Die Ästhetik des Thomas von Aquin: Eine genetische und systematische Analyse 9783111372150, 9783111014838


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German Pages 279 [296] Year 1961

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Table of contents :
Einleitung: Die Aktualität des Themas
I: Schlummer und Erwachen des ästhetischen Interesses in der Scholastik
1: Die scholastische Ästhetik vom 9. bis zum 19. Jahrhundert
2: Die neuscholastische Ästhetik
II: Innere Schwächen der neuthomistischen Ästhetik
1: Schwächen in der Methode
2: Schwächen in der Lehre
3: Schwächen in Kenntnis, Verständnis und Verteidigung der Schönheitslehre des Thomas
III: Ein ästhetisches Programm für den Thomisten
1: Die erste Phase des Programms: Umriß einer zukünftigen aposteriorischen Rechtfertigung der Schönheitslehre des Thomas
2: Die zweite Phase des Programms: Umriß dieser Studie über Thomas’ Schönheitslehre
Erster Teil: Genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas
I: Einleitende Fragen über die Entwicklung von Thomas’ Schönheitslehre
1: Die möglichen Bedeutungen des Terminus »Gedankenentwicklung«
2: Die Wahrscheinlichkeit einer formellen Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas
3: Schwierigkeiten einer genetischen Analyse der Schönheitslehre des Thomas
II: Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas
1: Chronologie und Themenquantität
2: Auswertung der Angaben
III: Formell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas
1: Transiente Gedankenentwicklung in Thomas’ Schönheitslehre
2: Immanente Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas
3: Dreifache Auswertung der qualitativ-formellen Gedankenentwicklung
Zweiter Teil: Systematische Analyse der Schönheitslehre des Thomas
I: Die Existenz der Schönheit
1: Thomas’ Ansicht über die Realität der Schönheit
2: Thomas’ Liste der schönen Dinge
II: Thomas’ Lehre über das Wesen der Schönheit
A: Thomas’ Schönheitsanalyse — Die objektiven Prinzipien der Schönheit
1: Thomas’ Integritätslehre
2: Thomas’ Proportionslehre
3: Thomas’ Klarheitslehre
B: Thomas’ Schönheitssynthese — Die genetischen Prinzipien der Schönheit
1: Erste (abstrakte) Synthese
2: Zweite (konkrete) Synthese
III: Die Folgen der Theorie des Thomas über das Wesen der Schönheit
A: Objektive Folgen
1: Die Transzendentalität der Schönheit
2: Die Analogie der Schönheit
B: Subjektive Folgen
1: Die übersinnliche Erkennbarkeit der Schönheit
2: Das ästhetische Erlebnis
Quellen
Literatur
(Annähernd) Chronologisches Verzeichnis der Stellen der Ästhetik in den Werken des Thomas
Namen- und Sachverzeichnis
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Die Ästhetik des Thomas von Aquin: Eine genetische und systematische Analyse
 9783111372150, 9783111014838

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DIE ÄSTHETIK

D E S THOMAS VON

AQUIN

Q U E L L E N UND S T U D I E N

ZUR

G E S C H I C H T E D E R PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN

VON

PAUL W I L P E R T

B A N D III

1961 WALTER

DE

G R U Y T E R

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E BUCHHANDLUNG

·

GEORG

& CO.

/

BERLIN

V E R I . A G S H AN D LU Ν G · J. G U T T F . N T A G ,

REIMER

• KARL

J.

T R Π BN! Ε Κ

·

VEIT

VERLAGS&

COMP.

DIE ÄSTHETIK DES THOMAS VON AQUIN EINE G E N E T I S C H E UND SYSTEMATISCHE ANALYSE

VON

FRANCIS

J.

KOVACH

1961

W A L T E R

D E

G R U Y T E R

&

CO.

/ B E R L I N

V O R M A L S G . J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G · J. G U T T E N T A G , V E R LAG SB U C H H A N D L U N G . G E O R G R E I M E R . K A R L J. T R Ü B N E R · V E I T tc C O M P .

GEDRUCKT

MIT

UNTERSTÜTZUNG

DES

KULTUSMINISTERIUMS

Archiv-Nr.

NORDRHEIN-WESTFALEN

34 96 6 1 / I I I

A l l e R e c h t e , insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf p h o t o mechanische m Wege ( P h o t o k o p i e , M i k r o k o p i e ) zu vervielfältigen (Ç) 1 9 6 1 bv Walter de G r u y t e r &

C O . , B e r l i n W 30

Printed in G e r m a n y Satz und D r u c k : Walter de G r u y t e r &

CO.,

Berlin W 30

M E I N E R G E L I E B T E N FRAU IN I N N I G S T E R D A N K B A R K E I T GEWIDMET

VORWORT

Dieses Buch entspringt nicht nur meiner Bewunderung für das Genie des Thomas von Aquin, sondern auch meiner Überzeugung, daß es von großem Wert ist, Thomas' Gedanken und Lehre über die Schönheit genau und ausführlich zu kennen. Daraus ergaben sich für mich zwei Forderungen: die Entwicklung der Ästhetik im Werk des Aquinaten aufzuweisen und ihre Synthese zu versuchen. Bisher hat man das letztere nur teilweise, das erste noch gar nicht versucht. Ich bemühte mich, alle in Frage kommenden Texte heranzuziehen und ihre Chronologie festzustellen. Hiermit lege ich das Ergebnis meiner genetischen und systematischen Analyse vor. Fremde Interpretationen habe ich in der systematischen Analyse kaum berücksichtigt, da es mir um Thomas' eigene Lehre ging, nicht aber um verschiedenen Auslegungen. Daher ließ ich sozusagen Thomas für sich selbst sprechen, während seine Interpreten — alt und neu — lediglich in der Einleitung zur Rede kommen. Man mag nicht allen Ergebnissen dieser Doppelanalyse zustimmen, und wahrscheinlich wird man es auch nicht; Meinungsverschiedenheiten können aber leicht das Interesse wecken und zu einem besseren Verständnis der Ästhetik des Thomas führen, und eben das ist die Absicht dieses Buches. Die am Ende dieses Werkes zu findenden Indices mögen zukünftige Studien der Thomistischen Ästhetik erleichtern und bereichern. Diese Arbeit wie das Erscheinen dieses Buches wären ohne die Hilfe, die mir von vielen Seiten zuteil wurde, nicht möglich gewesen. Deswegen möchte ich hier vornehmlich Herrn Professor Dr. Paul Wilpert, Köln, meinen tiefempfundenen Dank für seine unschätzbare Hilfe aussprechen. Sodann fühle ich mich verpflichtet, den Herren Professoren Dr. Ludwig Landgrebe, Köln, und P. William Baumgaertner, St. Paul. Minn. (USA), den Herren Doktoren Wolfgang Kluxen und Karl Bormann wie meinen zahlreichen Kollegen und Freunden im Thomas-Institut, Köln, und überall in Deutschland und den Vereinigten Staaten meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Schließlich gelten meine Dankesworte der Philosophischen Fakultät der Universität Köln und dem Kultusministerium Nordrhein-Westfalen für ihre großzügige Unterstützung sowie dem Verlag Walter de Gruyter & Co. für die Drucklegung dieses Buches. Atchison/Kansas, Mai 1961

FRANCIS

J. K O V A C H

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung: Die Aktualität des Themas

1

I : Schlummer und Erwachen des ästhetischen Interesses in der Scholastik . . 1 : Die scholastische Ästhetik vom 9. bis zum 19. Jahrhundert

2 3

2: Die neuscholastische Ästhetik

5

I I : Innere Schwächen der neuthomistischen Ästhetik

10

1 : Schwächen in der Methode 2 : Schwächen in der Lehre 3 : Schwächen in Kenntnis, Verständnis und Verteidigung der Schönheitslehre des Thomas I I I : Ein ästhetisches Programm für den Thomisten

10 13 24 28

1: Die erste Phase des Programms: UmriB einer zukünftigen aposteriorischen Rechtfertigung der Schönheitslehre des Thomas 2: Die zweite Phase des Programms: Umriß dieser Studie über Thomas' Schönheitslehre Erster Teil: Genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

29 31 33

I : Einleitende Fragen über die Entwicklung von Thomas' Schönheitslehre . .

33

1: Die möglichen Bedeutungen des Terminus »Gedankenentwicklung« . 2: Die Wahrscheinlichkeit einer formellen G«dankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas 3: Schwierigkeiten einer genetischen Analyse der Schönheitslehre des Thomas

33

I I : Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

46 62

I I I : Formell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

68

1: Transiente Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre . . . 2 : Immanente Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas 3: Dreifache Auswertung der qualitativ-formellen Gedankenentwicklung

I : Die Existenz der Schönheit

41 46

1 : Chronologie und Themenquantität 2 : Auswertung der Angaben

Zweiter Teil: Systematische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

37

. . . .

69 66 77 84 87

1 : Thomas' Ansicht über die Realität der Schönheit

87

2: Thomas' Liste der schönen Dinge

93

Seite

II: Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

103

A: Thomas' Schönheitsanalyse — Die objektiven Prinzipien der Schönheit

106

1: Thomas' Integritätslehre 2: Thomas' Proportionslehie

106 113

3: Thomas' Klarheitslehre

125

B: Thomas' Schönheitssynthese — Die genetischen Prinzipien der Schönheit 1 : Erste (abstrakte) Synthese a) Die thomistische Ordnungslehre b) Ordnung und Schönheit 2: Zweite (konkrete) Synthese a) Die ästhetische Formenlehre des Thomas

147 147 157 166 166

b) Die Entstehung der Schönheit

173

I I I : Die Folgen der Theorie des Thomas über das Wesen der Schönheit . . . . A: Objektive Folgen 1 : Die Transzendentalität der Schönheit a) Die transzendentale Schönheit b) Häßlichkeit - objektiv und subjektiv betrachtet c) Die Schönheit und die anderen Transzendentalien 2: Die Analogie der Schönheit a) Analogie und Schönheit b) Die göttliche und kreatürliche Schönheit c) Die körperliche und seelisch-moralische Schönheit

182 183

. . . .

. . . .

B: Subjektive Folgen 1 : Die übersinnliche Erkennbarkeit der Schönheit 2 : Das ästhetische Erlebnis a) Der kognitive Prozeß : die ästhetische Erkenntnis b) Der appetitive Prozeß: das ästhetische Gefallen c) Epilog: amor pulchritudinis

145

183 183 193 200 2i4 2£ö 23L7 2SÍ1 23?

. . . .

232 237 2í¡8 2-42 2¡ó6

Quellen Literatur

2 Pulchrum Placent — (placet) — Proportio sive consonantia — Bonum J (Phelan, a. a. O. S. 143. — Vgl. von demselben: »Beauty in Nature and Art« in: Proceedings of the Am. Cath. Phil. Assn. XI S. 177, und Donlan, der diese Theorie von Phelan als eine von ihm adoptierte a. a. O. anführt: part IV η. 3 S. 213). 76 »It (i. e. beauty) is in fact the splendor of all transcendentals together. « J. Maritain : Art and Schol., Anm. 63b S. 172. — Vgl. John F. McCormick: Scholastic Metaphysics, Part I S. 89 f.

22

Einleitung

teilen. Zwischen diesen zwei Lagern gibt es nämlich ein drittes, und alle drei bilden kleinere Gruppen, die in ihren Meinungen mehr oder weniger auseinandergehen. Unter den Anti-Transzendentalisten gibt es solche, die die transzendentale Schönheit explizit ablehnen; dann auch andere, die dasselbe bloß implizit tun; und wieder andere, die die Schönheit unter den Transzendentalbegriffen nicht anführen (die daher die Idee der transzendentalen Schönheit indirekt, aber formell zurückweisen), aber an anderen Stellen doch Äußerungen abgeben, auf Grund derer man sagen darf, daß sie die Transzendentalität der Schönheit mindestens materiell zugeben. — Mit den bereits genannten Urráburu, De Wulf, De Munnynck, Sertillanges und Van Steenberghen76 gehören viele andere, ältere wie heutige Neuthomisten zur ersten Untergruppe 77 . Als stillschweigende Gegner der Lehre von der transzendentalen Schönheit kann man diejenigen betrachten, die diese Frage in ihren Werken über Metaphysik überhaupt nicht berühren oder der Schönheit auf der Liste der Transzendentalbegriffe keinen Platz gewähren — ohne aber Äußerungen zu machen, die dieser impliziten Ablehnung der Lehre von der transzendentalen Schönheit irgendwie widersprächen78. — Für die dritte Untergruppe ist Kardinal Mercier typisch. Wie De Raeymaker bemerkt79, hat er im Gegensatz zu seiner apriorisch »erwiesenen« Ansicht über die Unmöglichkeit, die Anzahl der Transzendentalbegriffe zu vermehren80, später zugegeben, daß die Schönheit ebenso wie die Wahrheit in allen Dingen grundlegend vorhanden sei81. Ähnlich steht es mit mehreren anderen Neuthomisten82. Die zweite Hauptgruppe neuscholastischer Denker wirft die Frage der transzendentalen Schönheit auf. Sie lassen sie aber entweder offen, da sie sich nicht klar sind83, oder gestatten der Schönheit eine gewisse " "

S. Anm. 35 zu Kap. I. Z. B. Reinstadler (a. a. O., S. 314) bzw. Bittie (a. a. O. part I I chap. X I S. 212). 78 Ζ. Β. Tongiorgi (Ontol. lib. I c. I V a. 1 n. 91 S. 45); — Grandclaude (a. a. O. cap. I I S. 165) ; — Thomas Harper (»Unity, Truth, Goodness [and these three only] are attributes of Being« — The Metaphysics of the School I Bk. I l l , Proposition X X V I I S. 170ff., insbes. S. 174); — Jouin, Sertillanges; Benignus F.S.C. (Nature, Knowledge and God. Chap. X V I I , I V S. 370ff. und 359). 79 Metaph. generalis, pars I sect. I I cap. 1 art. 5 § 2 S. 92. 80 a. a. O. (Übers.) S. 472 : »There are three and only three transcendental properties«. 81 Die 7. französische Aufl. S. 593. — Vgl. die engl. Übers, part. I V chap. I V art. 1, I I I η. 178, S. 569. 82 Ζ. Β. : Liberatore (Metaph. gener. cap. I art. I V n. 24 S. 284 und η. 62 S. 306) ; — Palmieri (Ontol. cap. I Thesis 5 S. 292 f. und Thesis 33, S. 530); — Egger (a. a. O. cap. I I η. 211 S. 237 und η. 232 Coroll. 1 art. 2 S. 263f.); — John Rickaby (Gêner. Metaph., Bk. I chap. I V S. 93 und 150), usw. 83 Vgl. : »Non asserimus hune perfectionis splendorem omni enti convenire itaque omnem rem pulchram esse. Sed ñeque id negare oportet.« (Donat, Ontologia, App.

Innere Schwächen der neuthomistischen Ästhetik

23

Transzendentalität — d. h. eine im weiteren Sinne des Wortes —, und betrachten so die Schönheit als ein »quasitranszendentales« Attribut des Seienden84. Die dritte Hauptgruppe, die ästhetischen Transzendentalisten, lassen sich ebenfalls in drei Untergruppen einteilen. Die eine vertritt ohne Einschränkung die Ansicht, daß das Schöne eine transzendentale Beschaffenheit des Seienden sei8·. Eine zweite, mittlere Version wird mindestens von einem, H. Grenier, vorgelegt. Nach dieser seltsamen Ansicht sei die Schönheit zwar transzendental, aber »wahrscheinlich« keine Eigenschaft des Seienden8·. — In der dritten und vielleicht größten Untergruppë lehrt man entweder die transzendentale Schönheit expressis verbis, ohne jedoch das Schöne unter den Transzendentalbegriffen zu erwähnen8··, oder aber man bietet einige Distinktionen für die Transzendentalität der Schönheit an. So ist nach diesen Thomisten die Schönheit wirklich eine transzendentale Eigentümlichkeit, die aber unter den anderen Transzendentalien explizit nicht aufzuzählen sei, da sie entweder in der Gutheit allein87 oder in der Wahrheit und Gutheit zugleich88 enthalten sei. — Andere machen eine andere Distinktion. Sie behaupten, daß jedes Ding im Grunde genommen (fundamentaliter) schön sei, weil es gut und vollkommen sei ; formell sei das aber nicht wahr, da nicht alle Dinge die Vollkommenheit der Schönheit besitzen89. Wieder andere vertreten die Ansicht, es sei jedes Seiende schön, und zwar nach seiner abstrakten und spezifischen Natur, nicht aber als ein konkretes Einzelwesen oder in seiner Singularität.90. § 1 n. 488 S. 277) und: »The .transcendentals' as they are called, are six in number: ens, res, unum, aliquid, bonum and verum. (Strictly speaking, perhaps, pulchrum should also be included.)«. — Hilary Carpenter, O.P.: The Ontological Roots of Thomism« in: Essays in Thomism, S. 85. M Z.B.: Baschab, a. a. O., S. 373. 86 Außer den bereits angeführten Zigliara und Stöckl aus dem 19. Jh. (s. Anm. 32—33 zu Kapitel I) und den Zeitgenossen Maritain, De Raeymaker, usw. (s. Anm. 36 zu Kapitel I) gehört eine große Anzahl weiterer Thomisten zu dieser Abteilung, wie z. B. Mortimer J. Adler (Art and Prudence, S. 83) ; McCormick (a. a. O. S. 89) ; Fearon (a. a. O. S. 181 f.); Donlan (a. a. O. S. 199); Piazzi (a. a. O. S. 350); McCall (a. a. O. S. 143) ; James P. Reilly, Jr. (Commentary on Fr. McCall's Paper, S. 147) ; J. Aumann, O. P. (De pulchritudine, S. 52—56), usw. »· Metaphysics, n. 542 S. 62. 8,a Z. B. Michael De Maria, S. J., Ontologia, pars I q. I l l art VI S. 397 und pars 1 q. III praeamb. S. 361. 87 Z. B. Jungmann, Ästhetik. Buch I Abschnitt IV Kap. I § 4, I η. 122 S. 162. ·» Ζ. Β. : Boyer (Metaph. gener. q. 3 a. 2 § 2 S. 259) ; Koren (a. a. O. part I chap. 2 Appendix η. 107 S. 98f.); usw. »» Ζ. Β. Coffey: Ontology, chap. VII η. 57 S. 202f. Ζ. Β.: Sanseverino (Ontol. cap. II art. Χ ηη. 178f. S. 92f.; — Dupreyrat (Ontol. pars I cap. I l l art. IV § I I Theses IV und V S. 258) ; — Callahan (a. a. O. part I chap. VI S. 75) ; — Boyer (Met. gener. q. 3 a. 2 § 2 S. 259) ; usw.

24

Einleitung

Nach all dem darf man immer noch nicht behaupten, daß diese Liste von Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen über ästhetische Lehren vollständig sei. Doch führt sie unmittelbar zu einem dritten Typ von Schwächen in der neuscholastischen Ästhetik. 3. Schwächen in Kenntnis, Verständnis und Verteidigung der Schönheitslehre des Thomas Diese dritte Gruppe von Schwächen in Kenntnis, Verständnis und Verteidigung der Schönheitslehre des Thomas ist keineswegs weniger bedeutend oder weniger verbreitet als diejenigen, die in den vorangehenden Artikeln behandelt worden sind. Sie können aber kürzer zusammengefaßt und aufgezählt werden. 1. In bezug auf Mängel in der Kenntnis, die einige heutige Thomisten von Thomas' Schönheitslehre zu besitzen scheinen, kann man vor allem darauf hinweisen, daß die von Neuthomisten verfaßten Abhandlungen der Metaphysik — was die Schönheit anbetrifft — im allgemeinen sehr wenige Zitate aus den Werken des Thomas enthalten. Wenn sie überhaupt zitieren, dann sind es oft sekundäre thomistische Quellen, besonders Definitionen und Erklärungen aus früheren thomistischen Werken. — Andererseits findet man, daß thomistische Lehrbuchautoren Texte aus Thomas anführen, ohne notwendige und entsprechende Erklärungen beizufügen, so daß sie Thomas lediglich einen Lippendienst leisten, nicht aber dem Leser helfen, die Schönheitstheorie des Thomas zu verstehen91. Wollte man die Schuld dafür auf Mangel an Raum schieben92, so kann man sich nur wundern, warum auch gründliche Forscher in sonst ausführlichen Artikeln und Abhandlungen über die Schönheitslehre des Aquinaten von dem ohnehin mageren Material, das in seinen Werken zu finden ist, so wenig Gebrauch machen. Das wertvolle Material des Pseudo-Dionysius-Kommentars in einer Abhandlung über thomistische Ästhetik unerwähnt und unbenutzt zu lassen, kann sicherlich nicht entschuldigt werden93. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist es nicht sehr sonderbar, daß, mit Ausnahme von M. de Wulf, keiner der bis jetzt genannten Autoren von der wichtigen Stelle der Summa theologiae I-II q. 54 a. 1 Gebrauch macht, und daß es in Thomas' Werken zahllose Stellen gibt, die von keinem der bisher zitierten Thomisten je einer gründlichen Analyse unterzogen worden sind ? 81

Ζ. B. Rickaby, a. a. O. Bk I chap. IV 3 d S. 149. Z. B. Klubertanz, a. a. O. Anm. S. 203. 93 Beispielsweise könnte man hier Callahans Werk erwähnen, dessen sonst imponierend reiche Bibliographie diesen Kommentar nicht enthält. — Das Argument einiger heutiger Thomisten, daß die S. theol. das Gedankensystem des Thomas vollständig zum Ausdruck bringe, gilt (wie gezeigt werden wird) kaum für seine Ästhetik. M

Innere Schwächen der neuthomistischen Ästhetik

25

So wird man tatsächlich zu der Folgerung gezwungen, daß eine verhältnismäßig große Anzahl von Stellen, die für die Schönheitslehre des Thomas wesentlich und ausschlaggebend sind, vielen neuthomistischen Autoren völlig unbekannt ist94. 2. Ein anderer Punkt ist das mangelhafte Verständnis, das viele Neuthomisten für die Schönheitsidee und -theorie des Thomas zeigten. Zum Beweis braucht man bloß darauf hinzuweisen, daß in allen Streitfragen, die oben genannt sind und in denen entgegengesetzte Ansichten bestehen, beide Seiten sich auf die Autorität des Thomas berufen und überzeugt zu sein scheinen, daß sie seine Lehre richtig und treu wiedergeben — was offenbar unmöglich ist. So ist es von besonderem Interesse zu beobachten, wie einige Thomisten entgegengesetzte Schlüsse aus denselben Stellen bei Thomas ziehen. Urráburu9* und Donat9® kommen zum Beispiel zu dem Schluß, daß das Schöne (wie bereits von Cajetan behauptet wurde) eine Art des Guten, also kein Transzendentale sei, und das auf Grund desselben Textes, auf den J. Maritain97 und zahlreiche andere heutige Thomisten ihre entgegengesetzte Meinung gründen, daß nämlich Thomas die Transzendentalität der Schönheit lehre. Aus solchen und ähnlichen Fällen kann man leicht ersehen, daß an der Wurzel der doktrinären Meinungsverschiedenheiten ein gewisser M Vgl. die Aussage von Donlan: »Apart from his Exposition of t h e Divine Names, St. Thomas' teaching on beauty is contained in fifteen references . . . This number may not be complete . . . Of the fifteen texts cited, two are from the Commentary on the Psalms of David,. . . eight are in answers to objections . . . there are only five references to beauty in the corpora articulorum.« (a. a. O. S. 187), und eine andere von Phelan: »In t h e course of this study, however, we shall have occasion to quote, if not all, a t least the great majority of those passages (i. e. in which St. Thomas discusses beauty and t h e beautiful). A list of references will be given a t the end, in which I shall mention all the texts referring to the subject which I have been able to locate.« (The Notion of the Beautiful . . . S. 125 — Nota bene: Diese erwähnte Liste auf Seite 145 enthält 13 Stellen neben De div. nom. cap. IV lect. 5, 6, 9 und 10 — d. h., alle solche Stellen, die in verschiedenen Thomas-Lexica oder Indices leicht zu finden sind.) 95 »Aliam (i. e. anders als Jungmanns) tarnen esse puto sententiam S. Thomae ac Scholasticorum . . . » stellt Urráburu fest, dann, auf Grund seiner Analyse von einigen Stellen, wie ST I 5,4 ad 1, I—II 27,1 ad 3 usw. kommt er zu dem Schlüsse: »Et ex his explicanda sunt, quae alibi scripsit idem Angelicus (De ver. 22,1 ad 12) et contrariant doctrinam videntur continere . . . Non enim significat hoc modo loquendi, quod bonum et pulchrum ita subiecto sint unum, ut etiam inter se convertantur, atque adeo sicut omne pulchrum est bonum, ita etiam omne bonum sit pulchrum . . . id enim nunquam, quod ego sciam, scripsit S. Thomas; sed potius contrarium aperte innuit dicens bonum et pulchrum genere convenire, et pulchrum addere supra bonum differentiam . . . Itaque bonum et pulchrum se habent fere sicut animai et homo.« (Ontol. disp. 2 c. 4 a. 7 n. 182 S. 536—40). Donat ist weniger sicher als Urráburu, daß seine Interpretation richtig ist: »(S. Thomas) Videtur asserere, pulchrum esse speciale quoddam bonum (sive relativum sive absolutum, i. e. perfectum).« (Ontologia η. 494 S. 281). · ' Anm. 36 zu Kapitel I., S. 8.

26

Einleitung

Mangel an Kenntnis und Verständnis von Thomas' Schönheitslehre steht und als der treibende Faktor in den Kontroversen mitspielt. Noch beunruhigender ist die Tatsache, daß manche Neuthomisten die Schönheitslehre des Thomas mißverstehen und falsch auslegen. So finden wir ζ. B. einen, der in seiner Metaphysik feststellt, daß nach Thomas in den drei Schönheitselementen, d. h. Integrität, Proportion und Klarheit, die subjektiven Bedingungen der Schönheit zu erblicken seien98 — eine Auslegung, die der objektiv-metaphysischen Lehre des Thomas eine falsche subjektiv-psychologische Richtung gibt. Bestimmte Distinktionen, die in neuthomistischen Büchern Anwendungen finden, sind dem Geiste des Thomas ganz fremd: auch sie gehören zu dieser Gruppe von Schwächen". 3. Zum Schluß noch einige Worte zu der wichtigsten Frage : die Möglichkeit, die Schönheitslehre des Thomas zu verteidigen und zu beweisen. Zuerst muß man vielleicht darauf hinweisen, daß Autoritätsbeweise die schwächsten von allen möglichen Argumenten sind und daß kein des Namens würdiger Philosoph sich damit für irgendeine Lehre oder Theorie zufrieden geben kann. In diesem Lichte fragt sich nun: Wie viele Thomisten unter denen, die in ehrfurchtsvoller Unterwerfung unter den großen Meister einstimmig lehren, daß Integrität, Proportion und Klarheit die Wesensbedingungen der Schönheit seien, können tatsächlich mehr Beweis als seine Autorität für diese Lehre anbieten? Die Frage, die sich hier stellt, lautet kurz: Ist die neuthomistische Ästhetik in der Lage, ihre Position zu beweisen ? Die Antwort darauf finden wir in den im vorigen Jahrhundert publizierten Werken sowie in denen heutiger Thomisten. Für die ältere Gruppe scheint Urráburu, für die heutige De Raymaeker typisch zu sein. Anläßlich einer für ihn unlösbaren Schwierigkeit — obwohl seine ganze thomistische Schönheitstheorie davon abhängt — gibt nun Urráburu offen zu, daß er nur wegen der Autorität des Thomas an dieser Idee des Schönen festhalte 100 . Und De Raeymaeker, nachdem 9 9 Vgl. : »To be perceived by man, beauty requires, as St. Thomas says, three conditions . . .« (Koren, a. a. O. part I chap. 2 n. 109 S, lOOf.) — Tatsächlich reicht Korens Irrtum viel weiter und ist viel ernster als manche Irrtümer, die von nichtscholastischen Auslegern des Thomas begangen werden, wie z. B. von Levi, der bezüglich S. theol. I 5,4 ad 1 sagt, daß »beauty and goodnes are inseparable in so far as they are both based upon the same thing, namely, form (in the one case form of an object, in the other form of an act)«. (»Scholasticism and the Kantian Aesthetic«, in : The New Scholasticism, V I I I 1934 S. 206). 8 9 Siehe Anm. 86 oben. 1 0 0 »Solaque me tenet S. Thomae auctoritas, ne penitus eidem (i. e. difficultati) succumbam. . . . ac dum argumentum sapientioribus explicandum propono, descriptionem pulchritudinis initio traditam . . . iterum hie commendandam existimo.« — Ontologia, disp. II c. IV a. V I I η. 180 S. 535.

Innere Schwächen der neuthomistischen Ästhetik

27

er das Schöne in echt thomistischem Geiste als splendor ordinis definiert hat, macht seinerseits die kurze Bemerkung: »Wie man es konkret darstellen sollte, ist nicht leicht zu sagen101.« Solche Zugeständnisse lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß die thomistische Position verwundbar, sogar unverteidigt und unbewiesen gelassen ist, wenn auch diese Zugeständnisse mit der rührenden Offenheit und der bemerkenswerten Demut eines Urráburu ausgedrückt werden102. Sollte man nun die nächste Frage stellen, wie weit der Neuthomist nicht nur fähig ist, die Schönheitslehre seines Meisters zu verteidigen, sondern dieselbe tatsächlich beweist, so müßte man die folgenden Tatsachen aufzählen. Mehr oder weniger von Sanseverino103, Mercier104 und De Wulf108 beeinflußt, beschränken sich die heutigen Thomisten in ihren Beweisführungen für die Schönheitsidee von Thomas auf die Erklärung der psychologischen Gründe, die es notwendig machen, daß ein Objekt die drei Elemente besitze, um von jemandem als schön anerkannt zu werden. Bereits Urráburu hat aber richtig erkannt108: Wenn Objekte, die die drei thomistischen Elemente besitzen, ästhetischen Genuß verursachen, so folgt daraus nicht, daß alle Objekte genau der gleichen drei Elemente wegen schön sind oder daß Objekte nur in dem Falle schön sind, wenn diese drei Bedingungen in ihnen erfüllt sind. Andererseits ist auch dies offenbar: Solange man nicht mit Bestimmtheit weiß, was die Ursache der Schönheit in den Dingen ist, kann der Thomist nicht einmal versuchen, die Transzendentalität der Schönheit peremptorisch (durch Anwendung grundlegender metaphysischer Prinzipien) zu beweisen, und noch weniger wird er darin erfolgreich sein. Kurz, die Schönheitslehre des Thomas ist weder entsprechend bekannt und verstanden noch genügend bewiesen. 1 0 1 »Quomodo praestari debeat in concreto, non est facile dictu.« — Metaph. generalis, pars I sect. II cap. I art. 5 § 1, II S. 89. 102 »Haec difficultas diu torsit intellectum meum, neque ullam hactenus repperi responsionem, quae mihi satisiiat . . . Itaque rem in medio relinquo, nec ignorantiam imbecillitatemque meam profiteri erubescam.« (a. a. O. S. 534 f.) 1 0 8 Ontologia, c. II art. Χ η. 176 S. 90f. 1 0 4 a. a. O. part IV chap. IV art. I I I I η. 178 S. 567 ff. 1 0 5 L'Oeuvre d'Art et la Beauté, S. 212—25. io» Es war das folgende Problem, das ihn beunruhigte : »Quamquam autem dubium nullum est, quominus quae claritate ac proportione praedita sunt, pulchritudine commendentur, non tarnen aeque certum videtur vicissim, pulchritudinem esse non posse ubicumque duo haec, proportio et claritas, simul conjuncta non reperiantur. Non enim desunt objecta, quae pulchra vulgo dicuntur ab omnibus, veluti sol, luna, certo colores ac voces, etc., in quibus tamen nulla detegi videtur partium proportio vel consonantia . . . » (Ebd. S. 535).

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Einleitung

III. EIN ÄSTHETISCHES PROGRAMM FÜR DEN THOMISTEN In den vorhergehenden zwei Kapiteln sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß es einerseits eine reiche Literatur neuthomistischer Ästhetik voll von tiefem Denken und der »sapientia Thomae« gibt — und andererseits Schwächen und Mängel in Methode und Lehre, in Kenntnis, Verständnis und Rechtfertigung von Thomas' eigener Schönheitstheorie. Es wäre selbstverständlich falsch, Bedeutung und Gewicht dieser Mängel der neuthomistischen Ästhetik zu übertreiben. Bis zu einem gewissen Grade ist es nur natürlich und auch ein willkommenes Zeichen innerer Vitalität, Kraft und Dynamik, neue Ideen hervorzubringen und dadurch neue Diskussionen1 zu erregen. Ferner ist es geradezu unvermeidlich, daß es in einer so großen Gruppe von Denkern wie der des Neuthonismus Schwächen und Mängel gebe, sei es nun in Methode oder Kenntnis oder was immer in diesen beiden seine Quelle habe. Aus den zwei ersten Kapiteln kann man dann berechtigterweise bloß den folgenden Schluß ziehen: es ist keineswegs so, daß Neuthomisten nicht bestrebt waren, die Lehre des Thomas mit Sorgfalt zu studieren ; hätten sie aber — bei aller Hochachtung für das, was bisher von ihnen erreicht wurde —, den »omnium princeps et magister« sorgfältiger und intensiver studiert (nicht nur in seiner Methode oder seiner Lehre, sondern in beiden!), so gäbe es dann wohl weniger Mißverständnisse und Meinungsverschiedenheiten wie auch eine bessere Grundlage für die Verteidigung ihrer von Thomas übernommenen Lehren. Zu diesem anspruchsvollen Ziel ist — darüber kann kein Zweifel bestehen — ein systematisches Programm der neuthomistischen Ästhetik nötig — ein Programm, das zwei Hauptphasen einzuschließen hat: Die eine sollte eine gründlich und systematisch durchgeführte Analyse der objektiven Natur der Schönheit sein, die völlig unabhängig von Thomas' eigener Lehre durchzuführen ist. Die zweite wäre ein gründliches Studium der Schönheitslehre des Aquinaten. Die erste sollte sich zum Ziel setzen, die Schönheitstheorie des Thomas, wenn und soweit wie möglich, aposteriorisch zu begründen und zu rechtfertigen. Demgegenüber sollte die zweite die Ausmerzung neuthomistischer Schwächen und Mängel in jeder Hinsicht erzielen — ein Ziel, von dem her man auch einen starken Anstoß zu weiterer Arbeit für die Ästhetik erhalten könnte. 1 Die Vierundzwanzig Thesen (mit Papst Benedikts XV. Approbation am 7. März 1916 proklamiert, — vgl. Eduard Hugon, Les Vingt-Quatre Thèses Thomistes, Paris 1927) und die (im thomistischen Sinne) »existentialistische« Neigung eines J. Maritain und E. Gilson (die beide, besonders in Kanada und den Vereinigten Staaten, Anlaß für neue ästhetische Spekulationen wurden) illustrieren diesen Punkt.

Ein ästhetisches Programm für den Thoraisten

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Der Umriß der ersten Hauptphase dieses Programms wird in Artikel 1, der der zweiten in Artikel 2 gegeben. 1. Die erste Phase des Programms: Umriß einer zukünftigen aposteriorischen R e c h t f e r t i g u n g der Schönheitslehre des Thomas Die erste Hauptphase dieses ästhetischen Programms ist schwierig und kompliziert; in diesem Artikel kann sie nur umrißhaft skizziert werden. Man dürfte diesen Umriß der aposteriorischen Erörterung am besten in zwei Hauptteile gliedern. Der erste Hauptteil sollte nämlich empirisch-psychologische, der zweite aber metaphysische Untersuchungen umfassen. 1. Wie zahllose Neuthomisten es richtig getan haben, sollte man den empirisch-psychologischen Teil dieser Erörterung damit anfangen, daß man von der im Selbstbewußtsein unmittelbar gegebenen Tatsache ausgeht: »pulchra sunt quae visa placent«. Dementsprechend sollte man an einer beliebigen Auswahl von (natürlichen wie künstlichen) Objekten versuchen, gemeinsame Elemente, Gründe oder Bedingungen zu finden, die das im Subjekt erregte ästhetische Vergnügen entsprechend erklären können. Dann wäre empirisch zu beweisen, daß man die erwähnten Objekte gerade deswegen schön findet, weil diese die in ihnen entdeckten gemeinsamen Elemente oder Faktoren besitzen. Solche Beweisführung kann zweifellos durch psychologische Experimente (durch Intro- oder durch Extrospektion) geschehen. — Dieser Schritt ist oft in neuthomistischen Werken, mindestens bezüglich der drei wesentlichen Schönheitselemente des Thomas behandelt. Danach sollte man hinlängliche Gründe finden, warum diese gemeinsamen Elemente die in Rede stehenden Objekte ergötzlich machen. Dieser Punkt ist das Lieblingsthema vieler Thomisten vor und nach De Wulf und Mercier2, aber nur in bezug auf die traditionellen drei Elemente. Ferner sollte man zwei entscheidende Punkte beweisen. Erstens, daß die entdeckten Elemente nicht nur allen jenen Objekten gemeinsam sind, die man bis zu diesem Schritt behandelt hat, sondern auch allen anderen Objekten, die gewöhnlich dasselbe ästhetische Vergnügen erregen. — Zweitens, daß diese in Frage stehenden Elemente (welche immer sie sein mögen) einerseits letzte, d. h. auf weitere und universalere Faktoren unrückführbare, andererseits auch anzahlmäßig vollständige, d. h. irgendein weiteres gleichrangiges Element ausschließende Elemente sind. — Dieser Schritt fehlt in der thomistischen « Vgl. Mercier, a. a. O. part IV ch. IV art. 1, III η. 176 S. 564.

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Ästhetik ganz und gar und war auch derselbe, der Urráburus Verstand quälte 3 . Man kann hier wohl bemerken, daß beim letzten Punkt eine apriorische Beweisführung geeignet wäre, vorausgesetzt, daß ihre Prämissen entweder direkt oder indirekt evident sind. Endlich sollte, als letzter Schritt in dieser physisch-psychologischen Sphäre der Analyse, der Beweis gelingen, daß die so gefundenen Elemente (in verschiedenem Grade) notwendigerweise in jedem materiellen Seienden, daher auch in allen seinen Kombinationen und Gruppen vorhanden sind. Zugleich sollten aber auch zufriedenstellende Erklärungen dafür gefunden werden, daß manche Menschen (oder auch alle) entweder immer oder wenigstens gelegentlich in vielen Objekten oder Gruppen von Objekten keinen ästhetischen Genuß finden, obwohl auch solche Objekte — nach der früheren Beweisführung — die fraglichen Schönheitselemente in einem gewissen Grade besitzen4. Zum letzten Punkt findet man Quellen, die auf Heraklit 6 , Piaton®, Aristoteles 7 , Plotin 8 , Augustin 9 , Alexander von Haies 10 und Albert 3 Siehe Anm. 102 und Anm. 106 zu Kap. II. — Es ist tatsächlich merkwürdig, daß neuthomistische Ästheten eine Vorliebe dafür zeigen, in ihren Schönheitsanalysen Beispiele jeder beliebigen Art eher als die von Farben zu gebrauchen. Dadurch können sie nämlich leicht Urráburus Schwierigkeit umgehen, wenn auch nicht lösen. Es gibt nur sehr wenige Thomisten (wie z. B. Tongiorgi, Ontol. lib. III c. 4 n. 402 S. 196 und der wegen seines interessanten Versuchs, dieses Problem zu lösen, nennenswerte E. I. Watkin, A Philosophy oí Form, part II chap. IV S. 313f.), die diese schwierige Frage zu berühren wagen. Von einigen anderen wird dieses Problem behandelt, aber unzulänglich gelöst, d. h., objektiv ungelöst gelassen. (Vgl. Mercier, ebd. n. 177 S.565f.) * Diese Gründe dürfte man folgendermaßen klassifizieren: 1. Objektiv-physikalischer a) und positiver Grund: der hierarchische Unterschied der Dinge gemäß ihren generischen, spezifischen und individuellen Vollkommenheiten; — b) und negativer Grund : der Grad von Privation in den Einzelwesen in Hinsicht auf ihre spezifischen Vollkommenheiten; 2. Subjektiv-psychologische a) und habituelle Gründe: z. B. Temperament, geistige Fähigkeiten, Geschmack, Assoziationen, ästhetische Verwöhntheit (engl. : sophistication), des Objektes fehlende Neuheit für das Subjekt, usw. ; — b) und dispositionelle Gründe : z. B. augenblickliche Aufmerksamkeit des Subjektes, Laune usw. ; und 3. gemischte, d. h. teilweise objektive und teilweise subjektive Gründe: z. B . die Größe des Objektes, seine Ferne vom Subjekt, die Menge und Qualität des Lichtes oder Lärmes, bei denen das Objekt wahrgenommen wird, usw. 5 »Für Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen« (Fragm. 102, Übers, bei Diels-Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, Berlin* 1951) ; »Der weiseste Mensch wird gegen Gott gehalten wie ein Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem anderen« (Fragm. 83, ebd.); »Der schönste Affe ist häßlich mit dem Menschengeschlechte verglichen« (Fragm. 82, ebd.). — Es ist höchst interessant, Heraklits Gedanken über den Affen durch griechische Denker, wie Piaton (der das 82. Fragment von ihm zitiert πιθήκων ó κάλλιστο? αίσχρόξ 'ανθρώπων γένει συμβάλλειν — Hipp, mai 289a) und Plotin (πιθήκων φησίν ό κάλλιστο; alaxpòs συμβάλλειν έτέρω γένει Ennead. VI, 3,11), bei Römern, wie ζ. Β. Ennius (»Simia quam similis, turpissima bestia, nobis« — zitiert von Cicero, De natura deorum, I 35) und Augustin (»in hominis

Ein ästhetisches Programm für den Thomisten

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den Großen11 zurückgehen. Zugleich können die Entdeckungen der neuzeitlichen und heutigen psychologischen Ästhetik und auch einige neuthomistische Werke12 herangezogen werden. 2. Wer alle diese Schritte erfolgreich hinter sich brächte, hätte das Recht zu dem Schluß, daß die fraglichen Elemente Wesensbedingungen der objektiven Natur der akzidentell-ästhetischen Schönheit in der materiellen Welt überhaupt sind. Im Besitz einer solchen objektiven und gültigen Definition könnte er seine Untersuchungen sofort in die metaphysische Sphäre verlegen, wo er die Frage stellen könnte : Was ist die objektive Natur der Schönheit überhaupt? — oder: Was macht jedes Ding schön? Auf dieser metaphysisch-ontologischen Ebene sollte eine analoge Interpretation für jene Elemente, die empirisch-psychologisch entdeckt wurden, auf Grund derjenigen metaphysischen (wirklich oder virtuell voneinander verschiedenen) Prinzipien gefunden werden, die das Seiende als Seiendes konstituieren ; sie hätte zu zeigen, wie jene Schönheitselemente analogerweise für das Notwendige (Unendliche) sowie für das Kontingente (Endliche), oder in anderen Worten, für Gott wie für alle speziellen Modi oder Kategorien des Seienden gelten. Sollte das dem Thomisten je gelingen, dann hätte er eine allgemeingültige objektive Definition des Schönen, die aus einer streng aposteriorischen Beweisführung erwuchs. 2. Die zweite Phase des Programms : Umriß dieser Studie über Thomas' Schönheitslehre In dieser bescheidenen Untersuchung wird nicht versucht, dieses schwierige, aber lockende Ziel zu erreichen. Statt dessen wird sie sich forma, quia maior est pulchritudo, in eius comparatione simiae pulchritudo deformitass — De natura boni contra Manich. c. 14 PL 42,555) und bei modernen Autoren, wie F. T. Vischer (der »die HäQlichkeit« des Affen dadurch »erklärt«, daß der Affe »ein verunglückter vorläufiger Versuch der Natur . . . es vom Thiere zum Menschen zu bringen« sei. : — Uber das Erhabene und Komische, S. 31) und R. F. A. Sully Prudhomme (L'Expression dans le beaux-arts S. 104) zu folgen. — Gedanken ähnlich dem des Heraklit sind auch in Piatons Hipp. Mai. 289 c; in Plotins Enn. VI, 3,11 und bei Augustin (z. B. De nat. boni, cap. 23 PL 42,558; — De ver. rei. 18,15 und 41,78 PL 34, 137 bzw. 157) zu finden. 8 Protag. 346 c als Grund 1 b (nach Anm. 4). ' Poet. VII 9, 1450 b 37—1451 a 5 als Grund 3 (Anm. 4). 8 Ennead. I, 6,9 und V, 5,12 als Grund 2 a (Anm. 4). " De vera relig. 40,76 PL 34,156 als Grund 2 b in Anm. 4 10 Z. B. Summa theol. lib II pars I inq. I tract. II q. 3 c. 3 a. 3 Respondeo, in torn. II num. 79 S. 102 (Grund 1 b) und ebd. inq. IV tr. II sect. II q. X tit. 1 mem. 3 cap. 2 Respondeo, in torn. II num. 454 S. 582 (Grund 1 a). 11 Ζ. Β. Summa theol. pars II tr. X I q. 62 mem. 2 ad q. 2 — tom. 32 S. 603 (zu v Grund l a ) . 12 Z. B. Coffey, a. a. Ο. η. 54 S. 197 und Kore¿, a. á. Ol η. 108 S. 99 f.

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der anderen, für den Thomisten (und den Historiker der Philosophie) gleichfalls wichtigen zweiten Hauptphase des erwähnten ästhetischen Programms zuwenden. 1. Die vorliegende Untersuchung soll nicht den Versuch machen, »eine ästhetische Theorie auf der Grundlage der Bemerkungen des Thomas zu entwickeln und dann diese Theorie ihm als sein eigenes Werk zuzuschreiben«; das wäre, wie Copleston warnend sagt13, »ein Irrtum«. Statt dessen ist es das Ziel dieses Werkes, das Denken des Thomas über das Schöne auf zwei verschiedene Weisen, nämlich genetisch und systematisch, einer gründlichen, auf Einzelheiten eingehenden Analyse zu unterwerfen. 2. Um dieses Ziel zu verwirklichen, wird zuerst eine genetische Analyse in doppelter Weise, d. h. materiell und formell durchgeführt, um ausfindig zu machen, auf welche Weise sich die Schönheitslehre des Thomas Schritt für Schritt, nach den einzelnen Themen seiner Bemerkungen (d. h. thematisch) und auch inhaltlich, in chronologischer Reihenfolge entwickelt hat und wie diese Entwicklung jeweils auszuwerten ist (Teil I). Nachdem man die innere Gedankenentwicklung nach Thema und Inhalt kennengelernt hat, wird man versuchen, Thomas' Schönheitslehre systematisch zu präsentieren und das entsprechend geordnete ästhetische System so zu erörtern, daß man Thomas mit seinem Gesamtwerk als seinen eigenen—und besten—Ausleger benutzt (Teil II). Im Anschluß daran könnte man noch die wichtige Frage auf werf en, welchen originalen Wert diese Schönheitslehre des Aquinaten besitzt. Diese Frage würde zu der historischen Analyse der ästhetischen Gedanken des Thomas führen. Hier wären einerseits die Quellen seiner Schönheitsidee thematisch sowie nach ihrem Gewicht, d. h. nach den einzelnen Lehren wie nach der Intensität, mit der die verschiedenen Denker Thomas beeinflußt haben, andererseits Thomas' eigener Beitrag zu diesen übernommenen Elementen und dessen Wert zu erörtern und festzustellen. Diese historische Analyse wird aber in dieser Studie nicht durchgeführt, sondern einer späteren Arbeit vorbehalten.

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A History of Philosophy. Vol. II Mediaeval Philosophy — Augustine to Scotus. Westminster, Maryland, 1950 S. 422.

E r s t e r Teil :

GENETISCHE ANALYSE DER SCHÖNHEITSLEHRE DES THOMAS Die erste wesentliche Aufgabe für die Behandlung der Schönheitstheorie des Thomas ist die Darstellung der Entwicklung seiner Gedanken über die Idee der Schönheit, die zu analysieren und zu rekonstruieren ist. Im Rahmen dieser genetischen Analyse werden zuerst einleitende Fragen besprochen (Kapitel 1). Danach wird eine doppelte, d. h. eine materiell-genetische (Kapitel II) und eine formell-genetische Analyse von Thomas' Schönheitslehre durchgeführt (Kapitel III). I. EINLEITENDE FRAGEN ÜBER DIE ENTWICKLUNG VON THOMAS' SCHÖNHEITSLEHRE Um die innere Entwicklung von Thomas' Gedanken zur Schönheit entsprechend analysieren zu können, scheint es notwendig, zuerst die verschiedenen Bedeutungen des Terminus »Gedankenentwicklung« zu klären (Artikel 1), dann die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung von Thomas' Schönheitsidee zu diskutieren (Artikel 2) und endlich die eigentümlichen Schwierigkeiten, die mit solcher genetischen Analyse verbunden sind, vorzuführen und auszuwerten (Artikel 3). 1. Die möglichen Bedeutungen des Terminus „Gedankenentwicklung" Es ist interessant, daß man auf die Frage »Gab es irgendwelche Entwicklung in Thomas' Gedanken über die Schönheit?« statt einer Antwort von Thomisten oft folgende Gegenfrage erhält: »Was soll Entwicklung in diesem Zusammenhang bedeuten?« Ohne hier die Gründe für eine solche Reaktion zu erörtern (das wird im nächsten Artikel geschehen), scheint diese Tatsache einen ausreichenden Grund zu bilden, einen Artikel der Frage nach den möglichen Weisen zu widmen, in denen man das Wort »Entwicklung« im allgemeinen und dasjenige »Gedankenentwicklung« insbesondere in bezug auf eine philosophische Lehre nehmen kann. 1. Der Terminus »Entwicklung« kann im eigentlichen wie im uneigentlichen Sinne genommen werden.

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Genetische Analyse

Im eigentlichen Sinne steht er für den Prozeß eines stufenweise fortschreitenden Übergehens oder einer ähnlichen Veränderung eines Dinges von einem anfänglichen und unvollkommenem zu einem mehr oder weniger endgültigen und vollkommenen Zustand. Im uneigentlichen Sinne bedeutet es aber denselben Prozeß von stufenweise fortschreitendem Übergehen oder einer ähnlichen Veränderung eines Dinges von einem beliebigen zu einem anderen beliebigen Zustand. — Mit anderen Worten bezeichnet das Wort »Entwicklung« in diesem zweiten Sinne keinen Übergang von einem weniger vollkommenen zu einem mehr vollkommenen Zustand und ist deswegen mit dem Wort »Veränderung« synonym. Nun ist es in der Philosophiegeschichte wohl bekannt, daß es Gedankenentwicklung in beiden Bedeutungen gab und gibt 1 . Das System des Positivismus, wie es von A. Comte in seinem »Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société« umrissen wurde und seine Vervollkommnung im »Cours de Philosophie« zwischen 1830 und 1842 erhielt, dürfte als Beispiel für Gedankenentwicklung im eigentlichen Sinne gebraucht werden, während B. Russeis Wandlung von einem überzeugten Platoniker zu einem Neopositivisten, oder diejenige von H. Bergson von Spencers Philosophie zu ihrem erbittertsten Gegner Beispiele von Gedankenentwicklung im uneigentlichen Sinne darstellen. 2. Unabhängig von dieser Aufteilung kann man die Bedeutungen des Terminus »Gedankenentwicklung« fernerhin in einer dreifachen Weise, d. h. in bezug auf den Inhalt, die Quantität und die Qualität gruppieren. Hinsichtlich des Inhaltes dürfte eine Gedankenentwicklung entweder wesentlich oder unwesentlich (akzidentell) sein, je nachdem die fundamentalen Prinzipien, auf denen die anfänglichen Ansichten eines Denkers ruhen, im Laufe der Entwicklung verworfen oder beibehalten bzw. mit weiteren Grundprinzipien verbunden und ergänzt wurden. Hätte sich ζ. B. Hegel in der Metaphysik je vom Idealismus zum Realismus gewandt, hätte sich ein Plotin von einem pantheistischen Monisten in einen Pluralisten, oder ein Descartes von einem Rationalisten in einen Empiristen umgewandelt, so wäre es eine wesentliche Gedankenentwicklung gewesen, die man z. B. in dem anfänglich platonistischen Aristoteles und in dem von einem Studenten der scholastischen Philosophie in einen Existenzialisten umgewandelten Martin Heidegger tatsächlich findet. 1 E s muß hier jedenfalls zugestanden werden, daß die Frage des Kriteriums zur Beurteilung, ob es sich in einem bestimmten Falle um eine Gedankenentwicklung im eigentlichen oder im uneigentlichen Sinne, oder genauer, ob die Endphase einer Gedankenentwicklung mehr oder weniger vollkommen als die Anfangsphase ist, sehr schwierig ist und hier nicht erörtert werden kann.

Einleitende Fragen über die Entwicklung von Thomas' Schönheitslehre

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Es ist vielleicht unnötig zu bemerken, daß Heideggers oder Malebranches Gedankenentwicklung — mindestens vom thomistischen Gesichtspunkt aus betrachtet — eine im uneigentlichen Sinne, während die des von einem hedonistischen Epikureer und Skeptiker in einen christlichen Denker umgewandelten Augustin eine Entwicklung im eigentlichen Sinne ist. Quantitativ gesehen (wenn man den Terminus »Quantität« hier analog verwendet), kann eine Gedankenentwicklung im eigentlichen sowie im uneigentlichen Sinne entweder teilweise oder total sein, je nachdem sie entweder die Einstellung eines Denkers bloß zu einer bestimmten philosophischen Frage oder aber sein ganzes Gedankensystem berührt. — So, während ein Comte oder ein Karl Marx als Beispiele für totale eigentliche Gedankenentwicklung und die oben erwähnten Rüssel und Bergson für totale uneigentliche Gedankenentwicklung genannt werden können, dürfte man wieder Augustin in Hinsicht auf einige Fragen, worüber er nach den Retractationes seine Ansicht änderte (und soweit als diese im Grunde theologischen Fragen philosophische Aspekte haben), als Beispiel für eine partielle eigentliche, H. Reichenbach und E. Gilson in Hinsicht auf epistemologische Fragen als Beispiele für partielle uneigentliche Gedankenentwicklung zitieren 4 . Drittens und qualitativ kann man Gedankenentwicklungen (im eigentlichen sowie im uneigentlichen Sinne) in immanente und transiente aufteilen. Bei immanenter Gedankenentwicklung weist man auf die Veränderung in den Ansichten hin, die ein Denker über dieselbe Frage nacheinander hat; bei transienter Gedankenentwicklung aber auf die Veränderung, die bei einem Denker insofern festzustellen ist, als seine Aufmerksamkeit und sein Interesse von einem Sachgebiet oder von einem Aspekt desselben zu einem anderen übergeht. — So könnte man die drei oder fünf Positionen, die Schelling im Rahmen seines Idealismus nacheinander einnahm, als Beispiel für eine immanente Gedankenentwicklung im uneigentlichen Sinne, und der Wandel in A. N. Whiteheads Interesse von mathematischer Logik durch philosophische Physik zur Metaphysik als Beispiel für eine transiente Gedankenentwicklung im eigentlichen Sinne anführen. 3. Endlich soll darauf hingewiesen werden, daß alle bisher angeführten Divisionen von Gedankenentwicklung formell betrachtet werden dürfen, soweit sie alle einer weiteren Bedeutung desselben Wortes 2 Betreffs Reichenbach, vgl. Miliö Capek: »The Development of Reichenbach's Epistemology«, in : The Review of Metaphysics, XI 1957, S. 42—67. — Betreffs E. Gilson wird hier auf seine berühmte Kontroverse mit Noël verwiesen, die damit endete, daß er nach langen schriftstellerischen Auseinandersetzungen endlich Noëls Ansicht akzeptierte. (N. B. : Einige Thomisten werden wahrscheinlich seine Meinungsänderung für eine Gedankenentwicklung im eigentUchen Sinne halten.)

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Genetische Analyse

so gegenübergestellt werden, daß »Gedankenentwicklung« auch eine weitere, materiell zu nennende Version haben kann. Unter materieller Gedankenentwicklung soll man jene verstehen, die sich chronologisch in der Bereicherung und Anhäufung der Themen oder Gesichtspunkte, die ein Philosoph in seinen Schriften zu derselben Frage stufenweise einführt und bespricht, ihren Ausdruck finden. — Diese Art von Gedankenentwicklung sei materiell genannt, weil man bei ihr nicht den formalen Aspekt von inhaltlicher Änderung oder Vervollkommnung, sondern das rein quantitative, meß- und zählbare Anhäufen und Anreichern des geschriebenen Materials hinsichtlich einer bestimmten Frage vor Augen hält. Sollte jemand ζ. B. jede formelle Äußerung, die Aristoteles über seine Idee von Proportion (άναλογία), Tugend oder Ähnliches macht, aus allen seinen Werken sammeln und thematisch, d. h. ihrem spezifischen Inhalt nach, so ordnen, daß er zu sagen vermöchte, wie sich alle jene Themen in den Jahren von Aristoteles' literarischer Aktivität stufenweise zu dem, was wir heute für seine Gesamtlehre über die erwähnten Fragen halten, anreichern, so würde er die materielle Gedankenentwicklung des Stagiriten hinsichtlich jener besonderen Frage kennen. 4. Was besagen nun diese Distinktionen der Bedeutungen des Wortes »Gedankenentwicklung« für die Schönheitslehre des Thomas? Man dürfte die folgenden Feststellungen mit Sicherheit machen können: Erstens, da, wenn immer ein Denker ein bestimmtes Problem in mehreren Werken behandelt, seine Lehre notwendigerweise eine materielle Gedankenentwicklung aufweist (sonst würde er praktisch zu jeder Zeit dasselbe sagen!) und da Thomas die Schönheit in 45, innerhalb von fast 20 Jahren geschriebenen Werken berührt oder behandelt, ist es klar, daß seine Schönheitslehre bestimmt einer materiellen Entwicklung unterliegt, deren Erörterung höchst interessant sein dürfte. Zweitens, im Gegensatz zu der materiellen Gedankenentwicklung läßt sich auf theoretische Weise über formelle Gedankenentwicklung lediglich so viel voraussagen, daß sie in der Schönheitslehre des Thomas an und für sich möglich und denkbar sei. Drittens, da nun inhaltliche, qualitative und quantitative Gedankenentwicklungen im eigentlichen sowie im uneigentlichen Sinne Varianten von formeller Gedankenentwicklung sind, ist es auch möglich, daß Thomas' Schönheitslehre inhaltlich wesentliche oder akzidentelle, qualitätsmäßig immanente oder transiente, und quantitativ totale oder partielle Gedankenentwicklungen aufweise. Ob sie aber solche tatsächlich aufweist, und wenn ja, welche, sind völlig andere Fragen, die man a priori nicht beantworten kann. In bezug auf die materielle Gedankenentwicklung ist deswegen das Ziel der Analyse klar: es ist festzustellen, worin diese Art von Ge-

Einleitende Fragen über die EntwickluAg von Thomas' Schönheitslehre

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dankenentwicklung besteht. In bezug auf die verschiedenen formellen Gedankenentwicklungen ist aber die erste Aufgabe, festzustellen, ob es überhaupt solche in der Schönheitslehre des Thomas gibt. 2. Die Wahrscheinlichkeit einer formellen Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas Der vorige Artikel führte uns zu der Konklusion, daß es in der Schönheitslehre des Thomas notwendigerweise eine materielle Entwicklung gebe und daß es wenigstens möglich sei, formelle Gedankenentwicklungen darin zu finden. Jedoch ist bloße Möglichkeit noch keine Wahrscheinlichkeit. Deswegen dürfte es angemessen sein, die Frage ihrer Wahrscheinlichkeit aufzuwerfen, um unfruchtbare Erörterungen zu ersparen. Nun kann man hinsichtlich dieser Frage der Wahrscheinlichkeit offenbar eine ablehnende wie zustimmende Stellung einnehmen. Die Besprechung der Argumente Pro und Contra wird diesen Artikel in Anspruch nehmen. 1. Solche Interpreten, die vielleicht E. Gilsons Ansicht über die Geistesreife und Klarheit, mit der Thomas seine fundamentalen Prinzipien von Anfang an gesehen hat und ihnen gefolgt ist®, allzu optimistisch nehmen, dürften folgendermaßen argumentieren: Wenn ein Philosoph während seiner formalen Studien eine befriedigende Lösung eines bestimmten Problems kennenlernt und dann in seiner eigenen literarischen Tätigkeit kein Zeichen von persönlichem und spezifischem Interesse an diesem Problem zeigt, ist es höchst unwahrscheinlich, daß sich eine formelle Gedankenentwicklung hinsichtlich jenes Problems bei ihm vollziehe. Das alles gilt aber genau für Thomas hinsichtlich des Problems der Schönheit. Den Untersatz dieser Beweisführung mag man mit folgenden Tatsachen belegen. — Erstens war Albert selbst im Besitz einer bis auf Aristoteles zurückgehenden und gültigen Antwort auf die allerwichtigste Frage der Ästhetik, nämlich der Natur oder der wesentlichen Bedingungen (Elemente, Faktoren) der Schönheit, und zwar schon zur Zeit, als er den jungen Thomas in Köln zu unterrichten begann (1248). — Zweitens, daß diese Kenntnis des Albert dem Studenten Thomas übermittelt worden ist, ersieht man daraus, daß ein für diese Frage so wichtiges Werk wie das bis heute aufbewahrte De pulchro von Thomas mit eigener Hand abgeschrieben worden ist. — Drittens, daß Thomas' Studien die Lehren von Piaton, Aristoteles, den Stoikern, Cicero, Proklos, Augustin, Pseudo-Dionysius und wohl auch Alexander • Vgl. : »From the time of the »Commentary on the Sentences«, we find him (Thomas), except for an occasional detail and the sometimes rather Augustinian tone of his expression, in full possession of the fundamental principles of his philosophical teaching... · — E. Gilson : The Philosophy of St. Thomas Aquinas, Chap. 1. B. S. 21.

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Genetische Analyse

von Haies, kurz aller jener Denker, deren Ansichten über die Schönheit zu jener Zeit maßgebend waren, einschließen, ersieht man daraus, daß er von seinen frühesten Schriften an alle diese Autoren häufig zitiert, interpretiert, kritisiert. Andererseits gibt es aber greifbare Beweise für die dauernde Abwesenheit jedes ernsten, spezifischen, persönlichen Interesses an der Schönheit bei Thomas. Wenn man nämlich in Betracht nimmt, daß Thomas, einer der fruchtbarsten Philosophen aller Zeiten, die Schönheit bloß in beinahe 57% aller seiner Schriften an (ohne die Sermones) 665 Stellen erwähnt; weiterhin, daß von all diesen Stellen die längste kaum 150 Zeilen ausmacht, daß von den an und für sich schon wenig Schönheitsstellen 45 die Schönheit nur nebensächlich, als Beispiel, erwähnen*; andere 142 zu schreiben Thomas gezwungen war; weitere 340 Stellen bloß Zitate sind, von denen 163 völlig nebensächlich sind, was für die sämtlichen Werke des Thomas nur 130 eigene, freiwillige und hauptsächliche und 177 ästhetisch bedeutungsvolle Schönheitszitate läßt, dann kann man ohne Voreingenommenheit bestimmt nicht behaupten, daß er sich je ernstlich für die Schönheit interessiert hat 6 . 4 Man mag aus dieser Angabe vielleicht einen gegensätzlichen Beweis bilden, der etwa folgendermaßen lauten dürfte: Wenn jemand etwas wiederholt als Beispiel zur Veranschaulichung anderer Fragen anführt, so scheint das anzudeuten, daß das fragliche Etwas seine Vernunft häufig beschäftigt. Folglich scheint Thomas an der Schönheit beträchtlich interessiert gewesen zu sein. — Dagegen kann man aber darauf hinweisen, daß Thomas außer der Schönheit auch andere Dinge, und einige von ihnen sogar häufiger als die Schönheit, als Beispiel zu verwenden pflegte, wie z. B. sanitas, color, calor, ignis, urina, sagitta, femina, hirundo, simia, usw. (meistens aristotelisches Erbe) und daß man bei diesen offenbar nicht denselben Schluß ziehen kann. 5 Diese auf numerische Angaben aufgebaute Beweisführung könnte man noch damit ergänzen, daß Thomas sogar, wenn er in jenen verhältnismäßig sehr geringen Fällen freiwillig die Frage der Schönheit aufwirft, dies nicht deswegen tut, weil er die Schönheit selbst zu besprechen wünscht (wie z. B. in De ver. 21,1,12a, sed. c. 1 a, ad 12 und 13; ST I 5,4, ad 1; I — I I 27,1, ad 3; I I — I I 145,2 und 180,2, ad 3), sondern weil seine Vernunft bestimmte Verbindungen zwischen der Schönheit und bestimmten dogmatischen Fragen, wie z. B. der Frage Filius — Verbum (vgl. In I. Sent. 31,2,1,4a, c und ad 4; In I I I Sent. 1,2,2, sol. η. 98.; ST I 39, 8 c), der creatio mundi (vgl. De pot. 4,2,c und ad 31; ST I 66, 1 c; 69, 1 c und 2 c: 70, 1 c) ; von ordo oder perfectio universi (vgl. In I. Sent. 46,1,3, sol; In II. Sent. 29,1,3, ad 4; 34,1,1, sol; 36,1,3, ad 3; De pot. 3,16, c. B. ; 5,9, ad 4; SCG I 86; I I I 71 und 97; ST I 36,2 c arg. 2.) ; von resurrectio corporis und cicatrices vulnerum (vgl. In IV. Sent. 49,5,4, I I I a, 3 a; ST I I I 54,4, ad 1 und ad 2) ; oder aber der gratia (vgl. In I I . Sent. 27,1,4, sol; In IV. Sent. 1 , 1 , 2 , l a , η . 54; 16,2,1, sol. I I . ad 3 η. 99,16,2,2, sol. IV. ad 1. η. 118; 18,1,2, sol. I I . ad 1 η. 59 und ad 2. η. 60; ST I I I 112,4 c); — oder auch bestimmten moralischen Fragen, wie ζ. B. der Tugend überhaupt (vgl. In IV. Sent. 33,3,3,1a; In Rom. 13,12, lect. 3; S T I I I I 129,4, ad 3; 141,2, ad 3; 180,2, ad 3) oder spezifischen Tugenden, wie iustitia (vgl. In I. Sent. 46,1,4,1a; In II. Sent. 42,1,5 ad 4.; In IV. Sent. 17,1,1, sol. I I I . η. 36; In Is. 26.; In Ps. 44,2); temperantia (vgl. In IV. Sent. 33,3,3, ad 1; ST II II 141,2,3a und ad 3; 141,8, ad 1; 142, 4 c ; 1 4 3 , 1 c, usw.), oder innocentia und castitas (vgl. In IV. Sent. 18,12, I I . la, η. 48; 49,5,3, sol. I. ad 3; S T I 96, 3 c ; S T I I I I 152,5 c, usw.); peccatum oder macula (vgl. In IV. Sent. 16,2.2,IV. ad 1. n. 117; 18,1,2. sol. I. n. 52. und 53.; SCG I I

Einleitende Fragen über die Entwicklung von Thomas' Schönheitslehre

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So kann man nicht umhin zu schließen, daß unter diesen Umständen eine formelle Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas höchst unwahrscheinlich ist. 2. Zu dieser apriorischen Beweisführung sind die Gegner der Wahrscheinlichkeit einer formellen Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre in der Lage, ein zweites und diesmal aposteriorisches Argument hinzuzufügen. Dieser Beweis besteht in der Auswahl und Vergleichung von einigen bedeutsamen Schönheitsstellen, die den früheren wie den späteren Werken entnommen sind, um zu demonstrieren, daß es augenscheinlich keinen Unterschied, folglich auch keine Gedankenentwicklung in ihnen gebe. So könnte man einerseits die Stellen von In I. Sent. 31, 2, l e (von ungefähr 1254) und von Contra impugnantes dei cultum et religionem, pars II c. 6(7), n. 339 (von ungefähr 1256) und andererseits z. B. die ungefähr 1266, d. h. 10 bis 12 Jahre später geschriebene Stelle Summa theologiae I 39, 8 c auswählen und zeigen, daß in all diesen Stellen die gleichen drei Wesensforderungen der Schönheit (d. h. integritas, debita proportio und claritas) zugleich erwähnt werden, daß ferner dieselben wesentlichen Schönheitselemente einzeln oder je zwei in anderen, früheren wie späteren Werken wiederholt erwähnt werden®. Ähnlich oder sogar noch einfacher könnte man die Abwesenheit jeder Veränderung bei anderen Fragen, wie z. B. reale Existenz und Erkennbarkeit der Schönheit, zeigen. So kommt man wiederum zu demselben Schluß, daß nämlich eine formale Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre höchst unwahrscheinlich, sogar einfach nicht zu existieren scheint. 3. Im Gegensatz zu dieser Ansicht kann man selbstverständlich Argumente auch für die Wahrscheinlichkeit der formellen ästhetischen 139; In Rom. 12,2, Lekt. 1.; ST I II 89,1,1a; 109.7 c; I I I 87,2,3a und ad 3; In Symb. Apost. art. 4 η. 914) ; oder aber bestimmten anderen partikulären Begriffen, wie ζ. B. habitus (vgl. ST I I I 49,2 c; 49,3,3a und ad 3; 49,4 c; 50,1 c; 50,3, ad 2; 52,2 c; 55,2,1a und ad 1); artifex und artificiatum (vgl. In I I I . Sent. 1,1,1, ad 3. n. 19; In Rom. 9, Lekt. 4; In I. Cor. 12,2, Lekt. 1.; In II. Tim. 2,20, Lekt. 3; In Matth. 9,3 und 24,1; In lob 28, Lekt. 2); mulier, insbesondere B. Maria Virg. (vgl. In III. Sent. 3,1,2, sol. I. ad 4 η. 54; In Is. 11; In Ps. 44,9; In I X . Eth. Lekt. 5 n. 1824; In lob 31, Lect. 1. princ.; ST I I I I 169,2, ad 2; In Salut. Ang. n. 1126.;) Styl (vgl. In IV. Sent. 1,1,4, sol. IV. ad 2, n. 162.; Contra impugn, pars 3, sect, I, A, cap. 5 [12]; In Isai. prooem. ; In I. Tim. 3,2, Lekt. 1; St II I I 177,1, sed c.); usw. erblickt. • So betont Thomas proportio in In I. Tim. 2,9, lect. 2 und 3,2. lect. 1; In Is. 53; ST I I — I I 141,2, ad 3 (von 1268—72) ; In Ps. 44,2 und ST I I I 87,2, ad 3 (beide von ungefähr 1272) ; — dann wieder integritas in De virt. in comm. 9. ad 16 (von ungefähr 1269) und in ST I I I 54,4, ad 2; — und endlich claritas in ST I—II 109,7 c und In Ps. 25,5 einzeln; während er an anderen Stellen je zwei von den dreien zugleich erwähnt. (Ζ. B. splendor oder claritas und proportio in I. Sent. 3,2, expos, primae partis textus und In I. Cor. 11,4; ST II II 145, 2 c.).

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Genetische Analyse

Gedankenentwicklung bei Thomas konstruieren, insbesondere in apriorischer Weise. So kann man darauf hinweisen, daß es für die menschliche Vernunft nur natürlich sei, die metaphysische Tiefe der Realität nicht auf einmal, oder gleich am Anfang metaphysischer Erörterungen, sondern vielmehr in einer stufenweise fortschreitenden Weise zu begreifen. Thomas hat ja selbst zugegeben, daß Zeit sozusagen ein Entdecker und ein guter Mitarbeiter 7 und daß es für Vernunft etwas Natürliches sei, Schritt für Schritt von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit zu gelangen8. Weiterhin finden wir, daß Thomas hinsichtlich mancher früheren Lehren tatsächlich einige Verbesserungen und Berichtigungen gemacht hat, folglich Gedankenentwicklungen unterworfen ist. Wir haben dafür sogar die Versicherung des berühmten Thomas-Forschers Martin Grabmann 9 . Wenn aber Thomas sich hinsichtlich einzelner Lehren tatsächlich entwickelte und seine Meinung änderte, warum sollte das bei der Frage der Schönheit, selbst eine Einzelfrage in seinem allumfassenden System, unwahrscheinlich sein, und warum könnte man dasselbe nicht per analogiam auch dort für wahrscheinlich halten ? 4. Fürwahr ist die Strenge dieser apriorischen Argumente zuzugestehen. Doch gilt dasselbe auch für die apriorischen Gegenargumente ! Andererseits ist die Oberflächlichkeit des aposteriorischen Gegenargumentes allzu ersichtlich. Es bedarf nämlich mehr als einiger Zitate, tatsächlich vielmehr einer sorgfältigen und auf alle Einzelheiten eingehenden Untersuchung, um zuverlässige Schlüsse ziehen zu können. Endlich muß man auch zugeben, daß keines von den Argumenten Pro und Contra seiner Natur nach durchschlagend und überzeugend ist. Folglich, will man mit Gewißheit erfahren, welche Art von formeller 7

videtur tempus esse quasi adinventor, vel bonus cooperator . . . Si enim aliquis tempore procedente det operam investigandae veritati, iuvatur ex tempore ad veritatem inveniendam.« In I. Eth. lect. 11. n. 133. ' humanae rationi naturale esse videtur ut gradatim ab imperfecto ad perfectum perveniat. ST I II 97,1 c. 9 »In seinem Wahrheitsstreben hat Thomas auch seine eigenen Anschauungen, wenn sie ihm auf Grund neuer Materialien und vertiefter Erkenntnisse als nicht mehr ausreichend oder als irrig erschienen, in späteren Schriften richtiggestellt, ergänzt oder auch widerrufen. Ein Vergleich zwischen dem Sentenzenkommentar, seinem frühesten großen Werk, und seiner theologischen Summe, seiner reifsten Gesamtdarstellung der Theologie, stößt gar oft auf solch inneren Fortschritt wissenschaftlichen Denkens. Auch die zahlreichen handschriftlichen Zusammenstellungen der Diskordanzen zwischen Sentenzenkommentar und theologischer Summa, die schon aus dem Beginne des 14. Jahrhunderts uns erhalten sind, weisen auf diese Entwicklung hin« — Grabmann: Thomas von Aquin, S. 40. — Vgl. auch: »Thomas hat sich in manchen Punkten verbessert und geklärt, richtiggestellt oder nötigenfalls auch retraktiert.« CEbd. S. 2.)

Einleitende Fragen über die Entwicklung von Thomas' Schönheitslehre

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Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas stattgefunden hat — wenn es eine solche überhaupt gegeben hat —, so ist eine umständliche und ausführliche genetische Analyse einfach unvermeidbar und notwendig. 3. Schwierigkeiten einer genetischen Analyse der Schönheitslehre des Thomas Bevor man die langwierige Aufgabe, die Schönheitslehre von Thomas einer materiellen und formellen genetischen Analyse zu unterwerfen, beginnen kann, ist es wohl am Platze, die Schwierigkeiten dieser Aufgabe vor Augen zu halten, um allzu große Erwartungen zu vermindern. Es ist nur natürlich, daß man bei solcher Analyse wünscht, zu vollkommen zuverlässigen (da auf Tatsachen aufgebauten und folglich unzweifelhaften) Schlußfolgerungen zu gelangen. Gegenwärtig scheint das aber in unserem Falle beinahe unmöglich zu sein. Es ist sogar sehr zweifelhaft, ob man es je wird erreichen können. Die Gründe für diese pessimistische Behauptung sind drei. 1. Erstens, wie wohl bekannt ist, sind wir nicht im Besitz aller Schriften des Thomas. So weiß man, daß er mindestens ein Werk, nämlich die Expositio in Canticum Canticorum (um 1265 —1269) geschrieben hat, das verlorengegangen ist10. — Jede solche Lücke vermindert natürlich die Zuverlässigkeit einer genetischen Analyse. Das gilt in einem beträchtlichen Maße für diesen Kommentar, da Thomas in ihm, wie aus dem entsprechenden Buch der Bibel leicht zu ersehen ist, zahlreiche Gelegenheiten finden konnte, seine Ansichten über die Schönheit zu äußern11. Vor kurzem wurden außerdem einige bis dahin unbekannte Schriften12 dem depositum Thomae beigefügt. So ist es völlig (obwohl bloß in beschränktem Maße) denkbar, daß noch weitere entdeckt werden dürften. 2. Mit dem zweiten Typus von Schwierigkeiten verhält es sich umgekehrt: es gibt zahlreiche Schriften, die uns bekannt sind, die jedoch nicht zu benutzen sind, da ihre Authentizität nicht zweifelsfrei ist. 10 Es gibt zwei Kommentare mit diesem Titel in der Parma-Ausgabe (torn. XIV; der erste S. 354—86, der zweite S. 387—426), aber keiner der beiden ist authentisch. 11 Tatsächlich scheint das Canticum canticorum jenes Buch der Bibel zu sein, in dem ästhetisch kritische Wörter am häufigsten vorkommen. 11 »Principium Fr. Thomae de Aquino, quando incepit Parisius ut Baccalarius Biblicus« vom Jahre 1252. (Erste Ausgabe von F. Salvatore, Rom, 1913: Due sermoni inediti di S. Tommaso d'Aquin). — Breve Principium Fr. Thomae de Aquino quando incepit Parisius ut magister in theologia, von 1256 (siehe P. Mandonnet, Opuse. IV. S. 491—96). — Responsio ad Bernardum abbatum Casinensem, vom Jahre 1274. (Siehe Mandonnet, ebd. III. S. 249—51.)

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Genetische Analyse

So gibt es viel Schwierigkeiten mit der Authentizität der Predigten des Thomas13 sowie derjenigen von neun Opuscula14. Nun ist es klar, daß einige von diesen Werken wohl authentisch sein dürften. Da ich aber vorsichtshalber bloß diejenigen Werke in Betracht genommen habe, deren Authentizität von keiner Autorität bezweifelt ist1®, muß die durchzuführende genetische (und jede nachfolgende) Analyse als potentiell unvollkommen betrachtet werden. 3. In einer bestimmten Hinsicht liegt aber die größte Schwäche jeder beliebigen genetischen Analyse der Schriften des Thomas nicht so sehr in der Tatsache, daß die Liste seiner Schriften möglicherweise recht unvollkommen ist, sondern vielmehr in unserer mangelhaften Kenntnis der Chronologie der zweifellos authentischen Werke. Gegenwärtig gibt es nach Bourkes Angaben bloß 21 Schriften, deren Entstehungsdatum genau oder annähernd genau bekannt ist18. Von diesen 21 Schriften enthalten aber nur 1017 einige Schönheitsstellen, die, da sie meistens biblische oder patristische Zitate sind, sehr wenig bedeutsam sind. Unter diesen Umständen ist es natürlich unmöglich, jede einzelne Schönheitsstelle nach der chronologischen Reihenfolge zu ordnen, in la

Vgl. M. Grabmann, Werke des hl. Thomas von Aquin, Münster 1949, S. 378—93. Die Authentizität der opuscula De demonstratione, De differentia verbi div, et hum., De instantibus, De quattuor oppositis, De nat. accidentis, De natura generis. De nat. mat. et dimens. interm., De nat. verbi intellectus (von Gilson als authentisch betrachtet: The Philos, of St. Thomas Α., S. 33 Anm. 17) und De principio individuationis ist von Grabmann zugegeben, aber von P. Mandonnet verneint, während nach A. Walz' Meinung nur zwei von diesen (De nat. mat. et dimens. und De princ. individ.) authentisch und die anderen zweifelhaft sind. (Vgl. Bourke, Introd. S. XIV) — Es gibt außerdem ein weiteres opusculum (De intellectu et intelligibili), das von Mandonnet und Grabmann verworfen, aber von Pelster und Gilson (ebd. Anm. 18) als zweifellos authentisch beurteilt wird. u Die einzige Ausnahme wird bei den Predigten gemacht. Von ihren Schönheitsstellen habe ich bedingten Gebrauch gemacht, da man mit Sicherheit weiß, daß es authentische Predigten gibt, aber nicht alle authentischen Predigten von Thomas als solche identifizieren kann. 16 Diese sind die folgenden : De prineip. nat. ad fr. Silv. (Mandonnet und Grabmann, von hier an: M und G; 1255); Breve prineip. Fr. Thomae de Aqu. (G: 1256); Off. de festo corp. Christi (G: 1264); Catena aurea in Marcum (G: 1265), in Lucam (G: 1266), in Ioann. (G: 1267); De secreto und De perf. vitae spirit. (G: 1269); Contra pestif. doctr. retrah. hom. a relig. ingressu, De aetern. mundi contra murmurantes und De unit, intell, contra Averr. (: 1270); Respons. ad X L I I artic. ad magistr. ordinis und Responsio ad lect. Bisent. de artic. VI (G: 1271); In Arist. de caelo et mundo (lib. I—III.lect.8) (G: 1272, M : 1272—73) ; De mixt, elem.. De motu cordis, die drei Expositiones devotissimae (Orat. Domin., Salut, angel. und Symb. Apost.) und In duo praec. carit. et decern legis praec. (M und G: 1273) und endlich die Respons. ad Bern, abbatem Casin. (G: 1274.) 17 Off. de festo corp. Chr.; De perf. vitae spirit.; Cat. aur. in Marcum; Lucam und Ioann. ; De unit, intell. ; In De caelo et m. ; In Salut. Ang. ; In Symb. Apost. und In duo praec. carit. 14

Einleitende Fragen über die Entwicklung von Thomas' Schönheitslehre

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der sie Thomas tatsächlich geschrieben oder diktiert hat oder in der sie — als von Thomas gelehrt — von anderen, wie ζ. B. Reginald von Piperno, niedergeschrieben wurde (reportationes). Statt dessen kann man höchstens versuchen, der originalen Chronologie soweit wie möglich nahe zu kommen. So wird dann auch jeder Schluß, der in einer genetischen Analyse gezogen wird, nur soweit korrekt sein, wie unsere Kenntnis der Chronologie der Werke des Thomas richtig ist. Das mag aber in einigen Fällen eine Abweichung von 6 bis 10 Jahren bedeuten18. 4. Trotz allen diesen und besonders den chronologischen Schwierigkeiten wird die genetische Analyse keineswegs wertlos sein. Obwohl nämlich der genaue Zeitpunkt der Abfassung seiner Werke in den meisten Fällen uns unbekannt ist, ist es doch wahr, daß wir die allgemeine Reihenfolge, in der die ästhetisch bedeutsamen Werke entstanden sind, kennen. So gibt es keinen Zweifel, daß von allen Schriften, die Schönheitsstellen enthalten, zuerst der Sentenzenkommentar1® geschrieben wurde, nach ihm das Contra impugnantes dei cultum et religionem20, der Matthäus-Kommentar, De ventate 21 und die Summa contra gentiles22 entstanden. So scheint diese erste Summa die erste Pariser Periode abzuschließen und die erste italienische Periode in Thomas' Schriftsteller- (und Lehr-)Tätigkeit einzuleiten. Ungefähr gleichzeitig mit der Summa contra gentiles dürfte auch die Expositio in epistulas s. Pauli28 von Reginald von Piperno »reportiert« worden sein24. Weiterhin weiß man, daß in der anschließenden italienischen Periode, die ästhetisch ausschlaggebend war, folgende Werke geschrieben wurden : der Dionysius-Kommentar2®, die Expositio in lob 26 , In Lamentationes Ieremiae2', die Responsio ad fr. Ioannem Vercell. de artic. CVIII 28 , die Quaestiones de potentia dei29 und zwei Aristote18 Z. B. soll die Expos, in Is., die ziemlich reich an Schönheitsstellen ist, nach Grabmann zw. 1259—61, nach Walz zw. 1256—59 und nach Pelster zw. 1252—53 geschrieben worden sein; der Kommentar zu De div. nom., eine der primären Quellen der Schönheitstheorie des Thomas, nach Grabmann 1260—68; nach Walz 1261, nach Pera 1265—66, das Compendium theologiae nach Walz 1261—69 und nach Grabmann 1271—73 entstanden sein usw. >» Mandonnet-Grabmann: 1254—55; Pelster: 1253—55. 20 Grabmann: 1256—57. 31 Beide sollen nach Mandonnet und Grabmann zw. 1256—59 entstanden sein. « Mand.: 1258—60; Grabm.: 1259—64; Walz: lib. I.: 1259; lib. II—IV.: 1261—64. 23 Von I. Cor. cap. 11 bis zum Ende der Ep. in Hebr. 24 Grabmann: 1259—65. 15 De divin, nom.: Grabmann: 1260—68; Mandonnet und Walz: ungefähr 1261; Adolf Dyroff: 1262; C. Pera: 1265—66. »· Grabmann: 1261—64; Walz: 1269—72. 27 Grabmann: 1264—69. 28 Grabmann: 1265—69. *· Mandonnet: 1259—63, Grabmann: 1265—67.

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Genetische Analvse

les-Kommentare, und zwar In Ethic.30 und in Polit.31. So scheinen diese sieben Werke mit zwei wichtigen Ereignissen im Leben des Thomas mehr oder weniger zusammenzutreffen : in Hinsicht auf seine schriftstellerische Tätigkeit mit der Zeit, zu der er sein Hauptwerk, die Summa theologiae, zu schreiben anfing und hinsichtlich seiner Lehrtätigkeit mit seiner Rückkehr zur Universität Paris82. Ferner ist bekannt, daß diese zweite Pariser Periode (1269—1272) mehr oder weniger mit der Abfassung der Secunda secundae33 sowie der ästhetisch wichtigen Werke In Phys.84, De malo3*, De virtutibus in communi88 und In Psalmos David87 zusammentraf. Endlich dürfte Thomas ungefähr zur Zeit seiner zweiten Rückkehr nach Italien (1272) seine Summa theologiae vollendet88 und Petrus de Andria die Expositio super Symbolum Apostolorum niedergeschrieben39 haben. Zu allen diesen Angaben kann man noch beifügen, daß wir den Zeitpunkt zwei getrennter Reihen von Fastenpredigten kennen40. Wie ersichtlich, umfaßt diese generelle Chronologie der ästhetisch bedeutsamen Schriften (außer den nicht in der Fastenzeit gehaltenen Predigten) nur vier Werke nicht, nämlich dieQuaestionesquodlibetales, die Expositio in Isaiam und Ieremiam und das Compendium theologiae, da die Ansichten über ihre Entstehungsdaten beträchtlich verschieden sind. So wären Quodlibetales I.—VI. und XII. nach Mandonnet, Walz und van Steenberghen zwischen 1269—7241 geschrieben worden, während XII.—XI. nach Mandonnet zwischen 1263 und 1268, nach Grabmann zwischen 1272 und 1273, nach van Steenberghen zwischen 1256 und 1259 und nach Walz zwischen 1265 und 1267 entstanden sein sollen. Glücklicherweise ist aber die uns allein betreffende Frage, nämlich, wann Quodlib. VII.—XI. entstanden sind, nicht so wichtig, da die in ihnen vorkommenden Schönheitsstellen42 nicht sehr bedeutend sind. 30

Grabmann: 1266—69. Grabmann: 1266—68; Walz; 1272. 32 Die pars prima ist nämlich von Mand. 1267—68, von Grabm. 1266, und von Walz 1266—68 und die prima secundae von Mandonnet 1269—70, von Grabmann ab März 1266 und von Walz 1269—70 datiert, während Thomas im Januar 1269 nach Paris zurückkehrte. 33 Grabmann: 1268—72; Mandonnet und Walz: 1271—72. 34 Grabmann: 1268, van Steenberghen: 1263—71. 36 Mandonnet: 1263—68; Grabmann: 1268—69; Walz: nach 1269. « Grabmann: 1269; Walz: 1266—69. 31 Grabmann: 1270—72; Walz: 1272—73. 38 Pars tertia: Mandonnet — 1272—73; Grabmann — 1272. 3 · Grabmann: 1273. 40 Die erste Serie von Fastenpredigten hielt Thomas in Paris 1259 und die zweite in Neapel 1273. 41 Grabmann verlegt nur Quodlib. I—VI. in diese Periode. » QuodUb. VII, 5, 2 c; VIII, 1,1 c; 8,1 c; 9,1 c. und IX. 2,1, ad 3. 81

Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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Ernster ist aber die Schwierigkeit, die man mit der Chronologie von In Isaiam hat, da einige Stellen48 für unsere Untersuchung bedeutungsvoll sind. Nim soll aber dieser Kommentar nach Pelster 1252—53, Walz 1256—59 und nach Grabmann 1259—61 geschrieben worden sein, ein Intervall von 9 Jahren, das von der frühesten literarischen Periode des Thomas bis zu seiner reifen «ersten italienischen Zeit reicht. Ähnlich ist In Ieremiam von Pelster 1252—53, aber von Grabmann 1267—69 datiert, obwohl es wegen der Stellen XI, 3 und XII, 2 sehr wünschenswert wäre, den genauen Entstehungszeitpunkt zu wissen. Ein drittes Werk, das Compendium theologiae, ist von Walz in die Jahre 1261—69, von Grabmann aber in die Jahre 1271—73 verlegt — eine bedauernswerte Meinungsverschiedenheit im Hinblick auf solche Stellen wie I, I c. 102, n. 201 und c. 170 n. 336, zu denen noch II c. 9 n. 591 hinzuzufügen wäre. Außer diesen vier Werken gibt es noch zahlreiche Predigten, in denen zweifellos wertvolle Schönheitsstellen zu finden sind, deren genauer Entstehungspunkt aber kaum festzustellen ist. Um die speziellen Schwierigkeiten bei diesen vier Werken zu überwinden, werden die fraglichen Stellen in dieser Abhandlung in jenen Perioden in Betracht genommen, die von Martin Grabmann angegeben werden. 5. Wenn uns nun auch die genauen Entstehungsdaten nicht bekannt sind, besitzen wir doch (mit wenigen Ausnahmen) eine genügende Kenntnis der allgemeinen chronologischen Reihenfolge, in der die für die Schönheitslehre wichtigen Werke entstanden, und das scheint für eine genetische Erörterimg im großen und ganzen zu genügen. Wenn man dann sämtliche Angaben, die zur Verfügung stehen, mit entsprechender Sorgfalt benutzt, wird die genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas keineswegs unzuverlässig oder wertlos, in der Tat nicht einmal allzu ungenau, sondern bloß in den Einzelheiten in einem gewissen Grade begrenzt sein. II. MATERIELL-GENETISCHE ANALYSE DER SCHÖNHEITSLEHRE DES THOMAS Wie bereits im Artikel I des vorigen Kapitels definiert worden ist, verstehe ich unter einer materiell-genetischen Analyse eine solche, in der man festzustellen versucht, wie sich einzelne Stellen allmählich und chronologisch zu einem Gesamtmaterial anhäufen. Um die Schönheitslehre des Thomas einer solchen Analyse zu unterwerfen, stellen wir die folgenden zwei Fragen: Welche (und wieviel) 43

Insbesondere in Is. Kap. 40, 63 und auch 63.

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Genetische Analyse

verschiedenen Gedanken (oder Themen) über die Schönheit wurden von Thomas in den einzelnen Perioden seiner literarischen Tätigkeit in seinen Schriften zum Ausdruck gebracht ? — und : Wie ist die Anzahl verschiedener Schönheitsgedanken in den einzelnen Perioden zu erklären ? 1. Chronologie und Themenquantität In zwei Jugendschriften, betitelt De propositionibus modalibus1 und De fallaciis ad quosdam nobiles artistas2, ist die Schönheit gar nicht erwähnt. Erst in Paris 1252 verließ ein ästhetisch kritisches Wort (»decorus«) die Feder des 28 Jahre alten Thomas, des neuen »baccalarius biblicus«, zum ersten Male, aber diesmal nur, als er Ezechiel zitierte3. Die Schrift De ente et essentia4 brachte nichts Neues. Dann aber begann er im Sentenzenkommentar8 die lange (aber zahlenmäßig nicht reiche) Reihe von Schönheitsstellen zu schreiben, die erst zwanzig Jahre später (in einer »expositio devotissima«, oder in einer einfachen »expositio«6, durch Petrus de Andria) zu ihrem Ende kam. So spricht der erste Satz, der den eigenen Gedanken des Thomas ausdrückt — symbolisch für ihn, den großen Theologen — über die Schönheit der Kirche (pulchritudo ecclesiae) und ist mit einem biblischen Schönheitszitat verbunden7. 1. Diese Stelle ist auch zugleich die Einleitung zur ersten Periode der literarischen Tätigkeit des Thomas von unserem speziellen (ästhetischen) Gesichtspunkt aus. Sie umfaßt eigentlich nur die Entstehungsjahre des Sentenzenkommentars, nach Grabmann 1254—56. Während dieser Jahre flössen insgesamt vierundzwanzig verschiedene, die Schönheit betreffende Gedanken oder Feststellungen aus der Feder des Thomas. 1

Grabmann: 1244—45. Grabmann: 1244 oder 1245, Walz: 1272—73. 3 Ezechiel XVI: 13: »Decora facta est« — in: Principium de commendatione et partitione sacrae Scripturae, II. partitio, n. 1206. Verardo — Marietti-Ausg. 1954, S. 437 b. « Grabmann: 1254—56; Walz: 1250—56. 6 Grabmann: 1254—56; Pelster: 1253—55. • Man weiß nicht, ob es die Expositio devotissima in Symbolum Apostolorum oder diejenige In Salutationem Angelicam, oder aber die Expositio in duo praecepta caritatis et in decern legis praecepta war, die als späteste der drei Schriften verfaßt worden ist. Jedenfalls verlegt Grabmann alle drei ins Jahr 1273. 2

7 In I. Sent, prologus: »unde in commendationem pulchritudinis Ecclesiae dicitur in Num. XXIV: 5: »Quam pulchra tabernacula tua, Jacob!« — eine von Thomas sehr geliebte Bibelstelle, die in seinen Schriften noch fünf weitere Male (die Predigten nicht mit eingerechnet) vorkommt.

Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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So findet man nach seiner Aussage über die Schönheit der Kirche eine Dionysius-Stelle8 angeführt, in der bonum und pulchrum zusammen erwähnt sind9; mit diesem Zitat wird seine spätere Lehre über die Transzendentalität der Schönheit eingeleitet und angedeutet. Als nächstes kommt die erste Definition der Schönheit, die Thomas verfaßt hat 10 , und der allein in diesem einen Kommentar neun weitere Stellen folgen, die mehr oder weniger alle als Schönheitsdefinitionen betrachtet werden können. Es folgen zwei Feststellungen: eine, daß die Schönheit als solche nicht erstrebbar (appetibilis) sei11; die andere, daß aus dem Vergleich des bonum mit dem malum Schönheit (decor) als Folge entstehe12, ein Gedanke über die Häßlichkeit, der später des öfteren betont wird. Weiter findet man einen ersten Hinweis auf die Tatsache, daß Gott schön sei13, danach die erste Stelle, an der der Begriff »ordinatio« in Zusammenhang mit der Schönheit sowie eine der wichtigsten thomistischen Teillehren über das Wesen der Schönheit, nämlich der »decor speciei«14, vorläufig kurz und ohne weitere Erklärung auftauchen. Am Anfang des 2. Buches des Sentenzenkommentars finden wir den ersten Hinweis auf geschöpfliche Schönheit überhaupt sowie etwas später auch auf die Schönheit derjenigen, die der Ordnung ihres Schöpfers folgen1®. Diesen Hinweisen folgen dann verschiedene Feststellungen, eine über die Schönheit der Engel1·, eine andere über die Schönheit guter Werke17, die von ihren Objekten herstammt18, einige weitere über die Schönheit der Tugend (Thomas erwähnt an dieser Stelle die Gerechtigkeit)19, über die des Kunstwerkes, insbesondere der Statuen20, sowie über die Schönheit verschiedener Menschenalter21. Weiterhin lernt man, daß die körperliche Schönheit eine Bedingung der Ehe sei22, daß die Abwesenheit der Sünde für die Seele Schönheit » De div. nom. Kap. XII § 2. • In I. Sent dist. 2 exp. textus ad 2. — In diesem Artikel werde ich bei jedem neuen Gedanken (Thema) bloß die erste Stelle, an der er zu finden ist, anführen. Alle Stellen zu jedem einzelnen Thema werden erst im Rahmen späterer Analysen, insbesondere der systematischen Analyse angeführt. 10 In I. Sent. 3,2 exp. I. partis textus. 11 In I. Sent. 31,2,1, ad 4. « In I. Sent. 46,1,3, sol. " In I. Sent. 46,1,4,1a und ad 1. 14 In Sent. 46,1,4, ad 1. 15 In II. Sent, prologus. 18 In II. Sent. 6,1,1, sed contra. 17 In II. Sent. 27,1,4, sol. 18 In II. Sent. 38,1,2, sol. " In II. Sent. 42,1,5, ad 4. 20 In III. Sent. 1,1,1, ad 3, n. 19. " In III. Sent. 1,1,4, sol. η. 72 — Augustin-Zitat. M In III. Sent. 2,2,1, sol. η. 92.

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bedeute23, daß es Schönheit der Person24 und durch Gnade Seelenschönheit gebe,25 und, als Grund für die letzte Behauptung, daß es auch Gnadenschönheit gebe2·, deren Privation »macula« sei27. Endlich findet man die erste Andeutung der Rolle eines der Schönheitsfaktoren, nämlich der suitabilitas28 und die erste Feststellung über die Schönheit von Himmelskörpern29, einer Art von »pulchritudo visibilis«, die das Sehen vervollkommne30. 2. In der nächsten, ungefähr acht Jahre langen Periode (1256—64) findet man im Gegensatz zu der Themenfülle der soeben geschilderten ersten und bloß 2—3 Jahre langen Periode in den inzwischen vollendeten fünf Werken, d. i. Contra impugnantes dei cultum et religionem, In evangelium Matthaei und De ventate (nach Grabmann alle drei von 1256—59), ferner in In Boethii De trinitate (Grabmann 1257—58) sowie in der ersten Summa und einigen Teilen der Quaestiones quodlibetales (nach Grabmann von 1258—64), bloß die Wiederholung von zwölf früher berührten Themen und nicht mehr als sechs neue Themen. Diese sind folgende: die Einteilung der Schönheit in geistige (spiritualis) und äußerliche (exterior), dann die Feststellung, daß die Schönheit genußvoll und wünschenswert sei31, die gelegentliche Erwähnung von partikulären Dingen der Natur, die schön seien32, die Lehre, daß bonum, pulchrum und pax wünschenswert seien33, dann die erste Erwähnung von immaterieller und unsichtbarer Schönheit34, die einzige platonisch-augustinische Interpretation des Begriffes »numerus« in Sap. XI 21 als Schönheit36 und die Behauptung, daß Genuß die Tat verschönere3®. Außerdem beginnt Thomas in dieser Periode die verschiedenen Schönheitselemente entweder in sich oder in ihrem Verhältnis zur Schönheit explizit zu nennen37, während er früher das nur implizit ω

Eine Bibelstelle in: In III. Sent. 3,1,2. II. sed. c. 2 b., n. 40. " In III. Sent. 13,3,1, sol. η. 124. " In IV. Sent. 1,1,2,1a. η. 54. 2 · In IV. Sent. 16,2,1, sol. II ad 3 η. 99. In IV. Sent. 16,2,2, IV. ad 1 η. 117. 28 Ebd. η. 118. " In IV. Sent. 48,2,3, sol. »o In IV. Sent. 60,2,4, sol. I ad 2. S1 Beide in Contra impugn., pars II cap. 6 (7), n. 339. sî Unter den schönen Dingen der Natur ist interessanterweise zuerst die Viper erwähnt (In Evang. Matth. 111:1). M De verit. 22,1, ad 12. M SCG III 80. " SCG III 97. 3 « Quodlib. VIII,9,1 c. 47 Das erste Schönheitselement, das Thomas als solches erwähnt, ist claritas. (In Ev. Matth. 13,4.)

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getan hat 38 , ferner betont er in dieser Zeitperiode die Schönheit geschaffener Dinge insbesondere die des Weltalls39. Verlängert man nun diese Periode (1256—64) um bloß ein weiteres Jahr und verkürzt man ihren Anfang um drei Jahre: 1259—65, so gelangt man zu der Zwischenzeit, in die Grabmann die Abfassimg folgender Werke verlegt: In Pauli ep. ad Corinth., Galat., Ephes., Coloss., (I. und II.) Timoth. und Hebr., ferner die Expositio in Isaiam40 und — gegen Ende dieser hypothetischen Periode — die Expos, in lob und die Catena aurea in Matth41. Betrachtet man (aus bestimmten Gründen, die erst im nächsten Artikel besprochen werden) vorläufig bloß die Paulus- und IsaiasKommentare, so findet man in ihnen kein neues Schönheitsthema, sondern nur eine Wiederholung von früheren Gedanken. 3. Wendet man sich nun zu jener etwa achtjährigen Periode, in die Grabmann die ästhetisch äußerst wichtige Expositio in Dion. De div. nom. verlegt (1260—68), so sind darin außer dem Kommentar zu De div. nom. nach Grabmanns Ansicht noch die folgenden acht Schriften abgefaßt worden: Expositio in lob (1261—64), Officium de festo corporis Christi (1264), Catena aurea in Matthaeum, Marcum, Lucam und Ioannem (1261—67), De regno (1265—66) und De potentia (1265—67). Was nun zuerst den Kommentar zu De divinis nominibus betrifft, so findet man in ihm die folgenden neuen Gedanken zur Schönheit: Die Schönheit könne als Graziosität verstanden werden42; die Schönheit sei Gott und dem Geschöpf analog zuzuschreiben4®; Unterschiede zwischen göttlicher und geschöpflicher Schönheit44; die Quintessenz der Theorie der participatio, wie sie der Schönheit anzupassen sei und die Transzendentalität der Schönheit impliziert45; die spezifische und individuelle Variabilität der Schönheit4·; der doppelte Mangel geschöpflicher Schönheit47; die Kausalität der göttlichen Schönheit48; ein corollarium dazu : der göttlichen Schönheitskausalität wegen seien das Gute und das Schöne identisch, und die materia prima beteilige sich am Schönen und Guten49; die Liebenswürdigkeit der Schönheit »« Vgl. in IV. Sent. 16,2,2,IV ad 1 n. 118 und ebd. 44,2,1, sol. I ad 6. — Wie man in dieser Hinsicht In IV. Sent. 48,2,3, sol. zu beurteilen hat, scheint fraglich. 3t Vgl. das Boethius- bzw. Dionysius-Zitat in De verit. 3,1, 6a bzw. Quodlib. 8,1.1 c und die selbständigen Stellen in SCG I 86 und III 71. 40 Nach Grabmann sollen alle 1269—61 verfaßt worden sein. 41 Nach Grabmann beide 1261—64 verfaßt. 42 De div. nom. cap. 4 lect. 5 η. 334. 43 Ebd. η. 335. 44 Ebd. η. 336. 45 Beide in De div. nom. 4,5,357. 4 · Ebd. η. 339. 47 Ebd. η. 345. 48 Ebd. η. 349. « Ebd. η. 355.

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und Gutheit folge daraus, daß beide das Ziel aller Dinge seien 50 ; die Liebe wird als schön und gut bezeichnet 51 ; die objektive, extramentale Existenz der Schönheit 52 ; die grenzenlose Schönheit Gottes sei unmittelbar 63 ; ein allgemeingültiges Prinzip der Ästhetik wird von der Ethik übernommen 54 ; Analogie zwischen der Gesundheit und der Schönheit 55 ; Gott sei alle Schönheit und ohne Schönheit 56 ; geistige Güte schaffe einen »schönen Zustand« in der Seele57. Wenn man nun die anderen acht Schriften durchliest, so findet man in ihnen bloß die folgenden neuen Themen: die vom Vergleichungsgrund abhängige Relativität der Schönheit 58 ; die Schönheit der Wahrheit 59 ; die schöne Fähigkeit 60 ; die Schönheit der Seligkeit61; die Schönheit eines Namens 62 , das heißt Christi; die Schönheit der Bewegung63 und diejenige des Beispiels64. Als nächsten Schritt betrachten wir nun die Periode von 1264 bis 1269, d. h. diejenige, in der nach Grabmanns Meinung die Expositio in Lamentationes Ieremiae, also das Werk, in dem verhältnismäßig die meisten Schönheitsstellen vorkommen, verfaßt worden ist. Diese Periode ist weiterhin deswegen bedeutend, da sie der Abfassungszeit der Summa contra gentiles und wahrscheinlich auch des Kommentars zu De divinis nominibus folgt und zugleich die der Prima pars und Prima secundae der Summa theologiae mit einschließt, ferner äußerlich mit dem ersten, schriftstellerisch reifen Aufenthalt des Thomas in Italien zusammenfällt. Nach Grabmann wurden nun in dieser Periode die folgenden acht Schriften außer der Prima und Prima secundae vollendet : In Lamentationes Ieremiae (1264—69), Responsio ad Ioannem Vercellensem de art. CVIII (1265—66), In Politicam (1266—68)65, In Ethicam (1266—69), In Physicam (1268), In Post. Anal. (1268) und De malo (1268—69). Wie steht es nun mit neuen Schönheitsgedanken in dieser Periode und in diesen Schriften ? 50

De div. nom. 4.9.400. Ebd. 4.10, 437. 52 Ebd. n. 439. " De div. nom. 4,18, 526. M De div. nom. 4, 22, 672. " Ebd. " De div. nom. 5,2,661 " De div. nom. 8,4,783. « In lob, cap. 25, lect. 1. " Ein Augustin-Zitat in: Catena aurea in Matth. 13,10. 60 »decora potentia« — ein Augustin-Zitat in : Catena aurea in Lucam, 6,3. el decor felicitatis — ein Cyrill-Zitat ebd. 6,11. 82 Ebd. 10,7. *3 Angedeutet in einem Ambrosius-Zitat in: Cat. aur. in Luc. 23,6. M In einem Ambrosius-Zitat in: Cat. aurea in Lucam 23,7. • 5 Die Expositio in Polit. Arist. ist nur bis lib. III lect. 6 authentisch. Der Rest, d. h. von lib. III lect. 7 bis zum Ende (lib. VIII lect. 3) wurde von Petrus de Alvernia verfaßt. 51

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In den zahlreichen Schönheitsstellen der Expositio in Lamentationes Ieremiae befindet sich interessanterweise kein einziger neuer Gedanke. Dasselbe gilt auch für In Ieremiam, In Physicam und Responsio ad Ioann. Vercellensem. Die größte Anzahl von neuen Schönheitsthemen befindet sich, wie zu erwarten ist, in der Prima und der Prima secundae: die Zugehörigkeit der Schönheit zum Bereich der causa formalis··, eine Lehre, die implizit bereits in viel früheren Texten vorkam, eine relative Definition der Schönheit bei Bestimmung des Unterschieds zwischen der Schönheit und der Gutheit·7, die Bemerkung, daß Gott vor allem Vollkommenheit und Schönheit (decor) in seinen Geschöpfen wünsche und daß das Böse nur per accidens zur Schönheit des Weltalls beitrüge'8, die Bemerkung, daß die Schönheit eines Abbildes (imago) von der Vollkommenheit, mit der es ein Ding repräsentiert, abhängig sei89, daß von allen körperlichen Lebewesen der Mensch allein die Schönheit als solche genießen könne70 und daß die »ordinatio« des Volkes schön sei71. Die neuen Schönheitsthemen in den anderen vier Werken sind die folgenden: die Schönheit der Seele sei weniger leicht zu erkennen als diejenige des Körpers72, es gebe Schönheit in Gebräuchen78, es bestehe eine Kontrarietät zwischen dem Schönen und dem Häßlichen74, die Schönheit könne, ohne gesehen zu werden, nicht geliebt werden75, und zwei Bemerkungen über geometrische Schönheit7® und über die Grade der Häßlichkeit". 5. Die noch übrigen Werke dürfte man alle einer einzigen, der letzten Periode zurechnen. Das Hauptwerk unter diesen zwischen 1268 und 1273 abgefaßten Schriften ist selbstverständlich die Summa theologiae, deren Secunda secundae und Tertia pars nach Grabmann 1268—72 bzw. 1272—73 verfaßt worden sind78. Grabmann meint weiterhin, daß " ST I 6,4,1a. «' Ebd. · · ST I 19,9,2a bzw. ad 2. ·" ST I 39,8 c. — Die Schönheit des Abbildes wird bereits in In Matth. 3,2 erwähnt, aber die Bedingung seiner Schönheit ist dort noch nicht genannt. ST I 91,3 ad 3. 71 ST I II 105,1 sed c. " In I. Pol. Lect. 3 n. 73. ™ In II. Pol. Lect. 4 n. 200. 74 Aristoteles nachgesagt in: In VIII. Eth. Lect. 8 n. 1654. " Aristoteles nachgesagt in : In I X . Eth. Lect. 5 n. 1824. 7 4 In I. Poster. Anal. Lect. 16 g. 7 7 De malo, 2,9,c. fin. 7 8 Da das Supplementum zwar aus thomistischen Werken zusammengestellt, aber nicht von Thomas selbst verfaßt wurde, werden die folgenden 27 Schönheitsstellen weder hier noch in den späteren Erörterungen in Betracht gezogen: 34,1 c; 68,1,5a; 69,1,2a; 71, 1 1 c ; 73,2, a d 2 ; 73,3, a d 2 ; 74,1 sed c.; 74,5, sed. c.; 74,9c; 82,1, ad 5; 84,2 c; 86,1,3a; 90,2,4a; 91,3, sed c. und c.; 92, praeamb.; 94,1,2a und ad 2; 95,1, ad 6; 95,2, ad 1; 96,1, ad 1; 96,5, ad 1 und ad 3; 96,10,3a, c. und ad obi. und 98,6,1a. 4'

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Genetische Analyse

außer der Summa theologiae noch die folgenden Werke aus dieser letzten Periode stammen: De perfectione vitae spiritualis (1269), In Perihermeneias, In evangelium Ioannis, De virtutibus in communi und De virtutibus cardinalibus (alle 1269—72), In lib. De causis (1269—73), De unitate intellectus contra Averroistas (1270), In Psalmos David und In Arist. De anima (beide 1270—72), Compendium theologiae (1271—73), In Arist. De caelo et mundo und Quaestiones quodlibetales lib. XII (beide 1272), In epist. Pauli ad Rom. und De substantias separatis (beide 1272—73), Expositio in Symbolum Apostolorum, in Salutationem Angelicam und in duo praecepta caritatis et in decern legis praecepta (alle drei 1273). In allen diesen Schriften befinden sich nun nicht mehr als die folgenden drei, mehr oder weniger neuen Gedanken über die Schönheit: daß es dem Schönen (wie auch dem Guten) gebühre, manifestiert zu werden 79 , daß die körperliche Schönheit der Tugend entgegengesetzt sei80 und endlich, daß das kontemplierende Leben seelisch schön sei81, eine Feststellung, die die Reihe der Schönheitsgedanken in Thomas' Werken ebenso schön symbolisch abschließt, wie der Ausdruck »pulchritudo ecclesiae« diese Reihe einleitet82. Die Auswertung all dieser Angaben ist nun das Thema des nächsten Artikels. 2. Auswertung der Angaben Zur Auswertung dieser scheinbar sinnlosen Fülle von Angaben fassen wir zuerst die nach Perioden getrennte Anzahl von Schönheitsgedanken folgendermaßen zusammen: Anzahl der Schriften Theoretische

oder Schriftteile,

Periode

die in der Periode

Anzahl der verschiedenen Themen der Schönheitslehre

verfaßt wurden 1254—56

I

1256—65

8

7

1260—68

9

25

1264—69

9

13

1268—73

18

3

24

7» ST II—II 103,1 ad 2. 80

ST II—II 145,2.3a und ad 3. ST II—II 180,2,3a. — Zwölf Quaestionen früher findet man schon den Ausdruck, »pulchritudinem. vivendi«, aber nur in einem Ambrosius-Zitat, nicht in einem selbständigen Text. M — Wie ersichtlich, fehlen in dieser Chronologie alle Stellen aus seinen Predigten und die der Piae preces, da die Abfassungszeiten nicht bekannt sind und die einzelnen 81

Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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Wie ersichtlich, gibt es drei (theoretisch aufgestellte) Perioden, die eine ziemlich hohe Anzahl von Schönheitsgedanken enthalten, während in zwei anderen Perioden deren Anzahl sehr niedrig ist. Um für diesen Umstand eine befriedigende Erklärung zu finden, muß man folgende Tatsachen betrachten. 1. Die Periode 1254—56 folgte beinahe unmittelbar Thomas' Studienjahren in Köln, in denen er als ein Schüler Alberts eine ihn anscheinend befriedigende ästhetische Theorie erlernt hatte, die frisch und klar in seinem Verstand lebte und allem Anschein nach selbständig und kritisch-systematisch noch nicht von ihm durchdacht worden war. Weiterhin muß man in Betracht ziehen, daß alle in Frage stehenden 24 verschiedenen Schönheitsgedanken im Sentenzenkommentar vorkommen, der eine Art Handbuch ist; in einem solchen Werk sind alle möglichen Fragen unvermeidbar zu behandeln und werden tatsächlich behandelt. So ist es kein Wunder, daß es darin 24 verschiedene Schönheitsthemen gibt. Endlich muß man bedenken, daß 24 verschiedene Schönheitsgedanken für dieses riesige Werk kaum als viel zu betrachten sind83. Aus diesen Tatsachen scheint nun zu folgen, daß die scheinbar — und wenigstens relativ — hohe Anzahl von verschiedenen Schönheitsgedanken kein besonderes Interesse an der Schönheit andeutet. Daß sich Thomas in dieser Hinsicht in den nächsten, wenigsten drei und höchstens zehn Jahren, oder richtiger in den acht Werken, die er danach abfaßte, nicht geändert hat, ersieht man aus der außerordentlich geringen Zahl von neuen Schönheitsthemen, die darin erscheinen. 2. Im Gegensatz dazu findet man in der nächsten (hypothetisch höchstens achtjährigen) Periode die größte Anzahl von neuen Schönheitsgedanken, die je im Leben des Thomas vorkommt. Wenn man bedenkt, daß von den 25 in Frage stehenden Schönheitsthemen nicht weniger als 20 sich in einem einzigen Werk, nämlich im Kommentar zu De divinis nominibus finden, so ersieht man gleich die große Rolle, die dieser in der Schönheitslehre des Thomas spielt. Jede Abhandlung über unser Thema, welche die Lehren dieses Kommentars nicht entsprechend berücksichtigt, ist notwendig und wesentlich unvollständig und einseitig. Ob man dann auch schließen kann, daß Thomas zur Zeit der Abfassung dieses Kommentars tatsächlich sehr (oder mehr als je zuvor oder nachher) an der Frage der Schönheit interessiert gewesen sei, ist eine andere Frage. Wenn man nämlich daran denkt, daß von allen Predigten für das jeweilige Interesse des Thomas an der Schönheit wenig charakteristisch zu sein scheinen. 83 Der Sentenzenkommentar besteht aus 1198 Artikeln und enthält 77 bedeutungsvolle Stellen.

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Genetische Analyse

89 Schönheitsstellen bloß zwei von Thomas aus eigener Initiative verfaßt wurden, während er von dem ihm vorliegenden Text mehr oder weniger gezwungen war (wenn auch nicht der Länge, sondern der Zahl nach) die anderen 87 Stellen zu verfassen, dann muß man bezweifeln, daß diese höchste Anzahl von neuen Schönheitsgedanken auch darauf hinweise, daß Thomas zur Zeit des Dionysius-Kommentars seine typische Uninteressiertheit an der Frage der Schönheit abgelegt habe. Statt dessen sagt man richtiger, daß, da er sich einmal vorgenommen hatte, diesen Kommentar zu schreiben (ein Entschluß, zu dem er keineswegs von der Schönheitslehre des Autors, die sich besonders im 4. Kapitel des Werkes findet, sondern zweifellos von seinem allgemein philosophiegeschichtlichen Interesse gebracht wurde), ihn einige Teile dazu bewegten, seinen eigenen Begriff über die Schönheit nach den Prinzipien seines Gedankensystems — vielleicht das erste Mal in seiner literarischen Tätigkeit — zu erweitern und zu vertiefen. Mit anderen Worten, es wäre unrichtig zu bezweifeln, daß Thomas zu dieser Zeit das Problem der Schönheit ernsthaft bedacht hat ; aber es wäre wohl ebenso unrichtig zu behaupten, daß er das tat, weil das Problem der Schönheit ihn an und für sich interessierte und nicht, weil er den »Apostel-Schüler« Dionysius in jeder Hinsicht, folglich auch in seinem 4. Kapitel, wo er ausführlich über die Schönheit spricht, richtig interpretieren wollte. Es ist klar, daß jede intensive Beschäftigung mit einem Denker und seinen Ansichten den Kommentator selbst in einem gewissen Grade beeinflußt und ihn geneigt macht, auch bei späteren Gelegenheiten dieselbe Frage zu behandeln und seinen Standpunkt darüber klarzulegen. Dasselbe kann man deswegen wohl von Thomas hinsichtlich der Frage der Schönheit nach der Abfassung des Dionysius-Kommentars voraussetzen. Gibt es aber Spuren dieses Einflusses und dieser Veränderung ? Wenn nichts anderes, dann scheinen Schönheitsstellen wie c. 28 1. 2, c. 40 1. 2 seiner Expositio in lob einen Einfluß des Dionysius auf Thomas anzudeuten 84 . M In lob, cap. 28. lect. 2 betont das neuplatonische Element des splendor als dasjenige, von dem das Gold seine Schönheit habe (»aurum, quod habet pulchritudinem ex splendore«) ; zwei Stellen von cap. 40. lect. 1 erwähnen kurz die platonisch-neuplatonische Theorie der participado und eine Stelle von In lob, cap. 41 lect. 2 betonen auf typisch neuplatonische (d. h. hier dionysische) Weise die Schönheit der »radii solares«. — Den ersten Beweis von cap. 28 lect. 2 dürfte man dadurch schwächen können, daß man auf chronologisch frühere, aber doch ähnliche und entweder selbständige Stellen, wie z. B. In Matth. 13,4; In I. Cor. 16,44 Lect. 6 und In Is. 63, oder aber Dionysius-Zitate, wie »illuminationes pulchri et boni« (De verit. 8,15, ad 3) hinweist, obwohl die Entschiedenheit, mit der Thomas die ästhetische Rolle des splendor an den fraglichen Iob-Stellen behandelt, nicht mit früheren Stellen zu vergleichen ist. — Aber gegen das zweite Argument der participatio kann man kaum

Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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Dazu kommt noch, daß von den verhältnismäßig viele Schönheitsstellen enthaltenden Werken bloß In Isaiam, In Matth, und Contra impugnantes dei cultum et religionem vor dem Kommentar zu De divinis nominibus entstanden, daß aber die verhältnismäßig die meisten Schönheitsstellen enthaltenden acht Werke86 alle nach demselben Kommentar abgefaßt wurden, und von diesen acht Werken sechs innerhalb von ein paar Jahren nach dessen Vollendung. Es scheint also, daß die Abfassung des Kommentars zu De divinis nominibus den Autor Thomas nicht nur inhaltlich-thematisch, sondern auch in dem Sinne beeinflußte, daß er sich öfters als zuvor mit der Schönheit beschäftigte oder sie wenigstens erwähnte. Sollte die Behauptung richtig sein, daß die Expositio in lob Einflüsse des Kommentars zu De divinis nominibus aufweist, so würde das ermöglichen, die Abfassungszeit dieses Kommentars viel genauer anzugeben, als das durch Martin Grabmann geschah. Grabmann setzt nämlich die Expositio in lob 1261—64 und den Dionysius-Kommentar 1260—68 an. Wenn der Iob-Kommentar wirklich zwischen 1261 und 1264 verfaßt wurde, dann muß der Kommentar zu De divinis nominibus nicht später als 1261—63 geschrieben worden sein. Das ist jedenfalls noch immer innerhalb des von Grabmann für diesen Kommentar vorgesehenen Zeitraumes, ist aber dem Ansatz von Durantel (c. 1260), Mandonnet und Walz (1261) sowie von Dyroff (1262) viel näher als dem von C. Pera (1265—66) oder A. Feder (vor 1268) *·. 3. Ist die Behauptung richtig, daß das Überdenken des Problems der Schönheit, zu dem Thomas als Kommentator des Dionysius gezwungen wurde, ihn geneigter gemacht hat, sich in den nachfolgenden Werken über die Schönheit zu äußern, dann hat man schon dadurch den Schlüssel zur Erklärung des nächsten Punktes gefunden. Unsere vierte Angabe zur Anzahl verschiedener Schönheitsgedanken ist nämlich, daß in den neun Werken bzw. Werkteilen, die Thomas in der nächsten und höchstens 6 Jahre langen Periode (1264—69) verfaßt hat, dreizehn neue Gedanken zur Schönheit vorkommen. Diese Anzahl ist geringer als die von zwei früheren Perioden (24 und 25), ist aber beinahe das Doppelte von derjenigen, die Thomas vom Sentenzenkommentar bis zum Dionysius-Kommentar in fast ebenso vielen Werken (8), aber in wesentlich kürzerer Zeit (6 Jahre) abfaßte. etwas unternehmen, da diese außer den De divinis nominibus-Stellen die einzige ist, an der Thomas diesen zweifellos platonisch-dionysischen Begriff ästhetisch verwendet. (Die entsprechenden Stellen des Dionysius-Kommentars sind : cap. 4 lect. 6 nn. 337, 340, 365 und 366). 8 5 In Lament. 1er. ; In lerem. ; Cat. aurea in Lucam, In Symb. Apost., Cat. aur. in Matth., In Psalm., In lob und De potentia. · · Grabmann schreibt: »Durantel gibt ca. 1260; Mandonnet ca. 1261 an, A.Feder entscheidet sich dafür, daß dieses Werk vor 1268 verfaßt wurde.« (Die Werke des h. Thomas von Aquin, S. 364.)

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Die höhere Anzahl neuer Schönheitsgedanken ist auffallend, da es natürlich stufenweise schwerer wird, immer neue Erklärungen zu einer bestimmten Frage abzugeben, und da bis zum Ende der früheren Periode schon beinahe 60 Schönheitsthemen vorgebracht wurden. Dieser Umstand bedarf jedenfalls einer Erklärung. Im Lichte der Rolle des Kommentars zu De divinis nominibus ist diese Erklärung leicht zu finden und dürfte lauten: in einem bestimmten Maß wurde der Dionysius-Kommentar ein Wendepunkt in der literarischen Aktivität des Thomas, indem er von seiner Abfassungszeit an, wo er das Problem der Schönheit überdenken mußte, bereitwilliger geworden ist, das schwierige Thema der Schönheit gelegentlich zu behandeln. Man könnte diese Erklärung durch den Hinweis überflüssig machen wollen, daß die erhöhte Anzahl neuer Schönheitsthemen vielmehr durch die große Zahl von Kommentaren zu erklären sei, in denen Thomas nicht umhin konnte, bestimmte Fragen zu behandeln. Auf den ersten Blick scheint das stichhaltig zu sein, da von den in dieser Periode abgefaßten neun Werken bzw. Werkteilen sieben Kommentare oder kommentarartig87 sind. Bei sorgfältiger Nachprüfung stellt es sich aber heraus, daß es bei den sieben Kommentaren bloß in dreien neue Schönheitsthemen gibt ; ferner, daß von den fraglichen 13 neuen Schönheitsgedanken bloß fünf in drei verschiedenen Aristoteles-Kommentaren enthalten sind, die Thomas dem Stagiriten einfach nachspricht88, und sogar diese zwei Gedanken in späteren Werken durch selbständige Äußerungen von Thomas wiederholt und unterstützt werden. 4. Noch ein weiteres ist zu dieser vierten Periode zu erwähnen. Es handelt sich hier um etwas, was bei den bisherigen Schönheitsthemen völlig fehlt. Mehrere »neue« Schönheitsgedanken sind eigentlich nicht neu, sondern vielmehr Weiterentwicklung, Ausarbeitung (»principiata«) früherer und prinzipartiger Schönheitsgedanken. Das gilt für Stellen wie S. theol. I q. 5 a. 4 ad 1 (die Schönheit habe den Charakter einer causa formalis), I q. 19 a. 9 ad 2 (das Böse trage nur per accidens zur Schönheit bei), die zweite Stelle in I q. 39 a. 8, die In Matth. III 2 in Hinsicht auf die Schönheit des »Abbildes« weiterentwickelt wurde, usw. Dies führt uns zur letzten Periode von 1268—1273. Während dieser Jahre wird die Secunda secundae vollendet und von der Pars tertia soviel, wie Thomas noch vor seinem frühzeitigen Tode überhaupt fertig brachte. Die Beschreibung dieser Teile der Summa theologiae — eine geistige Leistung, die alle früheren Werke überragt und die " Responsio ad Ioann. Vercell. de articulis CVIII ist »kommentarartig« in dem Sinne, daß Thomas hier, ebenso wie in anderen Fällen, einen fertigen Text vor sich hatte, zu dem er dann seine Antworten verfaßte. 88 In VIII. Eth. Lect. 8 n. 1654 und In IX. Eth. Lect. 5 n. 1824.

Materiell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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letzte Vollendung aller früheren Lehren darstellt — ist auch für die Anzahl neuer Schönheitsstellen charakteristisch: bis zum Jahre 1272, in dem die Secunda secundae und In ev. Ioannis abgefaßt worden sein sollen, findet man noch drei neue Themen in diesen zwei Schriften, ein Jahr später aber, als auch die Tertia pars, wie wir sie heute kennen, vollendet ist, keinen mehr. Das monumentale Gedankensystem, die Lehre über die Schönheit miteingeschlossen, ist so gut wie fertiggestellt. Sogar die erwähnten drei »neuen« Schönheitsgedanken können eigentlich nur in dem Sinne neu genannt werden, als sie alle implizit in früheren, wohlumrissenen Prinzipien wie im Keim enthalten sind und erst jetzt aus ihnen gefolgert werden89. Man dürfte nun die Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen: a) Ohne Zweifel gibt es eine materielle Gedankenentwicklung (d. h. eine nach chronologisch betrachteter Themenquantität) in der Schönheitslehre des Thomas. b) Dieser materiellen Gedankenentwicklung entsprechen vier Hauptperioden seiner literarischen Tätigkeit, und zwar 1. eine unselbständige Periode (bis etwa 1256), in der Thomas hauptsächlich wiederholt, was er gelernt hat, 2. eine Hauptentwicklungsperiode (bis etwa 1262—63), in der Thomas auf aktive Weise die Grundsätze seiner ästhetischen Lehre durchdenkt und selbständige Ansichten entwickelt, 3. eine innerlich weniger aktive, aber äußerlich reiche Periode (bis etwa 1268), in der sich die Früchte der inneren Entwicklung zeigen, und endlich 4. eine abschließende vierte Periode der Reife (bis 1273), in der alles wohl systematisiert, aber nichts Neues erdacht wird. 5. Hier darf der folgende Einwand nicht unbeantwortet gelassen werden (obwohl er prinzipiell diesen Folgerungen nicht entgegengesetzt ist) : die ganze Beweisführung ist klar auf der Autorität M. Grabmanns aufgebaut. Was hat sie aber für einen Wert, wenn Grabmann von späteren Fachleuten in bedeutenderen Einzelheitenrichtiggestelltwird? Man muß zugeben, daß es zwischen den Meinungen von Grabmann und anderen große Unterschiede gibt. Darauf ist schon in Kapitel I, Artikel 2 dieses Teiles hingewiesen. Wie steht es aber mit den Abfassungszeiten der ausschlaggebenden Werke? Das Prinzip, auf dem eine befriedigende Verteidigung der *· Ohne hier schon in die formell-genetische Analyse einzutreten, kann man allerdings soviel andeuten, daß die Lehre von claritas oder splendor das Prinzip für ST II—II 103,1, ad 2 ist; daß bestimmte und wohlbekannte psychologische Lehren die Grundlage zu ST II—II 146,2,3a und ad 3 sind, und daß die Lehre von der ästhetischen sowie epistemologischen Rolle der Form die Urquelle von ST II—II 180,2,3a (vgl. auch die Bemerkung in Anm. 81 dieses Kaoitels) ist.

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Genetische Analyse

Hauptfolgerungen aufgebaut werden kann, ist zweifellos dies: sollte es zwischen den Meinungen der führenden Autoritäten allzu große Unterschiede in bezug auf die Abfassungszeit der entscheidenden Werke geben, dann ist die in Frage stehende Theorie nicht oder kaum zu verteidigen, anderenfalls aber wohl. Um das zu entscheiden, muß man bloß die Meinungen über die Abfassungszeiten folgender Werke einholen : des Sentenzenkommentars, der Summa contra gentiles, des Kommentars zu De divinis nominibus, der Summa theologiae und entweder der Expositio in lob oder eines anderen Werkes, das zwischen den letzten beiden verfaßt wurde. Diese Werke sind nämlich die wichtigsten, die in den vier Hauptperioden verfaßt worden sind und die in ihrer chronologischen Reihenfolge das Gerüst der ganzen Theorie bilden. Es zeigt sich leicht, daß die existierenden Meinungsverschiedenheiten hauptsächlich die Chronologie der kleineren und weniger wichtigen thomistischen Schriften und nicht die der aufgezählten »kritischen« Werke betrifft 90 . Damit hat der Einwand seinen Grund verloren. III. FORMELL-GENETISCHE ANALYSE DER SCHÖNHEITSLEHRE DES THOMAS Das Ergebnis der materiell-genetischen Analyse im vorigen Kapitel, daß nämlich eine thematische Gedankenentwicklung bei Thomas hinsichtlich seiner Schönheitslehre tatsächlich stattgefunden hat, ist gar nicht überraschend. Im Gegenteil, es war ja vorauszusehen und sogar apriorisch zu beweisen. In der Tat diente das vorige Kapitel nur dazu, daß man es auch aposteriorisch bewiesen sehe und in den Einzelheiten kennenlerne. Im Gegensatz dazu ist das Resultat des gegenwärtigen Kapitels nicht mit Gewißheit vorauszusagen. Es ist in Kapitel I Artikel 2 dieses Teils darauf hingewiesen, daß es völlig möglich und denkbar, nach einigen Thomisten sogar wahrscheinlich sei, daß Thomas in seiner 90 Der Sentenzenkommentar wurde nach Mandonnet und Pelster 1253—55, nach Grabmann 1254—56 verfaßt. — Die Summa contra gentiles ist von Mandonnet 1258—60, von Walz 1259—1264 und von Grabmann 1258—64 datiert. — Der Kommentar zu De div. nom. ist von Durantel etwa 1260, von A. Feder vor 1268, von Mandonnet und Walz etwa 1261, von Dyroff 1262, von Pera 1265—66 und von Grabmann 1260—68 datiert. — Die I, I—II, I I — I I und III pars der Summa theologiae sind von Walz: 1266—68; 1269—70; 1271—72 bzw. 1272—73 und von Grabmann: 1266; nach März 1266; 1268—72; bzw. 1272 datiert. — Im Gegensatz zu dieser ziemlich großen Ubereinstimmung betreffs der Abfassungszeiten dieser vier Werke ist die Lage mit der Expositio in l o b nicht so einfach : sie soll nach Mandonnet etwa 1272—73, nach Walz 1269—72 und nach Grabmann (der Tolemeo von Lucca folgt, — vgl. a. a. O. S. 253) 1261—64 abgefaßt worden sein. Das Wesentliche ist aber, daß Mandonnet, Walz, usw. darin einig sind, daß der lob-Kommentar nach dem zu De div. nom. abgefaßt worden sei.

Formell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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Schönheitslehre außer der materiell-thematischen Entwicklung auch einer formellen Gedankenentwicklung unterworfen war. Ob diese Ansicht nun richtig ist, und wenn ja, welche Arten formeller Gedankenentwicklung bei Thomas stattgefunden haben, sind Fragen, die im gegenwärtigen Kapitel zu beantworten sind. Wie soll man nun verfahren, um die Antwort zu finden ? Von Artikel 1, Kapitel I dieses Teiles wissen wir schon, daß außer der Einteilung in materielle und formelle Gedankenentwicklung man Gedankenentwicklung überhaupt nach Qualität, Inhalt, Quantität (oder Umfang) und auch dem Sinne (oder Wahrheitswert) nach aufteilen kann ; weiterhin, daß der Qualität nach Gedankenentwicklung transient oder immanent sein kann. Da man nun erst zu erfahren hat, ob es transiente oder immanente Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas gibt, bevor man feststellen kann, ob diese dem Inhalt nach wesentlich oder unwesentlich (akzidentell), der Quantität (bzw. dem Umfang) nach total oder partiell und dem Wahrheitswert nach eigentliche oder uneigentliche Gedankenentwicklungen darstellen, wird man diese formell-genetische Analyse in drei Artikeln ausführen. In Artikel 1 wird die transiente, in Artikel 2 die immanente Gedankenentwicklung erörtert, wobei in Artikel 3 diese zwei Arten qualitativ-formeller Gedankenentwicklung dreifach, das ist dem Inhalt, dem Umfang und dem Wahrheitswert nach, ausgewertet werden. 1. Transiente Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre Transiente ist eine Art von Gedankenentwicklung, soweit Gedankenentwicklung qualitätsmäßig eingeteilt ist. Da nun die Qualität der Gedankenentwicklung überhaupt von der Natur ihres Ausgangspunktes und ihres Endes bedingt und davon abhängig ist, ob Ausgangspunkt und Ende zwei (mindestens virtuell) verschiedene Objekte menschlichen Denkens und Interesses, oder aber zwei (mehr oder weniger) verschiedene Ansichten (Erklärungen, Theorien usw.) über ein und dasselbe Objekt sind, ist eine Gedankenentwicklung transient, wenn immer ein Denker seine Aufmerksamkeit erst auf dieses, später auf jenes Objekt lenkt. Weil wir nun im Begriff sind, eine mögliche transiente Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre zu finden, dürfen und können wir nicht mehr erwarten, als einen möglichen Übergang von einem Aspekt der Schönheit zu einem anderen, beträchtlich (im besten Falle wesentlich) verschiedenen Gesichtspunkte. Sollten wir aber einen solchen Übergang in den Werken des Thomas finden, dann werden wir einen empirisch-aposteriorischen Beweis für eine transiente Gedankenentwicklung in seiner Schönheitslehre besitzen.

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Was sind nun die Tatsachen, aus denen eine solche Konklusion gezogen werden kann ? 1. Beim sorgfältigen Durchlesen der einzelnen, in chronologischer Reihenfolge genommenen Schönheitsthemen stellt sich heraus, daß aus den ungefähr 30 Schönheitsthemen, die vor dem Kommentar zu De divinis nominibus erscheinen, nicht weniger als zwei Drittel (19) von überwiegend praktischer (und nur sekundär oder vielmehr potenziell spekulativer) Natur sind, nämlich die Erwähnung der Schönheit verschiedener Dinge 1 und zwei unmittelbar erkennbare Beschaffenheiten der Schönheit überhaupt, d. i. Ergötzlichkeit und Erwünschbarkeit. Sogar unter den übrigen elf Themen gibt es einige, die, obwohl sie wesentlich spekulativer Natur sind, doch aber nicht viel abstraktes Denken erfordern, um entdeckt oder erkannt zu werden, wie z. B. daß das Gute und das Böse, wenn entsprechend gegenübergestellt, etwas Schönes produzieren2, daß die Schönheit aus dem »ordo« bestehe 3 , daß gute Werke Schönheit besitzen (was praktisch mit der Bejahung der Tugendschönheit identisch ist!) 4 , daß diese ihre Schönheit von ihren Objekten herrühre5, daß die Schönheit entweder geistig oder äußerlich (spirit ualis-exterior)6, entweder ex se oder ex ornatu7 und entweder die von himmlischen oder von irdischen Körpern8 sei; oder aber sie bedürfen objektiv zwar der Spekulation, aber nicht in der Form, in der sie in dieser literarischen Periode von Thomas erwähnt werden. Solches ist zum Beispiel das gleichzeitige Erwähnen von pulchrum und bonum 9 , dessen letzter und tiefster Grund die Transzendentalität der Schönheit und der Gutheit ist, die hier aber noch nicht einmal implizit erwähnt wird. So findet man nur die folgenden abstrakt-spekulativen Gedanken vor der Abfassung des Kommentars zu De divinis nominibus ausgedrückt: das Wesen und die Definition der Schönheit, dann daß, 1 Zu chronologischer Folge genommen, erwähnt Thomas die Schönheit folgender Wirklichkeiten: der Kirche, Gottes, des Geschöpfes überhaupt, der Engel überhaupt, verschiedener Menschenalter, des menschlichen Körpers, der Tugend, der Kunstwerke, der menschlichen Person, der menschlichen Seele, der Gnade, der Himmelskörper, sichtbarere und unsichtbarer Dinge und einzelner Lebewesen. 2 In I. Sent. 46,1,3, sol.; In II. Sent. 29,1,3, ad 4 und In II. Sent. 36,1,3, ad 3. » In I. Sent. 46,1,4 ad 1; In II. Sent, prolog.; In II. Sent. 34,1,1, sol. und In II. Sent. 36,1,3, ad 3. 4 In II. Sent. 27,1,4, sol. 6 In II. Sent. 38,1,2, sol. • Contra impugnant. pars II, c. 6 (7), n. 339. 7 In Matth. 12,3. 8 In I. Cor. 16,40, lect. 6. 9 Vgl. In I. Sent. dist. 2 expos, text, ad 2; In I. Sent. 31,2,1, 4 a ; 46,1,4, ad 1; In II. Sent. 34,1,1, sol.; In IV. Sent. 50,2,1, V. l a ; De verit. V I I I 15,3a und ad 3 ; SCG I 8 6 ; I I 2 ; I I I 32 und 71 und In Is. 35.

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ähnlich der Wahrheit, die Schönheit als solche nicht, oder nur im uneigentlichen Sinne erstrebenswert10, daß die Art (species), die durch die Form bedingt werde, als solche schön sei11, daß verschiedene Elemente als objektive, unersetzliche und wesentliche Bedingungen in der Verursachimg der Schönheit eine gewisse Rolle spielen12, daß das Gute, das Schöne und auch der Frieden (pax) wünschenswert seien1*, und endlich, daß der augustinische Terminus »numerus« als Schönheit zu verstehen sei14. 2. Im Gegensatz zu diesen überwiegend praktischen Themen der ersten Periode findet man im Kommentar zu De divinis nominibus die folgenden zahlreichen theoretisch-abstrakten, ja grandiosen metaphysischen Themen: die analoge Natur der Schönheit, wie die Schönheit Gott und dem Geschöpf zuzueignen und über beide aussagbar (prädikabel) sei16 (eine grundlegende metaphysische Lehre, die alle Unterschiede zwischen göttlicher und geschöpflicher Schönheit in ihren ontologischen Gründen erläutert16,) die großartig tiefe und faszinierende Partizipationstheorie diesmal ästhetisch verwendet17 und sogar bis zur materia prima ausgedehnt18, die Doktrin der Tranzendentalität der Schönheit19, neben der aber auch die spezifischen wie die individuellen Unterschiede in der Schönheit der Dinge anerkannt und betont werden20, die Theorie über den Doppelmangel kreatürlicher Schönheit21, die Lehre über die dreifache Kausalität der göttlichen Schönheit22, die Bemerkungen, daß die Identität von bonum und pulchrum ein Korollarium zu dieser göttlichen Schönheitskausalität28 und daß der Finalitätscharakter der Schönheit (und Gutheit) der Grund der universalen Liebenswürdigkeit von beiden sei24, die zweimal gebrauchte Formulierung: »schöne und gute Liebe«25, die mit Thomas' genereller In I. Sent. 31,2,1 ad 4 bzw. De verit. 22, 1, ad 13. In I. Sent. 46,1,4, ad 1; In II. Sent. 1,2,2, sol. η. 98; In II. Sent. 23,3,1,1 sed c. 2a η. 226 und In IV. Sent. 48,2,3, sol. 12 Die auf Einzelheiten eingehende Analyse dieser Texte wird im nächsten Artikel gegeben: Seite 67f. 13 De verit. 22, 1, ad 12 und In Isaiam 32. 14 SCG III 97. 15 De div. nom. 4,6,335 und 339. >· Ebd. nn. 336, 346—47. — Vgl. auch In lob, 40. 1 7 De div. nom. 4,6 nn. 337,340,349.366f. — Vgl. In lob, cap. 40 lect. 1, med. (zwei Stellen). 18 De div. nom. 4,6,356 und 4,21,560. 18 De div. nom. 4,5, nn. 337,339f., 349, 36öf.; — 4,22,690 und 11,4,938. 20 De div. nom. 4,6,339. — Vgl. In Ps. 44,2. 21 De div. nom. 4,5,346. ö Ebd. nn. 349,361—64 und 4,6 (insbesondere nn. 367—66) ; 4,7 (insbes. n. 390—93) ; 4,10 437; 11,4,938 und 12,1,952. — Vgl. auch 7,4,733. 25 De div. nom. 4,6,366. 24 De div. nom. 4,9,400. 25 De div. nom. 4,10,437 und 4,12,457. 10 11

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Theorie über die Transzendentalien sowie über die Liebe überhaupt harmoniert, die erste explizite und unzweideutige Betonung der objektiven Realität der Schönheit28, die Äußerung, daß die unendliche Schönheit Gottes als solche inkommunikabel sei27, die Zusammenbringung der ästhetischen und moralischen Ordnung durch ein gemeinsames, grundlegendes und allgemeingültiges Prinzip28 und endlich die typisch platonisch-neuplatonische Feststellung, man könne über Gott mit gleicher Richtigkeit aussagen, daß er Urschönheit und ohne Schönheit sei29. Insgesamt sind es fünfzehn neue metaphysische Schönheitsthemen im Kommentar zu De divinis nominibus, also um ein Drittel mehr als alle abstrakten Themen in sämtlichen Werken, die Thomas bis zu diesem Kommentar verfaßt hat 30 . Noch wichtiger als das ist aber die Tatsache, daß einige von diesen Themen so grundlegende Lehren sind, daß sie die typisch thomistischen Merkmale dieser Schönheitslehre darstellen und in späteren Werken vielleicht weiter ausgearbeitet und systematisiert, aber nicht geändert werden. 3. Fährt man nun weiter fort und versucht festzustellen, welches Verhältnis zwischen praktischen und spekulativen Schönheitsthemen nach der Abfassungszeit des Dionysius-Kommentars besteht, so entdeckt man die folgenden Tatsachen. Läßt man sechs Themen, die in den patristischen Texten der Catena aurea vorkommen 81 und in späteren Werken nicht wiederholt, d. h. durch selbständige Stellen nicht unterstützt wurden, außer acht, so 24

De div. nom. 4, 10, 439. De div. nom. 4. 18, 525. 28 De div. nom. 4,22,572. " De div. nom. 5,2,661. so Man könnte versuchen, die Wichtigkeit dieses quantitativ zweifellos eindrucksvollen Umstandes durch den Hinweis abzuschwächen, daß Thomas als Kommentator des Dionysius ja gezwungen war, die abstrakt-metaphysischen Aspekte der Schönheit zu behandeln, und daß infolgedessen die hohe Zahl von abstrakt-metaphysischen Schönheitsthemen keineswegs eine Gedankenentwicklung andeute. — Man darf aber nicht vergessen, daß es bei einer Gedankenentwicklung nicht so sehr darauf ankommt, warum oder wie, sondern daß sie tatsächlich stattgefunden hat. Es ist im Falle des Thomas völlig klar, daß er, ob er wollte oder nicht, die neuen metaphysischen Schönheitsgedanken des Dionysius durchdenken mußte und tatsächlich durchdachte, und zwar so erfolgreich, daß seine so entstandenen Gedanken von jener Zeit an organische Teile seiner eigenen Schönheitslehre wurden. Deswegen kann man hier mit Recht von einer transienten Gedankenentwicklung reden. 31 Decor veritatis — Catena aurea in Matth. XIII :10 (Augustin-Zitat) und in Cat. aur. in Luc. 11:8 (Gregor von Nyssa-Zitat) ; — decor potentiae in Cat. aur. in Luc. VI : 3 (Cyrill-Zit.) ; — decor nominis (i. e. Christi) — in Cat. aur. in Luc. X : 7 (CyrillZit.) ; — pulchritudo motus — in Cat. aur. in Luc. X X I I I : 6 und X X I I I : 10 (Ambrosiusbzw. Beda-Zit.) und exemplum pulcherrimum — in Cat. aur. in Luc. X X I I I : 7 (Ambrosius-Zit.). 27

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findet man in den post-dionysischen Werken des Thomas insgesamt noch fünfzehn neue Themen ; von diesen sind sieben praktischer Natur : decor felicitatis32, pulchritudo ordinationis populi33, ein Hinweis auf die göttliche Vorsehung, die unendlich weise alles schön disponiert und ordnet, die selbstverständliche Feststellung, daß die Schönheit der Seele schwerer zu erkennen sei als diejenige des Körpers84, pulchritudo consuetudinis88, daß das Sehen die unentbehrliche Bedingung der Liebe zur Schönheit sei*, die gerade Linie als die Schönste von allen Linien,37- und der Gegensatz zwischen körperlicher Schönheit und Tugend38. Weitere Gedanken sind wenigstens teilweise praktisch erkennbar: die Schönheit kontemplativen Lebens39 und die Kontrarietät zwischen dem Schönen und Häßlichen40. So bleiben denn nicht mehr als sechs Themen mehr oder weniger abstrakter Natur übrig für die Werke nach dem Dionysius-Kommentar. Diese sind die Bemerkungen, daß die Schönheit eines Dinges relativ, das ist vom Vergleichungsgrund abhängig sei41, daß Gott über alles Vollendung und Schönheit in seinen Geschöpfen wünsche42, daß das Böse bloß per accidens zur Schönheit des Weltalls beitrage43, daß die Schönheit des Abbildes vom Grade der Vollendung abhänge, in dem es das Original repräsentiert44, und die zwei Wichtigsten : daß die Schönheit bloß übersinnlich erkennbar sei46 und es ihr gebühre, manifestiert zu werden4®. n Cat. aur. in Luc. VI : 11 (Cyrül-Zit.) ; ST I—II 4,6, ad 1 ; In I. Eth. Lect. 13 n. 163. » ST I — I I 105,1, sed c. M In I. Polit. Lect. 3 n. 73. " In II. Polit. Lect. 4 n. 200. " In I X . Eth. Lect. 6 n. 1824; In I X Eth. Lect. 14 n. 1944. — Vgl. ST I I — I I 180,1 c usw. 37 In I. Post. Anal. Lect. 15 g. " ST I I — I I 146,2,3a und ad 3. J» ST I I — I I 168,1 c und 180,2,3a. — Vgl. Quodl. XII,22,1 c. In V I I I . Eth. Lect. 8 n. 1654Í.; ST I I — I I 146,4 c; In Periherm. I Lect. 11; In II De an. Lect. 22 n. 520. — Vgl. auch In I. Poster. Anal. Lect. 16 g und ST I I — I I 143 art. un. — Eine Stelle im Contra impugn, spricht schon über den Gegensatz zwischen Schönheit und Häßlichkeit (»turpe autem pulchro opponitur« — pars II, cap. 6 [7] η. 339) — aber dort ist noch kein Wort über die spezifische Art dieses Gegensatzes gesprochen. — Man könnte sich auch denken, daß der Ausdruck »pulchra dilectio« (In Ev. Ioann. X V : 7, Lect. 2. und in Rom. X I I :9, Lect. 2) einen neuen Schönheitsgedanken ausdrücke. — Das ist aber nicht so. Siehe: De div. nom. 4,10,437; 4,12,457. (Eine spätere Stelle ist noch ST I I I 6,1, ad 3.) 41 In lob, cap. 26, lect. 1. 41 ST I 19,9,2 a. 43 ST I 19,9 ad 2. " ST I 39, 8 c. " ST I 91,3, ad 3. — Vgl. das Cicero-Zit. in ST I I — I I 142, 2 c. " ST I I — I I 103,1, ad 2.

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Vergleicht man diese Zahl von Schönheitsäußerungen abstrakter Natur, die sich im Kommentar zu De divinis nominibus befinden, mit der Anzahl der neuen Schönheitsgedanken, die in sämtlichen, nach diesem Kommentar geschriebenen Werken zu finden sind, so stellt es sich heraus, daß sie im Verhältnis von etwa 3: 1 (15: 6) zueinander stehen. Das ist zweifellos ein Umstand, der die Rolle des DionysiusKommentars entsprechend zu demonstrieren geeignet und ganz im Sinne der Schlußfolgerung von Artikel 2 des vorigen Kapitels ist. Dieses Bild über die Rolle des Kommentars zu De divinis nominibus kann nun noch damit ergänzt werden, daß man auf die Dauer hinweist, die der Einfluß der in diesem Kommentar enthaltenen Lehren in der nachfolgenden literarischen Tätigkeit des Thomas zeigt. Tatsächlich gibt es acht Lehren, das ist diejenige über die analoge Natur der Schönheit, über den doppelten Schönheitsmangel der Geschöpfe, über die reale Identität des Schönen und des Guten als das Korollar der dreifachen Kausalität göttlicher Schönheit, über die Partizipation der materia prima an der Schönheit, über die imi verseile Liebenswürdigkeit des Schönen und Guten als die Folge ihres Finalitätscharakters, über die explizit betonte objektive Existenz der Schönheit, über die ähnlich formulierte Inkommunikabilität der unendlichen Schönheit Gottes und diejenige Lehre, nach der Gott urschön und zugleich ohne Schönheit sei, die wenigstens explizit in späteren Schriften nicht wiederholt werden. Dagegen findet man aber, daß eben die universalsten und fundamentalsten Lehren dieses Kommentars wiederholt erwähnt und gebraucht werden. So werden der in c. 4 1.5 n. 336, 345—47 behandelte Unterschied zwischen göttlicher und geschöpflicher Schönheit und die ebendort in n. 337, 340, 349 und 356 entwickelte Theorie von der Partizipation der kreatürlichen Schönheit an derjenigen Gottes in der Expositio in lob c. 40, der Gedanke von der spezifischen und individuellen Mannigfaltigkeit der Schönheit47 im Psalmenkommentar 44,2 wiederholt. Ähnlich kehrt Thomas zu der doppelten Relation des Schönen zum Guten und zum Wahren 48 in seiner theologischen Summa, I q. 5 a. 4 ad 1, und zum Thema von der Transzendentalität der Schönheit entweder explizit oder implizit in nicht weniger als sechs Schriften, und zwar vom relativ frühen De potentia an 49 bis zur 1273 verfaßten Expositio in Symbolum Apostolorum50, zurück. Ferner wiederholt er die Lehre über die göttliche Schönheitskausalität in der Prima und « De div. nom. 4,5, η. 339. 48 Ebd. η. 356. «· De pot. 4,2, ad 31. In Symb. Apost. Art. 1 n. 873.

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der Secunda secundae sowie in der Expositio in Symbolum Apostolorum51. Zusammenfassend kann man nun schon feststellen, daß einfach dadurch, daß man praktisch-konkrete Bemerkungen von spekulativtheoretischen Lehren unterscheidet, eine ganz deutliche Änderung in Thomas' Hauptinteresse an der Schönheit ersichtlich ist, indem es von den überwiegend praktisch-konkreten Themen der vor dem DionysiusKommentar abgefaßten Werke zu den überwiegend und hinsichtlich relativer Anzahl zahlreichen theoretisch-spekulativen Themen des Kommentars übergeht und dann, die wichtigsten vor Augen haltend, gelegentlich sogar wiederholend, wieder zu mehr praktischen und weniger spekulativen Aspekten der Schönheit zurückkehrt. Folglich muß eine doppelte transiente Gedankenentwicklung zugegeben werden. 4. Sucht man dann eine weitere Weise, in der diese Konklusion bestätigt werden kann, so kommt eine lange Liste von Schönheitsdefinitionen sowie eine andere von Stellen, in der Thomas die Rolle verschiedener Schönheitselemente zum Ausdruck bringt, zu Hilfe. Ohne daß man diese Stellen einzeln nach ihrem Inhalt analysierte, (da das bereits eine antizipierte Analyse einer möglichen inhaltlichen Gedankenentwicklung darstellte!) kann man die folgenden Tatsachen finden. Es gibt ungefähr 20 Stellen in den vor dem Dionysius-Kommentar verfaßten Werken, die eine Definition der Schönheit (oder einer Art von Schönheit) darstellen oder einer solchen nahekommen62. Dagegen findet man allein im Dionysius-Kommentar 16 Stellen ähnlicher Natur, wobei in Werken, die in ungefähr derselben Periode oder etwas nach der Abfassungszeit des besagten Kommentars vollendet worden sind, weitere 14 solcher Stellen vorkommen. Im Gegensatz zu dieser zweiten Periode gibt es dann in der letzten etwa 1268—69 beginnenden Periode (die neben zahlreichen anderen Schriften die riesige Secunda secundae und Tertia einschließt), nicht mehr als 10 Definitionen oder QuasiDefinitionen53. Diese zuerst zunehmende und dann wieder abnehmende Anzahl von Schönheitsdefinitionen in den Werken des Thomas, mit seinem Kommentar zu De divinis nominibus im Mittelpunkt, scheint die in Punkt 3 gezogene und sogar die in der materiell-genetischen Analyse erreichte Schlußfolgerung allzu klar zu bestätigen, als daß man auf weitere Einzelheiten eingehen müßte. Man könnte nämlich auf den 61 ST I 108,6, ad 5; II—II 145, 2 c; In Symb. Apost. Art. 1 n. 878. — Vgl. auch In Psalm. 20,3. S2 Von diesen 20 Stellen befinden sich elf im Sentenzenkommentar, vier in SCG, zwei in Exp. in Timoth. und je eine in Contra impugn.. In Isaiam und In Cor. ' · Die einzelnen Definitionsstellen werden im nächsten Artikel ausführlich erörtert.

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(auf Grund der Zahl origineller Struktureinheiten gerechneten) Quantitätsaspekt der Werke in den einzelnen Perioden hinweisen, wodurch die Anzahl 11 bzw. 10 sich im Vergleich mit der von 15 bzw. 14 als viel geringer zeigt als sie absolut ist. Aber sogar ohne den Aspekt der relativen Anzahl von Schönheitsdefinitionen ersieht man sehr deutlich den anfänglichen Mangel, dann, unter Einfluß und »Zwang« von De divinis nominibus, die plötzliche und unzweideutige Zunahme des Interesses am Wesen der Schönheit — ein Interesse, das noch einige Jahre lang andauerte, aber gegen Ende von Thomas' literarischer Aktivität zweifellos wieder zu sinken und von anderen, weniger metaphysischen Schönheitsfragen ersetzt zu werden begann. Eine zweite, zusätzliche Beweisführung für die obige Schlußfolgerung wäre nun der Vergleich der Anzahl von Schönheitsdefinitionen vor, nach und während der Abfassungszeit des DionysiusKommentars, und zwar sofern diese Zahlen mit denen weiterer Stellen erhöht werden können. Diese weiteren Stellen dürften solche sein, in denen es einen expliziten oder impliziten Hinweis auf die Rolle eines oder mehrerer der drei Wesenselemente der Schönheit gibt. Was findet man nun in dieser Hinsicht in den Werken des Thomas ? In der Periode vor dem Dionysius-Kommentar schließen sich 10 Schönheitsstellen an die bereits erwähnten 20 Schönheitsdefinitionen an. Im Gegensatz zu dieser Zahl gibt es im Dionysius-Kommentar allein 24 Schönheitsdefinitionen und weitere Stellen, die auf Schönheitselemente hinweisen, um vom Gesichtspunkt der relativen Anzahl und der Ausführlichkeit oder Länge der jeweiligen Stellengruppen gar nicht zu sprechen. Führt man dann den Vergleich weiter, und zwar vorerst bis zum Beginn der Abfassungszeit der Secunda secundae (c. 1268), so findet man insgesamt 42 Stellen beider Art. Dagegen wurden in der Zeit von c. 1268—73, (also in der Periode, in der die lange Secunda secundae, die Tertia pars usw. bis zu den Expositiones devotissimae verfaßt wurden) bloß 30 solcher Stellen — eine Anzahl, die mit der der Stellen der ersten Periode identisch, aber geringer als die der zweiten und dritten Periode ist. Daß auch diese zweite zusätzliche Beweisführung die Konklusion des Hauptargumentes bestätigt, ist leicht zu sehen. Damit kann man eine doppelte transiente Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas als erwiesen betrachten. 2. Immanente Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas Transiente und immanente Gedankenentwicklung sind zwei Arten der Gattung »Gedankenentwicklung qualitativ betrachtet« und als solche einander entgegengesetzt. Deswegen ist immanente Gedanken-

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entwicklung eine solche, die stattfindet, wenn ein Denker zu zwei verschiedenen Zeitpunkten zwei verschiedene Ansichten, Erklärungen oder Theorien über dieselbe Frage hat. Was können die Fragen zur Schönheit sein, die von Thomas auf verschiedene Weise beantwortet und gelöst worden sind? Man muß seine Schönheitslehre nicht notwendig in ihrer systematischen Ganzheit erkennen, um zu wissen, daß das objektive Dasein und Wesen, Eigenschaften und Einteilung, Erkennbarkeit und Umfang einige der Hauptprobleme der Schönheit sind. Liest man alle Schönheitsstellen durch, so ersieht man bald, wie konsequent Thomas bestimmte Ansichten über die Schönheit von Anfang an bis zu seinem letzten Werke vertreten hat. Das gilt für alle oben aufgezählten Fragen, ausgenommen das Wesen der Schönheit. Und wenn man außerdem bestimmte weitere Stellen in seinen Werken kennt, dann wird auch klar, daß die Frage der Transzendentalität der Schönheit eine zweite Ausnahme bildet. Folgen wir nun in allen Einzelheiten den Äußerungen des Thomas hinsichtlich dieser zwei Aspekte seiner Schönheitslehre. 1. Die Frage der objektiven Bedingungen oder Faktoren der Schönheit überhaupt behandelte Thomas bereits in seinem ersten großen Werke, dem Sentenzenkommentar. Seine erste Feststellung ist, daß die Schönheit nach Dionysius »in splendore et partium proportione« bestehe64. Etwas später nennt er diese zwei Bedingungen consonantia und claritas65 und fügt nach Aristoteles als die dritte Bedingung noch 44

In I. Sent. 3, 2, expos, primae partis textus. Es ist sehr interessant, die Schwankungen (man kann diese ja nicht mit dem Terminus »Entwicklung« bezeichnen) zu beobachten, die sich im Gebrauch der verschiedenen Termini für die Wesensbedingungen der Schönheit, besonders aber für seinen Begriff von Proportion und Klarheit, bei Thomas finden. — So gibt es für den Begriff Klarheit in den Definitionsstellen bloß dreimal den Terminus splendor (In I. Sent. 3,2, ex. I part, text.. In IV. Sent. 44,2,4,3a und De malo, 4,2,17a, wozu noch mindestens zwei weitere kommen, aber keine Definitionsstellen, d. i. In Is. 63 und In Salut. Ang. n. 1116), meistens (in 17 Definitionsstellen) aber das Wort claritas. (Resplendere, clarus8, coloratus* und color, sogar conspicuus* sind weitere Quasisynonyme, die je einmal oder zweimal an Stelle der claritas gebraucht werden.) — Bei dem anderen Schönheitselement der Proportion ist die Lage noch komplizierter. In den Schönheitsdefinitionen (bzw. Quasi-Definitionen) gebraucht Thomas für diesen Begriff fünfzehnmal den Terminus proportio, und zwar fünfmal ohne Beiwort (In I. Sent. 3,2, exp. I. part, text.; In III. Sent. 1. 1, 3,3a, n. 63; In I. Tim. 3,2, Lect. 1; De div. nom. 4,22,672); achtmal mit »debita« (SCG III 139; In Cor. 11,4, Lect. 2; De div. nom. 4,6,339 und 22,672; ST I 6,4, ad 1; 39,8 c; ST—II 146,2 c; 180,2,ad3.); je einmal mit »decens« und »moderata et conveniens« (De div. n. 4,6,339. — ST II—II 141,2, ad 3); ferner neunmal den Terminus consonantia (In I. Sent. 31,2,1, sol. und ad 4; In II. Sent. 9,1,6, sed c. 2a; De div. nom. 4,6, nn. 339, 349, 366, 361; 6,366; ST I 39,8c); siebenmal den von »commensuratio«, und zwar fünfmal ohne Beiwort (In Is. 63; De div. nom. 4,21,664; 22,689 ; 7,4,733; ST I—II 49, 4c) und zweimal mit »debita« (In I. Eth. lect. 13 n. 169; In IV. Eth. lect. 8 n. 738); weiterhin zweimal 66



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Genetische Analyse

»magnitudo« bei, die er als »perfectio« interpretiert58. Von dieser Zeit und Stelle an wiederholt er im Sentenzenkommentar dieselbe Ansicht öfters auf eine der folgenden Weisen : a) N u r eine der drei Bedingungen der Schönheit wird erwähnt. b) Zwei von den drei werden genannt. Alle drei zusammen erwähnt er in diesem Werke nicht mehr, wenn In I Sent. 31,2,1 ad 4 nicht getrennt gerechnet wird.

Je ein Schönheitselement erwähnt Thomas insgesamt fünfmal in diesem Werk, und zwar so, daß er an zwei Stellen Proportion57 und an drei anderen die Klarheit betont58. Je zwei Schönheitsbedingungen (jedesmal Proportion und Klarheit) sind an drei Stellen genannt69. Dazu gehören auch, rein thematisch betrachtet, drei Stellen, nach denen die Form des Dinges die Ursache seiner Schönheit seieo: die Form, die die Species des Dinges bestimmt61. Um endlich dieses Bild von der Schönheitslehre des Sentenzenkommentars vollständig zu machen, muß noch erwähnt werden, daß außer den zwei dionysischen und einem aristotelischen Schönheitselement Thomas noch einen weiteren Begriff, den des »ordo« bzw. der »ordinatio« gelegentlich erwähnt®2, dessen genaues Verhältnis zu den drei Schönheitselementen aber noch nicht klargelegt wird. Fassen wir nun kurz zusammen, was wir bisher von Thomas über das Wesen der Schönheit erfahren haben : a) E r zählt drei Elemente der Schönheit auf: zwei von Dionysius, eins von Aristoteles. b) Von diesen dreien erwähnt er die Klarheit am häufigsten. c) Neben Dionysius und Aristoteles führt er auch eine dritte Autorität an, und zwar die von Augustin. d) Als Ursache der Schönheit wird die Form des Dinges angegeben. e) Der Begriff ordo bzw. ordinatio wird gelegentlich gestreift. f) In seinen Äußerungen ilber das Wesen der Schönheit benutzt er, von einer nebensätzlichen Erklärung abgesehen, lediglich Autoritätsbeweise· 3 . •debita ordinatio« (Contra imp. p. II. c. 6 [7] n. 339 und In lerem. 11,3); zweimal »dispositio«, und zwar einmal mit »debita« (ST I—II 66,2,1 a und ad 1) und einmal mit »decens« (De regno, I, 3) und endlich »bene proportionatus«, »convenientia« und »harmonía« je einmal (In II. Eth. Lect. 7 n. 320; — In Is. 63 — SCG II 64). — Daß darin Regelmäßigkeit o. Folgerichtigkeit zum Ausdruck kommt, ist höchst unwahrscheinlich. " In I. Sent. 31,2,1, sol. " In II. Sent. 9,1,6, sed. c. 2a und In I I I . Sent. 1, 1,3,3a n. 53. — Vgl. auch In IV. Sent. 16,2,2, IV. ad 1 n. 118. 58 In I. Sent. 31,2,1, ad 4; — In IV. Sent. 49,4,5, sol. I I I ad 1 und, in einem AugustinZitat. auch in I n IV. Sent 4,2,1, sol. I. ad 5. — Vgl. In IV. Sent. 49,5,4, sol. I I I . " In I I I . Sent. 1,1,3,3a η. 53; — In IV. Sent. 18,1,2, sol. I. ad 1, η. 53 und In IV. Sent. 44,2,4,3a und ad 3. eo In I I I Sent. 1,1,3,3a n. 53 und In I I I . Sent. 23,3,1,1. sed c. 2a. η. 226. " Vgl. In I. Sent. 46,1,4, ad 1; In I I I . Sent. 1,2,2c. η. 98; In IV. Sent. 48,2,3, sol. und auch In I. Sent. 31,2,1, sol. 42 In I. Sent. 46,1,4, ad 1; — In II. Sent, prologus, In II. Sent. 34,1,1, sol. und In II. Sent. 36,1,3, ad 3. 43 Dieser Umstand ist der Hauptgrund für den Eindruck, daß in dieser Frühperiode Thomas lediglich weitergibt, was man ihn gelehrt hat.

Formell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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Soviel über die erste Phase der Entwicklungsgeschichte der thomistischen Lehre über das Wesen der Schönheit. Was geschah aber in späteren Perioden? Um diese Frage beantworten zu können, folgen wir weiter den expliziten Schönheitsstellen, die Definitionen darstellen oder solchen nahekommen. 2. Bis zur Abfassungszeit des Kommentars zu De divinis nominibus kommen solche Stellen in vier Schriften vor. So lesen wir in Contra impugnantes dei cultum et religionem über debita ordinario·4, in der ersten Summa über harmonía·6, ordo6· und debita proportio·7, in seinem Isaias-Kommentar über commensuratio und convenientia88 und in dem Kommentar zu verschiedenen Paulusbriefen über debita proportio, conveniens claritas vel color·9, über debita ordinatio et dispositio70 und proportio71. Warum sind nun diese Definitionsstellen von großer Bedeutung? Weil von diesen acht Stellen bloß eine einzige das platonisch-dionysische Element der Klarheit (claritas) enthält, während alle acht die Proportion betonen. Im Gegensatz zu diesen Angaben enthält der Sentenzenkommentar von insgesamt neun in Frage kommenden Stellen bloß zwei, die das Element der Proportion enthalten, während alle anderen splendor (claritas) entweder allein oder zusammen mit proportio betonen. Wenn wir auch noch die Schönheitsstellen hinzunehmen, die einfach bestimmte Schönheitselemente andeuten, ohne formelle Schönheitsdefinitionen zu sein, so findet man eine ähnliche Situation. Stellen, die indirekt auf einen Zusammenhang zwischen pulchrum (formosum, pulchritudo) und darum (claritas, splendor) hinweisen, stammen aus der Abfassungszeit des Sentenzenkommentars72 oder aber aus der Zeit, die der wahrscheinlichen Abfassung des Kommentars zu De divinis nominibus näher steht73, während andere, der Schönheit verwandte Begriffe, wie ordo und proportio, in den Jahren 1256—59 ebenso74 wie in den kritischen Jahren der in Rede stehenden Übergangsperiode (c. 1259—62)75 vorkommen. ** " ·· ·' ·· ··

Pars II cap. 6 (7) η. 339 ad 9. SCG II 64. Ebd. III 71 — an zwei Stellen. Ebd. III 139. In Is. 63. In I. Cor. 11,4 lect. 2. 70 In I.Tim. 2,9lect. 2. 71 I n i . Tim. 3,2 lect. 1. 7i Von 1256: Quodl. VIII, 1 art. un. c. — von 1256—59: In Matth. 13,4 und In Is. 63. 78 Von 1259—65: In I. Cor. 15,44 lect. 6. 74 Vgl. von 1268: Quodl. IX. 2,1, ad 3 und auch (von 1266) Quodlib. VII. 6,2 c. 7 » Vgl. SCG III 71 und 72; De ver. 6,1,6 a (Augustin.-Zit.) und SCG III 140.

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Genetische Analyse

Wie ist nun diese auffallende Änderung in Thomas' Schönheitsbegriff zu erklären? Wäre sie bloß ein Zufall? Dafür sind aber die fraglichen Stellen mit dantas und splendor einerseits und proportio oder dessen Synonymen andererseits zu zahlreich! Oder könnte die wiederholte und beinahe ausschließliche Erwähnung der claritas im Sentenzenkommentar allein der Natur des Kontexts in dem Sinne zugeschrieben werden, daß vielleicht der textliche Zusammenhang (oder das Thema) in den fraglichen Stellen die Erwähnung der dritten Schönheitsbedingung, nicht aber diejenige der anderen zwei erforderte ? Es ist ja wohl bekannt, daß Thomas gewöhnt ist, von einem Thema nur so viel zu sagen, wie es ihm für den zu erörternden Kontext auszureichen scheint. Ohne zu leugnen, daß Thomas gute Gründe gehabt hat, den Begriff »claritas« (bzw. »splendor«) in den Texten, wo er das tatsächlich tut, zu erwähnen, würde jedermann, so scheint es, den Beweis sehr schwer finden, daß Thomas wenigstens an denjenigen Stellen des Sentenzenkommentars, wo er Klarheit tatsächlich erwähnt, bessere Gründe gehabt hat, das zu tun, als in den Werken, wo er bloß proportio oder ordo, nicht aber Klarheit erwähnt, oder daß Thomas in den Texten, in denen er weder claritas noch splendor erwähnt, diese des Zusammenhanges wegen nicht hätte erwähnen können, hätte er es tun wollen. So bleibt nur die Schlußfolgerung übrig, daß Thomas sich in den Jahren nach 1257—58 vom Einfluß seines Meisters Albert, unter dem er auf eine dionysisch-platonische Weise die Schönheit im Sentenzenkommentar behandelt, zu befreien und statt dessen seine eigene mehr aristotelische Ansicht zum Ausdruck zu bringen beginnt. Konkreter bedeutet dies, daß in Thomas' Geiste der Zentralbegriff vom Wesen der Schönheit keineswegs der platonisch-dionysische »splendor«, sondern die mehr aristotelische (obwohl auch von Pseudo-Dionysius übernommene) Proportion wie auch der ordo gewesen sind, was nun mit den Jahren selbständiger Denk- und Lehrtätigkeit immer mehr zum Ausdruck kommt. 3. Wie aber zu erwarten ist, ändert sich diese Haltung des Thomas der Schönheit gegenüber auf einmal, sobald er sich entschließt, einen Kommentar zu Dionysius' De divinis nominibus zu schreiben. Mit dem intensiven Studium, das Thomas dem Dionysius-Text widmet, hängt es unvermeidlich zusammen, daß er — diesmal zum zweiten Male — von den Gedanken des von ihm hochgeehrten Platonikers beeinflußt wird und — in diesem Falle mit voller Geistesreife — den Versuch macht, die neuplatonisch-theistische Ästhetik des PseudoDionysius in sein eigenes Gedankensystem einzuschmelzen und durch sie seine eigene Philosophie zu befruchten und zu bereichern.

Formell-genetische Analyse der Scfaönheitslehre des Thomas

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Man braucht gar nichts anderes zu tun als den Text De divinis nominibus c. 4 1. 5 n. 339 zu lesen7·, um die Richtigkeit dieser Ansicht einzusehen. Es wird hier dieselbe Stelle des Dionysius besprochen, auf die Thomas sich im 1. Buch seines Sentenzenkommentars berief, als er seine einzige, alle drei Wesenselemente enthaltende Schönheitsdefinition gab77. Diese Zeilen stellen keineswegs bloß eine Paraphrase der Worte des Dionysius78 dar, sondern leiten vielmehr eine neue Epoche in der Entwicklungsgeschichte der thomistischen Schönheitslehre ein. Anschließend an die einleitenden Worte folgt nämlich aus der Feder des nun reifen Thomas ein Nebensatz, wodurch Dionysius' Konsonanz- und Klarheitstheorie über die Schönheit ihre Erläuterung, ja sogar ihren Beweis finden soll: sic enim hominem pulchrom dieimus, propter decentem proportionem in quantitate et situ et propter hoc qnod habet d a r u m et nitidum colorem.

Daß dieser Nebensatz von Thomas tatsächlich als ein Beweis aus der Analogie für die dionysische Schönheitstheorie betrachtet wird, folgt schon aus der bisher noch nie gebrauchten Formulierung eines formellen und allgemeingültigen Schlusses, den Thomas aus dem fraglichen Nebensatz zieht und mit dem er seinem Leser zeigen zu wollen scheint, daß diese Schönheitsidee seines Autors von ihm angenommen werde aus dem einfachen Grund, weil sie nach seiner Überzeugung richtig ist: Unde proportionaliter est in caeteris aeeipiendum, quod unumquodque dicitur pulchrum, secundum quod habet claiitatem sui generis vel spiritualem vel corporalem et secundum quod est in debita proportione constitutum.

Gerade dieser neue Ausdruck : »est . . . aeeipiendum, quod unumquodque«, indem er dem kritischen Nebensatz »sie enim . . . « folgt, macht den Nebensatz selbst einzigartig und zu etwas in Thomas' Schönheitslehre noch nie Dagewesenen79. So ist dann diese Stelle seines Dionysius-Kommentars aus doppeltem Grunde von größter Bedeutung. ' · Es gibt eine zweite wichtige Stelle, die diese Ansicht unterstützt, die aber erst beim nächsten Punkt besprochen wird. (De div. nom. 4,5,366.) " In I. Sent. 31,2,1,4a. 78 »Supersubstantiale vero pulchrum pulchritudo dicitur propter traditam ab ipso omnibus existentibus, iuxta proprietatem uniuseuiusque, pulchritudinem et sicut universorum consonantiae et claritatis causa (ώς τή$ π ά ν τ ω ν εύαρμοστίας καΐ áyXalas αίτιον) . . .« — Dion.: De div. nom. cap. 4 § 7 η. 136. 71 Man könnte gegen diese Behauptung einwenden, daß dem zitierten Nebensatz ein scheinbar identischer im ersten Buch des Sentenzenkommentars (In I. Sent. 31,1, sol.) vorhergegangen ist und deswegen die Bedeutung der Stelle des Dionysius-Kommentars keineswegs so groß sein könne. — Dagegen muß darauf hingewiesen werden, daß die Ähnlichkeit dieser zwei Nebensätze viel geringer ist, als man dachte. Bereits die Formulierung des Dionysius-Kommentars : »in quantitate et situ* ist reicher als die

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Genetische Analyse

Ihre Wichtigkeit erweist Thomas noch dadurch, daß er (wie Dionysius) denselben Gedanken über Konsonanz und Klarheit bald wiederholt80, wobei er außerdem Dionysius' platonischen Ausdruck κατά τόν οίκεΐον λόγον mit seinem aristotelischen Begriff der forma sowie mit einer klaren Partizipationstheorie verbindet und auf diese Weise Dionysius' neuplatonischen Schönheitsbegriff seiner eigenen Metaphysik einverleibt81. 4. Die Neuerwähnung des Schönheitselementes der Klarheit ist bloß der wichtigere, nicht aber der einzige Faktor der Änderung, der Thomas' Schönheitsbegriff vom Sentenzenkommentar bis zum Dionysius-Kommentar unterworfen ist. Wir haben ja soeben gesehen, daß das dritte und aristotelische Schönheitselement der magnitudo, das als perfectio interpretiert wurde, vom I. Buch des Sentenzenkommentars an bis zum Kommentar zu De divinis nominibus in keinem einzigen Werke wiedererwähnt wird. Auch das ändert sich im Dionysius-Kommentar. Nach Dionysius82 kommentiert nämlich Thomas das seinem Ursprung nach aristotelische Prinzip der Ethik: bonum ex una et tota est causa, malum autem ex multis et particularibus defectibus"

und implizit auch die Idee der Integrität auf solche Weise, daß er die Schönheit in die Erläuterung miteinbezieht und zugleich das Verhältnis der Integrität und Proportion klarlegt84. Integrität und mehr konventionelle Wendung im Sentenzenkommentar: »membra proportionata«, da sie einerseits einen sehr seltenen Hinweis auf eine potentiell statische wie dynamische, aber in jedem Fall akzidentelle Schönheit darstellt und andererseits eine gedankliche Vertiefung und ein erneutes Durchdenken durch Thomas andeutet. — Ferner, während es im Sentenzenkommentar Thomas darum geht, zu zeigen, was Dionysius mit Konsonanz und Klarheit meine, beabsichtigt Thomas im DionysiusKommentar, die universelle Richtigkeit der diese zwei objektiven Bedingungen enthaltenden Schönheitsidee des Dionysius zu demonstrieren. 8 0 Dionysius: De div. nom. 4, § 7 η. 139. — Thomas: cap. 4 lect. 5 η. 349. 81 »claritas enim est de consideratione pulchritudinis, ut dictum est; omnis autem forma, per quam res habet esse, est partieipatio quaedam divinae claritatis; et hoc est quod subdit, quod singula sunt pulchra secundum propriam rationem, idest secundum propriam formam . . . » Ebd. n. 349. — Klarheit und Konsonanz werden übrigens noch zweimal zusammen (erst im letzten Satze dieser Lektion 5 des 4. Kapitels (n. 356), dann in capitel 4 lect. 21 n. 554) und beide des öfteren auch getrennt erwähnt. (Consonantia in: 4,6,361 und 365; als debita proportio in 4,22,572; als commensuratio ebd. n. 589; und wieder als proportio in 7,4,733. — Klarheit (angedeutet) in 12,1,947; vgl. auch 4,1,266 und 4,2,301. — Nimmt man auch jene Schönheitsstellen in Betracht, die zwar keine Definitionen darstellen, wohl aber die Rolle einzelner Schönheitselemente erwähnen, so findet man consonantia 4,6,366f., convenientia 4,12,457; vgl. auch 4,6,364; 8,386, 19,530 und 22,572; — und claritas 4,6,367. »· De div. nom. 4, § 30 η. 237. ω Arist. Ethic. I I 6,1106 b 35 — Thomas: In Eth. II. lect. 7 n. 320. M De div. nom. 4,22,672.

Formell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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perfectio bedeuten aber ein und dasselbe. So zeigt diese Stelle eine immanente Gedankenentwicklung in dem Sinne, daß sie einen lange nicht erwähnten Gedanken wiederholt und zugleich auch das weiterentwickelt, was im Sentenzenkommentar I 31 q. 2 a.l sol. in wesentlich dogmatischer Hinsicht geäußert worden ist®6. Wenn nun dieses Schweigen des Thomas über die ästhetische Rolle der integritas und perfectio so interpretiert werden darf, daß sie für einige Jahre von dem zentralen Begriff ordo bzw. proportio verdrängt worden sind, also daß Thomas in dieser Periode andere Aspekte der Schönheit entwickelt bzw. für wichtiger gehalten hat, so hat man einen dritten Grund für den Schluß, daß die Abfassung des Kommentars zu De divinis nominibus in mehrfacher Hinsicht die Gelegenheit zu einer immanenten Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre gewesen ist. 5. Es wäre nun noch eine Frage übrig: Verblieb Thomas bei seinem Schönheitsbegriff, insbesondere hinsichtlich der Wesenselemente der Schönheit, wie er sie im Kommentar zu De divinis nominibus gelehrt hatte, oder änderte und entwickelte er diesen Begriff weiter ? Die Antwort liegt in den ungefähr 25 Stellen, in denen Thomas uns in seinen späteren Werken weitere Schönheitsdefinitionen gegeben hat. Mit Ausnahme von zweien stellen die übrigen (23) Schönheitsstellen objektive und absolute Schönheitsdefinitionen dar, d. h. enthalten eine, zwei oder alle drei Wesensbedingungen. Wir werden nun versuchen, die diese drei Hauptgruppen von Schönheitselementen erwähnenden und die Schönheit durch sie definierenden Stellen weiter zu gruppieren. Dieses Verfahren führt zu folgenden Angaben: Die Gruppe von Stellen, worin je ein Schönheitselement erwähnt wird, teilt sich folgendermaßen auf : In einer Untergruppe von 2 Stellen88 wird integritas, in einer zweiten von 3 Stellen87 splendor und in einer dritten von 5 Stellen88 commen85

Bei dem Begriff »Ordnung« (ordo) ist die Lage etwas anders, und zwar nicht in dem Sinne, daß Thomas seine Ansichten darüber im ästhetischen Zusammenhang vielleicht nicht weiterentwickelt. Das tut er schon im Kommentar zu De divinis nominibus, wenn er erklärt, daß ordo einen Finalitätscharakter habe und der consonantia zugehöre. (De div. nom. 4,6,367. — Vgl. ebd. 4,21,564; 4,27,228 und 8,4,776) — was er seit dem ersten Erwähnen dieses Begriffes im Sentenzenkommentar dem Leser schuldig war. Das alles ist aber vielmehr Gedankenvertiefung, keineswegs eine immanente Gedankenentwicklung (die uns in diesem Artikel allein interessiert), da Thomas in seinen zwischen den beiden Kommentaren verfaßten Werken — im Gegensatz zu dem Begriff Klarheit — nie aufhörte, über die ästhetische Rolle der Ordnung zu schreiben. »· De malo, 2,4, ad 2 und De virtut. in communi, 9 ad 16. " De malo, 4,2,17a, ST II—II 132,1c und ebd. 146,2,2c. »» ST I—II 49,4c; 54,1c; 66,2 ad 1; II—II 141,2 ad 3 und In I. Eth. 13 n. 159.

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Genetische Analyse

suratio (bzw. proportio) genannt. Dazu kommt noch eine vierte Untergruppe von 3 Stellen89, in denen Thomas die Ordnung erwähnt. Unter den je zwei Schönheitselemente enthaltenden Stellen gibt es wieder drei Untergruppen, von denen die erste (1 Stelle)90 integritas und proportio, die zweite (4 Stellen)91 claritas und proportio und die dritte (1 Stelle)9* »aspectus decens quoad hilaritatem vultus« und »debitus color duplex« erwähnen. Die drei Schönheitsstellen der dritten Hauptgruppe zeichnen sich endlich dadurch aus, daß sie alle drei Schönheitselemente, d. i. perfectio, debita proportio und claritas aufzählen98. Wie es nun ersichtlich ist, hat Thomas auch nach seinem Kommentar zu De divinis nominibus öfters die Proportion als Schönheitselement erwähnt94. Was aber für uns wirklich wichtig ist, ist dies : die Klarheit wird nach dem erwähnten Kommentar beinahe so oft erwähnt wie die Proportion, und zwar in einer ununterbrochenen Serie von c.1266 an bis 127396. Folglich vertritt Thomas nach seinem Kommentar zu De divinis nominibus unverändert die in jenem Kommentar ausgedrückte Ansicht über das Wesen der Schönheit, daß es nämlich von drei, darunter zwei dionysisch-platonischen Faktoren bedingt sei. Diese endgültige Position kam aber erst nach einer scheinbar doppelten immanenten Gedankenentwicklung über diese Frage zustande. 8

» In 1er. 11,3; ST I I — I I 142,2 c und 183,2 c. De regno I 3. « ST I I — I I 145,2c; 180,2 ad 3; In Ps. 26,3 und 44,2. — In Ps. 26,3lautet: »pulchritudo in formositate consistit«, aber wir wissen ja von In IV. Eth. lect. 8 n. 738, daß formositas »decentiam coloris« und »debitam commensnrationem membrorum« bedeute. M In Lam. 1er. IV, 7. » ST I 39,8c, In II. Eth. lect. 7 n. 320 und In IV. Eth. lect. 8 n. 738. M Thomas erwähnt die Proportion nach dem Dionysius-Kommentar dreizehnmal, die Klarheit elfmal und die Integrität bloß sechsmal. ·« 1266: ST I ; — 1266—69: In Arist. Eth.; 1268—69: De malo; 1270—72: In Psalmos Dav.; und 1268—72: ST I—II (nach Grabmann). — Vielleicht ist es unnötig zu betonen, daß die Lage bei den Schönheitsstellen, die mehr oder weniger klar die Rolle einiger Schönheitsfaktoren andeuten oder erwähnen, ungefähr dieselbe ist. So finden wir für claritas Stellen wie In lob, 42, lect. 1; ST I 93,8 ad 3; 96,3 ad 3; I—II 109,7c;—De malo 4,2,17a; ST II—II 132,1c; 142,4c; 145,2,2a und corpus; 180,2ad3; — De virtut. cardin. art. 2,12a; In Ps. 44,2; In Salut. Ang. n. 1126 (vgl. auch De subst. sep. c. 18. fin.) — von 1261—64 bis 1273; für proportio: ST I 62, 6c; I—II 109,7, ad 3; In IV. Eth. lect. 8 n. 738; In X. Eth. lect. 3 n. 1984; In VII. Phys. lect. 6 n. 918; ST I I — I I 145,2c; In Ps. 18,3; (vgl. auch Cat. aur. in Luc. 4,9, Theophilac tus-Zitat ; ST I I I 44,1,3a und ad 3; 64,4 ad 2; 87,2, ad 3, In Ps. 46,4 etc.); — für integritas (perfectio): De pot. 4,2c; ST I 19,9,2a; 69,1 c; I—II 4,6 ad 1; 52,2c; 112,4c; In X. Eth. lect. 6 n. 2031; In VII. Phys. lect. 5 n. 918; De malo, 2,4 ad 2; (vgl. auch Comp, theol. p. I I c. 9 n. 594) ; — für ordo \ De pot. 4,2 c; ST I 23,8 ad 2; 36,2 c arg. 2; 62,6 c; 70,1 c; 108.5 ad 5; In I. Eth. Lect. 13 n. 168; ST I I — I I 142,2 c; 146, 3 c; 183,2, sed c. ; In Ev. Ioann. 2,1, Lect. 2 — (vgl. auch In Lam. 1er. prooem. ; In VII. Phys. lect. 6 n. 918; ST II—II 116,2 ad 2; 184,4c.).

Formell-genetische Analyse der Schönheitslehre des Thomas

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6. Der zweite Faktor der immanenten Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas kann kurz geschildert werden. Man hat nur die folgenden drei Tatsachen nebeneinander zu stellen : a) Vom Sentenzenkommentar an bis zu spät verfaßten Werken, wie das Compendium theologiae und De substantias separatis behält Thomas die Gewohnheit, zwei Begriffe, pulchrum und bonum bzw. pulchritudo und bonitas (gemäß der platonischen Tradition) zusammen zu erwähnen. Tatsächlich tut er das ungefähr sechzigmal in seinen Werken. An vielen dieser Stellen erwähnt er diese Begriffspaare nicht nur zusammen, er erörtert sie auch.

Dieser Umstand scheint nun anzudeuten, daß Thomas ganz im Sinne der von ihm aufgezeichneten Abhandlung Alberts De pulchro vom Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit an die neuplatonische Ansicht über die Transzendentalität der Schönheit mit Augustin und Ps.-Dionysius gelehrt hat··. b) Die zweite Tatsache ist, daß Thomas denjenigen, der von ihm denkt, daß er zur Zeit der Abfassung der soeben zitierten Stellen von der Transzendentalität der Schönheit bereits überzeugt gewesen ist und dieselbe explizit zu lehren beabsichtigt hat, enttäuscht.

Wir finden nämlich in De ventate eine Stelle (q. 1 a. 1), wo Thomas im einzelnen ein System der Transzendentalbegriffe ausarbeitet, die Schönheit aber mit keinem Wort erwähnt. Vergeblich würde man das damit erklären, daß er an dieser Stelle keine Transzendentalien außer der Wahrheit und darum auch die Schönheit nicht zu erwähnen brauchte. Es ist recht klar, daß er hier ein vollständiges System ausarbeiten wollte und ausgearbeitet hat. Außerdem, was das Problem noch weiter kompliziert, und was Thomas diesmal als einen »Anti-Transzendentalisten« vorzustellen scheint, er baut dieses System der Transzendentalien auf solche Weise auf, daß dort kaum noch Raum für die Miteinschließung der Schönheit als eines weiteren Transzendentalbegriffes gelassen scheint97. c) Die dritte Tatsache ist dann der Kontrast zu De veritate, der im Kommentar zu De divinis nominibus zu beobachten ist.

In diesem Kommentar behauptet Thomas (ganz nach der Ansicht des Dionysius), daß Gott alle seine Geschöpfe schön mache98 und daß · · Wenn man auch von Stellen, worin er lediglich von anderen Autoren den Ausdruck »pulchrum et bonum« zitiert, (z. B. In I. Sent. d. 2. exp. text, ad 2; In I. Sent. 31,2.1,4 a; In IV. Sent. 60,2,1, V.l a ; De ver. VIII,15,3 a und ad 3; 22,1 sed f.. 1 a und ad 13) absieht, gibt es immer noch mehrere Stellen, die solche Schlußfolgerung zu rechtfertigen scheinen. Solche sind: In I. Sent. 46,1,4, ad 1, In II. Sent. 34,1,1, sol., SCG I I I 71, I 86, I I 2, I I I 32, und In Is. 35. 8 7 Tatsächlich wird dieser Umstand von praktisch allen Neuthomisten, die die transzendentale Schönheit nicht akzeptieren, als das schwerwiegendste und apriorische Gegenargument für die Transzendentalität der Schönheit gebraucht. (Vgl. Einleitung, Kapitel II, Artikel 2, Punkt 7, S. 22.) · · De div. nom. 4,6,337 und 339. Vgl. auch 4,5,340 und 4.10,437.

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Genetische Analyse

Gott als die Ursache aller geschöpflichen Schönheit selbst schön", ja sogar die Schönheit selbst, d. h. wesentlich und einfach schön sei100. Wenn aber Gott und alle endlichen Wesen schön sind, dann ist jedes reale Ding schön und die Schönheit transzendental. Um jeden weiteren Zweifel an seiner Stellung zur transzendentalen Schönheit zu zerstreuen, stellt er mehrere Male fest, daß das Schöne und das Gute in Wirklichkeit, das ist im Dinge (»subiecto«) identisch und bloß »ratione« verschieden, folglich auch konvertibel seien101. So ist es unmöglich, die immanente Gedankenentwicklung hinsichtlich dieser Frage nicht zu erkennen. Ob diese jedoch von bloß vorübergehender oder aber bleibender Bedeutung gewesen ist, ist eine Frage, auf die man die Antwort findet, sobald bestimmte Stellen aus späteren Werken in Betracht genommen werden. So wiederholt Thomas seine Lehre über die unendliche Schönheit Gottes in mehreren Werken vom Iob-Kommentar an102 bis zum Compendium theologiae108, und über die Schönheit der geschaffenen Welt in den Schriften von De potentia an104 durch seine theologische Summa 106 und andere Werke bis zu einer so späten Schrift wie der Expositio in Symbolum Apostolorum10·. Ferner wiederholt und betont er seine Lehre über die reale Identität und bloß virtuelle Differenz des Guten und des Schönen, und zwar implizit durch die Anwendung eines aristotelischen ethischen Prinzips auf die ästhetische Ordnung107 und explizit in S. theol. I q. 5 a. 4 ad l 108 und I—II q. 27 a. 1 ad 3109. Endlich lehrt Thomas wiederholt die Doppelrelation der Schönheit zur Wahrheit und Gutheit: er schrieb nie mehr über diese Frage, als er in S. theol. I q. 5 a. 4 ad l 110 und I—II q. 27 a. 1 ad 3 m gesagt hatte. ' · Ebd. u. 349, 355 (vgl. 11, 4, 939), 333 (vgl. auch 334). Ebd. n. 336, 343 (vgl. n. 344) ; 4,11,446 und 448. 101 Ebd. 4,6,355f. ; 4,22,590. — Die reale Identität der Schönheit und der Gutheit ist aber (mindestens implizit) auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß Thomas das originell ethische Prinzip des Aristoteles : »bonum ex integra causa, malum ex qualibet parte« auf das Ästhetische überträgt: — Ebd. 4,22,572. 108 In lob, cap. 34 lect. 2. 103 Compend. theol. pars II, c. 9 n. 591. 104 De pot. 5,9,4 a und ad 4. ios ST I 19,9,2 c und ad 2; 23,8 ad 2; 25,6,3 c; 108,5 ad 5; ST I I — I I 94,4 c, etc. 10< In Symb. Ap. art. 1. η. 878. 107 Dieses Prinzip ist in seiner ethischen Bedeutung an Stellen wie In II. Eth. Lect. 7 n. 320 (zu: Arist. Eth. II 6, 1106 b 35); und De malo 2,4 ad 2 und 8,4 c, — und in ästhetischer Bedeutung an Stellen wie De regno 1,3 und In II. Eth. Lect. 7 n. 320 gebraucht. 108 Bonum laudatur ut pulchrum. Sed ratione differunt. pulchrum est idem bono, sola ratione differens. 110 N a m bonum proprie respicit appetitum . . . Pulchrum autem respicit vim cognoscitivam. . . 111 pulchrum addit supra bonum quendam ordinem ad vim cognoscitivam . . . 100

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So gibt es dann zwei Fragen, über die Thomas im Laufe seiner literarischen Aktivität seine Ansicht offenbar geändert hat bzw. einer immanenten Gedankenentwicklung unterworfen ist, und zwar die Frage des Wesens und diejenige der Transzendentalität der Schönheit. 3. Dreifache Auswertung derquaiitativ-formellen Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas Von den fünf fundamentalen Gesichtspunkten, nach denen Gedankenentwicklung überhaupt aufgeteilt werden kann, benützten wir bisher bloß zwei, das ist Sinn und Qualität, die uns dann zu der Entdeckung führten, daß es in Thomas' Schönheitslehre dem Sinne nach materiell-thematische sowie formelle, und der Qualität nach transiente und immanente Gedankenentwicklung gebe. Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die anderen drei Gesichtspunkte, das sind Inhalt (inhaltliche Bedeutung), Quantität (Umfang) und Sinn (Wahrheitswert oder »Perfektion«) der Gedankenentwicklung überhaupt, und untersuchen wir, ob die bisher besprochenen Arten von Gedankenentwicklung inhaltlich wesentlich oder akzidentell, quantitativ (dem Umfang nach) total oder partiell und dem Wahrheitswert nach eigentlich oder uneigentlich sind. 1. Wie bereits früher definiert wurde, ist eine Gedankenentwicklung inhaltlich wesentlich, wenn ihr Ausgangspunkt und ihr Ende (terminus) wesentlich verschieden sind, sonst aber akzidentell. So wäre eine transiente Gedankenentwicklung inhaltlich eine wesentliche, wenn das Interesse eines Denkers von einem wissenschaftlichen Gebiet zu einem andern, das vom ersten seinem Formalobjekt nach verschieden ist, überginge. Ähnlich wäre eine immanente Gedankenentwicklung inhaltlich eine wesentliche, wenn die Prinzipien, von denen die Lösung einer Frage abgeleitet wird, verschieden sind oder aber verschieden interpretiert werden. Man könnte hier auch darauf hinweisen, daß eine dem Inhalt nach wesentliche immanente Gedankenentwicklung entweder kontradiktorische oder nicht-kontradiktorische (meistens, wenn die Extreme überhaupt entgegengesetzt sind, konträre) Extreme hat112. Sind nun die thematisch-materielle, die transiente und die immanente Gedankenentwicklung, die in den vorigen zwei Kapiteln erörtert 1 1 1 Sollte z. B . ein Denker das Phänomen des Schönen erst durch bestimmte objektive Bedingungen des Dinges erklären, später aber der Ansicht sein, daß es rein psychischen Zuständen zuzuschreiben sei, dann würde diese seine immanente und inhaltlich wesentliche Gedankenentwicklung eine solche konträrer Extreme sein. Wenn aber derselbe später zu der Uberzeugung käme, daß das Schönheitsphänomen keinen objektiven Bedingungen des Dinges zuzuschreiben sei, ohne daß er aber eine weitere Erklärung dafür fände, so würde diese immanente und inhaltlich wesentliche Gedankenentwicklung kontradiktorische Extreme haben.

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worden sind, dem Inhalt nach wesentlich oder akzidentell, und wenn wesentlich, von kontradiktorischen oder konträren Extremen ? Betreffs der thematisch-materiellen Gedankenentwicklung in der thomistischen Schönheitslehre hat man das Folgende zu überlegen: Eine inhaltliche Gedankenentwicklung ist dem Sinne nach formell, während die thematische demselben Gesichtspunkt nach materiell ist. Deswegen gibt es keine Antwort auf die Frage, ob die thematischmaterielle Gedankenentwicklung dem Inhalt nach wesentlich oder akzidentell ist, da die zwei Einteilungen nicht koordiniert sind, sondern die inhaltliche Gedankenentwicklung der thematischen indirekt (durch die formelle) subordiniert und so die Frage selbst logisch unrichtig ist. Nur im uneigentlichen Sinne des Terminus: »inhaltliche Gedankenentwicklung« kann die thematisch-materielle Gedankenentwicklung als akzidentell betrachtet werden. Über die in Artikel 1 des gegenwärtigen Kapitels behandelte transiente Gedankenentwicklung kann das Folgende gefragt werden: Wenn Thomas von den überwiegend praktischen Aspekten der Schönheit, die er in seinen früheren Werken behandelt, in seinem Kommentar zu De divinis nominibus zu den überwiegend theoretisch-spekulativen Aspekten und Fragen der Schönheit übergeht — ein Verfahren, das auch die häufigere Erwähnung von Schönheitsdefinitionen miteinschließt —, und wenn ihm dann später, das ist mehrere Jahre nach demselben Kommentar, eine entgegengesetzte Änderung unterläuft, weist seine Schönheitslehre dann eine wesentliche oder unwesentliche Gedankenentwicklung auf? Soeben wurde das leitende Prinzip beschrieben: im Falle einer transienten Gedankenentwicklung, deren Ausgangspunkt und Ende zwei, nach ihrem Formalobjekt verschiedene Wissenschaften sind, handelt es sich um eine inhaltlich wesentliche Gedankenentwicklung. Nun sind die praktisch-empirischen Aspekte der Schönheit im besten Falle Fragen der Psychologie, während die spekulativ-theoretischen Bemerkungen und Feststellungen wesentlich metaphysischer Natur sind. Andererseits unterscheidet sich Psychologie von Metaphysik durch ihr Material- und Formalobjekt. So scheint es dann, daß die transienten Gedankenentwicklungsphasen, von denen hier die Rede ist, dem Inhalt nach wesentliche seien. Diese Schlußfolgerung ist aber nicht richtig, und zwar aus zwei Gründen. Erstens handelt es sich hier nicht um eine Änderung vom Interesse an der Psychologie überhaupt zu dem an der Metaphysik überhaupt, sondern um eine Änderung vom Interesse an psychologischen Aspekten und Fragen der Schönheit zu dem an ihren metaphysischen Aspekten und Problemen. Da nun diese zwei Fragegruppen als integrale Teile zusammen den gesamten philosophischen Fragenkomplex der Schön-

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heit als eine systematische Gedankeneinheit bilden, kann der Übergang von einem solchen Teile zum anderen nicht als eine inhaltlich wesentliche, sondern bloß als akzidentelle Gedankenentwicklung beurteilt werden. Der akzidentelle Unterschied zwischen integralen Teilen einer existierenden (körperlichen) Substanz darf hier als Analogat verwendet werden118. Zweitens muß man sich vor Augen halten, daß die transiente Gedankenentwicklung einen Interessenwandel von einer nicht ausschließlich, sondern bloß überwiegend praktischen Schönheitsbehandlung zu einer in ähnlicher Weise nur überwiegend theoretisch-spekulativen Schönheitsbehandlung darstellt. Thomas brachte ja bereits im ersten Buch seines Sentenzenkommentars metaphysische Lehren über die Schönheit, ebenso wie er in und nach seinem Kommentar zu De divinis nominibus praktische Bemerkungen über sie machte. So ist dann diese transiente Gedankenentwicklung lediglich eine des Hauptinteresses an Schönheitsaspekten und -fragen, also eine bloß akzidentelle. Die dritte Frage hinsichtlich der inhaltlichen Auswertimg ist diese: Ist die im vorigen Artikel beschriebene immanente Gedankenentwicklung wesentlich oder akzidentell ? Da diese Art von Gedankenentwicklung in Thomas' Schönheitslehre zwei Hauptkomponenten hat, und zwar die des Wesens und die der Transzendentalität der Schönheit, müssen wir uns getrennt mit diesen zwei befassen. Hinsichtlich des ersten Faktors ist die Lage — und folglich die Lösimg — mindestens theoretisch klar und einfach. Der uns leitende thomistische Grundsatz ist dieser: essentiae sunt immutabiles 114 .

Folglich, sollte Thomas nur für einen Moment ernsthaft der Meinung gewesen sein, daß Proportion allein für die Schönheit wesentlich sei, oder daß die Klarheit für sie nicht wesentüch sei, so würde das bestimmt eine inhaltlich wesentliche Gedankenentwicklung darstellen. Sogar wenn man diese Frage philosophiegeschichtlich nimmt, gelangt man zu demselben Urteil. Thomas' Schwanken zwischen Annehmen und Nichtannehmen des Faktors der claritas bedeutete nämlich für ihn nicht weniger, als daß er sich endgültig zu einer wesentlich (oder wenigstens dominierend) platonischen oder aristotelischen Ästhetik, insbesondere Schönheitsidee bekenne116. Die endgültige Beantwortimg u

» Vgl.: In IV. Sent. 16,1.1, sol. III. Vgl. auch ST I 8.2 ad 3 und III 90,2 c. « Vgl.: ST I—II 62,1 c. — In IV. Sent. 22,2,3, sol. III. De virtut. in comm. art. 11 und In VII. Met. lect. 3. nt Äußerlich betrachtet sprachen für die Annahme des von Pseudo-Dionysius so klar und betont gelehrten Scheines (άγλα(α) das ganze Studium des Thomas unter Albert, die große Autorität, die Pseudo-Dionysius Mitte des 13. Jh. in kirchlich-scholastischen Kreisen genoß und die von der noch größeren Autorität Augustine gedeckt u

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Genetische Analyse

dieser Frage ist hier noch nicht möglich, erst eine ausführliche inhaltlich-systematische Untersuchung kann uns dazu führen, die in Teil II dieser Studie durchgeführt wird. Was nun den zweiten Faktor der immanenten Gedankenentwicklung in der thomistischen Schönheitslehre betrifft, ist das zu fällende Urteil wieder nicht einfach, sondern benötigt bestimmte Überlegungen. Stellen wir uns deswegen einfach diese Frage : Was ist der Unterschied zwischen einer ästhetischen Theorie, die die Transzendentalität der Schönheit vertritt und einer anderen, die diese verwirft ? Für die letztere ist die Schönheit (ausgenommen die göttliche Schönheit) offenbar eine Qualität, das ist Akzidens bestimmter (körperlicher) Dinge, für die erstere aber eine Perfektion des Seienden als Seienden. Folglich ist der Unterschied zwischen beiden letztlich von dem metaphysischen Unterschied zwischen Kategorien und Transzendentalien mit allen ihren Aspekten bedingt. Nim sind aber die Kategorien speciales modi, und die Transzendentalien generales modi entis qua entis116. Da es zwischen speziellen und generellen Seinsweisen einen wesentlichen Unterschied gibt, muß ohne Zweifel jede Gedankenentwicklung, also auch die des Thomas, die diese zwei Arten von modi essendi als ihre Extreme besitzt, als dem Inhalt nach wesentlich und in bezug auf ihre Extreme, da beide positiv sind, als konträr beurteilt werden. Tatsächlich läßt sich der Gegensatz zwischen transzendentaler und antitranszendentaler Schönheitsidee kaum übertreiben, eine Wahrheit, deren sogar einige Thomisten nicht bewußt genug zu sein scheinen117. Wenn man aber bedenkt, daß nach einer transzendentalen ästhetischen Theorie jedes Ding schön und die Schönheit selbst nicht war, und insbesondere die Eignung der Dionysischen Schönheitsidee zur Lösung bestimmter dogmatischer Lehren, insbesondere traditioneller Trinitätsprobleme. (Es ist sehr bedeutungsvoll, daß Thomas von den fünf Fällen, in denen er alle drei Schönheitselemente aufzählt, in drei Fällen das im Zusammenhang mit der Trinitätsfrage der appropriationes tut: In I. Sent. 31,2,1, sol.; ebd. ad 4 und ST I 39,8 c. Die anderen beiden Schönheitsdefinitionen kommen in einem seiner Aristoteles-Kommentare vor: In II. Eth. L. 7 n. 320 und In IV. Eth. L. 8 n. 738). — Gegen die Annahme des Dionysischen splendor-Elementes in der fraglichen Schönheitsidee sprach scheinbar Thomas' eigene, zuerst in der Summa contra gentiles ans Tageslicht kommende und streng aristotelische Schönheitsidee mit dem Begriff des ordo in ihrem Mittelpunkt, die so weitgehend mit seiner Schöpfungs- und Vorsehungslehre harmoniert und nicht viel Raum für die platonische Klarheit übrig läßt. 11 · De ventate I l e . u ' Tatsächlich findet man wenig Thomisten, die die Lehre von den Transzendentalien als für die Metaphysik äußerst wichtig darstellen. In dieser Hinsicht ist H. Meyer eine erfreuliche Ausnahme : »In der Lehre von den Transzendentalien spiegelt sich die gesamte thomistische Weltanschauung wie in einem Brennpunkt ab« (Thomas von Aquin, Zweiter Teil, Erster Abschnitt. IV.B.c.: Die weltanschauliche Bedeutung der Transzendentalienlehre, S. 163f.).

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weniger als ein vom Seienden bloß virtuell getrennter Aspekt des Seienden als solchen ist, dann begreift man sofort, daß laut einer solchen ästhetischen Theorie das Seiende wesentlich reicher und mannigfaltiger vor unsere Augen tritt; daß es nicht bloß als ein wesensbesitzender, ungeteilter, wahrer und guter, sondern auch schöner Juwel erglänzt, insoweit es entweder der urschöne Gott selbst oder ein seine Schönheit widerspiegelndes Kunstwerk ist; daß folglich die Schönheit in jedem einzelnen Dinge, auch in denen unserer alltäglichen Erfahrungen vorhanden ist, ungeachtet, ob wir sie erblicken oder wie Blinde an ihr vorbeigehen, und daß man bloß seine (physischen wie geistigen) Augen entsprechend üben und vervollkommnen (d. h. für die Schönheit empfindlich genug machen) muß, um die Schönheit überall und in allem zu erblicken und zu genießen. 2. Nach der inhaltlichen Auswertung der bisher entdeckten und analysierten Gedankenentwicklungen ist die quantitativ durchzuführende Auswertimg derselben leicht und einfach. Die thematische Gedankenentwicklung ist, dem Umfang nach, im eigentlichen Sinne weder total noch partiell, und zwar aus demselben Grunde, der bereits in Punkt 1 hinsichtlich der inhaltlichen Auswertung angeführt ist. Im uneigentlichen Sinne dürfte sie aber schon als eine totale Gedankenentwicklung betrachtet werden, da die Anhäufung der einzelnen verschiedenen Schönheitsthemen schrittweise die ganze ästhetische Lehre des Thomas über die Schönheit betrifft. Die transiente Gedankenentwicklung zeigt sich dagegen als partiell, da der Wandel des ästhetischen Interesses des Thomas vom praktischen zu spekulativ-metaphysischen Fragen und umgekehrt nur eine Änderung des Hauptinteresses oder des größeren Interesses, nicht aber des gesamten oder einzigen Interesses darstellt. Wie ist es nun mit dem Umfang der zweifachen immanenten Gedankenentwicklung ? Die wiederkehrende thomistische Ansicht über die Wesenselemente der Schönheit ist trotz ihrer Wichtigkeit partiell, da sie nur einen Aspekt, das Wesen, nicht aber andere Aspekte, wie z. B. die objektive Realität, die Erkennbarkeit, die Weise der Erkennbarkeit usw. der Schönheit berührt. Ungefähr dasselbe gilt für den zweiten Faktor der immanenten Gedankenentwicklung. Wenn nämlich auch die Frage der Transzendentalität oder Nichttranszendentalität der Schönheit von kaum übertreibbar großer Bedeutung ist, ist sie letztlich immer noch bloß eines der zahlreichen Probleme jeder ernsten philosophischen Ästhetik. Deswegen ist dann Thomas' Gedankenentwicklung hinsichtlich dieser Frage partiell. 3. Es ist nun noch eine weitere Gedankenentwicklung, und zwar jene übrig, deren Grund der Sinn, in dem sie genommen ist, oder aber der Wahrheitswert ist, den sie in Hinsicht auf ihre zwei Extreme, das ist ihren Ausgangspunkt und ihr Ende hat.

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Genetische Analyse

Wenn man also die thematische, die transiente und die immanente Gedankenentwicklung nach der Grundlage dieser fünften Art von Gedankenentwicklung, das ist nach dem Sinne (oder dem Wahrheitswert) auszuwerten versucht, gelangt man zu folgenden Ergebnissen. Die thematische Gedankenentwicklung repräsentiert im engeren Sinne weder eine eigentliche noch eine uneigentliche Entwicklung, da keine materielle und formelle Gedankenentwicklung entsprechend vergleichbar ist. Im weiteren Sinne ist sie jedoch als eine eigentliche Gedankenentwicklung zu betrachten, insofern das Ende der thematischen Anhäufung — zumindest von dem materiellen Gesichtspunkt aus gesehen — vollständiger, kompletter, folglich vollkommener ist als ihr Ausgangspunkt, der theoretisch mit dem ersten vorgebrachten Schönheitsthema identisch ist. Die transiente Gedankenentwicklung muß nach ihren einzelnen Phasen getrennt ausgewertet werden. Betrachtet man zuerst den Übergang des Interesses des Thomas von den überwiegend praktischen zu den überwiegend spekulativ-metaphysischen Fragen der Schönheitslehre, so ist das eine eigentliche Gedankenentwicklung. Der Ausgangspunkt der Entwicklung ist nämlich philosophisch weniger wichtig und vollkommen als ihr Ende. Demnach stellt der Interessenübergang tatsächlich eine Entwicklung im eigentlichen Sinne und nicht bloß eine Änderung (also eine Entwicklung im uneigentlichen Sinne) dar. Und da die metaphysische Behandlung und Lehre ihrer eigenen Natur nach nicht nur, wie Thomas mit Aristoteles sagen würde, höher und edler, sondern auch universeller, das ist von mehr Dingen wahr ist als die praktische, kann dieselbe Gedankenentwicklung dem Wahrheitswert nach eine eigentliche Gedankenentwicklung genannt werden. Dagegen ist die zweite Phase der in Rede stehenden transienten Gedankenentwicklung aus denselben Gründen dem Sinne wie dem Wahrheitswert nach uneigentlich, da sie mehr eine Änderung als einen Fortschritt (oder eine universelle Schönheitsbetrachtung) darstellt. Teilweise ähnlich, aber aus bestimmten Gründen viel schwieriger scheint die Auswertung der immanenten Gedankenentwicklung zu sein. Die Ähnlichkeit zwischen der nach dem Sinne der Gedankenentwicklung durchzuführenden Beurteilung der immanenten und transienten Gedankenentwicklung besteht darin, daß, wie die transiente, auch die immanente Gedankenentwicklung nach ihren einzelnen Phasen getrennt betrachtet und gewertet werden muß. Wie aber auf diese Schwierigkeit des Prinzips oder Kriteriums der eigentlichen und uneigentlichen Gedankenentwicklung schon in Artikel 1, Kapitel I dieses Teiles hingewiesen worden ist118, findet 118

Siehe: Erster Teü, Kapitel I. Anm. 1, S. 34.

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man für diese dritte Auswertung der immanenten Gedankenentwicklung hinsichtlich der Schönheitslehre des Thomas kein auch nur vorläufig zuverlässiges Kriterium. Ohne daß man nämlich bereits weiß (was hier nicht der Fall ist), ob für die Schönheit nachweisbar die drei Elemente der Integrität, Proportion und Klarheit wesentlich sind, oder aber nur die Proportion, und ob die Schönheit tatsächlich transzendental ist oder nicht, kennt man kein Kriterium, mit dessen Hilfe man die uns gegenwärtig beschäftigende Frage, welche der einzelnen Phasen der immanenten Gedankenentwicklung hinsichtlich der Wesenselemente und der Transzendentalität der Schönheit mehr der Wahrheit entsprechen, folglich ob sie auf Grund ihres entsprechenden Endes eigentliche oder uneigentliche Gedankenentwicklungen darstellen, beantworten kann. Um doch ein Urteil fällen zu können, dürfte man die folgende Feststellung formulieren. Die ersten Phasen der doppelten immanenten Gedankenentwicklung in der Schönheitslehre des Thomas stellen uneigentliche, die zweiten Phasen eigentliche Gedankenentwicklung dar, vorausgesetzt, daß es beweisbar (oder richtiger: wahr) ist, daß die Schönheit tatsächlich aus den von Thomas erwähnten drei Wesensfaktoren besteht und daß die Schönheit wirklich transzendental ist. Andernfalls ist dieser Schluß mit seinem konträren Gegensatz zu vertauschen. Die genetische Analyse hat also zu dem (teilweise noch zu bestätigenden) Ergebnis geführt, daß in der thomistischen Schönheitslehre materielle wie formelle, transiente wie immanente, teilweise wesentliche wie akzidentelle, totale wie partielle und endlich eigentliche wie uneigentliche Gedankenentwicklung stattgefunden hat, und daß es in ihr keine (im eigentlichen Sinne genommene) totale Gedankenentwicklung gebe, ein Schluß, der nicht vorauszusehen war.



Zweiter T e i l

SYSTEMATISCHE ANALYSE DER SCHÖNHEITSLEHRE DES THOMAS 1. Sobald man eine Doktrin in ihren Entwicklungsstufen kennengelernt hat, taucht logischerweise die Frage auf: »Worin besteht nun diese Doktrin, die sich auf die entdeckte Weise entwickelt hat ?« Diese Frage ist nur durch eine systematische Analyse der fraglichen Lehre zu beantworten. So kommt man auch in dieser Studie — nach der genetischen Analyse — zur systematischen Darlegung der Schönheitslehre des Aquinaten. Nun soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als werde behauptet, es seien bisher keine Versuche gemacht worden, die Schönheitslehre des Thomas systematisch darzustellen. Was aber tatsächlich behauptet wird, ist, daß die nicht sehr zahlreichen Zusammenfassungen dieser Lehre einerseits nicht vollständig, andererseits dem Ordnungs- und Gliederungsprinzip nach voneinander beträchtlich verschieden sind. Nun ist die Unvollständigkeit solcher Systematisierungen einfach dadurch bedingt, daß sie sich nicht auf alle expliziten Textstellen in Thomas' Werken stützen. Andererseits ist die Verschiedenheit der vorhandenen Zusammenfassungen hauptsächlich davon abhängig, was die Autoren in Thomas' Schönheitsdoktrin für wichtig halten oder betonen wollen, oder was sie mit ihren Systematisierungen erzielen wollen. So befassen sich einige Neuthomisten beinahe ausschließlich mit den metaphysischen Aspekten der thomistischen Lehre, wie ζ. B. Phelan1. Meistens geht man aber von dem subjektiv-psychologischen Schönheitsaspekt aus, wovon dann ein Übergang zur Metaphysik der Schönheit, wie sie von Thomas verstanden worden sei, geschaffen wird2. 2. Unvollständigkeit ist nun etwas, was in einem solchen Forschungsgebiet überhaupt, besonders aber für die systematische Analyse unbedingt zu vermeiden ist. Das bedeutet aber kein besonderes Problem, wenn man über alle Schönheitsstellen verfügt. Was aber den Umstand betrifft, daß ein und dieselbe Lehre verschieden zusammengefaßt werden kann, so erhebt sich die Frage, Phelan: The Concept of Beauty in St. Thomas Aquinas. Vgl. von den ausführlicheren Abhandlungen Callahan's A Theory of Esthetic und von den kürzeren Artikeln Donlan's The Beauty of God und Fearon's The Lure of Beauty. 1

2

85 wie oder nach welchem Prinzip man die systematische Darlegung am besten durchführen könne. Erstens muß man also die verschiedenen denkbaren Methoden getrennt prüfen und dann, auf Grund dieser Prüfung, die vorteilhafteste und passendste Methode wählen. Es scheint nun, daß es mindestens drei verschiedene Methoden gibt, nach denen man die Schönheitslehre des Thomas systematisieren kann. Eine von diesen würde darin bestehen, die einzelnen Aspekte und Bestandteile der gesamten Schönheitslehre des Aquinaten in jener Reihenfolge zu präsentieren, in der Thomas selbst es getan hätte, hätte er nur seine Schönheitslehre nach jenen Prinzipien, die er in seinen Schriften gelegentlich angedeutet hat, organisch aufgebaut und systematisch ausgearbeitet. Eine zweite mögliche Methode wäre, daß man die in seinen Werken aufzufindenden Bestandteile seiner Lehre so nacheinander ordnet, daß es durch diese logische Reihenfolge ersichtlich wird, wie bestimmte Bestandteile seiner Doktrin als Prinzipien für andere Teile dienen, also aus welchen Gründen Thomas das gelehrt habe, was er offenbar und tatsächlich gelehrt hat. Eine dritte Methode würde endlich einfach darin bestehen, daß man sämtliche vorhandenen Bemerkungen und Feststellungen über die Schönheit themenweise gruppiert und dann diese Themen logisch arrangiert, ungeachtet der Frage, ob diese Reihenfolge derjenigen, in der Thomas seine nie ausgearbeitete Schönheitslehre systematisch präsentiert hätte, entspricht, oder ob alle die einzelnen Teilansichten und Teildoktrinen in dieser Reihenfolge entsprechend zu beweisen und zu verteidigen sind. Wie ersichtlich, ist das einzige gemeinsame Element dieser drei Methoden die Tatsache, daß die von Thomas formell unsystematisiert gelassene Schönheitslehre überhaupt (irgendwie) systematisiert wird, was dann den Versuch ermöglicht, das so geordnete Material mittels entsprechender weiterer Stellen zu interpretieren. Es ist auch leicht einzusehen, daß jede von diesen Methoden bestimmte Vor- und Nachteile hat. Die erste Methode würde ζ. B. die schlechthin beste und ideale Methode sein, da sie historisch die treueste, weil schlechthin authentische Systematisierung darstellte. Die zweite Methode hätte dagegen den zweifellosen Vorteil, die Schönheitslehre des Thomas nicht nur darlegen, sondern zugleich beweisen zu können. Endlich hat die dritte Methode den Vorteil, viel vorsichtiger als die zweite zu sein, indem nach ihr gar nichts in das vorhandene Material hineingelesen wird. Deswegen ist auch diese dritte Methode die unbestreitbar objektivste und am wenigsten der möglichen Anklage subjektiver und vorurteilsvoller Interpretation ausgesetzt.

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Systematische Analyse

Man hat viel zu wenig Angaben und Anhaltspunkte, um der ersten Methode zu folgen, während die Verwendung der zweiten Methode beinahe automatisch den Vorwurf von subjektiver Hineinlesung3 — wenn nicht auch zugleich von nicht zu verteidigender Interpretation — nach sich zieht. Unter diesen Umständen scheint es also die beste Lösung zu sein, auf die Vorteile der ersten beiden Methoden zu verzichten und der dritten zu folgen. 3. Was wird also nach der gewählten dritten Methode die Reihenfolge sein, in der die einzelnen Teile der Schönheitslehre des Thomas hier systematisch dargestellt und untersucht werden ? Offenbar ist die logisch erste Frage hinsichtlich der Schönheit die folgende: »Gibt es überhaupt schöne Dinge ?« oder: »Hat die Schönheit überhaupt eine objektive Existenz?« Man mag zugeben, daß es keinen ernsten Zweifel gebe, daß die Antwort des Thomas auf diese Frage positiv ist. Da nun einmal diese Studie nicht nur historisch unvoreingenommene und treue Interpretation, sondern auch Vollständigkeit erzielen will, wird diese Frage der objektiven Existenz der Schönheit zuerst behandelt werden. Hat man aber auf diese Frage Thomas' Antwort, dann fragt man logisch weiter nach dem W e s e n der Schönheit. Mit anderen Worten, es ist dem menschlichen Intellekt nur natürlich, nach der Frage »Gibt es Schönheit«? die andere »Was ist die Schönheit?« zu stellen. Diese Reihenfolge entspricht genau der, die Thomas in seiner theologischen Summa beispielsweise in bezug auf Gott anwendet, indem er zuerst die Frage nach der Existenz und dann die nach dem Wesen Gottes stellt und beantwortet4. Zunächst kann man sich dann fragen, was alles aus Thomas' Theorie über das Wesen, die absolute und objektive Essenz der Schönheit folgt. Da die absolute Schönheitsdefinition, die Thomas gibt, metaphysischer Natur ist, kann man zuerst die metaphysischen Implikationen seiner Theorie über das Wesen der Schönheit behandeln, d. h. die Transzendentalität und die Analogie der Schönheit mit allen ihren Details. Endlich wird man vom Wesen zu den Eigenschaften der Schönheit übergehen, ein Schritt, der zugleich den Übergang, das Herunter3

Tatsächlich ist es kaum möglich, der zweiten Methode zu folgen, ohne daß man — wovor Copleston scharfsinnig warnt — Gefahr liefe, Theorien über das in Thomas' Werken aufzufindende ästhetische Material (an sich schon eine Theorie) zu entwerfen, anstatt den ursprünglichen Gedanken des Thomas über die Schönheit darzustellen. —· Außerdem ist das Ziel dieser Studie, Thomas' Gedanken so vollständig und treu wie möglich wiederzugeben, während die Verteidigung dieser Theorie schon die zweite Phase des ästhetischen Programms des Thomismus darstellt (vgl. Art. 2 in Kap. 3 der Einleitung, S. 31 f.) 4 ST, I 2,3 und von I, q. 3 an.

Die Existenz der Schönheit

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steigen vom Gebiet der Metaphysik zu dem der Psychologie darstellt, und dabei die Frage der Erkennbarkeit und des Prozesses der Erkenntnis der materiellen Schönheit erörtert. Sobald man nämlich weiß, was die Schönheit nach Thomas wesentlich ist, wird man sich noch fragen, wie die Schönheit in ihrer physisch-materiellen Form nach Thomas uns Menschen erkennbar ist und tatsächlich bekannt wird. — Daß auch dieser Schritt logisch in die Reihenfolge paßt, ist leicht einzusehen. Er ist auch von Thomas bei verschiedenen Themen durchgeführt worden6. So wird also Thomas' Lehre über die Existenz der Schönheit in Kapitel I, über die Essenz der Schönheit in Kapitel II, über die Transzendentalität, Analogie, Erkennbarkeit und Erkenntnis der Schönheit in Kapitel III analysiert. I. DIE EXISTENZ DER SCHÖNHEIT Die Frage nach der objektiven Existenz der Schönheit ist eine derjenigen, die von Thomas als selbständige nie formell gestellt wird. Noch weniger bat Thomas sich bemüht, die extramentale Existenz der Schönheit formell zu beweisen. Dagegen ruht seine gesamte Schönheitslehre auf seiner festen Üherzeugung, daß es schöne Dinge gebe, folglich, daß das Schöne kein ens rationis, sondern ein objektives, reales Ding, ein ens reale sei. Aus diesen Gründen braucht man gar nicht zu versuchen, einen formellen Beweis für die objektive Wirklichkeit der Schönheit in Thomas' Schriften zu finden. Statt dessen kann man sich auf die Beantwortung folgender zwei Fragen beschränken: Wie ist es nachzuweisen, daß Thomas die objektive Realität der Schönheit lehrte? Sollte Thomas diese objektive Realität der Schönheit tatsächlich gelehrt haben, dann fragt man zweitens, von welchen Dingen behauptet er, sie seien schön. Die erste Frage wird in Artikel 1, die Liste der nach Thomas' Ansicht schönen Dinge aber in Artikel 2 behandelt werden. 1. Thomas' Ansicht über die Realität der Schönheit Im Grunde hat man nur zwei Arten von Argumenten dafür, daß Thomas von der Realität der Schönheit, die mit der menschlichen Erkenntnis derselben gar nichts zu tun hat und davon völlig unabhängig ist, tatsächlich überzeugt war und das formell lehrte, und zwar einen generellen Beweis und mehrere spezifische. Der generelle Beweis ist indirekt und implizit, während die spezifischen Argumente direkt * Vgl. ST I, 3—11 und dann q. 12: Quomodo cognoscatur nobis; I, 60—64 und dann q. 88 über die Engel und ihre menschliche Erkennbarkeit.

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und explizit sind. Zugleich unterscheiden sich diese zwei Hauptarten von Beweisen in bezug auf ihre Beweiskraft, und zwar so, daß das generelle Argument die Konklusion nur wahrscheinlich macht, während die spezifischen (oder wenigstens die meisten von ihnen) Beweise apodiktisch sind. Deswegen ist es passend, uns zuerst mit dem generellen Beweis zu befassen. 1. Der generelle Beweis ruht auf der Tatsache, daß Thomas in seiner ganzen Philosophie, vorzüglich aber in seiner Metaphysik und Erkenntnistheorie eben ein Realist gewesen ist, der 500 Jahre vor Berkeley betont hat, daß nicht die Wahrheit einer Aussage die Ursache der Existenz von Dingen sei, sondern eben das Gegenteil wahr sei®. E r nahm also als Ausgangspunkt seiner Metaphysik einfach die Tatsache an, daß einige Dinge existieren7, d. h. daß es eine Wirklichkeit gebe, die als solche intelligibel, dem menschlichen Verstand erkennbar und verständlich ist8. Andererseits sei aber, lehrt Thomas, der Intellekt seiner Natur nach fähig, das Seiende als Seiendes zu erkennen, d. h. es zu seinem eigentümlichen Objekt zu machen9, obwohl es subsistiere, das ist vom Intellekt real verschieden existiere 10 . Bei dieser inneren, grundlegenden, naturmäßigen Verbundenheit des subsistierenden Seienden als Erkenntnisobjekt und des menschlichen Erkenntnisvermögens ist Thomas' (gemäßigter) epistemologischer Realismus schon zu erkennen, nach dem der unmittelbare Kontakt zwischen den beiden, das ist die direkte, vitale Erfahrung des Seienden durch das menschliche Erkenntnisvermögen Evidenz herbeiführe, die jeden ernsthaften Zweifel über die Existenz des so erkannten Dinges von vornherein ausschließe und jeden denkbaren formellen Beweis für seine Existenz erübrige11. Aus diesem Grund ist dann für Thomas alles, was immer auch unseren Sinnen unmittelbar gegeben ist, wie z. B. die Farbe 12 , etwas schlechthin Reales, Existierendes, und zwar genau und formell so, wie es in der direkten Erfahrung dem Menschen bekannt wird. Eines unserer unmittelbaren Erfahrungsobjekte ist aber ohne Zweifel die Schönheit materieller Dinge. Ästhetische Erlebnisse hat jedermann natürlicherweise und unvermeidbar. Folglich hatte Thomas, der • ' » •

In I. Penh. L. 14 n. 179. Vgl. : S T I 2, 3 c. Vgl. : S T I 5,2 c. SCG I I 83, In VI. Eth. Lect. 6 n. 1179. — Vgl. ebd. L. 1 n. 1122. 1 0 De ver. 14,8 ad 5. 1 1 Vgl.: In I I I . Sent. 26,2,4 ad 1 n. 138, ebd. ad 2 n. 139 und ST I — I I 40,2,3a. 12 Vgl.: »res cognita dicitur esse cognitionis obiectum, secundum quod est extra cognoscentem in seipsa subsistens, quamvis de re tali non sit cognito nisi per id quod de ipsa est in cognoscente; sicut color lapidis, gui est visus obiectum« — (De ver. 14,8 ad 5) ; — ferner: In X . Meth. Lect. 3 η. 1968 zu : Arist. Met. X . 2, 1053 b 30—1054 a 12 ; In Thren. 4,7; SCG I I 95, In Ps. 36,3 und Comp, theol. pars I tract. 1 c. 165 n. 327.

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Realist, keine andere Wahl, als die Schönheit solcher Dinge, die, wenn erkannt, einem gefallen, als etwas Wirkliches und von der Erkenntnis und jedem inneren, subjektiven Zustand und Prozeß unabhängig Existierendes anzuerkennen. So oft er also feststellt, daß ein bestimmtes materielles Ding schön sei, oder daß Schönheit in materiellen Dingen vorhanden sei18, oder ähnliche Aussagen macht14, ist das seinerseits eine Anerkennung der objektiven Realität jener Schönheit oder — mit anderen Worten — ein Zeichen und Ausdruck seiner festen Überzeugung, daß schöne Dinge tatsächlich existieren. Daraus folgt aber, daß jederzeit, wenn Thomas ähnliche Ausdrücke, insbesondere ». . . pulchrum est« und »est pulchritudo in . . ,«16 in bezug auf immaterielle Dinge verwendet, er ebenfalls die von der menschlichen Erkenntnis unabhängige Schönheit jener immateriellen Dinge meint. 2. Wenn jemand durch diese Beweisführung nicht davon überzeugt wird, daß jedesmal, wenn Thomas etwas schön nennt oder von der Schönheit behauptet, in irgendeinem Ding vorhanden zu sein, er tatsächlich die extramentale Realität der Schönheit im Sinne eines metaphysischen und erkenntnistheoretischen Realismus meine, — eine Zustimmungsweigerung, die vielleicht ein bestimmtes Maß von Rechtfertigung in einigen Ausdrücken und Wendungen des Thomas besitzen m a gie — dann muß man ihm die spezifischen Beweise anführen. u

Ζ. B. : »orone quod pulchrum erat«, homines, aedificia et alia huiusmodi (In Thren. 2:4. med.); — »(Nazaraei) ad litteram, decori erant propter munditiam et abstinentiam« (In Thren. 4,7) ; — »decor et fecunditas ei (i. e. mulieri) assunti CSCG I I I 123,2) ; — »(vipera) est pulchra exterius« (In Ev. Matth. 3,1) ; — »lilium, quod est pulcherrimus flos« (In Is. 36); — »quamvis (i. e. palma) decora sit« (In 1er. 10,1), usw. 14 Ζ. Β. : »Sed plantae, mineralia et bruta ammalia pertinent ad decorem universi« (De pot. 5,9,4 a) ; — »pulchritudo venit iuvenibus non quasi existens de essentia iuventutis, sed quasi consequens bonam dispositionem causarum operationis« (In X. Eth. Lect. 6 n. 2031); — »domus non est pulchra nisi inhabitetur« (In Ps. 26,6), usw. u Ζ. Β. : »Deus est ipsa bonitas et pulchritudo« (ST II—II 34 1,1 a) ; Summa pulchritudo est in ipso Deo« (In Ps. 26,3) ; — »Deus est ipsa essentia pulchritudinis« (Comp, theol. p. II c. 9 n. 591) ; »Christus est formosus, primo quia rutilans splendore divinitatis« (In Is. 63) ; — »In angelis est summa pulchritudo post Deum« (In I I Sent. 9,1,5 sed c. 2a); — »operatio . . . est pulchrior« (In II. Sent. 38,1,2 sol.); — »operationes secundum virtutem . . . sunt . . . pulchrae« (In I. Eth. Lect. 13 n. 159) ; — »virginitatis decor est maximus« (In IV Sent. 33,3,3,1 a), usw. 14 Vgl. : »pulchritudo excellenter tarnen attribuitur temperantiae« (ST II—II 141,2 ad 3) ; — »decor maxima attribuitur temperantiae« (Ebd. 141,8 ad 1) ; — »gratia a Sanctis dicitur sanitas et decor animae« (In IV. Sent. 1,1,2,1 a η. 64) ; — »Bona autem praecipua corporis videntur esse pulchritudo et fortitudo« (In lob cap. 18 L. 2 princ.) ; — »Nihil autem videtur esse pulchrius in corporalibus rebus, quam radii solares« (In lob cap. 41 L. 2). — Diese Ausdrücke scheinen, besonders wenn sie außer ihrem Kontext gelesen werden, Thomas eher als einen ästhetischen Subjektivisten als einen überzeugten Realisten zu erweisen.

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Systematische Analyse

Sie sind nicht auf die generelle philosophische Einstellung des Thomas aufgebaut, sondern auf ausdrückliche Feststellungen, die er über die Schönheit überhaupt und über bestimmte schöne Dinge gemacht hat und die folglich eine direkte Antwort auf unsere Frage geben. Man kann diese Beweise in drei Gruppen einreihen. In der ersten Gruppe werden dementsprechend einige Stellen sein, die die Antwort auf die gegenwärtige Frage explizit, aber unvollständig geben; in der zweiten solche, die die gesuchte Antwort implizit, aber vollständig vermitteln; und endlich in der dritten solche, die die Frage explizit und vollständig beantworten. Die erste Gruppe von Argumenten besteht also aus solchen expliziten Äußerungen des Thomas, die nicht verständlich, ja sogar widerspruchsvoll sind, es sei denn, Thomas meine damit die objektive, extramentale Existenz der Schönheit. Solche sind (in der Reihenfolge der Beweis kraft mit den Schwächsten anfangend) die folgenden Ausdrücke: a) — die Schönheit ist mit etwas Realem vergleichbar17 ; b) — bestimmte Dinge besitzen Schönheit18; c) — etwas tun oder haben durch Schönheit oder durch etwas Schönes 19 ; d) —etwas schön machen, verschönern 20 ; e) — der Schönheit oder dem Schönen geschieht etwas ; — die Schönheit bzw. das Schöne wird das Objekt einer Aktion21 ; 17 Thomas vergleicht die Schönheit am meisten mit der Gesundheit, wie in ST I—II 49,4 c; 50,1c; 62,2 c; usw. 1 8 Z. B. : »(Christus) Habebat decorem« (In Is. 63) ; — »Novitas (i. e. status corporis glorificati) . . . decorem habet« (In IV Sent. 17,1,1 sol. I I I η. 36); — »mundus . . . habet decorem« (In Ev. Ioann. 11:1, Lect. 2) ; — »(Opera bona) pulchritudinem habent« (In II.Sent. 27,1,4 sol.); — »(vita virtuosa) habet pulchritudinem« (In I. Eth. L. 13 n. 168) ; — »aliquis habet gratiosum verbum« (In Ps. 44,2) ; — »comparat prato fiorenti, qui quandam habet pulchritudinem in florentibus« (In Is. 36) usw. 1 8 Z. B. : »qui (i. e. deus) est omnium causa per suum pulchrum . . . amorem« (De div. nom. 4,10,437) ; — »sicut si dicamus, mulierem ratione pulchritudinis mereri coniugium regis« (De ver. 26,6c fin.) ; — »(saphiri, etc.) habent pretiositatem ex pulchritudine« (In lob cap. 28 L. 2) — »aliud est fingere pulchritudinem non habitam, et aliud occulare turpitudinem« — ST II—II 169,2 ad 2. 2 4 Z.B.: »delectatio . . .decoratoperationemipsametperficiteam«(Quodl. V I I I 9 , l c . ) 4 1 Z. B. : »(in me) quicquid pulchrum, emarcuit« (In Ps. 21,11) ; — »nihil est quod non participât pulchro« (De div. nom. 4, 6 η. 355) ; — »omnis homo amat pulchrum ; carnales ament pulchrum carnale, spirituales amant pulchrum spirituale« (In Ps. 25,6) ; — »Nullus enim incipit amare aliquam mulierem nisi prius fuerit delectatus in eius pulchritudine« (In I X Eth. L. 5 n. 1824) ; — »Et hie decor concupiscitur a sponso spirituali« (In Ps. 44,8) ; — »Delectantur mulleres in virorum pulchritudine« (In Is. 3,3) ; — »pulchritudo faciei foedatur« (In IV Sent. 16,2,2 IV ad 1 n. 118) ; — »videns pulchrum mulierem« (ST I I — I I 142,2,1a), usw.

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f) — die Schönheit bzw. das Schöne wird mit etwas Realem identifiziert22 ; g) — die Schönheit tut oder ist etwas Reales28; h) —die Schönheit bzw. das Schöne kann erworben werden und verlorengehen24 ; i) — die Schönheit wird der Häßlichkeit als ihrer Privation gegenübergestellt25. Außerdem müssen hier noch alle jene Stellen erwähnt werden, die a) — die Schönheit beschreiben28, n Ζ. B. »pulchrum et bonum in subiecto quidem sunt idem« (ST I 5,4 ad 1) ; — »pulchrum est idem bono« (ST I—II 27,1 ad 3). n Z.B.: »ex pulchro causantur omnes essentiae . . . entium« (De div. nom. 4,6,360) ; — »pulchritudo facit ad decentem coniunctionem matrimonii« (In III. Sent. 2,2,1 sol. η. 92) ; — »pulchritudo corporis pertinet ad bene esse« (ST I—II 4,5 c) ; — »pulchritudo . . . facit congruitatem in moliere ad copulam coniugalem« (ST III 6,1 ad 3) ; — »creaturarum . . . pulchritudo . . . ánimos hominum allicit« (SCG 11,2,3 a) ; — »pulchritudo visibilis ad perfectionem faciat visionis« (In IV. Sent. 50, 2,4, sol. I ad. 2) ; — »decora vestís facit ad congruitatem coniunctionis matrimonialis« (Quodl. X 2,1 ad 3) ; — »per visionem incipit fieri maxima passio amoris . . . provocatur enim talis amor praecipue ex pulchritudine« (In IX. Eth. L. 14 n. 1944) ; »decor faciei. . . fuit causa . . . secundaria (i. e. amoris Jacob pro Rachel) . . . Si autem esset principalis causa libido pulchritudinis, non excusaretur a peccato mortalis« (In IV. Sent. 30, exp. text.) ; — »pulchritudo est quaedam dispositio ad matrimonium« (De ver. 29,2 c) ; — »pulchritudo corporis est qualitas« (ST I—II, 110,2 sed c.); — »homo non potest habere decorem nisi circumdatum . . . ut superadditum suae essentiae« (In lob, 40 L. 1) usw. 14 Z.B.: »a primo ponit quomodo acquiret decorem seu gratiositatem« (In Ps. 44,8) ; — »ad pristinam decorem revertetur corpus tuum« »In lob, c. 11 L. 2.) ; — »pulchritudinem et decorem amisit per peccatum« (In Rom. 12,2, L. 1.) ; — »cessante igitur fecunditate mulieris et decore« (SCG, III 123,2; auch In Ps. 21,11; 21,12; In 1er. 13,1 und 13,2. u Z.B.: »Requiritur enim ad pulchritudinem et claritatem forma et commensuratio quae ad ordinem pertinet . . . Utrolibet autem privato, sequitur turpitudo« (De div. nom. 4,21,654.; — »est. . . pulchritudo commensuratio membrorum, et per oppositum, malum est incommensuratio, sicut . . . et turpitudo« (Ebd. 4, 22, 589) ; — »Pulchro autem opponitur turpe« (ST II—II, 145 4 c. — Vgl. ebd. 143,1 c); — »macula potest esse dupliciter. Uno modo per privationem pulchritudinis« (In IV. Sent. 16,2,2 IV ad 1, n. 117.); — Vgl. auch ST I—II 109,7 c; I—II, 87,2 ad 3; I—II 89, 1,1a und In Symb. Αρ. art. 4 η. 914. M Z.B.: »figura et color pertinet ad pulchritudinem« (ST I—II 49,2 ad 1.); — »Ad pulchritudinem autem corporalem hominis requiritur aspectus decens . . . Requiritur etiam debitus color duplex« (In Thren. 4,7) ; — »Non enim est pulchritudo in corpore, nisi omnia membra fuerint decenter disposita« (De regno, 1,3) ; — »pulchritudo autem animae constitit in assimilatione ipsius ad Deum« (In IV. Sent. 8, 1,2, sol. I m. 53) ; — »virtus animae est pulchritudo ejus« (In Symb. Ap. a. 4 n. 914.) — »(gratia) est animae decor« (In IV. Sent. 16,2,2 IV ad. 1 n. 117) ; »Decor ecclesiae principaliter in interioribus consistit« (In IV. Sent. 15,3 1, sol. IV. ad 1 n. 401) ; — »arbor pulchritudinem habet in ramis et fructibus« (In lob, K. 5 L. 1) ; — »(aurum) habet pulchritudinem ex splendore, vitrum . . . ex perspicuitate« (In lob, 28, L. 2); — »pulchritudo

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Systematische Analyse

b) — formelle Definitionen oder mindestens Quasi-Definitionen27 der Schönheit darstellen (da sie alle die Schönheit als etwas von realen Bedingungen Abhängiges und an sich Reales kennzeichnen), und endlich c) — jene einzige Stelle, an der Thomas schlechthin über die Schönheit der Aktualität oder Wirklichkeit spricht28. Es ist leicht einzusehen, daß diese erste Gruppe von Beweisen — vielleicht mit der Ausnahme der zuerst aufgezählten — überzeugend sind, indem sie die Realität oder objektive Existenz der Schönheit direkt, ausdrücklich und klar aussagen. Doch sind sie insofern unvollkommen, als sie keinen realen Unterschied zwischen der Schönheit als objektiver Realität und ihrer Wirkung, dem subjektiven ästhetischen Erlebnis (Erkenntnis, Genuß, Urteil, Wissen) aussagen, sondern lediglich andeuten, obwohl diese Andeutung für den Beweis, daß in Thomas' Schönheitsidee nicht die leiseste Spur von Subjektivismus vorhanden ist, schon wichtig ist. 3. Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit jener Gruppe von expliziten Schönheitsstellen zu, die genau diesen zweiten Aspekt der Frage erleuchten. Es scheint, daß die Anführung von vier solchen Stellen ausreicht. Diese Texte sind: —decor pedum non cognoscitur quamdiu teguntur calceamento29 — excellentia pulchritudinis animae non ita de facili potest cognosci, sicut pulchritudo corporis30; — per visionem incipit fieri maxima passio amoris . . . Provocatur enim talis amor praecipue ex pulchritudine, quam visus percipit31; — nec iudicatur homo pulcher, nisi omnia eius membra fuerint decora32. Aus den ersten zwei Zitaten geht der reale Unterschied der Schönheit und der Schönheitserkenntnis, also die vom ästhetischen Erlebnis des Menschen unabhängige Existenz der Schönheit, unzweideutig hervor. An der dritten Stelle erfährt man von Thomas den wirklichen Unterschied zwischen der objektiven Schönheit, ihrem subjektiven Bekanntwerden und der der ästhetischen Erkenntnis folgenden Liebe der Schönheit. Endlich stellen sich im vierten Zitat einerseits der reale Unterschied zwischen etwas objektiv Schönem und dem darüber gefällten Schönautem coelestium corporum praecipue consistit in luce« (In IV. Sent. 48,2,3, sol.) ; »pulchritudo universi, quae ex gradationibus bonitatis colligitur« (In II. Sent. 34,1,1, sol.), usw. " Vgl. Teil I, Kap. III Artikel 2, Anm. 54—62, 64—71, S. 6 7 - 6 9 . , usw. ** »(terra inconiposita) nec formositatem actualitatis habet« — De pot. 4,2 ad 31. ϊβ In Matth. 3,1. In I. Pol. L. 3 n. 73. äl In IX Eth. L. 14 n. 1944. ϊ2 De malo, 2,4, ad 2.

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heitsurteil, anderseits sogar die Abhängigkeit des ästhetischen Urteils vom Schönen heraus. So ist es einleuchtend, daß diese Stellen über unsere gegenwärtige Frage viel mehr verraten als die erste Gruppe : tatsächlich beantworten sie uns alles, was in dieser Hinsicht gefragt werden kann. Andererseits ist aber auch klar, daß diese ihre Vollständigkeit durch den Nachteil ausgeglichen wird, daß sie die Realität der Schönheit nicht ausdrücklich bestätigen, sondern nur implizieren. 4. Deswegen soll nur noch eine weitere und in den Schriften des Thomas wahrhaft einzigartige Stelle hier angeführt werden, um die These dieses Artikels vollständig, und zwar durch einen einzigen Text, zu beweisen. Es gibt eine Stelle in seinem Kommentar zu De divinis nominibus, an der Thomas mit Nachdruck feststellt, als ob er gegen einen Subjektivsten spräche (wobei er ein Echo Augustins ist3*), der in der Ästhetik etwa die metaphysischen Ansichten eines Berkeley vertritt: non enim ideo aliquid est pulchrum quia nos illud amamus, sed quia est pulchrum et bonum, ideo amatur a nobis*4.

Die oben zitierte Stelle In IX Eth. 1. 14 n. 1944, oder ähnliche Stellen, wie S. theol. I q. 5 a. 4 ad 1; I—II q. 27 a. 1 ad 3 usw. (die alle noch ausführlich analysiert werden), zugleich ins Auge fassend, ersieht man hier klar, explizit und unmittelbar ausgesprochen die objektive Realität, das ist extramentale Existenz der Schönheit sowie ihre kausale Relation zum Subjekt, das sie erkennt und deshalb liebt, endlich die einseitige Abhängigkeit dieses Subjektes in seinem ganzen ästhetischen Erlebnis von der dieses Erlebnis bedingenden Schönheit. Dazu ist dann auch nichts weiter hinzuzufügen: die These des Artikels ist bewiesen. 2. Thomas' Liste der schönen Dinge Nachdem man auf die Frage, ob Thomas die objektive Existenz der Schönheit gelehrt hat, die vollständige und positive Antwort gefunden hat, — ein Schluß, der viel mehr der Vollständigkeit dieser systematischen Analyse wegen als deswegen, da er nicht ohne Beweis vorauszusehen oder sicher war, erörtert wurde — scheint es passend, dieses Kapitel durch die Beantwortung einer allzu benachteiligten Frage zu vervollständigen: Von welchen Dingen behauptete Thomas, daß sie schön sind ? ** »Et prius quaeram, utrum (ista) ideo pulchra sint, quia delectant, an ideo delectant, quia pulchra sunt. Hic mihi sine dubitatione respondebitur, ideo delectare, quia pulchra sunt«. (Aug.: De vera rei. 32, 69: PL, 34, 148). M De div. nom. 4,10,439.

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Systematische Analyse

Die Antwort besitzt nicht nur einen Selbstwert, sondern wird den Weg zur Beantwortung einer später auftauchenden und sehr wichtigen Frage, ob nämlich Thomas die Transzendentalität der Schönheit gelehrt hat, vorbereiten. Um systematisch vorzugehen, werden zuerst die Aufteilungen, die Thomas in seinen Werken explizit anführt, aufgezählt, danach aber weitere, von ihm bloß angedeutete Aufteilungen beigefügt, und zwar durch die verschiedenen Genera der Wirklichkeit so weit zur Species absteigend, wie das auf Grund seiner expliziten Schönheitsäußerungen möglich ist. 1. Die universellste explizite Aufteilung der Schönheit, die man bei Thomas findet, ist die in die göttliche und die geschöpfliche Schönheit 88 oder, was dasselbe ist, in wesentliche und partizipierte Schönheit8*. Die geschöpfliche Schönheit schlechthin, oft auch pulchritudo universi bzw. universitatis 37 oder pulchritudo mundi 38 genannt, umfasse eine doppelte Schönheit : eine universelle und eine partikuläre 89 . Anderseits aber umschließe dieselbe geschöpfliche Schönheit unsichtbare und sichtbare Schönheit 40 — was offenbar ein Hinweis auf die geistige und materielle Schönheit ist41, die wiederum die Schönheit der Engel und die der körperlichen Dinge bedeutet. Die sichtbare Schönheit bestehe weiterhin aus der der himmlischen und irdischen Körper 42 , oder aus der der himmlischen und der niederen Körper 48 . Von einem anderen Gesichtspunkt aus aber stelle die sichtbare Schönheit eine dreifache »formositas« dar, und zwar die Schönheit des Lichtes 44 am Himmel und in der Luft 45 , die der Ordnung der Wasser und deren Getrenntheit vom Lande 48 und die doppelte Schönheit der Wohlgetrenntheit zwischen denselben und der Pflanzen auf der Erde 47 . ω Pulchritudo divina und creaturae: De div. nom. 4,5,336f. — Pulchritudo in creaturis: ST II—II 94, 4 c. M In lob, cap. 40 lect. 1 med. — In Bezug auf pulchritudo participata, vgl. auch ebd. eine weitere Schönheitsstelle. — Übrigens wird die göttliche Schönheit in De div. nom. 11,4,938, pulchritudo per se genannt. Z. B. in De div. nom. 7,4,733; De pot. 6,9,4 a und ad 4; ST I 19,9,2 a und ad 2; I 48,1, 6 a; Comp, theol. pars I tract. 1 cap. 170 η. 336. 34 Ζ. Β.: In IV. Sent. 47,2,2 II sed c. ; De verit. 3,1,6a;—vgl. In Hebr. 11,3, lect. 2; In Ev. Ioann. 2,1, lect. 2. « De div. nom. 11,4,938. ; Quodl. 8,1,1 c. « Vgl. In Symb. Ap. art. 1 n. 878. " De div. nom. 4,6,339. » In I. Cor. 16,40, lect. 6. « In Symb. Ap. art. 1 n. 878. 44 pulchritudo lucis. 46 coelum et totum corpus diaphanum. *· elemento aquae debitus ordo et debita distinctio ab elemento terrae. « De pot. 4,2 c. — Vgl. auch In II .Sent. 12,4 und ST I 66,1.; 69,1; 69,2 und 74,2.

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Die irdische Schönheit bestehe auch aus der der Mineralien, Pflanzen und Tiere48, während die menschliche Schönheit (die am häufigsten erwähnt und behandelt wird) zweifach eingeteilt werden könne, und zwar in körperliche und seelische Schönheit einerseits4· und in innerliche und äußerliche Schönheit50 anderseits. Diese Liste von expliziten Schönheitseinteilungen soll mit zwei weiteren Einteilungen abgeschlossen werden. Eine von diesen ist die in spezifische und individuelle Schönheit — eine sehr umfangreiche Einteilung, die aber von Thomas mehr beschrieben als bei Namen genannt wird61. Die andere ist auch etwas außergewöhnlich, und zwar insofern, als sie nicht so sehr eine allgemeine Einteilung der Schönheit, sondern vielmehr die Aufzählung der vier Arten von Schönheit ist, die ein individuelles Seiendes, nämlich Christus, in sich vereinigt. Diese sind die göttliche, die moralische, die sich im Gespräch äußernde und die körperliche Schönheit". 2. Von dieser Reihe von Schönheitseinteilungen kann man leicht den Eindruck bekommen, daß sie vollständig seien, also alle Arten von Schönheiten, die Thomas je in seinen Schriften erwähnt, umfassen und explizit enthalten. Das ist aber keineswegs der Fall. Um dann diese falsche Konklusion zu vermeiden, ist es nötig, zu dieser Liste expliziter Schönheitseinteilungen eine andere von allen schönen Dingen, die er je so bezeichnet hat, hinzuzufügen und, soweit es möglich ist, logisch einzuteilen. Zuerst kann man die implizierte Division in ideale und reale Schönheit erwähnen. Die ideale Schönheit sei entweder vorstellbar, also das Objekt der Phantasie, wie Linien, von denen die gerade Linie die schönste sei58 und geometrische Körper, wie die Sphäre84 ; oder denkbar, also das Objekt der Vernunft, wie ζ. B. schöne Denkformen65 und die Schönheit der Wahrheit5®. Diese ideale Schönheit, besonders die der 48

De pot. 6,9,4a und ad 4. * Pulchritudo spiritualis et exterior: — Contra imp. p. II, c. 6 (7) n. 339.; — decor interior et exterior: In IV. Sent. 49,4,1 ad 6; — pulchritudo spiritualis et corporalis: De div. nom. 4,6,339; — pulchritudo spiritualis et corporalis: ST II—II 146,2 c; — pulchritudo spiritualis et carnalis: In Ps. 26,6 und In Symb. Ap. art. 4 η. 916. *· In Εν. Matth. 12,3 und 3,1. «ι De div. nom. 4,6,339. Vgl. : In Ps. 44,2. ** In Ps. 44,2. — In Is. 63 enthält übrigens eine ähnliche, aber dreifache Aufzählung, nach der die Schönheit Christi aus seiner Gottheit, seiner hypostatischen Union und seiner Tugendhaftigkeit bestehe. a In I. Post. Anal. Lect. 16 g. M Vgl. die Implikation In IV. Ethic. Lect. 7 n. 730. " Vgl.: Quodl. XII, 22, 1 c und »pulcherrime definitur«: In IV. Phys. L. 6 n. 447. *· pulchritudo veritatis: In Ps. 44,2; vgl. auch decor veritatis: in einem AugustinZitat in Cat. aurea in Matth. 13, 10, ein Zitat aus Gregor, v. Nyssa in Cat. aur. in Luc. 2,8 und den Gedanken zu decor sui nominis in einem Theophylactus-Zitat in Cat. aur. in Luc. 10,7. 4

Systematische Analyse

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Wahrheit, erklärt dann die von Thomas ein paarmal erwähnte Schönheit des kontemplativen Lebens57. Der idealen Schönheit ist die reale Schönheit gegenübergestellt. Diese umfasse erstens die göttliche (wesentliche) und die geschöpfliche (partizipierte) Schönheit. Gott, der nur insofern ohne Schönheit sei, als er keine partizipierte oder endliche Schönheit habe58, sei die Schönheit selbst, d. h. wesentlich schön6·, und deswegen seien seine Gerechtigkeit und Weisheit ebenso schön·0 wie seine Liebe für die Geschöpfe®1 oder seine Barmherzigkeit®2. Diese göttliche Schönheit sei auch die Ursache aller endlichen (partizipierten) Schönheit®*. Nun sei die geschöpfliche oder partizipierte Schönheit ihrerseits teils natürlich, teils übernatürlich (eine Einteilung, von der erst später die Rede sein wird), von einem anderen Gesichtspunkt aus aber wesentlich oder akzidentell®4. Was zuerst die wesentliche Schönheit des Geschöpfes anbetrifft, kann sie wiederum rein geistig, d. h. die des Engels®6, oder körperlich sein. Jede körperliche Schönheit (ebenso wie jedes körperliche Ding) "

S T I I — I I 180,2,3a und SCG I I I 80.

68

De div. nom. 5,2,661.

" ipsa pulchritudo: S T I I — I I 34,1,1a; 146,2 c ; — ipsa essentia pulchritudinis: Comp, theol. p. I I c. 9 n. 691 ; — secundum seipsum est pulchrum . . . quasi essentia quaedam pulchritudinis: De div. nom. 4,11,448. — ipsum pulchrum: ebd. n. 446; — supersubstantiale pulchrum: ebd. 4,6,339: — pulcherrimus et superpulcher: ebd. n. 343f.; — omnis pulchritudinis: ebd. 5,2,661. decor iustitiae et sapientiae suae: In I. Sent. 46,1,4,1a und ad 1; — pulchritudo divinae sapientiae: In Ev. Ioann. cap. I lect. 4; divinae sapientiae decor — ST I 36, 2 c und ein Basilius-Zit. in Cat. aur. in Luc. 1,7. "

pulcher amor: De div. nom. 4,10,437.

42

speciosa misericordia Dei: In Ps. 9,17, bibl. Zitat.

" Dion.-Zit. in In IV. Sent. 50,2,1 V. l a ; De div. nom. 4,6,337; vgl. auch ebd. 4,6,360, De pot. 6,6,5a, usw. 4 4 Diese Einteilung ist einerseits in solchen Texten impliziert, in denen Thomas über die Form oder die Species oder aber die Natur als die Schönheit der Dinge spricht (z. B. »Forma rei est decor ejus« — In I I I . Sent. 23,3,1, I, sed c. 2a η. 225; »pulchrum íundatur super formam« — ST I 5,4, ad 1; — »Species sive pulchritudo« — ST I 39 8 c; — »species vel pulchritudo patris« — Resp. ad Ioann. Vercell. de art. 108 L. 67 n. 884; — »suae naturae . . . decóreme — De pot. 4 1 c . Β . ; usw.), andererseits aber in Texten, wie »Homo est pulcher, homo non est pulcher« (In I. Perih. Lect. 11 »si enim«), — »pulchritudo non contingit, nisi omnia membra sint bene proportionata et colorata« (In I I . E t h . Lect. 7 n. 320. Vgl. De regno I 3) ; ferner in De malo 2,4 ad 2 und In Thren. 4,7, während die akzidentelle Schönheit ganz ausdrücklich aus Stellen, wie dieser hervorgeht: »pulchritudo corporis est qualitas« (ST I — I I 110 2, sed c.); ferner: In I. Pol. Lect. 4 n. 86, S T I — I I 49 4 c; 50, 1 c ; 52.2 c; usw.

•5 »In angelis est summa pulchritudo post deum« (In II. Sent. 9,1,5, sed c. 2a. — Vgl. In I I . Sent. 6, 1,1 sed c.; SCG I I I 80; De div. nom. 1,2,44; 4,12, 457; 4,18,526; In lob cap. 40 lect. 1; De malo 16 2 ad 13 und De subst. sep. cap. 19 med.

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bestehe nun aus der aktuellen Schönheit der Form·® und aus der potenziellen Schönheit der materia prima67 als aus seinen zwei wesentlichen Teilen oder Prinzipien. Unter den aus diesen zwei Wesensteilen zuzusammengesetzten schönen Körpern seien nun himmlische*8, also Sterne®9, die Sonne70 (deren Strahlen die größte materielle Schönheit darstellen71), der Mond78 und der Himmel selbst73 und auch irdische74. Unter den irdischen Dingen seien schöne leblose Dinge, wie Mineralien im allgemeinen75, darunter Gold7· und Eisen77, ja sogar die Milch78; weiterhin Pflanzen79, wie Bäume80 (deren Schönheit in ihren Ästen und Früchten bestehe81), darunter der Olivenbaum82, der Cytrusbaum88 und die Palme84; Setzlinge85; Kräuter®·; Früchte87; Blumen88, darunter die Lilie89 ; blumige Wiesen90, Weiden91 und Acker·· Vgl. In II Sent. 23,3,3, 1 I sed c. 2a η. 226; ST I 6,4, ad 1 und De unit, intel. contra Averr. cap. 2 η. 213 « De div. nom. 4,21,660. Vgl. ebd. 4,6,366. 88 In IV. Sent. 48,2,3, sol.; In I. Cor. 16,40. Lect. 6; In Symb. Ap. art. 1 η. 873 und 878. ·» Stellae: De div. nom. 4.2,301; ST I I I 36 7 c; — In Symb. Ap. art. 1 η. 873; — astra: In II De caelo et mundo, Lect. 14 ad »hoc autem« — ein Simplicius-Zit.; — sidera: ST I I I 36 7 c; Leo-Zit. »· In Symb. Ap. art. 1 η. 873; — ST I 47 2 c und In Ps. 18,1. 71 In lob, cap. 41 lect. 2. " Luna: In Symb. Ap. art. 1 η. 873. — Vgl. Cat. aur. in Luc. 21,6; In Ps. 10,1. 78 In Hebr. 1,10 Lect. 6; Cat. aur. in Luc. 11,1, Chrysostom-Zit. 74 Teirestria: In I. Cor. 16,40 lect. 6 75 De pot. 6,9,4a und ad 4 78 In lob cap. 28 lect. 2 77 ST 1 9 1 3 c 78 In Is. 66. 7 · Plantae: De pot 6,9,4a und ad 4; ST I 66, 1 c; 69,2 c. 8 0 In Is. 41; ST II—II 163, 1 ad 2 und 164,2 ad 9 (diese letztere ein biblisches Zitat). 81 In lob cap. 6 lect. 1 88 Clivia: In 1er. 11,4; In Ps. 61,6 (bibl. Zit.); In Rom. 11,17, Lect. 3 (bibl. Zit.), Cat. aur. in Marc. 11,4. (Hieron.-Zit.) ; In lerem. 11,3, (bibl. Zit.). 83 ST I—II 102.4 ad 10. 84 »Palma decora«: In lerem. 10,1 ; — »speciosa deserti«: In Thren. 2,2 ; In lerem. 9,3 und 25,6, beiden bibl. Zit. 85 Propago: In Is. 16. 88 Herbae: De pot. 4,2 c und ST I 66,1 c; 69,2 c. 87 Fructus : Cat. aur. in Luc. 13,2 (Ambros-Zit.) ; Comp, theol. p. I tr. 2 c. 190 n. 367 und In Sal. Ang. n. 1126. 88 In Is. 36; De pot. 5,9,4 a und ad 4; Cat. aur. in Matth. 6,16 (Chrysostom-Zit.) ; vgl. auch In Is. 11 und De pot. 4,2 c. 8» Cat. aur. in Matth. 6,19 (Chrysost.-Zit.) ; ebd. in Luc. 12,8 (Chrys.-Zit.). 80 Pratum florens: In Is. 35; — pratum in germine: ST I 13,6 c. 81 In Is. 35 7

KoTAch

Systematische Analyse

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felder98 ; und endlich Tiere93, wie die Viper94, die Vögel95, darunter der Adler9·, und das Pferd oder seine Mähne97. Als nächstes folgt in der Rangordnung schöner Dinge der Mensch, dessen Schönheit Thomas im allgemeinen entweder als die einer Person98 oder ausdrücklich als die des Menschen überhaupt99 erwähnt ; weiterhin die Schönheit von einzelnen Menschen100 ebenso wie von Gruppen von Menschen101 ; von Männern104 sowie von Frauen103 (deren Schönheit er aber häufiger erwähnt) ; von Eltern104 wie von Kindern106 ; Mädchen10· und Jungfrauen107; von der Jugend108 und von Menschen aller Altersgruppen109. Anderseits spricht aber Thomas auch über die Schönheit des menschlichen Körpers wie der menschlichen Seele. Die erstere erwähnt oder beschreibt er im allgemeinen110 ebenso wie in den integralen Teilen111, nämlich Gesicht11*, Augen113 und Füße114. Der körperlichen Schönheit des Menschen stehe seine seelische Schönheit oder die seiner Seele115 gegenüber. Diese Art von Schönheit beschreibt Thomas in ethisch-moralischem oder in theologischem n

Ager: In Ps. 49,6 " De pot. 6,9,4a und ad 4. M Vipera: In Matth. 3,1; — vgl. Cat. aur. in Matth. 3,4. »5 In lerem. 12,2. · · Aquila: In Is. 40. " Decor iubarum: In lob, 39,1 med. »» Decor personae: In III. Sent. 13,3,1, sol. η. 124. · · Pulchritudo hominis: ST I 39 2 c; In 1er. 10,1 (bibl. Zit.) ; — decor hominis: ST I I — I I 116,2 ad 2; In Ps. 29,5; In Gal. 2, 6, lect. 2; — homo pulcher: De malo 2,4 ad 2; ST I I I 18,6c; In Perih. I. Lect. 11 ad »si enim«; In Thren. 2,4, med; — vgl.: ST II—II 109, 4 c. 100 Z. B. lob, 42 Lect. 1; In Salut.Ang n. 1126; vgl. auch ST II—II 180,2,3a (bibl. Zit.): In Ps. 29,5 und Cat. aur. in Matth. 1,3 (beide bibl. Zit ), usw. 101 »populi . . . pulchritudo«: In 1er. 13,1, 13,2. — pulchritudo totius humani generis: ST I I — I I 162,2 ad 1. 101 In Is. 3,3; In Ev. Ioann. 18,5, Lect. 1, bibl. Zit. Mulier pulchra: In IV. Sent. 34,1,2,6a; De ver. 26. 6 c fin.; SCG I I I 123; ST I 39,2 c; In IX. Eth. lect. 6 n. 1824; ST II—II 141,5 c; 145,2,3 a, sed contra und ad 3; — vgl. auch In Ev.Ioan. 6,2, lect. 2; 13,1, lect 8 (bibl. Zit.); In IV. Sent. 39,1,1,2a (bibl. Zit.); In Boet. De Trin. prooem.; 2,3, sed c. 3 a (Hieron.-Zit.) ; In Gal. 3,15, lect. 6; In Is. 2,3, In lob, 42 lect. 1 (alle bibl. Zit.); De perf. vitae spirit. Kap. 9 C n. 593 (Hieron.-Zit, usw.) 104 Parentes: In I. Pol. lect. 4 n. 86; Cat. aur. in Luc. 12,5 (Chrysost.-Zit.) ; usw. 105 Proles: ST I 96,3 c und ad 3; I I I 28,3 ad 3 (Chrysostom-Zit.) ; vgl. ST I 96,3 c 10 « Filiae: In Matth. 24,3, (bibl. Zit.). 10 ' Virgo: In lob. 31 L. 1 princ.; In I. Cor. XI.10, lect. 3 (bibl. Zit.). 108 Decor iuventutis: In IV. Sent. 49,3,4 sol. I I I ; SCG 111,26; In X. Eth. lect. 6 n. 2031, usw. 10 · In I I I . Sent. 1,1,4 sol. η. 72, (Arist.-Zit.). 110 In I I I . Sent. 3,1,2, sol. I ad 4η. 54; In IV. Sent. 49,5,1 ad 1; Dediv. nom. 4,5,339; 4,21,654; 4,22,572, 589; In lob 11 Lect. 2; 14. Lect. 1, princ.; 31. Lect. 1. princ.; ST I—II 49 2 ad 1; 49,3,3 a; 49,4 c; 50,1 c; 50,3 ad 2; 52,2 c; 54,1 c; 55,2,1 a und ad 1;

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Sinne, d. h. als von der Tugend oder von der Gnade verursachte Schönheit — was uns schon von der Schönheitsart der Substanzen zu der der Akzidentien, oder auch von der natürlichen zur übernatürlichen Schönheit führt. Folgen wir nun Thomas vorerst in der Richtung der Schönheit natürlicher Akzidentien, die den übernatürlichen, nicht aber den artifiziellen Akzidentien gegenüberstehen. Die Schönheit, die zur Kategorie der Quantität gehört, erwähnt Thomas nur indirekt118. Von der Kategorie der Qualität schlechthin wird bei ihm die Schönheit der Potenz117, der Gewohnheit als einer Art habitus118, der Tugend (auch ein habitus), weiterhin — unter den sinnlichen Qualitäten — die der Farben119, des Lichtes und des Schattens180, der Töne1·1 und des Geschmacks122, und endlich die der Form 123 und der Figur124 erwähnt. ST I I — I I 146,2,3a und ad 3; In I. Pol. Lect. 3 n. 73; Lect. 4 n . 86; In I. Eth. 10n. 124; Lect. 13 n. 163; In II. Eth. Lect. 7 n. 320; In IV. Eth. Lect. 8 n. 738; I n X . Eth. Lect. 3 n. 1984; In Ps. 60,4; In Symb. Ap. art. 4 η. 916 und an zahlreichen Zitatstellen. U 1 Decor membrorum: ST I—II 102,6 ad 10; De malo 2, 4 ad 2; ST I I I 87,2 3a. l u Facies: In IV. Sent. 16,2,2 IV. ad 1 η. 118; In IV. Sent. 30, expos, text.; — gratiositas in aspectu: In Ps. 44,2; vgl.: ST I I — I I 180,2, 3 a (bibl. Zit.); — decor vultus: In Ps. 29:6. im Oculi: SCG I I I 94; In lob 42 Lect. 1; 31. Lect. 1. 114 Pedes: In Matth. 3,1 (Chrysost.-Zit.) ; In Is. 3,3; In Rom. I. Lect. 1; 10,16 Lect. 2 — alle drei bibl. Zit., usw. 1 1 4 Pulchritudo spiritualis: ST I—II 27,2 c; I I — I I 146,3c; 4 c ; In I. Tim. 2.9, Lect. 2; — pulchritudo interior: In Matth. 12,3; decor spiritualis: In IV. Sent. 49,4,1 ad 6; In Tim. 2,9, Lect. 2; spiritus decor: In Is. 62 fin.; — pulchritudo animae: In IV. Sent. 18,1,2 sol. I ad 1 η. 63 und sol. I I ad 1 η. 69; I n i . Pol. Lect. 3 η. 73; In Symb. Apost. art. 4 η. 916; — nitor animae: ST I—II 110 2 sed c. η · »pulchritudo stellarum . . . per quantitatem« — De div. nom. 4,2,301. Vgl.: De div. nom. 4,6,339 und De pot. 1, 2 c. Als magnitudo wird sie In I.Sent. 31,2,1 sol. und In IV. Eth. L. 8 n. 738 erwähnt. 1 , 7 »decora potentia« — Cat. aur. in Luc. 6,3 (Cyrill-Zit.); vgl.: decor mentis: In Rom. 12,2, Lect. 1 und »maxima pulchritudo humanae naturae consistit in splendore scientiae«. De malo 4,2,17a. 118 »Pulchrae consuetudines« — In II. Pol. Lect. 4 n. 200. » · Color: De ver. 26,1 c 3; In II. Dean. 1 Lect. 22 n. 620; Comp, theol. p. I tr. l c . 166 n. 327; ST I I I 87,2 ad 3; — vgl. : In I.Sent. 31,2,1 sol.; De div. nom. 4,6,339; SCG II 64; In Is. 63; In II.Eth. Lect. 7 n. 320; In IV. Eth. Lect. 8 n. 738; In Ps. 44,2 und auch was er über discoloritas in In 1er. 12,2 zu sagen hat. i»e vgl ,ηοχ et dies«: In lob. cap. I I I lect. 1. 121 Sonus: ST I—II 27,1 ad 3. m »suavi sapores«: Comp, theol. p. I tr. 1 c. 166 n. 327. l n forma accidentalis : ζ. B. In I I I . Sent. 1,1,3,3a n. 63; De perf. vitae spir. cap. 9 η. 693 und In X. Eth. L. 6 n. 2028. — Vgl. De regno II, 3. Figura: ζ. Β. De div. nom. 4,2,301 und ST I — I I 49, 2 ad 1 ; — »mulier egregiae formae«: ST I 39,2 c und alle expliziten Schönheitsstellen über imago, wie ζ. B. imago hominis: In Matth. 3,2; ST I 39,8 c etc. mit der Ausnahme von In I. Sent. 31,2,1 sol. — Vgl. auch : ST I—II 49,2 ad 1 und den indirekten Hinweis (defonnitas) in In IV. Sent. 49,6,4,111 3a ; De virt. in comm. q. un. art. 9 ad 16 und In IV. Sent. 47,2,2,11 sed c. τ*

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Systematische Analyse

Von allen Arten qualitativer Schönheit ist die habituelle im moralischen Sinne, d. h. die Schönheit der Tugend, am häufigsten erwähnt und behandelt, und zwar als die Schönheit der Tugend überhaupt125, dann auch als diejenige einzelner, spezifischer Tugenden. So spricht Thomas hinsichtlich der Kardinaltugenden über die Schönheit der Gerechtigkeit1* und der Mäßigkeit127, bei den theologischen Tugenden über die des Glaubens12® und der Liebe129, bezüglich einzelner Tugenden über die Schönheit der Weisheit130, der Keuschheit131, der Sittsamkeit132 und der Geduld183. Die Kategorie der Relation ist hier nicht getrennt aufzuzählen, da nach Thomas' Lehre, wie gezeigt wird, die Schönheit überhaupt nach einer ihrer Bedingungen Relation (convenientia, proportio) ist. Dagegen ist die Schönheit der Kategorie »actio«134, zu der auch die der (besonders räumlichen) Bewegung136 (im Sinne der, der statischen »»* In IV. Sent. 33,3,3 ad 1; 44,2,1 sol. ad 5 (Augustin-Zit.); 49,5,4 I I I 3 a ; In Is. 40, I n Is. 61. (bibl. Zit.) ; De div. nom. I, 2,44; Cat. aur. in Matth. 4,6 (Rhabanus-Zit.) ; ebd. inLuc.3,3 (Basil-Zit.) ; 23,5 (Beda-Zit.) ; in Thren. 4,1; In I. Eth. Lect. 13 n. 168— 160; In IV. E t h . Lect. 16. n. 852; In X. E t h . Lect. 11 n. 2102; ST I I — I I 129,4 ad 3; 141,2,3a und ad 3; 142, 4 c; 144,2,3a (Arist.-Zit.) ; 145 praeamb.; art. 2 ad 2; 165,2,1a (Ambros. Zit.); 161,1 sed c.; 168,1c (Ambros. Zit.); 180,2 ad 3; In Ev. Ioann. 20,2, Lect. 6; In Ps. 17,19 (bibl. Zit.); In Ps. 29,5; In Rom. 13,14, Lect. 3; ST I I I 64, 4 c (Augustin-Zit.). — Ein Hinweis auf die Schönheit der politischen und kriegerischen Tugenden im allgemeinen befindet sich In X. Eth. L. 11 n. 2102. ia · Iustitia: In II. Sent. 42,1,6 ad 4; In I I I . Sent. 35,1,3, sol. I. η. 67 (Augustin-Zit.) ; In IV. Sent. 22,2,1 sol. I I I η. 114; In Is. 26; In Ps. 14,1; 44.2; 44,8; 46,3 (bibl. Zit.); In Rom. 13,12, Lect. 3. Temperantia: In IV. Sent. 33,3,3 ad 1; ST I I — I I 141,2,3a; und ad 3; 141,8,1a und ad 1; 143, art. un. corp.; — vgl. die Ambros.-Zit. in ST II—II 180,2,3a. 128 Fides: In I I I . Sent. 23,3.1,1. sed. c. 2a n. 225; In Thren. 1,6 fin. 1,e Caritas: Contra imp. p. 3, sect. I, B. cap. 2, (14) sed c. 5a, n. 440. Augustin-Zit.; In Matth. 6,7; Oratio pro obtinendis virtutibus; — vgl.: De div. nom. 4,10,437 und 12,457; In Rom. 12,9, Lect. 2, und In Εν. Joann. 15,7, Lect. 2. no Vgl. Cat. aur. in Ioann. 8,13, Origenes-Zit. über sapientia. 151 Castitas: ST I I — I I 162,5 c; — virginitas (die nach ST II—II 152,5 c »in genere castitatis« ist) : In IV. Sent. 33,3,3, ad 1 und ad 2; 49,5,3, sol. I ad 3; ST I I — I I 152,5 c ; — innocentia: In IV. Sent. 18,1,2,11 l a n. 48; — puntas: In Is. 11, — vgl. auch »honestas nuptiarum«: ST I I — I I 151, 4 c und auch ST II—II 152,2 ad 1. 182 Verecundia (die »proprie loquendo, non est virtus«, doch im uneigentlichen Sinne oft als Tugend betrachtet wird: ST II—II 144,1c. fin. und nach ebd. 143,1c eine pars integralis temperantiae ist): ST I I — I I 144,1,3a (Ambros.-Zit.). 188 Patientia (die nach ST II—II 136,4 c »pars potentialis« der Kardinaltugend der fortitudo ist): ST I I — I I 32,5 ad 2 (Basil-Zit.). 184 Opera: In II. Sent. 27,1,4, sol.; In Ps. 25,5; ST III 44,3 ad 2. — operatio: Quodlib. V I I I , 9 , l c ; In II. Sent. 38,1,2, sol. — (»Opera« kommt außerdem noch in einigen Zitaten vor, wie in dem von Ambrosius in Cat. aurea in Luc. 1,6.). — Vgl. •speciosa servitia«: Cat. aur. in Luc. 12,2 (Theophylactus-Zit.); — »pulcherrimum exemplum«: Cat. aur. in Luc. 23,7 (Ambros.-Zit.); »ordinatio«: ST I—II 105,1 sed c.; und »decora mente iubilatis« — Off. de festo corp. Chr. Sequentia. I8 ' Vgl. »pulchergressus«: In I. Cor. 12,23, lect. 3 ; In Rom. 10,15, lect. 2. — beide

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Schönheit138 entgegengesetzten, dynamischen Schönheit) und die Schönheit der Glückseligkeit137 gehören; ferner die Schönheit der Kategorie »ubi« als die passende Schönheit des Ortes188, die des »situs«139 und sogar die des »habitus« im Sinne von ornatus140 zu erwähnen, da Thomas von ihnen spricht. Alle die bisher genannten Dinge bzw. Schönheiten gehören zur Natur und stellen entia naturalia dar. Thomas bestätigt aber außerdem die Schönheit verschiedener Arten künstlerischer Produkte und Werke. So finden wir, daß er einerseits von schonen künstlerischen Dingen im allgemeinen141, anderseits von einzelnen Kunstwerken spricht. Unter den letzteren werden Produkte von völlig praktischen Künsten, wie Glas141, genannt, weiterhin Werke von primär praktischen Künsten bzw. Kunstgewerben, wie Wege14®, Wohnungen144, Gebäude145 Villen146, Häuser147, Städte148, Fenster149, Spielzeuge150, Kleider181; und Werke primär ästhetischer Natur, wie Vasen und Iuwelen152, Gemälbibl. Zit. ; — »pulcher ascensurus«: Cat. aur. in Luc. 23,6, Ambros.-Zit., »pulcherrime admotus est lapis«: ebd. 23,10, Beda-Zit. Ma Z. B. dispositio membrorum: SX I—II 56,2,1a und ad 2., usw. 117 Felicitas (über die Thomas in In IV. Sent. 49,4,2, ad 1. bemerkt, daß sie proprie loquendo . . sit operatio quaedam ; — vgl. einen ähnlichen Gedanken zur beatitudo in Quodl. VIII, 9,1 c.): ST I—II 4,6 ad 1; In I. Eth. Lect. 13, n. 163, und Cat. aur. in Luc. 6,11, Cyrill-Zit. — Vgl. auch die »pulchritudo pacis«-Stellen (In Rom. 2 lect. 2.; 14,18, lect. 2; In lerem. 23,2 {in.; 31,1; 33,4; In Ps. 4.7; 6,8; 28,7; 33,13; 36,8 und In duo praec. carit. et in decem legis praec., de 3. praec. n. 1221), weiterhin »pax pulchra« in In Is. 32; und auch De ver. 22,1, ad 12; Cat. aur. in Luc. 24,4, Cyrill-Zit.; In 1er. 6,11 fin. und Comp, theol. pars II c. 9 n. 694. Locus: ST I—II 4,1 ad 3 und: »Domus alicuius domini pulchrius stat in civitate quam in rure« In Ps. 18,3. M · Situs: De div. nom. 4,5,339. — Vgl. auch: ST I 62, 6c und De div. nom. 4,2,301. 140 Ζ. Β. »sponsus decoratus corona« als bibl. Zit.: In Ps. 30,1 und In Is 61,10: in IV. Sent. 49,4,3,3 a. 141 Pulchrum artificium: In Matth. 3,2. — Vgl. In lob, 28, Lect. 2. Vitrum: In lob, cap. 28. lect. 2 und ST I 91,3 c. 148 Viae: In Is. 52. 144 Habitationes: ST I—II 102,4 c. 146 Aedificia: Cat. aur. in Marcum, 13,1, Theoph.-Zit. ; In Thren. 2,4 med. 144 Villa: In Matth. 3,1; Cat. aur. in Matth. 4,6, Rhabanus-Zit.; ebd. in Ioann. 6,10, Beda-Zit.; In Ev. Ioann. 2,1, Lect. 2. Domus : In Matth. 24,1 ; SCG III 26; De pot. 1,2 c ; In Ps. 25,5. Vgl. auch ST 162,6c. 148 Urbs: In Thren. 2,15; In 1er. 18,4 fin., bibl. Zit.; In Ps. 47,2, bibl. Zit. " · Fenestra: In II. Tim. 2,20, Lect. 3. 160 Vgl. : »sphaera, id est pila vel lacythum« — In IV. Eth. Lect. 7 n. 730. 1M Vestís: Quodlib. IX,2,1, ad 3; In lob. 40, Lect. 1; — vestimentum: Contra imp. pars 3, sect. I A c. 1 (8) sed c. 2a η. 367; In Matth. 9,3; In lob, cap. 40, lect. 1; Cat. aur. in Luc. 12,8; — vestitus: Cat. aur. in Luc. 12,8, Euseb-Zit. ; — lineum: In lerem. 13,1; velum: In Thren. prooem. m Vasa auri: gemmae: In lob 28 Lect. 2; In Thren. 1,6, bibl. Zit. und vielleicht auch 2,4, princ.; — vas pulchrum: In Rom. 9, Lect. 4 — decor in vasis: In Ps. 29,6. — Vgl. auch: dona pulchra: In lob, 41, Lect. 2.

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Systematische Analyse

de188 und Statuen184 und Elemente und Produkte der Rhetorik und Poesie, wie Reden186 und Aussprechen18·, Sprache167, Stil158, Gleichnisse18· und besonders Metaphern oder ähnliche Gedanken- und Ausdrucksschönheiten1·0. Im Gegensatz zu allen bisher aufgezählten schönen Dingen gibt es nach Thomas' Ansicht auch übernatürliche Schönheiten und übernatürliche schöne Dinge, und zwar die Gnade161, die die menschliche Seele verschönere ; die Glorie1·2, die wesentlich und primär die Schönheit der seligen Seele1·*, sekundär, »per quandam redundantiam«, auch die Schönheit des auferstandenen Körpers bilde1·4 und endlich die Kirche, deren Schönheit oft erwähnt1·6 und ein paarmal definiert und beschrieben1·· wird. Dieses Verzeichnis zeigt, was alles nach Thomas' Meinung schön ist. Jetzt ist die logisch nächste Frage: Was ist nach seiner Meinung die Schönheit in sich ? Simulacra: In I. Cor. 12,2, Lect. 1. Sculpturae : In I I I . Sent. 1,1,1, ad 3, n. 19. Sermo: ST I I — I I 177, 1 sed c. corpus ad 3 und ad 4; 183,3 sed c. (Isidor-Zit.). — Vgl. In Ps. 44,2. 1S * Eloquium : In Is.prol. Hier.expos. ; In Ps. 28,7, bibl. Zit. — »verbum« : In Ps. 44,2. " » Lingua: ST I I — I I 177,1, sed c. " » Stylus: Contra imp. p. 3 sect. I. A. c. 6 (12) tit.; In Ps. 44,2. 1M Similitudines: In Is. prooem. lei Comp, theol. p. I tr. 2c. 239 n. 514; Cat. aur. in Matth. 3,5; 9,7; 11,1 und 12,13, alle Remigius-Zit. ; ebd. 12,14, Hier.-Zit.; 20,1, Origen.-Zit. ; Cat. aur. in Marc. 14,7, Beda-Zit.; in Luc. 2,1, 3,3 und 7,1, Ambros.-Zit. ; ebd. 8,1, 13,6, 14,2, 19,1 und 19,3, alle Beda-Zit.; ebd. 20,2 und 21,5, Ambros.-Zit.; ebd. 22,11, Beda-Zit.; Cat. aur. in Ioann. 18,11, Theoph.-Zit.; In IV. Phys. lect. 5 n. 447, Aristoteles-Paraphrase; In Ev. Ioann. 1,4, Lect. 16, Augustin-Zit. »·» gratiae decor: In IV. Sent. 1,1,2,1a, n. 54; ebd. 16,2,1, sol. II. ad 3 n. 90; ebd. 16,2,2,IV ad 1 n. 117; ebd. 18,1,2, sol. I. η. 53 und 18,1,2, sol. II ad 1, n. 69; De malo 4,2,17a; ST I—II 109,7c; II—II 152,5,1a; In Ps. 21,12; ST I I — I I 168,1,1a und ST I I I 87,2,3a und ad 3. — Vgl. auch in IV. Sent. 33,3,3 ad 2, Cyprian-Zit. ; In 1er. 11,4, fin.; In Ev. Ioann. 8,8 lect. 7, bibl. Zit.; — »pulchritudo sanctitatis : « Cat. aur. in Matth. 3,4. 162 Decor gloriae: ST III 54,4 ad 2. 1M Aurea und aureola: In IV. Sent. 49,5,4, sol. I I I ; — vgl. auch die bibl. Zitate in In Matth. 12,4; In Ps. 17,18; 18,3; 20,4; 45,4; Comp, theol. p. I. tr. 2c. 224 n. 457; ST I I I 2,2a; 27,3 sed c.; 27,4c. fin. und In Sal. Ang. n. 1115. 1M »fulgeat etiam in carnee: In IV. Sent. 49,5,4, sol. I I I . — Ferner: In III, Sent. 21,2,4, sol. I I I . ad 2 n. 123; In IV. Sent. 17,1,1, sol. III. η. 36; ebd. 44,2,4,3a; In Ev. Ioann. 20,2, Lect. 6, und ST I I I 54,4 ad 1, und die verschiedenen Zitate in: In III. Sent. 21,2,4, sol. I I I ad 1 n. 122; In IV. Sent. 49,4,5, III. l a ; Cat. aur. in Matth. 28,1 usw. i«s Pulchritudo bzw. decor Ecclesiae: In I.Sent.prol.; In IV. Sent. 15,3,1, sol. 4 ad 1 η. 401; 24,1,1, sol. 1; In Matth. 4,2; In I. Cor. 12,1, Lect. 1; ST I I — I I 183,2, sed c, und corpus. — Vgl. auch Car. aur. in Matth. 4,5, Rhabanus-Zit. ; ebd. in Luc. 2,5 Beda-Zit. ; In Ps. 10,1, bibl. Zit. ie« ST I—II 112,4 c; — In IV. Sent. 24,1,1, sol. I; ST I I — I I 183,2 c; 3 c; 184,4 c. 1M

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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II. THOMAS' LEHRE ÜBER DAS WESEN DER SCHÖNHEIT 1. Über die Schönheit ist nur soviel sicher und zweifellos : erstens, daß es schöne Dinge gibt ; zweitens, daß die schönen Dinge teils spezifisch, teils numerisch unterschieden sind. Diese zweite Feststellung bedeutet nun, daß die Schönheit nicht nur zu einer Art von Dingen gehört, sondern vielmehr zu mehreren Arten, und daß sie außerdem innerhalb der einzelnen Arten in mehreren, aber keineswegs in allen Individuen vorhanden oder zu finden ist. Dazu kommt dann noch die Sicherheit, daß ein konkretes, individuelles Ding, ungeachtet seines generischen oder spezifischen Wesens, von uns nur dann schön gefunden wird, wenn es uns durch bloßes Bekanntwerden gefällt. Diese Tatsachen sind so fundamental, daß jede realistische Philosophie der Schönheit ebenso wie jede wissenschaftliche Erörterung über sie auf diesen gegründet sein muß. Deswegen ist es gar nicht fraglich, daß in der Entfaltung seiner Schönheitslehre auch Thomas von diesen Tatsachen ausgegangen ist. Er dürfte also ungefähr folgendermaßen argumentiert haben : Es gibt zweifellos schöne Dinge, da man die Schönheit von einigen Dingen unmittelbar erlebt. Weiterhin ist auch das wahr, daß man jene Dinge schön heiBt, die, wenn sie von uns gesehen oder erkannt werden, uns gefallen, das ist in uns GenuB erwecken : pulchra enim dicuntur quae visa placent1 pulchrum autem dicatur id cuius ipsa apprehensio placet1.

Damit hat Thomas eigentlich schon das Schöne definiert. Einerseits ist aber diese seine Definition die des Schönen und nicht die der Schönheit. Zweitens ist diese Definition keine wesentliche (definitio essentialis) im eigentlichen Sinn, sondern eben eine Nominaldefinition, indem sie nicht das aussagt, was die Schönheit (oder das Schöne) ist, sondern nur das, was sie (oder es) uns tut. Da nun jedes Ding seiner Natur nach wirkt (operatio sequitur esse), kann diese thomistische Definition des Schönen als eine »durch Eigentümlichkeit« (definitio per proprietatem) betrachtet werden. Dann ist es aber nötig, weiter herauszufinden, was in den schönen Dingen das ist, was, wenn es erkannt wird, uns gefällt. Das ist die Frage nach dem objektiven Wesen der Schönheit. Es ist die Frage nach ihrem Wesen, da die Eigenschaft, durch ihr Erkanntwerden dem Menschen zu gefallen, notwendigerweise in ihrem Wesen wurzelt und aus ihm fließt ; und es ist die Frage nach ihrem objektiven Wesen, da das, was uns durch das Erkanntwerden des schönen Dinges gefällt, offenbar nicht von diesem Erkanntwerden (oder dem Gefallen) abhängt und 1

ST I 5,4 ad 1 ST I—II 27,1 ad 3. — Vgl. auch: decorum magis respicit conspectum, cui placet (ST II—II 146,2,1a). 1

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Systematische Analyse

ins Dasein gebracht wird, sondern vor seinem Erkanntwerden und unabhängig davon existiert und erst in dem Falle, daß ein Subjekt es kennenlernt, in diesem Gefallen erweckt und das ästhetische Erlebnis verursacht8. 2. Unsere Aufgabe in diesem Kapitel ist nun festzustellen, was Thomas über dieses objektive Wesen der Schönheit zu sagen hat, wie er es essentialiter definiert oder beschreibt. Um das zu erreichen, muß man zunächst die für uns brauchbaren Texte in seinen Werken kennen4. Wie aus solcher vollständigen Liste5 zu ersehen ist, spricht Thomas in diesen Texten über nicht mehr als drei objektive Wesenselemente der Schönheit: über die Integrität, die Proportion (debita proportio) und die Klarheit®. Da nun alle drei in S. theol. I q. 39 a. 8, also in Thomas' Hauptwerk, erwähnt werden, so ist sie als die Hauptstelle für unser Problem zu betrachten. Nach diesem Haupttext hätten wir also schon die Antwort des Aquinaten auf die uns beschäftigende Frage : Was ist seiner Lehre nach das objektive Wesen der Schönheit? Diese Antwort schließt aber keineswegs unsere Untersuchung ab : vielmehr gibt sie eben den Anlaß zu einer näheren Analyse dar, indem sie in einem bestimmten Sinne unvollständig ist und viele Fragen aufwirft, die alle auf Beantwortung warten. Erstens ist es auffallend, daß Thomas keine formelle Definition für das Wesen der Schönheit gibt, sondern bestimmte Wesensforderungen aufzählt, die offenbar von Dingen erfüllt werden müssen, damit sie schön seien. Warum ist Thomas so vorgegangen? Die Antwort auf diese Frage wird man erst finden, wenn die Transzendentalität der Schönheit erwiesen worden ist7. 3

De div. nom. 4,10,439. Chronologisch geordnet sind diese die folgenden: In I. Sent. 3,2, exp. primae partis textus; 31,2,1, sol. und ad 4; In II. Sent. 9,1,5, sed c. 2a; In I. Tim. 3,2, L. 1 ; De div. nom. 4,5,339 und 349; 4,6,360, 361 und 365; 4,21,554; 12, lectio unica, η. 947; In I. Eth. L. 13 η. 159; ST I 5,4, ad 1 und 39,8c; II—II 132, 1 c; — (vgl.: II—II 103, 1 ad 2); 141,2 ad 3; 145,2,2a und c.; und 180,2, ad 3; De virt. in comm. q. unica, art. 9 ad 16 und In Ps. 26,3. 6 Diese Liste wurde nach zwei Kriterien zusammengestellt: erstens, daß jeder T e x t implizit über die Schönheit schlechthin spreche (nicht also von pulchritudo corporis usw.) ; zweitens, daß jeder Text irgendwie zum Ausdruck bringe, daß das erwähnte Element eben zum Wesen der Schönheit schlechthin gehöre. β Der letzte Text bildet die einzige Ausnahme. Über den Sinn und die Rolle der formositas wird später zu reden sein. 7 Die Schönheit ist nach Thomas, wie später gezeigt wird, eben eine transzendentale Eigenschaft des Seienden als Seienden. Deswegen umfaßt sie ebenso alles Seiende wie ens selbst. N u n kann aber das Seiende als solches nicht formell definiert werden, da es kein genus über ihm gibt und jede spzifische Differenz selbst im ens miteingeschlossen ist. Folglich könne also auch keine transzendentale Eigenschaft, einschließlich der 4

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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Zweitens mag auffallen, daß keiner der in Betracht kommenden Texte die drei Wesenselemente der Schönheit definiert. Dies bedeutet, daß man drei Definitionen oder Beschreibungen braucht, um Thomas* Lehre über das Wesen der Schönheit zu verstehen. Zugleich bedingt es den Umriß der ersten Sektion dieses Kapitels, das seine Lehre über die drei Wesensforderungen der Schönheit behandeln wird. Drittens ist an der Liste der das Wesen der Schönheit definierenden oder beschreibenden Texte auffallend, daß sie nicht nur (bis auf drei) in dem Sinne unvollständig sind, daß sie nur je ein oder zwei Wesenselemente enthalten8, sondern auch keinen Anhaltspunkt über Zusammenhang, Reihenfolge usw. der drei Wesenselemente der Schönheit ergeben. So wird man einerseits gezwungen sein, in der ersten Sektion die drei Elemente in der Reihenfolge zu untersuchen, in der sie im Haupttext erwähnt werden, ohne vorläufig den Grund für diese Reihenfolge zu kennen; anderseits aber — um diese Reihenfolge und durch sie über die drei Wesenselemente, also auch über das Wesen der Schönheit, wie es von Thomas gelehrt wird, weitere Einzelheiten kennenzulernen — auch der ersten Sektion eine zweite beifügen müssen. In der zweiten Sektion dieses Kapitels wird vorerst Thomas' Ordnungslehre untersucht, die seine erste Schönheitssynthese darstellt und als solche seine Schönheitsanalyse entsprechend ergänzt. Anschließend, im zweiten Paragraph des Artikels 1, wird dann endlich nach dem Grund der im Haupttext angegebenen Reihenfolge der drei Schönheitselemente gefragt. Schließlich wird in Artikel 2 der ersten Synthese noch eine zweite beigefügt, in der Thomas' Formenlehre und seine Doktrin über die Entstehung der Schönheit untersucht werden. Dadurch werden wir nicht nur seine Definition des Wesens der Schönheit erst recht verstehen, sondern auch die Ursachen dieses ihres objektiven Wesens, wie sie von Thomas dargestellt und erläutert werden. Schönheit, formell definiert werden. — So sind also weder der Haupttext noch diejenigen, die auf der soeben angeführten Liste stehen, — im engeren Sinne des Wortes Definitionen, sondern vielmehr Beschreibungen des Wesens der Schönheit. Und da es nach Thomas' Prinzipien schlechthin unmöglich ist, das Wesen der Schönheit formell zu definieren, ist dieser Umstand nicht als ein Defekt seiner Schönheitslehre zu betrachten. 8 Die insgesamt 20 (ohne In Ps. 26,3, aber In I. Sent. 31,2,1, ad 4 miteingerechnet) Stellen verteilen sich folgendermaßen: 11 Stellen enthalten nur je eine Schönheitsforderung, 6 Stellen je zwei und nur 3 Stellen alle drei. Weiterhin führen von den 11 Ein-Element-Stellen sechs die Proportion, vier die Klarheit und bloß eine die Integrität an; von den 6 Zwei-Element-Stellen sechs die Proportion, sechs die Klarheit und keine die Integrität. Das bedeutet also, daß die Proportion am häufigsten (fünfzehnmal) erwähnt wird, während die Klarheit dreizehnmal und die Integrität bloß viermal angeführt wird.

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Systematische Analyse

Sektion A. THOMAS'

SCHÖNHEITSANALYSE

Die objektiven Prinzipien

der

Schönheit

Zur Schönheit, sagt uns Thomas, seien drei Dinge erforderlich: Integrität, gebührende Proportion oder Konvenienz und Klarheit. Um diese drei Wesenselemente zu verstehen, muß man Thomas' Lehre über die Integrität, Proportion und Klarheit schlechthin kennenlernen. Das wird in den folgenden drei Artikeln im einzelnen geschehen. 1. Thomas' Integritätslehre Rein quantitativ betrachtet, betont Thomas häufig die Integrität als eine der wesentlichen Forderungen des objektiven Wesens der Schönheit. An der ersten Stelle nennt er sie im Haupttext. Deswegen soll Thomas' Integritätslehre zuerst untersucht werden. Nun kommen der Terminus : integritas und der andere : perf ectio in expliziten Schönheitstexten ebenso wie in anderen Texten vor. Um deswegen sicher zu sein, daß man den Sinn dieser zwei Termini in seiner Beziehung zur Schönheit richtig versteht und interpretiert, werden zuerst die Integritäts- und Perfektionstexte systematisch zusammengefaßt, die zugleich explizite Schönheitstexte darstellen. Anschließend wird dann die so dargestellte Integritätslehre durch die Angaben weiterer Integritäts- und Perfektionsstellen ergänzt. 1. Thomas spricht über diese Bedingung der Schönheit zum ersten Male, wo er darauf hinweist, daß nach Aristoteles die Größe (magnitudo) für die Schönheit schlechthin notwendig ist1. Diese Größe interpretiert er dann in der Behandlung der im Artikel zu erörternden Trinitätsfrage im Sinne von perfectio2. Von dieser Stelle an äußert Thomas seine Ansicht des öfteren über diesen Begriff und dessen ästhetische Rolle: — eine Doktrin, die folgendermaßen zusammengefaßt werden kann. In bezug auf die Terminologie ist es zunächst interessant, daß Thomas die ästhetische Rolle der Integrität an expliziten Schönheitsstellen entweder nur erwähnt, ohne das Wort integritas oder perfectio ausdrücklich zu benutzen3, oder die Integrität bzw. die Perfektion ausdrücklich nennt. Im letzten Falle benutzt Thomas einen dieser drei Termini: magnitudo, integritas, perfectio. Magnitudo ist ein Terminus des Aristoteles und wird von Thomas entweder im eigentlichen Sinne gebraucht (in welchem Fall ein Ding 1

In I. Sent. 31,2,1, sol. In quantum vero est filius verus, habet perfeclam naturam patris: et ita etiam habet magnitudinem quae consistit in perfectione divinae naturae. (Ebd.) — Vgl. In I. Sent. 19,1,2. » Ζ. Β. In I. Tim. 2,9, L. 2; De div. nom. 4,22,572; De regno, 1,3. — Vgl. auch ST I—II 52,2 c; De malo 2,4, ad 2; 8,4 c, usw. 2

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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mit magnitudo pulchrum sei, ohne sie aber nur formosum sein könne)4 oder in übertragenem Sinne, und in diesem Fall bedeutet sie Perfektion bzw. Integrität®. Perfectio und integritas sowie perfectus8 und integer8 bedeuten allerdings praktisch dasselbe und werden deswegen abwechselnd gebraucht*. Ihr gemeinsamer ästhetischer Sinn könne als complementum naturae definiert werden. Demgemäß sei ein Ding (unter anderem) erst dann schön, wenn es seiner Natur nach alles hat, was es haben muß7. In ihrer ästhetischen Rolle wird nun die Integrität von Thomas unterschiedlich beschrieben. Einmal sagt er ganz negativ: Dinge seien nur dann schön, wenn keine ihrer Teile häßlich sind8. Ein anderes Mal spricht er positiv und fordert für die Schönheit eines Dinges, daß es in allen seinen Teilen schön sei*, oder daß es völlig proportioniert10 oder geordnet sei11. Die innige Verbundenheit zwischen Schönheit und Integrität verrät Thomas nicht nur durch solche Wendungen, wie decor vel perfectio18, pulchritudo et perfectio18 und perfectio et decor14, oder decorare et perficere15 usw.18, sondern auch durch die Doktrin, daß die Integrität bzw. Perfektion, genau wie die Schönheit selbst, eine innere und äußere, bzw. wesentlich und akzidentell sein könne17. Daraus folgt aber, daß die Dinge je nach dem Grade der Integrität mehr oder weniger schön sind18. Wenn aber die Schönheit im engeren Sinne (simpliciter) genommen wird, so bestehe sie nur in einem Falle (uno modo), nämlich bei vollkommener Integrität 19 , und sie werde nur von einer vollkommenen Ursache zustande gebracht20. « In IV. Eth. L. 8 n. 738 * In I. Sent. 31,2,1, sol. ' Eine Ausnahme: corpus (i. e. martyrum resurgentium) non sit minus integrum, sed magis perfectum. — ST III 64,4 ad 2. ' Vgl.: In X. Eth. L. 3 n. 1984 und De pot. 4.1 c.). 8 De virt. in comm. a. 9 ad 16. » De malo 2,4 ad 2 und ST I—II 62,2 c. 10 De div. nom. 4,22,672. 11 Ζ. Β. In I. Tim. 2,9, L. 2 und De regno. I. 3. — Daß auch vollständige Klarheit unter Integrität verstanden werden kann, ersieht man aus dem Augustin-Zitat in De virt. card. a. 2,12a. und besonders aus In II. Eth. L. 7 n. 320. " ST I—II 4,6 ad 1. 11 ST I—II 112,4 c. m ST I—19,9,2a und ad 2. " In Rom. 13,12, L. 3. 11 Z. B. : Comp, theol. pars II, cap. 9 η. 694. 17 In X. Eth. L. 6 n. 2031 und ST I—II 4,6 c. — ParaUelstellen über dieselben Einteilungen der Schönheit siehe in Anm. 64 im vorigen Kapitel, S. 96. 18 In X. Eth. L. 3 n. 1984; De pot. 4,2 c; De malo 2,9 c. fin. und ST I, 69,1c. 18 De div. nom. 4,22,672 und In II. Eth. L. 7 n. 320. 80 De regno, I. 3.

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Systematische Analyse

2. Soviel erfährt man an expliziten Schönheitsstellen. Diese Information über die Integrität und durch sie über die Schönheit kann aber stark erweitert werden, wenn man auch andere, nicht ästhetische Fragen behandelnde Integritätstexte konsultiert. Mit deren Hilfe lernt man Thomas' metaphysische Integritätslehre kennen, die einige Definitionen des Terminus perfectio und seiner Synonyme, wie integritas, bonitas, totum und zahlreiche Divisionen umfaßt. Als Ausgangspunkt dient für Thomas die folgende Definition : Periectum dicitur cui nihil deest secundum modum suae perfectionis11.

Oder noch kürzer gefaßt : Periec tu m est cui nihil deest 11 .

Diese Definition wird an verschiedenen Stellen variiert23. Wie nun das Vollkommene (perfectum) nach Thomas das ist, dem nichts fehlt von dem, was es haben muß, ist das, was etwas vollkommen macht, die Vollkommenheit (perfectio) jenes Dinges24. Wenn Thomas dann die Vollkommenheit, also das Prinzip des Vollkommenen mit der Gutheit schlechthin identifiziert : perfectio uniuscuiusque est bonitas eius 2 ·,

beginnt er schon die Fundamente des Verhältnisses der Schönheit zu anderen Transzendentalien auszubauen, wie später gezeigt wird. Zunächst erfahren wir von Thomas die verschiedenen Synonyme von perfectio bzw. perfectum. Unter diesen ist für uns der Terminus integritas bzw. integrum der wichtigste, über den er folgendermaßen spricht : (Aristoteles) dicit, quod haec tria, omne et totum et perfectum, non differunt ab invicem secundum speciem, id est secundum formalem rationem, quia omnia important integritatem quandam 2 *.

Doch seien perfectum und integrum dem Begriff nach verschieden, und zwar so, daß die Vollkommenheit das positiv ausdrücke, was von der Integrität negativ bezeichnet wird27. So wäre denn das Vollkommene das, das alles hat, was es haben muß, während integrum das bedeute, dem nichts von dem fehlt, was es haben muß28. Damit lehrt nun Thomas über das Verhältnis (der Identität) der Integrität und der Vollkommen11

ST I,4,lc. " ST I 91,3,2a. 33 Z.B.: De spirit, créât, q. un. a. 8 c. In II Decáelo et m., L. 5 n. 347; De div. nom. 2,1,114. 24 So z. B. In I. De caelo et m., L. 4 n. 42 und viele Stellen der Divisionen der perfectio. 26 SCG I, 38 — ferner I, 37, princ., ST I 5,1 und ebd. I. 4 praemb. M In I. De caelo, L. 2 n. 15 17 De div. nom. 2,1,115. 28 Vgl. dazu Quodlib. VII,5,2 c. — Derselbe Gedanke taucht schon in In IV. Sent. 44,3,1, sol. I. auf, der auch im ästhetischen Sinne genommen werden kann.

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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heit in nichtästhetischen Texten dasselbe, was er im Haupttext über das Wesen der Schönheit äußert : ad pulchritudinem tria requiruntur. Primo quidem integritas sive perfection*.

Aus diesem Grunde können seine zahlreichen verschiedenen Einteilungen der perfectio als ästhetisch bedeutungsvoll betrachtet werden. 3. Thomas' Einteilungen der perfectio umfassen seine ganze Metaphysik, Kosmologie und Psychologie, sogar seine Ethik und die verschiedensten Gebiete der Dogmatik, also seine Philosophie und Theologie schlechthin. Unter diesen Umständen mag man dann vielleicht die Aufzählung dieser Einteilungen mit der folgenden Feststellung einführen: es gibt teils Einteilungen, die beide Hauptgebiete seiner literarischen Tätigkeit umfassen, teils aber solche, die innerhalb eines dieser zwei Wissenschaftsbereiche verbleiben. Die Gebiete der Theologie und der Philosophie innfassen zum Beispiel seine vierfache Einteilung (perfectio quadruplex) in perfectio naturae, scientiae, gratiae et gloriae80, oder eine andere in perfectio naturae, gratiae et gloriae81, eine dritte in perfectio naturae und gratiae82 oder in perfectio naturae conditae und naturae glorificatae83; oder — nicht mehr Einzeldinge, sondern die geschaffene Welt in ihrer Ganzheit betreffend — die Einteilung in perfectio secundum statum huius mutationis und secundum futurae novitatis84. Die meisten Einteilungen sind jedoch philosophischer Natur. Philosophisch erkennbare perfectio sei nun entweder eine in metaphorisch-übertragenem (metaphorice, transumptive) oder eine im eigentlichen Sinne (proprie et simpliciter dicta)36. Nun betreffen die philosophischen Einteilungen der perfectio im eigentlichen Sinne einerseits einzelne Dinge, anderseits das Universum oder die geschaffene Welt schlechthin, ebenso wie Thomas auch über die Schönheit von Einzeldingen und von der Welt spricht. Betreffs der Einzeldinge gebe es perfectio simpliciter und secundum quid, und zwar in dreifachem Sinne. Im weitesten Sinn weist diese Einteilung auf die Vollkommenheit Gottes als absoluter oder unbegrenzter und unendlicher perfectio und auf die kreatürliche Vollkommenheit im Sinne von relativa perfectio, die also irgendwie beschränkt, begrenzt und endlich ist38. In weiterem Sinne bedeute die** ST I 39,8 c. In Is. 18 fin. S1 In I I I . Sent. 1,1,4, ad 1, η. 74. » In IV. Sent. 39,1,2, sol. » In IV. Sent. 48,2,6, ad 3. " In IV. Sent. 48,2,6, ad 3. " Vgl. ST I—II 65,3 ad 1 und II. In Sent. 44,1,1, ad 2. ·· ST I I — I I 161,1, ad 4. 80

Systematische Analyse

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selbe Einteilung die Vollkommenheit eines (endlichen) Dinges schlechthin und die desselben unter einem bestimmten Gesichtspunkt37. Endlich, in engerem Sinn, wird sie von Thomas als Einteilung in entitative und operative Vollkommenheit der Einzeldinge gebraucht, wo perfectio simpliciter die Vollkommenheit der operatio und perfectio secundum quid die des ipsum esse rei bedeutet38. Da nun das esse der operatio gegenüber eine natürliche Priorität (prioritas naturae) hat 89 , wird die perfectio secundum quid von Thomas auch perfectio prima und die perfectio simpliciter auch perfectio secunda genannt40. Anderseits, da das Endziel eines Dinges, wie die Seligkeit des Menschen, chronologisch zuletzt und nur nach allem anderen erzielt werden kann41, wird die perfectio operationis oder finis auch perfectio ultima genannt42. Von der Natur der beiden Vollkommenheiten her ist es klar, daß die erste Vollkommenheit die Ursache der zweiten sei43; ferner daß das Subjekt der perfectio secunda das ens actu completum in esse primo, dagegen das Subjekt der ersten Vollkommenheit das Ding in potentia tantum, oder — im Falle körperlicher Dinge — die materia prima sei44 ; und endlich, daß das Subjekt der ersten Vollkommenheit ein perfectibile in bezug auf die prima perfectio als sein finis sei, während das Subjekt der zweiten Vollkommenheit, die Species selbst, ein perfectibile darstelle, dessen finis die operatio sei46. Da weiterhin nicht nur eine Substanz oder eine substantielle Form, sondern auch Akzidentien oder akzidentelle Formen Dinge darstellen, wird von Thomas die perfectio prima in perfectio essentialis und accidentalis eingeteilt46. Manchmal sieht allerdings Thomas von dem gemeinsamen genus proximum essentieller und akzidenteller Vollkommenheit ab und spricht statt dessen über eine dreifache Vollkommenheit, das ist die des Wesens, die der Akzidentien und die des Ziels47, oder aber er subdividiert die essentielle Vollkommenheit der materiellen Dinge in perfectio 37

ι — I i 98,2 ad 1. Z. B. : In Galat. 5,22, L. 6. 3 » Vgl.: In IV. Sent. 2,1,3, sol. η. 54. 40 Vgl.: De ver. l.lOad 3; In II. Sent. 16,3,1, sol. ; In IV. Sent. 8,1,1, sol. I. ad 1 η. 18; 26,2,4 sol.; De malo 1,4, c . ; S T I 73,1 c und III 29,2 c, usw. 41 Vgl.: ST I 73,1 c und In IV. Sent. 8,1,1, sol. I η. 18. 42 ST II—II 184,1 c. — Vgl. auch ST I—II 3,2 c. 43 ST I 73,1, ad 2. — Vgl. In II. Sent. 37,3,2 ad 2. 44 In II. Sent. 34,1,4, sol. 45 Vgl. In IV. Sent. 49,3,4, sol. III ad 2. 41 Das folgt daraus, daß Thomas die erste Vollkommenheit teils als forma substantialis (z. B. : In II. Sent. 34,1,4 c, vgl. auch ST III 29,2 c), oder substantia (vgl. ST I 73, 1 c und SCG IV 88) ; teils aber als habitus — offenbar akzidenteller Natur — kennzeichnet: De malo I,4c. 47 ST I 6,3 c. 88

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dispositionis (das ist materiae ad formam) und perfectio formae und faßt, die akzidentelle Vollkommenheit auslassend, diese zwei mit der perfectio finis in eine dreifache Einteilung zusammen48. Wie aber das ursprüngliche Genus von perfectio essentialis, das der perfectio operationis gegenübergestellt ist, so wird auch diese letztere Vollkommenheit, die der operatio oder des finis subdividiert. So wird die operative Vollkommenheit bei Thomas dreifach eingeteilt : perfectio in obiecto, habitu et delectatione4·, während das perfectum secundum finem ein Zweifaches darstellt, nämlich das schlechthin Vollkommene und das relativ Vollkommene60. Mit dieser Einteilung wird dann die Möglichkeit variierender Grade von (diesmal dynamischer) Perfektion anerkannt, was mit einer an expliziten Schönheitsstellen ausgedrückten ähnlichen Doktrin in vollem Einklang steht61. Wenn man auch von der Aufzählung weiterer und weniger wichtiger Einteilungen52 absieht, hat man doch schon einen Einblick in Thomas' Perfektionslehre, besonders in den Reichtum an Vollkommenheit, die er in Realen entdeckt. Hier liegen die Grundlagen und Prinzipien der Schönheit des Wirklichen. 4. Thomas begnügt sich aber nicht mit der Beschreibung der Vollkommenheiten der Einzelwesen: er zählt außerdem die perfectiones mundi universi auf, und zwar mittels verschiedener Einteilungen. Eine davon ist die in perfectio secundum diversitatem naturarum und secundum multiplicationem individuorum in una natura68. Diese 4> ST I I I 27,6 ad 2. — Vgl. als eine weitere Variante die Einteilung der perfectio virtutis in die in operationibus, in die respectu ipsius esse rei und die secundum plenitudinem perfectionis respectu ipsius entis: In I. Sent. 19,3,1, sol. " In II. Sent. 38,1,2 sol. De perfectione vitae spirit, cap. 1 η. 659. — Damit schafft, wie ersichtlich, Thomas den Termini »simpliciter« und »secundum quid« in bezug auf Perfektion außer den in Anm. 36—38 bereits erwähnten Bedeutungen noch eine vierte. " Vgl. Anm. 18. 6i Thomas spricht ja auch — im Zusammenhang mit der notwendigen Vollkommenheit — über die für das Individuum oder für die Spezies notwendige (necessarium ad esse individui und ad conservationem speciei — In II. Sent. 18,1,1 ad 3.) ; in bezug auf operative Vollkommenheit über perfectio virtutis an sich und im Verhältnis zu einer sie aktualisierenden höheren Kraft (In II. Sent. 44,2,1 ad 4.) ; in bezug auf die Tugend schlechthin über eine dreifache Vollkommenheit (ad speciem virtutis, ad statum perfectionis, ad quam perfectionem virtus pervenit per augmentum; ad modum — In III. Sent. 34,1,4 sol. η. 109f.) ; in bezug auf die Vollkommenheit des Einzelwesens schlechthin über perfectio maior simpliciter und maior secundum statum (In IV. Sent. 8,1,2 sol. I ad 2 η. 48), oder über perfectio qua in se subsistit und qua ad res alias ordinatur (In I I I . Sent. 27,1,4 sol. η. 74) usw. (Diese letzte Einteilung f ü h r t schon zu der zweiten Hauptgruppe von Vollkommenheiten, nämlich denen der Welt.) — Ersichtlich sagt Thomas nicht ohne Grund, daß »perfectum multipliciter dicitur« (De perf. vitae spirit, c. 1 n. 569). ·» In I. Sent. 44,1,2 ad 6.

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zwei stellen offenbar die essentielle bzw. akzidentelle Vollkommenheit der Welt dar54. Die erste, die die geistigen Substanzen, die Himmelskörper und die irdischen Species umfasse, sei nicht nur das Hauptzeichen für die Größe der Güte und schöpferischen Kunst Gottes55, sondern sie besitze auch, wie die Welt selbst, Dauer, sogar Ewigkeit56. Sie ist übrigens mit der an einigen Schönheitsstellen, wie z. B.InX.Eth. 1.6 n.2031 erwähnten Einteilung in perfectio formalis und materialis identisch. Nun seien die geistigen Wesen im Vergleich mit den körperlichen durch ihren Intellekt und Willen mindestens potentiell von unendlicher Vollkommenheit87. Dabei können trotz ihrer quantitativen Unvollkommenheit auch alle körperlichen Dinge, mindestens von einem spezifischen Gesichtspunkt aus betrachtet (secundum dimensiones), wahrhaft vollkommen genannt werden58. Eine weitere Einteilung der Vollkommenheit der Welt ist die in entitative (secundum integritatem partium universi) und in operative (secundum operationem partium)59, eine Division, die der in perfectio prima und secunda der Einzeldinge entspricht. Die entitative Weltvollkommenheit könne wiederum zweifach dividiert werden, eine Einteilung, die vielleicht am besten als eine in perfectio secundum partes mundi und secundum partes partium charakterisiert werden kann 80 . Man mag die Aufzählung dieser Divisionen mit dem Hinweis zu Ende bringen, daß es nach Thomas außer diesen philosophischen Divisionen auch einige völlig theologischer Natur gibt81. 5. Zusammenfassend kann man nun sagen, daß nach Thomas' Lehre einerseits dort, wo immer es Integrität oder Perfektion gebe, eine wesentliche Forderung und Bedingung der Schönheit erfüllt und vorhanden sei, anderseits Integrität oder Perfektion in verschiedenstem Sinne genommen werden könne und deswegen in den verschiedensten Einzeldingen ebenso wie in Gruppen von Dingen zu finden sei: eine Doktrin, welche die metaphysische Dimension der thomistischen Schönheitslehre wohl erahnen läßt. M

Vgl.: In II. Sent. 17,2,2 ad 6., In II. Sent. 3,1,4 ad 3, und De ver. 5,3 ad 2. In II. Sent. 3,1,4 ad 3. De ver. 5,3 c. Vgl. In III. Sent. 27,1,4 sol. η. 75. In I. De cáelo et m. L. 2 η. 17 Vgl. ST I 73,1 ad 2. Vgl. In Hebr. 4,3, L. 1. ,l Ζ. B. die Einteilung in perfectio ad formam receptam und perfectio per coniunctionem ad principium perfectionis (In IV. Sent. 8,1,3 sol. I ad 2. η. 79) oder die in perfectio beatitudinis per essentiam, secundum operationem unicam et sempiternam und perfectio secundum statum praesentis vitae, oder secundum operationem nec continuarti nec unicam. (ST I—II 3,2 ad 4. — Vgl. ST I 103,1 c und In II. Sent. 18,2,2 sol. fin.) " " " " "

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Sollte man dann endlich noch die Frage aufwerfen, wie diese Integritätslehre in ihrem ästhetischen Charakter von Thomas begründet wird, so findet man, daß er darauf eine schlichte, kurzgefaßte Antwort bereit hat : ad pulchritudinem tria requiruntur. Primo quidem integritas sive perfectio; quae enim diminuta sunt, hoc ipso turpia sunt*1.

Aus dieser seiner Antwort ersieht man gleich zwei Tatsachen. Erstens, daß Thomas diese erste Forderung oder Wesensbedingimg der Schönheit auf Schönheitserfahrung gebaut hat und sie als solche nur aposteriorisch zu erweisen ist. Zweitens, und darüber hinaus: da jede Schönheitserfahrung uns unmittelbar nur so viel lehrt, daß »pulchra sunt quae visa placent«, hat Thomas, in der Entfaltung seiner Theorie über das objektive Wesen der Schönheit von dem subjektiv-relativen »Wesen« der Schönheit ausgehend, ein allgemeines Beispiel dafür gegeben, wie man über das Schöne und die Schönheit zu philosophieren habe; speziell für den Thomisten ist hier zu lernen, in welcher Weise er die Schönheitslehre des Aquinaten zu interpretieren und zu verteidigen habe. 2. Thomas' Proportionslehre Im Haupttext der Lehre über das objektive Wesen der Schönheit nennt Thomas die Proportion oder die Konsonanz gleich nach der Integrität, also als die zweite Wesensforderung der Schönheit schlechthin: Nam ad pulchritudinem tria requiruntur. Primo quidem integritas sive perfectio . . . Et debita proportio sive consonantia1.

So müssen wir uns also zunächst mit der Frage befassen, was für Thomas Proportion oder Konsonanz sei. Das bedeutet aber, daß seine ganze Proportions- und Konsonanzlehre zu untersuchen ist. Und da Thomas auch mehrere Synonyme dieser zwei Termini gebraucht, so kann unsere Untersuchung seiner Proportionslehre passend mit der dieser weiteren Begriffe ergänzt werden. Was die proportio- und consonantia-Texte im einzelnen betrifft, werden sie auf dieselbe Weise gebracht, wie die integritas-Texte : nämlich zuerst diejenigen, die zugleich explizite Schönheitstexte sind und anschließend weitere, die seine Proportionslehre entsprechend vertiefen und erweitern. 1. Proportion kann, so kann die systematische Darlegung der Doktrin auf Grund expliziter Schönheits- und Proportionsstellen beginnen, in Gott selbst ebenso wie in der Kreatur schlechthin vorhanden sein. ·« ST 139,8c. 1 ST I 39,8c.

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In Gott, absolut betrachtet, gebe es Proportion (harmonía divina, perfecta consonanza)2 insofern, als alle göttlichen Attribute in ihm absolut eins, d. h. mit seiner Essenz und dadurch auch mit seiner Existenz identisch sind3. Dann komme noch eine andere Proportion dazu, wenn man Gott in bezug auf die geschaffenen Dinge betrachtet. Diese bestehe darin, daß einerseits in Gott die schöpferischen Ideen aller Kreaturen seien und eins seien4, anderseits, daß aus der göttlichen Weisheit, als aus iherr Urquelle, jede kreatürliche Proportion herstamme5. Ähnlich gebe es eine doppelte Proportion in der geschaffenen Welt überhaupt, und zwar zwischen der Welt und ihrem Schöpfer einerseits und zwischen den Geschöpfen anderseits·. Dazu sollen noch Proportionen innerhalb jedes Geschöpfes kommen7, und ferner eine, die auch zwischen allen Nichtseienden und Gott bestehe8. Die kreatürliche Proportion zu Gott bestehe darin, daß die Kreaturen alle von Gott als ihrer gemeinsamen causa efficiens, und zwar gemäß ihren eigenen, im Intellekt Gottes existierenden rationes herstammen, folglich Gott auch zu ihrer gemeinsamen causa exemplaris haben9 und und zugleich alle sich in ihrem Streben nach demselben Ziel, das ist Gott, als finis ultimus, vereinigen10. Dieser dreifachen göttlichen Kausalität als der ratio proportionis creaturarum ist es dann zuzuschreiben, daß jede geschöpfliche Konsonanz in der göttlichen Schönheit ihren Ursprung habe11. Die kreatürliche Proportion in sich bestehe nun in bezug auf die Existenz sowohl wie auf die Essenz. Die Proportion in bezug auf den Akt des esse bestehe darin, daß jedes geschaffene Ding eben existiere12 und daß jedem auch die Permanenz in der Existenz zukomme13. * De div. nom. 1,2,69 Vgl.: »(consonantia) triplex in eo (i. e. filio) consideran potest: id est consonantia ipsius ad patrem cui est per omnia aequalis et similis . . . Item consonantia sui ad seipsum inquantum omnia attributa in eo non differunt, sed unum sunt, et hoc tangit (i. e. Augustinus), ubi dicit: »Cui non est aliud vivere et aliud esse, sed idem est esse et vivere.« (In I. Sent. 31,2,1 sol.) * Item consonantia ad res creatas, quarum rationes in eo sunt, et unum sunt in eo. (Ebd.) 6 De div. nom. 1,2,59. • De div. nom. 4,6,340. 7 Vgl. SCG I I 64; De div. nom. 4,5,339; 4,9,401; 4,22,572; ST I — I I 54,1 c, usw. — Diese Proportion wird erst später ausführlich untersucht. 8 omnia existentia sunt ex pulchro et bono et omnia non-existentia supersubstantialiter, quia scilicet negationes omnium rerum conveniunt deo per suum excessum. — De div. nom. 4,8,392. • ex ipso (sc. deo) enim sicut ex causa activa et per ipsum, sicut per causam exemplarem. — De div. nom. 4,8,384. — Vgl. auch ebd. n. 390f. 1 0 De div. nom. 7,4,733. — Vgl.: ebd. 3,6,340; 4,8,382 und 4,6,367. 11 De div. nom. 4,6,349. — Vgl. ebd. 4,5,339. " De div. nom. 4,6,364. — Vgl. ebd. n. 363. 1 5 Vgl. ebd. n. 363f. s

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In bezug auf die Essenz soll nun die Proportion der Kreaturen soviel bedeuten, daß sie eine material wie formal verschiedene Essenz haben14 : ein Umstand, der als die Grundlage zu einer aufwärtssteigenden Stufenfolge und Hierarchie der Vollkommenheiten1® diene, und letztlich zu einer universellen Ordnung aller Kreaturen von den niedrigsten und am wenigsten edlen bis zu den höchsten, vollkommensten und Gott ähnlichsten16. Diese materiale und formale Pluralität und Hierarchie konstituierende Proportioniertheit der Kreaturen habe aber gleich weitere Proportionen zur Folge, nämlich (in bezug auf Substanzen) Identität und Andersheit, (in Bezug auf Qualitäten) Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, (in bezug auf Quantitäten) Gleichheit und Ungleichheit, die alle zwar Gegenstände sind, doch generisch und materiell übereinkommen17. Nun sollen die substantiellen Unterschiede geistige wie körperliche Dinge charakterisieren18; die eigentümlichen akzidentellen Unterschiede der letzteren, das ist die quantitativen Differenzen seien in kontinuierlichen Quantitäten 1 ' ebenso wie in diskreten80 vorhanden, und die qualitativen Unterschiede sollen Harmonien produzieren21. Zu diesen Genera geschöpflicher Differenzen kommen noch weitere Unterschiede in den Genera der Relation22, der Aktion 2 · bzw. Ursache und Wirkung21 und des situs®. Von diesen stelle die Aktion die Grundlage einer dreifachen Proportion dar, indem nämlich jeder Teil der Welt dem anderen passend dienlich sei2", die höherstehenden Teile für die niedrigeren sorgen und ihnen Vollkommenheiten erteilen»7 und die untergeordneten sich an die höheren wenden um ihrer Vollendung willen28. Wie aus dieser Analyse der Aktion hinsichtlich der Proportion hervorgeht, sei also die Bedeutung aller dieser kategorischen Differenzen der Geschöpfe darin zu suchen, daß die Unterschiede eben die Quellen kreatürlicher Proportionen sind. " ST I 47,2c. 1S Vgl.: In II. Sent. 34,1,1 sol. und In II. Sent. 9,1.6 sed c. 2a. " Vgl. In Symb. Ap. art. 1 η. 878; ST I 36,2 c und De div. nom. 4,6,364. 17 De div. nom. 4,6,361. 18 De div. nom. 4,8,384. ia parvitas, aequalitas, magnitudines — ebd. 4,8,385. 10 unum — multitudo, coniunctiones partium, ebd. n. 386. « Ebd. n. 387. — Vgl. auch 4,6,364. *> Ebd. 4,8,387. » Ebd. n. 388. u Ebd. n. 387. » Ebd. " Ebd. 4,6,364 und 4,6,362. » Ebd. 4,6,364; 4,8,381; 4,6,362. " Ebd. 4,6,362.

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Systematische Analyse

Neben allen diesen Proportionen, die auch als eine vierfache convenientia omnium partium universi betrachtet werden können 29 , gebe es auch weitere universelle Proportionen, wie z. B. die Präponderanz des bonum universi über das bonum particulare 30 , und die Kontraste der Notwendigkeit und der Kontingenz 31 , der Bewegung und der Ruhe 82 , der Gutheit und Schlechtigkeit 33 , aus denen ebenso eine große Schönheit herstamme 34 , wie auch der Gesang durch den Einschub einer Pause noch schöner wird35. Aus dieser Aufzählung leuchtet es schon ein, daß diese universellen kreatiirlichen Proportionen teils der Natur der einzelnen Dinge entsprechen, d. h. essentiell sind, teils aber nur akzidenteller Natur 3 ". Die profundeste Proportion der Dinge besteht, aber nach Thomas' Lehre in der Analogie der Wirklichkeit schlechthin, indem sie Gott wie die essentiell verschiedenen und eine grandiose Hierarchie bildenden Kreaturen umfasse: Deus . . . omnibus entibus creatis dat pulchritudinem secundum uniuscuiusque 37 .

proprietatem

Außer den universellen Proportionen der Geschöpfe gibt es nach Thomas auch zahlreiche partikuläre Proportionen in der geschaffenen Welt, und zwar innerhalb verschiedener geschöpflicher Genera, wie unter den Engeln 38 und unter den körperlichen Dingen. Diese letzten stimmen als Ganzheiten und in ihren Prinzipien nicht nur mit sich selbst und dem mit ihnen Koordinierten (das gilt allgemein für jedes Ding!), sondern auch, insofern diese körperlichen Dinge Ganzheiten sind, mit ihren Teilen und, insofern sie Teile sind, mit ihren Ganzheiten überein 39 . Außer dieser vierfachen Konvenienz der körperlichen Dinge gebe es noch Proportionen zwischen ihren wesentlichen Prinzipien, das ist ihrer materia und forma, und zwar beiderseitig 40 , und ebenfalls viele innerhalb der einzelnen Species körperlicher Wesen, wie z. B. der verschönernde Kontrast des Lichtes und Schat2 9 Diese convenientia sei die durch die gemeinsame Existenz, durch die Einheit der Ordnung, durch die gegenseitige Hilfe und durch die gebührende Kongruenz. — Ebd. 4,6,364. — Vgl. 4,5,340. 9 0 In II. Sent. 29,1,3, ad 4. — Vgl. ebd. 42,1,5 ad 4. 5 1 SCG I I I 72,3a. 3 2 motus et quies. — De div. nom. 4,6,367. 33 SCG 111,71. 34 Vgl.: SCG I I I 72,3a. " SCG I I I 71. 3 8 De div. nom. 4,8,385. 3 7 De div. nom. 4,5,339. 3 8 Vgl. In II. Sent. 9 , 1 , 5 sed c. 2a und ad 2. 3 · De div. nom. 4,9,406. 4 0 Vgl. einerseits In IV. Sent. 17,1,2 sol. II η. 64 und 66; andererseits De div. nom. 4,9,401.

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tens41, die schickliche Proportion der Quantität und des situs im menschlichen Körper42, die der menschlichen Natur entsprechende Disposition seiner einzelnen Glieder43, oder die Harmonie seiner Glieder und Farben44; ferner, in der menschlichen Seele, die verschönernde Verähnlichung mit Gott46 usw.; oder, bei den Kunstdingen, die Eignung des Stoffes zur Verwirklichung des Kunstwerks46, die Proportion zwischen dem Kunstwerk und dessen Ziel47. Endlich soll hier noch darauf hingewiesen werden, daß Thomas außer den natürlichen Proportionen der Wirklichkeit auch einige übernatürliche, bloß theologisch erkennbare Proportionen beschreibt, wie die des Sohnes mit seinem göttlichen Vater48 und die Vereinigung der denkbar größten Kontraste, nämlich Gottes und des Geschöpfes in Christo, woraus eine unendliche Schönheit ausstrahle49. 2. Was ist aber diese geheimnisvoll in allem innewohnende und aus allem hervorschimmernde Proportion? Zur Beantwortung dieser Frage kann man auf Grund der früher zitierten Schönheitsstellen, an denen dieser Begriff mit verschiedenen Termini ausgedrückt ist, alle Texte benutzen, die Definitionen oder Beschreibungen von proportio, consonantia, commensuratio enthalten. Diese letzten beiden werden uns wiederum zu weiteren Synonymen, und zwar zu harmonía und convenientia führen. Zuerst soll der erste Terminus, das ist proportio, untersucht werden. Eine geeignete Definition seines Sinnes findet man in Thomas' Kommentar zu Boethii De trinitate: proportio nihil aliud est quam habitudo duorum ad invicetn convenientium in aliquo, secundum quod conveniunt aut différant" 1 .

Proportion bedeute also nach dieser Feststellung habitudo (die wiederum relatio schlechthin bedeutet) zwischen zwei beliebigen Dingen. Diese einleitende Definition läßt uns wissen, was man bereits aus den bisher zitierten Schönheitsstellen über die Proportion hat ersehen können : den großen metaphysischen Umfang dieser Wesensforderung der Schönheit. Was Thomas an weiteren Stellen dazu äußert, wird diese anfängliche Erkenntnis nur noch bestätigen und klarer machen. 41

claritas et obscuratio lunae. — In Ps. 10,1. De div. nom. 4,5,339. dispositio naturae conveniens est pulchritudo (ST I—II 54,1 c). — Vgl. ST I—II 49,4 c ; De div. nom. 4,22,572 und 589 usw. 44 SCG II 64. 45 In IV. Sent. 18,1,2 sol. I. η. 53. 41 Vgl. ζ. Β. In III. Sent. 1,1,1 ad 3 η. 19. 47 ST I 91,3 c. 48 In I. Sent. 31,2,1 sol. 48 In III. Sent. 1,1,3,3a, n. 53. 50 In Boet. De trin. prooem. q. 1 a. 2 ad 3. 42

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Nun könne, sagt uns Thomas, die Proportion in engerem und in weiterem Sinn, also eigentümlich und primär, oder uneigentlich und sekundär-derivativ genommen werden. Im ersten Fall sei die Proportion eine quantitative Relation von zwei Dingen, im zweiten Fall eine eben nicht-quantitative Relation. Das ist eine Lehre, die zu wiederholen er nicht müde wird. So drückt er sie zuerst im dritten 61 und vierten Buch62 des Sentenzenkommentars aus. Ähnlich spricht er auch in späteren Werken58. Nun sei aber die Proportion im ersten Sinne, die also für körperliche Dinge gelte5*, wiederum zweifach. Sie möge nämlich eine Relation entweder zwischen zwei Quantitäten oder zwischen zwei Relationen bedeuten. Im letzten Fall wird die Proportion oft proportionalitas genannt : aliquid dicitur proportionatum alicui dupliciter. Uno modo quia inter ea attenditur proportio . . . Alio modo per modum proportionalitatis . . . : est enim proportionalitas similitudo proportionum".

Die erste Art von proportio sei arithmetischer, die zweite geometrischer Natur 5 ·. Die geometrische Proportionalität sei wiederum disiuncta, die vier verschiedene Termini habe, oder continua, von deren vier Termini zwei identisch seien57. Diese letzte möge wiederum permutata88 oder impermutabilis sein. Auch die arithmetische Proportion könne vielfach sein, wie z. B. dupla-duplex und tripla59, decupla und subdecupla®0, sesquiáltera bzw. sesquitertia61 usw. und könne entweder nach ihren Genera oder nach den Arten des jeweiligen Genus aufgeteilt werden·2. Die Proportion im uneigentlichen Sinne ist aber für unser Thema natürlich weit bedeutender. 51

In III. Sent. 1,1,1 ad 3. » In IV. Sent. 49,2,1 ad 6. s> Z. B. ST I 12,1 ad 4 und Quodl. X, 8, art. un. (17), ad 1. M Wenn immer Thomas über proportio partium oder membrorum spricht, wie z. B. In I. Cor. 11,4 L. 2 ; Quodl. VII,5,2 c ; SCG III 139 ; In Ps. 44,2 ST III 87,2,3a usw., so nimmt er diesen Terminus in dem ersten, quantitativen Sinne. " De ver. 2,3 ad 4. — Vgl. In IV. Sent. 1,1,1,6 ad 3 n. 52; In IV Eth. L. 5 n. 939; In I. Post. An. L. 12 e; In I. Sent. 34,3,1 ad 2; In II. Sent. 9,1,3 ad 5; In IV. Sent. 32,1,3 sol.; 49,2,1 ad 6; In IX. Met. L. 5 η. 1828 und De sensu et s. L. 7 c. " Vgl. In V. Eth. L. 6 n. 944; L. 6 n. 949; In II. Eth. L. 6 n. 312; ST I I — I I 61,2 c; 68,10 c, usw. " In V. Eth. L. 6 n. 940 und in I. Post. An. L. 12 e. 68 In I. Post. Anal. L. 12 e, In V. Eth. L. δ η. 941; Quodl. 1,10,22 ad 1 und In IV. Phys. L. 18 n. 585. " Ζ. B.: In II. Sent. 9,1,3 ad 5; In I. Post. An. 12 e; In V. Met. L. 17 n. 1009ff.; In V. Eth. L. 6 n. 940; ST I 31,1 ad 3 usw. 60 Vgl. SCG I 20 und In III. Phys. L. 10 n. 378. 81 Vgl. In II. Sent. 9,1,3 ad 5.; In V. Met. L. 17 n. 1012; In V. Eth. L. 6 n. 950; In II. De caelo et m. L. 14 n. 422; ST II—II 61,2 c, usw. «2 In II. Sent. 9,1,3 ad 5.

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Nun könne, lehrt Thomas, eine Proportion im uneigentlichen Sinn zwischen Dingen bestehen, die erstens im Genus der Qualität übereinkommen·3 ; weiterhin zwischen Dingen, die in irgendwelcher Ordnung übereinkommen·4, wie z. B. Potenz und Akt, Materie und Form, Ursache und Wirkimg, Gott und Geschöpf, Erkennender und Erkenntnisobjekt· 5 . Daß qualitative Proportion Harmonie sei, wissen wir von Thomas' expliziten Feststellungen". Was dann die Proportion von Dingen, die in irgendwelcher Ordnung miteinander übereinkommen, betrifft, kann man nicht die ungeheure Ausdehnung übersehen, die durch diese Doktrin der Proportion von Thomas zugeschrieben wird. Tatsächlich, hätte er nicht mehr als dies eine festgestellt, daß es nämlich Proportion zwischen Potenz und Akt, Ursache und Wirkung und Erkeimendem und Erkenntnisobjekt gebe: es wäre allein ausreichend gewesen, um zu schließen, daß nach Thomas überall, in allen Seienden und Seinsrelationen, dieses Wesenselement der Schönheit vorhanden ist. Die Potenz-Akt-Relation gilt nach seiner Philosophie für die materielle Substanz ebenso wie für die Essenz-Existenz-Relation und die Substanz-Akzidens-Relation aller Geschöpfe; ferner stellt die Ursache-Wirkung-Relation auch das Verhältnis der Welt zu ihrem Schöpfer sowie aller kreatürlichen Ursachen und Wirkungen in die Ordnung der Proportion hinein. So umfaßt also Thomas" Proportionslehre, wie sie an Stellen, die mit der Schönheit gar nichts zu tun haben, entfaltet wird, ebenso wie an expliziten Schönheitsstellen, den ganzen Bereich der Wirklichkeit und seiner Metaphysik, dazu das Reich der Erkenntnis und folglich seiner Epistemologie. Trotzdem begnügt sich Thomas keineswegs damit, lediglich die fundamentalen Arten von nicht-quantitativer und nicht-qualitativer Proportion zu benennen. Tatsächlich dient diese kurze, aber reiche Liste von metaphysischen Proportionen nur als Ausgangspunkt zu einer sich immer mehr vervielfältigenden Behandlung von weiteren Proportionen, die er in seinen Werken aufzählt. So erwähnt und behandelt er außer der fundamentalen Proportion zwischen Akt und Potenz schlechthin87 die zwischen perfectio und perfectibile·8, zwischen materia und forma· 8 , zwischen agens und ω

Ζ. Β. Oberflächen: In Boet. De trin. prooem. 1,2 ad 3. conveniunt in aliquo ordine — ebd. • 6 Vgl.: In III. Sent. 1,1,1 ad 3.; De ver. 2,3 ad 4.; 8,1 ad 6.; ST 1,12,1 ad 4. · · De div. nom. 4,8,386; In I. De an. L. 9 n. 136; De sensu et s. L. 7 usw. 47 Vgl. außer den bereits zitierten Texten (Anm. 66) : In II. Sent. 1,2,4 ad 3. ; SCG II 63 usw. · · Vgl. In I. Sent. 3,4,2 sed c. 3a; In II. Sent. 30,1,2 ad 3.; In III. Sent. 23,1,1 ad 6, n. 31; SCG II 79; De an. a. 3 la usw. · · Z. B.: In II. Sent. 1,2,5,1a; In IV. Sent. 12,1,1 II. 3a n. 16; ebd. 17,1,2 sol. II. n. 64 und 66; 49,2,1 sol.; SCG III 97; De malo 6,6, sed c. 2a; In I. De an. L. 8 n. 130; M

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patiens70, zwischen causa (agens) und effectus71, zwischen agens und instrumentum72, zwischen agens und finis73, zwischen medium und finis74, zwischen instrumentum und effectus75, zwischen finis proximus und ultimus76, zwischen movens und motum (oder mobile)77, zwischen potentia und operatio78, zwischen virtus und obiectum79, zwischen esse rei und operatio80, zwischen actus und materia81, zwischen materia und finis82, zwischen figuratum und figura83, zwischen intellectus und obiectum84, zwischen sensus (organum) und obiectum85, zwischen cognitio und cognoscibile8', zwischen processus voluntatis und processus rationis87, zwischen poena und culpa88, zwischen merces (praemium) und meritum89 usw. Es leuchtet ein, daß mit diesen Aufzählungen von Proportionen Thomas stufenweise von der Höhe der Metaphysik zur Kosmologie, Psychologie, Erkenntnistheorie und Ethik heruntersteigt, so daß es keinen Zweifel darüber geben kann, daß seine Proportionslehre seine gesamte Philosophie nicht nur in ihren Implikationen, sondern ganz konkret und in ihren Einzelheiten umfaßt. 3. Außer dem Terminus proportio gebraucht Thomas in seinen allgemeingültigen Schönheitsdefinitionen auch die Termini consonantia und commensuratio. Im Rahmen der systematischen Zusammenfassung seiner Proportionslehre muß man sich deswegen auch mit dem Sinn dieser Worte befassen, obwohl diese Erörterung nicht viel Neues ans Licht bringen kann, weil sie eben Wechselbegriffe zu proportio dari n II. De an. L. 19, n. 485; De an. q. un. a. 1,5a; 9,14a; ST I—II 85,6 scd c. 3a; vgl. auch In I. De gener. et corr. 1„ 13 med. 70 Z. B. SCG II 47 und 92; In I. De an. L. 8 n. 130. 71 Z. B.: In IV. Sent. 39,1,2 sol.; SCG III 99; In V i l i . Phys. L. 21 n. 1150. 72 Z. B. SCG IV 56 und 74. 73 Z. B.: In II. Sent. 1,2,2 sol.; In I. Eth. L. 9 n. 108. 74 Z. B.: In I. Sent, prolog. 1,1 sol.; SCG III 58; 149; In I. Eth. L. 1 n. 15; L. 15 n. 55; In I. Pol. L. 1 n. 11. 75 Z. B. In IV. Sent. 19,1,2 sol. I. ad 1, η. 48. 7 « Ζ. Β. : De virt. in comm. art. 10 ad 9. 77 Ζ. Β.: In IV. Sent. 44,2,3 sol. III ad 2; In I. De an. L. 8 n. 130; De pot. 6,7 ad 6. 78 Ζ. B.: De pot. 1,2,5a. 7 » Ζ. B. SCG I 74; II 83. 80 Z. B. : De spir. creat. art. 2c. 81 Z. B.: In II. De L. 4 n. 77. M Z. B. : In Boet. De trin. L. 2 q. 1 a. 1 c. 83 Ζ. B.: De pot. 6,7 ad 6. 84 Z. B.: SCG II 98; III 64; Quodl. X, 8, art. un. (17), ad 1. 85 Ζ. Β.: In I. Sent. 3,1,2 ad 2.; In II. De an. L. 24 n. 555£.; In III. De an. L. 2 n. 597. 88 Ζ. B.: In Boet. De trin. L. 1 q. 1 a. 3,1a. 87 Ζ. B.: In III. Sent. 17,2 sol. I η. 44. 88 Ζ. Β.: SCG III 145; IV 90; Quodl. I 9,2 sed c. 8 · Ζ. Β.: SCG III 145.

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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stellen90. Jedenfalls kann man von dieser Untersuchung erhoffen, daß sie die bisherigen Ergebnisse bestätigen wird. Über consonantia sagt uns Thomas zuerst, daß sie im doppelten Sinn gebraucht werde. Im eigentlichen Sinn bedeute sie hörbare, musikalische Konsonanz, d. h. klanglich-qualitative Zusammenstimmung oder Übereinstimmung (consonantia musica, musicalis, musicae)91, und aus diesem Grund auch die Kunst oder Wissenschaft, die sich mit musikalischer Harmonie befaßt 92 . Schon in diesem physischen Sinn weist Thomas auf den inneren Zusammenhang zwischen consonantia und proportio hin93. Im anderen, weiteren und abgeleiteten Sinn bedeute dann consonantia jede beliebige Art von Übereinstimmung, objektiver Schicklichkeit zwischen Dingen oder deren Prinzipien (Teilen)94, deren Formal- oder realer Effekt dann im allgemeinen irgendwelche connaturalitas 98 , naturalis aptitudo oder amor naturalis9®, im Falle eines Dinges mit Willen aber consensus sei97. Solche Übereinstimmung könne sogar zwischen Dingen und dem Intellekt, oder entia rationis und dem Intellekt bestehen98. Erst im nächsten Kapitel wird es ganz deutlich werden, daß mit diesen Äußerungen Thomas bereits die Fundamente seiner Schönheitslehre hinsichtlich des Subjektes niederlegt. Nun sei die Konsonanz zwischen Dingen oder Dingprinzipien entweder innerlich und notwendig, also wesentlich99 oder aber äußerlichkontingent, akzidentell. Diese letztere Art von consonantia sei wiederum entweder die der Ordnung oder die der Komposition100. Schon aus diesen wenigen Texten ersieht man, daß Thomas seine Proportionslehre beinahe wiederholt, wenn er über consonantia spricht. Über den dritten Terminus: commensuratio ist nicht viel zu erfahren außer dem Umstand, daß er eben ein Synonym von consonantia darstelle. Das geht aus der Weise, in der Thomas diesen Terminus des öfteren verwendet, aus dem Zusammenhang, in dem commensuratio zu erscheinen pflegt, deutlich hervor101. Vgl. : proportio sive consonantia — in ST I 39,8c. Vgl. In II. Phys. L. 6 n. 179; In I. Met. L. 16, n. 239—243; In II. De caelo et m. L. 14 n. 422. M In I. Post. An. 16f. » In II. De caelo et m., L. 14 n. 420ff. M In I. Phys. L. 10 n. 78. — Vgl. De div. nom. 11,2,908 und ST I 39,2 ad 1. ·« De div. nom. 11,2,908. »· ST I—II 29,1c. — Vgl. ebd. 6c. »' Vgl. De div. nom. 11,2,908. · · ST I—II 98,1c. " Vgl. ST I 39,2,1 a und insbesondere: »debita . . . consonantia«: ST I 39, 8c. 100 In I. Phys. L. 10 n. 167. ιοί vgl ,jj e Parallelstellen : debita proportio und commensuratio debita (In III. Sent. 33,2,3c; De div. nom. 4,21,554; ST I—II 73,2c; In I. Eth. L. 13 n. 159; In IV. Eth. L. 8 n. 738 und ST II—II, 6,2 ad 2.); dann die: commensuratio membrorum und >0

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Systematische Analyse

Außer diesen Termini gebraucht Thomas an expliziten Schönheitsstellen wie in anderen Texten abwechselnd auch weitere drei: harmonía, conformitas und convenientia. Tatsächlich kommen mindestens diese zwei : harmonía und convenientia in seinen Werken viel häufiger vor als consonantia oder commensuratio. Deswegen scheint es vollständigkeitshalber notwendig, im Rahmen dieses Artikels auch das zu erfragen, was er über diese drei Termini an ästhetisch Bedeutungsvollem zu sagen hat. 4. Über den Terminus »harmonia« steht so viel fest, daß er ein Synonym von consonantia darstellt : Nihil enim est aliud harmonia, quam Concors consonantia10*.

Deswegen bedeute Harmonie — ähnlich wie consonantia —im eigentlichen Sinn einen hörbaren Toneinklang108. Das macht sie also zu einer Proportion zwischen Dingen im Genus der Qualität104. Aus diesem spezifischen Qualitätsgrund bedeute sie auch Musik106. Ihr Sinn sei aber im Genus der Qualität von der Art der Töne auch zu anderen Sinnesqualitäten übertragen worden, und so bedeute sie nicht nur hörbaren, sondern auch sichtbaren, ja sogar schmeckbaren und ähnlichen Einklang106. Mit einer viel radikaleren Sinnesübertragung verwendet endlich Thomas die Harmonie für die höchste und universellste Klasse der metaphysischen Begriffe, indem er sie zu solchen übereinkommenden, aufeinander bezogenen Dingen oder Prinzipien verwendet wie Form und Materie, und er bezeichnet damit (genau wie mit proportio) eben deren gegenseitige, metaphysische Relation oder habitudo: Non tarnen quod harmonia sit forma, sed dispositio materiae ad formam 107 . proportiones autem in sonis vocantur harmoniae et, per quandam similitudinem, proportiones convenientes quarumcumque rerum harmoniae dicuntur 108 .

So ist es schon nicht überraschend, daß, wie bereits anfangs erwähnt109, harmonia nicht nur mit consonantia, sondern auch mit proportio identifiziert wird110. proportio membrorum (De div. nom. 4,22,559; In Is. 53); weiterhin den Ausdruck: commensuratio proportionata (ST II—II 61,4 c) den Zusammenhang von »commensuratio animarum ad corpora» (SCG II 81), auch diese interessante Häufung von Synonymen : dicitur aliquid malum per hoc quod ratio, idest proportio harmoniae et commensurationis quae est secundum naturam, debilitatur — (De div. nom. 4,19,630) und ST I—II 49,4 c. 102 De div. nom. 11,2,908. 103 In I. De an. L. 9 n. 135. — Vgl. In X. Eth. L. 3 n. 1986 und I n I . D e a n L . 7 n . 9 7 . 104 De div. nom. 4,6,364. — Vgl. ebd. 4,8,385 und In II. De an. L. 24 n. 666. 105 In III. Met. L. 7 n. 412. 10 « SCG II 64; In X. Eth. L. 3 n. 1986; In I. De an. L. 7 n. 97 und L. 9 n. 138. In I. De an. L. 9 n. 144. 198 De div. nom. 4,8,386. — Vgl. ebd. 7,4,733, 5,1,650 und In I. De an. L. 9 n. 135. 108 Siehe Anm. 102. 119 De div. nom. 7,4,733.

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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Man mag diese kurze Übersicht von Thomas' Harmonielehre mit einer für uns später, in der Analyse der Natur der Schönheit in Zusammenhang mit der der Ordnung, sehr nützlichen Zitation abschließen : harmonía dicitur dnpliciter: nno modo, ipsa compositìo; alio modo, ratio composi-

tionism.

Der andere noch zu untersuchende Terminus ist conformitas. Der Sinn dieses Wortes wird von Thomas folgerichtig als die Relation der Konvenienz zweier Dinge oder Prinzipien beschrieben1". Die Konformität wird von Thomas in wesentliche und unwesentliche1", oder in conformitas secundum quid und simpliciter eingeteilt"4. Was aber für uns wieder das Wichtigste ist, sie wird von Thomas ebenso breit verwendet wie proportio, harmonía usw., indem sie als metaphysische Relation zwischen Potenz und Akt 115 und auch als similitudo, entweder im Sinne von qualitativer Einheit zwischen geschaffenen körperlichen Dingen oder aber als die zwischen dem an Gott partizipierenden Geschöpf schlechthin und dem Schöpfer, interpretiert wird u e . Nicht weniger bedeutungsvoll ist aber ein weiterer Sinn, der der conformitas von Thomas zugeschrieben wird: bonitas, d. h. Konformität mit göttlichen und natürlichen Regeln oder, mit anderen Worten, mit Gottes Weisheit und des Geschöpfes Form — etwas, das offenbar irgendwie für jede Kreatur gilt117 und in seiner letzten Implikation unter anderem den ästhetischen Charakter aller aktiven Fähigkeiten: habitus und dispositiones festsetzt118. Was nun endlich das letzte Proportionssynonym, die convenientia anbetrifft, scheint ihre Konvertibilität mit proportio daraus zu folgen, daß Thomas sie ebenso wie proportio als eine Relation charakterisiert119; daß er weiterhin über convenientia proportionis und proportionalitatis ebenso120 wie über proportio und proportionalitas schlechthin121 und auch über convenientia secundum proportionem potentiae ad actum122 spricht, also convenientia mit proportio in 111

SCG II 64. Il» STI—II 64,1 ad 1. — Vgl. In I. Sent. 48,1,1 ad 3. und c; In IV. Sent. 49,2,1 ad 7.; De ver. 2,3 ad 9; 2,5 ad 5. ' »» Vgl. einerseits: In IV. Sent. 49,2,1 ad 7, andererseits: In I. Sent. 48,1,1 sol. 111 Ζ. Β. In I. Sent. 48,1,2 sol. 115 convenientia potentiae ad actum und convenientia secundum proprietatem naturae — In II. Sent. 1,2,4 ad 3. " · In I. Sent. 48,1,1 sol. 117 In III. Sent. 23,1,1 sol. 118 Vgl. ebd. ad 2.

π» sx χ _ π 9 2c. De ver. 2,11c. "ι Ζ. B. De ver. 2,3 ad 4. >» In II. Sent. 1,2,4 ad 3.

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Systematische Analyse

engerem wie in weiterem Sinn verbindet oder identifiziert123 und sie im letzteren Falle ähnlich weit wie die Proportion zu nehmen pflegt. Diese letzte Tatsache wird besonders klar, wo Thomas über die convenientia in Zusammenhang mit der die gesamte Wirklichkeit kennzeichnenden analogia124, bonitas (bonum)125 und mit naturale126 redet. 5. Die ästhetisch wichtigen Konklusionen dieser Proportionslehre des Aquinaten sind so einleuchtend, daß sich ihre Zusammenfassung beinahe erübrigt: Einerseits sei die Proportion (oder convenientia oder wie auch immer sie genannt wird) eine der wesentlichen Forderungen oder Bedingungen des objektiven Wesens der Schönheit. Anderseits gebe es aber überall, in allen Dingen und in ihren Prinzipien irgendwelche Art von Proportion. Beide Konsequenzen sind völlig identisch mit denen, die aus Thomas' Integritätslehre folgten. So scheint es dann, daß nach Thomas die Schönheit auch ihr zweites Wesenselement überall, im ganzen Bereich der Wirklichkeit, unzählbar und mannigfaltig besitze und nun, um in ihrer metaphysischen Vollendung im Bereich der Realität schlechthin erscheinen zu können, nur noch eines benötige — die Klarheit. Wenn man dann den Aquinaten, dessen geistiges Auge in der Gesamtheit wie in allen einzelnen Teilen der Wirklichkeit und in deren Relationen und Zusammenhängen Proportionen so scharf und klar zu erblicken vermag, fragt, woher er seine umfangreiche Proportionslehre nehme und wie er sie rechtfertige, so erhält man von ihm eine ebenso erstaunlich schlichte Antwort wie auf dieselbe Frage betreffs der Integrität : dicimus homines pulchros qui habent membra proportionata 127 . Sic enim hominem pulchrum dicimus propter decentem proportionem in quantitate et situ 128 .

Ist dieser Hinweis von irgendwelcher Beweiskraft ? Für Thomas, den großen Realisten, allerdings, da er ja mit diesen Worten sich auf das für das menschliche Erkenntnisvermögen Letzte beruft : pulchra dicuntur quae visa placent 129 . 123 Eine völlige Identifizierung scheint der folgende Text auszudrücken: »(natura) potest reparari ad id quod est sibi conveniens et proportionatum« (ST I—II 109,7 ad 3.). — Vgl. auch In Is. 53. 124 De ver. 2,11c. 126 S T χ _ _ π g 2c. 126 unicuique rei est conveniens id quod est ei naturale — ST 1—II 85,6, sed c. 2a. — Vgl. In Coloss. 1,16, L. 4. 127 In I. Sent. 31,2,1 sol. 128 De div. nom. 4,6,339. 12 · ST I 6.4 ad 1.

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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Wenn es also überhaupt wahr ist, daß diejenigen Dinge schön sind, die, wenn sie von uns erkannt werden, gefallen, so ist auch wahr, daß die Proportion, wie immer und wann immer sie irgendwo vorhanden ist, eines der Wesensprinzipien der Schönheit ist, da ja sie selbst, wenn erkannt, gefällt. So erweist und verteidigt Thomas den zweiten ebenso wie den ersten Teil seiner Theorie über das objektive Wesen der Schönheit auf einem Grund, der nicht nur der einzig ausreichende, sondern auch seiner ganzen Philosophie allein entsprechend ist : auf dem Grund aposteriorischer Beweisführung. 3. Thomas' Klarheitslehre Außer Integrität und Proportion erfordert die Schönheit nach Thomas' Lehre auch Klarheit: Nam ad pulchritudinem tria requiruntur. Primo quidem integritas. Et debita proportio sive consonantia. Et iterum claritas1.

So muß nach der Integritäts- und Proportionslehre auch die Klarheitslehre des Aquinaten einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden. Nun ist eine Analyse seiner Klarheitslehre keine leichte Aufgabe. Vielmehr ist sie eine schwere, wenn nicht überhaupt die schwerste Aufgabe für den, der Thomas' Schönheitslehre untersuchen und systematisch zusammenfassen will. Diese Schwierigkeit hat zwei beträchtliche innere Gründe. Einerseits ist nämlich der Begriff der Klarheit (claritas, splendor) als einer, der zum typisch platonischen — neuplatonischen Gedankengut gehört, im Rahmen der von Grund auf realistischen und überwiegend doch aristotelischen Philosophie des Thomas an und für sich schwer zu fassen, wozu noch die Schwierigkeit kommt, zu verstehen, wie der Begriff in diese realistische Philosophie hineinpasse. Anderseits hat die genetische Untersuchung zu dem Ergebnis geführt, daß Thomas' Ansicht über die Rolle, die die Klarheit in der Gestaltung der Schönheit spiele, einer bestimmten Gedankenentwicklung unterworfen ist. Dazu kommt noch die äußerste Wichtigkeit dieser Klarheitslehre (mindestens in ihrer endgültigen, reifen Form) für die Folgen, die sich auf das objektive Wesen und dadurch auch auf die Eigenschaften der Schönheit beziehen, wie das bereits am Ende des vorigen Artikels angedeutet worden ist. Aus dem ersten und dritten Grund muß also diese Untersuchung mit äußerster Vorsicht und alle Details umfassender Gründlichkeit durchgeführt werden. Aus dem zweiten Grund aber muß auch die 1

ST I 39,8 c.

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Systematische Analyse

Methode, die bisher bei der Analyse der Integritäts- und Proportionslehre verwendet worden ist, insofern geändert werden, daß man auch die Chronologie der zu untersuchenden Texte in Betracht zieht. So sollen zuerst die Klarheitstexte an den expliziten Schönheitsstellen auf solche Weise untersucht werden, daß man getrennt zuerst die Stellen, die vor der ersten Summa, dann diejenigen, die nach ihr, aber noch vor der Abfassung des Dionysius-Kommentars entstanden sind, chronologisch konsultiert und alle diese mit nicht ästhetischen claritas-Texten derselben Perioden vergleicht. Zunächst soll dann Thomas' Klarheitslehre, wie sie aus nicht-ästhetischen Texten erscheint, die ungefähr von der Abfassungszeit des DionysiusKommentars an entstanden sind, untersucht werden, um festzustellen, ob sie von der früheren nicht-ästhetischen Klarheitslehre verschieden ist. Endlich soll dann noch erörtert werden, ob und wie die Klarheitslehre der expliziten Schönheitsstellen des Dionysius-Kommentars von derjenigen, wie sie einerseits von explizit ästhetischen und vor dem Dionysius-Kommentar entstandenen Stellen, anderseits von den nichtästhetischen und nach diesem Kommentar verfaßten Texten hervorgeht, verschieden ist. 1. Die Quellen der Klarheitslehre in der ersten Periode, in der den Ergebnissen der genetischen Analyse nach Thomas noch ziemlich treu und unkritisch über die Schönheit das gelehrt hat, was er gelehrt worden war, sind der Sentenzenkommentar (1256—57), die Schriften Contra impugnantes dei cultum et religionem (1256—59) und wahrscheinlich einige Teile der Quodlibetales. Dagegen sind der IsaiasKommentar (1259—61) und die erste Summa (1258—64) die Quellen der Klarheitslehre in der behaupteten Übergangsperiode, zu denen vielleicht auch der Kommentar zum Korintherbrief hinzukommt. Nun kann die Klarheitslehre der ersten Periode etwa folgendermaßen zusammengefaßt werden. Die Schönheit glänze2, da Glanz oder Klarheit zu ihrem Wesen gehöre : Ad rationem autem pulchritudinis duo concurrunt . . . , scilicet consonantia et claritas*.

Der Glanz der Schönheit sei an der glanzvollen Farbe schöner Menschen ersichtlich4. Das soll aber nicht bedeuten, daß bloß die physisch-körperliche Schönheit glänze. Es gebe nämlich auch einen seelischen Glanz, den der seeligen Seele, und dieser Glanz könne am auferstandenen Körper * decor resplenderet — In III. Sent. 1,1,3,3a, n. 63. — Vgl. das Augustin-Zit. : In IV. Sent. 44,2,1, sol. I. ad 6. » In I. Sent. 31,2,1, sol. — Vgl.: In IV. Sent. 49,4,5, sol. III. ad 1. « In I. Sent. 31,2,1, sol.

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ebenso äußerlich zur Erscheinung kommen, wie bunte körperliche Dinge den Schein der Sonne widerspiegeln6. Der Glanz solcher Seele sei sogar im Vergleich mit dem des Körpers primärer Natur·. Diese aui den Körper ausstrahlende seelische Schönheit bestehe nun in ihrer Assimilation an Gott, die wiederum durch den von Gott zu erhaltenden Glanz der Gnade möglich sei7. Tatsächlich sei die Urquelle aller Klarheit die göttliche claritas — quae irradiat super omnia et in quo omnia resplendent8. Für dieses Bild der Klarheit als eines Wesenselements der Schönheit, das im Sentenzenkommentar gezeichnet wird, sind nun folgende Umstände kennzeichnend. Erstens ist die formelle Rolle der claritas in der Formation der Schönheit beträchtlich dadurch abgeschwächt, daß auch die Gutheit als glanzvoll bezeichnet wird9, so daß man nur auf Grund des Textes In I. Sent. d. 21 q. 2 a. 1 weiß, daß die Klarheit zum spezifischen Wesen der Schönheit gehört, ohne aber zu wissen, wie. Zweitens weiß man vorläufig gar nichts davon, worin die nichtkörperliche Klarheit bestehe: sie ist lediglich ohne Erläuterung postuliert. Drittens — und das ist vielleicht das Charakteristischste — wird die Doktrin von der Klarheit als etwas für die Schönheit Wesentlichem von Thomas nur so belegt, daß er lediglich die Position von Autoritäten, die ihm gewichtig genug erscheinen, zum Ausdruck bringt, ohne daß er irgendwelchen Anteil an der Entwicklung dieser Schönheitstheorie hat. Das alles geht ja klar aus der Formulierung des entscheidenden Textes hervor: Ad ratíonem autem pulchritudinis duo concurrunt, secundum Dionysium . . . Dicit enim, quod deus est causa omnis pulchritudinis, inquantum est causa consonantiae et claritatis . . . His duobus addit tertium Philosophus10.

Das Wichtigste an diesem Text scheint eben das zu sein, daß seine Hinweise auf die Autoritäten im Hauptsatz stehen : »Dicit enim« und »His duobus addit«. Später, im Dionysius-Kommentar, wo er ja eben die Worte des Dionysius erläutert, verfährt Thomas zwar ähnlich11, fügt aber zugleich einen Satz hinzu, der schon im Ton des mit eigener Autorität lehrenden Meisters gehalten ist, während z. B. an einer der wichtigsten Schönheitsstellen seines Hauptwerkes der Hinweis auf die Autorität einerseits im Nebensatz steht, anderseits so abgefaßt ist, 5

In IV. Sent. 44,2,4,3 a und ad 3. — Vgl. ebd. 49,6,4, III. 3a und sol. III. • In IV. Sent. 49,6,4, sol. III. 7 In IV. Sent. 18,1,2, sol. I η. 62. 8 In I. Sent. 31,2,1, sol. • divina bonitas clarius resplenderet — In II. Sent, prologus 10 In I. Sent. 31,2,1, sol. 11 De div. nom. 4,6,339.

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Systematische Analyse

daß er zugleich die autoritative Approbation des reifen Thomas verrät12 — um gar nicht davon zu sprechen, daß der ästhetische Haupttext der zweiten Summe schon überhaupt keinen Hinweis auf Autorität enthält. So ist die Klarheitslehre des Sentenzenkommentars, wie sie aus expliziten Schönheitsstellen zu erkennen ist, an und für sich ziemlich mangelhaft, unentfaltet und in ihrer Relation zur Schönheitslehre einerseits unoriginell und andererseits so wenig sagend, daß man ihren zentralen Begriff hinsichtlich der seelisch-geistigen Schönheit vorläufig nicht anders als eine philosophische Metapher betrachten und verstehen kann. Dieses ziemlich negative Urteil kann auch auf Grund der äußerst wenigen Texte, die in den zeitlich nächsten Werken zu finden sind, kaum geändert werden. Es wird nämlich der Zusammenhang zwischen Klarheit und Schönheit an zwei Stellen — Matthäus-Kommentar und Quodlibetales — lediglich angedeutet, und zwar vielleicht noch weniger klar als in den bisher analysierten Texten: Hic ostenditur pulchritudo vel claritas 13 et quidquid est in eis pulchrum et darum, remanebit superius ad gloriam beatorum 14 .

Ein weiterer Text bestätigt zwar, daß die Illumination der göttlichen Schönheit nicht nur die menschliche Seele (worüber man schon aus In IV. Sent. d. 18 q. 1 a. 2 sol. 1 η. 52 weiß), sondern auch den Intellekt der Engel durchdringe15. Das spezifiziert aber lediglich die universelle Feststellung von In I. Sent, d 31 q. 2 a. 1 sol. Der einzige Beitrag der Werke von 1256—59 zur im Sentenzenkommentar geäußerten Doktrin über die Schönheit besteht dagegen in einer, nach den bereits bekannten und wiederholt erwähnten drei Elementen der integritas, proportio und claritas sonderbar neu klingenden Schönheitsdefinition aus Contra impugnantes, nach der die seelische sowie die körperliche Schönheit nicht etwa in Klarheit oder Proportion oder Integrität, sondern in debita ordinatione et affluentia bonorum bestehe 16 . Diese neue Weise, in der Thomas hier die Schön12 Dicendum quod, sicut accipi potest ex verbis Dionysii, IV cap. De div. nom., ad rationem pulchri, sive decori, concurrit et claritas et debita proportio. —ST I I — I I 145,2 c. 13 In Matth. 13,4. 14 Quodlib. VIII, 8, art. un. corpus. " De ver. 8,15 ad 3. le Contra imp. Dei cult, et rei. pars II, cap. 6 (7), η. 339. — Es ist hier wohl darauf hinzuweisen, daß diese Stelle eigentlich nicht die erste ist, an der der Terminus ordinatio hinsichtlich der Schönheit gebraucht wird. (Vgl. Anm. 62, Teil I, Kap. III.) Doch ist diese Stelle neu in dem Sinne, daß sie die erste ist, an der ordinatio in formellen (wenn auch nicht universellen) Schönheitsdefinitionen vorkommt.

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heit ohne das Element der Klarheit (oder der anderen zwei) definiert, ist um so auffallender, als nach dem Zusammenhang, in dem diese Doktrin angeführt ist, die im Sentenzenkommentar erwähnten Schönheitselemente, insbesondere die Proportion, aber auch die Klarheit und Integrität, ebensowohl hätten gebracht werden können. Wie es nämlich wahr ist, daß man sich über die Abwesenheit der körperlichen ordinatio als Häßlichkeit wohl schäme1*, so ist es auch wahr, daß Disproportion, Mangel an Integrität und Klarheit Umstände darstellen, über die man sich mit Recht »verecundatur«. Damit soll aber nur die stufenweise in Erscheinung tretende neue Richtung der thomistischen Schönheitstheorie angedeutet werden, die zusammen mit dem Mangel der Weiterentwicklung der Klarheitslehre diese Periode kennzeichnet. Wenn man nun zu diesen Werken der ersten Periode die der in der genetischen Analyse behaupteten Übergangsperiode (etwa 1258—59 bis 1261—62) hinzunimmt, so findet man bloß eine einzige Stelle, an der die Klarheit angedeutet wird17. Zugleich findet man im Isaiaskommentar auch die in dem vorigen Werk bereits erschienene neue Gedankenrichtung, und zwar in verstärkter Form18. Erst der nach Grabmann etwa 1259—65, also mit dem Dionysius-Kommentar beinahe gleichzeitig oder nicht viel später abgefaßte Kommentar zum Korintherbrief enthält wieder claritas-Stellen, allerdings nicht mehr als drei, an denen man aber wieder bloß Behauptungen über die körperliche Schönheit19, die ästhetische Rolle der Seele20 und die moralische Schönheit21, die man schon vom Sentenzenkommentar kennt, begegnet. Das einzig Wichtige im dritten Text scheint zu sein, daß darin auf das Licht des menschlichen Intellekt schlechthin, also nicht nur im " i n Is. 63. Im Gegensatz zu mehreren Stellen des Sentenzenkommentars (»dicimus homines pulchros qui habent membra proportionata et splendentem colorent« — In I. Sent. 31,2,1, sol. ; — »pulchritudo corporis est partium convenientia cum quadam coloris suavitale« — In IV. Sent. 44,2,4,3a; — »pulchritudo consistit in duobus, scilicet in splendore et partium proportione«, wo »partium« nur zu »proportione« gehört, was aus dem nächsten Satz zu ersehen ist: »Veritas autem habet splendoris rationem, et aequalitas tenet locum proportionis« — In I. Sent. 3,2, expos, primae partis textus) sagt Thomas In Is. δ3: »species enim proprie respicit pulchritudinem quantum ad commensurationem membrorum; sed decor quantum ad convenientiam coloris«, wodurch also auch die bisher die physische Klarheit tragende Farbe unter die Proportion, den in dieser Periode im Rahmen der aristotelischen Ordnungslehre dominierenden Begriff eingereiht wird. " In I. Cor. 11,4, L. 2. In I. Cor. 16,44, L. 6. " In I. Cor. 11,4, L. 2. 18

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dogmatischen Zusammenhang, wie ζ. B. im Sentenzenkommentar22, hingewiesen wird. Den Grund, den eigentlichen Kern der metaphysischen Klarheitslehre des Thomas, erfahren wir aber auch hier nicht. 2. Die Mangelhaftigkeit der Klarheitslehre, wie sie sich aus den expliziten Schönheitsstellen der vor dem Dionysius-Kommentar verfaßten Werke zeigt, ist damit unzweifelhaft erwiesen. Selbstverständlich könnte man hier darauf hinweisen, daß dieser Charakter der thomistischen Klarheitslehre in den Frühwerken gar nicht überraschend sei: es gebe nämlich in den Schönheitstexten auch keine Definition der Proportion. — Doch ist der Unterschied zwischen dem Bild, das man über die Proportionstheorie und dem, das man sich über die Klarheitsdoktrin des Aquinaten aus expliziten Schönheitstexten formen kann, ganz deutlich zu sehen. Erstens gibt es zwar keine formellen Definitionen der Proportion in jenen Texten, doch aber so viele — mit den zahlreichen Einteilungen verbundene — Beschreibungen, daß man keine Schwierigkeit hat, Thomas' Proportionslehre im großen und ganzen zu verstehen. Zweitens ist der Begriff: proportio (consonantia) im Rahmen der überwiegend aristotelischen Philosophie des Thomas an und für sich leicht verständlich. Dagegen ist die aus Schönheitsstellen zu erhaltende Klarheitslehre bis zur Zeit der Abfassung des Dionysius-Kommentars unvergleichlich kürzer, ärmer und enthält weder mehr als nur eine Einteilung, noch Beschreibungen, aus denen man sich einen Begriff von der Klarheit als einem metaphysischen Prinzip der Schönheit bilden könnte. Diese metaphysische Natur der Klarheit ist aber eben das, was man am meisten vermißt und in den bisher untersuchten Texten gar nicht erläutert findet. So müssen wir uns weiteren, nicht-ästhetischen Texten zuwenden, um herauszufinden, ob man von ihnen mehr über Thomas' Klarheitslehre lernen kann. Mit diesem Schritt ändert sich nun unser Bild auf einmal völlig. Man muß bloß Texte (vor dem Dionysius-Kommentar!), die claritas und einige ihrer Synonyme, wie splendor, lux, lumen, fulgor usw. behandeln, konsultieren, um sich von dieser überraschenden Tatsache zu überzeugen. Die Klarheitslehre kann nun auf Grund der prä-dionysischen Texte folgendermaßen systematisiert werden. Ausgangspunkt ist, daß alle in Rede stehenden Termini in doppeltem Sinn verwendet werden: physisch und metaphysisch-geistig23. » In IV. Sent. 49,6,4, sol. III. — Siehe Anm. 6. *> Thomas spricht über claritas im physischen Sinne z. B. : In III. Sent. 16,2,1,4a und corpus; SCG, III, 47; In Boet. De hebd. L. 2. expos.; — im metaphysischen Sinne z. B.: In IV. Sent. 44,2,4, sol. I.; SCG, III, 66; IV. 18. und 86.; dann über splendor physisch: z. B. In III. Sent. 8,1,3a, n. 6 und metaphysisch in SCG, IV,12; — über

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Über das Verhältnis, das diese Termini, physisch genommen, zueinander haben, lehrt nun Thomas, daß bestimmte Körper, wie die Sonne und Sterne, Licht (lux) oder claritas als eine ihrer Qualitäten besitzen14. Dieses Licht strahle aus und werde von der Luft »partizipiert«®6. Die so partizipierte lux sei lumen" oder splendor47 — eine unentbehrliche Bedingung des Sehens28. Und da lux eine reale Qualität darstelle, sei sie ebenso ein Akt wie der von ihr herstammende splendor". Im Gegensatz zu physischer Klarheit und physischem Licht gebe es nun auch eine wesentlich verschiedene Art von Klarheit und Licht, die nicht körperlicher Natur sei. Der gemeinsame Grund zwischen diesen beiden, der eine Ähnlichkeit in der Form von analogia proportionalitatis zwischen ihnen schaffe, sei die Kraft der Manifestation80. Hier hat man endlich den Schlüssel zum Verständnis der ganzen Klarheitslehre (als eine derivative Form der Lichtlehre) des Thomas in seinen metaphysischen, epistemologischen und auch ästhetischen Beziehungen und Aspekten. Thomas findet im geistigen Bereich sehr leicht und mit großer Sicherheit die Analogata dieser physischen Lichttheorie: der Sonne mit ihrem Licht entspreche Gott selbst, der prima lux81 und fons luminis82 genannt wird und dessen Substanz mit der Klarheit seines Intellekts absolut identisch sei88; anderseits entspreche dem lumen visibile der Sonne das lumen intelligibile, das von der prima lux ausstrahle84; ganz wie dem splendor der Sonne die göttliche Selbstmanifestation, das Verbum entspreche86 oder wie der göttliche Vater von seinem Sohn manifestiert werde88. Ferner, wie physische lux und physisches lumen, so seien auch die geistige lux und das geistige lumen Qualitäten, und zwar entweder in lux physisch: z. B. In I. Sent. 3,1,2,2a; In II. Sent. 13,1,2, sol.; In Boet. De hebd. L. 2. expos.; SCG, 11,77; III, 43 und 46; metaphysisch: De ver 1,4 sed c. 2a; In III.Sent. 14,2,111.sed c. 2aη. 72; SCG,II, 74; III, 63; III, 161; — über/«»»«» physisch: In IV. Sent. 14,2,2, c. n. 263; De ver. 12,1 c; SCG, II, 78f. und III, 47; metaphysisch: De ver. 1,4 sed c. 2a. 14 M

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Vgl. über lux: De ver. 12,1 c und über claritas In Boet. De hebd. L. 2 exp. aer participât lucem solis — In Boet. De hebd. L. 2 exp. Vgl. De ver. 12,1 c und In IV. Sent. 14,2,2, c, n. 263. lucis autem manifestatio splendor ipsius est, ab ea procedens. — SCG, IV, 12. SCG, III, 63. — Vgl. In I. Sent. 3,1,2,2a. ex actu actus — splendor ex luce — SCG, IV. 14. In II. Sent. 13,1,2, sol. — Vgl. : In I. Sent. 3,1,2,2a und SCG, III, 63. De ver. 1,4 sed c. 2a. — Vgl. De ver. 8,1 c. B. und In I. Tim. L. 3. In Is. 6,1. SCG. III, 66. De ver. 1,4 sed c. 2a. — Vgl. In I. Cor. 14, L. 1. SCG, IV, 12 und In Hebr. 1,3. L. 2. SCG, IV, 8.

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der natürlichen Ordnung, wie der intellectus agens, den schon Aristoteles lux genannt habe, oder in der übernatürlichen Ordnung, wie die Disposition der lux gloriae, die den kreatürlichen Intellekt fähig macht, die göttliche Substanz unmittelbar zu sehen37 und sich dadurch mit einer partizipierten, Gott ähnlichen geistigen Klarheit zu füllen 38 . Unter solchen Kreaturen begreife man selbstverständlich nicht nur Menschen, sondern auch Engel39. Auf Grund der Reihenfolge, in der man von der physischen claritas zur Erkenntnis der metaphysischen gelangt, erhält man nun leicht den Eindruck, daß claritas oder lumen, in metaphysischem Sinn, sekundäre Analogata, d. h. uneigentlich genommen seien. Diese Ansicht mag sich sogar zur Überzeugung wandeln, sobald man bedenkt, daß der menschliche Intellekt vom Sensibeln zum Intelligibeln gelangt 40 . Tatsächlich seien Ambrosius und Dionysius dieser Ansicht gewesen, während nach Augustin lux in geistigen Dingen wahrer vorhanden sei als in körperlichen. Augustins Standpunkt sollte also bedeuten, daß lux oder claritas spiritualis im eigentlichen Sinn, lux oder claritas corporalis aber im uneigentlichen Sinn genommen seien. — Thomas löst das Problem, indem er Ambrosius und Dionysius zugibt, daß, quoad cognitionem humanam, lux oder claritas spiritualis sekundär sei, während er Augustin darin recht gibt, daß die manifestierende Kraft den geistigen Dingen wahrer entspreche41. Insofern dann das schlechthin Offenbare oder Erkennbare (manifestum) das schlechthin Klare sei, folgt — als die letzte wesentliche Konklusion und der abschließende Teil dieser thomistischen Klarheitslehre —, daß das geistige Licht mehr der Kraft des Intellekts als der des Willens entspreche: lumen magis intellectivae competit quam affectivae 4a .

Es ist einleuchtend, daß diese Klarheitstheorie, wie sie in den Frühwerken des Aquinaten zu finden ist, eine wohldurchdachte und in ihrer Applikationsfähigkeit sehr fruchtbare Doktrin darstellt, als solche auch dem Wesen der Schönheit, im Lichte der in Thomas' späteren Werken auftauchenden Prinzipien, sehr wohl anzupassen ist. Nach dieser Klarheitstheorie kann nämlich das Klarheitselement der Schönheit dasjenige in einem Ding darstellen, wodurch das Wesen des Dinges dem Intellekt wirksam und leicht manifestiert wird. Daraus « SCG, III, 63, De ver. 12,1 c. und In II. Sent. 28,1,5, sol. « SCG, IV, 86. — Vgl. In IV. Sent. 14.2,2, sol. η. 253. " In Is. 6,1. 40 SCG, III, 63. — Vgl. die Wendung: »transferendo nomcn visionis«: In III. Sent. 24,2, sol. η. 48. " In II. Sent. 13,1,2, sol. " In IV. Sent. 4,1,3, III. sed c. η. 69.

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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kann aber zugleich folgen, daß die Schönheit unmittelbar mit der kognitiven Kraft des Menschen, d. h. mit seinem Intellekt verwandt sei und zu ihm in einem Verhältnis stehe. Zweitens ist auch klar, daß im Lichte dieser Klarheitstheorie alle bisher untersuchten Schönheitsstellen, die etwas über die Klarheit als eine der tria requisita aussagen, gleich verständlich werden, — insbesondere die verborgenen Hinweise auf die geistige und Schönheit erzeugende Klarheit. Man darf aber zu gleicher Zeit die folgenden Umstände nicht vergessen: Erstens ist die soeben systematisierte Klarheitslehre der thomistischen Frühwerke ihrem Wesen nach allgemein-metaphysischer und spezifisch erkenntnistheoretischer Natur, die in der Epistemologie und der Trinitäts- oder Gnadenlehre der Dogmatik eine Anwendung findet. Deswegen ist auch der Zusammenhang selbst, in dem die verschiedenen Fragen dieser Klarheitstheorie erörtert werden, immer erkenntnistheoretischer oder speziell dogmatischer Natur. Zweitens gibt es keinen Text, in dem die Problematik dieser Lichtund Klarheitslehre als Hauptthema erörtert wird, der den leisesten bewußten Hinweis auf die ästhetischen Implikationen dieser Theorie enthält48, ganz wie auch die im vorigen Punkte untersuchten Klarheits- und Schönheitstexte keinen Anhaltspunkt zum geistigen Sinn des Terminus claritas oder splendor gegeben haben. Drittens, wenn man auch als Betrachter schon die Möglichkeiten dieser Klarheitstheorie in bezug auf die thomistische Ästhetik erblicken kann, insofern man die Schönheitslehre des Thomas in ihrer endgültigen Form schon kennt, bedeutet das noch nicht, daß Thomas selbst in dieser Periode seiner literarischen Tätigkeit diese Verbindung zwischen einer wesentlich epistemologischen Teildoktrin und der metaphysischen Ästhetik bereits hergestellt hat. Man muß diese Frage also eigens untersuchen. Nun können nur die Klarheitstexte der expliziten Schönheitsstellen uns verraten, ob Thomas die ästhetische Verwendbarkeit seiner epistemologisch-metaphysischen Klarheitslehre schon in dieser Frühperiode seiner literarischen Tätigkeit erblickt und davon derart Gebrauch gemacht hat, daß die explizit ästhetischen Klarheitsstellen schon selbst Produkte dieser Verbindung der zwei Klarheitslehren seien, daß ohne sie die in Frage kommenden Stellen gar nicht hätten verfaßt werden können. 43 Von allen hier zitierten Texten kommt SCG, IV, 86 solchem Hinweis am nächsten : anima divina visione fruens, quadam spirituali claritate replebitur; aber auch das kann nicht als sicheres Zeichen dafür betrachtet werden, daß Thomas bewußt und absichtlich diese seine epistemologische Klarheitslehre auf die Problematik der Ästhetik, insbesondere auf die Klarheit als Schönheitselement ausdehnen wollte.

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Systematische Analyse

Die zu konsultierenden Texte sind nun sieben44. Davon können vier ohne weiteres gleich verworfen werden, da sie keine Beweiskraft für die fragliche Verbindung der zwei Bereiche der Klarheitslehre besitzen45. Damit blieben nun noch drei Texte übrig. Im chronologisch ersten — eine Trinitätsdoktrin von Hilarius erörternd — erklärt Thomas den ästhetischen claritas-Charakter des göttlichen Sohnes als verbum perfectum4·. Dann fügt er unmittelbar seinen Bezug auf Augustins Autorität hinzu (wie er das im ganzen corpus regelmäßig tut). Soviel ist nun aus diesem Text zweifellos zu ersehen : Erstens lautet der erste Satz völlig so, wie mehrere nichtästhetische Texte seiner epistemologisch-metaphysischen Klarheitslehre47. Zweitens ist diese Stelle selbst die ästhetische Hauptstelle des ganzen Kommentars. Drittens erscheint der epistemologische Charakter des Textes aus dem Wort: »verbum*. Alle drei Umstände sprechen also klar für eine Verbindung der epistemologischen und ästhetischen Klarheitslehre. Nimmt man noch hinzu, daß der Schlüssel zum Verständnis des schwierigen Begriffes: claritas spiritualis bereits 28 Distinktionen früher (zwar nur in einer Objektion)48 gegeben und im nächsten Buch des Kommentars49 schon in einer solutio gelehrt wird, so kann es kaum einen ernsten Zweifel darüber geben, daß die fraglichen zwei Sphären der Klarheitslehre, die epistemologische und ästhetische, im Geiste des Thomas von Anfang an verbunden waren. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß sich Thomas in diesem Texte auf Augustin beruft : das zeigt bloß Augustins Einfluß auf seine Gedanken und seine Lehre. Diesen Einfluß ersieht man übrigens sehr ** Zwei Stellen von In I. Sent. 31,2,1, sol.; dann In IV. Sent. 18,1,2, sol. I. η. 52; 44,2,4 ad 3; und 49,5,4, sol. III; De ver. 8,15 ad 3 und In I. Cor. 11,4, L. 2. 45 Der erste Text: Deus est . . . causa . . . claritatis (In I. Sent. 31,2,1, sol. — siehe Anm. 4) ist lediglich ein Dionysius-Zitat. — Der Ausdruck »per claritatem gratiae« (In IV. Sent. 18,2, sol. I. η. 62. — siehe Anm. 7) kann einfach als eine auf alte, pathetische Tradition zurückgreifende Wendung betrachtet werden. — Der dritte Text über die aureola, die »principaliter sit in mente« (In IV. Sent. 49,5,4 sol. III. — siehe Anm. 6), drückt dagegen lediglich eine doctrina communis der Dogmatik de ultimis aus. — Der scheinbar nützliche Text in De veritate, 8,15 ad 3. über die göttliche Illumination des Intellekts der Engel behandelt zwar charakteristischerweise eine spezielle epistemologische Frage, ist aber nur die Antwort auf einen Einwand der Hauptfrage, in dem eine Dionysius-Stelle nebensächlich ästhetischer Natur zitiert wird, so daß Thomas gezwungen ist, ganz beiläufig etwas von ästhetischer Bedeutung zu äußern. «« In I. Sent. 31,2,1, sol. Vgl. ζ. Β. De ver. 1,4 sed c. 2a; SCG, IV,12; In I. Cor. 14, L. 1; In Hebr. 1,3, L. 2 usw. « In I. Sent. 3,1,2,2a. " In II. Sent. 13,1,2, sol.

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deutlich aus dem anderen von den drei zur Untersuchung übriggebliebenen Text 80 , der die Lösung einer die augustinische Schönheitsdefinition enthaltenden Objektion darstellt, und der sogar das epistemologisch primäre analogatum der claritas, das ist splendor solis anführt. Die Beweiskraft dieser zwei Texte ist so überzeugend, daß es sich schon erübrigt festzustellen, ob auch, wie es scheint, der letzte in Frage kommende Text" dieses Ergebnis bestätigt. Darf man nun auf Grund dieses Ergebnisses den Schluß ziehen, daß Thomas' Lehre über das objektive Wesen der Schönheit schon vor dem Dionysius-Kommentar völlig entfaltet war ? Solche Konklusion wäre voreilig und würde den Tatsachen nicht entsprechen. Vorerst wissen wir nämlich nur, daß das objektive Wesen der Schönheit drei Wesenselemente umfaßt und was diese drei sind. In bezug auf die Klarheit bedeutet das aber lediglich, daß sie eine Manifestationskraft für den Intellekt darstelle. Das ist aber ungefähr dieselbe Art Definition, wie wenn man mit Thomas die Schönheit als das definiert, cuius apprehensio placet; mit anderen Worten, wir kennen diese Klarheit noch nicht ihrem objektiven und absoluten Wesen nach, sondern vielmehr in ihrem auf das Subjekt hinweisenden, also subjektiven und relativen Charakter. Daran ändert nichts, daß wir aus der epistemologischen Klarheitslehre wissen, sie stamme (im Falle der Kreatur schlechthin) von der göttlichen Klarheit, von der Klarheit der göttlichen sapientia her. Offenbar fehlt hier noch ein wichtiges Glied in der Gedankenkette: ein Glied, das diese Manifestationskraft objektiv und absolut erläutert und zugleich die spezifisch-formelle Rolle, die die lux sapientiae divinae allem Anschein nach in der Schaffung dieses relativ-subjektiven Manifestationscharakters der Klarheit spielen soll, ausdrückt. Jedermann, der Thomas' Schönheitslehre einigermaßen kennt, weiß, daß man mit diesen Worten auf die substanzielle Form hinweist, die von ihrem Schöpfer geistig-intellektuelle Klarheit, das ist ihr Intelligibilitätswesen erhält und dem Ding, dessen Form sie ist, diese Klarheit mitteilt. Ganz konkret gesprochen benötigt also Thomas' bisherige Schönheitslehre eben die Lehre von den Formen, die seine Klarheitslehre mit den primären, d. h. dem objektiv-absoluten Wesen der Klarheit vervollständigt. Was findet man davon an den expliziten Schönheitsstellen der bisher untersuchten Werke ? m In IV. Sent. 44,2,4 ad 3. » In I. Cor. 11,4, L. 2.

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Systematische Analyse

Lediglich zwei Stellen. An der ersten sagt Thomas Folgendes: . . . nulla creatura sit infinita, nec in ea iniinitus sit decor resultans proportione partium**.

ex forma et

Erstens kommt nun dieser Text in einer Objektion vor. Zweitens ist es textlich nicht klar, ob Thomas unter dieser forma die substanzielle Form meint, so daß damit gesagt würde, der decor stamme von ihr (der Form) und von der Proportion der Teile her, oder bloß die Gestalt (forma accidentalis) der Teile, so daß damit gesagt würde, der decor stamme von der Gestalt und Proportion der Teile. Man bekommt auch von der Lösung dieser Objektion keine Antwort auf diese Interpretationsschwierigkeit, da Thomas in der Lösung die Schönheit gar nicht erwähnt. Die Möglichkeit dieser letzteren Interpretation ist allerdings nicht ausgeschlossen. Was erzielt man aber dadurch? Diese Stelle allein reicht noch nicht zu dem endgültigen Schluß aus, daß Thomas bereits zu dieser Zeit seine Formenlehre mit seiner Doktrin über das objektive Wesen der Schönheit, also speziell mit seiner ästhetischen Klarheitslehre, organisch und endgültig verbunden hat. Die zweite Stelle ist die folgende : (A) forma rei est decor eius".

Sie ist aus zwei Gründen wichtiger. Erstens ist es zweifellos, daß hier die forma substantialis gemeint ist. Zweitens erscheint sie unter sed contra. Diese Gründe sprächen für den obigen Schluß. Die kaum zu vermeidende Gefahr, zu solcher Schlußfolgerung geneigt zu sein, kommt eben daher, daß man bei solchen Stellen gleich an diejenigen Teile der thomistischen Schönheitslehre denkt, die zu der Zeit dieser Äußerungen noch gar nicht existierten. Außerdem muß man erwägen, wieviel man aus diesem Satz tatsächlich erfährt. Nur, daß die Form die Quelle der Schönheit sei. Über die Weise, in der die Form die Schönheit des Dinges schaffe, weiß man aber immer noch nichts. Man hat damit auch noch keine Antwort auf die Frage nach dem objektivabsoluten Wesen der Klarheit erhalten, obwohl man es schon ahnen kann, insbesondere auf Grund der epistemologischen Klarheitslehre, die ja logisch eng mit der von der substantiellen Forin zusammenhängt. Anderseits ist es völlig logisch, folgendermaßen zu argumentieren. Da das Thomas wohlbekannte Opusculum de pulchro seines Meisters Albert den Ursprung der Schönheit explizit der Form zuschreibt54, und In I I I . Sent. 1,1,3,3a, n. 53. In I I I . Sent. 23,3,1, I. sed c. 2a. n. 225. M Dicendum, quod pulchrum in ratione sui plura concludit: scilicet splendorem formae substantialis vel actualis — De pulchro. Circa secundum. Solutio. (Zit. Ausg. S. 565.) — Vgl. auch ebd. ad 3, S. 566; ad »laudatur a cunctis«, Solutio, S. 567; Dubitatur . . . ad 1. S. 569; Videtur autem . . . ad 6. S. 576; Ad »omms«, ad 2. S. 580. 62

a

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da Alberts diesbezügliche Lehre65 Thomas sicher bekannt gewesen ist, konnte er diese Stellen eben ais ein Schüler Alberts geschrieben haben, ohne daß es dazu nötig gewesen wäre, die uns interessierende organische Verbindung der Formenlehre und der ästhetischen Klarheitslehre und der Schönheitslehre schlechthin völlig überdacht und endgültig als seine (eines souveränen Meisters) eigene Schönheitstheorie ausgebaut zu haben. Thomas hat ja in seinen Frühwerken nie einen Beweis dafür erbracht, daß er sich für die Schönheit als ein metaphysisches Problem besonders interessiert hätte. Was immer aber auch zur Zeit der Abfassung dieser zwei lakonischen Stellen geistig schon formuliert oder nicht formuliert gewesen sein mag, es besteht allerdings die Tatsache, daß er diesen zwei Zeilen bis zum Dionysius-Kommentar nichts beigefügt, dadurch aber wichtige Fragen über das objektive Wesen der Schönheit schlechthin, wie über das der Klarheit unbeantwortet und unentfaltet gelassen hat. So ist man dann nun mit zwei wichtigen Fragen konfrontiert, die in zwei verschiedene Richtungen weisen. Die erste Frage ist: Hat sich Thomas' epistemologisch-metaphysische Klarheitslehre in seinen späteren Werken geändert, ist sie einer weiteren Gedankenentwicklung unterworfen worden? Die zweite lautet: Hat Thomas seine ästhetische Klarheitslehre weiterentfaltet und dadurch seine gesamte Schönheitslehre vertieft und bereichert ? Nun ist es klar, daß die erste Frage um der zweiten willen gestellt wird. Außerdem leuchtet es ein, daß jede wesentliche Änderung der epistemologischen Klarheitslehre leicht die Weiterbildung der ästhetischen Klarheitslehre beeinflussen konnte. Endlich ist es offenbar, daß erst eine Antwort auf die zweite Frage die Untersuchung der thomistischeft Klarheitslehre beenden kann. Deswegen muß man zuerst versuchen, die erste Frage zu beantworten. 3. Soll die epistemologisch-metaphysische Klarheitslehre sich in späteren Werken schon nicht, oder mindestens nicht wesentlich geändert haben, dann muß sie eben die folgenden Elemente derselben Klarheitslehre der ersten Periode enthalten: den doppelten Sinn des Terminus Klarheit und seiner Synonyme; die Lehre über göttliches und partizipiertes Licht, deren analogisch ähnlicher und gemeinsamer Sinn eben die Manifestation ist, und endlich die doppelte Sinnespriorität der zwei Arten von Klarheit und Licht. In bezug auf den ersten Punkt gibt es keinen Zweifel: Thomas spricht über Klarheit und Licht im physischen sowie im metaphy65 Vgl. z. B. Alberti Summa theol. pars II, tr. 10. q. 39 membr. 1. a. 1 partie. 2 quaesitum 2 sol. und ad 7 und ad 8. (zit. Ausg. vol. 32, S. 437 f.) ; — pars II, tr. 11. q. 62, membr. 1. Contra. 2 und sol. (vol. 32, S. 697) ; ebd. quaest. 74 contra und sol. (vol. 33, S. 66f.) usw.

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sisch-geistigen Sinn®·. In diesem Zusammenhang scheint die einzige und ganz unwichtige Änderung darin zu bestehen, daß splendor im physischen Sinne reflektierter Lichtstrahl bedeutet, anstatt, wie in der Frühperiode, lumen, also die direkte »Manifestation« des Lichts57. Diese leichte Änderung der Begriffe geht zusammen mit klaren Definitionen für die einzelnen Synonyme58. Was nun diese Termini im übertragenen Sinn betrifft, spricht Thomas über Gott als Licht69, über den Sohn des göttlichen Vaters als Glanz vom Licht·0 und über den Hl. Geist als den splendor des Vaters und des Sohnes·1. Ferner lehrt er. daß alle geschaffenen Dinge vom göttlichen Verbum als lumen manifestiert werden, indem sie ihr manifestierendes Prinzip, die Form, vom Verbum erhalten·2 und dadurch intelligibel gemacht werden·8, so daß alle Menschen durch ihre natürliche·4 wie durch ihre übernatürliche Erkenntnis·6 eigentlich am göttlichen Licht partizipieren. Wie ersichtlich, ist diese Lehre wesentlich dieselbe, die man schon von den früheren Werken kennengelernt hat. Doch enthält sie etwas, was man aus den bisherigen Texten expressis verbis noch nicht erfahren hat: die Manifestationskraft der geschaffenen Dinge, wodurch *· Thomas spricht über claritas physisch z. B. : In lob, 41, L. 2. princ.; In II. Met. L. 1. n. 284; In I. Meteor. L. 11 und 12 c; In II. De caelo, 16 b ; ST I 66,3 ad 4; — I — I I 67,6,2 — im metaphysischen Sinne: z. B. in ST I I — I I 172,1 c; Comp, theol. cap. 106; vgl. auch De div. nom. 4,18, η. 544 und In V. Eth. L. 2 n. 906; — über splendor physisch: ζ. B. De pot. II,4,13a; 3,13 c und ad 6; In II. De an. L. 14 n. 421; De sensu et s. L. 3 ad »causa quidem«; und metaphysisch: z. B.: De pot. 10,4,22a und ad 22; In Ev. Ioann. 17,1, L. 1; vgl. De malo, 16,6c und In duo praec. carit. prol. V. n. 1158; — über lux: physisch ζ. B.: In VIII. Met. L. 4 n. 1764; In X. E t h . L. 3 n. 1983; In II. De an. L. 14 n. 422; De an. 7, ad 6 und metaphysUfeh: De pot. 4,2,3a und ad 3; In Ev. Ioann. 1,1, L. 3; und 8; 8,1, L. 2; — über lumen: physisch: I n VIII. Met. L. 4 n. 1744; In XII. Met. L. 4 n. 2467; In II. De an. L. 14 n. 427; I n I I I . De an. L. 10 n. 730; und metaphysisch : De div nom. 4,1,287 ; De pot. 4,2 ad 7. ; De an. 4 ad 4.; In Ev. Ioann. Kap. 1 L. 4;Quodl. I, 1,2a, ad 1. und ad 2.; ST I — I I 109,7 c. " Vgl.: lucis autem manifestatici splendor ipsius est — (SCG, IV,12) und: splendor est illud quod a fulgente primo emittitur (In Hebr. 1,3, L. 2) mit dieser Feststellung: splendor est a radio, cum nihil aliud sit quam reverberatio radii ad corpus d a r u m . ( D e p o t . 10,4 ad 22. — Vgl. ebd. 9,9 ad 12.) »· In II. De an. L. 14 n. 421. Vgl. auch n. 422. « Quodl. 1,1,1,2a und ad 2. De pot. 2,3 sed c. 3a. — Vgl. ebd. 2,4,13a und 9,9,12a, ferner: In Ioann.1,1 und ebd. 17,1, L 1. « De pot. 10,4,22a und ad 22. " In Ev. Ioann. cap. 1. 1. 4 ad »Ut testimonium«. M In Ev. Ioann. 8,1, L. 2. — Vgl.: Diffuderat siquidem radios suos, sapientiae videlicet suae indicia, super opera omnia quae creavit. — Epist. dedicat. ad U r b a n u m IV. in Cat. super Matth, evang. ed. ** In Ev. Ioann. 1,1, L. 5. — Vgl. 6,6, L. 6 und 8,V. L. 2. " In Ev. Ioann. 1,1, L. 8.

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sie intelligibel sind, ist hier der von der göttlichen lux herstammenden Form zugeschrieben. Damit vervollständigt sich nun die thomistische Klarheitslehre in ihrer epistemologischen Version, da man nun schon weiß, daß die claritas eben deswegen Manifestationskraft oder Intelligibilität für das erkennende Subjekt darstellt, weil sie eben objektiv und absolut das Kennzeichen der Vom-Geist-Geschaffenheit des Dinges darstellt, und zwar durch die substantielle Form, die das Produkt des geistigen Lichtes, folglich für das Ding selbst das Prinzip der Intelligibility oder geistigen Klarheit ist. Außer den ersten zwei Hauptpunkten der früheren epistemologischen Klarheitslehre enthält diese ihre reife Version auch den dritten Hauptpunkt: die doppelte Sinnespriorität der zwei analogata der claritas als des körperlichen oder geistigen Lichtes. Tatsächlich ist die Lösung der Frage, ob der physische oder der metaphysisch-geistige Sinn der claritas früher sei, auf Grund der Distinktionen zwischen ontologischer und logischer Priorität in De potentia eine treue Paraphrase der entsprechenden Stelle im Sentenzenkommentai*. Da nun alle drei Hauptpunkte der epistemologisch-metaphysischen Klarheitslehre der Frühperiode in der der späteren Werke enthalten sind, hat sich Thomas' epistemologische Klarheitslehre sicher nicht wesentlich geändert. Indem aber die Rolle der Form, die sie in der Schaffung der Klarheit des kreatürlichen Dinges spielt und durch die der ontologisch primär klare Geist und die Klarheit des Dinges organisch verbunden werden, in den späteren Werken ganz explizit in diese Klarheitslehre eingeschaltet wird, ist deren spätere Version zugleich als reicher und vollständiger zu betrachten. Sie sagt das, was in der früheren Version implizit enthalten war, explizit aus. Mit dieser Kenntnis hat man zum Schluß der Untersuchung der thomistischen Klarheitslehre noch zwei innig verbundene Fragen zu lösen: Hat Thomas in seiner expliziten Schönheitslehre in Werken, die nach dem in Punkt 1 untersuchten verfaßt wurden, seine ästhetische Ttlarheitslehre weiterentfaltet, mindestens der ersten Version seiner epistemologisch-metaphysischen Klarheitslehre entsprechend? und: Hat vielleicht die vervollständigte Form seiner epistemologischmetaphysischen Klarheitslehre in seiner expliziten Schönheitslehre schlechthin und speziell in seiner ästhetischen Klarheitslehre einen Platz gefunden ? Die Antwort auf beide Fragen hängt nun von den expliziten Schönheitsstellen ab, die erstens in dem (nach den in Punkt 1 untersuchten Werken) chronologisch nächsten Werk, dem Kommentar zu De divinis nominibus, und zweitens in allen späteren Werken enthalten sind. · · Die Stelle von In II. Sent. 13,1,2 sol. wird in De pot. IV. 2. ad 3. paraphrasiert. Vgl. eine zweite Parallelstelle In Ev. Ioann. 1,1, L. 3 ad »lux hominum«.

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Wenden wir also unsere Aufmerksamkeit zuerst dem DionysiusKommentar zu. 4. Nun finden wir zuerst, daß Thomas gleich im 4. Kapitel seines Dionysius-Kommentars — nach der auffallenden neuen Wendung, die seine Schönheitslehre von Contra impugnantes an eingenommen, und die in der Summa contra gentiles ihre Kulmination gefunden hat®7 (eine Entwicklung, die erst an Thomas' Ordnungslehre gründlich untersucht wird!) — die Klarheit der Farbe und deren Bedeutung für die menschliche Schönheit scheinbar wiederherstellt, indem er feststellt : sic enim hominem pu Ichrum dieimus, . . . propter hoc quod habet darum et nitidum colorem*8,

eine Lehre, die er von jetzt an ununterbrochen wieder und wieder betont 6 9 . E r geht aber gleich im nächsten Satz über diese alte, vom Sentenzenkommentar stammende Lehre weit hinaus, wenn er den Schluß zieht : Undeproporiionaliter est in ceteris aeeipiendum, quod unumquodquediciturpulchnim, secundum quod habet claritatem sui generis vel spiiitualem vel corporalem70.

Mit den zwei entscheidenden Aussagen deutet Thomas an, daß er im Begriff sei, seine Schönheitslehre in zwei wichtigen Richtungen weiter zu entfalten. Indem er nämlich das Wort proportionaliter einschließt, weist er auf die analoge Natur der Schönheit hin. Anderseits, wenn er sagt, daß jedes Ding eine Klarheit sui generis habe, weist er nicht nur auf die zwei Hauptgenera der Klarheit (claritas corporalis et spiritualis) hin, sondern implizit auch auf die Form, durch die jedes Ding, wie es von der lux aeterna, dem göttlichen Intellekt, erdacht und realisiert worden ist, manifestiert oder mindestens intelligibel wird 71 . So werden also durch zwei kurze Aussagen oder drei Worte sogleich zwei fundamentale, zutiefst metaphysische und deswegen allgemeingültige Verbindungen zwischen der Schönheit und einer ihrer Wesensbedingungen, der Klarheit, gleich am Anfang der neuen Gedankenperiode gefunden. Dann kommen, gleich im nächsten Satz, drei weitere Ausdrücke vor, nämlich radii luminosi, fons omnis luminis und secundum partieipationem 72 , und wir können darin sofort zwei weitere Bestandteile der Klarheitstheorie erkennen, von denen der erste uns bereits bekannt ist, Siehe Anm. 16 und 18. ·» De div. nom. 4,5,339. " Vgl. z. B. In Thren. 4,7; In II. Eth. L. 7 n. 320; ST I 39,8 c; I — I I 49,2 ad 1.; I I — I I 146,2 c; I I I 87,2 ad 3. 7 0 De div. nom. 4,5,339. 7 1 Vgl. In Ev. Ioann. 8,1, L. 2. 7 2 Der Satz beantwortet die Frage, quomodo autem Deus sit causa claritatis, und lautet folgendermaßen: Deus immittit omnibus ercaturis, cum quodam fulgore, traditionem sui radii luminosi, qui est fons omnis luminis: quae quidem traditiones fulgidae divini radii, secundum participationem similitudinis sunt intelligendae, et 67

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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daß nämlich Gott die Urquelle allen Lichtes sei. Aber die beiden anderen spezifizieren, was bisher noch nicht explizit gelehrt wurde: daß nämlich die göttliche Klarheit durch die (im vorigen Satz angedeutete) Form der Kreatur Klarheit und dadurch Schönheit eben in der (typisch thomistischen) Weise der Partizipation erteile, so daß die Kreatur dadurch gottähnlich gemacht werde. Nun könnte man gegen diese Interpretation einwenden, daß sie denselben Fehler aufzeige, wogegen man in Punkt 2 so scharf protestierte, daß nämlich etwas in einen Text hineingelesen wird, was Thomas explizit vorläufig noch gar nicht und höchstens später gelehrt hat. Zur Beantwortung dieses Vorwurfes betrachten wir, was Thomas in derselben Lektion, nur etwas später, geschrieben hat : claritas enim est de consideratione pulchritudinis, ut dictum est ; omnis autem forma, per quam res habet esse, est participatio quaedam divinae claritatis; et hoc est quod snbdit, quod «ingnl» sunt pulchra secundum propriam rationem, id est secundum propriam formam; unde patet quod ex divina pulchritudine esse omnium derivatur n .

(Ganz ähnlich spricht er auch an anderen Stellen in derselben Lektion oder eine Lektion später74.) Hier wird es also ganz explizit ausgesagt, was bisher das vermißte Glied in der Gedankenkette der thomistischen Klarheitslehre war: daß nämlich die schönheitsformende claritas jedes geschaffenen Dinges eben auf der dem Dinge auch den Akt des esse mitteilenden Form ruhe, von ihr stamme, während die Form selbst in der Klarheit der göttlichen Schönheit, die sie erdenkt und schafft, ihren Ursprung habe. Damit hat man auch zugleich die Antwort auf die Frage, worin die objektivabsolute Natur der Klarheit bestehe. Nach diesen Äußerungen sei sie nämlich eben jenes Kennzeichen des geschaffenen Dinges, daß das Ding formaliter als vom Geiste geschaffen in und an sich trägt, das sich dann seiner Natur nach äußerlich, nach außen für das Subjekt, urid zwar (wie später gezeigt wird) für das geistige und geistig betrachtende Subjekt als Intelligibilität, Manifestationsfähigkeit oder — im subjektiv-relativen Sinn — eben als Klarheit zeigt. Aus diesen Gründen scheint man ohne Ubertreibung sagen zu dürfen, daß in diesen wenigen Zeilen die ganze Tiefe und Höhe der thomistischen Schönheitslehre und speziell der ästhetischen Klarheitslehre mit ihren weitgehenden Konsequenzen enthalten seien und sie einen ungeahnten Intuitionsreichtum zusammen mit einem systematisierenden Talent in demselben Thomas verraten, der Dionysius, nicht ganz ein Jahrzehnt früher, im ersten Buch des Sentenzenkommentars75 noch istae traditiones sunt pulchrificae, id est facientes pulchritudinem in rebus. (De div. nom. 4,6,340.) De div. nom. 4,6,349. '« Ebd. 4,6,360 und 4,6,367. « In I. Sent. 31,2,1, sol.

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Systematische Analyse

so treu und beinahe demütig zitiert hat, jetzt aber ihn überlegen kommentiert. Tatsächlich bietet dieser einzige Satz in c. 4 1. 5 n. 349 mehr Information über das Wesen der Klarheit und dadurch zugleich über das objektive Wesen der Schönheit als alles, was Thomas bis zu diesem Kommentar über seine Ästhetik geschrieben hat. Es ist deswegen durchaus denkbar, daß man aus diesem Satz allein — mittels seines metaphysischen Systems — seine gesamte Schönheitstheorie so herausschäle, daß darin auch die zwei anderen Elemente, die Integrität mid Proportion wie die Ordnung, die erste thomistische Schönheitssynthese (über die später zu reden sein wird), ihren gebührenden Platz erhalten würden. Deswegen wird man auch in allen weiteren Analysen wieder und wieder auf diese Stelle zurückgreifen müssen. Es genüge hier, nur auf drei Punkte hinzuweisen. Erstens, sobald Thomas aussagt, daß die Form das Prinzip der Klarheit, also eine der Wesensbedingungen der Schönheit sei, kann er dem Schluß, die Schönheit sei eine transzendentale Eigenschaft, nicht mehr entkommen. So ist es denn kein Zufall, daß die »offizielle Liste« der Transzendentalien in De veritate76, die noch vor dieser Entwicklung verfaßt wurde, die Schönheit noch nicht enthält, während man nach diesem höchst wichtigen Satz, das ist nur sechs Punkte später, schon liest: unumquodque sit pulchrum et bonum secundum propriam formam77.

Eine zweite Hauptlinie des Gedankenganges ist folgende: wenn einerseits die Klarheit zum Wesen der Schönheit gehört, anderseits sie, dem geistigen Ursprung der Form entsprechend, eben die Intelligibilität des Geschöpfes schlechthin konstituiert, so muß die Schönheit selbst zum Bereich der Formalkausalität gehören78 und eine wesentlich ontologische, eben transzendentale Relation formell zum Erkenntnisvermögen haben79 — eine Feststellung, die noch in derselben Lektion gemacht wird, in der der behandelte fundamentale Satz zu finden ist. Eine dritte Richtung der Synthese ist nun diese: wenn das Schönheitselement des splendor formae, wie auch seine Urquelle, die lux divina, claritas intelligibilis et spiritualis ist, dann muß die aus ihm konstituierte Schönheit eben nur geistig erkennbar und erst als geistig erkannte ergötzend und liebenswert sein, womit man einerseits die übersinnliche Erkennbarkeit der Schönheit, anderseits ihre Doppelbezogenheit auf den Intellekt und den Willen, zwei wichtige Pfeiler der thomistischen Schönheitstheorie, erkannt hat. '· " »· '·

De veritate, 1,1, c. De div. nom. 4,6,356. — Vgl. 4,18,625 und 4,21,554. Vgl. ST I 6,4 ad 1. fin. De div. nom. 4,6,366. — Vgl. ST I—II 27,1 ad 3.

Thomas' Lehre fiber das Wesen der Schönheit

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Wenn nun an dieser Stelle die Implikationen nicht weiter aufgezählt werden, ja sogar die thomistische Klarheitslehre als ein Bestandteil der Schönheitsdoktrin des Aquinaten nicht weiter analysiert wird, so deswegen, weil dies als das eigentliche Objekt späterer Kapitel (bei der Formenlehre und anderen Problemen) getrennt und ausführlich zu behandeln ist. Vorher ist aber noch die Ordnungslehre in ihren ästhetischen Aspekten zu untersuchen. Im Lichte der Wichtigkeit und des Implikationsreichtunis eines einzigen Satzes des Dionysius-Kommentars kann es keinen Zweifel geben, daß man in diesem Werk Zeuge einer Gedankenvertiefung von höchster Bedeutung wird: eine Gedankenentwicklung, durch die die thomistische Schönheitslehre sich gar nicht wesentlich geändert hat, sondern vielmehr mit der ganzen Metaphysik des Thomas enger, organischer verbunden, also vertieft worden ist, und zwar ganz der Vertiefung der epistemologisch-metaphysischen Klarheitslehre entsprechend. Damit wären nun die beiden Fragen, die am Ende des dritten Punktes dieses Artikels gestellt wurden, beantwortet. Dieses Ergebnis bestätigt dann nicht nur das Ergebnis der materiellgenetischen Analyse des vorigen Teiles80, sondern auch — vorläufig teilweise — das der formell-genetischen Analyse der thomistischen Schönheitslehre81. 5. Die Klarheitslehre des Aquinaten läßt sich in ihrer endgültigen Form folgendermaßen zusammenfassen: Wo immer es irgendwelche Klarheit gibt, dort sei die dritte Wesensbedingung der Schönheit erfüllt. Diese Klarheit mag entweder das physische Licht, oder die physische Klarheit der Farbe, oder — ganz formell — Intelligibilität darstellen. Die geistige Intelligibilität ist der relativ-subjektive Aspekt der Klarheit, die (da die Klarheit des Dinges von seiner Form stammt, die wiederum von der geistigen Klarheit des schaffenden Gottes herkommt), in ihrem objektiv-absoluten Aspekt einen schlechthin geistigen Ursprung hat und die Selbst-Manifestation des Geistes darstellt. Wenn dann diese Klarheit zusammen mit Integrität und Proportion in einem Dinge vorhanden ist, so sei jenes Ding notwendigerweise schön82 : Fragt man nun Thomas (wie es in bezug auf die Integrität und die Proportion geschah), wie er zu dieser Auffassung gekommen sei, so antwortet er uns in drei Sätzen : »® Teil I, Kapitel II, Artikel 1 und 2 S. 46—68. 81 Teil I, Kapitel III, Art. 2, Punkt 3 S. 70— 72. — Die entsprechende Interpretation des im Punkt 3 über die Entwicklung betreffs der Ordnung Gesagten kann erst im Rahmen der systematischen Analyse der thomistischen Ordnungslehre erfolgen. «» ST I 39,8 c.

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Systematische Analyse

dicimus homines pulchros qui habent . . . splendentem colorem93. sic enim hominem pulchrum dicimus . . . propter hoc quod habet darum et nitidum colorem·4. quae habent colorem nitidum, pulchra esse dicuntur u .

Diese drei Stellen verraten uns, daß Thomas auch den dritten Teil seiner Theorie über das objektive Wesen der Schönheit auf einem aposteriorischen Grund gebaut hat. Diese seine Entschlossenheit, eine Ästhetik aposteriorisch zu entfalten, kommt dadurch betont zum Ausdruck, daß er in seinem Hauptwerk beinahe wörtlich dieselbe Begründung gibt, die er in seinem Frühwerk und in seinem ästhetischen Hauptwerk uns geboten hat. Und damit zeigt sich vollends die schlechthin aposteriorische Natur seiner Lehre über das objektive Wesen der Schönheit. Die systematische Analyse der thomistischen Schönheitslehre, d. h. der Integritäts-, Proportions- und Klarheitslehre wäre nicht vollständig, wenn man hier nicht kurz einiges darüber sagte, was die allgemeine Natur oder der allgemeine Charakter dieser thomistischen Theorie über das objektive Wesen der Schönheit ist, einer Theorie, die ursprünglich aus solch heterogenen Elementen wie der DionysischPlatonischen Klarheit und der Aristotelischen magnitudo zusammengesetzt wurde, und der deswegen auch so viel an organischer Einheit mangelte, daß Thomas selbst sie nur so in seinem Frühwerk beschreiben konnte : Ad rationem autem pulchritudinis duo concurrunt secundum Dionysium . . , scilicet consonantia et claritas. . . . His duobus addii tertium Phtlosophus ...M.

Nun umfaßt diese thomistische Schönheitstheorie drei Elemente. Das erste Element, die Integrität bzw. Perfektion, war ursprünglich Aristoteles' μέγεθος87. Das zweite, die Proportion, kann unmittelbar als dionysischen Ursprungs88 (und in dieser Richtung letzten Endes platonisch)89, zugleich aber auch als von Aristoteles' μέσον90 bzw. σνμμετρία91 stammend betrachtet werden. Das dritte, die Klarheit » In I. Sent. 31,2,1. sol. 84 De div. nom. 4,5,339. " ST I 39,8 c. 8 8 In I. Sent. 31,2,1, sol. 8 7 Arist. Poet. VII,4,1450 b 38f. ; — vgl. ebd. VIII,4,1451 a 30 — 35; und Top. 111,1,116 b 13. 8 8 Dionysius, De div. nom. passim. 8 9 Vgl. ζ. Β. Phaedon, 86 a—c; Phileb. 64 d—65 c; 66 a—b; 51 b; und Tim.31b—c und 87 c—d. •o Z. B. Pol. VIII,7,10,1342 b 14f.; Eud. Eth. 11,5,1,1222 a 7 — 11; 11,5,11,1222 b 13f.; VII, 9,5,1241 b 33—41; — vgl. auch Met. XIV,6,10,1093 b 12—14, usw. ·» Met. X I I I , 3,10,1078 a 36—b 1. — Vgl. auch Pol. VIII,δ,10,1340 b 17 ff., usw.

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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(claritas-splendor), ist dagegen unmittelbar dionysisch92, aber seiner Herkunft nach auch plotinisch93 und letztlich wieder platonisch"4. So wären ein mehr oder weniger rein aristotelisches, ebenso ein rein platonisches und ein aristotelisches und zugleich platonisches Element in dieser Klarheitslehre vorhanden. Nun hat Thomas das erste gleich im ersten Buch des Sentenzenkommentars*6 in einen, seiner metaphysisch werdenden und dort dogmatisch verwendeten Schönheitslehre entsprechend, metaphysischen Begriff, den der integritas bzw. perfectio, u m g e w a n d e l t ; das zweite in aristotelischer Richtung entfaltet (wobei es aber seinen platonischen Charakter z. B. im Dionysius-Kommentar noch nicht verloren hat) und das dritte durch den Begriff der Form (die für Thomas keineswegs platonischer Herkunft, sondern eine ausschließlich aristotelische Doktrin war), den er mit seiner epistemologisch-metaphysischen, im Dionysius-Kommentar aber auch mit seiner ästhetischen Klarheitslehre organisch verbunden hat, endgültig zu einem in seine überwiegend aristotelische Metaphysik und Philosophie passenden Element transformiert und damit aus der im Sentenzenkommentar noch so künstlich und willkürlich formulierten Schönheitstheorie heterogener Elemente während der Abfassung des Dionysius-Kommen tars eine organisch-einheitliche Schönheitstheorie geschaffen, die, nun selbst aristotelisch-homogen geworden, einen integralen Teil seiner gesamten Metaphysik zu bilden begann. Sektion B. THOMAS'

SCHÖNHEITSSYNTHESE

Die genetischen Prinzipien

der Schönheit

In Sektion A ist die Schönheitsanalyse des Thomas systematisch zusammengefaßt und, wo es nötig war, auch in ihrer genetischen Entfaltung dargelegt. Dadurch weiß man nun, auf welche Wesenselemente Thomas die Schönheit analytisch zurückgeführt hat. Diese systematische Darstellung ist aber allein nicht ausreichend, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wurde bereits in der genetisch-systematischen Untersuchung der ästhetischen Klarheitslehre ein in den nach dem Sentenzenkommentar verfaßten Werken auftretender neuer Gedankenstrom angedeutet, in dessen Zentrum der Begriff ordo stand. Die Unter·* Dionysius: De div. nom., passim. » Vgl. Plotins Begriff: φώ$ ζ. B. Enn. 1,6,3 (zit. Ausg. S. 32) ; V,8,4, S.362;VI,7,216, S. 492; VI,9,4, S. 632 und seinen Begriff «JryXctia z . B . Enn. 1,6,9, S. 36 f.; 111,6,9, S. 149; V,3,16, S. 323; V,8,4, S. 352; — auch 1,6,3, S. 32 usw. M Vgl. ζ. B. Phaedrus, 250 b—d, Phileb. 29 c; Symp. 210 e—211 b ; Republ. VI, 608, a—d usw. " In I. Sent. 31,2,1, sol.

io KoTich

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Systematische Analyse

suchung dieser Erscheinung ist nicht nur genetisch wichtig, um bestimmte Ergebnisse der früher durchgeführten formell-genetischen Analyse im Lichte der systematischen Darstellung der thomistischen Schönheitslehre zu bestätigen, sondern auch vom rein systematischen Gesichtspunkt aus von großer Bedeutung. Wenn nämlich eine Schönheitsdefinition auf einmal keine der bisher untersuchten drei Wesensforderungen aufweist, statt dessen einen Terminus einschließt, der mit keinem der drei synonym ist, dann ist dies offenbar ein Anzeichen für eine andere Gedankenrichtung, die man eigens zu erörtern hat. Außer diesem mehr äußerlichen und aposteriorischen Grund gibt es aber auch einen inneren und apriorischen für die Notwendigkeit einer Weiterführung der systematischen Untersuchung. Er besteht darin, daß man nach der bisher untersuchten thomistischen Doktrin noch nicht weiß, in welchem Verhältnis die drei Wesensprinzipien zueinander und zu der aus ihnen entstehenden Schönheit stehen oder, ganz konkret gesprochen, warum eben die Integrität das erste Prinzip (»primo quidem«), die Proportion das zweite (»Et«) und die Klarheit das dritte (»Et iterum«) ist. Man könnte die Frage auch so formulieren, daß man diesmal sich nicht dafür interessiert, wie die Schönheit analytisch auf ihre Wesensprinzipien zurückzuführen sei, sondern vielmehr, wie diese die Wesenseinheit der Schönheit bilden. In dieser zweiten Sektion wäre nicht Thomas' Schönheitsanalyse, sondern seine Schönheitssynthese systematisch darzulegen — eine Aufgabe, die im Gegensatz zur Untersuchung der thomistischen Schönheitsanalyse kaum je versucht worden ist. Nun macht der zuerst angeführte Grund im Rahmen der genannten Synthese-Untersuchung die Erörterung der thomistischen Ordnungslehre nötig (Artikel 1, § 1), während der zweite Grund eine Analyse der Ordnung in bezug auf die Schönheitselemente notwendig macht (Artikel 1, § 2). Die zwei Paragraphen zusammen werden die erste Schönheitssynthese des Aquinaten darlegen, die abstrakte Synthese genannt wird, weil sie ausschließlich mit abstrakten Begriffen, nämlich Ordnung, Integrität, Proportion, Klarheit und Schönheit zu tun hat. Diese Untersuchung wird aber noch nicht alle diesbezüglichen Fragen der thomistischen Lehre über die Schönheit lösen. Es wurde ja am Ende des vorigen Artikels bereits darauf hingewiesen, daß die Aufgabe, die thomistische Klarheitslehre vom Dionysius-Kommentar an in allen Einzelheiten weiter zu untersuchen, eine spezielle Erörterimg der Formenlehre nötig mache. Außerdem muß man noch die Bedeutung des Wortes »debita«, als des immer wiederkehrenden Beiwortes der proportio, verständlich machen. Aus diesen zwei Gründen muß man eine weitere Untersuchung angehen, und zwar die der ästhetischen Formenlehre (Artikel 2, § 1),

Thomas' Lehre über das Wesen der Schönheit

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die wiederum ermöglichen wird, daß man die (transzendente und immanente) Entstehung der Schönheit durch die daran beteiligten Schönheitsursachen kennenlerne (Artikel 2, § 2). Da nun diese zweite Synthese mit konkreten Begriffen wie Form, Geist, Ursache, usw. zu tun hat, mag sie wohl konkrete Schönheitssynthese genannt werden. 1. Erste (abstrakte) Synthese a) Die thomistische Ordmngslehn

In diesem sowie im nächsten Paragraphen scheint es zweckmäßiger zu sein, zuerst immer die jeweiligen expliziten Schönheitstexte zu konsultieren und nachher die diesen Texten entnommene Lehre mit weiteren Texten zu ergänzen. Für die Ordnungslehre ist es weiterhin zweckmäßig, die ganze Erörterung mit einer chronologischen Untersuchimg der Ordnungstexte, die an expliziten Schönheitsstellen vorkommen, zu beginnen, damit man ersehe, wie die ästhetische Ordnungslehre sich stufenweise entwickelt hat. 1. Die ersten ordo-Stellen erscheinen eigentlich bereits an expliziten Schönheitsstellen des Sentenzenkommentars. Diese zeigen uns aber lediglich, daß Thomas solchen Termini wie ordinatio, dispositio, ordinatum und ordo einen gewissen ästhetischen Wert zuschreibt1. In der nächsten Etappe dieser Entfaltung findet man den Terminus ordinatio schon in der Definition der pulchritudo spiritualis und corporales, und zwar im nächsten Werk, Contra impugnantes dei cultum et religionem2. Die dritte Phase der ästhetischen Ordnungslehre beginnt in dem ein paar Jahre später verfaßten Isaias-Kommentar, wo, wie bereits in der Analyse der Klarheitslehre erwähnt8, die Farbe, die nach dem ästhetischen Haupttext des Sentenzenkommentars par excellence das Klarheitselement der körperlichen Schönheit darstellte, diesmal selbst einen dem Ordnungsbegriff wohl passenden Proportionscharakter erhält, als Thomas die biblischen Worte : »Non est ei species . . . ñeque decor« kommentiert4. Dieser Umstand wird nun in der ersten Summa ganz deutlich: sani tas est quaedam harmonía humorum, fortitudo nervorum et ossium, pulchritudo membrorum et colorum 1 In I. Sent. 46,1,4 ad 1.; — In II. Sent, prolog.; In II. Sent. 9,1,5 sed c. 2a;— In II. Sent. 36.1.3 ad 3.: — und In IV. Sent. 24,1,1, sol. I. * Contra impugn, p. II, cap. 6 (7), η. 339. — Eine Parallelstelle dazu stellt In I. Tim. 2,9, L. 2 dar, etwa 1259—65 verfaßt. Vgl. auch In I. Tim. 3,2, L. 1. * Sektion A, Artikel 3, Anm. 18, S. 129. 4 In Is. 53. » SCG II 64. IO*

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Systematische Analyse

Daß diese Verschiebung der Rolle der Farbe von der Sphäre des dionysisch-platonischen Klarheitselements zu der der harmonía der fundamental aristotelischen Gedankenrichtung des ordo zuzuschreiben ist, ersieht man aus einer Bemerkung desselben Kapitels : Amplius: harmonía dicitur dupliciter: uno modo, ipsa compositio; alio modo, ratio compositionis.

Nun bedeute aber compositio schon nach der Ordnungsdefinition des Sentenzenkommentars·, der noch später ausführlich analysiert wird, eben eine Formaleinheit distinkter Teile, die durch eine ratio ordinis geschaffen werde. Harmonía steht hier also nicht als ein Synonym der proportio oder consonantia von ST, I q. 39 a. 8 c., sondern als das des ordo schlechthin. Dasselbe ersieht man auch daraus, daß sich Thomas gleich im nächsten Satz weigert zuzugeben, daß anima sit harmonía (das Thema des Kapitels): harmonía (also ordo) stelle nämlich eine Pluralität von aufeinander bezogenen Teilen dar, die von der einfachen Seele nicht behauptet werden könne. Daß nach dieser Interpretation der Schönheit als ordo Thomas noch in demselben Werk aussagt : Tolleretur etiam summus decor a rebus si ab eis ordo distinctorum et disparium toUeretur7,

ferner, daß er die perfectio universi in demselben Kapitel als eine aus bona und mala zusammengesetzte Schönheit beschreibt, oder daß er in der contingentia rerum, die der necessitas providentiae divinae gegenüber das Ordnungselement des Kontrastes oder das der Multiplizität darstellt, eben das erblickt, in dem ordinis pulchritudo apparet8 und endlich, daß er in einem der ästhetisch wichtigsten Kapitel dieser Summa inordinatio mit turpitudo verbindet®, ist gar nicht überraschend, sondern für ihn lediglich eine logische Selbstverständlichkeit. Dieser aristotelische Strom der thomistischen Schönheitslehre, dessen erste Spuren zwar mit der ziemlich unkritisch übernommenen Schönheitsdefinition des Dionysius10 zeitlich koinzidieren, aber in krassem Gegensatz zu dieser Schönheitslehre, wie gezeigt, von Thomas stufenweise schnell und selbständig vertieft und entfaltet worden war, vereinigte sich dann in der letzten Etappe mit der von Dionysius stammenden Schönheitstheorie in genau demselben Werk, das die Geburtsstelle der reifen Schönheitsanalyse des Thomas wurde: im Dionysius-Kommentar. • In I. Sent. 20,1.3, sol. I. ' SCG 111,71. 8 SCG 111,72. — Vgl. ebd. 111,94. » SCG III 139. In I. Sent. 31,2,1, sol.

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In diesem Werk ergänzt Thomas seine im Sentenzenkommentar erbrachte Definition der statischen Ordnung11 mit einer der dynamischen Ordnimg12, wodurch dann seine gerade reif werdende Schönheitsanalyse mit seiner bereits reifen Schönheitssinns« vereinigt, das Gleichgewicht dieser zwei integralen Teile der thomistischen Schönheitslehre geschaffen wird und die thomistische Schönheitslehre schlechthin zu ihrer wesentlichen Vollendung gelangt. So findet man also zwei Entwicklungen in der Geschichte der thomistischen Schönheitslehre, wie sie den Frühwerken einschließlich des Dionysius-Kommentars zu entnehmen ist: eine im Rahmen der dionysisch-platonischen Klarheitslehre, und eine andere im Rahmen der aristotelischen Ordnungslehre. Diese zweite ist dann diejenige Gedankenentwicklung, die sich bereits in der formell-genetischen Analyse13 herausgestellt hat, und die hier unter dem formellen Gesichtspunkt des ordo ihre Bestätigung erhalten zu haben scheint. Mit dieser Kenntnis können wir nun schon die thomistische Ordnungslehre ohne Rücksicht auf die Chronologie systematisch behandeln. 2. Unter den expliziten Schönheitsstellen gibt es einige, die den inneren Zusammenhang zwischen ordo und pulchritudo lediglich andeuten14 oder Schönheit und Ordnung einfach zusammen erwähnen15, oder aber Schönheit und Ordnungslosigkeit entgegensetzen1·. Andere Schönheitstexte bestätigen dagegen diesen inneren Zusammenhang zwischen pulchritudo und ordo ausdrücklich und unmißverständlich, und zwar entweder indirekt, indem z. B. der Ordnung dieselbe Eigenschaft zugeschrieben wird wie der Schönheit17, oder direkt und dann entweder positiv (hinsichtlich menschlicher Werke18, der Kirche19, moralischer Akte20 und der Welt schlechthin)21, oder negativ, indem turpitudo schlechthin als privatio ordinis definiert wird22. 11

In I. Sent. 20,1,3, sol. I. " De div. nom. 4,1,283. " Teil I, Kapitel III, Artikel 2, Punkte 1—3, S. 6 7 - 7 2 . 14 Z. B. : decor ordinis (De pot 3,16c. B.) ; ordinis pulchritudo (ST 1,23,8 ad 2. ; 96,3 ad 3.; 108,6 ad 6.) — pulchritudo ordinationis populi (ST I—II 106,1 sed c.). " ST I 70,1 c; ST I 19,9 2a; — ST I 62,6 c. — Vgl. auch ST I—II 106, 1, sed c; In I. Sent. 46,1,4 ad 1. und In II. Sent. 34,1,4,1, sol. " In II. Sent. 36,1,3, ad 3. " In Ps. 26,3. — Vgl dasselbe über pulchritudo: In Is. 3,3; In Is. 62; Contra imp. pars II cap. 6 (7), η. 339 usw. " ST II—II 142,2 c. 1β ST II—II 183,2 c. — Vgl. auch SCG III 71 und 72. ST II—II 146,3 c. — Vgl. : In Ps. 44,2. 11 Comp, theol. pars I, tr. I. c. 102 n. 201. — Vgl.: In Ev. Ioann. 2,1, L. 2 und ST 1108,6 ad 6. n SCG 139; De div. nom. 4,21,664. — Vgl. auch ebd. 4,22,689 und Contra impugn, dei cult, et rei. pars II, c. 6 (7), n. 339.

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Systematische Analyse

Aus diesen letzteren Texten wird schon Thomas' Ansicht über die Schönheit klar: sie sei schlechthin die Ordnung von Teilen, handle es sich um körperlich-materielle Schönheit23 oder um geistig moralische Schönheit24. Diese Schönheitsdefinition deutet schon etwas über die Natur der Ordnung an, nämlich die Forderung der Mehrheit oder Pluralität: pulchritudo importât commensurationem plurium1®.

Diese Mehrheit sei aber nicht lediglich die der Teile schlechthin, sondern vielmehr die von verschiedenen Teilen26 oder die Verschiedenheit der Teile überhaupt27 (wie die von Teilen beliebiger Natur)28, aus der allein eine Ordnung entstehen könne. Daß neben der Mehrheit und Verschiedenheit der Teile auch eine bestimmte Einheit zum Wesen des ordo gehöre, wird an einer einzigen Schönheitsstelle angedeutet29. Dagegen wird der Finalitätscharakter des ordo an einer anderen Schönheitsstelle deutlich ausgesagt80. Die Ordnung der Welt in ihrer Ganzheit sei nun von der göttlichen Weisheit und Vernunft gewollt31, sogar verursacht32. Deswegen spiegele die Weltordnung ihren Schöpfer88 und dessen Schönheit34 wider. Ähnlich stamme die moralische Schönheit von der Ordnung der menschlichen ratio38. Indem nun die geschaffenen ebenso wie die von Menschen verursachten Dinge von der göttlichen oder menschlichen Vernunft geordnet und (dadurch) schön gemacht werden, kann man schon einen notwendigen und inneren, und zwar kausalen Zusammenhang zwischen ratio (oder Geist schlechthin) und Ordnung, zwischen Ursache und Wirkung ahnen38. » ST I — I I 54,1 c. 24 In I. Eth. L. 13 n. 159. — Vgl.: In 1er. 11,3. « ST I—II 49,4 c. J · Comp, theol. pars I, tr. I. cap. 102 η. 201. " In Symb. Ap. art. 1 η. 878. " ST I 96,3 ad 2.; — ST I—II 112, 4 c ; — ST II—II 183,2c; — 184,4c; ferner: ST I I — I I 183,3 c und De potentia 4,2 c. — Als allgemeines Prinzip ist es dann wahr: Sed in rebus in quibus non est sola materialis distinctio, semper invcnitur in multitudine productorum aliquis ordo. (ST I 36,2 c. arg. 2.) (Über distinctio materialis et formalis, die später noch behandelt werden, vgl. ST I 47,2 c.) 2 9 De div. nom. 4,6,364. »® Ebd. 4,6,367. « In I. Sent. 46,1,4 ad 1. S î In Ev. Ioann. 2,1, L. 2. M ST I 36,2 c. arg. 2. 8 4 Comp, theol. pars I, tr. I, cap. 102, η. 201. Vgl.: In Sent. 46,1,4 ad 1. " ST I I — I I 180,2 ad 3. — Vgl.: In I. Tim. 2,9, L. 2; In Rom. 13,12, L. 3; und 13,14, L. 3; ST I I — I I 116,2 ad 2. ; 142,2 c und 145, 3 c. * · ST I I — I I 180,2 ad 3.

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Diesen Angaben der expliziten Schönheitsstellen über die Ordnung können zwei weitere beigefügt werden : erstens, daß die Ordnung der Welt teils wesentlich, teils akzidentell sei37; zweitens, daß die Ordnung schlechthin deswegen schön sei, weil sie von der ratio verursacht, uns rationellen Wesen natürlicherweise konvenient und als solche in ihrer Erkanntheit ergötzend sei38. Das ist nun das Bild, das man aus expliziten Schönheitsstellen über diesen wichtigen Begriff des ordo bekommt, der nicht nur in Thomas' Ästhetik, sondern in seiner ganzen Philosophie39 und Theologie40 einen führenden Platz einnimmt. Es enthält einige der charakteristischen Züge dieser thomistischen Doktrin. Doch fehlen ihm wichtige Teile, ohne die man den inneren, organischen Zusammenhang zwischen der Ordnungslehre und der Schönheitslehre nicht ersehen kann. Deswegen muß man sich nun zu nicht-ästhetischen Texten wenden. 3. Zuerst lehrt uns Thomas, daß ordo in zweifachem Sinne genommen werden könne: entweder konkret, also ein Grad, eine Stufe oder ein Teil der Hierarchie, oder aber abstrakt, als die Relation zwischen solchen Stufen oder die Hierarchie schlechthin41. Wenn ordo im zweiten Sinn (der uns hier interessiert) genommen wird, so betont42 und wiederholt48 Thomas vor allem seinen Relationscharakter. Wenn man dann Thomas weiter fragt, welche Art von Relation (die also als das Genus in der Definition des ordo gilt) die Ordnung darstelle, dann antwortet er uns mit der folgenden Definition : Ordo nihil aliud dicit quam rationem prions et posterions in distinctis sub aliquo uno principio44.

Es leuchtet ein, daß »rationem« hier für »relationem« (Beziehung) steht. Aus diesem Grund kennen wir nun die differentia specifica von Thomas' Ordnungsbegriff : prions et posterioris. Ordo soll also ein Sukzessivitätsverhältnis heißen, das zwischen verschiedenen hierarchischen Stufen oder Ordnungsteilen48 als seinen Extremen46 besteht. Was meint aber Thomas genau unter Priorität und Posteriorität der " Vgl. SCG III 72 und In II. Sent. 34,1,1, sol. »» ST II—II 145,3 c. ' · Vgl. : »For St. Thomas, then, order is the dominant note in the entire scale of being . . . To understand and appreciate his philosophy, it is necessary to know what he means by 'order'.« — Eduard A. Pace, The Concept of Order in the Philosophy of St. Thomas, S. 66. 40 Vgl. John H. Wright, S. J.: The Order of The Universe in the Theology of St. Thomas Aquinas, Sectio Β, η. 38. 41 In II. Sent. 9,1,1 ad 2. — Vgl. auch In IV. Sent. 24,1,1 sol. II. ad 4. und ST I 108,2 ad 1. " In IV. Sent. 24,1,1,11 4a. — Vgl. ebd. den ersten Teil von sol II. ad 4. « De pot. VII,9 ad 1. — Vgl. ebd. ad 7. 44 ST I 47,2 c. 45 Vgl. In II. Sent. 9,1,1 ad 2. 44 Vgl. In IV. Sent. 24, 1,1,1. 4a.

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distincta; wie sind diese distincta verschieden, und was ist die Natur und genaue Rolle des unum principium hier ? Die von Augustin zitierte Ordnungsdefinition : Ordo est parium dispariumque rerum sua cuique loca trìbuens dispositio47,

die von Thomas keineswegs kritisiert, sondern lediglich als die Definition räumlicher Ordnung gekennzeichnet wird, verrät uns wenigstens so viel, daß dieses fragliche Prioritäts- und Posterioritäts-Verhältnis eine passende, konveniente dispositio48, also Hinordnung oder Gruppierung, »Kom-Position«4* von mehreren teilweise verschiedenen Dingen sei. Es gibt aber eine Stelle, an der Thomas ganz klar aussagt, was alles in der Definition des ordo eingeschlossen sei, und was das bedeute60. An jener Stelle findet man die drei Elemente ausführlich dargelegt, die in der ordo-Definition von S. theol. I q. 47 a. 2 corpus einfach erwähnt werden. So sei also für jede beliebige Ordnung erstmal erforderlich, daß distinkte Teile oder Glieder, d. h. eine wirkliche Mehrheit, vorhanden sind61. Das folgt übrigens schon aus dem relationalen Charakter der Ordnung, indem jede Relation eine Distinktion entweder voraussetzt oder mit sich bringt62. Diese wirklich verschiedenen Teile oder Glieder stellen die causa materialis der Ordnimg dar63, und als solche sind sie auch in der formellen Definition mit eingeschlossen. An anderen Stellen fügt er zu dieser Charakterisierung der Teile als der causa materialis der Ordnung hinzu, daß die Distinktion der Ordnungsteile eine bestimmte Konvenienz derselben keineswegs ausschließe64, sondern erfordere56, und zwar der Ordnungsdefinition entsprechend6®. Indem nun die convenientia der Teile mindestens analytisch, d. h. logisch, der Mehrheit und Distinktion der Ordnungsglieder nachsteht, also der formellen Natur der Ordnung näher ist (primo quidem distinctione cum convenientia)57, anderseits aber die Distinktion dieser konvenienten Teile magis praesupponit " ST I «· "

De civit. Dei X I X 13, PL, 41,640. — Zitiert von Thomas in In. I. Sent. 20,1,2,1a; 96,3 sed c und De virtut. in comm. art. 1,1a. Vgl. ST I 108,2, ad 1. Vgl. In 1er. 11,3. 60 In I. Sent. 20,1,3 sol. I. " Vgl. De ver. 20,13,9a„ De pot. 7,11c.; 10,3 c; SCG II 39; III 94 und In XII. Met. L. 12 n. 2637. M ST I 40,2 ad 4. » ST I 65,2 c. 44 Die Distinktion bedeute schließlich bloß die Negation der realen Identität (SCG I 71). " De div. nom. 4,1,283. *· Respons. ad Ioann. Vercell. de art. 108, q. 60. Verardo — ed. n. 877. — Vgl. In XII, Met. L. 12 n. 2637 und den Terminus »ordinabile« in De pot. 7,11 c. " De div. nom. 4,1,283.

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nomen ordinis quam significat68, muß diese Konvenienz der Ordnungsteile eben die materia próxima oder causa materialis próxima des ordo darstellen, während dann die distinctio partium schlechthin, d. h. die Mehrheit der Teile lediglich, aber genau die causa materialis remota der Ordnung konstituieren. Die größere Nähe der convenientia partium zu der formellen Natur oder causa formalis ordinis geht auch daraus hervor, daß sie dem Ordnungsprinzip (ratio ordinis) unmittelbar ermöglicht, die Prioritätsrelation zu schaffen, d. h. die convenientia partium zu aktualisieren, die vor der Schaffung der Ordnung, aber in bezug auf die Ordnung lediglich in potenüa ist. Dieses Ordnungsprinzip, das im Gegensatz zu dem Relationscharakter oder zur ad-aliquid-Natur des von ihm zu schaffenden ordo eben einen aliquid-Charakter hat, d. h. eine absolute (nicht Relations-) Wirklichkeit darstellt, verleiht nun die spezifische Natur der Ordnung69. Andererseits aber, wo immer es ein Prinzip in irgendwelcher Mehrheit gebe, gebe es auch eine Ordnung60. Dieses Ordnungsprinzip, das also schon zur causa formalis gehört, aber sein Fundament in der convenientia partium, also in der causa materialis próxima des ordo hat, da es ohne convenientia eben kein Ordnungsprinzip gibt, könne nicht nur aus dem Wesen der potentiellen Ordnungsteile, sondern von jedem beliebigen Genus ihrer Akzidentien eine Ordnung schaffen, die Relation ausgenommen·1. Wenn immer ein Prinzip in mindestens zwei konvenienten, aber verschiedenen Dingen vorhanden ist, gebe es in ihnen eine bestimmte Reihenfolge oder Relation, in der ein Teil dem anderen gegenüber früher ist, und zwar genau nach dem Prinzip der Ordnung. Dieses Frühersein eines Teiles gegenüber dem anderen ist nun das, was Thomas in seiner Ordnungsdefinition des Sentenzenkommentars88 ills das erste der tria in ratione ordinis inclusa aufzählt und ratio prioris et posterioris nennt83. Nach dieser Relation habe nun jedes Glied oder jeder Teil einen bestimmten »Platz«, d. h. eben Priorität bzw. Posteriorität in der Ganzheit der Teile, und dadurch entstehe eben eine Einheit84. Diese Einheit der Mehrheit, die nun durch das Ordnungsprinzip eben die Einheit der Ganzheit wird, konstituiere das von der ratio ordinis als differentia spezifizierte Genus des ordo, oder, mit *· In I. Sent. 20,1,3, sol. I. " ST I 42,3 c. — Vgl. In Ev. Ioann. 1,1, ad »In principio«. «o s x i l — n 26,1 c. — Vgl. auch ebd. 26,6 c fin. und Quodl. V,10,l (19,) corpus, A. usw. « Vgl. z. B. Quodl. V,10,l (19), corpus A. " In I. Sent. 20,1,3, sol. I. α An anderen Stellen nennt er sie aber anders. Ζ. B . : Ordo autem includit in se aliquem modum prioris et posterioris. (ST I I — I I 26,1 c.) ** ST I — I I 87,1 c.

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anderen Worten, die durch das Ordnungsprinzip geschaffene Ordnungsrelation als Einheit sei eben die causa formalis der Ordnung68. Das gelte nicht nur für natürliche, sondern auch für künstlich geschaffene Ordnung*®. Das Verhältnis zwischen pars und totum sei nun zweiseitig, ganz wie das zwischen materia und forma schlechthin : einerseits trage der Teil als solcher zur Perfektion des Ganzen bei·7, andererseits stelle das Ganze den finis der Teile dar*8. Außer der Beschreibung der causa materialis (remota und próxima) und formalis der Ordnung gibt uns Thomas auch eine ausführliche Information über die weiteren Ursachen, nämlich über die causa efficiens, causa exemplaris und causa finalis ordinis. Die causa efficiens sei der Geist, dessen ratio die Ordnung erdenkt69 und schafft70. Tatsächlich könne nichts außer dem vernünftigen Wesen Ordnimg schaffen71. Man könne also wohl allgemein sagen : ordo ad rationem pertinet".

Thomas bleibt auch den Grund dafür nicht schuldig : Nur durch die Erkenntnis der möglichen Verhältnisse der zu ordnenden Dinge oder Teile könne die Ordnung verwirklicht werden; Verhältnisse zu erkennen sei aber nur dem, der einen Intellekt besitzt, möglich73. Tatsächlich bedeute die Eigenschaft und Fähigkeit der Weisheit, Ordnung zu schaffen, so viel, daß von der vernünftigen causa efficiens als solcher überhaupt nichts Ungeordnetes geschaffen werden könne74, da in omni opere rationis ordo aliquis i n v e n i t u r " .

Der Geist sei aber nicht nur die causa efficiens, sondern auch die causa exemplaris der Ordnung76, und zwar ein unerschöpflicher Erdenker neuer Ordnungen77. Nun sei die die Ordnung erdenkende, schaffende und erkennende ratio die Gottes und die des Menschen. " In XII. Met. L. 12 n. 2637. — Vgl. auch De div. nom. 4,8,386; ST I 65,2 c und SCG II 39,6a. · · In V I I I . Met. L. 2 n. 1699. · ' In I. Sent. 46,1,3, sol. — Deswegen sagt Thomas: dispositio nihil est aliud quam ordo partium in habente partes — In V. Met. L. 20 n. 1058. · · ST I 65,2 c. — Vgl. SCG III 112, ferner In I. Sent. 3,2 ad 1. und De ver. 29,8 ad 8. ·» Z. B.: In II. Sent. 38,1,3 sol.; In III. Sent. 4,1,1, sol. III. η. 25; SCG II 24 und III 77; In I. Eth. L. 1 η. 1; In I. Met. L. 2 n. 42; In De caelo et m. prooem. princ. usw. — Vgl. — In I. Tim. 2,9, L. 2. 70 SCG II 24. 71 In II. Sent. 38,1,3 sol. " De carit. art. 9,2a. '» SCG II 24. — Vgl. In I. Eth. L. 1 η. 1 und SCG I 50. 7 « In Rom. 13,1, L. 1. — Vgl. In I. Tim. 2,9, L. 2. 75 In Arist. De caelo, prooem. princ. 7 * Vgl.: forma in mente artificis et executionis — In Ev. Ioann. 1,1, L. 1. 77 SCG II 49. — Vgl. ebd. I 50.

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Was den göttlichen Intellekt betrifft, werde die Ordnung aller Kreaturen von ihm erdacht78 und demgemäß geordnet geschaffen79 und disponiert80. Deswegen gebe es kein einziges Wesen in der Welt ohne irgendwelche Ordnung81 und könne es auch solches gar nicht geben82, da die Gott-erdachte und Gott-geschaffene Natur der Dinge die ontologische Garantie und das letzte Kriterium der kreatürlichen Ordnung sei88. Was dann den menschlichen Intellekt betrifft, so gebe es für ihn vier verschiedene Ordnungen : den ordo naturalis, logicus, moralis und artificialis84. Außer causa materialis, formalis, efficiens und exemplaris gebe es endlich auch eine causa finalis für die Ordnung. Das Element des finis sei insbesondere in der dynamischen Ordnung sehr wichtig88. Hier sei der finis eben die vereinigende ratio ordinis. Da es aber in jeder Ordnung irgendwelche Aktivität gebe, habe auch jede, nicht nur die dynamische Ordnung, ein Ziel8·. Nun sei dieses Ziel jeder Ordnung zweifach: unum scilicet qui est in ipsis ordinatis, inquantum sunt ordinata ad invicem, quod consistit in habitudine unius ad alteram . . . Secundus finis est bonum quod est supra ordinem*7.

Dieses allgemeingültige Urteil gelte analog für die Einzeldinge wie für die Welt schlechthin. So seien die Teile des Einzelwesens für ihre eigenen Aktivitäten, die weniger edlen für die edleren, alle Teile für das Gut des Ganzen und das Einzelding für ein äußeres Ziel88. Dementsprechend sei jede einzelne Kreatur als ein Teil der Welt zuerst für ihre eigene Aktivität und Perfektion, wobei aber niedrigere Geschöpfe den höheren dienen und die niedrigen und hohen zusammen für die Vollkommenheit der Welt als Ganzheit seien. Außerdem sei die ganze Welt zu Gott als ihrem Ziel geordnet89. Betrachtet man nun alle Kreaturen — ungeachtet ihrer Differenzen — als die geschaffene Wirklichkeit überhaupt, und stellt man diese ' · SCG III 99. '» De pot. 1,6,8a. — SCG III 64 und De div. nom. 4,3,310. 80 Vgl. die Distinktion zwischen ars divina und dispositio: De ver. 6,1 ad 9. » In II. Sent. 37,1,1,6a und In I. Sent. 44,1,2, sol. »» In II. Sent. 37,1,1 ad 6. M In VIII. Phys. L. 3 n. 993. 84 In I. Eth. L. 1 n. 1. — Vgl. die vierfache Ordnung der praktischen und spekulativen Vernunft in In Arist. De caelo, prooem. princ. 85 De div. nom. 4,1,283. »· Ebd. n. 286. 87 Ebd. 88 ST I 66,2 c. — Vgl. De pot. 6,4 ad 2 und In VII. Phys. L. 6 n. 918. · · ST I 66,2 c. Vgl. : In II. Phys. L. 10, 237 und SCG 111,98. Über die Faktoren des ordo rerum : ad actionem, ad existentiam rerum in se ipsis und in alia — siehe De div. nom. 4,6,362 f.

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Wirklichkeit dem Ungeschaffen-Göttlichen gegenüber, so gebe es einen duplex ordo: Unus quo aliquid creatum ordinatur ad aliud creatum, sicut partes ordinantur ad t o t u m . . . Alius ordo, quo omnia creata ordinantur in Deum* 0 .

Indem Thomas' Behandlung der Frage nach der causa finalis auf diese Weise zur Charakterisierung der Welt Ordnung geführt hat, hat man zugleich eine der wichtigsten Arten des ordo schlechthin kennengelernt. Außer dieser spricht er aber über zahlreiche Arten und Einteilungen der Ordnung, die auf Grund verschiedener Einteilungsgründe vorgenommen werden91. Allen diesen Einteilungen in Einzelheiten weiterzufolgen und sie zu analysieren, würde über den Rahmen einer Studie wie dieser hinausgehen und ist für unseren Zweck nicht nötig. Allerdings ersieht man schon aus dieser relativ kurzen Darstellung den Umfang und die Tiefe, die Folgerichtigkeit und die logische Durchdachtheit und die dieser zu verdankende organische Einheit dieser Ordnungslehre. ST. I 21,1 ad 3. — Diesen von Aristoteles' Metaphysik (XI,10,1) übernommenen und mit der doppelten Ordnung des Heeres erläuterten Gedanken erwähnt Thomas immer wieder von seinen frühesten bis zu seinen spätesten Werken, wobei er nur die Länge der Ausführung dieses Gedankens variiert: In I. Sent. 39,2,1 c; 44,1,3, sol.; 47,1,4, sol.; In II. Sent. 1,2,3, sol.; 15,3,3, sol. 38,1,1, sol.; In I I I . Sent. 23,3,1,1. sol.; In IV. Sent. 19, 2,2, sol. I. ; 46,1,2, sol. I. ; De ver. 6,1 ad 9. ; 5,3 c; SCG I 78; De pot. 1,2 ad 1; 1,3 ad 1; 6,4 ad 2; 7,9 c und ad 1 ; In X I I . Met. L. 12 n. 2629ff.; In I. E t h . L. 1 n. 1; De spirit, creat. 8 c ; ST I 47,3c; 103,2 ad 3.; — Vgl. auch in III. Sent. 23,3,1, sol. I. η. 232; SCG I 42; In Rom. 13,1, L. 1 ; ST I—II 5,6,la; 111,5 ad 1. und I I — I I 39,2 ad 2. — Dieser doppelten Ordnung entsprechend sei also das Band zwischen der Welt und ihrem Schöpfer zweifach : omnes autem creaturae ordinantur ad deum et sicut ad principium et sicut ad finem. (De pot. 7,9,c. — Vgl. SCG III 97; ST I I I 6 ad 1.) — Vgl. demgegenüber eine dreifache ratio ordinis mundi ad deum in De div. nom. 4,3,317. " So teilt Thomas die Ordnung auf Grund ihrer causa tnalerialis in ordo realis und logicus (ST I I — I I 26,1 ad 2. — Vgl. ebd. 154,12 ad 1.; Quodl. 1,2,2 c; auch in Ar. De caelo, prooem. princ. ; In Ev. Ioann. 1,1, L. 1 ; Quodl. 1,2,1 (2) corpus und In II. De cáelo, L. 18f.) und in diesem Zusammenhang nach der Ausdehnung bzw. der Zahl der Glieder in ordo universalis und particularis (SCG II 98) ; auf Grund ihrer causa formalis, und zwar innerhalb dieser nach der ratio ordinis in ordo per se und ordo per accidens (De spirit, creat. art. 8 c. — Vgl. auch In I. Post. an. L. 36 h.; De pot 6,1,20a; In IV. Sent. 7,2,2, sol. I I I ad 3. n. 122; ST I—II 1,4 c und 109,6 c) und — als wichtigste und häufigst erwähnte — in ordo materialis und formalis(Quodlib. 5,10,1 (19), corpus, A. ; vgl. auch ST I I I 62,6 ad 3.), weiterhin in ordo generationis (et temporis) und ordo perfectionis (sive intentionis) naturae (ST I 85,3, ad 1. ; I—II 83,3 ad 3.; I I — I I 17,8 c.), in ordo ipsius materiae ad formam und ipsius rei iam compositae ad esse participatum (De subst. sep. c. 8), in quantitative und kausale Ordnung (De pot. 7,9 c), in statischentitative und dynamisch-operative Ordnung (vgl. De div. nom. 4,1,283f.), und endlich nach der Zahl der ratio ordinis in ordo simplex und complexus (In I. Periherm. L. 6 med.) ; auf Grund der causa efficiens in ordo naturalis und artificialis (vgl. In I. E t h . L. 1 n. 2) und endlich auf Grund der causa finalis in ordo intentionis und executionis (ST I — I I 1,4 c) ein.

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Was uns aber am meisten interessiert, wie nämlich dieser Ordnungsbegriff des Aquinaten mit seinem Schönheitsbegriff zusammenhänge, und wie anderseits dieser Zusammenhang zu der Lösimg der Frage über die Reihenfolge und Relation der drei analytischen Wesensforderungen der Schönheit zueinander und zu der Schönheit selbst führe, wissen wir noch nicht. Es wird unsere Aufgabe im nächsten Paragraphen sein, die Antwort auf diese Fragen zu erarbeiten. b) Ordnung und Schönheit

Zwei Umstände sind bisher über die thomistische Lehre vom Wesen der Schönheit klar: Erstens ist die Definition der Schönheit, die besagt, daß die Schönheit als ihre Prinzipien Integrität, Proportion und Klarheit erfordere und aus ihnen bestehe, analytischer Natur. Sie zerlegt die Schönheit in ihre Wesenskomponenten. Zweitens hat Thomas auch eine zweite Definition für die Schönheit, nach der sie schlechthin mit Ordnung identisch ist oder, genauer formuliert, die Formalwirkung der Ordnung darstellt. Es ist aber noch nicht klar, warum oder inwiefern diese zweite Definition eine Schönheitssynthese darstellt. Die Lösung hängt nur von der Antwort auf die am Ende des vorigen Paragraphen gestellte erste Frage ab, nämlich, wie die Ordnungslehre des Thomas mit seiner Schönheitsdoktrin zusammenhänge. 1. Überlegen wir uns also, was Thomas in seiner soeben untersuchten Ordnungslehre eigentlich an ästhetisch Bedeutungsvollem aussagt. Von den weniger wichtigen Punkten zu den wesentlichen fortschreitend, kann man erstens darauf hinweisen, daß die causa efficiens und causa exemplaris der Ordnung der Geist schlechthin sei, was im Falle der (einzelnen, partikulären und universellen) kreatürlichen Ordnung der Natur eben Gott, den unendlichen Geist von unendlicher Weisheit bedeute. Dasselbe gilt aber nach der thomistischen Klarheitslehre für die claritas und durch sie für die Schönheit selbst. Ferner folgt schon a priori aus dem thomistischen Ordnungsbegriff, daß jeder Mangel an den analytischen Schönheitselementen das Wesen der Ordnung selbst betreffe. Sobald nämlich ausgesagt wird, daß eine gewisse Mehrheit von Teilen für das Wesen der Ordnung erforderlich sei, ist schon angedeutet, daß das Fehlen bestimmter Teile der Ordnung fundamental schade. Man braucht aber keine apriorische Argumentation wie diese, um das zu beweisen. Es gibt Stellen in Thomas' Werken, die das explizit aussagen. Man vergleiche nur die folgenden zwei Schönheitsstellen :

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Ad convenientiam autem ordinis pertinet, ut nihil inordinatum relinquatur1 ad hoc quod aliquid sit fiulchrum simpliciter requiritur quod in nulla parte sit aliqua deformitas vel turpitudo*.

Dasselbe gelte aber auch für die convenienza partium in bezug auf Ordnung wie für die Proportion in bezug auf die Schönheit. A priori ist es ja evident, daß, insofern die Ordnung eben konveniente Teile benötigt, wenn immer auch nur einer von ihren Teilen nicht conveniens ist, die Ordnung selbst daran leidet, — ganz wie jeder Mangel an Schönheitsproportion einen Mangel an der Schönheit selbst verursacht. A posteriori wird dasselbe an weiteren Parallelstellen betont 3 oder wenigstens erwähnt4. Um endlich diese Liste zu vervollständigen, soll noch folgendes Paar von Texten zur claritas angeführt werden : Ideo autem deus uni magis alteri bonum iníluit, ut relucet ordo in rebus1 causa disparita tis poterat esse ex parte dei . . . ut quosdam plus, quosdam minus sublimeret, ut puichritudo ordinis magis in hominibus reluceret*.

Mit dieser Art von Übereinstimmungen ist man aber eigentlich schon aus dem Bereich der causa efficiens und exemplaris in den der causa materialis und formalis gelangt. Nun ist es gerade dieser Teil der Ordnungslehre, der uns zum Kern der Frage über den Zusammenhang zwischen der thomistischen Ordnungslehre und Schönheitslehre bringt, indem er eine innige organische und wesentliche Übereinstimmung der Ordnung schlechthin mit der Schönheit schlechthin demonstriert. Um das zu erweisen, braucht man nur auf die Tatsache hinzuweisen, daß das objektive Wesen der Schönheit drei Forderungen, die Integrität, die Proportion und die Klarheit in sich einschließe, und daß anderseits das Wesen der Ordnung ebenfalls drei analytisch distinguierbare Elemente, nämlich die distinctio partium, die convenientia partium und die durch die ratio ordinis spezifizierte Prioritätsrelation als formelle Ordnungseinheit umfasse. Nun stimmen die zwei Begriffe Schönheit und Ordnung auf Grund dieser Tatsache nicht nur darin überein, daß sie beide — rein quantitativ betrachtet — drei Elemente in sich enthalten, sondern — was unvergleichlich wichtiger ist — auch darin, daß das jeweilige erste Element in beiden wie das jeweilige zweite und dritte wesentlich identisch sind, wenn sie auch technisch — den bezüglichen Begriffen logisch entsprechend und passend — einigermaßen verschieden benannt werden. 1 1

• « » •

SCG III 77. — Vgl. auch In II. Sent. 15,3,3, sol. De virt. in comm. q. un. art. 9 ad 16. — Vgl. auch: De malo, 2,4 ad 2. Resp. ad Ioann. Vercell. de art. 108, c. 60 n. 877. De div. nom. 4,6,365. In Ev. Ioann. 15,4, L. 3. ST I 96,3 ad 3.

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Das soll nun, konkret gesprochen, so viel bedeuten, daß, was in der Ordnung distinctio partium genannt wird, in der Schönheit eben der Integrität entspricht, was convenientia partium heißt, der proportio oder consonantia, und endlich, was causa formalis ist, nämlich die durch die ratio ordinis als formelle Ordnungseinheit konstituierte ratio prioris et posterioris, der claritas. Den Beweis für diese Feststellung muß man nun für die drei Elementenpaare einzeln erbringen. Hinsichtlich des ersten Begriffspaares, distinctio partium und integritas, steht Folgendes fest: Erstens, wenn Thomas über die Integritätsbedingung der Schönheit spricht, setzt er eine Mehrheit und Distinktion von Faktoren, Elementen oder Teilen in dem Ding, das durch seine Integrität schön ist, voraus. Das ersieht man nicht nur aus einem Text wie diesem : sanitatem, pulchritudinem, quae important quandam commensurationem

plurium1,

sondern aus allen Texten, die das Element oder den Aspekt der diversitas in der Schönheit betonen8. Zweitens gilt dasselbe, aber, wenn möglich, noch klarer, für den mit der integritas synonymen Begriff der perfectio, die ja ihrer Definition nach nur für solche Dinge gilt, die alles haben, was sie eben ihrer Natur nach haben müssen®. Andererseits, sofern die distinctio,10 also die pluralitas partium,11 nach Thomas für die Ordnung schlechthin erforderlich ist, so sei eben die Gegenwart der Teile — und insofern es sich um die Ordnung eines Dinges der Natur handelt — genau die Gegenwart aller Teile, folglich die integritas partium erforderlich12. Was nun das zweite Begriffspaar, nämlich convenientia partium und proportio sive consonantia betrifft, ist deren Identität ganz klar. Das geht schon aus den Termini selbst hervor, da der Proportionslehre nach diese drei Begriffe eben synonym sind. Allerdings könnte man hier einwenden, daß nach Thomas : omnis autem ordo proportio quaedam est19,

woraus zu folgen scheint, daß eine der Wesensbedingungen der Schön7

ST I—II 49,4 c. « Vgl. In II. Sent. 9.1,6 sed c. 2a; ST I 96,3 ad 3; I—II 112,4 c; II—II 183,2 c,3 c und 4 c; weiterhin De pot. 4,2 c und In Symb. Ap. art. 1 η. 878. — Als weiterer Beweis können alle Schönheitstexte dienen, in denen über »partes« oder »omnia membra« in Hinsicht auf pulchritudo die Rede ist, wie ζ. B. In I. Eth. L. 13 n. 169 und In II. Eth. L. 7. n. 320 usw. ' In IV. Sent. 33,3,3,1a. 10 In I. Sent. 20,1,3, sol. I. » De pot. 10,3 c. " SCG III 77. » Quodl. 1,2,1 (2), corpus. — Dasselbe wörtlich auch in In VIII. Phys. L. 3 n. 993. — Vgl. ST I 6,3 ad 3. und auch In XI. Met. L. 12 n. 2377.

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heit, die Proportion, nicht lediglich mit der convenientia partium des ordo, sondern mit der Ordnung schlechthin identisch ist. Die Antwort liegt einerseits in einer Feststellung der ersten Summa : harmonía dicitur dupliciter: uno modo, ipsa compositio; alio modo, ratio composi-

tionis14.

Wie harmonía, so könne aber auch ihr Synonym, proportio in doppeltem Sinne gebraucht werden16. Anderseits ist es ja Thomas' Brauch, nicht jedesmal alle Teile oder Elemente eines Dinges, sondern nur dasjenige zu erwähnen, worüber er dem Zusammenhang nach zu reden hat. Deswegen (und auf dieselbe Weise) definiert er dann auch die Schönheit des öfteren lediglich als proportio14. Was endlich das dritte Begriffspaar betrifft, so ist es auf Grund der Klarheitslehre und Ordnungslehre des Thomas einleuchtend, daß das Klarheitselement der Schönheit sich auf die formelle Einheit des ordo bezieht, ja ihr sogar entspricht. Einerseits ist nämlich die Klarheit, metaphysisch und absolut genommen, das Vom-Geist-Verursachtsein des Dinges, und relativ-subjektiv die Intelligibilität des Dinges schlechthin. Anderseits ist die formelle Ordnungseinheit das Produkt des Geistes, soweit sie absolut und objektiv, also nicht in ihrem Bezug auf das Subjekt betrachtet ist, zugleich ist es aber die Lehre des Thomas, daß nur die Einheit als solche und nie die Mehrheit intelligibel sei17. Deswegen ist die Ordnung ihrem formellen Wesen nach, d. h., indem sie eine formell-spezifische Einheit von Elementenpluralität darstellt, das par excellence intelligibile Objekt des Intellekts. Dieser Aspekt der thomistischen Ordnungs- und Schönheitslehre wird in der Formenlehre noch viel klarer hervortreten 18 . Gegen diese Verbindung und Identifizierung der drei Elemente der Ordnung und der Schönheit und dadurch gegen die der Ordnung und Schönheit schlechthin können allerdings einige Bedenken laut werden, und zwar mindestens drei : ein allgemeines, in bezug auf die Natur der Ordnung schlechthin, und zwei spezielle, in bezug auf spezielle Schönheiten. Die erste Schwierigkeit erscheint darin, daß die Ordnung nach Thomas einen bonitas-Charakter hat und so zum Bereich der causa 14 SCG II 64, amplius. « Daß Thomas unter ratio compositions nicht dasselbe meint, was er in den Hauptstellen für ordo dem Ausdruck zuschreibt, sondern eben proportio, ergibt sich aus dem zweitnächsten Satz: Similiter (sc. anima) non est ratio compositionis, quia, quum in diversis partibus corporis sint diversae rationes sen proportiones compositionis, singulae partes corporis haberent singulas animas; aliam enim animam haberet os et nervus, quum sint secundum diversam proportionem composita. >« In I. Tim. 3,2, L. 1 und In I. Eth. L. 13 n. 159. 17 De ver. 21,3 c und ST I 68,2 c. 18 An dieser Stelle soll von der Formenlehre nur soviel antizipiert werden, daß dasselbe Prinzip der res naturalis, nämlich die forma substantialis, einerseits ein vereinigen-

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finalis gehört19; während der Schönheit der Charakter der Formalkausalität zugeschrieben wird20. Wie können dann diese zwei in ihren entsprechenden Wesenselementen und dadurch auch selbst identisch sein ? Nun kann diese Schwierigkeit durch den Hinweis gelöst werden, daß die Ordnung nach Thomas nicht nur die ratio der causa finalis, sondern auch die der causa formalis hat, und zwar so, daß diese zwei Aspekte in ihr bloß virtuell verschieden sind. Die Ordnung hat den Charakter der causa finalis, aber nur in bezug auf ihre Teile, Glieder oder Elemente21, für die sie als ihre Vollendung, als die Perfektion des Ganzen appetibel ist2*. Die Ordnimg könne aber auch von dem Gesichtspunkt des sie erkennenden Subjekts aus betrachtet werden, und so kann sie, indem sie als eine (durch das Intelligibilitätsprinzip, das ist die Form, verursachte) Formaleinheit erkannt wird, im rationalen Subjekt Gefallen erwecken28 eine Lehre, die der über die Schönheit völlig entspricht: Pulchrum autem respicit vim cognoscitivam; pulchra enim dicuntur quae visa placent*4.

Für seine Teile ist also das geordnete Ganze ein bonum, aber für das erkennende intellektuelle Subjekt eben ein pulchrum. Das ist aber bloß eine Frage virtueller Differenz26. Die zweite und schon spezielle Schwierigkeit hängt mit Gott zusammen: sollten Ordnung und Schönheit realiter identisch sein, also ihre respektiven Elemente einander entsprechen, so müßte es in Gott irgendwelche distinctio partium geben, die dem integritas-Element der pulchritudo divina entspräche. Das ist aber unmöglich wegen der absoluten Einfachheit Gottes. Der Hinweis, Gott repräsentiere eben eine virtuelle Pluralität (von Attributen oder von Existenz und Essenz), ist offenbar keine Lösung, da ja Thomas explizit sagt: ubi non est distinctio secundum rem, sed solum secundum modum intelligent, ibi non potest esse ordo nisi secundum modum intelligendi2*.

Ohne daß das Problem der göttlichen Schönheit hier eingehend behandelt wird (das wird eine spätere Aufgabe sein), soll hier nur darauf des und ordnendes Prinzip sei, andererseits aber das immanente Prinzip der metaphysischen Klarheit, d. i. der Intelligibilität, darstelle. Die wesentlichen Texte dafür sind: De ver. 29,8 ad 8. und ST I 5,4 ad 1. ' · De ver. 21,6 c; — ST I 5,5 c und I—II 85,4 c. 20 ST I 5,4 ad 1. fin. 21 SCG III 112. « ST I 65,2 c. 23 ST II—II 145,3 c. M ST I 5.4 ad 1. — Vgl. ebd. I—II 27,1 ad 3. 25 ST I 5,4 ad 1. princ. 2 « De pot. 10,3 c. — Vgl. Quodl. 1,2,1 (2), corpus.

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hingewiesen werden, daß diese Frage sich philosophisch kaum lösen läßt : sie ist eine theologische Frage. Das zeigt sich im nächsten Satz des soeben zitierten Textes 4 ·. So ist aber dann diese Schwierigkeit nicht ein Beweis für die Unrichtigkeit der These, daß Ordnung und Schönheit sowie ihre entsprechenden Wesenselemente wesentlich verbunden und identisch sind, sondern bloß ein Aspekt in ihr, der objektiv und absolut erklärbar sein mag, aber subjektiv und relativ, d. h. für den menschlichen Intellekt, eben ein mysterium absolutum darstellt. Eine dritte Schwierigkeit hängt dann mit der Schönheit der Farbe zusammen: Wie kann in der Farbe als einer nach thomistischen Prinzipien einfachen Qualität eine realis distinctio partium vorhanden sein; und wenn nicht, wie kann Farbenschönheit eine Ordnung darstellen? Man hat verschiedentlich versucht, dieses Problem, das insbesondere Urráburu so tief sah", das aber weder er noch andere wirklich lösen konnten, den thomistischen Prinzipien entsprechend zu lösen. Nun ist es nicht die Aufgabe dieser Studie, die Schönheitslehre des Thomas zu verteidigen. Dies gehört zum künftigen ästhetischen Programm des Thomismus. Hier kommt es nur darauf an, daß man die tatsächliche Lehre des Aquinaten kennenlerne, ohne »Theorie über Theorie zu bilden«. Für die Lösung der Frage gibt Thomas wenig Anhaltspunkte. Die folgenden Umstände sind aber sicher : Erstens spricht Thomas des öfteren expressis verbis über die Schönheit der Farbe schlechthin48. Zweitens spricht er über die Proportion oder Harmonie der Farben*9 sowie über die convenientia der Farbe mit dem Ding, dessen Farbe sie ist30. Drittens spricht er auch über die Klarheit der Farbe 31 . Mit diesen Äußerungen hätte man schon das zweite und das dritte Wesenselement der Schönheit wie der Ordnung. Außerdem redet aber Thomas auch über die Intensität der Farbe: circa colorem possunt inveniri aliquae aliae differentiae praeter contrarietatem albi et nigri ; sicut quod aliquis color est intensus, et alius remissus ; aliquis pulcher, et aliquis turpis".

Das stellt offenbar die erste Wesensbedingung der Schönheit, die Integrität in der Farbe dar. Ob es sich aber auch als die causa materialis remota der Ordnung in bezug auf Farbe betrachten läßt, ist eine schwere Frage. Eine positive Antwort ist allerdings nicht undenkbar. " Siehe Einleitung, Kapitel II Anm. 100, 102 und 106. S. 26f. « Siehe Anm. 119, Teil II, Kapitel I, S. 99. " In Ps. 44,2 und SCG II 64. 80 ST III 87,2 ad 3. — Vgl. auch In II. Eth. L. 7 n. 320 und In IV. Eth. L. 8 n. 738. 31 In I. Sent. 31,2,1, sol. und ST I 39.8 c. " In II. De an. L. 32 n. 520. — Vgl. die denkbare implicatio von In X. Met. L. 3 n. 1968.

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Aber auch ohne das ist der ganze Einwand vom Problem der Farbe her nicht so sehr ein Grund, die thomistische Identifizierung der Ordnung (der Ordnungselemente) mit der Schönheit (den Schönheitsforderungen) abzuleugnen, sondern vielmehr — so scheint es — als eine mögliche Schwäche der thomistischen Schönheitslehre zu betrachten. Allerdings scheint es sehr wünschenswert und notwendig, im Rahmen des in der Einleitung umrissenen ästhetischen Programms den Versuch zu machen, auch von dieser Seite aus die Schönheitstheorie des Thomas aposteriorisch als richtig zu erweisen. 2. Indem nun die erste Schwierigkeit gelöst wurde und die anderen zwei nicht die These selbst entkräften, sondern vielmehr auf Fragen hingewiesen haben, die teils wegen ihrer Natur, teils wegen Mangels an Aufschlüssen expliziter Texte nicht oder schwer zu beantworten sind, kann der Zusammenhang zwischen den drei Paaren der Ordnungs- und Schönheitselemente als erwiesen betrachtet werden. Das beantwortet nun endlich die am Ende des vorigen Paragraphen gestellte Frage, wie Thomas' Ordnungslehre mit seiner Schönheitslehre zusammenhänge: Sie hängen zusammen, indem die Ordnungslehre das Wesen der Schönheit als Ordnung schlechthin darstellt und definiert. Dies gibt dann auch die Antwort auf die weitere, am Anfang dieses Paragraphen gestellte Frage, warum oder inwiefern die thomistische Ordnungslehre als eine Schönheitssynthese zu betrachten sei. Wenn nämlich Thomas die Schönheit schlechthin als Ordnimg definiert, so vereinigt er die drei analytischen Wesensforderungen der Schönheit in dem einzigen Begriff der Ordnung. Insofern also dieser sein ordoBegriff uns seinen Wesenselementen nach bekannt ist, wird durch diesen einen synthetischen Begriff der der Schönheit ebenfalls verständlich. Wäre das nun alles, was man aus der Analyse der Ordnungslehre des Thomas gewinnt, so würde das allein schon die bisherige Untersuchung dieses Artikels rechtfertigen. Wir haben uns aber erst des ersten Teiles der ästhetischen Nutzbarkeit der thomistischen Ordnungslehre versichert, während noch zwei weitere Schlüsse aus ihr zu ziehen sind, die beide von höchster ästhetischer Bedeutung sind. Die erste Konsequenz der Übereinstimmung der drei Ordnungs- und Schönheitselemente besteht darin, daß man etwas Näheres über die relative Natur der drei analytischen Schönheitsforderungen sowie über die Relation derselben zueinander und zu der Ganzheit des objektiven Wesens der Schönheit entnehmen kann. Man muß dazu lediglich einige fundamentale Teile der thomistischen Ordnungslehre wiederholen. Erstens ist nach Thomas die distinctio partium die causa materialis remota der Ordnung. Zweitens ist die

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convenientia partium die causa materialis próxima. Drittens ist die durch die ratio ordinis geschaffene Relationseinheit eben die causa formalis der Ordnung. Anderseits entspricht die distinctio partium der ersten, die convenientia partium der zweiten und die Formaleinheit der Ordnung der dritten Wesensbedingung der Schönheit. Daraus kann nur folgen, daß die Integrität die causa materialis remota, die proportio sive consonantia die causa materialis próxima und die claritas die causa formalis der Schönheit konstituiere. Das sagt zwar Thomas expressis verbis nicht ; doch ist die Beschreibung, die er uns seiner Formenlehre entsprechend über die Entstehung, genauer die immanente Entstehimg der Schönheit gibt, nichts anderes als die Bestätigung dieses Schlusses. Das wird eben der Hauptgewinn der zunächst folgenden Analyse der thomistischen Formenlehre sein. Da außerdem die Begriffe der thomistischen Metaphysik alle analoger Natur, also äußerst dehnbar und mit anderen Begriffen konvertibel sind, kann dieser Schluß auch so formuliert werden, daß die Integrität die materia remota, die Proportion die materia próxima und die Klarheit die forma der Schönheit darstellen, eine Formulierung, die ihre letzte Bestätigung, wie in Kapitel III demonstriert wird, von Thomas selbst erhält. Dieser Schluß, der also die spezifische Natur, Position und Rolle der drei Schönheitsbedingungen beleuchtet, wird aber zugleich zum Prinzip eines weiteren Schlusses. Analytisch oder, mit Thomas' üblichem Ausdruck, in ordine generationis betrachtet ist die causa materialis remota oder materia remota früher als die causa materialis próxima oder materia próxima. Ähnlich ist in derselben Ordnung der generatio die causa materialis próxima oder die materia próxima (ja sogar die causa materialis oder materia schlechthin) früher als die causa formalis oder die forma. Dieses Prinzip ist, wie im folgenden Text, oft und klar ausgesprochen : Dicendum quod duplex est ordo. Unus quidem secundum viam generationis et naturae materiae, secundum quem imperfectum prius est perfecto. Alius autem ordo est perfectionis et formae, secundum quem perfectum naturaliter prius est imperfecto33.

Das ist eigentlich eine Doktrin, die in Thomas' Kosmologie oder näher in seiner aristotelischen Theorie über materia und forma wurzelt34. Nun sei aber die Integrität die causa materialis remota (materia remota), die Proportion die causa materialis próxima (materia próxima) und die Klarheit die causa formalis (forma) der Schönheit. Folglich sei die Integrität früher als die Proportion, und die Proportion selbst 33 34

SCG II 30 und ST I—II 62,4 c. — Vgl. ebd. 83,3 ad 3 ; I 85,3 ad 1. Vgl. De ver. 9,3 ad 6.

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früher als die Klarheit. Mit anderen Worten, zuerst sei die Integrität, dann die Proportion und endlich die Klarheit nötig in der Schaffung der Schönheit. Dieser Schluß aus der ersten Konsequenz der Ordnungslehre in ihrem Zusammenhang mit der Schönheitslehre ist aber dasselbe, was Thomas im Haupttext zum objektiven Wesen der Schönheit lehrt: Nam ad pulchiitudinem tria requiruntur. Primo quidem integritas sive perfectio . . . Et debita proportio sive consonantia. Et Herum claritas8*.

Damit hat man also die Antwort auf die Frage, warum Thomas an dieser (einzigen) Stelle diese Reihenfolge den drei objektiven Wesensprinzipien der Schönheit zugeschrieben hat. Diese letzte Frucht der Analyse der thomistischen Ordnungslehre läßt sich konkret folgendermaßen erläutern: Kein Ding, sei es ein Einzelding oder eine Gruppe von Einzeldingen, sei schön, es sei denn, es erfülle ¿ e i wesentliche Bedingungen. Erstens müsse das Ding alles haben, was ihm nach einem bestimmten Prinzip (das, wie im nächsten Artikel gezeigt wird, im Falle einer res naturalis die von der Form bedingte Species oder Natur des Dinges ist) gebührt. Zweitens müssen alle diese Teile oder Prinzipien einander (ad invicem) und dem aus ihnen zu gestaltenden Ganzen, d. h. dem Ding selbst (totum), auf eine (wieder der formbedingten Natur) entsprechende Weise (debite) proportioniert sein8·. Dies sind nun zwei Bedingungen, deren zweite von der ersten abhängig ist, da ja abwesende »Teile« keine Teile sind und als solche die nötige Proportion nicht konstituieren oder zu ihr beitragen können. So sei also die erste Bedingung eben das fundamentum (causa materialis) der zweiten. Sind aber die ersten zwei Bedingungen erfüllt, d. h. sind alle proportionierten Teile vorhanden, so kann mittels eines äußeren oder immanenten Prinzips das Ding mit einer (im Falle einer res naturalis) inneren ontologischen Ordnungseinheit zustande kommen. Dadurch wird aber auch schon die dritte Wesensforderung der Schönheit erfüllt, indem die formelle Ordnungseinheit, soweit sie von einer geistigen (äußeren) effizienten Ursache oder von einer durch diese äußere geistige Ursache bedingten, immanenten Formalursache geschaffen wird, ihren geistigen Ursprung manifestiert, also nach außen und für den rationalen Betrachter intelligibel ist, d. h. Klarheit besitzt und damit sich dem Subjekt im ästhetischen Erlebnis zum Genuß anbietet. Diese Klarheit ist also offenbar nur auf Grund der ersten zwei Forderungen möglich und wird nur in dem Falle erfüllt, wenn die ST I 39,8 c. — Eine interessante Parallelstelle: In I. Sent. 3,2,2, sol. *· Vgl. In VII. Phys. L. 5 n. 918. 86

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ersten zwei, und zwar die Integrität als das fundamentum der Proportion — also als ihr fundamentum remotum — und die Proportion als ihr unmittelbares fundamentum (proximum), erfüllt sind. Ist sie aber selbst erfüllt, so fehle nichts dazu, daß das Ding erkennbar und — wenn tatsächlich erkannt — ergötzend, also eben schön sei, da ja letztlich schön nur das sei, cuius ipsa apprehensio placet".

2. Zweite (konkrete) Synthese Außer der soeben überblickten abstrakten Schönheitssynthese findet man in Thomas' Werken auch eine zweite ästhetische Synthese, d. h. eine Lehre über die Schönheit, in deren Mittelpunkt der Begriff forma steht, wie sie nach außen dem Intellekt posterior, aber nach innen der species und der pulchritudo (mindestens virtualiter-analytisch) prior ist. Die Lehre über diese Begriffskette stellt insofern eine (zweite) Schönheitssynthese dar, als darin Thomas einerseits seine Formenlehre und durch sie praktisch seine ganze Metaphysik mit seiner Ästhetik am engsten, wesentlich und organisch verbindet, anderseits und zugleich aber das Bild, das er in seiner ersten Synthese über die drei analytischen Wesensforderungen der Schönheit als die causa materialis und formalis der Schönheit entworfen hat, mit den äußeren Ursachen, d. h. der causa efficiens (realis und virtualis) und causa exemplaris ergänzt und uns dadurch auch die Entstehung der Schönheit erkennen läßt, in der die pulchritudo sich als causa finalis oder genauer als finis operis herausstellt. Da alle die kritischen Begriffe, die darin erläutert werden, nämlich forma und species, artifex und ratio, exemplar und finis im Gegensatz zu dem abstrakten Zentralbegriff ordo der ersten Synthese konkret sind, kann diese zweite Schönheitsanalyse selbst konkret genannt werden. Zuerst untersuchen wir also die Formenlehre selbst. a) Die ästhetische Formenlehre des Thomas

1. Als Einleitung zur ästhetischen Formenlehre des Thomas kann folgender Text zitiert werden : Requiritur enim ad pulchritudinem et claritatem forma 1 .

Diesem Satz, der bezeichnenderweise in seinem Dionysius-Kommentar vorkommt und — zusammen mit Punkt 349 derselben Lektion — das " ST I—II 27,1 ad 3. 1 De div. nom. 4,21,654. — Vgl. 8,4,775.

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Zeichen eines neuen Geschichtsabschnittes in der thomistischen Schönheitstheorie darstellt, folgt gleich ein anderer, in dem Thomas die Notwendigkeit der Form für die Schönheit wiederholt zum Ausdruck bringt: Si totaliter tolleretur omnis forma et omnia ordo et per consequens totum id quod est in pulchritudine, nec ipsnm corpus remanere posset et per conseqnens neqne turpitudo corporis*.

Nun ist dieser Text einerseits eine kurze Zusammenfassung der Ordnungslehre in ihren ästhetischen Aspekten, anderseits aber zugleich eine Verbindung dieser Ordnungslehre mit der ästhetischen Formenlehre. Man hat nur die Hauptwörter des konditionalen Nebensatzes zu lesen: forma, ordo (consequens), pulchritudo, um das zu erkennen. Das soll also bedeuten, daß es zuerst eine Form im Ding gibt, die in ihm Ordnung und dadurch (also als die Formalwirkung des ordo) auch Schönheit schafft. Andere Texte verraten zunächst, daß die ästhetische Rolle der Form, die im Dionysius-Kommentar auf die zitierte Weise ausgedrückt wird, eine doppelte ist : erstens sei die Form selbst schön*, anderseits stamme Schönheit von ihr 4 ; wobei die Art der Form metaphysisch keine Rolle spielt5. Soweit nun die Form schön ist, fließe aus ihr Schönheit hervor, obwohl es aus den bisherigen Stellen nicht ganz klar hervorgeht, ob diese betonte Schönheit der Form ihre eigene sei, oder aber — im Falle eines körperlichen Dinges — zugleich die des Dinges darstelle. Allerdings muß man sich fragen, wie und warum die Form schön sei. Damit mag dann eventuell auch die Frage beantwortet werden, ob die Schönheit der Form zugleich die des körperlichen Dinges sei oder nicht. Nun ist aus diesen Fragen schon zu ersehen, daß man mit ihnen bereits nach Ursprung und Entstehung der Schönheit fragt, und zwar mit der Frage über die von der Form ausströmende Schönheit nach der inneren, immanenten und formalen, und mit der Frage über den Ursprung der eigenen Schönheit der Form nach der äußeren, transzendenten und kausalen Entstehung der Schönheit. Beide bringen uns aber in die Mitte von Thomas* Metaphysik: den Bereich der göttlichen und geschaffenen Form und ihrer effizient-kausalen und formalen Effekte. * Ebd. — Vgl. : ST I 66,1 c. — Diese Stelle scheint soviel zu bedeuten, daß es dort, wo es eine Form gibt, auch »Formosität«, d. h. Schönheit gebe. * In Ps. 26,3. — Vgl. die unwiderlegten Worte des Algazel: De unit, intell, contra Averr. cap. 2 η. 213. * ST I 6,4 ad 1. * In I. Cor. 16,4, L. 6. — Ausschließlich nach ihrem Inhalt, aber ungeachtet der chronologischen Schwierigkeiten, die mit diesen Texten verbunden sind, würden auch die folgenden zwei Stellen in dieses Bild passen: In III. Sent. 23, 3,1,1. sed c. 2a η. 226 und In III. Sent. 1,1,3,3a n. 63.

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Zuerst nun im Hinblick auf die innere formale Aktivität der Form findet man, daß Thomas einen neuen Begriff in seine Ästhetik hineinbringt, den der Species. An einer Stelle erwähnt er sie lediglich mit der Schönheit zusammen®, an einer anderen verbindet er aber die beiden7. Der eigentliche Grund für diese Einschaltung des Begriffs species in die Ästhetik ist nicht das von Thomas explizit erwähnte Vorgehen des Augustin, der species als Schönheit interpretiert habe8, sondern die von ihm völlig adoptierte aristotelische Doktrin, daß die Form die Species des Dinges bestimme, nachdem sie das Wesen in Existenz gesetzt habe : forma, per quam res habet esse*.

Wenn nun die Form schön ist, so muß auch die Species, die von der Form bedingt wird, von ästhetischer Bedeutung sein. Tatsächlich verrät Thomas diesen ihren ästhetischen Charakter durch das Wort »speciosus« — ganz ähnlich dem Terminus »formosus«, wie wenn er ζ. B. die Worte Augustins zitiert : (deus) est species prima, a quo omnia sunt speciosa10.

An anderen Stellen der zweiten Summa 11 und des Psalmenkommentars 12 äußert sich Thomas sogar deutlicher. Betreffs der Natur der Schönheit, die durch die Species bestimmende Form geschaffen wird, kann man Thomas* Gedankengang folgendermaßen reproduzieren: Da die von der Form zu bestimmende Species für das Individuum seine Natur konstituiert, muß die spezifische Schönheit des Individuums eben eine essentielle Schönheit sein, d. h. muß seine Form-geschaffene Schönheit eben die seines Wesens und seiner Natur sein, die dem Einzelding nie fehlen kann 13 . Da er es aber für möglich hält, daß es bestimmte Formdefekte in den Einzeldingen gebe13, so folgt dann, daß die Form im Ding außer der • ST I 39,8 c. 7 Resp. ad Ioann. Vercell. de art. 108, q. 57 n. 884. — Vgl. : In III. Sent. 1,2,2 η. 98; In IV. Sent. 48,2,3, sol. und De div. nom. 8,4,775. (Ν. Β.: Ohne die Einschaltung des Begriffes der forma, die ja erst in De div. nom. stattgefunden hat, sind die zitierten Stellen des Sentenzenkommentars in ihrer ästhetischen Bedeutung nicht zu verstehen.) 8 Augustin, De trin. V, 10, PL. 42,931 — worauf Thomas folgendermaßen hinweist: ». . . speciem interpretatur pulchritudinem . . .« (Resp. ad loann. Vercell. de art. 108, q. 57, n. 884.) 9 De div. nom.4,5,349. — Wie bereits in der Analyse der Klarheitslehre betont worden ist, stellt eben diese Stelle die Wendung in der Geschichte der thomistischen Schönheitstheorie dar. 10 De div. quaest. L X X X I I I , q. 23 PL. 40, 17 — zitiert von Thomas in De pot. VI,6,6a. 11 ST II—II 129,4 ad 3. 12 In Ps. 44,2. — Vgl. auch: In lob, 3,1 und In Ps. 44,3. — Daß Thomas den Terminus »speciosus« manchmal ebenso weit wie »pulcher« gebraucht (vgl. In Ps. 44,3), während er ein anderes Mal seinen Sinn zu proportio membrorum einschränkt und dem

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essentiellen Schönheit auch akzidentelle produziere, deren Abwesenheit die Häßlichkeit darstelle14. Wie oder warum ist nun die substantielle Form schön und folglich verschönernd oder schönheitsschaffend? Thomas' Antwort ist eindeutig und einleuchtend: weil sie von Gott schön und klar gemacht wird. Diese Antwort gibt er uns aber auf sehr verschiedene Weise. Wo er z. B. Dionysius paraphrasiert, klingt seine Erläuterung wie die eines Platonikers15, ein anderes Mal aber tönt seine Feststellung mehr aristotelisch1·. Wie soll man nun diese göttliche Verschönerung der Kreatur durch ihre Form genau verstehen? Thomas antwortet uns folgendermaßen: quae quidem traditiones fulgidae divini radii secundum participationem similitudinis sunt intelligendae17.

(Einen ähnlichen Satz schreibt er schon etwas früher in demselben Kommentar"). Aus diesen Stellen ersieht man nun, daß der allgemeine Grund für die kreatürliche Schönheit auf Grund des Kausalitätsprinzips einfach darin bestehe, daß Gott, die Ursache der geschöpflichen Schönheit, seine Kreaturen notwendigerweise sich gleich schaffe, da Gott nun aber schön sei, mache er auch seine Geschöpfe schön. So bestehe also die kreatürliche Schönheit schlechthin in der Partizipation an der göttlichen Schönheit oder, noch klarer, in einer Ähnlichkeit mit der göttlichen Schönheit. Daß das alles nicht nur ein bloßes Nachsagen des kommentierten Dionysius ist, beweist Thomas mit selbständigen Stellen ähnlichen Inhalts : homo non potest habere decorem nisi circumdatum, quasi participando ipsum a deo1*. omnes enim boni tarn angeli quam homines, speciosi sunt ex participatione divinae essentiae, sapientiae et iustitiae , °.

Man sieht aber vorläufig noch nicht, auf welche Weise diese Particip a t e durch die Instrumentalität der Form zustande komme. Für die Erklärung müssen wir nun wieder zum Dionysius-Kommentar zurückkehren21. Dort heißt es, die Kreatur werde der Schönheit ihres Schöpfers durch ihre substantielle Form ähnlich gemacht, und zwar so, daß durch decor im Sinne von convenientia coloris gegenüberstellt (In Is. 53 und In 1er. 11,3), ist nur genetisch, aber nicht systematisch wichtig. " De div. nom. 4,21,564. 14 De div. nom. 4,21,654. — Vgl. auch den vollen Text der Stelle: »(Anima) dat pulchritudinem et claritatem«: In I. Cor. 16,44, L. 6. 16 De div. nom. 4,5,340. — Vgl. In Ps. 25,5. " In Ps. 26,3. 17 De div. nom. 4,5,340. 18 Ebd. n. 337. " In lob 40,1,1. 20 Ebd. weiter unten. 21 De div. nom. 4,6.349.

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diese Form die göttliche Klarheit als ein Strahl der fons omnis luminis22 die Kreatur erleuchtet, in ihrem Wesen durchdringt und verschönert. Im Besitze dieser sie Gott ähnlich machenden, ja sogar die göttliche Schönheit widerspiegelnden Klarheit der Form ist es dann der Kreatur natürlicherweise möglich, durch ihre eigene Schönheit zur Erkenntnis ihres Schöpfers zu gelangen2®. Und da alle geschaffenen Dinge solche Gottähnlichkeit der Schönheit in sich tragen, könne der Mensch durch die Schönheit dieser Welt zu derselben Entdeckimg kommen". Anderseits ist auch klar, wenn die Schönheit des Geschöpfes wesentlich in seiner Ähnlichkeit mit der göttlichen Klarheit und Schönheit besteht, daß, je vollkommener seine Natur (species), d. h. je ähnlicher es Gott ist, es desto schöner ist. Folglich gebe es eine Hierarchie essentieller geschöpflicher Schönheit26. 2. Zunächst kann man Thomas fragen, welche Art Ursache auf Grund dieser Lehre Gott für die Kreatur sei. Die Antwort des Aquinaten macht zugleich den bisher gezeigten göttlich-geheimnisvollen Ursprung der kreatürlichen Schönheit klarer : Gott sei in bezug auf die Schönheit des Geschöpfes eine dreifache Ursache, und zwar eine causa exemplaris, efficiens und finalis2*. Von diesen drei Arten von Ursachen, die Gott für die Welt repräsentiere, interessieren uns in diesem Zusammenhang insbesondere die ersten zwei. In bezug auf die göttliche Exemplarkausalität lehrt uns Thomas vor allem, daß damit spezifisch der göttliche Intellekt verbunden sei, indem Gott als ein schaffender Künstler (artifex)27 die Urbilder der zu schaffenden Dinge »empfängt«, wie das im von Thomas wiederholt zitierten Boethius-Vers schön zum Ausdruck gebracht wird : Pulchrum pulcherrimus ipse mundum mente gerens, simiüque imagine formans"·

Da nun der göttliche Intellekt (wie analog der Intellekt schlechthin) das Urprinzip geistiger Klarheit und ordnender Proportion sei29 und deswegen in seinem Akt, dem die Schönheit per se et essentialiter innewohne und leuchte, sei, was immer auch in seinem lumen30, dem fons n

Vgl. ebd. n. 340. In IV. Sent. 48,2,3, sol. u In Symb. Ap. art. 1 η. 878. — Vgl. De div. nom. 7,4,733. " Vgl. In Symb. Ap. art. 1 η. 878. " Über Gott als causa exemplaris siehe: De div. nom. 4,5,354; als causa efficiens: ebd. 4,5,362, 4,6 und 7; 7,4,733 und 12,1,952; ferner: ST 1108,6 ad 6und II—II 146,2 c; als causa finalis: De div. nom. 4,6,353, 340 und 349. — Die gesamte Doktrin ist sehr prägnant in De div. nom. 4,8,390 zusammengefaßt. " Vgl. In Ps. 18,1. 18 Boethius: De cons. phil., III met. 9. — zitiert In II. Sent. prol. ; De ver. 3,1,6a und In Hebr. 11,3, L. 2. (Ursprünglich in Plotins Enn. V, 8,9.) ** Vgl.: ST II—II 180,2 ad 3. Vgl. In I. Cor. 11,4, L. 2. n

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omnis luminis81, geboren sei, sei er selbst von glänzender geistiger Klarheit, ja sogar das geschaffene Prinzip der Ordnung und Intelligibilität. Und gerade das sei die Form der Kreatur 82 : Indem nun Gott selbst eine Form, und zwar eine von unendlich schöner Weisheit sei1*, so sei die Form ebenso als eine schöpferische Idee in Gottes Vernunft wie auch in ihrem verwirklichten Zustand, d. h. als eine reale forma substantialis rei, natürlicherweise participatio quaedam divinae claritatis84, deren Produkt, die pulchritudo rei, ein grandioses Zeugnis von Gottes schaffender Kunst und Weisheit ablege8*. Es ist nun sehr passend, daß dieser unendlich schöne und als causa exemplaris mit seiner grenzenlos klaren Weisheit glänzende Ideen erschaffende göttliche Künstler als causa efficiens seine Ideen nur aus einem Grunde verwirkliche: aus Liebe für seine eigene Schönheit, die er in den schöpferischen Ideen unendlich variiere und nachahme, und folglich auch aus Liebe für diese seine ihm ähnelnden schönen Ideen Anderseits, da endlich die Kreaturen als gottähnliche und Gottes Schönheit nachahmende von ihrem Schöpfer als causa exemplaris erdacht und als causa efficiens aus Liebe verwirklicht sind, ist es auch sehr schicklich, daß sie ihn auch als ihre causa finalis ultima lieben87. 3. Die forma substantialis sei aber nicht das einzige innere Prinzip der Schönheit der Kreatur, ganz wie die göttliche Weisheit nicht der einzige Schöpfer glänzender Ideen und Formen sei. Die substantielle Form schaffe bloß die wesentlichen und einige akzidentelle Schönheitsfaktoren des Geschöpfes, wozu das Geschöpf, falls es rationaler oder intellektueller Natur ist, noch weitere akzidentelle Schönheit beizufügen vermag, und zwar teils mit den eigentlichen Akten seiner Vernunft88 und teils mit seinem eigenen Willen, der die radikale Klarheit des Vernunftaktes partizipiere89 und widerspiegele40. Es ist offenbar, daß hier Thomas über intellektuelle und moralische Schönheit spricht, und daß er auch in diesem Zusammenhang bei seiner bisher dargelegten Ansicht verbleibt, die Wurzel und das letzte Prinzip (principium quod) in den Geist, das geistige Wesen verlegt. ,l

De div. nom. 4,5,340. ** Ebd. 4,6,360. » Vgl. In I. Sent. 46,1,4 ad 1. " De div. nom. 4,6,349. «« In Ev. Ioann. 1, L. 4 und ST I 36,2 c, arg. 2. *· De div. nom. 4,6,362 und 4,9,424. — Vgl. : ebd. 4,10,437 und ST 119,9,2a. " Ebd. 4,8,390 und 393. *· De malo 4,2,17a. — Dieser Satz erscheint zwar nur in einer Objektion, wird aber in der Lösung nicht beanstandet. »· ST II—II 180.2 ad 3. 40 In I. Cor. 11,4, L. 2. — Vgl. auch ST II—II 142,2 c; 146,3 c; 116,2 ad 2 und 142,4 c.

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Daran ändert auch der Umstand nichts, daß dem geistigen Wesen in der Vergrößerung und Vertiefung seiner moralischen Schönheit Gottes Gnade hilft 41 , da diese ordnende und verschönernde Hilfe unmittelbar von Gott, dem unendlichen und unendlich klaren Geist, stamme 42 . Die logisch-intellektuellen und die ethisch-moralischen Arten akzidenteller Schönheit sind zwar von sehr großer Bedeutung, doch stellen sie nicht die einzigen Weisen dar, auf die die menschliche Ratio selbst (ohne oder mit Gottes übernatürlicher Hilfe) zum Schöpfer solcher Schönheit werden könne. Thomas spricht in verschiedenen Zusammenhängen über künstlerische Schönheit, deren Ursache der menschliche Geist sei. So erfahren wir von ihm, daß der artifex mittels seiner ratio das Rohmaterial entsprechend gestalte und ihm so Schönheit verleihe43. Dabei gebrauche der artifex selbstverständlich seinen von der ratio gelenkten Willen44. Bei solcher äußerlich schaffenden Aktivität sei es aber unentbehrlich, daß der Künstler für sein Werk ein passendes, dem finis operis proportioniertes Material finde. Ein Material, das zwar wohldisponiert ist, dabei aber andere Vorzüge sekundärer Wichtigkeit entbehrt, sei vom Künstler einem dem Ziel nicht entsprechenden, aber sonst vollkommeneren Material vorzuziehen45. Wenn es dann endlich dem artifex gelungen ist, seine künstlerische Idee in der Materie zu verwirklichen und sein Kunstwerk zu vollenden, dann finde er Freude an dessen Schönheit4®. So führt uns Thomas in seiner ästhetischen Formenlehre von der Natur und Aktivität der substantiellen Form zuerst ganz hinauf bis zum unendlich schönen Geist des schaffenden Gottes, wodurch man außer den inneren — materiellen und formellen — Ursachen der natürlichen Schönheit zugleich deren äußere Ursachen, die in Gott bestehende causa exemplaris, efficiens und finalis kennenlernt; dann aber auch zum endlichen Schönheitsschöpfer, dem Menschen, der in seiner Kenntnis und Tugend ebenso wie als Künstler zu seiner eigenen und zu der weltlichen gottgeschaffenen Schönheit weitere Schönheiten beizufügen vermag. — Endlich deutet dann der Aquinate auch einen weiteren, zugleich aber abschließenden Aspekt der Schönheit an, nämlich ihre causa finalis als finis operantis, die im ästhetischen Erlebnis, also im Genuß und Gefallen des sie erkennenden und betrachtenden Geistes besteht. In IV. Sent. 18,1,2, sol. I. η. 53. — Vgl. In Ps. 44,2. ST I—II 109,7 c. « In 1er. 13,1. 44 De pot. 1,2 c. 4 5 ST I 91,3 c. 4 « In 1 Ev. Matth. 3,2. 41 42

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b) Die Entstehung der Schönheit

Das Bild, das man von der ästhetische Formenlehre aus expliziten Schönheitstexten erhält, ist vollkommener als ein auf dieselbe Weise zu erhaltendes von den vorher analysierten Teillehren der thomistischen Ästhetik. Doch ist dieses Bild, da es wesentlich auf Texten des DionysiusKommentars beruht — sit venia verbo — zu platonisch, als daß man sich damit ganz zufrieden geben könnte. Aus diesem Grund, und auch um das »debita« der objektiven Schönheitsdefinition der Summa theologiae in bezug auf proportio völlig zu verstehen, müssen nicht explizit ästhetische Texte konsultiert werden, so daß man eine präzise Erklärung dreier Aspekte der Entstehung der Schönheit erhält: die Exemplar- und Wirkursächlichkeit Gottes, die die Entstehung der natürlichen Schönheit von außen oder transzendent, die Tätigkeit der Form in der Gestaltung der Dingschönheit, die dieselbe Entstehimg von innen oder immanent erklärt, und endlich die Rolle, die der artifex bei der Schaffung des Kunstwerkes spielt. 1. Über Gottes Rolle als causa exemplaris hat Thomas folgendes zu sagen : Da die Immaterialität eines Dinges die ratio seiner erkennenden Natur sei, so sei Gott, der das summum immaterialitatis darstellt, notwendigerweise im Besitz des summum cognitionis1. Daß in Gott der Intellekt sowie der Akt des intelligere sein Wesen selbst sind und sich von seiner Essenz bloß virtuell unterscheiden, folge aus der eine absolute Einfachheit erfordernden Unendlichkeit der göttlichen Vollkommenheit2. Mit dem Akt des intelligere kenne nun Gott vor allem sich selbst per essentiam3, und durch dieses Selbsterkennen erkenne er auch seine unendliche Nachahmbarkeit4, d. h. andere Dinge, die er schaffen kann.5 Da nun die Dinge in der Welt nicht aus reinem Zufall geworden sind, sondern durch Gott, und da kein agens etwas formt, ohne die similitudo formae des zu schaffenden Dinges in sich zu haben, sei es nicht nur richtig, sondern auch notwendig zu schließen, daß es im göttlichen Intellekt Ideen gebe®, die nichts anderes als formae aliarum rerum praeter ipsas res exsistentes7 seien. Demnach sei dann jede einzelne Idee ein exemplar eius cuius dicitur forma7. So sei also einerseits die göttliche 1

ST I 14,1 c. ST I 44,4 c. 3 ST I 14,5 c. 4 Ebd. art. 2 c. fin. 5 ST I 14,5 c. « ST I 15,1 c. 7 Ebd. 2

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Essenz die causa exemplaris remota und jede einzelne Idee eine causa exemplaris próxima, nach denen Gott Einzeldinge schaffe8. — Anderseits sei die göttliche Essenz das principium remotum, der göttliche Intellekt aber, zusammen mit der sapientia und ars Gottes9 das principium proximum oder im uneigentlichen Sinne das principium formale der schöpferischen Ideen. Hieraus ersieht man deutlich, wie Thomas die ganze Problematik der göttlichen Schöpfung nach Analogie des künstlerischen Schaffens betrachtet. Tatsächlich gebrauchen nach seiner Lehre Gott und der schaffende Künstler ihre sapientia und ars zu demselben Zweck, nämlich der Formung von Ideen, und teilen ihren schöpferischen Ideen analog dieselbe Rolle in der Produktion ihrer entsprechenden artificiata zu10. Dabei betont er aber auch die unendliche Entfernung der zwei Analogata, wenn er z. B. lehrt, daß die Pluralität der göttlichen Ideen der Simplizität Gottes nicht widerspreche. Da nun diese Ideen nach dem unendlich schönen Wesen Gottes und vom göttlichen Prinzip der Klarheit, das ist dem Intellekt Gottes geformt werden, sei es nach dem Kausalitätsprinzip oder nach dem von Thomas gern angeführten Axiom : agens agit simile sibi11 notwendigerweise so, daß diese schöpferischen Ideen selbst, und durch sie auch die je verwirklichten, realen formae substantiales, dem göttlichen Wesen und dem göttlichen Intellekt ähneln, also klar und leuchtend ihn und ihr göttliches Exemplar widerspiegeln12. Ähnlich sei der Fall mit der Welt in ihrer Ganzheit. Da Gott nicht nur von jedem Einzelding, also von jedem einzelnen Teil der Welt, sondern auch von der aus diesen Teilen zusammengesetzten Welt eine schöpferische Idee habe", so sei die Klarheit und Schönheit dieser ihrer schöpferischen Idee, und durch sie auch die der nach dieser Idee geschaffenen Welt auf dieselbe Weise von vornherein gesichert14. » Vgl. z. B. ST I 16,2 c. » Vgl. z. B. ST I 16,2 ad 2. 19 Vgl. SCG II, 24 und ST I 16,2 ad 2. » In I. Sent. 7.1,1, sol.; 36.2,3, sol.; In II. Sent. 18,2,1 ad 4.; SCG I 29,49; II 11,16,20,21,23,24,41,46,63,89; III 19,52,69,96,107; De pot. 4,1,12a; 6,3c; In III De an. L. 6 n. 668; De an. 12c; ST I 3, 3,2a; 19,2c; 41,5c; 45,5 ad 1; 45,8 ad 2., 116,1 c usw. »« Vgl. z. B. SCG 111,21. 18 Vgl. ST I 16,3 ad 4.; 47,2 c und ad 3.; SCG II, 24. 14 Diese ganze Argumentation kann man auf Grund einer passend hier zu erwähnenden Schönheitsstelle folgendermaßen zusammenfassen: jede Kreatur sei eben eine imago dei (nämlich aus den im Haupttext dargelegten Gründen). Andererseits sei jede imago in dem Grade schön, als sie ihr Exemplar nachahmt. Das von Gott geschaffene Ding müsse aber in Hinsicht auf die göttliche Allmacht mindestens seinem Wesen nach seiner Idee ähnlich sein. Deswegen sei jedes geschaffene Ding notwendigerweise in seiner wesentlichen Schönheit gesichert : aliqua imago dicitur esse pulchra, si perfecte repraesentat rem, quamvis, turpem (ST I 39,8 c).

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Anderseits folgt aber schon aus derselben Klarheit und Schönheit der schöpferischen Ideen, daß Gott sie liebt, da ja die Ähnlichkeit die ratio amoris sei u . So liebe Gott notwendigerweise die Dinge, deren Ideen er in seinem Intellekt ewig hervorbringt", und aus derselben Liebe werde, so lehrt uns Thomas, Gott zur causa efficiens der schönen Dinge17, und zwar als deren Schöpfer im Akt der creatio, indem er das Ding in seiner Totalität nach seiner schönen Idee aus nichts in den Bereich der Wirklichkeit setzt1*. Das bedeute aber, daß Gott durch seinen Intellekt das principium proximum oder causa exemplaris próxima der kreatürlichen Schönheit, durch seinen Willen aber die causa efficiens próxima derselben Schönheit sei1*. Dabei stelle das schöne Ding den finis operis improprie dictus, d. h. die ratio, dar, dessen Schönheit wegen Gott zum Schöpfer werde. Aus all dem ergeben sich also die folgenden analytisch zu unterscheidenden Etappen der äußeren (von außen betrachteten) Entstehung der pulchritudo naturalis: erstens die Urtatsache der göttlichen Existenz; zweitens die göttliche Selbsterkenntnis — in absolutem Sinn, indem Gott sich selbst, sein Wesen an und für sich erkennt, und dann in relativem Sinn, indem Gott durch sein Wesen seine unendliche Nachahmbarkeit erkennt; drittens die Konzeption schöpferischer Ideen; viertens die aus der göttlichen Selbstliebe folgende Liebe für die Schönheit der ideell existierenden Kreaturen; fünftens endlich die Verwirklichung der Schönheit der Kreaturen im schöpferischen Akt. 2. Im Moment der Erschaffung des schönen Dinges (oder, wenn das Ding durch eine substantielle Veränderung entsteht, im Moment eben dieser Veränderung) übernehme die substantielle Form alles weitere, was auch immer — wieder analytisch betrachtet — mit dem neuen Ding zu tun ist, von der äußeren, effizienten Ursache. Mit anderen Worten, die äußere Genesis des Schönen und der Schönheit ende und die innere, immanente Entstehung des Schönen und der Schönheit, die durch die substantielle Form verursacht wird20, beginne mit der Erschaffung (oder substantiellen Veränderung) des Dinges, die durch eine äußerliche Wirkursache vollbracht wird. Was tut nun die Form für das Ding, dessen Form sie ist ? Thomas beschreibt diese ihre immanente und in ihren einzelnen Etappen wesentlich nur analytisch distinguierbare Rolle folgendermaßen : in eadem instanti forma dat esse, ordinat et distinguit11. 15

ST I—II 26,1 ad 3. und 29,5 c. Vgl. ST I 19,9,2a. SCG II 24. Vgl. ST I 45,1; SCG II 16 princ. Vgl. SCG II 23. ,0 ST I 6,5 c. " De ver. 29,8 ad 8. »· " " "

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Zuerst habe also das Seiende sein esse, d. h. seinen ersten Akt von der Form, da die Form ihrer eigenen Natur nach selbst ein Akc sei22. Zweitens gebe und determiniere die Form die Species des Dinges23. Das sei nämlich der Sinn des Terminus forma, daß die Form das Ding formt und zwar nach ihrer Species24. Diese Species-erteilende Rolle der Form sei nun universell25. Damit sichere sie aber schon die geistige Klarheit, die Intelligibilität des Dinges analytisch primär, indem sie ihre eigene, von ihrer schöpferischen Idee herstammende Klarheit und Schönheit, dem spezifizierten Ding übergebe und es dadurch (seiner Species nach) intelligibel mache26. In der analytisch nächsten Etappe schenkt die Form dem Einzelding verschiedene Akzidentien. So gestalte sie ζ. B. das körperliche Ding quantitativ, indem seine integralen Teile teils instantan, teils graduell disponiert werden27. Ferner erteile sie dem Ding verschiedene Qualitäten: aktive potentiae und habitus als unmittelbare Tätigkeitsprinzipien28, wodurch es für seine actiones vorbereitet wird29. Damit gibt aber die Form dem Ding neben der ontologisch primären Mehrheit von esse und essentia sowie (im körperlichen Ding) von forma und materia auch seine ontologisch sekundäre von Substanz und Akzidentien 30 , was hinsichtlich des Begriffes der Ordnung eben die distinctio partium darstellt. — Ferner, da einerseits nach der thomistischen Proportionslehre esse und essentia, forma und materia miteinander proportioniert sind, anderseits alle Akzidentien als ontologische Geschenke der Form für das Ding nach dem leitenden und bedingenden Prinzip der Species erteilt werden31, ist vom Gesichtspunkt des Ordnungsbegriffes aus auch die convenientia partium mit der Species oder Natur als ratio ordinis gesichert. Hier finden wir endlich die tiefste metaphysische Implikation des Adjektivs debita in der ästhetischen Hauptstelle der zweiten Summa: Nam ad pulchritudinem tria requiruntur . . . E t debita proportio sive consonantia 8 2 .

Die Proportion ist gebührend, und zwar der Species des Dinges entsprechend. Alle Teile des schönen Dinges müssen, um die zweite Wesensforderung der Schönheit zu erfüllen, proportioniert sein, aber S T I 76,7 c. — V g l . : In V. Met. L . 1 n. 762, und SCO I 2 7 ; I I , 54. S T I 5,5 c. — Vgl. SCG I I I 7 und I V . 35. 2 4 D e pot. 6,6,5a. " S T I I I 13,1 c. 2 8 Vgl. SCG I I I 97 und De unit. int. contra Averr. cap. 2 η. 213. 2 7 Vgl. S T I 7,3 c und I I I 7,12 ad 1. 2 8 S T I 13,1 ad 3. 2 » Vgl. ζ. B . I n V I I . Met. L. 6 n. 138G. 3 0 Vgl. SCG I, 69, amplius 3 um. 3 1 D a s stellt sich aus den eben zitierten T e x t e n heraus. 8 2 S T I 3 9 , 8 c. 22

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diese ihre Proportion müsse von der Species des Dinges bedingt und prädeterminiert sein und könne von keinem anderen Prinzip ersetzt werden. Dieser Gedanke stellt sich auch an anderen expliziten Schönheitsstellen ein: si vero accipiuntur membra, ut manus et pes et huiusmodi, earum dispositio naturae conveniens est pulchritudo*1. nam figura, prout conventi naturae rei, et color pertinent ad pulchritudinem*4. pulchritudo est partium dispositio naturae conveniens**

wenn auch manchmal anders ausgedrückt". Hier handelt es sich zweifellos um eine ästhetische Applikation der Ordnungslehre, nach der die Teile der Ganzheit der Ordnung, wie sie durch die ratio ordinis geschaffen wird, wohl entsprechend und passend sein müssen, sonst können die Teile ihren finis, die Perfektion der Ganzheit nicht erreichen87. Zugleich erkennt man hier, daß die Schönheit, ebenso wie die Ordnung, den Charakter der causa finalis habe, aber nicht in bezug auf den erkennenden Intellekt, sondern auf die Schönheitsprinzipien, wie sie sich auf die Schönheit als ihr Produkt beziehen38. Um nun zu der immanente Schönheit schaffenden Aktivität der Form zurückzukehren, sichert die substantielle Form für das Individuum nicht nur die ersten beiden, sondern auch die dritte Wesensforderung der Ordnung. Indem nämlich alle (der Species nach wohlproportionierten) Teile der Dingprinzipien in die natürlich-innere und das Ding formell intelligibel machende Einheit des subiectum oder der res subsistens zusammengefaßt werden89, wird durch die immanente Tätigkeit der Form im Subjekt auch das formelle Wesen der Ordnung, die Prioritätsrelation der Species des ens subsistens zu allen metaphysischen Prinzipien und Teilen dieses ens40, die also die Mehrheit zur Einheit bringt, erfüllt. Insofern (oder, analytisch gesprochen, sobald) die Form im subsistierenden Ding diese immanente Organisationstätigkeit vollendet, das Ding also tatsächlich geordnet hat, hat sie neben der ontologisch 33 ST I—II 54,1 c. S4 ST I — I I 49,2 ad 1. " ST I—II 64,1 c. 3 « SCG I I I 87,2 ad 3., ST I I — I I 180,2 ad 3. und SCG I I I 139; De regno I 3; De div. nom. 4,5,339; In II. Eth. L. 7 n. 320. 37 Dieser Gedanke erscheint charakteristischerweise zum ersten Male in dem Werk, das die Epoche der Domination der aristotelischen ästhetischen Ordnungs- und Schönheitslehre in der Entwicklung der thomistischen Theorie über das Wesen der Schönheit repräsentiert : Contra imp. p. II c. 6 (7) n. 339. 38 Vgl. Teil II Kap. II. Sektion B, Artikel 1 § 2, Anm. 22—24. 39 Vgl. Quodl. VI 1,1 c; ST I 76,7 c; De an. q. un. art. 9 c und ST I 76,3 c. 40 Vgl.: materia et forma sunt propter speciem — SCG III 26.

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primären wesentlichen Schönheit, die durch die Verbindung des esse und der essentia oder durch die Klarheit der Species geschaffen worden ist, zugleich die ontologisch sekundäre, die akzidentelle Schönheit des Dinges durch diesen ordo geschaffen, da ja durch die Aktualisierung der distinctio partium die Integrität, die erste Wesensforderung der Schönheit, im Ding produziert wird. Indem ferner alle diese Teile entsprechend der Natur (species) dem Ding erteilt werden, wird auch die debita proportio, die zweite Wesensforderung der Schönheit, verwirklicht, schließlich durch die Einheit der partes convenientes die Klarheit, das dritte wesentliche requisitum der Schönheit, dem Dinge zuteil. Das alles ist die implicatio jenes Satzes, der im vorigen Paragraph (in der Einleitung zur ästhetischen Formenlehre) bereits zitiert worden ist: Si totaliter tolleretur omnis forma (1) et omnis ordo (2) et per consequens quod est in pulchritudine (3), nec ipsum corpus remanere possit 41 .

totum id

Dies ist also nach Thomas der immanente Prozeß der Entstehung der Schönheit des ens naturale durch die substantielle Form, auf Grund dessen sich ein ordo rei und dadurch, als sein Formaleffekt, die Schönheit selbst entfaltet. — Zugleich erhält aber von hier aus das Ergebnis der früher durchgeführten Analyse, nach dem ordo und pulchritudo real identisch seien, analytisch aber die Schönheit den Formaleffekt des ordo darstelle, eine weitere Bestätigung. 3. Als Corollarium kann hier noch Thomas' Doktrin über die Entstehung der künstlerischen Schönheit kurz zusammengefaßt werden. Im Mittelpunkt dieser Frage steht natürlich der artifex, der für Thomas, wie gezeigt, als primum analogatum logice sumptum zur Beschreibung Gottes des Schöpfers gebraucht wird. Zuerst muß darauf hingewiesen werden, daß der Terminus artifex für Thomas eine viel weitere Bedeutung hat als im heutigen Sinne. Nach der Natur der Arbeit, die er tut, kann er nämlich der geistige Erdenker oder der Hauptanfertiger des Werkes ebenso wie der manuell ausführende Diener des Werk-Erdenkenden sein42. Dagegen könne der artifex der Natur des Werkes nach betrachtet Dinge wie arca 4 3 , domus44 oder serra45, die also völlig oder primär praktischer Natur sind und als solche mindestens per se mit der Schönheit gar nichts zu tun haben, ebenso wie Dinge per se ästhetischer Natur erdenken und anfertigen46. « « « ** « «·

De div. nom. 4.21,554. In I I . Sent. 10,3 ad 1. De ver. 23,1 c. B. SCG I I 76; In II Phys. L. 4 n. 170 usw. In V I I Met. L. 8 n. 1437. Siehe Anm. 150—154, Teil II Kap. I Art. 2, S. 101 f.

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Nun sei der artifex praktischer Dinge erstens ein Mensch, in dessen Intellekt der usus operis als die causa finalis (finis operantis) erkannt wird. Dieser Zweck des künstlerischen Werkes setze dann als causa prima die Gesamtheit der immanenten und transzendenten Aktivität des artifex in Bewegung47. Dasselbe scheint auch für den Fall zu gelten, daß der artifex ein formelles Kunstwerk schafft, nur daß der finis operantis dann nicht der Nutzen, sondern der ästhetische Genuß ist«. Zweitens sei der artifex ein Mensch, in dessen Intellekt die Idee oder causa exemplaris des opus geformt werde, und zwar der determinatio der causa finalis entsprechend. Das ist der fundamentalste Grund für die aristotelisch-thomistische Definition der ars als recta ratio factibilium49, also der Kunst, deren erste Tätigkeit in der excogitatio der künstlerischen Idee, der causa exemplaris bestehe60. Nun werde der habitus artis, indem er spekulativer Natur ist61, in der Formung der causa exemplaris des Kunstwerkes so gebraucht, daß die von der göttlichen Weisheit geordnete Welt der Natur oder Dinge in ihr als causa exemplaris remota erwählt werden82. Das ist eine der Implikationen des Axioms, das wieder aristotelischer Herkunft ist : Ars imitatur naturamM.

Mittels der entia naturalia werde also die Idee als die causa exemplaris próxima des schönen Werkes im Intellekt konzipiert, die dann als die Form des Kunstwerks diene84. Zu dieser Form müsse dann in der zweiten operatio artis die entsprechende Materie gefunden werden, in der die Form verwirklicht werden kann55. Bei dieser vorbereitenden Tätigkeit wird der artifex, der sich bisher nur intellektuell-geistig mit dem finis operis bzw. operantis und der künstlerischen Idee beschäftigt hat, also per se nur immanent tätig war, zu einem agens transiens. Der Grund für diese zweite Tätigkeit des Suchens nach Werkmaterial sei einerseits, daß die Materie der in ihr zu verwirklichenden Form oder causa exemplaris «' Vgl. z. B. In II. Sent. 1,3 ad 1; ST I—II 67,3 c und In I. Post. an. prooem. n. 1. « De div. nom. 4,10,440. " Arist. Eth. VI 4,3,6, 1140 a 9 — 10 in ST I—II 67,4 c. — Vgl. SCG I 93, amplius; II 24, adhuc; In I. Post. an. L. 44 n. 406 und ST I—II 67,3c. 5 ° In VI. Eth. L. 3 n. 1154. " ST I—II 57,3 c. « In II. Phys. L. 4 n. 171 und L. 13, n. 257. « Arist. Phys. II 2,7,194 a 33 — zitiert In II. Phys. L. 4, n. 170, und auch in den folgenden Texten: In IV. Sent. 42,2,1c; In II. Phys. L. 13, n. 258; In VII. Phys. L. 5 n. 917. — Vgl. auch De ver. 11,1 c. M De ver. 3,7 c; Quodl. VII 1,3, cor. B. b. — Vgl. In VII Met. L. 8 n. 1436 und In XII. Met. L. 3, n. 2444. " In VI. Eth. L. 3 n. 1154. la·

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próxima entsprechen muß, und anderseits, daß nicht jede Materie mit jeder künstlerischen Form proportioniert ist8®. Wenn aber das entsprechende Material gefunden ist, so könne die dritte Phase der künstlerischen Tätigkeit beginnen : Tertia (sc. operatio artis) autem est constituera ipsum opus".

Damit wird nun der Künstler, in dessen Intellekt die causa finalis operis erkannt und die causa exemplaris próxima geschaffen worden ist, nun zur causa efficiens, und zwar entweder causa efficiens totalis, wenn er nämlich das Werk selbst macht, oder partialis, insofern er entweder als causa principalis das Herstellen des Werkes lediglich dirigiert und inspiziert (während der Ausführende als causa Instrumentalis tätig ist), oder mit einem (oder mehreren) anderen zusammen als con-causa principalis (in bezug auf die Werkzeuge, die als causae instrumentales gebraucht werden) wirkt58. Durch den Künstler als causa efficiens werde also das schöne Werk geschaffen, und zwar nach den präkonzipierten Ideen, doch aber künstlerisch frei in bezug auf ihre konkrete Verwirklichung in der Materie59. Soweit nun das Werk zur plastischen Kunst gehört, stelle es eine Kombination der zwei obersten Kategorien dar : Sed dicendum, quod artificialia sunt quidem in genere substantiae ex parte materiae : in genere autem accidentium ex parte formac: nam formae artificialium accidentia sunt· 4 .

Da weiterhin diese akzidentelle Form des Kunstwerks eine similitudo ihrer causa exemplaris próxima darstelle, die wiederum nach einer res naturalis konzipiert worden ist, sei das plastische Kunstwerk eine imago61. Das alles gelte selbstverständlich — mutatis mutandis — für die Malerei und die Musik62. Damit kennt man nun schon die äußeren Prinzipien und Ursachen der Schönheit des Kunstwerkes: die causa finalis, exemplaris und efficiens, und auch die Rolle, die diese in der äußeren Entstehung der künstlerischen Schönheit spielen. Außerdem werden die inneren causae dieser Schönheit angegeben und metaphysisch charakterisiert, nämlich die causa materialis und formalis. *· In VII. Met. L. 8 n. 1437. 57 In VI. Eth. L. 3. n. 1154. " Vgl. In II. Sent. 10,1,3 ad 1. " Vgl. De ver. 23,1, corpus B. 2. In I. Periherm. L. 4, n. 40. — Vgl. : In XII. Met. L. 3 n. 2447. el In VII. Phys. L. 5 n. 917. — Über Wesen und Wesensforderungen der imago schlechthin vgl. In I. Cor 11,7, L. 2 und In Coloss. 1,15, L. 4, — auch SCG III 19 und ST I 39,8 c. M Vgl. z. B.: De ver. 3,8 c und In VIII. Met. L. 2 n. 1698.

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Die weitere thomistische Schilderung der beiden inneren Ursachen des materiellen Kunstwerkes erläutert dann die innere Entstehung der künstlerischen Schönheit. Die zum Kunstwerk verwendete Materie selbst mit ihren integralen Teilen und verschiedenen Qualitäten (z. B. der Mannigfaltigkeit der Farben) sichert ja eine bestimmte distinctio partium. Weiterhin gebe es eine bestimmte convenientia partium, nach der die betreffende Materie vom Künstler nach sorgfaltigem Nachsuchen zu einem bestimmten konkreten Kunstwerk ansigewählt worden ist"*. Indem endlich die einzelnen proportionierten Teile gemäß der Form oder der künstlerischen Idee als ratio opens in die Einheit des Kunstwerkes verbunden werden, entstehe die Ordnung des Kunstwerkes. Das gelte für die Werke der plastischen Künste·4 ebenso wie für die Musik®. Andererseits, indem die multiplicitas partium und die der Qualitäten die Integrität des Kunstwerkes sichern, ihre durch die künstlerische Auswahl besorgte Konvenienz aber eine debita proportio darstellt, endlich die durch die Kunst des artifex aus den proportionierten Teilen und Qualitäten geschaffene Ordnungseinheit die (die schöpferische Idee widerspiegelnde) Klarheit konstituiert, wird das Kunstwerk Schönheit besitzen. Deswegen freue sich dann auch der Künstler über sein vollendetes Werk, und zwar um so mehr, je mehr es die Überwindung äußerlicher und innerlicher Schwierigkeiten darstelle88. Thomas zeigt damit zugleich die quasi-immanente Rolle der künstlerisch-akzidentellen Form : der Künstler tut alles, was er auch immer in der zweiten und dritten Phase seiner Tätigkeit tut, gemäß seiner künstlerischen Idee, die ihn als ein quasi-inneres Prinzip leitet und die graduelle Entfaltung der Ordnung und der Schönheit sichert. — Daß diese quasi-immanente Rolle der forma artificialis eben quasiimmanent, also nur analog zur forma substantial wirkt, folgt schon aus der universellen Analogie zwischen göttlichem und künstlerischem Schaffen. Der Unterschied zwischen der Rolle der akzidentell-künstlerischen und den substantiellen Formen sei tatsächlich, wie Thomas lehrt, nur einer der zahlreichen Unterschiede, die die Analogie der res naturalis und res artificialis bzw. ihrer respektiven Entstehungsweisen einschließt : 83

De div. nom. 4,6,364. ** In I. Phys. L. 10 n. 78 und ST I 62,6 c. « In I. De an. L. 9, n. 136 und 138. ·« In III. Sent. 29, art. 7, sol. η. 91 und In I. De an. L. 7 n. 97.

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Systematische Analyse

non omnia quae operamur amabilia sunt, dicimus enim interdum mala et defectiva opera, deus autem omnia quae facit, ex hoc ipso sunt bona et amabilia·7.

Das Kunstwerk mag nach dem Aquinaten aus einem der folgenden Gründe von defektiver Schönheit sein : erstens wegen der Begrenztheit der Kunst, als des aktiven Habitus des artifex*8, wodurch er z. B. seine schöpferische Idee in der Materie nicht entsprechend klar und treu zu verwirklichen imstande ist; zweitens wegen der Limitiertheit der Materie oder der causae instrumentales, die er gebraucht ; drittens wegen der Mangelhaftigkeit der künstlerischen Form68. Der dritte Grund stellt offenbar einen Mangel seitens der causa exemplaris dar. Da aber die causa exemplaris auch vom Künstler geformt wird und völlig von seiner Kunst abhängig ist, hat dieser Mangel wiederum seine Wurzel in der Begrenztheit der ars operantis. So vervollständigt sich also das Bild, das Thomas über die Entstehung der natürlichen Schönheit am Leitfaden der künstlerischen entwirft, und endlich auch das Bild, das man durch eine systematische Analyse von Thomas' metaphysischer Theorie über das objektive Wesen der Schönheit erhält. III. DIE FOLGEN DER THEORIE DES THOMAS ÜBER DAS WESEN DER SCHÖNHEIT In der eben untersuchten thomistischen Theorie stecken Keime weiterer, äußerst wichtiger Doktrinen über die Schönheit, die sich in Thomas' Werken verstreut finden. Diese logischen Konsequenzen der thomistischen Schönheitslehre können in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die der ersten Gruppe sind objektiver Natur, indem sie bestimmte Lehren über die Schönheit an sich darstellen, die also mit dem betrachtenden und genießenden Subjekt gar nichts zu tun haben. — Die Konsequenzen der zweiten Gruppe sind dagegen subjektiver Natur, indem sie die Schönheit in ihrem formellen Verhältnis zum geistigen Subjekt betreffen, dem sie als erkannte gefällt. Zur ersten und objektiven Gruppe gehören die Transzendentalität und die Analogie der Schönheit, zur zweiten und subjektiven die übersinnliche Erkennbarkeit, mit der dann auch Thomas' Theorie über das ästhetische Erlebnis aufs engte zusammenhängt. Die Transzendentalität und die Analogie der Schönheit werden in zwei Artikeln der Sektion A, ihre übersinnliche Erkennbarkeit und das ästhetische Erlebnis in ebenfalls zwei Artikeln der Sektion Β untersucht. " De div. nom. 4,10,440. «· SCG III 10.

Die Folgen der Theorie des Thomas über das Wesen der Schönheit

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Sektion A. O B J E K T I V E FOLGEN

1. Die Transzendentalität der Schönheit Die Transzendentalität als ein Problem der Ästhetik wirft drei Fragen auf. Erstens : Hat Thomas je gelehrt, daß die Schönheit eine der transzendentalen Eigenschaften des Seienden als Seienden sei ? Zweitens : Wenn ja, welchen Sinn kann der Terminus turpitudo in der thomistischen Ästhetik haben ? Drittens: Vorausgesetzt, daß die erste Frage zu bejahen ist, was ist nach Thomas die Position der Schönheit unter und ihre Relation zu den anderen Transzendentalien ? Die Beantwortung dieser drei Fragen ergibt die drei Paragraphen dieses Artikels. a) Die transzendentale Schönheit

Ein wichtiger Anhaltspunkt für die Frage, ob Thomas der Schönheit den Charakter der Transzendentalität zugeschrieben hat, ist der erste Artikel der ersten Quaestio von De veritate, der die sozusagen offizielle thomistische Liste der Transzendentalien enthält, unter ihnen aber nicht die Schönheit. Soll Thomas später seine Meinung geändert haben, so läßt sich schon ahnen, daß diese Meinungsänderung im DionysiusKommentar stattgefunden hat. Deswegen wird in diesem Paragraphen, nachdem man sich ein ausreichendes Bild über Thomas' Ansicht von (nomen) transcendentale überhaupt gebildet hat, gezeigt werden, daß die thomistische Schönheitsanalyse und Schönheitssynthese, wie sie vom Dionysius-Kommentar an in Erscheinung treten, die Transzendentalität der Schönheit implizit enthalten, und daß es auch weitere, nach diesem Kommentar geschriebene Schönheitsstellen gibt, die dieselbe Doktrin explizit enthalten oder aus denen sie unzweideutig folgt. 1. Zuerst also die Frage: Was meint Thomas mit dem Terminus: (nomen) transcendentale ? Der Schlüssel zu dem Sinn des Wortes, in dem es uns hier interessiert, ist der eigentliche Sinn des Verbs transcendere = physisch überschreiten, über etwas hinausgehen. Dieser philosophisch zwar unwichtige Sinn prädeterminiert alle anderen, weiteren Bedeutungen, in denen Thomas transcendere und transcendentale gebraucht. So kann transcendere allererstens in völlig metaphorischem Sinn soviel wie »sich geistig über etwas erheben«, »etwas Niedrigeres ignorieren« oder »außer acht lassen« bedeuten1. 1

Z. B. : Transcendit enim Ioannes omnia cacumina terrarum, transcendit omnes campos aeris, transcendit omnes altitudines siderum, transcendit omnes choros et

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Systematische Analyse

Zunächst, in logischem Zusammenhang, mag es entweder soviel wie »außer etwas sein«, »nicht in einem bestimmten Begriff eingeschlossen sein«2 oder aber »eine Regel des Denkens verletzen«, »gegen solche verstoßen«, also »sich über solche hinwegsetzen«3 bedeuten. Ähnlich ist es manchmal im moralischen Sinne als »das Moralgesetz verletzen«, also »sich über das Sittengesetz hinwegsetzen« gebraucht4. Mit diesem Sinn des Wortes geht Thomas in der Verwendung des transcendere zur realen Ordnung über. In diesem Zusammenhang gibt er dann dem fraglichen Terminus entweder einen dynamisch-operativen oder einen statisch-entitativen Sinn. Im ersten Fall kann es soviel bedeuten wie »eine größere, höhere Fähigkeit (potentia activa) haben und benützen«4, die entweder zur übernatürlichen oder zur natürlichen Ordnung gehört, und im letzteren Fall entweder physischer* oder geistig-intellektueller Natur ist7. Im zweiten Fall bedeutet transcendere bei Thomas soviel wie eine vollkommenere, höherstehende Fähigkeit haben 8 . Endlich gebraucht Thomas dies Wort in bezug auf irgendwelche Realität, und zwar entweder nur in realem Sinn oder in realem und logischem Sinn. Im ersten Fall weist transcendere auf eine Wirklichkeit bzw. einen Modus derselben hin, die einer anderen überlegen ist 9 , oder die einer höheren Klasse der Wirklichkeit angehört, wie zur übernatürlichen Ordnung anstatt zur natürlichen10, oder zu immateriellen anstatt zu materiellen Dingen 11 oder zu einer höheren anstatt einer niedrigeren Species12 oder Kategorie13. Im zweiten Fall, wenn also transcendere in realem sowie logischem Sinn gebraucht wird, gibt ihm Thomas den Sinn »die Grenzen einer einzigen realen oder logischen Kategorie überschreiten« oder »mehr als einer Kategorie zugehören«; wie z. B. im folgenden Text: legiones angelorum . . . (Cat. aur., praef.) —Quia ergo Ioannes transcendit quicquid creatum est . . . manifestum est, quod contemplatio sua altissima fuit (In Εν. Ioann. prolog.). 2 Vgl. In I. Post, an L. 15 n. 134. 3 Vgl. : De malo 8,2 c. « Vgl. : In II. Sent. 24,3,3, sol. fin. « Ζ. Β.: In III. Sent. 24, art. 3, sol. II ad 2, n. 95, — De ver. 14,8 c und ebd. 2,1, corp.Α. • Ζ. Β.: In II. Sent. 39,3,1, sol. ' Ζ. Β.: De malo 16,1 c A und In IV. Phys. L. 1 η. 407. » Ζ. Β.: De ver. 12,3,12a; — In Symb. Αρ. art. 1, η. 873 und auch In IV. Eth. 7, n. 1211. • Ζ. B. : De virt. in comm. 5 c und De spir. er. 11, ad 16. 10 Ζ. B.: In Ev. Ioann. 10,1, L. 5 und In II. Thess. 2 L. 2. 11 Ζ. B. : De pot. 3,11 c und De an. 21 c. » Ζ. B. : De an. 1 c. la Ζ. B. : In III. Phys. L. 10, n. 380.

Die Folgen der Theorie des Thomas fiber das Wesen der Schönheit

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illud quod transcendit genus, non debet poni ut differentia generis. Sed bonum transcendit genus qualitatis cum sit convertibile cum ente 14 .

Damit sind wir also zum metaphysischen Sinn des transcendere und — dadurch — des transcendental gelangt. Aber auch in diesem Fall unterscheidet Thomas zwischen Transzendentalien in weiterem und in engem Sinn. Wenn immer ein Wesen entweder keiner der Kategorien der Realität und des Denkens zugehört, also allen diesen überlegen ist, über allen kategorialen Determinationen steht, wie Gott, oder wenn eine Wirklichkeit oder deren Begriff die Grenzen mindestens einer Kategorie überschreitet, also zu mindestens zwei Kategorien zugehört, ohne aber ein modus generalis essendi und für jedes Ding (ens reale) prädikabel zu sein, wie z. B. multitudo16, so ist es nach Thomas ein transcendentale im uneigentlichen (metaphysischen) Sinn. Andererseits, wenn ein Wort (nomen) das Seiende schlechthin oder ein generaliter consequens omne ens ausdrückt, das dem Seienden als Seiendem notwendig zukommt und ihm ebenso notwendig wie unmittelbar folgt, so sei es ein transcendentale im metaphysischen Sinn1®. Nun umfassen die so definierten Transzendentalien einerseits das ens, das allen anderen vorangeht, weil es in ihrem Begriff enthalten ist, nicht aber umgekehrt, und andererseits alle anderen, die dem ens etwas nicht Reales, aber Begriffliches (rationem) zufügen17, das das ens nicht ausdrücklich besagt (non contrahit)18. Deswegen seien sie eben durch diese ratio sowohl von ens wie voneinander unterschieden19, zugleich aber und aus demselben Grund real, d. h. secundum suppositum miteinander konvertibel, stellen also Wechselbegriffe dar20. Da nun aber der einzige Unterschied zwischen ens und den Transzendentalien in engerem Sinn in der von den letzteren dem ens zugefügten einfachen ratio (die absolut oder relativ ist, eine einfache Affirmation oder Negation darstellt)21, bestehe, so sei jeder Begriff, der nicht direkt von dem Begriff des ens ableitbar ist, also keinen generalis modus essendi ausdrückt, aus der Zahl der Transzendentalien ausgeschlossen22. " In II. Sent. 27,1,2,2a. » ST I 30,3c; — ST I 60,3 ad 1. — Vgl. über idem und diversum In I. Met. L. 4 und In Boet. De trin. L. 1. q. 2 a. 1 ad 3. le De ver. 1 1 c . " In I. Sent. 8,1,3, sol. » De pot. 9,7 ad 6. — Vgl. In I. Sent. 19,6,1 ad 3. " Vgl. ζ. Β. In I. Sent. 8,1,3, sol. 10 In I. Sent. 8,1,3, sol.; De ver. 22,1 usw. « Vgl. De ver. 1,1 c. n Das ist Thomas' formeller Grund, die Mehrheit für keinen Transzendentalbegriff im eigentlichen Sinne zu halten : — sie sei aus ens nur durch andere Transzendentalien ableitbar ST I 47,2 ad 2.

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Systematische Analyse

Die Frage, welche Begriife außer ens transzendentale Vollkommenheiten des Seienden23 sind, beantwortet Thomas an zahllosen Stellen, und zwar so, daß er oft eine verschiedene Anzahl, an keiner einzigen aber mehr als sechs von ihnen erwähnt24. Was aber für unser eigentliches Problem wirklich wichtig zu sein scheint, ist der Umstand, daß es Thomas' Gepflogenheit ist, nicht alle Transzendentalbegriffe jedesmal, wenn er diese Frage berührt, aufzuzählen, und daß er anderseits nach De ventate q. 1 a. 1 kein einziges Mal versucht hat, eine vollständige Liste von Transzendentalien zusammenzustellen. — Aus der ersten Tatsache folgt, daß die Auffassung, für Thomas sei die Schönheit nie ein Transzendentalbegriff gewesen, nicht damit begründet werden kann, daß die Schönheit nicht wie andere »wirkliche« oder »sichere« Transzendentalien sogar in späteren Werken nie mit zwei oder mehr weiteren Transzendentalbegriffen zusammen aufgezählt wird. — Dagegen besteht die Bedeutung des zweiten Umstandes darin, daß die Meinungsänderung des Aquinaten über die Transzendentalität der Schönheit mit keiner auch die Schönheit entβ Die Transzendentalien im eigentlichen Sinne — außer ens — nennt Thomas nach Aristoteles (Met. I, 2, n. 310,1004 b 17) propria entis (vgl. ζ. B. In I. Met. L. 4) oder aber — wie bereits erwähnt, passiones entis (ζ. B. in In Boet. De trin. I. 1. q. 2 a. 1 ad 3.) — Dieser Name ist auch aristotelischer Herkunft, (f. De cael. I, 1, 268 a 2 n. Thomas, comm. L. 1 n. 7.) u Tatsächlich gibt es bei Thomas Stellen, an denen er entweder zusammen mit ens oder ohne es über je eine transzendentale Eigenschaft spricht, wie res (res est de transcendentibus — In I. Sent. 2,1,5, ad 2. ; — hoc nomen res est de transcendentibus — ST I 39,3 ad 3; vgl. In I. Sent. 25,1,4 c; SCG III 8 usw.) — unum (vgl. als Haupttext: In I. Sent. 24,1,3 sol. und noch: In III. Sent. 18,2 ad 3, n. 19; SCG II 73; De div. nom 1,2,55 f.; 4,6,361; De pot. 3,16 ad 3.; 9,7,13a, c und ad 13.; In III. Met. L. 13, n.614; In IV. Met. L. 2. nn. 550—55 und 560; In X. Met. L. 1 n. 1932 und 1936; L. 3 n. 1972 und 1977; In XI. Met. L. 3 n. 2199, In II. De an. L. 1, n. 234; In I. Post. an. 41 a ; I n P e r i h . L. 8a; ST I 6,3 ad 1; 11,1 c, 2 c und 3, ad 2.; 93,1 ad 3.; 9 c; I—II 17,4 c; und: unum, cum sit de transcendentibus — ST I 30, 3 c) ; — verum·, (vgl. z. B.: In I. Sent. 19,5,1, sol. und ad 7; 39,1,3 ad 4.; De ver. 1,6 c; SCG, 1,1; 60 und 62; De malo II 5, ad 9; In II. Met. L. 2 n. 298; In VI. Met. L. 4; In I. Post. an. 4 m; In Perih. L. 1 lect. 3 b; ST I 1,1,2a; 16,3c; 4 c ; I I — I I 109,2 ad 1; usw.); — bonum (bonum et malum sunt in transcendentibus — In II. Sent. 34,1,2 ad 1; und: In I. Sent. 44,1,1, sol.; In II. Sent. 27,1,2,2a und ad 2; 34,1,4 sed c; SCG II 41; III 20; De div. nom. 4,1,270; 14,16,509; 4,17,511; De pot. 3,6 ad 10; 9,7 ad 5; In I. Eth. L. 6 n. 81; In IV. Eth. L. 13, n. 808; In X. Eth. L. 3 n. 1981; De malo 1,2 sed c. 2a; 2,5,1a und a d i , ad 2; De hebd. L. 3 explan.; ST I 5,1, c und 3 c ; 48,1c und 3 c ; 49,3c; 4 c ; 54,3,2a und ad 2; Comp, theol. c. 118 n. 234 usw.); — dann wieder solche Stellen, die zwei Transzendentalien (z. B. verum et bonum — De ver. 3,3 ad 9.) oder drei (z. B. ens, res, unum: In IV. Met. L. 2 n. 553; —ens, verum, bonum: In I. Sent. 19,5,1 ad 2.; ST I 16,3 c; unum, verum, bonum: In I. Sent. 19,5,1 ad 3.; De ver. 22,1,5a; De pot. 9,7 ad 6 und ad opp. ; In IV. Met. L. 2 n. 553; ST I 93,9 c) ; oder vier (essentia, unitas, Veritas, bonitas; De pot. 9,7 ad opp.; — ens, unum, verum, bonum: In I. Sent. 8,1,3; sol.; 19,5,1 ad 3; De ver. 21,1 c; De pot. 9,7 ad 6.) — aber nur eine einzige Stelle, die sechs Transzendentalien aufzählt: De ver. 1,1 c. — Eine ähnliche Stelle, die dazu auch pulchritudo aufzählte, gibt es leider nirgends.

Die Folgen der Theorie des Thomas über das Wesen der Schönheit

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haltenden Transzendentalienliste, sondern nur mit textinhaltlichen Argumenten erweisbar ist. Befassen wir uns also mit diesen verschiedenen Beweisen. 2. Die formellen Beweise, die irgendwie schon von Thomas' ausgedehnter Liste der schönen Dinge eingeleitet werden, können in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden. Die erste Hauptgruppe von zwingenden Argumenten ruht auf Thomas' Schönheitsanalyse und Schönheitssynthese im allgemeinen, die zweite umfaßt dagegen verschiedene textliche Eigentümlichkeiten und Äußerungen, die, entsprechend miteinander verbunden, zu derselben Konklusion führen wie die umfangreichen Argumente der ersten Hauptgruppe. Was nun die Beweise der ersten Hauptgruppe betrifft, scheint es im Lichte der ausführlichen Analyse der thomistischen Integritäts-, Proportions-, Klarheits- und Ordnungslehren völlig auszureichen, daß man lediglich einen Beweis vollständig ausarbeite, um den Weg zu zeigen, wie weitere integrale Teile der Argumentation ähnlich ausgearbeitet werden können. Und da wir auf eine bestimmte innere Schwierigkeit im Zusammenhang mit der thomistischen Doktrin über die göttliche Schönheit gestoßen sind, wird es das Einfachste sein, unmittelbar auf die Tatsache hinzuweisen, daß Thomas Gott schlicht als schön bezeichnet, anstatt die göttliche Schönheit mittels irgendwelcher schönheitsanalytischer Termini (oder des schönheitssynthetischen ordo) zu interpretieren. Man kann also in der ersten Hauptgruppe etwa folgendermaßen argumentieren : Die Wirklichkeit besteht nach Thomas aus Gott und den Kreaturen. Wenn also Gott und alle Kreaturen von Thomas für schön gehalten werden, dann vertritt er damit die Ansicht, daß die Schönheit eine transzendentale Eigenschaft des ens sei. Der Umstand, daß jedes Wesen schön ist, muß ja einen ausreichenden Grund haben. Dieser Grund muß aber im ens qua ens liegen, da es außer ens nur non-ens, d. h. nichts gibt. Nun spricht aber Thomas explizit an vielen Stellen26 über die Schönheit Gottes schlechthin als eines seiner Attribute. Andererseits s