikationslogischen Gründen kommt ein weiterer wesent­ licher Aspekt der (analogen) Prädikation hinzu: die Weise des Bezeichnens (modus significandi).1004 Auf Bezeichnung und Bezeich­ nungsweise (modus significandi) kommt Thomas in der Diskussion über die Prädikationsdifferenzen und die sie bestimmenden Signifika­ tions- und Seinsdifferenzen zu sprechen. Er geht hier über Isagoge des Porphyrius bzw. Boethius auf Aristoteles zurück.1005 Der Weg zu einer prädikativen Aussage ist der Weg über die modi praedicandi und modi significandi: Die zehn modi essendi (praedicamenta) stehen nach Thomas in einer Proportionalität zu modi praedicandi. Die modi praedicandi beziehen sich erst auf die modi significandi, da die bedeu­ tungstragenden sprachlichen Elemente wie Worte durch die formale Bestimmung – die modi significandi – für jeden Aussagen-Kontext modifiziert werden.1006 Die Funktion des modus significandi, den Worten Bedeutung zu verleihen, betrifft den Gegenstand der prädika­ tiven Aussagen, der auf verschiedene Weise bezeichnet werden kann. Dies ermöglicht die notwendige Unterscheidung zwischen essentiel­ ler bzw. univoker Prädikation und akzidenteller bzw. analoger (oder äquivoker) Prädikation. Dieser logische Sachverhalt richtet sich pri­ 1003

S.Th.I, q.16, a.7: »[…] veritas enuntiabilium non est aliud quam veritas intellec­

tus.« S.Th.I, q.39, a.4, a.5. / C.G.I, 30. Expositio super librum Boethii De Trinitate I, q.2, a.4, S. 137. / Met.Δ9, 1017b27– 1018a20; Met.I3, 1054b21–23. / Topik, I, cap.7, 103a7–14; cap.15, 106a4–23, 107a33–35. // Ebbesen S., Ancient scholastic logic as the source of medieval scho­ lastic logic, S. 123. // Pinborg J., Logik und Semantik im Mittelalter, S. 101, 112 ff. // Steenberghen F. van, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, S. 135–149. 1006 Vgl. Pinborg J., Speculative Grammar. In: Kretzmann N., Kenny A., Pinborg J. (Eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge: CUP, 1982, S. 254–269. 1004

1005

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4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi

mär auf den Modus des Verstandes (secundum modum intellectus), nicht auf den Modus der Dinge (secundum modum rei). Die Besonderheit dieser modistischen Theorie besteht darin, dass weder modi praedicandi noch die verschiedenen Seinsweisen (modi essendi), sondern verschiedene Bezeichnungsweisen (modi significandi) an erster Stelle gestellt werden.1007 Der Begriff von modus significandi ist einer der Schlüsselbegriffe in der Frage nach der analogen Prädikation Gottes. Um diese Einsicht zum modus signifi­ candi und Prädikation (Gottes) bei Thomas deutlicher zu machen, sind Wiederholungen notwendig. Die Prädikation Gottes soll sowohl von der de subiecto- als auch von der in subiecto-Prädikation unterschieden werden, da Gott weder aus Form und Materie oder Existenz und Essenz noch aus Substanz und Akzidens oder Gattung und Differenz Zusammengesetztes ist. Die metaphysische Ordnung der Wirklich­ keit hängt sowohl von der Substanz als auch von Differenzen des Seienden ab. Bei Gott aber handelt es sich weder um die Differenzen noch um die erste oder zweite Substanz.1008 Werden die Prädikabilien (Genus, Art oder Differenz) in der de subiecto-Prädikation von Gott univok prädiziert, droht die Über­ tragung der Definition auf Gott ins Triviale zu führen. Gott, der simplex, unum und subsistens ist,1009 kann nicht im Erkenntnismodus als Abstraktion oder als durch Abstraktion erlangte Allgemeinheit erfasst werden. Die nomina concreta und nomina abstracta, die von den verschiedenen auf der Ebene der Sprache wirkenden modi significandi abhängen, werden jedoch Gott beigelegt. Das Problematische bei der Prädikation Gottes und des Begriffs modus significandi zeigt sich in dem Abhängigkeitsverhältnis der Prädikationsweisen von der Signi­ fikation. Die Analyse der Beispiele »Der Mensch ist gut« und »Gott ist gut« in der in subiecto-Prädikation verdeutlicht die Differenz zwischen zwei Aussagekontexten. Das Prädikat »gut« bezeichnet in beiden Aussagen die durch den Träger individuierte Eigenschaft, es wird aber über zwei verschiedene Seinsweisen besitzende Subjekte ausgesagt: von dem logischen Subjekt »Mensch«, das die menschliche Natur Zur Frage siehe Rocca G. F., Analogy as Judgment and Faith, S. 616–637. Die Individuen im Bereich der Substanzen haben einen besonderen Namen, nämlich »primae substantiae«. Die zweiten Substanzen werden »genera vel spe­ cies« genannt. 1009 S.Th.I, q.3, a.3ad2. 1007

1008

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IV. Seinsprädikation

bezeichnet, und von dem logischen Subjekt »Gott«, das die mit dem Namen »Gott« bezeichnete Form, die göttliche Natur (oder göttliche Wesenheit) bedeutet.1010 Das Subjekt der Aussage »Gott ist gut« bezeichnet die Seinsbedeutung Gottes, ipsum esse subsistens, aber das Prädikat konnotiert etwas ganz anderes.1011 Es ist zu fragen: Was bedeutet es, wenn die Bedingungen einer wahren Proposition – die Übereinkunft zwischen compositio intellectus und compositio realis und das Supponieren S und P für dasselbe – nicht erfüllt werden? Die Antwort ist der Prädikations- bzw. Prädikatenlogik des Thomas und seiner Fassung der in subiecto-Prädikation zu entnehmen: (a) Wenn das eine individuierte Eigenschaft konnotierende Prä­ dikat »gut« vom Menschen prädiziert wird, lässt sich sagen, dass das Bezeichnete vollständig bestimmt wird. Es prädiziert jedoch noch etwas, was die Definition des Subjekts nicht enthält: die Vollkommen­ heit des Gutseins (bonum), die sich allerdings vom Wesen und Sein des Menschen unterscheidet.1012 Das Gutsein selbst ist die Form, wodurch etwas gut ist.1013 (b) Wird das Prädikat »ist gut« im Sinne der Transkategorialität der Begriffe ens, unum, bonum, verum verstanden, können die trans­ zendentalen Eigenschaften des Seins von verschiedenen Seinsweisen der Gegenstände prädiziert werden.1014 Durch die modi significandi werden (univoke, äquivoke oder analoge) Bedeutungsrelationen von Bezeichnenden zum Bezeichneten modifiziert. (c) Der prinzipielle prädikationslogische Unterschied zwischen Mensch und Gott liegt in Partizipationsregeln. Ein Mensch kann durch die Partizipation gut sein, Gott aber empfängt das Gutsein nicht durch die Partizipation, sondern ist essentiell gut und früher als dasjenige, was durch eine Partizipation gut sein kann.1015 Demnach entspricht dasjenige, was das Prädikat (»ist gut«) eigentlich bezeichnet und was durch ein solches Prädikat dem Subjekt (»Gott«) zugeschrieben S.Th.I, q.4, a.3. An einer anderen Stelle (S.Th.I, q.13, a.1ad1) wird gesagt: »[...] Deus non habere nomen [...].« Wir können für diese Relationen die semantische Formel der Signifikationsrelation x S y anwenden, um das Verhältnis zwischen den Signifikanten (x) (die Namen »Mensch« und »Gott«) und den Signifikaten (y) (menschliche Natur und die metaphysische göttliche Wesenheit) darzustellen. 1011 S.Th.I, q.13, a.11. 1012 S.Th.I, q.13, a.5. 1013 S.Th.I, q.13, a.1ad2. 1014 Siehe Wolenski J., Two Theories of Trascendentals, S. 367–380. 1015 S.Th.I, q.3, a.2. 1010

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4.3 Ordo essendi et ordo praedicandi

werden kann (attribuuntur Deo), nicht vollständig dem Gehalt des Namens »Gott«. Mithin bleibt das Bezeichnete unbegriffen.1016 (d) Aus der Perspektive der modi intelligendi kann der Verstand Vollkommenheiten wie das Gut-Sein nur so erkennen und benennen, wie sie in der Kreatur gegeben sind,1017 nämlich immer mit einer gewissen Defizienz. Modi significandi, die sich auf die konzeptualis­ tischen modi intelligendi beziehen, stellen eine prädikationslogische Notwendigkeit dar. Sie lassen sich bei der Prädikation Gottes auf die durch die Namen der geschaffenen Wirklichkeiten bezeichnete göttliche Wirklichkeit anwenden, sodass Gott, der metaphysisch absolut einfach ist, als Letztes (Unbekanntes der Erkenntnisordnung nach) aufgrund der Analogieart des unius ad alterum bezeichnet wird (vgl. 2.4.2). Die dargestellten Unterscheidungen von de subiecto- und in subiecto-Prädikation als Fragen der Übereinstimmung von ordo essendi und ordo praedicandi sind vor und nach Thomas ein Diskus­ sionsthema, das zu den unterschiedlichen Stellungnahmen geführt hat. Aus der Geschichte der nachthomanischen Diskussion sind die Projekte der Univokation von Duns Scotus und von Ockham die bekanntesten. Duns Scotus zufolge kann die Lösung der Übereinstim­ mung zwischen Seins- und Prädikationsebenen in der Univozität des Seienden gesucht werden. Auch in der Analyse des Gott-Kreatur-Ver­ hältnisses geht Scotus von demselben Prinzip aus: Durch einfache und diskursive Erkenntnis erworbene Begriffe werden univok von der Kreatur und von Gott ausgesagt, da alles, was auf dem diskursiven Weg erkannt und benannt ist, auch eine ratio entis enthält. Mithin stimmen Gott und Kreatur im Begriff des Seienden univok überein, sonst könnte weder über Kreatur noch über Gott etwas erkannt bzw. prädiziert werden.1018 Wenn bei Ockham Subjekt und Prädikat in Aussagen über Gott für dasselbe supponieren, handelt es sich bei ihm vielmehr um univoke (oder äquivoke) Prädikate: Obwohl zwischen 1016 S.Th.I, 13, a.3, a.5. / C.G.I, 32. Die scholastische Unterscheidung zwischen res significata und modus significandi vergleicht Inciarte mit Freges’ Unterscheidung zwi­ schen Sinn und Bedeutung. Vgl. Inciarte F., Prädikation bei Thomas von Aquin: am Beispiel der Trinitätslehre. In: Pickavé M. (Hrsg.), Die Logik der Transzendentalen, S. 262. // Siehe auch O’Mahoney B., A Medieval Semantic: The Scholastic Tractatus de modis significandi. Laurentianum 5 (1964), S. 448–486. 1017 S.Th.I, q.13, a.2ad2. 1018 Duns Scotus, Sent.I, lect.1, d.3, p.1, q.1–2 n.25–30. In: Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden. Texte zur Metaphysik, S. 15–19. Vgl. auch 3.5.1.

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IV. Seinsprädikation

der kopulativen Struktur »S est P« und dem Wesen Gottes keine wirkliche Identität, keine Übereinstimmung, keine Proportion oder Proportionalität besteht, ist die univoke (oder äquivoke) Prädikati­ onsweise die am besten geeignete.1019 Thomas’ Stellungnahme, wie erwähnt, ist solch einer Frage der Univokation und Äquivokation gegenüber grundsätzlich ablehnend. Dahinter steht seine Auffassung (a) bezüglich der ordo essendi, dass nämlich alle Wirklichkeiten auf unterschiedliche Weise in Kreatur und Gott enthalten sind; (b) bezüglich der ordo praedicandi, dass die Namen nach der Art der geschaffenen Wirklichkeiten (secundum modum rerum creatorum) gegeben werden können, und der Inhalt die­ ser Namen bei der Prädikation mithilfe des modus significandi modi­ fiziert werden.1020 Demnach kann von einem Übereinstimmungspro­ zess gesprochen werden.1021 Zusammenfassung. Wie die jahrhundertelange Realismus-Nomi­ nalismus-Debatte zeigt, ist es problematisch, die Brücke zwischen ordo essendi und ordo predicandi, Sprache und Wirklichkeit, zu schla­ gen.1022 Dies ist bei Thomas mithilfe der Analogie möglich. Thomas vertritt in seiner kopulativen Prädikationstheorie und seiner Rede von zwei Prädikationsarten, von denen er in subiecto-Prädikation als analoge Prädikation entwickelt, die Ansicht, dass beide Strukturen – ordo essendi und ordo praedicandi – nicht deckungsgleich, sondern isomorph sind. Wenn eine metaphysische compositio, die von der Aussage »S est P« bezeichnet wird und für welche die S und P suppo­ nieren, ein und dieselbe ist, ist eine semantische compositio wahr. Aus diesem Verständnis ergibt sich auch Thomas’ Korrespondenztheorie der Wahrheit. Die Probleme, die weder durch die Übereinkunft der modi essendi und der modi praedicandi noch durch die Anbindung der modi signifi­ candi gelöst werden können, zählt Thomas weder zu den Fragen der Äquivokation noch Univokation; auch die Analogie ist nicht immer

1019 Wilhelm von Ockham, OThIX, Quodl.V, q.14, S. 536–538. / Summa logicae, p.1, cap.13, 22–40, S. 44–47; cap.17, S. 57–62. Vgl. auch 3.5.1. 1020 S.Th.I, q.13, a.3; a.3ad3. 1021 S.Th.I, q.39, a.1ad3. 1022 Zu der Charakterisierung des gegenwärtigen Nominalismus in Bezug auf die Positionen der mittelalterlichen Nominalisten wie Wilhelm von Ockham siehe etwa in: Hintze H., Nominalismus, S. 200 ff.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

imstande, diese Probleme vollständig zu lösen.1023 Er verweist auf die via negativa (siehe 4.5), bei der nicht die aussagenlogische Form der affirmativen Prädikation, sondern deren Negation die Lösung der genannten Probleme ausmacht. Wenn der Verstand die »Gleichför­ migkeit mit dem erkannten Ding« erreicht,1024 handelt es sich um veritas in intellectu. Damit wird die aussagenlogische Wahrheit akzep­ tiert oder abgelehnt. Davon ausgehend, dass affirmative Prädikatio­ nen wahre wissenschaftliche (analoge) Aussagen fundieren, alle fal­ schen Aussagen aber durch negative Prädikate bestimmt werden, könnte bereits eine homogene Prädikationstheorie formuliert wer­ den. Ob eine derartige Homogenität in der Prädikationstheorie des Thomas tatsächlich vorkommt, werde ich im nächsten Teil zu beant­ worten versuchen.

4.4 Affirmative und negative Prädikation Der im vorausgehenden Abschnitt behandelte Zusammenhang zwi­ schen ordo praedicandi und ordo essendi hat gezeigt, dass Thomas’ Prädikationstheorie in keinem Fall rein sprachlogischer Natur ist, son­ dern das verschiedenartige Seinsverhältnis ausdrückt und eine Ver­ bindung zwischen logischen und metaphysischen bzw. ontologischen Ebenen aufweist. In dieser Verbindung und in Zusammensetzung und Teilung durch den Intellekt besteht vom Intellekt konstituierte Wahr­ heit oder Falschheit; demnach ist dies mit der wahrheitsfunktionalen Aussagenlogik aufs Engste verknüpft. Hier sei zunächst auf zwei Thesen von Thomas hingewiesen. Die erste These – »vera est propositio« – erhebt den Anspruch, dass der ausgedrückte propositionale Gehalt wahr ist.1025 Die zweite These – »veritas et falsitas in propositione [est]«1026 – bezieht sich auf den menschlichen Verstand, der componendo et dividendo wirkt. Entsprechend bildet der Verstand propositio affirmativa et propositio negativa, wobei keine gegenüber der anderen einen Vorrang hat. 1023 Zur gegenwärtigen Diskussion um die Analogie und ihre Kritik siehe Palmer H., Analogy. London: MacMillan, 1973. 1024 S.Th.I, q.16, a.8: »Cujus quidem veritas in hoc consistit, quod habeat conformi­ tatem ad res intellectas.« 1025 S.Th.I, q.13, a.12; a.13ad2; q.14; q.82, a.2; q.85, a.5. / In post. Anal.LI, 39; 44, n.404. 1026 In Met.V, lect.9, n.896.

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IV. Seinsprädikation

Auf das, was »veritas« im Kontext der beiden Thesen bedeutet, weist Thomas wesentlich hin: Wenn die Wahrheit per prius im Ver­ stande und per posterius in Gegenständen ist, und die (Wahrheit) auf den göttlichen Verstand hin geordnet ist, kann diese Wahrheit ihrem eigentlichen Wesen nach als Wahrheit der Proposition erfasst werden.1027 Offensichtlich ist, dass für das Verständnis des Gesagten seine Konzeption der affirmativen und negativen Prädikation expli­ ziert und spezifiziert werden muss. Die affirmative und negative Prädikation kann erst dann bei Thomas spezifiziert werden, wenn diese als Spezifikation der Strukturen von ordo praedicandi und ordo essendi erfolgt (siehe: Abschnitt 4.3), wenn in einem nächsten Schritt dem angedeuteten Postulat von Thomas – zusammen mit Aristoteles – gefolgt wird, dass sich das Wahre und das Falsche nicht in den Dingen, sondern im Verstand befinden.1028 Das bedeutet, dass das gedachte Sein, das im Verstand ist, vom Verstand affirmiert oder negiert wird, und dass das Prädikat etwas in einer in subiecto-Prädi­ kation akzidentell als »weiß« und in einer de subiecto-Prädikation essentiell als »animal« – affirmativ oder negativ – prädiziert. Das prädikationslogische Postulat des Thomas verlangt nach der Beantwortung der nächsten Frage: Wenn die Tatsachen durch den affirmierenden und negierenden Verstand konstituiert werden, bedeutet dies z.B., dass die Materie ihre Farben, der Mensch oder Gott die »Güte« von Subjekt und Prädikat strukturierten sprachlichen Ausdrücke erwerben? Thomas’ Prädikations- und Wahrheitstheorie im Allgemeinen besagt, dass die Sachen erkannt und an ihnen etwa die Farben unterschieden werden, so wie der Verstand die Wirkungen Gottes erkennt, die in (univoken, äquivoken oder analogen) affirma­ tiven oder negativen Aussagen ausgesagt werden. Die Sachverhalte selbst liegen der Wirklichkeit zugrunde. Sie können erst durch die Sprache als Tatsachen vorkommen und als solche aufgefasst werden. Die Aussagen bezeichnen die Tatsachen der sinnlich wahrnehmbaren oder der abstrakten Wirklichkeit. Die aufgrund der Tätigkeit des Verstandes aufgebaute Prädikatenlogik soll eine epistemische und prädikationslogische Möglichkeit haben, das Verhältnis der dreistelli­ gen Semantik – nomen-conceptus-res – durch die Sigifikationsanalyse (negativ oder affirmativ) zum Ausdruck zu bringen und dadurch zwischen Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden. 1027 1028

S.Th.I, q.16, a.6. Peri herm.1, 16a10 ff. // S.Th.I, q.16, a.1.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

Wenn Thomas das Wahre und Falsche also nicht primär in Din­ gen, sondern als Gedachtes im Verstand behandeln will, soll auch die Prädikation Gottes sowohl auf die Affirmation als auch auf die Nega­ tion hin geprüft werden. Da Gott aber unus et simplex ist, wird die prädikationslogische Negation bezüglich der Ausdrucksweise Gottes zum eigentlichen Bedeutungsfundament und zur wesentlichen Bedingung dafür, dass in letzter Konsequenz Anspruch auf die Wahr­ heit erhoben wird. Nun ist zu fragen: Von welchen Prinzipien der metaphysischen und logischen Wahrheit geht Thomas aus, wenn er die Negation für die analoge Prädikation Gottes thematisiert? Bei Thomas kommt, wie folgend ausführlicher gezeigt wird, zunächst nicht die prädikationslogische Negation, sondern die prä­ dikationslogische Unterscheidung zwischen (analoger) affirmativer und negativer Prädikation vor. Des Weiteren ist für diese Unterschei­ dung die Einsicht eines Dionysius zu beachten, dass »negationes de Deo verae [sunt]«,1029 und die eines Boethius, dass »de Deo propositio affirmativa formari non potest«;1030 die beide sind bei Thomas zu einem wichtigen Diskussionsgegenstand und zur Grund­ lage der Negation geworden.1031 Hier knüpft Thomas an die analoge Prädikation an. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere der Begriff Intension zur Sprache, der im Prädikat der Aussage bei der prädikativen in subiecto-Relation eingesetzt wird. Vor den bisherigen Ausführungen der Prädikationsfragen gehe ich im nächsten Abschnitt auf die aristotelisch gefasste intensionale Prädikation des Thomas ein.

4.4.1 Intensionalität als Problem der analogen affirmativen Aussagen Wir kennen bereits das Postulat, dass die Wahrheit per prius im Verstande und per posterius in Gegenständen ist. Diese Wahrheit muss zudem dem göttlichen Verstand zugeordnet sein. Diesbezüglich wurde oben gesagt, dass Subjekt und Prädikat in der von dem mensch­ lichen Verstand gebildeten affirmativen wahren Aussage sachlich (secundum rem) dasselbe supponieren; begrifflich bezeichnet der 1029 1030 1031

Dionysius Areopagita, Cael. Hierar., cap.2. Expositio super librum Boethii De Trinitate, cap.2. S.Th.I, q.13, a.12.

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IV. Seinsprädikation

Verstand (secundum rationem) jedoch Verschiedenes.1032 Dieses Kri­ terium wird sowohl für essentielle wie für akzidentelle Prädikate, für die de subiecto- und in subiecto-Prädikation eingeräumt. Ich verweise erneut darauf, was ich zu der Wahrheit in zwei Prädikationsarten gesagt habe: Die Wahrheit der de subiecto-Prädikation liegt darin, dass die Beziehungen zwischen der individuellen (ersten) Substanz und einer zweiten Substanz bzw. Gattung (Allgemeines) so begriffen werden, dass Subjekt und Prädikat notwendig für dasselbe stehen, etwa für Mensch, der der Gattung nach ein Lebewesen ist.1033 Bei der in subiecto-Prädikation hingegen bezeichnet das Prädikat nicht die Gattung, sondern das Akzidentelle, die Qualität, die von seinem Subjekt ausgesagt wird. Bei der in subiecto-Prädikation sind demzu­ folge univoke Identitätsaussagen auszuschließen, denn das Prädikat »weiß« sagt nichts aus, was zur Definition des Subjekts gehört, es sagt etwas anderes aus. Die Gelegenheit zur Präzisierung dieses etwas bietet in subiecto-Prädikation selbst; sie ermöglicht, auf etwas dem Subjekt Extrinsisches Bezug zu nehmen, nämlich darauf, was extra­ mental und realiter in einem Einzelnen ist und gleichzeitig außerhalb des Einzelwesens liegt. Es handelt zudem nicht von Akzidenzien, die von Wesensgründen der Spezies verursacht sind.1034 Das Prädikat »ist weiß« drückt demnach etwas dem Subjekt Extrinsisches aus. Aus dieser Bezugnahme auf etwas Extrinsisches (albedo) bzw. Universalie wird das Verständnis der intensionalen Logik und ana­ logen Prädikation bei Thomas erweitert. Aus porphyrianischen Uni­ versalien bzw. Prädikabilien ergeben sich zwei verschiedene Logiken der Prädikation: die der Extensionalität (praedicatio in quid) und 1032 S.Th.I, q.13, a.12: »Ad cujus evidentiam, sciendum est quod in qualibet propo­ sitione affirmativa vera, oportet quod praedicatum et subjectum significent idem secundum rem aliquo modo, et diversem secundum rationem. Et hoc patet tam in propositionibus quae sunt de praedicato accidentali, quam in illis quae sunt de praedicato substantiali.« Bochenski fasst die Aussageanalyse des Textes von S.Th.I, q.13, a.12 wie folgt zusammen: »In jeder bejahenden wahren Aussage müssen das Subjekt und das Prädikat der Sache nach gewissermaßen dasselbe bedeuten und Verschiedenes dem Sinne (ratio) nach.« 1033 Met.I2, 1054a10. // Vgl. Lewis F. A., Substance and Predication in Aristotle. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1991, S. 194 ff. 1034 S.Th.I, q.77, a.1ad5: »Si vero accipiatur accidens secundum quod ponitur unum quinque universalium, sic aliquid est medium inter substantia et accidens. Quia ad substantiam pertinet quidquid est essentiale rei: non autem quidquid est extra essentiam, potest sic dici accidens, sed solum illud quod non causatur ex pricipiis essentialibus speciei.«

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

die der Intensionalität (praedicatio in quale).1035 Die letzte wird von Thomas als analoge Prädikation entwickelt, deren Hauptgegenstand die signifizierten akzidentellen Kategorien sind, die von res singulares ausgesagt werden. Da ich im Folgenden überwiegend von der intensionalen Prädi­ kation – praedicatio in quale – und weniger explizit von der Extensio­ nalität spreche, sind einige Hinweise zu dem Unterschied zwischen beiden Begriffen vorauszuschicken.1036 Die Unterscheidung zwischen Intensionalität und Extensionalität als Relationen finden sich bereits bei Aristoteles: Unter »Intension« wird der Inhalt eines Begriffs verstanden; die Bedeutung der »Extension« kann dagegen seinem Verständnis von dem Umfang des Begriffs entnommen werden.1037 Die aristotelisch-porphyrianische Logik der Prädikabilien und die daraus entwickelte Logik der intensionalen und extensionalen Prä­ 1035 Bei Thomas liegen beide Analysen der Aussage vor: extensionale und intensio­ nale. Die Differenz zwischen beiden klärt Bochenski wie folgt: (1) Wenn an erster Stelle eine extensionale Analyse steht (diese sei nach Bochenski in der späteren Scho­ lastik klassisch geworden), soll eine Aussage »S ist P« mit folgender Formel gleich­ bedeutend sein: »Es gibt (wenigstens) ein x so, dass ebensowohl ›S‹ wie ›P‹ für x steht (supponiert).« (2) Die zweite Analyse fasst nur das Subjekt extensional, das Prädikat aber intensional. Vgl. Bochenski J. M., Formale Logik, S. 209 ff. 1036 Vgl. 2.10.1. Die Frage nach Extensionsbeziehungen (Denotation) eines Trägers im Unterschied von Intensionsbeziehungen (Konnotation) werden bei Scholastikern im Laufe der Entwicklung der Suppositionstheorie diskutiert. Diese Beziehungen stehen im Zentrum der Nominalismus-Realismus-Debatte. Nach Pinborg entsteht erst aus der Analyse der Konnotation, die die Beziehungen eines Terminus zur Satzbedeutung zu bestimmen versucht, die klassische mittelalterliche Semantik. Der Zusammenhang der Suppositionstheorie mit der »Extension« wird in der gegenwär­ tigen analytischen Philosophie von Carnap behandelt. Siehe: Carnap R., Bedeutung und Notwendigkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik. Wien; New York: Springer, 1972, Kap. 1 und 3. 1037 Met.Ζ2, 1028b8–29a1; Ζ6, 1031b12–1032a2. Siehe Kauppi R., Über die Leib­ nizsche Logik. Acta Philosophica Fennica, Fasc. XII. Helsinki, 1960, S. 8. // Bochenski J. M., La Logique de Theophraste. Libraire de l’Université Fribourg en Suisse, 1947, S. 106–116. Bochenski verweist etwa auf Theophrast, der Termini rein extensional fasst. In der frühneuzeitlichen Philosophie ist – Bochenski zufolge – Leibniz derjenige, der einer derartigen Auffassung sehr nahe steht. Bei der Klärung der Probleme der scholastischen Suppositionstheorie analysiert Bochenski die Aussage der Form »A ist B« und weist damit auf den Begriff der Extensionalität und Intensionalität hin: das Subjekt »A« ist eine personale Supposition, d.h., es steht für Individuen, das Prädikat »B« steht für die Eigenschaft oder für die Klasse. Es stellt sich die Frage, ob Subjekt und Prädikat als rein extensional oder intensional interpretiert werden können. Siehe Bochenski J. M., Formale Logik, S. 196, 17.09. // Hafemann B., Aristoteles’ trans­ zendentaler Realismus, S. 175–183.

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IV. Seinsprädikation

dikation1038 integriert Thomas in seine Erkenntnis-, Intellekt- und Prädikationstheorie. Als Kriterium für die Unterscheidung zwischen beiden Logiken nimmt er die logische Bedeutung der Prädikabilien an, wo für die Prädikationsweisen entweder die Intension eines Begriffs, nämlich was der Begriff bedeutet,1039 oder die Extension eines Begriffs, wofür der Begriff supponiert,1040 eine konstitutive Rolle spielt. Hinsichtlich des Beitrags der Intension des Begriffs, besteht dieser gerade in der Funktion der Bedeutung des Prädikats in der in subiecto-Prädikation, insofern dieses Prädikat ein analoges ist. Von der Behauptung von Thomas, der Gehalt der Aussage sei von der Bedeutung des Prädizierten abhängig,1041 gehe ich auf die Frage nach Prädikabilien bzw. Universalien zurück, um diese mit Thomas in

Cat.3, 1b10–15; 5, 3a1–15. / 1. Anal.1, 24b. / Sophistici Elenchi, 24, 179b38 ff. Neben Akzidenzien treten bei Aristoteles differentia, genus, species und proprium als Prädikabilien auf. Siehe zu dieser Frage bei Aristoteles: Ebbesen S., Commentators and Commentaries on Aristotle’s Sophistici Elenchi. Leiden: Brill, 1981, Bd. I, 1. 1039 S.Th.I, q.1, a.10; q.23, a.6ad3. Unter der Intension des Begriffs (bei Thomas: »sensus«) ist Sinn, Bedeutung, Auffassung zu verstehen. Intension wird als Synonym zu »significatio« gebraucht. Menne spricht in diesem Zusammenhang von Prädikat als »Intension des Begriffes«: »Die Gesamtheit der Merkmale eines Begriffes heißt der Inhalt eines Begriffes. Der Inhalt eines Begriffes lässt sich auch aus dem Prädikat entnehmen, das der Funktor enthält, der die Aussageform bildet. Er (das Prädikat) heißt die Intension des Begriffes.« Vgl. Menne A. Einführung in die Logik. Bern: Francke, 1966, S. 24. 1040 S.Th.I, q.93, a.2ad3; S.Th.I-II, q.4, a.5. Unter dem Begriff Extension kann auch etwas »der Ausdehnung nach« verstanden werden. Zwecks Unterscheidung zwischen Extensionalität und Intensionalität weist Menne auf zwei semantische Funktionen hin. Er charakterisiert die aristotelische formale Logik als eine, die aus einer intensionalen Betrachtungsweise hervorgegangen ist. Vgl. Menne A., Gestalten der Logik. In: Zur modernen Deutung der Aristotelischen Logik. Hrsg. von A. Menne, N. Öffenberger. Hindelsheim [u.a.]: Olms, 1985, S. 6. Zu bemerken ist, dass sich aus der Differenzie­ rung zwischen Extensionalität und Intensionalität in der Antike und Mittelalter in der gegenwärtigen analytischen Philosophie die Differenz zwischen meaning (intension, sense) und reference (extension, denotation) ergeben hat. Siehe Kneale W., Kneale M., The Development of Logic. Oxford: Clarendon Press, 1968, S. 318 ff. 1041 S.Th.I-II, q.94, a.2; q.13, a.10ad1: »[...] quod nominum multiplicitas non atten­ ditur secundum nominis praedicationem, sed secundum significationem […].« Aus gegenwärtigen Diskussionen dieser Frage greife ich exemplarisch das folgende Bei­ spiel von Frege auf, das meiner Meinung nach an die scholastische Extension-Inten­ sion-Diskussion anknüpft: Wenn zwei Ausdrücke (»Hesperus« und »Phosphorus«) auf den einen Gegenstand (Planet Venus) Bezug nehmen, sind sie extensional gleich bzw. extensionale Synonyme. Die Aussage aber »Hesperus ist der hellste Stern am Abendhimmel« ist eine intensionale Aussage. 1038

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

Bezug auf die sich entbrannten Diskussionen zwischen scholastischen Realisten und Nominalisten zu klären. Diese sind vor allem die Fragen, ob die Universalien als realitas obiectiva aufgefasst werden können, die sich extra animam befinden, und die real im Einzelnen enthalten sind; befinden sie sich als natür­ liche Zeichen oder absolute Begriffe in der Seele? Infolge dieser Diskussion wurden gegenseitige Interpretationen und Argumente sowohl für die de subiecto-Prädikation als auch für die in subiectoPrädikation entworfen. Demgemäß sollten univoke, äquivoke oder analoge Prädikate für bestimmte Prädikationsweisen als (un)gültige abgewiesen werden. Parallel zu der nominalistischen Auffassung der Univozität des Seins, der univoken Signifikationsweise und der ent­ sprechenden extensionalistischen Prädikation mitsamt des starken Argumentes, dass das Universale keine real existierende Entität extra animam sein kann und für die Bezeichnung des allen Gemeinsamen, was extra animam existiert, univoke Begriffe gelten,1042 verläuft die gegenseitige Argumentation für eine intensionalistische, mittels der Analogie entwickelte Prädikationstheorie.1043 Die Hervorhebung der in subiecto-Prädikation (gegenüber der de-subiecto-Prädikation) bei Thomas wird zur Grundlage, um epistemisch-ontologische und semantische Grundfragen als universalienrealistische Prädikatenlo­ gik weiter zu diskutieren. Im Rahmen eines Universalienrealismus bedeutet dies Folgendes: Die epistemische These, dass der Intellekt indirekt das durch die akzidentellen Formen aufgefasste extramentale Singulare und direkt die durch die Abstraktionstätigkeit erreichte Washeit (quiditas rei) bzw. das Allgemeine erkennt (vgl. 2.8.3), muss in unkontroverser Weise mit der universalienrealistischen These, dass die analogen Prädikate in der Prädikation per accidens für mehreren supponieren und von mehreren ausgesagt werden, und darüber hinaus etwas den Einzeldinge Extrinsisches (albedo) mitbe­ zeichnen, übereinstimmen. Wilhelm von Ockham, OPhII, Expositio in librum Perihermenias Aristotelis, lib.1, cap.5, § 3–§ 6, S. 398–405. / OThII, Sent.I, d.2, q.6, S. 183–186, 195–197. / OPhII, Expositio in librum Porphyrii De Praedicabilibus. Ed. E. A. Moody. Pro­ emium, § 2, S. 11–16. / OPhI, Summa logicae I, cap.14, cap.15, S. 47–54. / OThIX, Quodl.V, q.13, q.14, S. 531–538. / Texte zum Universalienstreit. Bd. 2., S. 274–278. 1043 Mit diesen zwei Prädikationstheorien tauchen systembezogene Probleme auch in der gegenwärtigen Philosophie auf. Z.B. haben Russell und Whitehead »intensional propositions« als Propositionen interpretiert, die nicht wahrheitsfunktional sind. Vgl. Russell B., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description. Proceedings of the Aristotelian Society. New Series, 11 (1910–1911), S. 108 ff. 1042

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IV. Seinsprädikation

Das in der hylemorphischen Struktur des extramentalen Singu­ laren integrierte etwas Extrinsisches, das die (Wesens-)Form (und dadurch das Sein) und akzidentelle Formen hat, wird in der Aussage »Homo est albus« – aus dem strukturellen Aspekt gesehen – klar ersichtlich. In der Aussage »Homo est albus« sagt das Prädikat einerseits aus, was das Subjekt (insofern es Substanz bzw. essentia et esse ist) signifiziert, und andererseits etwas Extrinsisches aus. Die Realdistinktion zwischen esse und essentia ermöglicht daher die analoge intensionalistische Prädikation. Ein Nominalist wie Ockham akzeptiert das – aufgrund seiner extensionalistischen Sprachphilo­ sophie – nicht. Nach ihm bezeichnet ein Prädikat wie »albus« das Subjekt, das diese Qualität hat, ohne dass noch etwas dem Subjekt Extrinsisches hinzukommen soll, das von albus konnotiert wäre. Ockham rechnet in seiner als conceptus de conceptu konzeptualisier­ ten Prädikationstheorie damit, dass das Subjekt (conceptus homo) das Einzelne bezeichnet und das Prädikat (conceptus albus) von allen weißen Gegenständen ausgesagt wird. An dieser Auffassung zeigt sich der nominalistische bzw. konzeptualistische Vorrang der Extension gegenüber der Intension, demgemäß Konzepte als univok verstanden werden.1044 Das Problem, dass P in der in subiecto-Prädikation die Intension des Begriffs ausmacht, ergibt sich aus der scheinbaren Diskontinui­ tät. Akzidenzien wie »albus« machen multiplizierbar Extrinsisches, nämlich die Universalie albedo, präsent. Das Prädikat »est albus«, das von einer aus Form und Materie zusammengesetzten individuellen Substanz prädiziert wird, konnotiert also dasjenige, was das logische Subjekt »homo« selbst weder signifizieren noch – als absoluter Name – konnotieren kann. Das vom logischen Subjekt und Prädikat in de 1044 Als Ockham in seiner Sprachtheorie das Verhältnis von Zeichen und zwei seman­ tischen Funktionen, Intension und Extension, behandelte, verwendete er Begriffe wie »sensus«/»praedicatum« (als Intension/Bedeutung/Sinn eines Zeichens) und »exten­ sive«/»extensivus«. Primär handelt es sich bei ihm um die extensionalistische Identität, die eine intensionalistische Identität voraussetzt. Der Begriff der Extension spielt aber im Verhältnis zur Intension eine vorrangige Rolle, da nur die Extension die Intension bestimmen lässt, und nur die Extension in der Sprachphilosophie von Ockham durch sprachlogisch richtige Ausdrücke die Realitätsadäquatheit garantiert. Durch die Unterscheidung zwischen Extension und Intension lassen sich etwa fiktive Nomina bestimmen, die keine Extension (nur Intension) haben. Die nominalistische Semantik ist demnach grundsätzlich als extensionale Semantik zu erfassen. Siehe Leffler O., Wilhelm von Ockham: Die sprachphilosophischen Grundlagen seines Denkens. Werl: Coelde, 1995, S. 61, 73–74, 77–80, 162, 217–246.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

subiecto-Prädikation als primo Signifiziertes ist sein nomologisches Wesen bzw. seine Definition. Das vom Prädikat Ausgesagte in in subiecto-Prädikation verhält sich aber nicht zur Definition dieses Subjekts, sondern deutet auf die reale Existenz ganz distinkter Enti­ täten hin: auf die Universalien. Es sind die Fragen nach der Univer­ salität der Eigenschaften, die uns bereits in Kapitel 2 begegneten und von denen ich hier ausgehe: Die Eigenschaften der Weiße, d.h. die Eigenschaften von Universalien, treten in zusammengesetzten Gegenständen auf.1045 Die individuierten Eigenschaften des Trägers sind nicht extensionale, sondern intensionale Kennzeichen dieses Trägers.1046 Darin liegt jedoch auch das Problematische der intensi­ onsrealistischen Logik. Wenn P von S prädiziert wird, weisen beide – Subjekt und Prädikat – unterschiedliche Seinsweisen auf; das Prädikat signifiziert dabei auch dasjenige, was das Subjekt nicht zu signifizieren imstande ist, nämlich Universales.1047 Von einem nomi­ nalistischen Standpunkt gesehen, kann eine derartige Argumentation für die propositionale Funktion der wahren affirmativen Prädikation als keine sichere Begründung dienen.1048 Im Gegensatz zu Thomas nimmt Ockham an, dass die Universalität der Eigenschaften und die Prädikation nicht den unterschiedlichen Seinsweisen, sondern den Signifikations-, Suppositions- und Prädikationsweisen zu entnehmen ist. Da Universalien nicht res extra animam, sondern conceptus sind, wird z.B. »Weiß« als bloß Farbenqualität bezeichnet.1049 1045 S.Th.I, q.85, a.1; a.3ad4. Die Begriffe »singularis«/»singularitas« und »univer­ salis«/»universalitas« werden von Thomas sowohl für die ontologischen und episte­ mischen als auch sprachphilosophischen Probleme verwendet. Die Frage: »Utrum universalia sunt separata et non-separata a singularibus« wird für die prädikati­ onslogischen Lösungen virulent. Wenn das Universale aus dem Besonderen, aus den zusammengesetzten hylemorphischen Gegenständen (res singulares) abstrahiert wird, stellt sich die Frage, welche Rolle die Akzidenzien beim Übergang von dem Besonderen zum Universalen einerseits und bei der Konstitution der in subiecto-Prä­ dikation andererseits spielen. 1046 Vgl. Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 236 f. 1047 Die Intensionalitätsfrage der Prädikation im Zusammenhang mit der Universa­ lienfrage nimmt auch in der gegenwärtigen Philosophie einen wichtigen Raum ein. Zur Frage siehe Bealer G., Universals. The Journal of Philosophy XC, 1 (January, 1993), S. 5–32. 1048 Zum Zusammenhang zwischen Universalität und Partikularität extramentaler Gegenstände bei Ockham siehe: Rijk L. M. de, Ockham’s Theory of Demonstration, S. 232. 1049 Ockhams Lösungen stützen sich auch in diesem Zusammenhang auf seine Grundthese: Es gibt keine extramentale Sache, die eine Universalie wäre. Da es keine

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IV. Seinsprädikation

Thomas behandelt die Frage mit Blick auf Platon, Aristoteles und Boethius. Als Thomas das aristotelische Verfahren fortsetzte, argumentierte er im Rahmen der intensionalistischen Logik, dass ein Akzidens nicht durch sich selbst besteht, jedoch von verschiedenen Subjekten prädiziert werden kann,1050 und dass von dieser Verbin­ dung zwischen Subjekt und Prädikat affirmativ oder negativ ausgesagt werden kann.1051 Was die grundsätzlichen Voraussetzungen der insubiecto-Prädikation betrifft, kritisiert Thomas aus der aristotelischen Position heraus das Ideensystem Platons, in dem der Gegenstand des Intellekts die separaten Ideen (die des Sinnenwesens, des Weißen, des Zweibeinigen oder des Menschen), nicht aber die extramentalen Gegenstände sind, da Materie von geringer Bedeutung ist.1052 Die Auffassung von Platon ließe sich mit der Aussage »Die Weiße ist weiß« treffen, da ihm zufolge die Farbe nicht im gefärbten Körper (colorem non inesse corpori coloratu) existiert.1053 Die Fragen nach dem Wesen der Akzidenzien, nach dem Bezug der Akzidenzien auf die Substanz und nach entsprechenden modi praedicandi behandelt Thomas in seiner Hebdomaden-Schrift. Hier liegen für Thomas wichtige Stellen der aristotelisch-boethianischen Fassung vor, wo Boethius die Äußerungen von Aristoteles ange­ zweifelt hat. Es handelt sich um die Frage, in welchem Verhältnis Akzidenzien wie gut, weiß und die Substanz eines Subjekts stehen, wenn sie unterschiedlich sind.1054 Wie Thomas erläutert, befindet sich nach Boethius (der auf platonische Auffassung von Partizipation res universales gibt und die Allgemeinausdrücke bzw. conceptus res extra bezeichnen, ist »Weiß« der Gattungsname bzw. ein Abstraktum, das die farbliche Qualität bezeich­ net. Vgl. Wilhelm von Ockham, OThIV, Sent.I, (Ordinatio), lib.1, d.25, q.unica, S. 128; lib.1, d.27, q.3, S. 255 f.; lib.1, d.30, q.1, S. 291–293, 308–310, 316. // OPhII, Expo­ sitio in Librum Perihermeneias Aristotelis, lib.1, § 3–§ 5, S. 398–414. Siehe dazu Leffler O., Wilhelm von Ockham: Die sprachphilosophischen Grundlagen seines Denkens, S. 278–284. 1050 Cat.3, 1b16–4, 2a1; 11, 13b37–14a23. 1051 2. Anal.I, 4, 73b8–18; 83a4–32. / Cat.4, 1b25–2a10; 10, 12b5–13b35. // Vgl. Ross W. D., Aristotle’s Prior and Posterior Analytics, S. 626 ff. 1052 2. Anal.I, 83a32–35. / Met.A9, 991a27–991b3. / S.Th.I, q.85, a.1. / Expositio in libri Boethii De Hebdomadibus. Lat.-dt., übers. von P. Reder. Freiburg i. Br. [u.a.]: Herder, 2009, cap.2, S. 104–105. 1053 Eine weitere Analyse der Prädikation in Platons »Sophistes« legen beispielsweise Frede und Apelt vor: Frede M., Prädikation und Existenzaussage. Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht, 1967. / Apelt O., Platons Dialog Sophistes. Leipzig: Meiner, 1914. 1054 Expositio in libri Boethii De Hebdomadibus, cap.3, S. 104–107. / Topik, I, cap.5, 102b4–26.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

zurückgeht) das jeweilige Akzidens, an dem das Subjekt partizipiert, außerhalb der Substanz des Subjekts. Hingegen befindet sich das Wesen eines Lebewesens nicht außerhalb der spezifischen Differenz des Subjekts (Mensch). Das, was in beiden Fällen problematisch bleibt, besteht in der Frage, ob das Seiende durch Substanz oder Partizipation gut, weiß oder gesund sein kann. Prädikationslogisch formuliert ist die Weise zu bestimmen, wie in beiden Fällen etwas von etwas anderem ausgesagt wird. Für diesen Zweck unterscheidet Boe­ thius zwei Prädikationsweisen: substantielle und partizipatorische. Wenn das Subjekt unter die Definition des Prädikats fällt und nichts äußerliches des Subjekts ist, handelt es sich gewiss um eine substan­ tielle per-se-Prädikation. Die Prädikation, die der Partizipation gemäß ausgeführt wird, entspricht der partizipatorischen Prädikation. Denn jenes, was durch die Partizipation weiß ist, ist nach Boethius nicht per-se weiß. In der partizipatorischen Prädikation signifiziert also das Prädikat in der akzidentellen Prädikation etwas vom Subjekt Verschie­ denes. Thomas’ Bezugnahme auf die Hebdomaden-Schrift des Boethius und der Kommentar zur Methodik seiner Auslegung mittels aristote­ lischer Logik hilft, unterschiedliche Logiken der Prädikation sowie die intensionalistische (affirmative) Prädikation des Thomas selbst zu klären. So können wir wiederholen: Von Thomas’ Position her ist das intensionale Prädikat dasjenige, das einerseits dasselbe sup­ poniert, was auch das Subjekt signifiziert, andererseits signifiziert dieses intensionale Prädikat noch etwas von dem Subjekt Extrinsi­ sches, das mit dem wirklichen Einzelding eine Zusammensetzung eingeht, mit. Mithin gehört zu den Bedingungen der Wahrheit der intensionalistischen affirmativen Proposition, dass weder univoke noch äquivoke, sondern analoge Namen per accidens prädizieren. Demzufolge werden die modi essendi, modi significandi und modi praedicandi als isomorph aufgefasst.1055 Die Prädikationsdifferenzen von de subiecto- und in subiecto-Prä­ dikation, univoker und analoger Prädikation gehen jeweils auf eine bestimmte Interpretation der Fragen nach den Universalien zurück. Die Frage nach der Realdistinktion zwischen Sein und Wesen in Kreatur und Gott werden dabei einbezogen. Genau diese Fragen gehören zu den am meisten diskutierten Fragen, die als Metaphysikoder Logik-, Metaphysik- oder Theologie-, Aristoteles- oder Aver­ 1055

In Met.V, lect.9, n.890.

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IV. Seinsprädikation

roes-, Thomas- oder Ockhams-feindlich bzw. -freundlich beantwortet werden und zu Brennpunkten der innerscholastischen Konflikte und gegenseitigen Verurteilungen werden. Wir erwähnen an dieser Stelle noch eine auf das Akzidensproblem im Fall der intensionalen Prädi­ kation zurückgehende Diskussion.

4.4.2 Intensionale Prädikation und Konzept der Akzidens Dass Thomas’ Konzept des Akzidens und seine in subiecto-Prädika­ tion kritisiert wurde, ist nicht verwunderlich. Diese Kritik ist gegen Thomas’ Lösungen gerichtet und beschuldigt diese der Zerstörung der Wahrheit, der Wissenschaftlichkeit oder gar der Anwendung der dem christlichen Glauben unangemessenen Intellekttheorie. Diese Debatte, die sich um 1265 zwischen den Vertretern des radikalen, averroistisch verstandenen Aristoteles und den Vertretern der tradi­ tionellen aristotelisch- boethianischen Position entzündete, verbrei­ tete und entwickelte sich im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts zum Streit innerhalb und zwischen verschiedenen scholastischen Schulen. Der Streit wurde mit einer Liste der verurteilten Irrtümer beigelegt, die von Stephan Tempier, Bischof von Paris, im Jahre 1277 veröffent­ licht wurde.1056 Eines der aufgezählten Irrtümer – die Abtrennbarkeit der Akzidenzien – trifft gerade die Akzidenzientheorie des Thomas. Diese Akzidenzientheorie, die etwa von Dietrich von Freiberg – einem Ordensbruder und gleichzeitig Angreifer Thomas’ und der Thomisten – polemisch im Traktat De accidentibus ausgeführt wurde,1057 ist eines der Zeugnisse dieser Kritik, des Streites und der Verurteilung. 1056 Zur Frage der Verurteilungen von 1270 und 1277 siehe Steenberghen F. Van, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, Kap.8–11. // Flasch K., Dietrich von Freiberg. Philo­ sophie, Theologie, Naturforschungen um 1300. Frankfurt am Main: Klostermann, 2007. // Aertsen J. A., Emery K. J., Speer A. (Hrsg.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Berlin [u.a.]: De Gruyter, 2001. // Hissette R., Enquête sur les 219 articles condamnées à Paris le 7 mars 1277. Louvain: Publ. Univ. [u.a.], 1977. 1057 Theodoricus de Vriberg, Tractatus de accidentibus. Opera omnia, T. III, S. 47– 90. (Ed.) M. R. Pagnoni-Sturlese. Hamburg: Meiner, 1983. / Dietrich von Freiberg, Abhandlung über die Akzidenzien. Lat.-dt. Auf der Grundlage des Textes der kriti­ schen Ausgabe von M. R. Pagnoni-Sturlese; übers. von B. Mojsisch. Mit Einleitung und Begriffregister versehen von K.-H. Kandler. Hamburg: Meiner, 1994. // Siehe dazu Flasch K., Dietrich von Freiberg, S. 263–276.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

Dietrichs Einwände sind beachtenswert, da sie eine gegensätz­ liche, wenn auch vielmehr mit ontologischen und weniger sprachlo­ gischen Argumenten ausgestattete gegenthomanische Position vor­ führt. Einer der Haupteinwände, den Dietrich gegen die thomanische Akzidenzientheorie (und somit die intensionalistische in subiectoPrädikation des Thomas) erhebt, bemängelt die argumentative Kraft der Begriffe. Die Begriffe Substanz und Akzidens sollen aus der Auslegung folgen, die bei Thomas entweder nicht vorhanden oder oberflächlich sei, oder auch die Begriffe selbst falsch verwendet. An Dietrichs kritischer Untersuchung der aristotelischen Kategorien­ theorie und der definitorischen Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens im Rahmen der aristotelischen Frage nach dem Seien­ den als Seiendes als Kriterium der Bestimmung des Wesens (essentia) und der Washeit (quiditas) lässt sich klar der Grund des diesbezügli­ chen scholastischen Streites erkennen. Es sei ein Irrtum, so Dietrich, wenn die Substanz nicht als Seiendes durch sich, an sich und für sich erfasst werde, und wenn das Akzidens nicht als Seiendes durch ein anderes, an einem anderen und für ein anderes verstanden werde, sondern oberflächlich bloß als »Seiendes in einem anderen« genannt werde.1058 Dietrich unterscheidet zwei Seins- und Prädikationswei­ sen, die den Status der Substanz und des Akzidens als des Seienden prädikationslogisch bestätigen: Das von der Substanz per praedicatio­ nem ausgesagte »Seiende« sagt die Essenz aus, die die Substanz an sich, für sich und durch sich hat. Das Akzidens kann nach Dietrich nur aufgrund der Zuordnung zum wahrhaft Seienden, zur Substanz (dispositio veri entis), per praedicationem als »Seiendes« durch ein anderes, an einem anderen oder für ein anderes genannt werden.1059 Für Dietrichs Substanz-Akzidens-Relation kann damit das Akzi­ dens ohne das andere, d.h. die Substanz, weder sein noch gedacht werden, da accidens aufgrund der Disposition zur Substanz (die allein das Sein durch sich selbst und gemäß ihrer Washeit hat) das Wesen hat und ein Seiendes ist.1060 Das bedeutet für das Akzidens, dass 1058 Dietrich von Freiberg, Tractatus de acidentibus, cap.9, n.1: »[…] quod substantia secundum generalem rationem substantiae inquantum substantia est ens per se et secundum se; […] id est inquantum accidens, est ens per aliud sei secundum aliud, quod communiter loquentes dicunt ens in alio.« Cap.10, n.4, n.5. / Die Kritik wird an Thomas In Aristotelis Perih.I, lect.8, n.3 gerichtet. 1059 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.10, n.1,n.2. 1060 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.13, n.1, n.6; cap.16, n.2, n.3. Da die überlieferten »alten« Fragen nach Eigenschaften und Disposition in

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IV. Seinsprädikation

es im Sein durch die Inhärenz in Substanz existiert. Den Grund der Auffassung von Akzidens, dass »ens« nur dank seiner Disposition zur Substanz existiert, sieht Dietrich in der Analogie, in der analogen Beziehung zwischen Substanz und Akzidens, die er bei Aristoteles vorfindet: Der Name ens, der die erste Grundbestimmung – das Wesen – eines jeden Dinges aufweist, sagt auch auf analoge Weise von den anderen neun Gattungen aus, die in Bezug zur Substanz stehen.1061 An folgenden Beispielen zeigt Dietrich, dass nichts ande­ res (nichts etwas dem Wesen des Subjekts Extrinsisches) als die Disposition des Akzidens zum wahrhaft Seienden, zur Substanz, zu bestimmen ist. Bei dieser Bestimmung kommen vier Bedeutungen von accidens zum Ausdruck:1062 (a) Im Beispiel »Das Weiße ist das (wissenschaftlich) Gebildete« handelt es sich um pure accidens; (b) im Beispiel »Der Mensch ist weiß« kommt Akzidens als Prädikat der gegenwärtigen Philosophie intensiv diskutiert werden, äußern wir uns kurz über die »neuen Zugangsweisen« zur Disposition. Diese Debatte ist zuerst als eine Auseinandersetzung zwischen Dispositionalisten (etwa Sydney Shoemaker, Chris Swoyer) und Kategorialisten (etwa Armstrong, Mackie, Prior, Jackson) zu sehen. Manche Philosophen (etwa C. B. Martin, Evans Fales) wählen einen Mittelweg, indem sie behaupten, dass jede Eigenschaft kategorial und dispositional zu erfassen ist. Nach Armstrong sind Dispositionalisten der Auffassung, dass Einzelgegenstände eine Disposition bzw. ein Vermögen besitzen, die Eigenschaft zu haben. Wenn ein Gegen­ stand eine Disposition manifest macht, realisiert sich der kausale Zusammenhang. Realisiert sich der kausale Zusammenhang nicht, gibt es keine Manifestation der Disposition. Nach Auffassung der Kategorialisten können alle echten kategorialen Eigenschaften als Universalien erfasst werden. Das Problem, das in beiden Fällen auftritt, hängt damit zusammen, dass mit Eigenschaften verschiedene dispositionale Wahrheiten verbunden werden können, weshalb sich die Frage nach dem Wahrmacher stellt, nämlich nach den Entitäten in der Welt, die diese Wahrheiten instanziieren. Es wäre fruchtbar, Thomas’ Auffassung in der gegenwärtigen Debatte um die dispo­ sitionalistischen und kategorialistischen Theorien zu verorten. So lässt sich seine Auffassung von Akzidenzien und seine intensionalistische Prädikation vielmehr als kategorialistisch bezeichnen, die jedoch die Disposition nicht ausschließt. Sein Kritiker Dietrich von Freiberg argumentiert dagegen eher dispositionalistisch. Das soll allerdings noch geprüft werden. Zur Frage siehe Armstrong D. M., Kategorialistische und dispositionalistische Theorien von Eigenschaften: Eine Gegenüberstellung. In: Brandl J. L., Hieke A., Peter M. (Hrsg.), Metaphysik. Neue Zugänge zu alten Fragen. Sankt Augustin: Academia-Verlag, 1995. 1061 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.10, n.2, n.3. // Met.Z1, 1028a18–19; Met.Γ1, 1003a26–32; Met.Γ2, 1003b5–6. // Dietrichs Hinweise auf Averroes in: Averroes, In Aristotelis Metaph.IV, comm. 2, 65vI. In: Aristotelis Opera cum Averrois commentariis. 12 Bde. Venetiis 1562–1574. (Nachdruck) Frankfurt am Main: Minerva, 1962. 1062 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.11, n.1.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

in seinem logischen Modus dem Subjekt zu, dem Subjekt nämlich, dem das Akzidens inhäriert, sodass beide ein Ganzes (aggregatum) bilden; (c) das Akzidens wird das genannt, was durch ein anderes, an einem anderen und für ein anderes ist; (d) das Akzidens bedeutet neun kategoriale Gattungen wie Quantität, Qualität u. a. Von den Bedeutungen von accidens (c) und (d) haben wir bereits gesprochen. Ich erläutere kurz die Bestimmung (a) und (b), an denen sich Dietrichs entscheidende Kritik am Irrtum der aristotelisch-por­ phyrianisch-boethianisch-thomanischen Tradition bezüglich des Sta­ tus von Akzidens zeigt. Es handelt sich bei (a) um die Was-Frage (quid est) der kategorialen Gattung: »Was ist das Weiß-Sein? (quid est albedo).« Die Antwort bzw. die Definition, zu der Dietrich aus der logischen Perspektive gelangt, gründet sich im Ausschluss in allem Extrinsischen aus der Beziehung von Akzidens und Substanz. Sie wird deutlich nominalistisch ausformuliert: Albedo ist »eine Farbe, die den Gesichtssinn zerstreut«.1063 Die Definition in der univoken de subiecto-Prädikation lautet, dass das Prädikat (der Definition) die washeitlich ausgesagte Gattung, hier Farbe, ist. Für uns ist der Fall (b) von besonderem Interesse. Es handelt sich bei diesem um die logische Bedeutung – der aristotelischen Tradition gemäß – der Prädikabilien: hier die des Akzidens. Das Akzidens kann bekanntlich nicht de subiecto, sondern in subiecto gesagt werden, da es kein per se Eines der Sache oder der Signifikationsweise nach ist.1064 Bei der in subiecto-Prädikation soll die Bedeutung des Akzidens vorliegen, die per Definition unbestimmbar bleibt. Die Bedeutung des Akzidens in der Aussage »Der Mensch ist weiß« hat Dietrich durch die Klärung seiner Dispositions-These erweitert und erwiesen: Erstens soll an einem Aggregat »weißer Mensch« unterschieden werden, was der Mensch und was das Weiß-Sein oder »weiß« besagt. Zweitens kann die Bedeutung des Ausdrucks »weiß« per se daraus bestimmt werden, dass der Mensch direkt die Disposition bzw. das Weiß-Sein ist, indirekt aber das Subjekt oder die Substanz, dem/der das Weiß-Sein inhäriert. Das Akzidens »weiß« führt in seinem Begriff das Subjekt mit sich, an dem es die Disposition hat bzw. an dem dieses existiert. Die fragliche Differenz zwischen der Qualität Weiß und dem »weißen Mensch«, die nach Dietrich im modus significandi 1063 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.12, n.5–6; cap.13, n.1. // Met.Ζ4, 1030a24–26. / Top.III, 5, 119a30–31. 1064 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.12, n.6; cap.13, n.4.

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IV. Seinsprädikation

besteht,1065 wird aber von ihm nicht ausführlich erklärt. Drittens weist Dietrich wiederholt darauf hin, dass Akzidenzien quiditas nur im logischen Sinne und dann in Analogie zu den Substanzen besitzen.1066 Viertens kommt Dietrich zu dem Schluss, der ihm als eines der Hauptargumente gegen Thomas bzw. die Thomisten dient, nämlich dass essentia et entitas des Akzidens ausschließlich darin besteht, eine Disposition zum Seienden bzw. zur Substanz zu sein; dass das Akzidens nicht etwas noch Zukommendes (cap.10) oder etwas Fremdes in seiner Bedeutung hat (cap.13), kein (unabhängiges) Wesen von etwas Akzidentellem und kein Wesen einer extrinsischen unabhängigen Washeit besitzt (non habet essentiam absolutae quidi­ tatis secundum se) (cap.16).1067 Die Vorwürfe gegen Thomas und die Thomisten wurden – und das ist einer der wesentlichen Punkte dieser Polemik, auf die ich besonders aufmerksam machen will – gegen etwas Fremdes, nämlich das Wesen einer extrinsisch unabhängigen Washeit, gerichtet. Es ist offensichtlich, dass an dem Vorwurf von Dietrich gegen die Auslegung des Begriffs des Akzidens bei Thomas und damit seiner intensionalistischen analogen Prädikation, die er aus seiner averroistisch-aristotelischen Auffassung der Kategorienlehre an Thomas richtet, sich seine prinzipielle Ablehnung einer univer­ salienrealistischen Position zeigt. Dietrichs philosophische Polemik richtet sich ebenfalls gegen die Neuerungen, die Thomas mit philoso­ phischen und theologischen Erörterungen des Zusammenhangs zwi­ schen Akzidenzien, der Inhärenz und ihrer möglichen Abgetrenntheit von der Substanz einführte. Dietrichs Kritik der Begriffserklärungen der Substanz und Akzidenzien und seine Bezugnahme auf die Ana­ logie des Thomas lässt sich akzeptieren oder ablehnen, sie wird von Dietrich jedoch nicht in Details ausgeführt. Es ist offensichtlich, dass

Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.13, n.5, n.6, n.8. // Met.Ζ4, 1029b31–33. 1066 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.13, n.3. 1067 Dietrich von Freiberg, Tractatus de accidentibus, cap.10, n.2; cap.13, n.5; cap.16, n.1, n.2. / cap.17, n.7 und die Kritik der Stellen von Thomas: In Sent.IV, d.XII, q.1, a.1ad3, ad5, ad6; cap.22, n.3 und die Kritik des Thomas in: S.Th.III, q.77, a.1ad2; cap.23, n.3 und Kritik des Thomas in: In Sent.IV, d.XII, q.1, a.1ad1. Hinweise auf Averroes: Averroes, In librum V Metaphysicorum Aristotelis commentarius. Ed. R. Ponzalli. Bern, 1971, comm.14. Die Frage nach dem Zusammenhang von Dietrichs Auffassung der Substanz-Akzidens-Relation mit dem Problem des Abendmahls und diesbezüg­ licher Kritik der Thomisten hat K. Flasch näher behandelt. Siehe Flasch K., Dietrich von Freiberg, S. 255–259, 267–273. 1065

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

er weder die Akzidenstheorie noch den Analogiebegriff im Sinne Thomas’ ausführlich kennt bzw. behandelt.1068 Neben der Ablehnung der universalienrealistischen Position kann ein Punkt seiner Kritik hervorgehoben werden. Dass hinter Dietrichs philosophischer Fragestellung der Bedarf von Änderun­ gen der theologischen Transsubstantiationslehre steht, darauf haben bereits Flasch und Kandler hingewiesen.1069 Die Tatsache, dass die Akzidenzien, die Thomas als diejenigen beschreibt, was »in einem anderen« (in alio) sind, also von der Substanz abtrennbar sind, ist nach Dietrich für Philosophie und Theologie sowie für die kirchliche Sakramentenlehre mehr als folgenschwer.1070 Nehmen wir zum Schluss einige Begriffserklärungen von Thomas in den Blick, auf die die Kritik von Dietrich zielt und die Dietrich bei seiner Argumentation nach Flasch als »korrekt« qualifi­ ziert.1071 Folgendes zeigt aber, wie unpräzise Dietrichs Fassung der Begriffserklärungen eines Thomas sind: (a) Auf den Begriff der Substanz per se können wir folgenden Hinweis von Thomas beziehen: Der Gattungsbegriff der Substanz bezeichnet nicht das »Durch-sich-sein« selbst (per se esse), da das Sein keine Gattung ist. »Substantia« bezeichnet aber das Wesen, dem gerade dieses »durch-sich-sein« zukommt. Demnach wird die Bestim­ mung des Wesens und Seins in ihrer Differenz in zusammengesetzter Substanz erreicht: Das Wesen fällt mit dem Sein nur in Gott, aber S.Th.I, q.44, a.2. Zum Substanz-Akzidens-Problem mit Berücksichtigung des theologischen Abendmahls- bzw. Transsubstantiationsdogmas und die philosophische Begrün­ dungsversuche dieses theologischen Dogmas bei Thomas und den Thomisten mithilfe der aristotelischen Philosophie, die unter Dietrichs Kritik stand, siehe Kandler K.-H., Einleitung. In: Dietrich von Freiberg. Tractatus de accidentibus, S. XI–XLVIII. // Flasch K., Dietrich von Freiberg, S. 255–273. 1070 C.G.IV, 61–63, 65. / S.Th.III, q.77, a.1, a.2. Die Ablehnung der Unabhängigkeit des Akzidens von der Substanz ist eines der Grundpostulate Dietrichs und seiner Auf­ fassung der Transsubstantiation, die die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi in Akzidenzien – Brot und Wein – behauptet. Diese Auffassung ist Thomas’ Verständnis von der von Substanz unabhängigen Weiterexistenz der Akzidenzien des Brotes und Weines gegenübergestellt. Da die Akzidenzien den Subjekt einer bestimmten Natur benötigen, sind sie in der Substanz des Brotes und Weines, nicht aber in Substanz des Leibes und Blutes Christi. In Eucharistie ist Leib Christi anwesend, da die Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes und die Substanz des Weines in die Substanz des Blutes gewandelt wird (auch wenn beide Substanzen nicht zugleich vorhanden sind), was aufgrund der Kraft Gottes möglich ist. 1071 Vgl. Flasch K., Dietrich von Freiberg, S. 271. 1068

1069

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IV. Seinsprädikation

nicht in den geschaffenen Gegenständen zusammen.1072 Wenn die prinzipielle Differenz zwischen esse und essentia bestimmt ist, wird die Akt-Potenz-Differenz virulent. Die akzidentelle Tätigkeitsform verhält sich zur substantiellen Form, wie sich die Potenz zum Akt (wie das Vermögen der Seele zur Seele oder die Wärme zur Form des Feuers) verhält.1073 (b) Zu Thomas’ Begriffserklärung des Akzidens finden wir zwei weitere ausdrücklich erklärende Nachweise. (b1) Der erste wird gege­ ben, als er das Akzidens per se deutet (Qualität und Quantität werden dabei mit Akzidenzien gleichgesetzt): Es gilt zu beachten, dass ein Akzidens (etwa Quantität) von der Substanz früher (per prius) als das andere Akzidens (etwa Qualität) rezipiert wird. Dass ein Akzidens Träger eines anderen Akzidens ist, wird am folgenden Beispiel ersicht­ lich: Durch die Oberfläche, die ein Träger der Farbe Weiß ist, wird ein Subjekt als weiß genannt: »Der Mensch ist weiß.« Akzidens per se ist bei Thomas nicht anders zu erklären als dadurch, dass die Substanz ein Akzidens mittels eines anderen rezipiert.1074 Das Spezifische dieses Verhältnisses besteht darin, dass formae substantiales und formae accidentales einander zugeordnet sind. (b2) Der zweite Nachweis stammt aus der Untersuchung der Koexistenz der intensional unterschiedlichen Eigenschaften (acciden­ tia) und bezieht den theologischen Aspekt ein. Die Annahme des Potenz-Akt-Kriteriums, das üblicherweise für den Fall des SubjektAkzidens-Verhältnisses maßgeblich ist, veranlasst uns dazu, zu ver­ stehen, dass die Frage nicht aus einem Grund zu erklären ist, da es in Gott keine Potenz und auch keine Eigenschaften gibt. Beispielsweise kommen Akzidenzien wie »gut« oder »weise« den Gegenständen auf­ grund des Willens Gottes zu, aber Akzidenzien wie »weiß« kommen weder vom Willen Gottes noch vom Willen eines Weißen.1075 Das bedeutet, dass die Farbe nicht dasselbe wie Gutheit oder Weisheit, die Weiße nicht dasselbe wie die Wärme, die Gesundheit oder das Gute ist. Damit geht nur eine von den genannten Qualitäten, nämlich die, gut zu sein, aus einem ersten Guten hervor. Dabei handelt es sich nicht darum, dass ein Einzelding nur eine Qualität haben könnte, wie bereits Aristoteles betonte: Wenn alle gesund wären, 1072 1073 1074 1075

S.Th.I, q.3, a.5ad1. S.Th.I, q.3, a.4; q.77, a.1ad3 und ad5. Vgl. 2.3.3. S.Th.I, q.77, a.7ad2. De Hebd.5, S. 131.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

würde nur die Gesundheit (keine Krankheit) existieren, und wenn alles weiß wäre, würde nur die Weiße (keine Schwärze) existieren.1076 Wenn in Gegenständen keine andere Qualität bestünde, außer der, dass sie gut sind, wäre sie das Wesen der Gutheit bzw. das erste Prinzip der Gegenstände. Wenn also alle Gegenstände im Begriff des Guten gleichgestellt wären, handelte es sich ausschließlich um die univoke Prädikation. Die Behandlung der univoken Prädikation gehört aber nicht zu Thomas’ eigenem Beitrag in der Erfassung der prädikatenlo­ gischen Wahrheit.

4.4.3 Intensionale analoge Prädikation und Wahrheit Zum Anfang dieses Abschnittes rekapitulieren wir Thomas’ Argu­ mentation, als er die (wahre) affirmative in subiecto-Prädikation ankündigt. Bei der Deutung der affirmativen analogen Prädikation postulierte Thomas, dass das Subjekt auf etwas Extrinsisches (albedo) bezogen wird: »albedo« kann als Seiendes bezeichnet werden, da es der Form nach nicht durch etwas anderes bestimmt wird und das Sein nicht durch etwas anderes hat, sondern gerade ein anderes durch die »albedo« ein »album« ist, d.h., »album« tritt in vielen Einzeldingen als Akzidens auf1077 und wird von einem analogen Prädikat ausgesagt. »Albedo« ist also nicht das Sein schlechthin, sondern existiert der Form nach durch Einzeldinge. Wenn die Weiße oder die Gesundheit durch sich bestünden (per se subsistens), könnten sie nicht die Wirklichkeit des Weißen oder Gesunden selbst sein und ein Träger könnte nicht durch die Gesundheit als »gesund« bezeichnet werden. Es ginge um Vollkommenheiten, die nicht den geschaffenen Gegenständen zukommen. Die Weiße bewirkt, dass ihr Träger nicht das Sein schlechthin ist, sondern, dass er ein Weiß-Sein hat. Derje­ nige, der eine akzidentelle Form bekommt, zu »einem solchen« wird und letztlich (als) »homo albus«, »equus albus« oder »homo sanus«, »equus sanus« genannt.1078 Nur wenn die Gegenstände dem Wesen und dem Modus nach (secumdum eamdem rationem et secundum eumdem modum) in der akzidentellen Form übereinstimmen, sind Aristoteles, Physik, E2, 225b10–3; E5, 229a7–27. S.Th.I, q.5, a.5ad2: »[…] sicut albedo non dicitur ens quasi ipsa aliquo sit, sed quia ipsa aliquid est secundum quid, scilicet album.« 1078 S.Th.I, q.5, a.5; q.76, a.3, a.4.

1076 1077

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IV. Seinsprädikation

sie ähnlich: So sind z.B. der weißen Farbe gemäß zwei oder mehrere weiße Gegenstände (einander) ähnlich (similia in albedine), sie wer­ den gleich genannt1079 und auf intensionale analoge Weise prädiziert. Diese ist keine unkomplizierte Frage für die (scholastische) Philosophie, wenn ontologisch gesehen eine und dieselbe Eigenschaft vielen Gegenständen zugesprochen wird. Durch deren Hinzutreten entsteht ein Gegenstand, aber er entsteht nicht vollständig bzw. als Ganzes, und bei deren Weggang zerfällt er, aber auch nicht vollständig bzw. als Ganzes. Auf sprachlogischer Ebene kann das analoge Prädikat »weiß« oder »gesund« von zwei oder mehreren Subjekten ausgesagt werden. Die Subjekte bzw. Entitäten, die von Prädikat »weiß« genannt werden können, bezeichnen auch immer etwas, das allen diesen Subjekten extrinsisch (Weiße, Gesundheit) ist. Das ist die Quelle vieler Fragen, die scholastische Philosophie beschäftigen. Folgende Fragen rücken in den Vordergrund: die Frage nach der Identifizierung der Verbindung zwischen mehreren Enti­ täten, die sich auf eine Eigenschaft beziehen; die Frage nach der Bestimmung gemeinsamer Schnittpunkte zwischen Prädikationswei­ sen und Seinsweisen; die universalienrealistische Frage nach dem Extrinsischen (dem Universalen); sowie die Frage nach den Termini »Weiße« oder »Gesundheit«, die weder als analoge noch überhaupt als Prädikate zu halten sind. Erst aus dem (Proportionalitäts-)Prinzip der Analogie folgt, dass, wenn sich zwei oder mehrere Entitäten auf ein und dieselbe Eigenschaft beziehen, dies als »die Gemeinsamkeit einer Eigenschaft«1080 bestimmt werden kann. Prädikate wie etwa das analoge Prädikate »ist weiß« können (gerade) diese Gemeinsamkeit zum Ausdruck bringen, und auf diese Weise wird die Gemeinsamkeit der Bedeutungen erschließbar. In der Frage nach der Verbindung zwischen der Art und der Eigenschaft zeigt sich eine weitere Schwierigkeit.1081 Anders gefragt: S.Th.I, q.4, a.3; q.5, a.5. Die Voraussetzungen für die Form liegen nach Thomas im Verhältnis der inneren und der äußeren Entstehungsgründe zur Form selbst. Dieses Verhältnis bestimmt die eigene Weise (modus) der Gegenstände. 1080 Der Ausdruck wird von Carl verwendet. Siehe Carl W., Existenz und Prädikation: sprachanalytische Untersuchungen zu Existenz-Aussagen. München: Beck, 1974, S. 121. 1081 Die Verbindung zwischen Eigenschaften (die Wirklichkeitsbezüge haben) und Spezies (die gedachte Entitäten sind), also zwischen Termini der ersten Intention (»Mensch«, »weiß«, die selbst Zeichen für die Sachen sind) und Termini der zweiten Intention (»Spezies«, die Zeichen für die ersten Intentionen sind) sollte in der Aussage 1079

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

Wie ist der Mensch vom Pferd und dieses wiederum von vielen ande­ ren Lebewesen als Art einer Gattung, die dieselben Eigenschaften exemplifiziert, durch Eigenschaften wie »weiß« zu unterscheiden? Was garantiert in solchen Fällen die propositionale Wahrheit? Die Antwort kann weder durch die Analyse der Intension des Prädikats »weiß« noch durch die Extension des Begriffs der Farbe »Weiß« gesichert werden. Ein Beispiel: Ein Mensch und ein Pferd können weiß gefärbt sein, da sie eine entsprechende Oberfläche haben. Die Eigenschaften fallen in dieselbe Qualität und dies reicht für die Charakterisierung der Gegenstände vollkommen aus. Allerdings reicht dies nicht für ihre Unterscheidung aus, da es sich nicht um eine substantielle, sondern eine akzidentelle Form handelt, wie bei Aristoteles und Thomas überzeugend dargelegt.1082 Wenn wir dem in Kapitel 2 und den folgenden Abschnitten folgen, ist zu schließen, dass aufgrund dessen, was dem Menschen und den anderen Lebewesen analog ist, sich die Menschen von anderen Lebewesen nicht deutlich unterscheiden. Die sprachlogischen Regeln ermöglichen es, die de subiecto-Prädikation auszuführen, die für die Behandlung der Artund Gattungsnatur geeignet ist, um zwischen Menschen und anderen Lebewesen klar differenzieren zu können. Die de subiecto-Prädikation erlaubt die Rede von analytischen, logisch wahren Aussagen. Ihr maß­ gebliches Kriterium ist das notwendige Beinhaltetsein des Prädikats im Begriff des Subjekts.1083 Diese Bestimmungen folgen der affirma­ tiven aussagenlogischen Formel, die für die de subiecto-Prädikation und das in quid-Prädikat durch die Gattungsdefinition erfolgt: Die Form, durch die etwas Lebewesen ist, sei dieselbe wie die, durch welche etwas Mensch ist. Auf diese Weise wird »Lebewesen« in die Definition des Menschen eingesetzt, d.h. das Prädikat (»Lebewesen«) wird per se vom Subjekt (»Mensch«) ausgesagt.1084 Demgemäß ist die Aussage »Der Mensch ist ein Lebewesen« eine wahre affirmative Aussage, die als Wesensaussage den Sinn hat, dass ein Mensch notwendigerweise ein Lebewesen ist. Die de subiecto-Prädikation fordert keine Rede von Akzidenzien, die dem Subjekt inhärieren. etwa »Die Spezies ist weiß« ausgedrückt werden. Hier ließe sich von univoken de subiecto-Prädikation sprechen. Siehe dazu Bochenski J. M., Formale Logik, S. 177–179. 1082 In Phys.I, 1, lect.3, 21; lect. 6, 40–45; lect.9, 65, 66, 72. / S.Th.I, q.3, a.6. 1083 S.Th.I, q.2, a.1: »[…] propositio est per se nota, quia praedicatum includitur in ratione subiecti.« 1084 S.Th.I, q.76, a.3: »[…] quia subjectum ponitur in definitione praedicati.« / S.Th.I, q.3, a.5.

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IV. Seinsprädikation

Der Mensch und das Pferd müssen also das sein, was ein Lebewe­ sen ist, auch wenn sie unterschiedliche Farben und nicht dasselbe Sein haben1085 und auch nicht ein und dieselbe Existenz führen. Demnach erfolgt die Unterscheidung zwischen Spezies untereinander durch die spezifische Differenz (das Vernünftig-Sein). Die Vernunftseele wird als formgebend und die Sinnenseele als untergeordnet erfasst. Für das in quid-Prädikat ist es grundlegend, dass einerseits die substantielle Form der Gattung bzw. des Lebewesens durch die Fähigkeit zur Wahrnehmung bestimmt wird, und andererseits die Spezies Mensch durch die Vernunftbegabtheit oder auch an das Wesen des Menschen angebundene essentielle Eigenschaften (Lachen-Können) bestimmt wird. Sicher bestimmbar sind ausschließlich essentielle Eigenschaf­ ten, die eine Gemeinsamkeit zwischen den unter eine Art fallende Gegenstände aufweisen, wie etwa Lachen-Können (accidentia per se), da sie notwendig zur Substanz bzw. zum Wesen eines Trägers gehören.1086 Die Eigenart dieser Eigenschaften besteht auch darin, dass sie dem Wesen einer Spezies zukommen, aber nichts Extrinsi­ sches bezeichnen. Die in quid-Prädikate sind keine analogen, sondern univoke Prädikate. Bei der Behandlung der Gattungs- und Artnatur ist im Unterschied zur in subiecto-Prädikation auf die begriffliche Unter­ scheidung zwischen Aussage-Subjekt und Prädikat zu achten. Diese übernehmen die Rolle des formalen Grundes (principii formalis),1087 sodass der Verstand etwas auf verschiedene Weise Aufgefasstes durch das Verbinden von Subjekt und Prädikat in einer wahren Aussage ausdrückt. Im Falle einer praedicatio in quale wird vom Subjekt in quale ausgesagt; das in quale-Prädikat konnotiert etwas Extrinsisches, das wesentlich zum Subjekt gehört. Die aussagenlogischen Wahrheiten werden demnach mithilfe dieses Teils (in quale-Prädikat) erzeugt und das Subjekt und Prädikat supponieren und bezeichnen dasselbe (der weiße Mensch). Wenn dasselbe Prädikat B dasjenige bezeichnet und für es supponiert, was auch mehrere Subjekte A (singulär oder uni­ versal) primo signifizieren, und Prädikat B zudem auch etwas Extrin­ sisches (etwas von den jeweiligen Subjekten essentiell Verschiedenes (Universales)) bezeichnet und supponiert, ist eine affirmative analoge Aussage wahr. 1085 1086 1087

S.Th.I, q.3, a.3. S.Th.I, q.3, a.6. S.Th.I, q.85, a.3.

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4.4 Affirmative und negative Prädikation

Der Wahrheitswert der intensionalen affirmativen Aussagen liegt in der semantischen und sprachlogischen Verbindung zwischen dem Subjekt und dem intensionalen Prädikat und in einer Isomorphie zwischen der Prädikations- und der Seinsebene. Die Bedeutung die­ ser Verbindung ist nach Thomas die Wahrheit des Satzes bzw. des Verstandes.1088 Hinzu kommt die Möglichkeit, diese Verbindung der Bezeichnungshierarchie gemäß zu veranschaulichen.1089 Der Saar­ nio-Enders-Lesart zufolge lässt sich eine hierarchische Ordnung der Bezeichnung und des Bezeichneten auf eine bestimmte Bedeutungs­ ebene projizieren. Die Wahrheit oder Falschheit prädikativer Aussa­ gen lassen sich demnach erst ab einer bestimmten Reflexionsebene des Verstandes bestimmen. Die Wörter »wahr« oder »falsch« treten nämlich nur beim zweiten Grad auf und sagen über die Aussagen des ersten Grades aus.1090 Im ersten Grad stehende Aussagen p (Signi­ fikanten) sind aus einem bestimmtem Abstraktionsgrad gewonnen und bezeichnen Sachverhalte oder Eigenschaften des nullten Grades. Im nullten Grad geht es nicht nur um die Eigenschaften und Sach­ verhalte, sondern auch um die Eigentümlichkeiten, Wirkungen und Tatsachen (Signifikate). Die Eigenschaften des nullten Grades fallen unter Wörter/Begriffe (Signifikanten). Nur die Signifikanten, nicht aber Eigenschaften, Wirkungen oder Sachverhalte sind prädikativ und wahrheitsrelevant. Wahrheitsrelevant sind sie dann, wenn die Adäquation zwischen der Aussage (erster Grad) und dem Sachver­ halt (nullter Grad) bestimmt wird.1091 Die prima impositio, die von Modisten auf der objektsprachlichen Ebene (erster Grad) behandelt wird, wo also die Wörter der Objektsprache die extramentalen Gegen­ S.Th.I, q.16, a.1: »Sic ergo veritas principaliter est in intellectu; secundario vero in rebus, secundum quod comparantur ad intellectum ut ad principium.« 1089 Zur Frage der Bezeichnungshierarchie siehe Penttilä A., Über die metasprachli­ chen oder logistischen Ausdrücke. Sitzungsberichte der Finnischen Akademie, 1960– 62. // Saarnio U., Untersuchungen zur symbolischen Logik. // Saarnio U., Enders H., Die Wahrheitstheorie der deskriptiven Sätze. // Enders H., Sprachlogische Trak­ tate des Mittelalters und der Semantikbegriff, S. 118–168, 175–210. Bezeichnungs­ hierarchien gehören in die gegenwärtigen semantischen, linguistischen und prädika­ tionstheoretischen Debatten. Diese von Penttilä, Saarnio und Enders entwickelten Bezeichnungshierarchien, die selbst aufgrund der Untersuchungen mittelalterlicher semantischer Konzeptionen und Terminologie geprägt wurden, sind sehr gut auf tho­ manische wahrheitsfunktionale aussagenlogische Probleme bei der intensionalen in subiecto- und extensionalen de subiecto-Prädikation anwendbar. 1090 Vgl. Saarnio U., Enders H., Die Wahrheitstheorie der deskriptiven Sätze, S. 106. 1091 S.Th.I, q.16, a.1. 1088

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IV. Seinsprädikation

stände denotieren, ist für die intensionale in subiecto-Prädikation bestimmend. Auf der metatheoretischen Ebene (zweiter Grad) sind secundae impositiones verortet, die der Metasprache angehören und für die de subiecto-Prädikation entscheidend sind. Wenn Akzidens als inhärierendes Akzidens bestimmt wird, wird ersichtlich, dass die Weiße dem Menschen inhäriert. Das Akzidens konnotiert etwas Extrinsisches (seinsmäßig universelles). In der ana­ logen intensionalistischen in subiecto- Prädikation kommt der affir­ mative Ausdruck der Inhärenz zustande. Das bedeutet auch, dass die Proportionalität zwischen modi essendi und modi preadicandi erreicht wird. Daher erfolgen aussagenlogische Wahrheitsfunktionale. Die affirmative wahre analoge Aussage impliziert die erreichte Wahrheit des affirmierenden und negierenden Verstandes, die jedoch keine ewige Wahrheit ist. Die Differenzpunkte zwischen der Wahrheit des Verstandes bzw. der wahren Aussage, die durch Kopula »est« ein reales aus Form und Materie zusammengesetztes Kompositum ausdrückt, und der ewigen Wahrheit, werden von Thomas in der Wahrheitstheorie weiterverfolgt.

4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie? Bevor ich mich der Analyse der negativen Prädikation bei Thomas zuwende, rekapituliere ich kurz erzielte Ergebnisse. Während die intensionale affirmative Prädikation als analoge Prädikation erörtert wurde, begegneten wir der Herausforderung für Scholastiker, unter diesen auch Thomas, die sie drängte, eine explizite Deutung der affirmativen (analogen) Prädikation herauszuarbeiten. Diese Heraus­ forderung bestand in der Frage nach dem »etwas ganz andere(n)« (sed sunt diversa seipsis). Wenn das Subjekt durch das Prädikat auf etwas Extrinsisches bezogen wird, ergibt sich eine Schwierigkeit also im Großen und Ganzen aus dem Prädikat in einer affirmativen analogen in subiecto-Prädikation. Denn das Extrinsische setzt voraus, dass zwei oder mehrere extramentale Gegenstände dem Wesen und dem Modus nach in einer akzidentellen Form übereinstimmen, gleich genannt und auf analoge Weise prädiziert werden. Die Fragen, die den vorangehenden Abschnitten folgen und die ich in Abschnitt 4.5 weiter verfolge, lauten: Sind die affirmativen intensionalen Aussagen über

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

Gott in der vorliegenden aussagenlogischen Form legitim, wenn näm­ lich an der Stelle des Aussagesubjekts der gesetzte Terminus »Gott« steht? Supponieren in diesem Fall Subjekt und die an die Kreatur gebundenen Prädikate für dasselbe?1092 Nach welcher Korrektur wird das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat der logischen Form der Aussage gemäß verlangt? Welche Bedeutungen der Aussagen von Kreatürlichem müssen korrigiert werden und wie hängt dies mit der Analogie zusammen? Thomas vertritt die Auffassung, dass keine Falschheit darin liegt, dass der Verstand mithilfe der Verbindung von Subjekt und Prädikat einen Satz (»S ist P«) über Gott bildet, ohne jedoch Gott als etwas Zusammengesetztes aufzufassen.1093 Diese Auffassung hat uns zusammen mit Thomas in der ganzen Studie als philosophischtheologische Frage nach der Erkenntnis und Aussageweise von Gott beschäftigt. Das ist die Frage nach der gemeinsamen Akzidentalität, die den extramentalen Einzeldingen bzw. Kreatur und Gott zuge­ schrieben werden. Wir gelangten mit Thomas zu dem Ergebnis, dass nur die Art der Proportionsanalogie des unius ad alterum, die mithilfe der per-prius-per-posterius-Signifikation für so spezifische Frage ent­ wickelt wurde, die Zuschreibung der gemeinsamen Akzidenzien auf Gott zugelassen hat. Jedoch tritt gerade in diesem Zusammenhang eine Schwierigkeit auf: Einerseits ist die aussagenlogische Affirmation unter Einbezug der Analogie ein wesentlicher wahrheitsfunktionaler, epistemischer und sprachlogischer Befund. Andererseits erscheint auch die affir­ mative analoge Aussage als bloßes sprachlogisches Mittel, das die Kluft zwischen Begriffen und der realen Entität (hier: Gott) nicht vollständig überbrücken kann. Aus diesem Grund erhebt Thomas gegen die Affirmation wesentliche Einwände. Diesen paradox anmutenden Sachverhalt, dass affirmative ana­ loge Aussagen im Sinne der philosophisch-theologischen Analogie für den Bereich Gottes gerechtfertigt werden können, ist mithin nicht das letzte Wort zu diesem Thema. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns im Folgenden einem weiteren Aspekt der Prädikation zu. Von allen anderen Formen soll eine einfache Form bestimmt und behan­ delt werden, wie das Thomas zusammen mit Boethius behauptet, die Die Supposition als eine Setzung des Gemeinten unter einem Terminus ist auch in diesem Fall wichtig. Siehe Bochenski J. M., Formale Logik, S. 186, 188. 1093 S.Th.I, q.13, a.12ad3. 1092

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kein Träger der Akzidenzien ist.1094 Es ist weiterhin zu fragen: Wenn dieselben Prädikationsregeln sowohl für die in subiecto-Prädikation der geschaffenen Gegenstände als auch für Gott als gültig anerkannt werden, ist eine analoge affirmative Aussage über Gott die Wahrheit unseres Verstandes? Oder ist die Antwort: »Nein, dem ist nicht so«? Die Lösung des Problems rückt wesentlich näher, wenn die negative Prädikationstheorie des Thomas berücksichtigt wird.

4.5.1 Negative Prädikation versus affirmative analoge intensionale Prädikation Erstens notieren wir, dass negative Prädikate das bezeichnen, was bereits die affirmativen Prädikate bezeichnet haben. Die Prädikations­ differenz liegt aber darin, dass für eine prädikationslogische Lösung des Problems die Negation in der Aussage-Form »S ist nicht P« eingeführt werden muss. Dies macht den Rahmen aus, in dem neben der affirmativen Prädikation Gottes die negativen Begriffe der Prädi­ kation bei Thomas durch die These des Dionysius »negationes de Deo sunt verae« geltend gemacht werden. Die Frage aus der scholas­ tischen Diskussion, ob und bei welchem logischen Sachverhalt eine negative Aussage wahr sein kann, wird von Thomas bewusst gestellt und für die Antwort wird keine selbstverständliche Lösung angebo­ ten. Die Affirmation-Negation-Differenz im Sinne von Thomas hat weder seitens seiner Zeitgenossen noch seitens späterer Interpreten eine einstimmige Bewertung und Anerkennung gefunden. Einige gegenwärtige Autoren sind der Auffassung, dass Thomas im Grunde »eine Theorie positiver analoger Gotteserkenntnis« entwickelte, die auch dazu diente, die »negative Theologie des Pseudo-Dionysius wie auch die des Moses Maimonides zu korrigieren«.1095 Ich teile diese Auffassung, dass die Negationstheorie des Thomas keine eigenen Aufgaben stellt und keine eigene Lösungen bietet, sondern nur als korrigierende Bezugnahme auf die Negation von Pseudo-Dionysius und Maimonides zu verstehen ist, nicht. Welche Position vertritt Thomas mit der Auffassung der negati­ ven Form in seiner Prädikationstheorie wirklich? Welche spezifische S.Th.I, q.3, a.7. Thomas zitiert Boethius, lib. De Trin., cap.2. Vgl. Riesenhuber K., Partizipation als Strukturprinzip der Namen Gottes bei Thomas von Aquin. In: Miscellanea Mediaevalia, Bd. 13/2. Berlin; New York: De Gruyter, 1981, S. 969.

1094 1095

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

Sicht des Affirmationsproblems im Zusammenhang mit der Einfüh­ rung der Negation er vertritt und was nach Thomas zur Auffassung des Seins per negationem gehört und was nicht, ist noch weiter zu klären. Denn weder affirmative intensionale analoge Aussagen über Gott noch ihre Ablehnung sind unproblematisch. Die Analogie tritt im spezifischen Sinn auf, sie wird nämlich ein Teil der negativen Prädikation. Den gleichen Ort, den die Analogie in der affirmativen Prädikation eingenommen hatte, kann sie in der negativen Prädika­ tion nicht einnehmen. So ist das Prädikat »ist nicht gut« die Negation der affirmativen analogen Aussage, die negative Prädikatenlogik bie­ tet aber schwer greifbares Wissen in dem Fall, da das Aussage-Subjekt »Gott« ist. Der Maßstab, den Thomas mithilfe der Begriffe der Negation im Vergleich zu denen der Affirmation entwirft, hängt mit dem metaphysischen Sinn des Seins und dem gedachten Sein per nega­ tionem zusammen. Darin steckt die ganze Komplexität des Begriffs der Negation. Dieser Begriff ist mit einer Reihe unlösbarer philoso­ phischer Probleme verbunden, die, wie Thomas ausdrücklich verdeut­ licht, aus Mängeln in der philosophischen Argumentation herrühren. Ganz in der Nähe der ontologisch-epistemischen Problematik liegen logisch-semantische Mängel sowohl der affirmativen als auch der negativen intensionalen Aussagen über Gott. Diese Mängel bestehen grundsätzlich darin, dass die Weisheit, Kraft, Kausalität, Größe und Ähnliches, was im Bereich der Kreatur Akzidenzien sind, durch die akzidentellen Prädikate auch Gott zugeschrieben werden. Wird die Differenz zwischen metaphysischem und logischem Bereich als überflüssig erklärt, wird etwas, das nach der Art der zusammenge­ setzten Dinge als Gott bezeichnet wird, als Träger (subiectum, suppo­ situm) aufgefasst, der die Eigenschaften eines Zusammengesetzten annimmt. Als Beispiel gelten auch die von Thomas kritisch behandel­ ten affirmativen Aussagen über Gott wie »… ist unendlich großer Körper« und ihre Negation »… ist nicht unendlich großer Körper«. Er unterscheidet durch die Negation den Begriff der Unendlichkeit und den Begriff des Körpers (des hylemorphischen Kompositums) auf die Weise, dass er die Vorstellung von einem Proportionsverhältnis, in dem Gott auf analoge Weise als Element im Wesen der Dinge existiert, vorzubeugen sucht.1096 Nach Thomas wäre es angebracht, 1096 In diesem Zusammenhang ist auf Thomas’ kritische Interpretation des Anselm­ schen Proslogionbeweises »id quo maius cogitari nequit« zu verweisen. Die Textstellen

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diejenige Entität, die durch affirmative Ausdrücke als »ein unend­ lich großer Körper«, »der formgebende Wesensgrund aller Dinge« oder »die erste Materie« bezeichnet wird, von jeder anderen Entität durch die Negation zu unterscheiden. Demnach unterscheiden sich die zusammengesetzten Gegenstände und Gott, Gott und die erste Materie, die »nicht [als] voneinander Verschiedenes, sondern [als] etwas ganz anderes« sind.1097 Auf diese Frage und die Analyse der genannten Beispiele werde ich hier nicht ausführlicher eingehen. Ich mache nur auf die von Thomas aufgewiesenen Mängel in einigen Argumenten aufmerk­ sam:1098 (a) Der Mangel im ontologisch-semantischen Argument besteht darin, dass nicht hinreichend begründet wird, warum einzelne Namen eher von Gott als von anderen Entitäten ausgesagt werden. Wenn der­ artige Argumentation fehlt oder unvollständig ist, kann Gott ebenso gut als Ursache des Guten als auch des Körperlichen charakterisiert werden oder auch selbst etwa als ein unendlich großer Körper oder eine unendlich große Kraft aufgefasst werden. (b) Der Mangel im epistemisch-semantischen per-prius-per-pos­ terius-Argument, das notwendig zusammen mit dem Begriff der Analogie angewendet werden soll, liegt darin, dass alle Gott zuge­ schriebenen Namen per-posterius so verwendet werden, als ob sie ihn auf vollständige Weise charakterisierten. (c) Den Mangel im semantischen bzw. sprachlogischen Argu­ ment sieht Thomas darin, dass bei der Rede von Gott die aussagenlo­ gische Wahrheit der affirmativen Aussagen mit derjenigen Wahrheit gleichgesetzt wird, die eine des göttlichen Verstandes ist.

bei Thomas, die seine Auffassung und Einwände gegen den Anselmschen Beweis ent­ halten, sind: S.Th.I, q.2, a.1; q.3, a.8. / S.G.I, 10. / De Verit., q.12, a.12. / In Sent.I., d.3, q.1, a.2. Siehe die Kritik von Kurt Flasch gegen die Position des Thomas. Flasch weist auf die Mangelhaftigkeit im »Verständnis für die Eigenart des anselmianischen Denkens« bei Thomas hin. Thomas’ Fehler, so Flasch, liege darin, dass er »im allge­ meinen [spricht], […] aber dabei an die Erkenntnis empirischer Gegenstände [denkt]«. Siehe Flasch K., Die Beurteilung des Anselmianischen Arguments bei Thomas von Aquin. In: Analecta Anselmiana IV, 1 (1975), S. 111–125, (Zitat: S. 113). Dem wird hier, wie oben gezeigt, nicht zugestimmt. 1097 S.Th.I, q.3, a.8ad3: »[…] quod simplicia non differunt aliquibus aliis differentiis […] materia prima et Deus non differunt, sed sunt diversa seipsis. Unde non sequitur quod sint idem.« 1098 S.Th.I, q.13, a.2.

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

Die drei beispielhaften argumentativen Mängel von Thomas und seine Einwände demonstrieren vor allem die Problematik der affirma­ tionsbezogenen Prädikation. Die epistemische und prädikationslogi­ sche Tatsache, dass nicht alle affirmativen Aussagen notwendig wahr sind, verlangt nach der Suche noch weiterer Wahrheitsbedingungen, die Thomas ohne das Mittel der negativen Prädikation nicht erfüllbar findet. Seine Suche führt zu der negativen Prädikation. Als Thomas einer Reihe Ansätze der negativen Prädikation nachging, sollte er feststellen, dass seit Dionysius und Maimonides nichts philosophisch Fruchtbareres zu dieser Problematik gesagt worden ist und keiner der lateinischen Scholastiker ein so radikales philosophisches Instrumen­ tarium der Negation, das bei Maimonides zu finden ist, erprobt hatte. Für Thomas’ Einstellung zum Problem der affirmativen Prädi­ kation und Negation1099 ist die Rezeption besonders des maimoni­ dischen Verständnisses von den Eigenschaftsmengen, die auf Gott angewendet werden, und der Negation zu dieser Sprachpraxis in ihrer radikalen Form bedeutsam.1100 Maimonides versteht unter Negation in seinem Logik-Traktat alles das, was dem ganzen Subjekt das Prädikat abspricht, wie in der Aussage »Der Mensch ist kein Stein«. Er nennt diese Aussagen negative partikuläre Aussagen.1101 Um die Eigenschaftsmengen, die die Prädikate ausdrücken, übersichtlich zu halten, unterscheidet Maimonides universalen von partikulären Aussagen mit affirmativen und negativen Prädikaten und fünf Typen von akzidentellen und essentiellen Attributen (wie Existenz, Einheit,

1099 Siehe dazu: Siewerth G., Der Thomismus als Identitätssystem. Frankfurt am Main: Schulte-Bulmke, (2) 1961, S. 35 f. // Schönberger R., Thomas von Aquin »Summa Contra Gentiles«. Darmstadt: WBG, 2001, S. 41. 1100 Siehe: Wolfson H. A., Maimonides on Negative Attributes. In: Louis Ginzberg Jubilee Volume. English section. New York: American Academy for Jewish Research, 1945, S. 411–446. // Wolfson H. A., St. Thomas on Divine Attributes. Studies in the History of Philosophy and Religion 2. (Eds.) I. Twersky, G. H. Williams. Cambridge; Mass.; London: Harvard Univ. Press, 1977, S. 497–524. // Rubio M., Aquinas and Maimonides on the Possibility of the Knowledge of God. Dordrecht: Springer, 2006. // Burell D. B., On Knowing the Unknowable God: Ibn Sina, Maimonides, Aquinas. Notre Dame, Indiana: Univ. of Notre Dame Press, 1986. // Harvey W. Z., Maimonides and Aquinas on Interpreting the Bible. Proceedings of the American Academy for Jewish Research LV, 1988, S. 60–87. // Hyman A., Maimonides on Reli­ gious Language. // Kluxen W., Maimonides and Latin Scholasticism. In: Pines S., Yovel Y. (Eds.), Maimonides and Philosophy. Jerusalem: Hebrew Univ. of Jerusalem, 1985, S. 224–232. 1101 Mosche ben Maimon, Traité de logique, S. 37.

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Ewigkeit). Von dieser Unterscheidung her geht Maimonides auf die Diskussion der Probleme ein, die aus der unangemessenen Anwen­ dung der akzidentellen und essentiellen Prädikation auf Gott entstan­ den sind. Mit der Frage nach den akzidentellen und essentiellen Attri­ buten, die dem Aussage-Subjekt zugeschrieben werden, nimmt er das Problem der Einfachheit bzw. (Un-)Körperlichkeit Gottes und der Gott-Kreatur-Relation auf. Die gemeinsamen Attribute, die von Gott und Kreatur in affirmativer Prädikation ausgesagt werden, werden von Maimonides (mit wenigen Ausnahmen) abgelehnt, d.h., als pure aequivoca aufgefasst (arab. bil-ishtirāk al-mahd; hebr. be-shittuf (Ibn Tibbon)).1102 Nur wenige supponierende äquivoke Termini und deren Anwendung auf Gott können bei Maimonides zugelassen werden. Auf die amphibolen (mehrdeutigen) Termini, die etwa nach Avicenna und Averroes auf Gott anwendbar sind, ist nach Maimonides zu verzichten.1103 Auch wenn sie in ihren Anwendungen auf Gott und Kreatur nicht die gleiche Bedeutung haben, bringen sie nach Maimo­ nides logische Schwierigkeiten mit sich, die nur durch die Anwendung von Negation gelöst werden können.1104 Thomas wurde von der maimonidischen Stringenz der Beurtei­ lung der affirmativen Aussagen von Gott besonders inspiriert. Worin die Neuartigkeit des Lösungsvorschlags von Thomas selbst bezüglich der negativen Prädikation besteht, ist vor allem darin sichtbar, dass sein Verständnis der aussagenlogischen Negation prinzipiell seinem Analogiekonzept entstammt. Thomas geht davon aus, dass, wenn der Verstand sich über einen Gegenstand verneinend ausdrückt, dies weder metaphysischer noch logischer Gesetzlichkeit widersprechen 1102 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-52, Anm. 34, 56, 73. / Mosche ben Maimon, Traité de logique, X. // Siehe Weiss R. L., On the Scope of Maimo­ nides’ Logic, Or, What Joseph Knew. In: Link-Salinger R. (Ed.), A Straight Path: Studies in Medieval Philosophy and Culture. Washington: Catholic Univ. of America Press, 1988, S. 255–265. 1103 Vgl. Einleitung 1.2. Zum Verhältnis Maimonides zu arabischer Logik und zum Begriff der Amphibolie (gr. ἀμφιβολία) in diesem Zusammenhang siehe Wolfson H. A., The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides, S. 151– 173. / Wolfson H. A., St. Thomas on Divine Attributes, S. 517–522. 1104 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-52. Innerhalb der maimonidi­ schen Philosophie bedeutet diese Behauptung, dass es keinen gemeinsamen Begriff gibt, der Gott und Kreatürliches umfassen könnte. Der Begriff, der sich von Gott und kreatürlichen Gegenständen aussagen lässt, soll im strengen Sinn verschiedene bzw. äquivoke Bedeutung haben. In diesem Zusammenhang fraglich bleibt der Begriff der Amphibolie.

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

darf, d.h., Subjekt und Prädikat müssen einer Seinsstruktur der Sub­ stanz-Akzidens-Relation oder der Wesensaussage entsprechen, was aber – wie geschildert – im Wesentlichen problematisch und ohne eine bestimmte Methode und begriffliches Instrumentarium unmög­ lich ist. Sowohl die Affirmation als auch die Negation wird als eine begriffliche Trennung zwischen Subjekt und Prädikat dessen verstan­ den, was metaphysisch untrennbar ist. Die Trennung zwischen Sub­ jekt und Prädikat wird auf die gesamte Aussage bezogen, ohne dass das Subjekt damit verneint würde. Die prädikationslogische Affirma­ tion und Negation besagen also nicht, dass die Verneinung etwas dem Seienden auf die ontologische Weise hinzufügt oder wegnimmt oder dass das Sein einer Entität gleich als ontologisch Nichtseiendes zu erfassen ist. Warum bei Thomas die Frage nach der intensionalen negativen Prädikation auf den Begriff des Nichtseienden umgeleitet wird, wird im nächsten Abschnitt behandelt.

4.5.2 Negative Prädikation und Nichtseiendes Was mit der Heranziehung des »Nichtseienden«/»Nichtseins« (nonens) für die Negation geklärt wird,1105 kann folgenden Hinweisen in verschiedenen Texten von Thomas entnommen werden. Thomas nennt die eigentümlichen Bedeutungen, die unter dem Begriff »Nicht­ seiendes« verstanden werden: (a) Es ist nicht dasjenige, das überhaupt nicht ist, sondern dasjenige, das weder im Zustand des Aktes noch im Zustand der Potenz identifizierbar ist, also noch nicht existiert;1106 (b) es besagt jedoch nicht einen individuellen Mangel wie die Blindheit; und (c) es ist nicht der objektive Mangel wie das Dunkel (Mangel an Licht). Die erste Bedeutung, die dem Begriff des Nichtseienden ent­ nommen werden kann, schließt das Missverständnis aus, dass unter dem Begriff des Nichtseienden das absolute Nichts zu verstehen ist. Privation oder der Zustand der noch nicht existierenden Gegenstände sind weitere Bedeutungen des Begriffs Nichtseiendes, die sich auf Die allgemeine scholastische Vorstellung darüber, was unter dem Begriff des Nichtseienden zu verstehen ist, formuliert Bochenski wie folgt: Diese Vorstellung erklärt der Vergleich: »Antichrist« bedeutet den (nichtexistierenden) Antichrist und steht für den Antichrist, »Mensch« bedeutet seiner Natur gemäß den (existierenden) Menschen und steht für ihn. Vgl. Bochenski J. M., Formale Logik, S. 203. 1106 S.Th.I, q.5, a.2ad2. 1105

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Sätze beziehen und Modalitäten enthalten. Die Bestimmung dieser Bedeutungen spielen für unseres Thema keine zentrale Rolle, sie erleichtern trotzdem das Verständnis des Nichtseienden. Die Bedeutungen des Begriffs des Nichtseienden, die Thomas für die negative Prädikation thematisiert, lassen sich der weiteren Erläuterung des Begriffs der Negation entnehmen. Die Negation in der Aussage bedeutet zunächst die Distanzierung sowohl von den ersten Auffassungen des Verstandes und von Vorstellungsbildern, die sich auf die sinnliche Wahrnehmung beziehen, als auch infolge der Erkenntnis zusammengesetzter Dinge gebildeter Benennungen und Sätze, die Gott zugesprochen werden, z.B.: »Gott ist die Seele der Welt« (die Aussage von Augustin in de Civ. Dei VII, 6), »Gott ist der Urstoff« (die Aussage des Opponenten David von Dinant)1107 oder »Gott ist ein unendlich großer Körper.«1108 Diese unerwünschten phi­ losophisch-theologischen Folgen sind nach Thomas, wie gezeigt, zu negieren, da sie folgende falsche Vorstellungen von Gott generieren: (1) als ob Gott materieller Grund der Welt wäre, (2) als ob Gott die Seele der Himmelssphäre wäre, (3) als ob zwischen der Unendlichkeit, dem Sein Gottes und der Größe eines Körpers kein Unterschied bestünde. Ausschließlich durch das negative Prädikat »… ist nicht …« kann eine Distanzierung gegenüber den Vorstellungen von den nicht seienden irreführenden Merkmalen Gottes erreicht werden.1109 In diesem Analysegang geht Thomas einen Schritt weiter, wenn er zwischen zu negierenden Konnotationen und dem, was nicht nicht-ist, unterscheidet. Mit dem, was nicht nicht-ist, ist auf keine Weise der Schein gemeint, sondern es handelt sich vielmehr um das Seiende, dem ein Nicht-Sein zukommt, oder um das Nichtseiende, dem ein Sein zukommt. Darauf, dass das Seiende irgendwie das

S.Th.I, q.3, a.8. S.Th.I, q.7, a.1ad3. 1109 Darauf macht Weidemann aufmerksam: »Der Verstand erkennt diese Dinge dadurch, dass er alles, was das Sinnesvermögen wahrnimmt und die Einbildungskraft ihm vorstellt, im Vollzug einer Separation von ihnen ›trennt‹.« Weidemann verweist auf die Hauptursache der Irrtümer – die Vorstellungsbilder –, die der Verstand in bestimmten Aussagen bewusst verneint. In Bezug auf die »göttlichen Dinge«, so interpretiert Weidemann, bildet der Verstand das negative Urteil, um auszudrücken, dass geschaffene Dinge nicht auf dieselbe Weise beschaffen sind wie die göttlichen. Der Verstand kann jedoch ohne solche Vorstellungsbilder körperlicher Dinge auch »von Gott nicht aussagen, dass er unkörperlich ist […]«. Vgl. Weidemann H., Meta­ physik und Sprache, S. 140. 1107

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

Nichts an sich ist, wurde schon von Parmenides hingewiesen.1110 Wie kann das Nichtseiende (non-ens) erkannt werden? Welche Intension entspricht dem Begriff des Nichtseienden? Thomas geht davon aus, dass es nur dann erkannt werden kann, wenn es vom Verstand zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht wird, nämlich wenn es zum begrifflich erfassten Seienden wird.1111 Angenommen, vom Verstand aufgefasstes »non-ens« ist nicht Nichts, sondern es signifiziert als Name das einfache Eine mit seiner Eigenschaftslosigkeit, dann kann »non-ens« (wie »ens«) als der transkategoriale analoge Name von Transzendenz geltend gemacht werden. Ein weiteres Beispiel für die Eigenschaftslosigkeit des einfachen Einen ist dieses: Der Träger, etwa Mensch, der das Nichtsein nicht-essentieller Eigenschaften etwa Weißsein trägt, existiert als der Träger zusammen mit dem »Nicht-Weiß-Sein«.1112 Das negative analoge Prädikat »… ist nicht weiß« wird von dem Träger dann als wahr ausgesagt, wenn er die Eigenschaft nicht hat, die identisch mit der Farbe Weiß ist; oder wenn er das Potenzial weiß-zu-sein hat, das (noch) nicht verwirklicht ist; oder auch, wenn aus einem weißen Träger ein nicht-weißer Träger geworden ist. Der erste Seiende, der nicht nur das »Nicht-Weiß-Sein« ist, sondern gar keine Eigenschaften (weder in Aktualität noch in Potenzialität) hat, der aber nicht nicht-existiert, existiert in seiner Eigenschaftslosigkeit. Der erste Seiende verträgt sich nicht mit dem Nicht-Sein der Form. Die Form ist nicht Nicht-Sein, da mit ihr auf notwendige Weise das Sein selbst sich manifestiert.1113 Prädikations­ logisch gesehen wird diese durch das affirmative Prädikat bezeichnete Form einem Gegenstand, der das Aussagesubjekt ausmacht, in jeder Aussage zu- oder abgesprochen.1114 Die Aussage mit dem negativen Prädikat »Der erste Seiende ist nicht Form« ist in der de subiectoPrädikation dem Verständnis der Form gemäß widersprüchlich bzw. Parmenides. Text, Übersetzung, Einführung und Interpretation von K. Riezler, V; VI; VII; IX, v.6, v.37, v.47, S. 30–35. // Vgl. dazu Ryle G., Plato’s Parmenides. Mind 48 (1939), S. 129–151, 302–325. // Parmenides. A Text with translation, commen­ tary, and critical essays by L. Taran. Princeton: Princeton Univ. Press, 1965. // Nehamas A., Participation and predication in Plato’s later thought. Review of Meta­ physics 36 (1982), S. 343–374. // Kutschera F. von, Platons »Parmenides«. Berlin; New York: De Gruyter, 1995, S. 50–125. 1111 S.Th.I, q.16, a.3ad2: »Unde verum fundatur in ente, inquantum non ens est quoddam ens rationis […].« 1112 S.Th.I, q.9, a.2. 1113 S.Th.I, q.9, a.2ad3. 1114 S.Th.I, q.16, a.2. 1110

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falsch. Daraus folgt, dass die wahrheitsfunktionale Prädikatenlogik erfordert, Aussagen mit den Prädikaten wie »… ist nicht weiß« oder »… ist nicht seiend« zu bilden: Das Wahre gründet sich bei der Negation nicht in irgendwelchen Nichtseienden, die ohne Form bzw. ohne Wirklichsein als Nichts existieren könnten, und nicht in nicht-seienden Eigenschaften, sondern im Seienden, »quia ens cadit in ratione veri«.1115 In der intensionalistischen in subiecto-Prädikation des Thomas sind beide Aspekte – der des affirmativen und der des negativen – notwendig verbunden. Wird von einer Entität affirmativ oder negativ prädiziert, ist zuerst nach der Bedeutung des Namens des affirmativen (analogen) Prädikats etwa weiß zu fragen. Erst dann kann erschlossen werden, was unter dem Subjekt, das »nicht weiß« ist, zu verstehen ist. Auf diese Weise soll etwa die Qualität Weiß als der Name für die Eigenschaft weiß aus dem Bedeutungsbereich des Subjektbegriffs »Gott« identifizierend ausgeschlossen werden. Es soll jedoch im stärksten ontologischen und logischen Sinn anerkannt werden, dass in bestimmten Fällen sowohl die äquivoken und univoken als auch die affirmativen (analogen) Prädikate ihre Unzulässigkeit aufweisen. Denn die Aussagen »Der Mensch ist nicht weiß« und »Die Lebensmittel sind nicht gesund« müssen genauso wahr oder falsch sein, wie die affirmativen analogen Aussagen »Der Mensch ist weiß« und »Die Lebensmittel sind gesund« wahr oder falsch sind. Metasprachlich gesehen kann sowohl eine affirmative analoge Aussage als auch ihre Negation als wahre oder falsche Aus­ sage anerkannt werden.1116 S.Th.I, q.16, a.3ad3. In Perih.I, lect.IX, 110 (3)–117 (9); lect.XI, 146 (4); lect.XIII, 168 (5), 170 (7)–175 (12). / S.Th.I, q.17, a.4. Tarski drückt dieses Wahrheits-Falschheits-Problem der Prä­ dikation mithilfe der Formel aus: »X ist wahr genau dann, wenn p« (X: der Name einer Aussage der »Objektsprache«, die auf der Ebene der »Metasprache« bewertet wird). Mit dem Versuch, Thomas’ Behandlung affirmativer intensionaler Aussagen in Anleh­ nung an Tarskis semantisches Schema zu interpretieren, können unsere Resultate in folgenden Sätzen dargestellt werden: (a) »X ist wahr/falsch genau dann, wenn p« (X: der Name der affirmativen intensionalen analogen Aussagen der »Objektsprache« mit akzidentellen Prädikaten, die auf der Ebene der »Metasprache« als wahr/falsch bewer­ tet werden); (b) »X ist falsch genau dann, wenn p« (X: der Name der affirmativen intensionalen analogen Aussagen über Gott; wenn Gott in der »Objektsprache« akzi­ dentelle Prädikate zugeschrieben werden, sind sie auf der Ebene der »Metasprache« als falsch zu bewerten); (c) »X ist wahr genau dann, wenn p« (X: der Name der affir­ mativen extensionalen Aussagen über Gott; wenn Gott attributive Prädikate in der 1115

1116

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

Zum über die Unzulässigkeit der beiden Arten der Prädikation Ausgesagten kommt ein wichtiger Gesichtspunkt für die Spezifika­ tion dieser Arten hinzu: Thomas unterscheidet »negatio falsa« und »negatio vera«. Mithin handelt es sich nicht einfach um die Gegen­ überstellung der zwei Negationsformen, sondern es wird jene Grund­ lage gesucht, nicht nur zwischen Affirmation und Negation, sondern zwischen falscher und wahrer Negation zu bestimmen. Aus diesem Grund wird eine zusätzliche Möglichkeit gewonnen, potenzielle Feh­ ler in der in subiecto-Prädikation zu vermeiden. Der hier gesuchte Weg für die Bestimmung der wahren Aussagen durch die Negation, wo die negative Bestimmung wahr oder falsch sein kann, findet sich nicht nur in der Verwendung der erwähnten bedeutungstheoretischen und aussagenlogischen Regeln negativer Aussagen, denen die Methode »per negationem« entspricht, sondern auch in den Regeln der Diffe­ renz von affirmatio et negatio.1117 Da negatio immer auf affirmatio verweist, in diesem aber nicht begrenzt ist, hängt der zu bestimmende Wahrheitswert der negativen Aussage dank ihrer Komponenten, die für ein reales Suppositum supponieren, von einer der Instanzen – »falsa« oder »vera« – ab. Die Instanz weist die Gleichwertigkeit der Negation mit dem Suppositum der Aussage auf. Bevor ich weitergehende Schlüsse bezüglich der Negation ziehe, habe ich am Ende dieses Abschnitts bei diesem noch nicht vollständi­ gen Befund gefragt, worauf die Negation des Thomas eigentlich zielt. Thomas legt zuerst die Negationsform so aus, dass jeder Gegenstand, der durch Affirmation bzw. durch positive Begriffe erkannt und bezeichnet wird, auch durch Negation erkannt und bezeichnet werden kann.1118 Die Wahrheit der Aussage hat ihren Sitz im strengen Sinn nicht in der sinnlichen Wahrnehmung und nicht primär in der vom Verstand erkannten Washeit des Gegenstandes, sondern in der Rela­ tion mit dem zusammensetzenden und trennenden Verstand, da der Verstand dem Subjekt die mit dem Prädikat bezeichnete (substantielle

»Objektsprache« zugeschrieben werden, lassen sich diese Aussagen auf der Ebene der »Metasprache« als wahr bewerten.) Vgl. Tarski A., Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik. In: Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert. Hrsg. und eingeleitet von G. Skirbekk. Frankfurt am Main: Suhrkamp, (5) 1989, S. 143 ff., 156 f. 1117 S.Th.I, q.17, a.4. 1118 S.Th.I, q.39, a.4ad5.

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IV. Seinsprädikation

oder akzidentelle) Form zu- oder abspricht.1119 Was der Verstand mittels positiver Prädikate jedoch nicht zu bewerkstelligen vermag, ist die Bestimmung der eigentlichen Seinsweise wie diejenige Gottes mit Prädikaten, die üblicherweise dem Subjekt in Aussagen wie »Der Mensch ist ein Lebewesen« oder »Der Mensch ist weise« beigelegt werden. Der Verstand kann aber dem Subjekt (»Gott«) in affirmativen Aussagen mit univoken oder analogen Prädikaten wie »Gott ist ein Lebewesen« oder »Gott ist weise« jenes Prädikat absprechen.1120 In diesem Sinne sollte ein semantisches Projekt anerkannt werden, wie es von Präpositinus vorgeschlagen wurde. Er postulierte, dass sowohl affirmative als auch verneinende Aussagen über Gott für falsch zu halten sind. Thomas selbst tut das allerdings nicht. Er gibt seine eigene, auf Aristoteles gestützte Antwort, in der er versucht, die Auffassung des Präpositinus zu korrigieren: Derselbe Gegenstand dürfe nicht sowohl affirmativ als auch negativ ausgedrückt werden, sondern es sei kontextabhängig deutlich zu unterscheiden, was die affirmativen (falschen) Aussagen negieren und was die negativen (wahren) Aussagen behaupten.1121 So fügt sich Thomas in diejenige Tradition der Auffassung von Negation ein, in der die Negations­ aussagen mit der Behauptung »negationes de Deo sunt verae« des Pseudo-Dionysius übereinstimmen. Diese Tradition reagiert mit der negativen Prädikation auf Probleme, die primär aus der Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung folgen und die auf andere Weise kaum behoben werden können. Denn der Ausgangspunkt jeder indirekten Erkenntnis ist das empirisch Gegebene und dieses wird durch die Verstandesform S.Th.I, q.16, a.2: »[…] veritas est in intellectu componente et dividente: non autem in sensu, neque in intellectu cognescente quod quid est.« 1120 Die Äquivokation als Lösung dieses Problems bei Maimonides wird von Thomas also kritisiert. Termini wie »Wissen«, »Existenz« u. a. können nach Maimonides sowohl von dem Dasein Gottes wie auch von dem Dasein anderer Wesen nur auf die Weise der Äquivokation ausgesagt werden. Nach Thomas generiert eine derartige Lösung epistemische Probleme. Thomas’ Ausweg liegt zunächst in der Unterscheidung zwischen de subiecto- und in subiecto-Prädikation und damit zwischen der univoken, äquivoken und analogen Prädikation. Was eine solche Entscheidung bedeutet, wurde im Verlauf dieser Arbeit untersucht. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-35, 56, 58. // De Pot., q.7, a.2, a.7. / In Sent.I, d.2, q.1, a.3. Siehe zur Frage auch: Rubio M., Aquinas and Maimonides on the possibility of the knowledge of God. 1121 S.Th.I, q.39, a.4ad5: »Unde melius est quod simpliciter affirmativa negatur, et negativa concedatur.« 1119

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4.5 Negative Prädikation Gottes: Legitimation oder Verneinung der Analogie?

abstrahiert und benannt. Aus Grundregeln des Denkens folgt, dass sich das Wahre und Falsche vornehmlich im Verstand befinden, und eine Aussage heißt wahr, wenn sie Zeichen einer wahren Erkenntnis ist.1122 Trotzdem bleibt jede abstrakte Allgemeinheit »formell und unvollkommen«1123 und jede Entsprechung zwischen modi praedi­ candi und modi essendi, zwischen intellectus componens und intellectus dividens grundsätzlich problematisch. Als Thomas die besondere Weise des Verstandes im Erkennen und in prädikationslogischer Arbeit mit dem wahrheitsfunktionalen Aussage-Teil, dem affirmativen oder negativen Prädikat, analysiert, unterscheidet er zugleich die Weise des Verstandes von der Weise des Gegenstandes in ihrem Sein,1124 die Wahrheit des Verstandes (die die Wahrheit der Aussage garantiert) und die Wahrheit der Dinge.1125 Prädikationslogische Affirmation und Negation hängen mit der Grenze der kognitiven Leistungen zusammen, die immer nur ein limitiertes Wissen implizieren (vgl. 2.11), sonst wären die Erkenntnisse des menschlichen Verstandes für die absolute Wahrheit der Aussagen von Gott allem Anschein nach trivial. Im Endeffekt aktualisiert Thomas die Frage nach einem durch­ sichtigen wahrheitsfunktionalen propositionalen Inhalt und strebt nach einer möglichst exakten Anschaulichkeit der Begriffe, darunter auch der Begriffe der Negation und des Nichtseienden. Es erscheint hier für den nächsten und letzten Abschnitt sinnvoll, wenn wir drei Aussagetypen durch ihre formelle Struktur unterscheiden: in der Mitte zwischen affirmativen Aussagen »S ist P« und der absoluten Negation »S ist kein P«1126 steht nun die negative Aussage »S ist nicht P«. Diese Aussageformen der negativen Prädikation Gottes und des Begriffs des Nichtseienden wird gleich zur Sprache kommen.

1122 1123 1124 1125 1126

S.Th.I, q.16, a.1, a.3, a.7. C.G.I, 30. S.Th.I, q.13, a.12ad3. S.Th.I, q.16, a.7. Mosche ben Maimon, Traité de logique, S. 37.

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IV. Seinsprädikation

4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, kann der menschliche Verstand ein vollständiges (also wahres) Wissen über Gott nicht erlangen. Die Frage nach der Unerkennbarkeit Gottes wurde und wird dann aufge­ worfen, wenn es um die affirmativen Aussagen und die Wahrheit unseres Denkens geht.1127 Wir können nur das Wissen besitzen, das wir aus den Wirkungen Gottes erkennen und von den Wirkungen her auf analoge Weise so nennen, wie diese das Sein präsent machen.1128 Dieser Ausdruck ist auch bei der Aufstellung der negativen Aussagen über das ewige Suppositum, Gott, wirksam, d.h. durch den Verzicht auf die geschaffenen, zufälligen, zeitlichen, materiellen Modi, die zur irrtümlichen Bedeutungen führen können. Auch wenn, wie aus dem letzten Abschnitt folgt, angenommen werden kann, dass negative Aussagen der Form »S ist nicht P« Zeichen einer wahren Erkenntnis sind,1129 lässt sich diese Frage bei Thomas nicht in letzter Instanz entscheiden. Aus diesen Gründen stellt sich die Frage, was die letzte Instanz ist. Diese Frage fordert nach einer ergänzenden Deutung der S.Th.I, q.2, a.1ad2. S.Th.I, q.4, a.3; q.3, a.4ad2. Auf die Benennungen Gottes von den Wirkungen her auf die Ursache, auf die gemeinsamen analogen Begriffe, die bei Thomas von Gott und der Kreatur ausgesagt werden können, richtet sich die spätere Kritik eines Duns Scotus. Scotus sieht einen der wesentlichen Fehler des Thomas auch darin, dass Gott und Kreatur in gemeinsamen analogen Begriffe erfasst und ausgedrückt werden. Statt zwei Begriffe bzw. zwei analoge Prädikate zu gebrauchen, ist nur ein (wahrer) Begriff univok von Gott und univok von Kreatur auszusagen. Vgl. Joannis Duns Scoti, Doc­ trina philosophica et theologica. T.1. Ex Typographia Collegii S. Bonaventurae, 1930, Doctrina philosophica, I, § 5. / Duns Scotus, Über die Erkennbarkeit Gottes. Texte zur Philosophie und Theologie. Lat-dt. Hrsg. und übers. von H. Kraml. Hamburg: Meiner, 2000, Lect.I, d.3, p.1, q.2, 24, 26, 35, 39, S. 11, 13, 15, 19. 1129 Die überlieferte »klassisch-logische Negationstheorie«, darunter die des Thomas, wird von gegenwärtigen Logikern durch folgende Methode zu bestimmen versucht, dass: »(i) Jede natürlichsprachliche Negation ihre Operation ausdrückt, die, auf eine Proposition y angewandt, eine Proposition NON-y ergibt; (ii) diese Operation ist wahrheitsfunktional definiert, d.h. der Wahrheitswert von Non-y ist eine Funktion des Wahrheitswertes von y; (iii) dabei handelt es sich um eine vollständige 2-wertige Funktion in der Menge der Wahrheitswerte wahr und falsch derart, dass NON-y den Wert wahr genau dann hat, denn y den Wert falsch hat.« Vgl. Dölling J., Natürlich­ sprachliche Negation und logische Negationsoperatoren. Ein Beitrag zur semanti­ schen Analyse der lexikalischen Einheit. In: Ders. (Hrsg.), Logische und semantische Aspekte der Negation. (=Linquistische Studien 182). Berlin: Akademie der Wissen­ schaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, 1988, S. 2. 1127

1128

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

Prädikation von Thomas, um zu den noch fehlenden Schlusssätzen zu kommen. Für eine erweiterte Interpretation der negativen Prädikation wenden wir uns erneut dem erwähnten Begriff des Nichtseienden zu. Für diesen Schritt gibt es bei Thomas ein allgemeiner und zwei kon­ kretere Gründe: (a) Das Nichtseiende zu denken bedeutet – per negationem – zu den­ ken; (b) Das Prädikat und das Aussage-Subjekt, die in der negativen Aussage wie »Gott ist kein Seiendes«1130 im aussagenlogischen Sinn für dasselbe supponieren (sollen), können etwas über die Bedeutung des Nichtseienden mitteilen; (c) Die epistemische Unbestimmtheit und das Nichtseiende werden durch die Bedeutung des Begriffs conformitas zugänglich. Der Satz (a) bezieht sich auf die Erörterung des Begriffs des Nichtsei­ enden und der Negation, die im letzten Abschnitt erfolgte. Auf den Satz (b) und (c) gehe ich in nächsten zwei Abschnitten ein.

4.6.1 Negative Prädikatenformen und Analogie An den Satz (b) knüpfen sich folgende Überlegungen: Wenn die Affirmation die Konsequenz bedingt, dass die Bedingungen der wahr­ heitsfunktionalen affirmativen Aussagen das erkannte Sein sind,1131 scheint dies auch die Konsequenz für die negativen Aussagen zu sein. Denn wird nach wahren analogen, affirmativen oder negativen Aussagen gefragt, wird in beiden Fällen Rücksicht auf die Prädikati­ onsstruktur, Wahrheit und Falschheit im zusammensetzenden und trennenden Verstande und auf das reale und gedachte Sein genom­ men. Diese Vorgehensweise aber, wie wir erfahren haben, erweist sich als problematisch. Sofern die semantische Extensions-These, dass der Name »der Seiende« der eigentliche Name Gottes ist, wieder neu gestellt wird,1132 scheinen weitere Lösungen des Problems nicht möglich. Hier besteht jedoch eine aussagenlogische Möglichkeit: Die Aufstellung der paradoxen Aussage »Gott ist kein Seiendes«, die die S.Th.I, q.12, a.1ad3. De Verit., q.1, a.8. / S.Th.I, q.16, a.3ad3. 1132 S.Th.I, q.2, a.3; q.39, a.4: »[…] quia hoc praedicatum competit subjecto ratione formae significatae, quae est deitas.« 1130

1131

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IV. Seinsprädikation

Verbindung mit der Affirmation ablehnt, sodass die Aktualisierung der negativen Bedeutung gewonnen wird. Es scheint aber nun, dass die Aussage »Gott ist kein Seiendes« in einer extrem negativen Form »S ist kein P« einen schnellen Lösungs­ weg bei Thomas bietet, z.B.: Da das Subjekt und das (negative) Prädikat dasselbe bezeichnen müssen, steht das Zeichen (signa inten­ tionum oder signa intelligibilium conceptionum1133) »Gott« für den Bezugsgegenstand einer negativen Aussage und bedeutet in diesem Prädikatmodus kein Seiendes bzw. das Nichtseiende. Aber bei gründ­ licher Überlegung dieser Aussage erlangen wir – wie zuvor so auch jetzt – keine vollständige Lösung. Wir stoßen immer wieder auf einen offensichtlichen Widerspruch. Auf diesen Widerspruch weist Thomas selbst in einem anderen Text hin, in dem er diese negative Aussage der Form »S ist kein P« an die affirmative notwendig wahre Aussage »Gott ist sein Sein« knüpft.1134 Dass Thomas sich selbst widerspricht, scheint jedoch eine unwahrscheinliche Vermutung. Ich rekurriere hier auf den von mir erwähnten Begriff des Nichtseienden als etwas, dem das Sein zukommt, das aber durch seine Eigenschaftslosigkeit bestimmt wird (vgl. 4.4.3). Sichtbar wird zudem deutlich, dass durch diese Bestimmung die Bedeutung der negativen Aussage korrigiert und präzisiert wird, sodass sie für die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit eine besondere Rolle zu spielen vermag. Die Bedeutung der Verneinung »kein Seiendes« hilft, die Antwort auf die Frage zu finden, was mit den Formen der negativen Prädikaten von Gott genau ausgedrückt werden kann. Die Aussage »Gott ist kein Seiendes« – wie wir sie verstehen – besagt nicht Nichts, nämlich, dass das erste Seiende gar nicht da ist, sondern, dass er über allem Seienden steht.1135 Diese Aussage kann auch so interpretiert werden, dass Gott eine der Transzendentalien ist. Wäre Gott eine der Transzendentalien, etwa das Seiende, wäre er erkennbar und könnte als kategorial Seiendes ausgesagt werden. Es ist aber nicht der Fall. Trotzdem kann das Nichtseiende erfasst werden, jedoch erst dann, wenn es zugleich als Seiendes erfasst wird.1136 Das heißt, dass das Nichtseiende also wirklich ist, wie auch das Seiende wirklich ist. 1133 1134 1135 1136

S.Th.I, q.13, a.1; q.32, a.2. / S.Th.I-II, q.7, a.1. / C.G.I, 22, 30. S.Th.I, q.4, a.2. S.Th.I, q.12, a.1ad3. S.Th.I, q.16, a.3ad3.

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

Denn: Die analoge Einheit als strukturiertes Verhältnis von Seins- und Erkenntnisordnung (ordo essendi et intelligendi), von endlichen Seienden und dem ersten Seienden, die mithilfe transzen­ dentaler analoger Begriffe – etwa dem des Seienden – erfasst wird, ermöglicht dank der methodisch strikt aufgebauten Proportionsana­ logie (unius ad alterum) eine affirmative analoge Rede von Kreatur und Gott. Gott als actus purus überragt jedoch alles Seiende und alle Modi des Erkennens.1137 Das Prädikat in negativen Aussagen über Gott verlangt nach dem Ausdruck der absoluten Einheit zwischen esse und essentia. Es bedeutet in der letzten Instanz »kein Seiendes«. Die Kompliziertheit der Annäherung an die Negation erfordert es, erneut die Vorstellungsbilder zu thematisieren. Dieses ebenfalls auf die Analogie bezogene Thema hat zwei Aspekte: einen epistemi­ schen, den ich bereits in Kapitel 2 behandelt habe, und einen aussa­ genlogischen. Der äquivoke oder analoge Name, der vom Subjekt prädiziert wird, ist eng damit verbunden, dass die sinnliche Vorstel­ lung des Gegenstandes oft dasjenige ist, worauf sich die Funktion des Prädikats richtet. Was es (für eine Sprachgemeinschaft) heißt, ein falsches Bild des Gegenstandes zu erstellen, von dem ein Prädikat ausgesagt wird, und zu gebrauchen, behandelt auf ausführliche Weise Maimonides.1138 Dieser Irrtum (der gesamten Sprachgemeinschaft) hängt nach Maimonides zunächst mit einer Unfähigkeit zusammen, durch die Funktion der Prädikate zwischen wahr-falsch und partiku­ lär-universell unterscheiden zu können. Darauf hat Thomas Stellung bezogen. Nach Thomas bringt die affirmative Anwendung der Prädi­ kate wie »Gute«, »Weise«, »Lebendige« verschiedenartige Vorstellun­ gen mit sich, die lediglich aussagen, dass Gott nicht so ist, wie die leblosen Dinge sind. Das Signifikat (Bezeichnetes bzw. Bedeutung) sagt von Gott etwas auf die Weise der Analogie aus, d.h. so, wie unser Verstand Gott erkennt. Soweit diese Namen das Zeichen eines wahren Erkennens bzw. Wissens sind, sind diese affirmativen Aussagen von Gott wahr. Das vorrangige Problem aber ist, dass in den negati­ ven Aussagen das bestritten wird, was affirmative Aussagen wahr machen, da der Verstand, wie Thomas in vielen Texten wiederholt, das Wesen Gottes nur vom Geschaffenen her und insoweit erkennt, wie der geschaffene Verstand (intellectus creatus) ihn darzustellen vermag. Intellectus creatus stellt zum Beispiel bestimmte Wesensform 1137 1138

S.Th.I, q.12, a.1; a.1ad3. Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-1.

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IV. Seinsprädikation

bei naturwirklichen, aus Potenz und Akt konstituierten Körpern so dar, wie er diese aus den Eigenschaften erkannt hat.1139 In Gott kann es aber nichts geben, was ihm als Eigenschaft (accidens) zukommen würde. Dies provoziert wieder eine Rückkehr zu Darstellungsformen, die nur sinnliche Vorstellungen sein können oder nach dem Modell (quasi exemplaris) sinnlicher Vorstellungen gedacht werden. Die Vor­ stellungen können jedoch das eigentliche Wesen Gottes gar nicht wiedergeben. Dieses Problem wird als eine Besonderheit der mittelalterlichen Sprachphilosophie aufgefasst, insbesondere, wenn es sich um theolo­ gische Aussagen von Gott handelt. Wie erörtert, wertet Thomas die äquivoke Prädikationsweise als einzig mögliche Prädikationsweise von Gott, auf die Maimonides besteht, größtenteils als problematisch.

4.6.2 Unbestimmtheit, Nichtseiendes und conformitas Was bis hierhin noch nicht gänzlich einsichtig erscheint, ist der im Satz (c) verwendete Begriff der epistemischen Unbestimmtheit.1140 Wird angenommen, dass die Unbestimmtheit durch das Nichtseiende zugänglicher wird oder dass die Bedeutung der Unbestimmtheit mit der Klärung der weiteren Aspekte der Negation erreicht werden kann, bleibt mindestens noch ein Aspekt unklar, auf den ich zwecks der Antwort auf unsere Frage eingehen werde. Denn die epistemische Unbestimmtheit bzw. Unerkennbarkeit Gottes zeigt auf der Sprach­ ebene die Unkenntnis der Namen an: Wird mit dem Namen »der Weise« Gott benannt, bleibt das Bezeichnete unbestimmt. Name »Der Seiende« bezeichnet keine Seinsweise, sondern verhält sich unbestimmt (indeterminate) zu allen Gegenständen. Angesichts die­ ser Defizite und Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Bedeutung von Unbestimmtheit und des Nichtseienden in der negativen Prädi­ katenlogik läuft unsere Frage darauf hinaus, die fehlende Antwort mithilfe von zwei Begriffen – adaequatio und conformitas – zu finden. Den Begriff »adaequatio« verwendet Thomas, um bei der Rede über die wahre Prädikation folgendes Verhältnis zu behaupten: Es muss ein Verhältnis sein, in dem die vollkommene adaequatio zwischen geschaffenen Entitäten und dem menschlichem Verstand 1139 1140

S.Th.I, q.7, a.3. S.Th.I, q.13, a.11.

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

erreicht wird.1141 Worin aber besteht genau der Grund dieser adae­ quatio bei dem Nichtseienden? Besteht die vollkommene adaequatio zwischen dem Nichtseienden und dem Verstand, kann diese in einer wahren Aussagen ausgedrückt werden? Diese Fragen lassen sich mithilfe des conformitas-Begriffs beantworten. Der Begriff »conformitas« beinhaltet hier ein mehrstufiges Ver­ hältnis. Thomas unterscheidet die aufeinander bezogenen Stufen durch eine dreifache conformitas:1142 1)

Conformitas von Gegenstand und menschlichem Verstand:

Besitzt der Gegenstand seiner Natur nach eine eigene Form, und wenn der Verstand mit dem Gegenstand – der die Form des Verstandes ist – ähnlich wird, kann die Wahrheit durch die Gleichförmigkeit (per conformitatem) von Verstand und Gegenstand bestimmt werden. Für das Verständnis der epistemischen und prädikationslogischen Wahrheit gilt dann: Das Wahre ist durch diese Gleichförmigkeit erreichbar. Die von dem Prädikat bezeichnete Form ist dann dasjenige, was der Verstand componendo et dividendo dem Aussage-Subjekt zuoder abspricht. 2)

Conformitas von Sein und Verstand in Gott:1143

Da in Gott das Sein des Verstandes gleichförmig und auch sein Erkennen ist, ist Gott die höchste Wahrheit. Das Erkennen Gottes ist die Ursache jedes anderen Seins und jedes anderen Verstandes. Zu dieser Begründung der höchsten metaphysischen Wahrheit, die Gott selbst ist, gilt, dass diese unbestimmt bleibt und der sich nur durch negatio angenähert werden kann. Das ist der Grund, die meta­ physische, epistemische und sprachlogische Unbestimmtheit von den allen veritates contingentes, die der menschliche Verstand erreichen und ausdrücken kann, zu unterscheiden.

1141 1142 1143

S.Th.I, q.16, a.1. S.Th.I, q.16, a.2. S.Th.I, q.16, a.5.

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IV. Seinsprädikation

3)

Conformitas von geschaffenen Gegenständen und göttli­ chem Verstand:1144

Wenn die geschaffenen Gegenstände dem göttlichen Verstand gleich­ förmig sind, liegt das Wahre (das mit dem Seienden konvertibel ist) in Gegenständen selbst. Zur Stufe (1): Stufe (1) von conformitas gilt für die Bestimmung des Folgenden: Das Wahre (wie auch das Seiende) liegt im menschli­ chen Verstand, sofern der Verstand sich den Gegenständen angleicht bzw. analog wird. Zur Stufe (2) von conformitas ist hinzuweisen: Das Nichtseiende, wie die Unbestimmtheit, ist kein Gegenstand, der dem göttlichen Verstand gleichförmig werden könnte, woraus auch das Nichtseiende erkannt würde. Trotzdem hat das Nichtseiende (non-ens) Wahrheit, wenn nicht auch ex seipsis.1145 Zum letzten Ausdruck des Thomas stellt sich die Frage: Ist non-ens Ursache der Wahrheit im menschlichen Verstand? Die darauf bezogene Klärung des Nichtseienden bei Thomas greift auf die Grundlage der Tätigkeit des Verstandes zurück: Wenn das Nichtsei­ ende von Verstand als begrifflich Seiendes (in dem sich das Wahre gründet) erfasst und ausgedrückt wird, ist das Erfasste wahr, nämlich in dem Sinne, dass das Vermögen des Verstandes von Gott kommt1146 und jede Wahrheit des menschlichen Verstandes letztlich von Gott stammt. Die Wahrheit in höchster Instanz ist ausschließlich durch negatio erfassbar. Es besteht also kein anderes Mittel als das der Art der dreifachen conformitas, das das Nichtseiende und das Problem der Unbestimmtheit metaphysisch und sprachlogisch denken lässt. Diese Ergebnisse können durch die Analyse einer exemplari­ schen negativen Aussage von Thomas und mithilfe des von Tar­ ski weiterentwickelten Erfüllungsschemas dargestellt werden.1147 Ich gehe noch einmal auf die negative Aussage »Gott ist kein Seiendes« S.Th.I, q.16, a.5ad2. S.Th.I, q.16, a.5ad3. 1146 S.Th.I, q.16, a.3ad3: »Omnis autem apprehensio intellectus a Deo est […].« 1147 S.Th.I, q.16, a.3ad3. Siehe zu Tarski A., Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik, S. 143 ff., 156 f. Künne bezeichnet die überlieferte Analyse der Wahrheitsdefinition (schematisch: Die Aussage, dass Fa, ist wahr Fa) als aristotelisch, die auf Thomas zurückgeht und bis Moore und Tarski reicht. Deren Grundbegriff ist ein relationaler Begriff »adaequatio« bei Thomas, »correspondence« bei Moore und »Erfüllung« bei Tarski. Nach den von Tarski definierten semantischen Kriterien ist die Aussage dann wahr, wenn bestimmte Wahrheitsbedingungen erfüllt sind. Siehe Künne W., Abstrakte Gegenstände, S. 125 f. // Moore G. E., Some Main 1144

1145

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

ein. Tarskis Definition von den Wahrheitsbedingungen bietet uns die folgende Lesart der genannten Aussage von Thomas: Die negative Aussage »Gott ist kein Seiendes« ist wahr, da es etwas wie Gott gibt, das die Funktion »x ist kein Seiendes« erfüllt. Oder noch kürzer: A ist wahr, wenn es so etwas wie Gott gibt, das die Funktion kein F(x) erfüllt. Jetzt werde ich diese Aussage zunächst auf folgende Art artikulieren: »Gott ist kein Seiendes, ist wahr.«1148 Ein solcher Satz besitzt die Funktion, in folgender Sequenz die vollständige Einsicht von Wahrheit und Falschheit – wie dies bei Thomas vorkommt – zu präsentieren. Entspricht dieser Satz der dreifachen conformitas, ergeht daraus, dass jede Wahrheit des menschlichen Verstandes von Gott stammt, oder in einem wahren Aussagesatz ausgedrückt: »Die Wahr­ heit von »Gott ist kein Seiendes« stammt von Gott«. Im Rekurs auf das Gradsystem von Objekt-, Meta- und Metametasprache tritt die Wahrheit der negativen Aussage sogar im jeweils unterschiedlichen Grad auf: 3. Grad (Metametasprache) – die Aussage »die Wahrheit der Aussage »Gott ist kein Seiendes« stammt von Gott« ist wahr; 2. Grad (Metasprache) – die Aussage »Gott ist kein Seiendes« ist wahr; 1. Grad (Objektsprache) – »Gott ist kein Seiendes, ist wahr«. Auf allen Graden wird von der Negation ausgegangen und die Wahr­ heit der Aussage bestätigt. Der Wahrheitswert der Aussage in der Form – »dass p, ist wahr« wahr oder falsch ist – erfolgt nur vom 2. Grad aus, allerdings unter Annahme, dass auf diese Weise eine bestimmte Wahrheit diejenige des menschlichen Verstandes ist, aber die Wahrheit unseres Verstandes von Gott stammt. Aus der ausgeführten Analyse gewinnen wir die verschiedenen Prädikationsarten (unter diesen auch zwei Formen der negativen Prä­ dikation) bei Thomas. Mithilfe der Deutungen dieser Prädikationen beantwortet er eine Reihe der theologischen, erkenntnismetaphysi­ schen und prädikationslogischen Probleme. Er räumt die affirmative analoge Prädikation dort aus, wo er die Frage nach dem Wahrheitswert der Aussagen mit Negation in der letzten Instanz stellt. Im letzten Problems of Philosophy. (1910/11). New York: The Macmillan Company, 1953, Kap.3, 14–15. 1148 De Verit., q.1, a.8. / S.Th.I, q.16, a.3ad3.

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IV. Seinsprädikation

Abschnitt werden die Ergebnisse von 4.4, 4.5 und 4.6 zusammenge­ fasst.

4.6.3 Conclusio zur aussagenlogischen Negation Ich fasse die sprachlogische Analyse der Aussagen mit Negation in ihren Formen bei Thomas zusammen: (1) Dass die Aussagen mit negativen Prädikaten anhand des Thomas-Tarski-Schemas dargestellt wurde, heißt, dass Tarskis Defi­ nition von den Wahrheitsbedingungen uns die Lesart der aussagenlo­ gischen Negation bot, die die Einheit des erkenntnismetaphysischen und prädikationslogischen Wissens sicherte. Das bedeutet aber nicht, dass die Negation allein, ohne jedwede Affirmation, die Grundlage seiner Prädikationstheorie bildet. Zudem ist mit der Analyse gerade der negativen Aussagen das Ziel erreicht, das in der Analyse der analogen affirmativen Aussagen zu erreichen unmöglich wäre: Es wird die sprachlogische Interpretation des Zutreffens der Prädikate auf das hochkomplizierte Obiectum – das Eine, das keine Privation hat, aber nicht anders, als mithilfe der Negation erfasst werden kann – gegeben.1149 Thomas greift mit der Negation das Problem auf, das seinen Ausgang in der intellektuellen, mit der sinnlichen Wahrnehmung beginnenden Erkenntnis hat. Die Prädikate, die in der affirmativen (cognoscens-Struktur wiedergebenden) Aussage die Wahrheit der Erkenntnis ausdrücken, werden der in subiecto-Prädikation gemäß auch auf Gott angewendet, der weder ein Einzelnes noch Allgemei­ nes, sondern sein Sein und sein Erkennen ist. Zum Haupteinwand gegen diese Erkenntnis- und Prädikationsweise gehört, dass das erste Seiende, das alles Erkennen überragt, d.h. vollständig nicht erkannt werden kann, gleichzeitig von all dem verschieden ist, was seiend ist. Demgemäß gehört zu den Bedingungen der Bildung adäquater Aussagen sicherlich nicht dieselbe Formel »x ist das Seiende«, die für affirmative analoge Aussagen gilt, sondern die Formel »x ist kein Seiendes« (vgl. auch 2.7.2 und 2.7.3). (2) Mit der neu gestellten Frage nach dem Nichtseienden (in Kapitel 4) wurde vor allem über das Verhältnis zwischen dem mensch­ 1149

S.Th.I, q.11, a.3ad2.

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

lichen zusammensetzenden und trennenden Verstand und dem gött­ lichen Verstand sprachlogisch gesprochen. Wird das Nichtseiende bei Thomas nach der Art des dreifachen conformitas gedacht, ist das Nichtseiende nicht als ein leerer Eigenname für etwas, das gar nicht da ist, aufzufassen, sondern auf die Weise, dass es in dem Maße erfasst werden kann, in dem das Seiende gedacht wird. Wird auf diese Weise Gott zu denken gesucht, bleibt die Bedeutung des ersten Seien­ den generell unbekannt (ignota), da die Einfachheit Gottes und alle einfachen, durch sich bestehenden Formen, alle Vollkommenheiten des Seins, die Gott in se vereinigt, für den menschlichen Verstand nicht wahrnehmbar sind. Trotzdem wird das Eine unter dem Begriff eines Seinsträgers (in ratione subiecti) oder nach Art eines Seienden erfasst und in einer Aussage ausgedrückt.1150 D.h. die negative Prä­ dikation über Gott übernimmt die wahrheitsbegründende Funktion. Die Aussage »x ist kein Seiendes« kann diese Funktion übernehmen, da Nichtseiendes seine semantische Bedeutung von dem Verstand erwirbt, der grundsätzlich nicht falsch sein kann, da die Wahrheit unseres Verstandes von Gott stammt. Aus diesem Grund geht es primär um das (gedachte) Sein des Verstandes. Dadurch wird eine Möglichkeit der Befreiung von der Gebundenheit an sinnlicher Wahr­ nehmung, Vorstellungen und Akzidenzien aufgezeigt. (3) Ein Nichtseiendes zu denken heißt, es per negationem zu denken. Es geht dabei nach Thomas nicht um eine reine Negation. Der eigentliche Gehalt der reinen Negation liegt in diesem Fall tiefer als bei der Verwendung der negativen Prädikate. Mithilfe des Begriffs vom Nichtseienden kann der Gehalt, was der Verstand als Seiendes denkt, angemessener erfasst werden. Es muss jedoch vor allem unterschei­ den werden, was durch das Subjekt bezeichnet werden kann und wofür das Prädikat affirmativ oder negativ ausgesagt wird. Wir haben mit Thomas gefragt, wie die Bedeutung des ersten Seienden und die des Nichtseienden, von dem die Rede mithilfe negativer Prädikate mög­ lich ist/wird, zusammengefasst werden kann und welches Verhältnis diese Bedeutungen miteinander eingehen. Die Antwort liegt in der Analogie begründet, sofern negative Prädikation mit der affirmativen intensionalen Prädikation in Verbindung steht. Das ist das wichtigste Ergebnis dieses Abschnitts, das uns einen Schritt weiter hin zum Verständnis des Analogiebegriffs führt, insbesondere deshalb, weil 1150

S.Th.I, q.13, a.12ad1, ad2.

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IV. Seinsprädikation

die Frage nach der negativen Prädikation und der Analogie in der Forschungsliteratur selten gestellt wird. Die Fragen der negativen Prädikation wären ohne epistemische und ontologische Optionen bei Thomas sinnlos. Denn das erste Seiende ist nur im Geschaffenen greifbar und wird in der endlichen Partizipationsstruktur vom Verstand durch verschiedene Begriffe erkannt. Die im Begrifflichen eingeschlossene Vielheit, die durch die Mehrzahl der Prädikate zum Ausdruck kommt,1151 geht jeweils auf einen epistemologischen Kontext zurück, in dem die Probleme gerade entstanden sind. Die Aussagen können den aussagenlogischen wahrheitsfunktionalen Prinzipien gemäß logisch wahr (affirmativ oder negativ) sein, wenn isomorphe Strukturen übereinstimmen. Die Wahrheit oder Falschheit der negativen Prädikation ist von den Signifikationsweisen und Seinsdifferenzen her zu verstehen, d.h., dass die Subjekt-Prädikatstruktur ihren Sinn und ihre Bedeutung vom Sein und von dem Verstand her erhalten muss. Der affirmative Inhalt der Aussagen wird durch die auf analoge Weise gedachte Negation gewährleistet. In diesem Sinne sichert die Analogie den affirmativen Inhalt der Transzendenz in der Negation der Aussagen und im Begriff des Nichtseienden. (4) Der Wahrheitswert der Aussagen mit Negation liegt in der Erfüllung der wahrheitsbegründeten Funktion der Prädikate, die das verneinen, was die Referenz des Terminus nicht enthält. Wenn diese Ausdrucksweise einen Widerspruch enthält, bezieht sich dieser auf unsere (wahre und falsche) Auffassungen (hier: von Gott). Die notwendigen Kenntnisse der semantischen Bedeutung der Namen, speziell auch des Namens »Gott«, betont Thomas auf explizite Weise (vgl. 3.2, 3.3, 3.4). (5) Die aussagenlogische Negation gibt in zwei Prädikationsfor­ men die Seinsdifferenzen und Seinsweisen (etwa Akzidenzien) wie­ der. Sie lässt sowohl die Aussage-Subjekte und Prädikate behandeln, die das Seiende signifizieren, als auch die Auswirkung der Signifika­ tionsweisen auf die Prädikationsweisen bestimmen. Die Negation bietet den Ausweg aus epistemologischen und semantischen Pro­ blemen, wenn falsche Annahmen, die der Verstand aufgrund der Vorstellungsbilder und der Erkenntnis der Akzidenzien erwirbt, zu identifizieren sind. Falsche Signifikation vom Seienden wird durch negative Prädikate korrigiert: Die negativen Prädikate sollten aus­ 1151

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

schließlich für das stehen, wofür das Aussage-Subjekt steht, zudem auf die Weise, dass sie das negieren, was dem Aussage-Subjekt falsch zugeschrieben wurde. Unter dem significatum des Namens »Gott« will der erkennende Verstand sein Sein und sein Wesen verstehen, das Bezeichnete bleibt aber in seiner Unendlichkeit und Unbestimmtheit unbegriffen; sein Sein und sein Erkennen reichen über die Bedeutung des Namens hinaus. Wenn das Prädikat aber in der Aussage »Gott ist kein Seiendes« vom logischen Subjekt »Gott« negativ prädiziert wird, da Gott als actus purus alle Modi des menschlichen Erkennens überragt, verlangt diese negative Aussage über Gott nach dem Aus­ druck der absoluten Einheit zwischen esse und essentia. Somit sind nicht die affirmativen, sondern die negativen Aussagen diejenigen, die die natürliche Vernunft übersteigen und eine weitere Perspektive des Verstehens eröffnen. Es bleibt, wie Maimonides oder ihm folgend Albertus Magnus1152 und Thomas1153 behaupten, nur die Namenslo­ sigkeit.1154 Zu (1): Während Thomas negative Prädikate einer Prädikation von Gott der formalen Struktur »x ist nicht/ist kein y« gemäß reflektiert, greift er auf Maimonides’ Begriffe harhakah und bittul (arab. nafy; lat. negatio und Äquivalente: remotio, ablatio) zurück.1155 Albertus Magnus, Opera omnia, Super librum sententiorum (Sent.I), T. XXIX. Ed. M. Burger. Monasterii Westfalorum in Aedibus Aschendorff, 2015, p.1, d.2, cap.4, 57–62, S. 57: »[…] dicit Rabbi Moyses in libro De Duce Neutrorum, quod ›qui est‹ est nomen dei in ineffabile et praecipuum inter omni nomina, quia hoc nominat quod ipse verissime est et simpliciter sine additione aliqua.« / Sent.I, p.1, d.3, cap.1, 53–67, S. 80–81. / Super Dionysium De divinis nominibus, T. XXXVII. Ed. P. Simon, p.1, cap.1, S. 17–19, 39. // Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-57, 58, 60– 62. Bei der Erörterung der Frage nach dem unaussprechlichen Namen Gottes greift Albert auf die Erklärung des »qui est« zurück und folgt der Erläuterung des Tetra­ gramms von Maimonides (I-60, 61, 62) unter Einbeziehung auch der Terminologie eines Pseudo-Dionysius. Neben den Fragen nach den Namen Gottes diskutiert Alber­ tus die Attributenlehre des Maimonides und die mit dieser zusammenhängende via negativa (I-57). Zur Rezeptionsfrage des Maimonides bei Albertus siehe: Rigo C., Zur Rezeption des Moses Maimonides im Werk des Albertus Magnus. In: Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren: Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven. Hrsg. im Auftrag der Dominikanerprovinz Teutonia durch W. Senner OP unter Mit­ arbeiter H. Anzulewicz u. a. Berlin: Akademie Verlag, 2001, S. 29–66. 1153 S.Th.I, q.13, a.11ad1. 1154 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-57, 58. 1155 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-50 (bittul); I-39 ((harhakah). Siehe auch Wolfson H. A., St. Thomas on Divine Attributes, S. 497–524. // Leitane I., Magic in Jewish Philosophy of Religion. In: Dalferth I., Knuutila S. (Eds.), The 1152

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IV. Seinsprädikation

Mithilfe dieser Begriffe wird von Maimonides derjenige epistemische Zustand erklärt, in dem der Erkennende das Verständnis des ersten Seienden in ihrer deutlichsten logisch-semantischen Form erfasst. Demnach werden die affirmativen Prädikate »… ist y« verneint. Die Bedingung dieser Negation ist der Beweis.1156 Dem Argument der Negation des Maimonides gemäß ergänzt Thomas seine Negations­ theorie dadurch, dass auf die konnotativen, privativen oder absoluten Termini, die Gott beigelegt werden, durch die Negation verzichtet wird. Dass die Negation in Aussagesätzen den metaphysischen Sinn einer unbestimmbaren Referenz sichert, setzt im logischen Sinne die Erfüllung der Aussagefunktion, d.h. die Wahrheit der Aussagen, voraus. Sowohl bei Thomas als auch bei Maimonides schließen die negativen Prädikate in »x ist nicht P/kein P« die affirmativen Prädi­ kate aus, die für die geschaffenen Gegenstände stehen. »X« schließt aber nicht das Seiende bzw. Nichtseiende aus, sondern impliziert es. Die Wahrheit der negativen Aussage dieser Form wird als konsti­ tutives Kriterium für das Verständnis des ersten Seienden (qui est) angenommen. Dort, wo diese extreme aussagenlogische Lösung für das Erkennen des Wesens Gottes, dem menschlichen Intellekt und seinem eigentlichen Erkenntnisgegenstand bzw. dem Allgemeinen (quiditas rei sensibilis) nicht entspricht, steht für Thomas die Erkennt­ nis der Kreatur und die auf analoge Weise entsprechende Anwendung des Wissens auf das erste Seiende im Sinne der Proportionalität zur Verfügung. Thomas’ These lautet: »Wir können Gott von der Kreatur her benennen […]«,1157 obwohl streng genommen kein Name, der Gott benennt, die göttliche Wesenheit ausdrückt,1158 da das Wesen Gottes nicht erkennbar ist.1159 Hier müssen alle Möglichkeiten der Analogie als formales Prinzip ins Auge gefasst, jedoch auch ihre Grenzen beachtet werden. Zu (2) und (3): Die Prädikationstheorie bei Thomas ist gerade dort nicht frei von ontologischen und erkenntnismetaphysischen Vor­ aussetzungen und Limitationen, wo sie von den höchsten formalen

Origins of Religion in Philosophy, Theology, and Religious Studies. Helsinki: LutherAgricola-Society, 2017, S. 110–128. 1156 Mosche ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, I-59. 1157 S.Th.I, q.13, a.1: »Si igitur potest nominari a nobis ex creaturis: non tamen ita quod nomen significans ipsum, exprimat divinam essentiam secundum quodest […].« 1158 C.G.I, 31. 1159 S.Th.I, q.12, a.11.

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4.6 Nichtseiendes, falsche Affirmation oder wahre Negation

Denkinhalt handelt.1160 Dass wir das »Sein« Gottes nur in dieser Form kennen, liegt daran, dass Gott nicht in seinem Wesen, sondern nur aus seinen Wirkungen erkannt und signifiziert werden kann. Das scholastische Streitobjekt: die transzendentalen Begriffe und ihre Prädikation, die Frage nach der Prädizierbarkeit des Absoluten wie auch des Relativen mit denselben Begriffen – was die Analogie als formelles Prinzip einer methodisch dynamischen Strategie ermöglicht –, gründen in der »formellen Reinheit des Vernunftaktes selbst«,1161 in dem der menschliche Intellekt »sich selbst übersteigt«.1162 In der Verwendung sowohl der bedeutungstheoretischen und aussagenlogi­ schen Regeln der Differenz von affirmatio et negatio als auch der Regeln der negativen Aussagen ist der Intellekt im Stande, den metaphysischen Sinn des Seins und den des eigenschaftslosen einfa­ chen Einen zu begreifen, das gedachte Sein zu signifizieren und per negationem mithilfe einer wahren Prädikation zu artikulieren. Trotzdem hat der menschliche Intellekt streng genommen keine Chancen, zwei Realitäten – Gott und Kreatur –, die im Aussagesatz mit Subjekt und Prädikat bezeichnet werden, wahrhaft zu vereini­ gen. Die nichtüberbrückbare Distanz, die zwischen beiden bestehen bleibt,1163 ist größer als die zur Verfügung stehenden sprachlogischen Möglichkeiten. Demnach ist mit einem entscheidenden Schritt, der gerade die prädikatenlogische Negation einbezieht, eine gewisse Klar­ heit darüber gewonnen, was wir genau meinen, wenn wir Gott mit analogen affirmativen Aussagen ausdrücken und/oder mit negativen Prädikaten verneinen. Wenn unser Verstand Gott zum Satzsubjekt macht, kommt er der Wahrheit gerade in folgender Form näher: »Ich weiß, dass Objekt, das als a genannt wird, existiert, doch es ist nicht F.« Zu (5): Zwei Bedeutungen des Seins müssen notwendig unter­ schieden werden: der formale epistemische Akt der Verstandestätig­ keit und das reale bzw. ewige Sein – das »Sein« als Terminus und das Sein als actus purus. Dasjenige, worauf der Verstand Bezug nimmt, bleibt als außer-kategoriale Referentialität unerkannt und unbenannt, alles Formale übersteigend. Ein aussagenlogisches Postulat lautet: Bei der intensionalen prädikativen Affirmation ermöglicht das Prinzip der Analogie, dass die Verbindung zwischen Kreatur und Gott im Ver­ stand bzw. in einer Aussage zustande kommt. Dieses Prinzip wirkt bei 1160 1161 1162 1163

S.Th.I, q.3,a.4ad2. Vgl. Siewerth G., Der Thomismus als Identitätssystem, S. 6. Ebd., S. 6. S.Th.III, q.16, a.1.

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IV. Seinsprädikation

der Negation anders. Das Prinzip der Analogie lässt die Negation in dem Sinne zu, dass Analogie selbst hinsichtlich der Unbestimmtheit der Referenz quasi exemplari aufgefasst werden kann. Deshalb ist das vom Verstand abstrahierte Sein, wie zu sehen war, mit dem Nichtsein in dem Sinne zu vergleichen, dass dem Aussagesubjekt »Gott« (S) von dem aussagenlogischen Teil (P) in einer prädikativen Aussage nichts hinzugefügt und nichts subtrahiert wird, was nicht zu sein Wesen und sein Sein gehört. Die ontologische Konstitution der geschaffenen Gegenstände und die Konstitution des menschlichen Verstandes lässt nur das erkennen und benennen, was der Seinsweise des Erkennenden entspricht. Die Analogie stellt damit große Anforderungen an den Verstand, das Unendliche, Absolute und die höchste unerreichbare Wahrheit trotz dieser Schwierigkeiten zur Sprache zu bringen. Die Frage nach der Wahrheit der affirmativen oder negativen Aussagen ist Thomas virulent. Sie ist mit Analogie und damit mit allen wichtigsten Fragen des Prädikationskapitels und der Problema­ tik dieser Arbeit verbunden. Nach Thomas ist ordo predicandi und ordo essendi überbrückbar. Dafür braucht es einer Reihe mit dem Analogiebegriff verbundene weitere Begriffe, Modelle und Strategien. Der Analogiebegriff bietet universelle Strategien und Modelle, die, wie wir zusammen mit Thomas gesehen haben, funktionieren. Ein ganzes Bündel von Fragen bleibt im Hintergrund, etwa die Frage, ob und in welchen Fällen die Analogie den bestimmten Relationen den sprachlogischen und/oder metaphysischen Notwendigkeits- oder Kontingenzcharakter verleiht. Doch auf diese Frage einzugehen, über­ steigt den Rahmen dieser Arbeit.

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V. Fazit: Analogie: eine erfolgreiche Lösung der ontologisch-epistemischen, semantischen und sprachlogischen Probleme?

Trotz (oder dank) der langen philosophiegeschichtlichen Entwick­ lung des Analogiebegriffs gibt es keine Übereinstimmung, weder darüber, welche philosophische, theologische oder wissenschaftliche Leistungsfähigkeit er besitzt, noch darüber, ob viele metaphysische und ontologische, epistemische, semantische und sprachlogische Pro­ bleme durch die Anwendung der Analogie – statt der Univokation, Äquivokation oder eines anderen Instrumentariums – besser konzi­ piert werden können. In dieser Arbeit wurden diejenigen von Thomas diskutierten Probleme vorgeführt, bei denen Analogie als vorrangig auftritt: Das sind Probleme des Seienden als Seiendes und des Ersterkannten; das Problem der Assimilation vom Erkenntnisgegenstand und Erkennt­ nisvermögen und damit die Frage nach der Proportionalität als der Grundlage aller analogia entis und nach den Arten der Proportionali­ tätsanalogie; die Probleme der Vielheit und Einheit und damit das Problem vom Teil und Ganzen und dasjenige der Partizipation; das Problem der Transzendentalien; das Problem der mereologischen Intensionalität und Extensionalität; das Problem der (Un-)Ähnlich­ keit und Analogie. Die erwähnten Probleme und deren Subprobleme, die zwischen epistemischer und ontologischer Ebene anzusiedeln sind, kommen auf einer anderen Ebene als logisch-semantische Problematik vor. Anhand des jeweiligen Instrumentariums, mittels dessen auf diese Probleme Bezug genommen wird, ist zu erkennen, ob jemand eher einen Nominalismus, Konzeptualismus oder Realismus und in welcher Hinsicht vertritt. Seit der von Aristoteles polemisch gestellten Frage nach dem Begriff der Analogie selbst ist auch bei den Scholastikern eine Problematisierung der strukturellen Einheit der Wirklichkeit zu erkennen. Die Ergebnisse der vorgestellten Analyse bestätigen, dass die Analogie ein unentbehrlicher Begriff der Philoso­ phie, Theologie und der aristotelisch geprägten Wissenschaftstheorie

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V. Fazit

ist. Wenn jetzt die Antwort auf die Frage zu geben versucht wird, weshalb analogia auf solch einem breiten Feld der philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Problematik mit derar­ tigem Vorrang in Erscheinung tritt, fällt die Antwort nicht leicht. Denn für die Lösung derselben Probleme stehen jeweils auch andere Kandidaten wie Univokation und Äquivokation zur Verfügung, die mit ihren eigenen Methoden und Mitteln beim Erwerb des Wissens behilflich sind, allerdings zu unterschiedlichen Konsequenzen führen. Dass die Analogie in unterschiedlichen Bereichen und Ebenen vorkommt und dadurch einen Systemcharakter besitzt, zeigt sich etwa daran, dass eine bestimmte Frage, die Thomas in einem Kon­ text auf den Hylemorphismus bezieht, in einem anderen Kontext mithilfe der Proportionstheorie oder der Bedeutungstheorie erklärt wird, wenn diese (Analogie-)Frage im semantischen Bereich auftritt. Die Analogie erfüllt in jeder Situation eine bestimmte Funktion. Die zu untersuchenden Konstituenten der Gegenstände, Seinsdiffe­ renzen, Relationen, Strukturen und die von diesen verursachten Erkenntnisweisen, Signifikations- und Repräsentationsweisen wie auch isomorphe Beziehungen werden in jeweils bestimmten Kontex­ ten gedeutet. Diesem Zweck dient Thomas’ methodischer Ansatz. Die Vorrangigkeit der Analogie tritt in ihren verschiedenen Spielarten auf, die in Grenzgebieten zwischen Ontologie, Epistemologie, Sprach­ philosophie und -logik angesiedelt sind. Der Gebrauch der Analogie weist gleichzeitig auf eine Menge ungelöster Probleme innerhalb der scholastischen und insbesondere auch der thomanischen Philoso­ phie auf. Die platonisch-augustinischen, averroistischen und nominalisti­ schen Traditionslinien sowie ihre entsprechenden Erkenntnis-, Signi­ fikations- und Prädikationsweisen bilden zentrale Quellen der disku­ tierten Ansichten, deren Vertreter wichtige Diskussionspartner des Thomas sind. Das besondere Interesse an der Position des Nomina­ lismus lag vor allem darin, dass diese half, Thomas’ eigene Position besser zu fassen, denn die Nominalisten begründeten – im Gegensatz zu den Realisten – die ontologische, epistemische und sprachlogische Fundierung der Relation zwischen Sprache und Wirklichkeit gerade in der Trennung der Bereiche. Auch wenn sowohl Thomas als auch Nominalisten, wie etwa der spätere Ockham, an den Fragen nach dem Wissenserwerb, nach dem Anteil des Intellekts an der Erkenntnis und nach der korrekten Wissenschaftssprache interessiert waren, die zwischen natürlicher und formaler Sprache zu verorten sind, kommt

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V. Fazit

die Analogie bei den Nominalisten als epistemisch-ontologische oder logisch-semantische Lösung nicht mehr zur Geltung. Das liegt daran, dass die nominalistische Position ihre Grundlage aus der These schöpft, dass die intentionale (gedachte) Sprache durch den Intellekt rational strukturiert wird und dass das eigentliche Erkenntnisobjekt des Intellekts bzw. des Wissens nicht das Allgemeine, sondern – im Gegensatz zu den Realisten – res singularis ist, auf das der Intellekt direkt bzw. intuitiv Bezug nimmt. Das Allgemeine bzw. Universale liegt nur im kognitiven Bereich, in anima, vor. Es ist also nicht das eigentliche Erkenntnisobjekt, wird aber von dem Intellekt gedacht. Es handelt sich dann um zwei Erkenntnisweisen, von denen die abstraktive Erkenntnis die intuitive direkte Erkenntnis voraussetzt. So finden sich gute Gründe, nicht nur die scholastische, sondern auch die moderne Realismus-Nominalismus-Debatte auf deren mittelalterli­ che Quellen klar zu durchdenken. Der epistemische Standpunkt des Thomas stimmt mit dem Ausgangsargument des ontologischen Realismus überein, dass alle in der Sprache konzipierten Einheiten als nichtsprachliche Entitäten unabhängig von der Sprache existieren, und der Verstand intentio­ nal auf diese Entitäten gerichtet ist. Auf die Frage der Scholastik, worin die Gründe des Wesens und der Existenz der Singularität und des Allgemeinen zu suchen sind und ob von ihrer Einheit zu sprechen ist, folgen mehrere Antworten. Die Ergebnisse dieser Arbeit verdeutlichen eine dieser Antworten, die Thomas’ Ontologie und Epistemologie mittels geeigneter Instrumente ausgearbeitet hat: Die Tradition der realistischen Epistemologie verwendet das Seinsargu­ ment für die epistemische Rechtfertigung der Erkenntnis und erreicht das Allgemeine aufgrund des Konkreten. Diese Position muss eine universalienrealistische sein, da sie das Universale in rerum natura und im Intellekt auffasst. Die Universaliendebatte, die sich an diese Problematik anschließt, trifft eine generelle Unterscheidung in Bezug auf das Wissenskonzept. Die Analogie erweist sich bei dem Erwerb wissenschaftlichen Wissens als unentbehrliches Analyseinstrument. Die Ergebnisse dieser Arbeit, die aus der detaillierten bzw. analytischen Analyse der Frage nach der möglichen Strukturierung der Einheit mithilfe der Analogie aus ontologischer, epistemischer, semantischer und sprachlogischer Sicht folgen, werden in den nach­ stehenden wichtigsten Folgerungen zusammengefasst. Die wesentli­ chen Besonderheiten der vorgestellten Untersuchung werden mithilfe der folgenden Schlüsselbegriffe – (1) similitudo, (2) assimilatio, (3)

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V. Fazit

proportionalitas bzw. Isomorphie, (4) participatio, (5) unitas – zusam­ mengefasst. 1) Analogie und Similitudo: Similitudo kann durch eine mehreren Entitäten gemeinsame Qualität bestimmt werden. Wenn mehrere Entitäten in extrinsischer Relation zu dem gleichen Akzidens stehen, entsteht eine Ähnlichkeitsrelation. Da Ähnlichkeit nicht nur die Ein­ heit einer ontologischen Art stiftet, sondern die kategorialen Grenzen überschreiten kann, handelt es sich um einen transkategorialen Cha­ rakter der Ähnlichkeit. Aufgrund der Transkategorialität der Ähnlich­ keiten wird die über alle Art- und Gattungsgrenzen hinausgehende Einheitsstruktur gewonnen, die erst durch die Analogie zur Sprache gebracht wird. Aber die sprachlichen Ausdrücke, die das Verhältnis zwischen zwei ontologisch unterschiedlichen Entitäten, Gott und Kreatur, bezeichnen, werden nicht auf die Ähnlichkeit, sondern aus­ schließlich auf die Analogie zwischen beiden Entitäten zurückgeführt. Das Eigenartigste und das Universellste an den Gegenständen, nämlich ihre akzidentellen und substantiellen Eigenschaften, führen allerdings zu similitudo-Problemen. Auf den Charakter der Grundla­ gencharakter der Ähnlichkeitsrelationen und ihre Funktion im Auf­ bau der Erkenntnis- und Prädikationstheorie (Kap. 2 und 4) gehen die wichtigsten Diskussionen über die Eigenschaften zurück. Die Fragen nach der Grundlage der komplexen Strukturen, in denen die jeweili­ gen Eigenschaften auf verschiedenen ontologischen Ebenen vorkom­ men, und danach, wie diese Strukturen begriffen werden können, hat philosophische und theologische Diskussionen hervorgerufen. Für die Behandlung dieser Fragen als Fragen der (indirekten) Erkennt­ nis, die in der Vielfalt der Akzidenzien fundiert sind, entwickelten die scholastischen modistischen Logiker das überlieferte Aristoteli­ sche logisch-semantische Instrumentarium weiter, in dem analogia, univoca und aequivoca notwendig integriert wurden. Thomas hat dieses theoretisch-interpretatorische Instrumentarium für die Durch­ führung seiner Untersuchungen überzeugend zur Geltung gebracht. Wie bei anderen Analogieproblemen tritt das similitudo-Prob­ lem im breiten Spektrum der Diskussionen um den Relationsbegriff, Transzendentalien, Partizipation und Universalien, Repräsentation, Signifikation und Supposition auf. Aber was die Ähnlichkeitsrelation erfasst, scheint mit einem Satz nicht beantwortet zu sein, da die Analyse sich als mehrstufig erweist:

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V. Fazit

(a) Thomas’ Grundeinsicht in die Relations- und Eigenschaftsbe­ griffe wurde systematisch rekonstruiert: Wenn Relationen real sind, nicht aber als reale Gegenstände aufgefasst werden, sind sie als das Bezogensein auf etwas hin (ad aliquid) zu verstehen. Wenn sie durch den Hinweis auf ein anderes (respectus ad aliud) begriffen werden, können sie nicht nur im Modus der wirklichen Gegenstände, sondern auch im Modus des Intellekts (als relatio rationis) aufgefasst werden, da der Intellekt das eine mit dem anderen in Relation setzt. Alle univoken (artnotwendigen) Bestimmungen, die mit Wesensgründen einer Spezies übereinstimmen, sind dispositionale bzw. essentielle Eigenschaften. Sie werden von den potentiellen bzw. akzidentellen Eigenschaften, nämlich analogen Eigenschaften, unterschieden. Sind die essentiellen und potentiellen Eigenschaften eines Trägers bekannt, können die Ähnlichkeitsrelationen zwischen Gegenständen einer Art bzw. Gattung bestimmt werden. (b) Similitudo ist ein der Partizipation nahestehender, jedoch nicht mit dieser gleichzusetzender Begriff. Die Vergleichsmöglichkeit der beiden lässt sich mithilfe der Begriffe des Seins und der Form ver­ anschaulichen: Da ein Wesen (das Sein eines jeden Seienden) an dem partizipiert, was seinem Wesen ähnlich ist (das Sein Gottes), können die Dinge, die selbst kein Sein sind, das Sein besitzen. Demnach können sie auf eine Weise zur Einheit gebracht werden, dass sie unter transkategoriale Namen wie ens (als) bezeichnet fallen. Als ähnliche werden Gegenstände aufgefasst, die auf gleiche Weise an ein und derselben Form teilhaben. In Fällen, in denen alle partizipierenden Gegenstände dieses Merkmal nicht auf die gleiche Weise besitzen, ist similitudo vom ontologischen, epistemischen und logisch-seman­ tischen Standpunkt aus eine nicht mehr befriedigende Bestimmung. Wenn etwas an jener Form in ungleicher Weise teilhat, bildet sich ein analoges Verhältnis aus. Auf diese Fälle, die darüber hinaus die theologische Problematik einbeziehen, wendet Thomas nicht mehr das Ähnlichkeitskriterium, sondern das der Unähnlichkeit an: Gott als Seinsgeber und von ihm realdistinkte partizipierende Einzeldinge in ihrer kreatürlichen Unähnlichkeit können nur aufgrund der Analogie in eine umfassende Ordnungseinheit gebracht werden. Von diesen Bestimmungen aus ergibt sich das Schema des ens per participationem, das auf die Grundeinsicht der analogen Erkenntnis verweist. (c) Die Analogie hat eine der großen Schwierigkeiten der Philo­ sophie gelöst; sie hat dabei geholfen, den krassen Gegensatz zwischen similitudo und dissimilitudo zu mildern. Diese Lösung kommt insbe­

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V. Fazit

sondere bei der Kausalitätsfrage zur Sprache. Da jedwede Wirkung primär von der ersten Ursache bzw. dem äquivoken agens ausgeht, wäre das als similitudo bezeichnete Verhältnis zwischen Wirkung und Ursache in dieser Hinsicht unbefriedigend. Die dissimilitudo versus similitudo-Argumente zugunsten dissimilitudo kommen in Maimonides’ Fassung unter dem Stichwort pure aequivoce vor. Das von Thomas diskutierte Maimonidische Projekt hat es zum Ziel, auf jede Ähnlichkeit zwischen der Ursache und dem Bewirkten zu verzichten. Thomas akzeptiert die Maimonidische Einsicht, jedoch nur in dem Sinne, dass (auch nach Thomas) der unendliche Abstand zwischen der Ursache und dem Verursachten nicht eliminiert werden darf. Trotzdem entwickelt Thomas seine Deutung der möglichen Ähnlichkeit. Zwei zusammenfassende Formulierungen bezüglich der dissimilitudo versus similitudo-Argumente im Fall der Kausalitäts­ frage erhebt Thomas zum Programm: Wenn die causa universalis mit ihren Verursachten weder völ­ lig gleichartig ist (dann wäre die Ursache mit dem Verursachten ihrem ganzen Inhalt nach ununterscheidbar), noch völlig von diesen verschieden (dann hätte die Ursache keine Ähnlichkeit mit dem Verursachten), wird sie als analoge Ursache erfasst und nach Art der Proportionsanalogie erkannt. (d) In den in rebus creatis fundierten Ähnlichkeitsrelationen liegt die Grundlage sowohl der wissenschaftlich relevanten analogen Aussagen als auch der theologischen analogen Rede von Gott. Diese Bindung der Ähnlichkeitsrelationen an die Prädikation dient als syste­ matisches Modell für Thomas’ Epistemologie und Sprachphilosophie. Durch die weiteren, noch hinzuzufügenden Bedeutungen des Begriffs der Relationen wird der Zusammenhang dieses Modells mit der Analogie manifest: Wenn Relationen (insofern sie Relationen sind) als die Form des Verhältnisses zu einem Außen (Substanz) bestimmt werden, sind diese Relationen extrinsisch beigefügte. Wenn Relationen (insofern sie Eigenschaften sind) in ihrem Träger ein akzidentelles Sein haben, haften sie intrinsisch an der Substanz. Die Relationen (als Eigen­ schaften) bilden die Grundlage der Proportionsanalogie des unius ad alterum. Diese Art der Proportionsanalogie gilt als Musterschema für die Übertragung durch Bezugswechsel des Erkannten von der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung auf die andere – ontologische Ebene – von Gott.

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V. Fazit

Für Relationen (als Eigenschaften) gibt es in der Scholastik ein theologisches Standardproblem: Da Gott keine substanziellen oder akzidentellen Eigenschaften besitzt, kann er mittels der Übertragung des in der wirklichen Welt Erkannten auf ihn nicht identifiziert werden. Das Verhältnis zwischen Gott und Kreatur ist nicht einfach auf similitudo zurückzuführen. Unter similitudo können auch nicht die Gegenstände zusammengefasst werden, die verschiedenen Arten und Gattungen angehören. Den Begriff der Ähnlichkeitsrelation, der den üblichen Arten und Kriterien der Ähnlichkeit angemessen ist, verwendet Thomas revidierend und präzisierend. Seine Bestim­ mung eines Nichtstandardmodells der Ähnlichkeit bietet die objektive Chance, dass die Ähnlichkeit zwischen unähnlichen Entitäten zweier Seinsebenen – etwa bei der transkategorialen Relation zwischen End­ lichem (Kreatur) und Unendlichem (Gott) – konstruktiv darstellbar wird. Die Grundlage für diese Darstellung ist die zwischen zwei Relationsarten bestehende unähnliche Ähnlichkeit, die durch die Pro­ portionalitätsanalogie strukturell transparent wird (bspw.: Medizin (causa):Gesundheit der Lebewesen :: Kreatur:Gott). Die Gegenstände, die nicht mit Gattung und Art begrenzt werden (etwa alle weißen Gegenstände, die in Bezug auf die weiße Farbe den verschiedenen Kategorien angehören), sind unähnlich und transkate­ gorial; sie können auf analoge Weise prädiziert werden. Die analogen Prädikate bezeichnen dann etwas, was allen Subjekten extrinsisch (etwa die Weiße) ist. (e) Thomas’ Vorgehensweise bei der Frage nach der Ähnlichkeits­ relation, seine Ausarbeitung des Nichtstandardmodells der Ähnlich­ keit, gehört zu dem beachtenswertesten Befund in der Philosophie und Theologie des scholastischen Realismus. Das Nichtstandardmo­ dell der Ähnlichkeit lässt sich als Modell für die Darstellung der Trans­ zendentalien fassen, das damit zu Thomas’ gesamtem Projekt gehört, von dem die Analogie nicht separiert werden kann. Der Zusammen­ hang der Analogie mit der Philosophie der Transzendentalien wird durch die Proportions- und Proportionalitätstheorie greifbar. Auf Begriffe der Proportionalitätsanalogie und der Ähnlichkeitsrelation wird die methodische Vorgehensweise bei der Behandlung der Frage gestützt, wie von dem Kreatürlichen (Bekanntem) auf das Unbe­ kannte (etwa Gott) geschlossen werden kann. Transcendentia sind nicht von dem Konkreten getrennt, da jedes Konkrete das analoge All­ gemeine in sich einschließt. So sind der analoge Begriff des Seienden und die mit ihm konvertiblen analogen Begriffe transkategoriale und

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V. Fazit

kategoriale Bestimmungen. Erst durch die transzendentalen Bestim­ mungen wird das analog allgemeine Sein der Erkenntnis zugänglich. Diese Auffassung bereitet der Erkenntnis einen Zugang zum Bereich des göttlichen Seins. Das Ergebnis ist aber das limitierte Wissen von Gott, das nach Thomas auf univoke Weise nicht adäquat ausgedrückt werden kann, da Gott alles Seiende und alle Modi des Erkennens überragt. Von diesem Standpunkt aus können die in voller Einheit und Einfachheit bestehenden Vollkommenheiten bzw. Transzendentalien in Gott, die im Geschaffenen getrennt und vielfältig existieren, durch vielfältige Begriffe des menschlichen Verstandes erkannt werden. In dieser Fassung der Transzendentalientheorie liegt Thomas’ Beitrag zur Metaphysik und – in Form der Fundierung der wissenschaftlich und theologisch relevanten Aussagen mit analogen Prädikaten – zur Epistemologie, Theologie und Sprachphilosophie. (f) Der Begriff similitudo kommt in der auf Aristoteles und Boethius zurückgehenden Semantik vor, nämlich bei der Diskussion der Fragen nach der nomen-ratio-res-Relation und der Wort- und Aussagesemantik. Die dreistellige Relation wird sowohl als die Signi­ fikations-Relation, in der die Wörter als Bezeichnungen der Begriffe dienen, als auch als die Similitudo-Relation, in der conceptus auf res bezogen wird, konkretisiert. Mit Blick auf das semantische Modell des Thomas vom Ähnlichkeitsaspekt her, sind die Begriffe Ähnlichkeiten bzw. Abbilder der Dinge; die Zeichen (Wörter) referieren aber indirekt auf erkannte extramentale Gegenstände mittels der Begriffe. Die Ähnlichkeit der semantischen Relation ist auf folgende Weise aufzu­ fassen: Der mit einem Namen bezeichnete Begriff des Verstandes hat die Ähnlichkeit nicht mit der »Natur«, sondern mit der verstandenen »Wirklichkeit«. Demgemäß repräsentieren die Zeichen (Wörter und Aussagen) die Wirklichkeit auf die Weise, wie der Verstand sie erkannt hat. Die conceptus-res-Relation (im Anschluss an die Assi­ milationsthese) ist vom Repräsentationsaspekt her zu betrachten: Insofern conceptus in einer begründeten Relation zum Gegenstand steht, kann das Wesen der Gegenstände durch die Begriffe erkannt und im Intellekt repräsentiert werden. In Thomas’ Projekt der indirekten Erkenntnis scheint es notwen­ dig zu sein, dass similitudo auf allen Erkenntnisstufen zusammen mit den begreifbaren epistemischen Strukturen vorkommt. Besondere Erkenntnisleistungen können aber nicht nur durch similitudo, son­ dern auch durch dissimilitudo erbracht werden. Das zu ermöglichen ist vor allem das Verdienst der Analogie. Aber im Rahmen der logischen

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Art- und Gattungsbestimmungen kann auf die Forderung nach simi­ litudo verzichtet werden. Denn die Artbestimmungen entstammen nicht den Ähnlichkeits- oder Unähnlichkeitskriterien, sondern dem Abstraktionsvorgang, da die Washeit eines Einzeldings von den mate­ riellen Eigenschaften abstrahiert wird, die nicht zum Wesen gehören. Bei diesen Fragen handelt es sich nicht um die Ähnlichkeit, sondern um die die Arteinheit bildende univoke Artform. Die Ähnlichkeit kommt in der (begrifflichen) Gattungseinheit dort vor, wo sie auf die im Gattungsbegriff formell gefassten generischen Merkmale (ähnli­ che sinnlich-organische Struktur) zurückgeführt wird. Die Besonderheit der Analogie im Vergleich zu üblichen Ähn­ lichkeitsrelationen besteht darin, dass durch Analogie nicht nur ein analoges Verhältnis, sondern die ganze Struktur analoger Verhält­ nisse bestimmt werden kann. (2) Analogie und Assimilation: Assimilation ist nach Thomas eine Angleichung des Verstandesvermögens an seinen Erkenntnisgegen­ stand durch die Wahrnehmungsakte und die Akte des abstraktiven Erkennens. Im erkenntnistheoretischen Vorgang ist der menschliche Intellekt in einem mehrstufigen Assimilationsprozess dabei, die similitudo cogniti in cognoscente dadurch zu erreichen, dass sein eigentlicher Erkenntnisgegenstand, die Washeit der extramentalen wahrnehmbaren Einzeldinge (quiditas rei sensibilis), das Allgemeine, aus der vereinzelten Materie abstrahiert wird. Dadurch wird ermög­ licht, dass der Verstand seinem Erkenntnisobjekt im Assimilations­ prozess proportioniert bzw. analog wird. Wenn sprachlich vermittelte Darstellungen als Repräsentanten des objektiven Seins im Verstande bestimmt werden, lässt sich der Erkenntnisakt als assimilatio bezeich­ nen. Der Grundsatz der assimilatio impliziert, dass es die vom Ver­ stand unabhängige Wirklichkeit gibt, worauf das Sinnesvermögen und der Intellekt im Erkennen Bezug nehmen. Die zu erkennen­ den extramentalen Gegenstände bleiben nicht vom Verstand völlig unabhängig. Sie sind dem Verstand zugänglich und werden analog durch die Struktur des Verstandes erkannt. In dieser epistemischen Dimension kommt der Begriff der assimilatio bei Thomas notwendi­ gerweise vor. Durch die sinnliche Wahrnehmung und Abstraktion als Haupt­ bedingungen der Erkenntnis gewinnt die assimilatio Gestalt. Die Abstraktion ist, wie aus den Erörterungen deutlich wurde, als ein

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notwendiger und spezifischer Akt des intellectus agens im analogen Erkennen zu fassen, in dem auch der intellectus possibilis auf das Erkennen vorbereitet wird. Im Abstraktionsakt gelangt von einem Einzelding zum abstrakten Begriff bzw. zur abstrahierten Washeit. Der Weg des Übergangs vom Besonderen zum Allgemeinen ist bei Thomas der Methodologie der wissenschaftlichen Erklärung der Begriffsabstraktion entsprechend gestaltet. Methodologisch ist auch das mathematische Verfahren der Abstraktion als operatio im gesam­ ten Assimilationsprozess verankert. Die mathematischen Entitäten sind bei Aristoteles und Thomas ontologisch keine von den sinn­ lich wahrgenommenen Gegenständen losgelösten Abstraktionen, sondern bilden ein repräsentationales System: Zahlen werden als mathematisch strukturierte Einheiten von Proportionen durch die aus den materiellen Bedingungen abstrahierte Form (quiditas rei sensibi­ lis) aufgefasst; die Aktualität des zu Erkennenden im Intellekt wird von seinem als prima conceptio aufgefassten esse proprium verursacht. Ermöglichst die abstraktive Tätigkeit des Intellekts den Übergang von der Materialität zur Immaterialität, können erkannte Einzeldinge im Intellekt als intentionales Sein dieser Dinge repräsentiert werden. Wenn das Wesen der Gegenstände durch die Begriffe im Intellekt repräsentiert wird, kann erst dann der Bezug auf die zu erkennenden Gegenstände durch diese Begriffe (oder auch mathematische Entitä­ ten) erstellt werden. Die Auslegung des epistemischen Assimilationsprozesses gehört zu Thomas’ Suche nach einer passenden Theorie der Angleichung des Verstandesvermögens an seinen Erkenntnisgegenstand, was für den ganzen Verlauf des Erkennens als Gewährleistung für den Erwerb eines wahren Wissens notwendig erscheint. Mit seiner Assimilati­ onsvorstellung setzt Thomas sein kognitives Modell der indirekten Erkenntnis fest. Diese Assimilationsvorstellung ermöglicht ihm, die species intelligibiles- und Abstraktionstheorie zu formulieren und den Erkenntnisweg von dem Ersterkannten bis zur Erkenntnis Gottes zu begründen, der nicht durch die geistigen Erkenntnisbilder (species intelligibiles) erkennt, sondern selbst sein Sein und sein Erkennen ist. Die Assimilationstheorie von Thomas zielt auf die Kompatibili­ tät zwischen dem verstandesbegabten Subjekt, dem Träger der Wahr­ heit und der Wahrheit des epistemischen Objekts ab. Das Wahre, das im menschlichen Verstand liegt, sofern er sich den Gegenständen angleicht bzw. ihnen analog wird, stammt aber von Gott.

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Nicht alle Probleme werden endgültig gelöst, weder bei Thomas noch in der nachthomanischen Philosophie. Das zu diskutierende Problem bezieht sich auf die zu erkennende Natur bestimmter geschaffener Gegenstände sowie auf die göttliche Wesenheit, da beide das Verstandesvermögen übersteigen. Dies stimmt mit der Assimilationsthese nicht vollständig überein. Trotz der Möglichkeit, dass die Analogie strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Intellekt und dem Erkenntnisgegenstand bestimmt, ist das nicht hinreichend, um die Assimilationsthese auf alle Fälle anzuwenden. Zu Thomas’ Auffassung der Assimilation und der Analogie wird beispielsweise ein prinzipieller Einspruch vonseiten der nominalistischen und gegen­ wärtigen konzeptualistischen Strömungen erhoben, die diese episte­ mischen Objekte als geistige Konstrukte auffassen. Der epistemische Ansatz von Thomas besagt, dass dasjenige, was das Verstandesvermögen zum Erkennbaren durch das Assimila­ tionsverhältnis und das Verhältnis des menschlichen Intellekts zum Gott in ihrer bestimmbaren Gesamtheit setzt, nicht nur die natürliche Gabe ist, sondern auch der Kraft der übernatürlichen, göttlichen Gabe entstammt. (3) Isomorphie als Strukturanalogie: Zwei oder mehrere ver­ gleichbare Strukturen, die in der gegenwärtigen Methodologie der Wissenschaften oft als Isomorphiebeziehungen bezeichnet werden, lassen sich auch als das in der Analogie gegründete methodische Prinzip im Sinne von Thomas deuten. Thomas’ isomorphische Ein­ sicht ist vom systematischen Struktur(en)begriff her zu verstehen. Vergleichbare bzw. isomorphe Strukturen sind grundsätzlich in drei Grundtypen einzuteilen: Ordnungsstrukturen, Relationsstrukturen und Modusstrukturen; sie können auch durch die Strukturkompo­ nenten wie »Teile/Konstituenten von …« oder »Elemente von …« unterschieden werden. Grundlegende isomorphe Strukturen wie ordo essendi und ordo intelligendi, ordo nominum und ordo rerum, ordo praedicandi und ordo essendi verweisen auf eine Strukturanalogie. Die Vergleichbarkeit der Strukturen bei Thomas gehört zum metho­ dischen Ansatz der systematischen Untersuchung der Wirklichkeit, die von epistemisch-ontologischen, signifikations- und prädikations­ theoretischen Gesichtspunkten her durchgeführt wird. Der Weltzugang ist nicht ohne bestimmte Bedingungen denkbar. Diese Bedingungen bestehen aber in der generellen und der speziel­ len Bestimmung der Wirklichkeitsstrukturen, die nicht willkürlich

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erfolgt, in ihrer Einheitlichkeit. Dies ist der entscheidende Grund­ gedanke für die Auffassung der thomanischen Isomorphietheorie. Analogie manifestiert sich als unentbehrlicher Begriff für die Ausfor­ mulierung seines Verständnisses von Isomorphie. Die Isomorphietheorie von Thomas strebt nach einer einheit­ lichen Deutung der Vergleichbarkeit der Strukturen. Aus diesem Grund umfasst sie mehrere systematisch geordnete Stufen. Der ersten Stufe entspricht die Herausarbeitung der strukturellen Anpassung der Erkenntnisvermögen an den durch die hylemorphischen Konsti­ tutionsregeln festgelegten Erkenntnisgegenstand; der zweiten Stufe entspricht die Deutung der ontologischen Konstituenten und der Konstitution des hylemorphischen Kompositums. Demnach wird die strukturelle Fassung der Wirklichkeit im Allgemeinem begründet. Zu einem näheren Strukturverständnis bzw. zu den Grundfor­ men des systematischen Struktur-Denkens kommt auf der nächsten Stufe durch die begriffliche Bestimmung des Einen im Verhältnis zur Vielheit und die Strukturierung der kategorialen Seienden mittels der Begriffseinheit, also durch die Bestimmung der Teile zu ihrem Ganzen. Die Einordnung der bestimmten Konstituenten, Relationen, Differenzen und Teile in eine Struktur wird streng bestimmten Prin­ zipien gemäß ausgeführt. Diese Strukturen leisten einen gewissen Beitrag zur Herausbildung des (bei Thomas: analogen) Wissenskon­ zeptes, stellen aber von selbst noch keine isomorphe Ordnung (als Vergleichssystem) her. Um z.B. Sachverhalte und Tatsachen eines Wissensgebietes zu erklären, müssen sie einem strukturellen Ver­ gleich unterliegen können. Das bedeutet, dass jede Struktur dem Abhängigkeitsprinzip gemäß auf ein gemeinsames Element, Prinzip oder eine gemeinsame Ursache bezogen wird. An der Analyse des Aufbaus etwa der Proportions- und Proportionalitätsstrukturen als einer Übereinstimmung der Erkenntnis- und Seinsordnungen in bestimmten Modi wurde diese Forderung einsichtig gemacht. Wird nach der Isomorphie zwischen ordo rerum und ordo nomi­ num bei Thomas gefragt, ist primär die Korrespondenz zwischen dem System des extramentalen Gegenstandsbereiches samt den erreichten Erkenntnisresultaten und dem semantisch strukturierten Sprachsystem zu bestimmen. Festgelegte Prinzipien der realistischen Sprachtheorie, die auf Bestimmung der Isomorphie zwischen ordo rerum und ordo nominum hinauslaufen, verlangen auch nach der Festsetzung des Ortes der Analogie in dieser Isomorphie. Entschei­ dend ist für die Ausführung dieser Analyse das Prinzip, demgemäß

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die Ordnung der Benennungen in analoger Weise der Ordnung der Erkenntnis folgen. Wie in Kapitel 3 und 4 dargestellt wurde, liegt bei Thomas eine entwickelte semantische Isomorphie vor, die durch semantische Strukturkomponenten wie Zeichen und Bezeichnetes, Wort bzw. Begriff und Gegenstände, Propositionen und Sachverhalte aufgebaut ist. Im Gegensatz zu der aristotelischen Auffassung, dass die Sprach­ struktur auf direkte Weise die Wirklichkeit widerspiegelt, kommt bei Thomas statt direkter Abbildung die Zuordnung von Wort und Gegenstand, Proposition und Sachverhalt zur Geltung. Es wird aber anhand der Analyse einer Isomorphie, die zwischen einer Aussage­ struktur und den strukturierten Konstituenten eines Objektes oder Sachverhaltes besteht, gezeigt, dass ein natürlicher extramentaler Gegenstand als ein Gegenstand auf die Weise aufgefasst werden kann, wie er begriffen bzw. durch eine Aussage ausgedrückt wird. Ähnlich ist bei ordo praedicandi und ordo essendi vorzugehen. Die Rezeption aristotelischer Ontologie und Prädikationslogik und ihre Interpretation, besonders durch arabische und jüdische Philosophen, hat Thomas zu einem eigenen Isomorphieverständnis veranlasst. Thomas führt diese Frage ein Stück weiter und verdeutlicht, dass und weshalb diese mithilfe der Analogie zu erfassenden Ordnungen nicht deckungsgleich sind, nicht zeitlich zusammenfallen, sondern dass der modus praedicandi dem modus essendi folgt. Hier wirkt also nach Thomas kein Identitäts- bzw. Extensionsprinzip; es wird eine intensionale Isomorphie entwickelt. Das System der intensionalistischen Isomorphie ist ein Teilsys­ tem des Sprache-Wirklichkeit-Systems. Dieses Teilsystem funktio­ niert nicht ohne zusammenhängende Mechanismen wie Assimila­ tion, Abstraktion, Repräsentation und Reflexion. Es wurde gefragt, ob und wie Isomorphie der mentalen Repräsentation entspricht. Offen­ sichtlich gilt nach Thomas hier das Prinzip, aus dem folgt, dass, wenn eine Isomorphie besteht, gemäß der das Repräsentationsprozess als gegenstandsbezogener mentaler Zustand entsteht, notwendigerweise dafür eine mentale Form (species intelligibilis) vorhanden sein muss. Der Grund für Thomas’ Verständnis der Funktion der Repräsentation im intendierten Intellekt, die anstelle eines extramentalen Gegen­ stands steht, ist von seinem Intentionsbegriff abzuleiten: Repräsenta­ tion kommt als eine durch die Tätigkeit des Intellekts entstehende Intention vor. Aus scholastischen Diskussionen um den Repräsen­ tationsbegriff ist bei Thomas die Einsicht festzustellen, dass die

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ontologische Struktur eines Erkenntnisgegenstands und die Bedeu­ tung eines Wortes oder einer semantischen propositionalen Struktur, die im Intellekt als erkanntes intentionales Sein repräsentiert wird, strukturell übereinstimmen müssen. Stimmt die Repräsentation und das Repräsentierte strukturell nicht überein, handelt es sich nicht um Isomorphie. Eine der wichtigsten Eigenschaften der Isomorphie betrifft die Frage nach dem Zugang zu den transkategorialen relationalen Gegen­ standsbereichen, die ohne methodisch klare Zuordnung der Struktur eines Bereiches zu einer anderen Struktur des anderen Bereiches nicht erreicht werden kann. Kein transkategorialer Struktur-Zusammen­ hang ist aber ohne Charakteristik der transkategorialen Merkmale eines jedweden Seienden und ohne Klärung der besonderen Mecha­ nismen bestimmbar. Die Entwicklung eines Systems der Philosophie und ihrer Bereiche hängt damit mit der Entwicklung ihrer Deutungs­ mechanismen zusammen. Mittels der Prinzipien der isomorphen Strukturierung wird die Substanz-Akzidens- und Gott-Kreatur-Relation als eine Proportiona­ litätsanalogie verstanden. Diesen Prinzipien entsprechend, gelangt man von der ontologisch-epistemischen Ebene auf die semantische und prädikationslogische Ebene. Die universale Entität – Gott als Letztes – nimmt eine zentrale Stellung der Erkenntnisordnung nach und als Erstes bzw. Unbekanntes der Seinsordnung nach ein, die affirmativ durch analoge transkategoriale Namen prädiziert wird. Mithilfe der transkategorialen analogen Begriffe legt Thomas eine semantisch korrekte Sprache fest. Zu dieser Sprachpraxis gehört die wahrheitsbegründende Funktion der Negation, die bei Thomas einen Ausweg aus epistemisch-ontologischen und semantischen Problemen durch Ablehnung der falschen Auffassungen und der falschen Bedeu­ tungen gewinnen lässt. Intensionale Isomorphie erbringt eine höhere Allgemeinheits­ stufe des Wissens, die aufgrund der transzendentalen Reflexion erreicht werden kann. Trotzdem kann die intensionale Isomorphie keine vollständige Lösung des Problems des Wissenserwerbs von Gott liefern. Die Isomorphie versagt in folgenden Problemfällen: (a) Wenn Seinsstrukturen erkannt werden, ist das noch kein Garant, dass sie dabei von Prädikationsstrukturen völlig adäquat bezeich­ net werden.

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(b) Wenn eine Proportionsstruktur erkannt wird, kann nicht voll­ ständig erkannt werden, dass sie mit einer anderen Proportions­ struktur vergleichbar ist, die einen unbekannten Analogon hat. Die Schwierigkeit im ersten Fall besteht darin, dass bei Thomas nicht von einer Aussagestruktur auf die Struktur der erkannten Gegenstände oder Sachverhalte durch die Identität (Univokation) geschlossen werden darf, da die Erkennbarkeit von Gegenständen und Sachverhalten niemals vollständig sein kann. Das zweite Problem liegt in einer Struktur der Proportionalität, die der gewonnenen Erkenntnis – wegen des unbekannten Analogons – der Seinsordnung nach (etwa die Vollkommenheit Gottes) nicht zugänglich ist. Das Wissen lässt sich trotz isomorpher Strukturverhältnisse, die aufgrund der Analogie, nämlich auf dem Weg des Vergleichs zwischen mehre­ ren Strukturen hergestellt werden, nur als limitiertes Wissen erwer­ ben. Die Analyse der Isomorphie zielt im Allgemeinen auf die Bestim­ mung des Zusammenhangs zwischen der Struktur der Sprache, der Struktur des Denkens und der Struktur der Wirklichkeit. Diese Struk­ tureinheit beinhaltet aber keine festen Zuordnungsbeziehungen, son­ dern bedeutet, dass ein Bereich aus dem anderen heraus verstanden werden kann. An dem formalisierten Isomorphiebeispiel lassen sich auf verallgemeinerte Weise die Strukturen, verschiedenen Struktur­ komponenten und Relationen (bzw. isomorphe Struktur als mehr­ gliedrige Analogie) veranschaulichen: Form:Materie :: Akzidens:Sub­ stanz :: Subjekt:Prädikat (Lesart: die Form-Materie-Struktur verhält sich zur Substanz-Akzidens-Struktur auf der Sachebene, sie verhal­ ten sich zur Subjekt-Prädikat-Struktur auf der Sprachebene). Dass die isomorphen Strukturverhältnisse von mentalen Strukturen und unabhängigen extramentalen Strukturen bestimmter Gegenstands­ bereiche nicht nur mithilfe der Analogie, sondern auch der Univo­ kation (Identität) oder Äquivokation (Identität nur auf sprachliche Ebene) erfasst werden, ist zur Grundlage der Entwicklung der unter­ schiedlichen philosophischen Strömungen, zunächst des Realismus, Nominalismus und Konzeptualismus, geworden. Die Analogie, die in strukturalistische und relationistische Methode gegliedert wird, stiftet eine Vergleichsmöglichkeit zwischen (un-)ähnlichen Gegen­ ständen. So können auch isomorphe Strukturverhältnisse konstruiert und durch Proportionen ausgedrückt werden. Indem Isomorphie herangezogen wird, wird das analogische Denken bei Thomas wesent­ lich konkretisiert.

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(4) Analogie und Partizipation: Metaphysische, ontologische, logische und prädikamentale Partizipation sind die etablierten Parti­ zipationsweisen. Das Partizipationsprinzip setzt auf ontologischer Ebene voraus, dass sich die Entitäten der ontologisch niedrigeren Stufe durch die Seins-Aufnahme in eine Entität der ontologisch höheren Stufe (etwa erste effiziente Ursache) konstituieren; im logi­ schen Sinn bedeutet dies, dass die Entität der logischen Relation, wie die Spezies, an der Gattung (Universalie) teilnimmt. Die Haupt­ bedeutung der in der Seinsmetaphysik fundierten Partizipationsthese besteht darin, dass sich das participatum zum participans als dessen Wirklichkeit (actus) verhält. Die Frage nach dem Sein ist eine der entscheidenden Fragen bezüglich der Seinsstruktur eines Einzeldinges und seiner Einheit. Die Konstituierung der endlichen Seienden, die das Sein nicht durch die eigene Essenz, sondern durch Partizipation am ersten Übergeordne­ ten haben, hat ontologische Konsequenzen: Dies setzt die Entstehung der notwendigen Differenz (und Komposition) zwischen Essenz und Sein in allen geschaffenen Gegenständen notwendig voraus. Die Undifferenziertheit von Sein und Essenz ist aber das Hauptmerkmal nur des mit sich selbst identischen Seins schlechthin. In diesem Rahmen, wo die Partizipation als Rezeption des Seins von der ersten effizienten Ursache erfolgt, kann der Zusammenhang zwischen Parti­ zipation und Kausalität bestimmt werden. Die grundsätzliche ontologische Relation ist die Relation zwi­ schen dem Einem, dem absolut Einfachen, das kein partizipierendes, sondern subsistierendes Sein ist, an dem andere partizipieren, und dem Geschaffenen, dessen Sein partizipiertes Sein ist. Die Diskussion dieser Relation eröffnet nicht viele Interpretationsmöglichkeiten: Die Relation zwischen dem Sein des Absoluten und dem partizipierten Sein kann entweder durch Identität (Univokation), durch sprachliche Bedeutungsgleichheit (Äquivokation) oder als analoge (asymmetri­ sche) Relation gedeutet werden. Wird die Grundlage der Partizipation in Thomas’ Ausführungen beachtet, ist das mereologische Konzept mit der Partizipation zusammen zu denken. Das mereologische Prob­ lem, ob Gott selbst (ipsum esse) als Teil an Gegenständen partizipiert, verlangt nach einer dezidierten Antwort. Gott kann weder Partizipant sein noch die Gesamtheit geschaffener Gegenstände bilden. Diese alte und in der Philosophie- und Theologiegeschichte viel diskutierte Frage nach der (Nicht-)Identität zwischen Gott und Kreatur löste Thomas im Großen und Ganzen durch die Analogie. Die Deutung

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des absolut Einen und seines Bezugs auf die Kreatur wird in vielen Kontexten von ihm ständig präzisiert, damit das Absolute eindeu­ tig und verbindlich nicht als Teil zusammengesetzter Gegenstände, sondern als das Sein des Schöpfers schlechthin bestimmt wird, der alle Dinge schafft bzw. ihre Ursache ist. Dennoch sollte gemäß dem Partizipationsprinzip das Absolute mit der Kreatur in eine Relation treten. Diese Relation muss dann eine transzendentale Relation sein, in der jedes geschaffene Seiende durch sein partizipiertes Sein am absoluten Seienden teilnimmt. So bildet sich die Grundlage einer mehrstufigen analogen Ordnungseinheit, in der das Geschaffene durch die Grade ihrer ungleichen Gleichheit als analog zum Absoluten gefasst wird. Das ontologische Partizipationskonzept hängt generell mit dem thomanischen Wissensbegriff zusammen und bildet damit auch die epistemische Grundlage der Partizipation. Die partizipativen Bezie­ hungen des Menschen am Sinnenwesen und der Kreatur an Gott setzen die Erkenntnis der ontologischen Gattung und die erkennt­ nismetaphysische Auffassung des Seins voraus. Die partizipativen Beziehungen setzen auch die semantisch-logische Grundlage der Partizipation voraus: Wenn ein transkategoriales Merkmal (etwa gut) vom kategorialen Seienden prädiziert wird, kann das Prädikat nicht als in sich gutes, sondern als gut nur per participationem am ersten Guten, Gott, verstanden werden. Die Partizipationsthese kommt hier nicht ohne die Transkategorialitätsthese aus. Der logische Weg führt von der Erkenntnis der Faktizität zur Erkenntnis der Gattungs-Allgemeinheit. Im Fall der logischen Rela­ tionen partizipieren etwa Spezies an der Gattung. Dann stellt sich die logisch-semantische Frage über die Bedeutung der prädikativen Universalien bzw. der Prädikabilien (genus und species), die durch eine Entscheidung zugunsten der Univokation beantwortet wird. Univozi­ tät liegt der üblichen Erkenntnisweise des Intellekts zugrunde. Das univoke Prädikat ist die Wesensbestimmung, die für alle einer Art zugehörigen Individuen univok, d.h. in völliger Bedeutungsgleichheit ausgedrückt wird. In dieser univoken Bedeutung ist das Einzelne gemeint, worauf das Allgemeine bezogen ist. Die univoke Prädikation ist aber kein Ansatzpunkt bei der Diskussion der Partizipationsfragen bei Thomas. Analogie verdrängt die Univokation, wie durch die Ergebnisse der Kapitel 2 und 4 gezeigt. Da aber das über alle Arten und Gattungen hinausgehende, in asymmetrischer Relation zur Kreatur

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stehende Absolute, Gott, nicht vollständig erkannt werden kann, wird das Partizipationsproblem mit der Unbestimmtheitsthese ergänzt. Im Fall der Erkenntnis der ontologischen partizipativen Bezie­ hungen zwischen der ersten Ursache und den Wirkungen entscheidet sich Thomas jedoch nicht für äquivoke Unüberbrückbarkeit zwischen den Bereichen, sondern für ihre Verbindung durch Proportions- und Proportionalitätsanalogie. Zu den Problemen der Proportion und Proportionalität gehören auch die der Partizipation, insoweit hierar­ chische Verhältnisse der partizipierenden Wirklichkeiten zur ersten Seinswirklichkeit in einer Seinseinheit formiert und einer bestimm­ ten Seins- und Erkenntnisordnung nach erkannt werden. Zu dieser Hierarchie gehört die substantielle Form, die Verstandesseele, die am ersten Intellekt partizipiert und deren Verhältnisse miteinander vom Standpunkt der Partizipation her behandelt werden. Welche grund­ legenden Aspekte der Analogie und der partizipativen Verhältnisse zwischen seinsmäßig unterschiedenen Entitäten manifest werden, demonstrieren weitere epistemische Ergebnisse: (a) Aufgrund der Partizipation der menschlichen Seele am höchs­ ten Intellekt Gottes ist die anima intellectiva als substantielle Form eines menschlichen Körpers zum Erwerb von Wissen geeignet. Da die am höchsten Intellekt partizipierende Seele das Vermögen zum Erwerb von Wissen über die universale absolute Wirklichkeit besitzt, kommt ihr Vermögen dadurch zum Tragen, dass das wahre Wissen in der theologischen und wissenschaftlichen Erkenntnis letztlich auch erreicht wird. (b) Da die Materie an der Seinsvollkommenheit durch die Form partizipiert und wirkt, werden die zusammengesetzten Einzeldinge erkannt. Wenn die Erkenntnis des Absoluten nur in dem Sinne gedeutet werden kann, wie diese Erkenntnis vom Geschaffenen emp­ fangen wird, ist das vom menschlichen Intellekt erworbene Wissen kein adäquates Wissen vom Absoluten, sondern ein limitiertes Wis­ sen, das durch affirmative und negative Prädikation ausgedrückt werden kann. (c) Die Partizipationstheorie trägt wesentlich dazu bei, die Frage nach der Differenz des Wissens, die die Philosophie immer beschäftigt hat, zu beantworten. Thomas deutet die Differenz des Wissens als die Differenz der Intellekte: Wenn das absolut Eine weder geteilt noch Teil der zusammenge­ setzten Gegenstände ist, sondern als Ursache aller Dinge durch seinen Intellekt auftritt, ist er der Erste Intellekt und sein Sein sein Erkennen.

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Die Erkenntnis des ersten Intellekts ist die Erkenntnis dessen, was er selbst verursacht. (d) Wenn der göttliche Intellekt damit ein vollständiges Wissen von allen Dingen besitzt, der menschliche Intellekt aber beim Erken­ nen auf indirekte Weise von der sinnlichen Wahrnehmung durch die Abstraktion voranschreitet, stellt diese Differenz den Grund der Dif­ ferenz zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Wissen dar. (e) Wenn der erste Intellekt Gottes die partizipierende Wirklich­ keit direkt erkennt, kann der menschliche Intellekt die Vielheit in ihrer Verschiedenheit indirekt durch ein methodisch ausgearbeitetes System erkennen. Er kann nicht das Allgemeine schlechthin, sondern nur den Begriff des Allgemeinen erkennen; er kann die Vollkommen­ heiten auf die Weise, wie sie in der Kreatur gegeben sind, mithilfe der Analogie erkennen. Die Wissensdifferenzen aufgrund der Differenz des göttlichen und des menschlichen Intellekts stimmen nicht nur mit Thomas’ Strukturthese überein, die er mit Begriffen der Proportions- und Proportionalitätsanalogie stützt. Sie stimmen auch mit der generellen Einheitsthese überein: Analogie als das fundamentale Werkzeug steht für die Herausarbeitung der Struktur des Seienden und der Seinserkenntnis bereit; sie lässt den ersten Intellekt und das göttliche Wissen, den menschlichen partizipierenden Intellekt und das erwor­ bene Wissen in einen Verhältniszusammenhang bringen und in ein einheitliches System einbauen. An die Problematik der Partizipation schließen sich die Einheits­ fragen an. Die Fragen danach, wie die verschiedenen Wirklichkeiten an der reinen unendlichen Seinswirklichkeit partizipieren, wie jedes Einzelding notwendigerweise am actus essendi partizipiert, und wie verschiedene Stufen der Seinseinheit miteinander zusammenwirken, bleiben offene Fragen. (5) Die analoge Einheit: Der analoge Einheitsbegriff der Philo­ sophie des Thomas geht auf das aristotelische, der Ontologie der Substanz entnommene Einheitskonzept zurück. Der aristotelischen Metaphysik als der Wissenschaft vom Seienden als solchen schließt sich Thomas’ strukturelle Fassung der Wirklichkeit an. Die aristote­ lische Bestimmung der Ousia begreift die besondere Beschaffenheit der ersten Substanz, sodass die Einheit eines jedweden Einzelnen und die Einheit zwischen der ersten Kategorie und allen vielfältigen kategorialen Seienden in ihrer Regelhaftigkeit gestiftet werden kann.

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Der Analogiebegriff lässt unterschiedliche Gegenstände und Bereiche in ein universalistisches System einordnen, spaltet dieses aber wie­ derum in viele ontologische, epistemische und logisch-semantische Substrukturen und Subprobleme auf, die immer wieder zu neuen Untersuchungen und zu Herausbildung neuer Richtungen in der Philosophie anspornen. Verzichtet sei auf zusätzliche Klärungen der analogen Einheit, da diese Studie selbst samt den zusammenfassenden Klärungen zu den anderen vier Punkten bereits die Vorgaben dafür enthalten. Alle fünf Hauptergebnisse zeugen von der Möglichkeit eines Systems der Einheit und sie alle tragen zum Verständnis des analogen Einheitsbegriffs bei, der die Einheit zwischen der Wirklichkeit und ihrer Ausdrucksweise in sprachlicher Form begründet. Erneut lässt sich anhand der Leitfrage nach dem Verständnis der Einheit bei Thomas in unterschiedlichen scholastischen Diskussionskontexten und mit verschiedenen Diskussionspartnern fragen: Wie lässt sich die Brücke zwischen einzelnen Strukturen und der Gesamtstruktur der Wirklichkeit schlagen und wie metaphysische, epistemische, semantische und sprachlogische Bereiche verbinden, ohne dass die ontologischen und semantischen Differenzen verwischt werden. Der analoge Einheitsbegriff, der die unterschiedlichen materiel­ len und immateriellen Entitäten begrifflich fassen lässt, ist gleichzei­ tig ein problematischer Begriff. Die Kompliziertheit dieses Begriffs besteht darin, dass er die Rolle übernimmt, eine alles umfassende ana­ loge Struktur des Seins, die nicht von allen Seienden in gleicher Weise besessen werden kann, begreifen zu lassen. Die ontologische Analyse erfordert eine intensionale Prädikation, die aufgrund des Wissens von göttlichen Vollkommenheiten, die vielfältig und auf unvollkommener Weise in kreatürlichen Gegenständen existieren und erkannt werden, bestimmt wird, durchzuführen. Auf der Grundlage dieses Konstituti­ onsprinzips des Seins ist die Einheit eines jeden Einzeldinges und folglich der analogen Strukturen der Wirklichkeit in ihrer Einheit durch mehrere Operationen (etwa Abstraktion, Assimilation, Propor­ tions- und Proportionalitätsbildung, Mengenbildung, Signifikation und Supposition, Isomorphiebildung, Bildung der transkategorialen Strukturen, prädikationslogische Affirmation und Negation) gewähr­ leistet. Die Vorrangigkeit der Analogie als eines der wichtigsten metho­ dischen systembildenden Hauptinstrumente hat bei allen zentralen einheitsbildenden Operationen der epistemischen, ontologischen und

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logisch-semantischen Art gezeigt, dass alle beteiligten Kategorien einen übergreifenden strukturellen Charakter haben und die extra­ mentale Wirklichkeit als analoge Struktur fassen lassen. Das objek­ tive Sein selbst wurde durch den Zusammenhang zwischen der Struktur der Sprache, der Struktur des Denkens und der Struktur der Wirklichkeit möglichst eingehend behandelt. Diese Strukturen, so wurde zusammengefasst, sind aber nicht als deckungsgleich auf­ zufassen, da die Begriffe des menschlichen Verstandes nicht direkte Ähnlichkeit mit der extramentalen Wirklichkeit, sondern mit der vom Verstand erkannten bzw. verstandenen Wirklichkeit aufweisen. Vorzubeugen sei aber auch dem Missverständnis, dass durch die hier ausgeführten Erörterungen letztlich eine strenge Analogietheorie formuliert wurde. Dadurch würde die Rolle der Analogie in der Philosophie von Thomas vielleicht zu konstruktiv beurteilt. Die Frage, ob sich von einem strengen System der Analogie oder einer strengen Analogietheorie bei Thomas sprechen lässt, wird angesichts dessen virulent, dass sich bei Thomas neben den sehr klaren Formulierungen der analogen Termini oder des Analogieproblems die Ersatzbegriffe wie Proportion und Proportionalität, Partizipation und Assimilation finden, die bei Erörterung der konkreten Fragen wiederum analoge Begriffe sich erweisen. Warum lässt sich Analogie als Methode, als strukturbildendes Instrument, als Konzept oder als Bedeutung auf mehrere Bereiche beziehen? Warum bleibt ihre Anwendung nicht an ein Problem, eine Funktion, eine Definition gebunden und auf diese begrenzt? Das bleibt nun ihr Geheimnis. Diese Frage harrt implizit als Leit­ frage im Hintergrund dieser Studie, die die Aufgabe hatte, die von Thomas gestellten und behandelten Analogiefragen und damit verknüpften (un-)lösbaren Probleme aufzuzeigen. Aber auch diese Kenntnis der unlösbaren und noch zu untersuchenden Probleme konnte mit Thomas nur soweit erlangt werden, wie die Analogie uns dies ermöglicht hat.

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